Meisterwerke im J. Paul Getty Museum: Europäische

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Meisterwerke im J. Paul Getty Museum: Europäische
Meisterwerke
im J. Paul Getty Museum
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
Meisterwerke
im J. Paul Getty Museum
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
Los Angeles
T H E J. PAUL G E T T Y M U S E U M
Frontispiz:
MICHEL ANGUIER
Jupiter [Detail]
wahrscheinlich gegen Ende des
17. Jahrhunderts von einem Modell
aus dem Jahre 1652 gegossen
94.SB.21 (siehe N r . 21)
Seite 6:
JOHN DEARE
Venus liegt auf einem Seeungeheuer mit
Amor und einem Putto [Detail],
1785-1787
98.SA.4 (siehe N r . 38)
Seite 8:
A m J. Paul Getty Museum:
CHRISTOPH DANIEL SCHENK
Christopher Hudson, Herausgeber
Der reuige Petrus [Detail], 1685
Mark Greenberg, Chefredakteur
96.SD.4.2 (siehe N r . 24)
John Harris, Redakteur
Seite 12:
Jack Ross, Fotograf
Stacy Miyagawa, Herstellungskoordinatorin
JEAN-JACQUES
CAFFIERI
Büste des Alexis-]ean-Eustache
Texte von Peter Fusco (mit PF im Text abgekürzt), Peggy Anne Fogelman (PAF)
Taitbout [Detail], 1762
und Marietta Cambareri ( M C )
96.SC.344 (siehe N r . 33)
Gestaltung und Produktion: Thames and Hudson, London, in Zusammenarbeit
mit dem J. Paul Getty Museum
Seite 13:
FRANCOIS GIRARDON
Pluto entführt
Proserpina [Detail]
gegossen ca. 1693-1710
Ubersetzung aus dem Englischen von Tobias Kommereil
Deutsche Ubersetzung © 1998 Thames and Hudson
88.SB.73 (siehe N r . 26)
© 1998 The J. Paul Getty Museum
1200 Getty Center Drive
Suite 1000
Los Angeles, California 90049-1687
I S B N 0-89236-515-3
Gedruckt und gebunden in Singapur von C S . Graphics
Farbreproduktionen von Articolor, Verona, Italien
INHALT
G E L E I T W O R T von Deborah Gribbon
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E I N L E I T U N G von Peter Fusco
9
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
VERZEICHNIS DER KÜNSTLER
14
128
GELEITWORT
D i e 1984 begonnene S a m m l u n g europäischer Bildhauerei, die i n diesem B u c h
vorgestellt w i r d , wurde vor kurzem i n eigens für diese S a m m l u n g eingerichteten
Ausstellungsräumen i m neuen J . Paul G e t t y M u s e u m aufgestellt. D i e Möglichkeit,
die S a m m l u n g i n ihrem neuen Kontext begutachten z u können, stellt für Besucher eine
völlig neue Erfahrung dar; für uns w i r d damit deutlich, d a ß w i r i n n u r vierzehn Jahren
weit mehr erreicht haben, als w i r damals je z u träumen gewagt hätten. D i e Kuratoren
haben eine S a m m l u n g v o n Skulpturen v o m späten 15. bis z u m frühen 20. Jahrhundert
zusammengestellt; darunter finden sich Arbeiten aus den unterschiedlichsten
Materialien, geschaffen v o n großartigen europäischen Bildhauern wie Laurana,
A n t i c o , C e l l i n i , G i a m b o l o g n a , Bernini, C l o d i o n , C a n o v a u n d Carpeaux, u m n u r
einige z u nennen. Schwerpunkte der S a m m l u n g sind Bronzen der Spätrenaissance
u n d des Spätbarocks, m i t Meisterwerken v o n Schardt, de Vries, Tacca u n d Soldani.
D i e S a m m l u n g wurde v o n Peter Fusco, d e m ersten Kurator für Bildhauerei des
Museums, u n d zwei assoziierten Kuratoren, Peggy Fogelman u n d Catherine Hess,
zusammengestellt. Dieses B u c h ist das Sechste i n einer Reihe, die d e m interessierten
P u b l i k u m H ö h e p u n k t e der verschiedenen Abteilungen des Museums vorstellt.
Ich m ö c h t e hiermit Peter Fusco meinen D a n k für seine inspirierende E i n l e i t u n g
aussprechen sowie Peggy Fogelman, Marietta Cambareri u n d nochmals Peter
Fusco für die Beiträge z u den einzelnen Arbeiten danken.
Interessierte Leser, die gerne mehr über die S a m m l u n g Getty europäischer
Bildhauerei erfahren m ö c h t e n , seien auf zwei weitere T i t e l hingewiesen, die das
M u s e u m 1997 veröffentlicht hat: Looking at European Sculpture: A Guide to Technical
Terms v o n Jane Basset u n d Peggy Fogelman sowie den Summary Catalogue of European
Sculpture in the J. Paul Getty Museum v o n Peter Fusco. E i n zweibändiger Sonderkatalog
der Bildhauereisammlung w i r d i n den nächsten Jahren erscheinen.
DEBORAH GRIBBON
Stellvertretende D i r e k t o r i n u n d leitende K u r a t o r i n
GELEITWORT
7
EINLEITUNG
Ich habe vergessen, wer scherzhafterweise Bildhauerei als etwas bezeichnete, gegen das
m a n stößt, w e n n m a n ein paar Schritte zurücktritt, u m ein G e m ä l d e z u betrachten.
W e r i m m e r es auch war, diese geistreiche Bemerkung enthält doch ein K ö r n c h e n
Wahrheit: das allgemeine P u b l i k u m ebenso wie die Gelehrten beschäftigen sich
eingehender m i t Malerei als m i t Bildhauerei. Es gibt hierfür sicherlich eine Reihe v o n
G r ü n d e n . Unsere Gesellschaft ist mehr darauf ausgerichtet, D i n g e auf einer flachen
Ebene als dreidimensional z u erfahren. W i r beziehen unser Wissen nicht nur v o n
Buchseiten u n d Fotografien, Heften u n d wissenschaftlichen Publikationen, sondern
neuerdings auch i n steigendem M a ß e v o n Fernsehen u n d Computer. Was die
Unterrichtsmethoden i m Fachbereich Kunstgeschichte angeht, so verläßt m a n sich
dabei meistens auf Dias, die auf eine flache W a n d projiziert werden. In Schulen u n d
Universitäten w i r d i n den Lehrprogrammen für Kunstgeschichte der Malerei fast
i m m e r mehr Bedeutung zugemessen als der Bildhauerei - außer, natürlich, wenn
Perioden oder K u l t u r e n wie das klassische Griechenland behandelt werden, v o n
denen fast auschließlich dreidimensionale Objekte überlebt haben. Es ist daher nicht
verwunderlich, daß G e m ä l d e , D r u c k e u n d Zeichnungen weit intensiver gesammelt
werden als Skulpturen, u n d daß i n den letzten Jahrzehnten ein sehr stark ansteigendes
Interesse an der Fotografie z u verzeichnen war.
W e r die Auffassung nicht teilt, daß das Interesse an der Bildhauerei vergleichsweise
gering ist, sei auf den heutigen Kunstmarkt verwiesen: die Preise für Skulpturen liegen
deutlich unter denen für G e m ä l d e , o b w o h l bedeutende Skulpturen viel seltener auf
d e m M a r k t z u finden sind. M a n k ö n n t e die Behauptung aufstellen, daß der Besitz
eines dreidimensionalen Objekts für einen Privatsammler schlicht u n d einfach höhere
Anforderungen stellt; die Verpackung, der ge- u n d versicherte Transport sowie das
Ausstellen v o n G e m ä l d e n , D r u c k e n , Fotografien u n d illuminierten Handschriften ist
i m allgemeinen unkomplizierter u n d billiger. Es ist augenscheinlich schwieriger, eine
Skulptur über einem Sofa oder einem Bett aufzuhängen, u n d wenn das Objekt größer
als ein S c h m u c k s t ü c k ist, besitzt es eine Präsenz, die den Privatbereich erheblich
beansprucht u n d i n den meisten Fällen eine Nische oder ein Podest benötigt.
D a ß G e m ä l d e Skulpturen vorgezogen werden, ist nichts Neues. D e r junge Charles
Baudelaire schrieb 1846 sein notorisches Essay " W a r u m die Bildhauerei langweilig ist"
("Pourquoi la sculpture est ennuyeuse"). Tatsächlich endeten theoretische Debatten
über die relativen Verdienste der beiden Kunstrichtungen (genannt paragoni) seit der
Renaissance meist zugunsten der Malerei. W e i l die Bildhauerei i m allgemeinen mehr
handwerkliche T ä t i g k e i t erfordert, fiel es Bildhauern schwer, sich v o n Assoziationen
z u m "Kunsthandwerk" z u lösen, während es dem M a l e r leichter fiel, den sozialen Stand
EINLEITUNG
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des "Künstlers" z u erreichen. V o r kurzem schrieb ein Rezensent i m Times
Literary Supplement, daß es "weitaus schwieriger sei, drei D i m e n s i o n e n auf eine
zweidimensionale Ebene zu übertragen als ein Objekt direkt i n drei D i m e n s i o n e n
darzustellen; weder die Griechische, n o c h die R ö m i s c h e , noch die Ägyptische K u l t u r
haben dies jemals bewältigt, o b w o h l Bildhauer aller drei K u l t u r e n i n der skulpturalen
Darstellung großes Talent u n d Geschick aufwiesen." W i r w o l l e n diese Debatte hier
nicht fortführen; das Zitat verdeutlicht jedoch den bleibenden Verdacht, daß
Bildhauerei gegenüber der Malerei als weniger gehoben u n d ehrenwert sowie
intellektuell weniger anspruchsvoll gesehen w i r d .
Seit der E i n r i c h t u n g der Kunstgeschichte als eine akademische D i s z i p l i n i m
19. Jahrhundert hat sich unser Wissen über die Geschichte der europäischen Malerei
schneller u n d weitgehender vertieft als dies i n der Bildhauerei der Fall ist. Das mag
seine G r ü n d e i n den bereits besprochenen Faktoren haben; i n gewisser H i n s i c h t ist
das Studieren der Bildhauerei vielleicht schwieriger, was sicherlich an der Materie
selbst liegt. E i n e Fotografie oder ein D i a liefern z u m Beispiel einen besseren E i n d r u c k
v o n einem G e m ä l d e oder einer Z e i c h n u n g als v o n einer Skulptur: die einzelne, flache
Darstellung vermag nur einen der möglichen Betrachtungswinkel einer Vollplastik z u
vermitteln. Das Studieren v o n Skulpturen erfordert außerdem ein Verständnis für eine
A n z a h l v o n handwerklichen M e t h o d e n wie z. B . das M o d e l l i e r e n m i t T o n u n d Wachs;
das Schnitzen v o n H o l z , Elfenbein u n d M a r m o r ; das Gießen v o n Terrakotta u n d
G i p s ; die diversen G u ß m e t h o d e n für Bronze sowie das Patinieren, Glasieren u n d
Polychromieren. Des weiteren läßt sich eine eingehende Kenntnis bestimmter A r t e n
v o n Skulpturen, wie Bronzestatuetten der Renaissance, nicht durch einfaches
Hinschauen aneignen, sondern erfordert eine H a n d h a b u n g der Objekte, für
die i n den meisten M u s e e n der Z u g a n g fehlt.
Trotz dieser U m s t ä n d e werden weiterhin Bildhauereisammlungen
zusammengestellt. V o m noblen Z i e l , ein wunderbares Ensemble zusammenzustellen
bis h i n zur krassen finanziellen Investition gibt es eine ganze Palette v o n Impulsen, die
i n der einen oder anderen Weise zufriedengestellt werden, wenn Kunstwerke i n einer
S a m m l u n g zusammengebracht werden. Seitdem die ersten Sammlungen wertvoller
Objekte zusammengestellt wurden, w i r d das Sammeln v o n Kunst i m allgemeinen
als ehrenwerte T ä t i g k e i t u n d wichtiges Element i n der E n t w i c k l u n g unserer K u l t u r
betrachtet. Das m i t Kunstsammlungen assoziierte Prestige hat heute z u der Situation
geführt, daß gesellschaftlicher Status oft der wesentliche Beweggrund für das Sammeln
u n d die A u s w a h l der einzelnen Arbeiten ist. In einer derartigen A t m o s p h ä r e erfüllt
das Objekt Kriterien, die der Sammler als gesellschaftlich akzeptabel kennt; der
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EINLEITUNG
Schwerpunkt verlagert sich heutzutage zunehmend auf Arbeiten, die eindeutig
identifiziert u n d kategorisiert werden können, wobei signierten u n d datierten Arbeiten
unmäßige Bedeutung zugemessen w i r d . Dieses kulturelle K l i m a unterstützt ferner die
Tendenz, Sammlungen i n äußerst eng definierten, spezialisierten Bereichen anzulegen,
so daß die größtmögliche K o n t r o l l e über Neuanschaffungen ausgeübt werden kann. I m
H i n b l i c k auf die heutigen kulturellen Werte ist es verständlich, daß es sich bei den
populärsten Bereichen, i n denen heute Bildhauerei gesammelt w i r d , u m die animalierBronzen des 19. Jahrhunderts sowie die Werke Auguste Rodins u n d Edgar Degas'
handelt: i m Gegensatz z u früher europäischer Skulptur sind diese nahezu unweigerlich
v o m Künstler signiert. ( A n dieser Stelle sei die Ironie hervorgehoben, daß i n den
meisten Eingangshallen amerikanischer Museen der Besucher v o n einer R o d i n Plastik begrüßt w i r d - als sei sie ein Firmenlogo, das anzeigt: "Dies ist ein
Kunstmuseum" - obgleich die M e h r z a h l jener Institutionen der Malerei
weitaus mehr Ausstellungsräume widmet als der Bildhauerei.)
Es w i r d dem Leser sicherlich bald bewußt werden, daß die S a m m l u n g
europäischer Bildhauerei i m J . Paul Getty M u s e u m nicht sonderlich umfassend oder
z u s a m m e n h ä n g e n d ist. Es ist die jüngste u n d kleinste aller Sammlungen des Museums,
aber auch die weitläufigste. Sie umfaßt Werke aus den 1470er Jahren bis 1911. E i n e
Vielzahl v o n Materialien sind i n der S a m m l u n g vertreten: G i p s , Terrakotta, H o l z ,
polychromes H o l z , Elfenbein, Alabaster, M a r m o r , Bronze, Silber u n d G o l d . Typologisch
ist die S a m m l u n g ebenfalls sehr ausgedehnt: sie umfaßt Porträtbüsten, Idealköpfe,
Einzelfiguren, G r u p p e n , Reliefs and mehrere Werke, die für einen praktischen N u t z e n
geschaffen wurden. Einige Objekte sind religiöser Natur, andere profan oder dekorativ.
Es gibt religiöse, mythologische u n d allegorische Darstellungen sowie Darstellungen
v o n Genre-Sujets. W e n n es einen roten Faden gibt, der sich durch die gesamte
S a m m l u n g zieht, so ist es, wie ich hoffe, hohe ästhetische Qualität, historisches
Interesse u n d Erlesenheit. O b diese Kriterien erfüllt werden oder nicht, liegt beim
geschätzten Leser. Eines läßt sich jedoch nicht leugnen: das M u s e u m hat durch die
Entscheidung des Direktors u n d des Vorstands, eine A b t e i l u n g eigens für europäische
Bildhauerei einzurichten, gewiß ein wenig an Einzigartigkeit gewonnen. Ich hoffe
ebenfalls, daß durch dieses bescheidene B u c h , i n dem eine A u s w a h l unserer S a m m l u n g
vorgestellt w i r d , das Interesse an einem weitgehend vernachlässigten Bereich neu
geweckt w i r d .
PETER FUSCO
Kurator
EINLEITUNG
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1 FRANCESCO LAURANA
Diese Skulptur ist weder eine Büste n o c h eine Statue, sondern gibt K o p f u n d
Dalmatien (tätig i n Neapel,
gesamten O b e r k ö r p e r seines Subjekts wieder. Es handelt sich u m ein K i n d , daß einen
Sizilien und der Provence),
Palmen- u n d einen Lorbeerzweig i n seiner H a n d hält - erstgenanntes S y m b o l für das
1420-1502
Der Heilige Cyricus,
ca. 1470-1480
Marmor
49,5 cm
96.SA.6
M a r t y r i u m , letzteres für den Sieg über den T o d . D e r ungewöhnliche Sockel - hoch,
oval u n d m i t eingeritzten, rauhen Flächen, die eigentlich m i t Stuck versehen u n d
bemalt sein sollten - ist typisch für die Arbeiten Francesco Lauranas. Laurana, i n
D a l m a t i e n geboren, war ein vielgereister Künstler, der i n Italien u n d Südfrankreich
(Provence) arbeitete; er w i r d nach wie vor als eine enigmatische Figur betrachtet,
dessen W e r k große Qualitätsunterschiede aufweist, der aber auch eine Reihe von
idealisierenden weiblichen Porträtbüsten schuf, die z u den schönsten Skulpturen
gehören, die i m Laufe des 15. Jahrhunderts produziert wurden.
Lauranas Der Heilige Cyricus wurde erst vor kurzem entdeckt; die Skulptur
sprengt die vormals gültigen Parameter der Bildhauerei des 15. Jahrhunderts.
Es ist die einzige uns bekannte, halblange Vollplastik m i t integriertem Sockel.
Laurana verbindet hier verschiedene Elemente religiöser Bildhauerei, die den sakralen
Charakter dieser Skulptur anzeigen. D i e erstaunlichen, gen H i m m e l gerichteten A u g e n
finden sich auch i n früheren Darstellungen Heiliger u n d i m leidenen Christus. D i e
K o m b i n a t i o n v o n h o h e m Sockel u n d einer horizontal abgeschlossenen Figur erinnert
an Reliquiarbüsten. Das halblange Format findet m a n i n früheren Darstellungen v o n
Heiligen, der H e i l i g e n Jungfrau u n d dem Verkündigungsengel.
D e r Legende zufolge wurde der Heilige Cyricus u m 304 z u m Märtyrer, weil er
sich weigerte, falsche Idole anzubeten. Es liegen mehrere Zeugnisse vor, die v o n einer
ganzen Palette v o n Foltern berichten, denen das K i n d ausgesetzt wurde, v o n denen die
Skulptur einige widerspiegelt. So ist die Darstellung des Kindes i n halber L ä n g e w o h l
eine A n s p i e l u n g darauf, daß es i n zwei Hälften durchtrennt wurde (es wurde später
z u m Schutzheiligen der Sägewerker u n d der K i n d e r ) . Sein Torso steht nicht auf dem
ovalen Sockel, sondern ist i n diesen eingelassen — ein H i n w e i s auf die Tradition, die
das K i n d i n einen großen Kessel voll kochender Flüssigkeit eintauchte. Sein nackter
Schädel ruft w o h l die Legende hervor, daß seine Kopfhaut v o m Schädel gezogen wurde.
W ä h r e n d diese grausamen Elemente i n der Arbeit durchaus behandelt werden, hat der
Künstler d o c h gleichzeitig die F o r m des k i n d l i c h e n Schädels genutzt (sicherlich auf
Studien nach dem Leben gestützt), u m eine wunderschöne, abstrakte F o r m z u schaffen,
die der Plastik eine merkwürdige, entrückte Präsenz verleiht.
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PF
15
2 CONRAT MEIT
M e i t wurde i n W o r m s geboren u n d arbeitete ab 1511 i n W i t t e n b e r g für den
Deutsch (tätig i n Frankreich,
sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise, für den auch A l b r e c h t D ü r e r u n d Lukas
Brabant, Mechelen u n d
Cranach der Altere arbeiteten. U m 1512 verließ der Bildhauer Deutschland für immer;
Antwerpen), 1480er?-1550/51
Kopf eines Mannes
(möglicherweise ein Porträt von
Cicero), ca. 1520
Alabaster
33 cm
96.SA.2
1514 wurde er i n M e c h e l e n z u m offiziellen Hofbildhauer a m H o f e v o n Margarete v o n
Osterreich ( 1 4 8 0 - 1 5 3 0 ) , Regentin der Niederlande, ernannt. I m Jahre 1526 begann
M e i t m i t seinem ersten monumentalen W e r k , den G r a b m ä l e r n Margaretes, Philiberts
u n d der M u t t e r Philiberts, Margarete v o n B u r g u n d , i n der K i r c h e v o n Saint Nicolas
de T o l e n t i n i n B r o u . Diese Grabmäler, sowie eine signierte Alabasterstatue der Judith,
liefern eine solide Grundlage zur E i n s c h ä t z u n g v o n M e i t s Stil, so d a ß i h m bestimmte
Arbeiten zugeschrieben werden k ö n n e n .
Das Fehlen zeitgenössischer Anhaltspunkte, die Toga sowie das "Seestern'-Muster
der Haare a m H i n t e r k o p f - antiker Porträtskulptur nachempfunden - sprechen
dafür, d a ß es sich bei d e m Kopf eines Mannes u m eine alVantica -Darstellung einer
altertümlichen Figur handelt. Möglicherweise stellt die Skulptur den b e r ü h m t e n
römischen Orator, Anwalt, Politiker u n d Poeten Marcus Tullius Cicero ( 1 0 6 - 4 3 v. Chr.)
dar. D a i n der Renaissance keine Porträts Ciceros bekannt waren, m u ß t e n die Künstler
des 16. Jahrhunderts ihre eigene Ikonographie erfinden, u m diesen berühmten
Staatsmann darstellen z u k ö n n e n . Plutarch zufolge ("Cicero", Vitae 1.4) stammt
Ciceros Familienname - v o n cicer, Lateinisch für Kichererbse - v o n einem Vorfahren,
der eine Spalte i n der Nase hatte, einer Garbanzobohne ähnlich. Offensichtlich
interpretierten Antiquare der Renaissance diese physische Besonderheit als Warze
oder M u t t e r m a l u n d assoziierten diese m i t M a r c u s Tullius. D i e Warze an der äußeren
Ecke des l i n k e n Auges dieser Figur, die auch irgendwo i m gesamten Gesicht hätte
auftreten können, wurde z u m identifizierenden Kennzeichen der Porträts Ciceros.
P A F und P F
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EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
3 PIERJACOPO
Pier Jacopo, ursprünglich gelernter G o l d s c h m i e d , war gegen E n d e des 15. Jahrhunderts
ALARI-BONACOLSI
u n d A n f a n g des 16. Jahrhunderts leitender Bildhauer am H o f e Mantuas. D i e v o n i h m
genannt Antico
durchgeführten Restaurierungen antiker Fragmente, sowie seine unzähligen bronzenen
Italien (Mantua) ca. 1460-1528
Büste eines jungen Mannes,
ca. 1520
Bronze, mit silbernen Augen
54,6 cm
86.SB.688
Verkleinerungen u n d K o p i e n berühmter Statuen u n d B ü s t e n der A n t i k e , brachten i h m
den Spitznamen A n t i c o (der A n t i k e ) ein. Anticos Nachempfinden altertümlicher K u n s t
ergriff nicht nur die F o r m e n u n d Sujets seiner K o m p o s i t i o n e n , sondern auch seine
Technik. So rufen z. B . die silbernen A u g e n u n d hervortretenden P u p i l l e n der Skulptur
i m Getty M u s e u m - die der Büste ihre markante Präsenz verleihen - altertümliche
Bronzeplastiken i n Erinnerung, bei denen Silber- u n d Kupferintarsien bestimmte
anatomische M e r k m a l e unterstrichen u n d zusätzliche Farbenvielfalt lieferten. In
anderen Arbeiten vergoldete A n t i c o Haare, G e w ä n d e r u n d weitere Kostümteile,
u m einen kräftigen Kontrast zwischen dem glänzenden G o l d u n d der dunklen,
patinierten Bronze z u schaffen.
D i e Büste i m Getty M u s e u m zeigt einen jungen M a n n m i t einem glatten
Schnurrbart, gestutzten Koteletten, einem H a u c h v o n Gesichtsbehaarung unterhalb
der Unterlippe sowie einem äußerst dichten, lockigen, spiralförmig i n alle Richtungen
s t r ö m e n d e n Haarschopf. Diese Bronze ist einer altertümlichen M a r m o r b ü s t e
nachempfunden, die sich heute i m Besitz der H i s p a n i c Society o f A m e r i c a i n N e w
York befindet. O b g l e i c h die Identität des Subjekts dieses M a r m o r p o r t r ä t s unklar ist, so
glaubte m a n i m 16. Jahrhundert w o h l , daß es sich u m einen römischen Kaiser handelt.
Möglicherweise hat A n t i c o eine K o p i e i n Bronze angefertigt, die Teil einer Reihe v o n
Kaiserbüsten für die D e k o r a t i o n des Interieurs eines Palastes oder einer Grotte war. D i e
gelehrten Auftraggeber Anticos hätten sicherlich die optische A n s p i e l u n g der B ü s t e auf
das A l t e r t u m , sowie die außergewöhnliche Qualität u n d ausgereifte Detaillierung der
Bronze i n höchstem M a ß e zu würdigen gewußt.
20
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PAF
4 GIROLAMO
Diese B ü s t e stellt einen schönen, bärtigen, i n römischer R ü s t u n g u n d Toga gekleideten
DELLA ROBBIA
M a n n dar; die Plastik ist i n Dreiviertelrelief ausgeführt. Das klassische K o s t ü m läßt
Italien (geboren in Florenz, tätig
einen altertümlichen römischen oder gallischen H e l d e n vermuten. D i e Büste gehört z u
in Frankreich), 1488-1566
Büste eines Mannes, 1526-1535
Irdenware mit Zinnglasur,
mit schwarzer Unterglasurfarbe
in den Augen
46,4 cm
95.SC.21
einer Reihe v o n Porträts, die G i r o l a m o della R o b b i a für das Chateau d'Assier bei Figeac,
nordwestlich v o n Toulouse, geschaffen hat. Das Schloß wurde v o n Jacques, genannt
G a l i o t , de G o u r d o n de G e n o u i l l a c ( 1 4 6 5 - 1 5 4 6 ) , einem gefeierten Soldaten u n d
Offizier am H o f e Francois' L , erbaut. M i t der Ausstattung des Schlosses wurde 1526
begonnen, 1535 war sie abgschlossen. D i e Gestaltung, anhand v o n Stichen überliefert,
sah i n die W ä n d e des Innenhofs eingelassene Reliefporträts vor. W i e auch andere
Skulpturen i n dieser G r u p p e wurde die vorliegende Plastik weiß glasiert, u m einen
Marmoreffekt z u erzielen. Sie wäre v o n einem runden, kranzartigen M e d a i l l o n
eingerahmt worden. Das Hervortreten des Hochreliefs u n d die glänzend weiße
Oberfläche der B ü s t e hätten einen überraschenden Kontrast zur flachen, grauen
W a n d , an welcher sie angebracht gewesen wäre, gebildet.
G i r o l a m o wurde v o n seinem Vater i n der Werkstatt D e l l a R o b b i a i n
Florenz ausgebildet; die Werkstatt war seit den 1440er Jahren für ihre glasierten
Terrakottaskulpturen berühmt. D i e Büste i m G e t t y M u s e u m ist beispielhaft für
Girolamos ganz eigene Vorgehensweise i n der Verarbeitung v o n Terrakotta, bei der
ausdrucksvolles, naturalistisches M o d e l l i e r e n skulpturaler V o l u m e n u n d anatomischer
M e r k m a l e — i m vorliegenden Fall die ausgeprägte Nase, die tiefen A u g e n h ö h l e n u n d die
fein gerunzelten Brauen - polychromen Glasuren u n d O r n a m e n t e n vorgezogen w i r d .
Möglicherweise verließ G i r o l a m o Florenz bereits i m Jahre 1517, u m dem französischen
K ö n i g an seinem H o f z u dienen. G i r o l a m o , der erste einer Reihe v o n Francois I.
rekrutierten italienischen Künstlern, leistete i n der Verbreitung des italienischen Stils
Pionierarbeit, wobei er auch der K u n s t der Werkstatt D e l l a R o b b i a z u gesteigertem
internationalen R u f verhalf.
24
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PAF
5 Nach einem Modell von
Altgriechischer M y t h o l o g i e zufolge waren Satyrn bockgestaltige W a l d - u n d Berggeister
B E N V E N U T O CELLINI
m i t haarigen Beinen u n d H u f e n , Schwänzen, bärtigen Gesichtern u n d H ö r n e r n . In
Italien (Florenz, auch i n
der Renaissance wurden sie oft m i t der Lust u n d anderen primären Leidenschaften
Fontainebleau tätig), 1500-1571
Satyr
N a c h einem M o d e l l von
ca. 1542 gegossen
Bronze
assoziiert. In seiner einzigartigen Interpretation eines Satyrs w i c h C e l l i n i zwar v o n
den traditionellen, bestialischen Darstellungsmerkmalen ab - so stellte er den Satyr i n
v o l l k o m m e n menschlicher Gestalt dar, m i t Ausnahme der kleinen H ö r n e r u n d eines
ziegenartigen Kopfes - er unterstrich jedoch die psychologische Aggressivität dieser
56,8 cm
Kreatur. Cellinis Satyr, i n mehr als Halbrelief modelliert, steht i n übertriebenem
85.SB.69
Kontrapost, den K o p f scharf nach links gewandt, u n d starrt einen unbekannten
E i n d r i n g l i n g m i t stark gerunzelten Brauen, gekräuselten L i p p e n u n d finsterem
Ausdruck boshaft an.
Diese Satyr-Bronze wurde v o n einer Wachsstudie gegossen, die v o n Cellinis
Umbauprojekt für den Eingang des königlichen Palastes i n Fontainebleau stammt.
Laut Bauplan sollte das Portal, die sogenannte Porte Dorée (goldene T ü r ) , v o n einem
Paar Satyrn flankiert werden, die gleichzeitig als vertikale Stützen des Gesimses
dienen sollten. D a r ü b e r sollte ein halbrundes Relief angebracht werden, das eine
v o n Waldtieren umgebene, nackte N y m p h e darstellt, wobei die Waldtiere als E m b l e m e
François' I. dienen sollten. Das Projekt wurde nie fertiggestellt, u n d das Wachsmodell
für den Satyr hat C e l l i n i möglicherweise i n seinem französischen Studio hinterlassen,
als er i n seine H e i m a t Florenz zurückkehrte.
PAF
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
27
6 Aus dem Umkreis von
Venus, m i t ihren ausgeprägten G l i e d e r n u n d dem typischen allantica-FroRl m i t
JACOPO SANSOVINO
gerader Nase, verdeutlicht Sansovinos Kenntnis altertümlicher M o d e l l e . D e r
Italien (tätig in Florenz, R o m
stark nach links gewandte K o p f ist möglicherweise der berühmten Venus von Medici
und Venedig), 1 4 8 6 - 1 5 7 0
nachempfunden; die Figur i m G e t t y M u s e u m beruht jedoch nicht auf irgendeinem
Venus und Amor mit einem
einzelnen Prototypen. D i e M e h r z a h l aller altertümlichen Venusstatuen zeigen sie m i t
Delphin, ca. 1550
erhobenen H ä n d e n ihre Nacktheit verdeckend oder ein G e w a n d i n einer scheinbaren
Bronze
Geste der Bescheidenheit raffend. D e r "non-pudica -Aspekt dieser Bronze ist allerdings,
88.9 cm
Inschrift unterhalb des Sockels: F B
+
(Zeichen des Gießers?)
87.SB.50
ganz i m Gegenteil, erstaunlich.
D i e Venus ähnelt den Arbeiten des Hochmanierismus, die während der 1540er
u n d 1550er Jahre v o n italienischen Künstlern wie Francesco Primaticcio u n d Jacopo
Sansovino ausgeführt wurden. D i e Bronze weist enge stilistische Parallelen m i t Arbeiten
Sansovinos auf, der nachweislich zwei Venusfiguren schuf (heute verloren). O b w o h l
keine weiblichen A k t e v o n Sansovino bis heute überlebt haben, weisen Sansovinos
dokumentierte, existente Arbeiten mehrere Elemente auf, die i n der vorliegenden
Bronze z u finden sind: die ungewöhnlich abstrakten Augenbrauen, i n einer einzelnen,
scharfen, halbkreisförmigen L i n i e beschrieben, die weiterführend den N a s e n r ü c k e n
skizziert; die d ü n n e n , schlitzförmigen A u g e n ; der relativ kleine, leicht verzerrte M u n d ;
die aufwendige Frisur m i t Haarknoten, die über einer krönenden Flechte herausragen;
das Paar Haarspangen (identisch m i t denen der Sansovino-Figur der Barmherzigkeit
i n einem D e n k m a l an den D o g e n Francesco Venier i n der Kirche San Salvatore i n
Venedig); die langgestreckten Glieder u n d sehr fälligen Oberarme u n d Schenkel; die
großen, aber eleganten H ä n d e u n d Füße; die ungewöhnliche Position des tauchenden
Delphins, der eine Reihe v o n auffälligen Beulen entlang der K o p f - u n d Rückenlinie
aufweist (dem Neptun begleitenden D e l p h i n i n Sansovinos gleichnamiger Figur i m
Innenhof des D o g e n Palastes i n Venedig sehr ähnlich). E i n e weitere Ähnlichkeit z u
Sansovinos Arbeiten besteht i n den affektiert u n d maniriert geknickten H ä n d e n , m i t
den, einem W i n d r ä d c h e n gleich, gespreitzen Fingern. Es ist anzunehmen, daß A m o r
i n der vorliegenden Plastik einen heute fehlenden Pfeil hielt, dessen Schärfe Venus m i t
ihren Fingerspitzen untersuchte. Dies hätte die unnahbare, verächtliche, eisige u n d
gefährliche Sinnlichkeit, v o n der die Bronze durchdrungen ist, gewiß unterstrichen.
PF
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
29
7 Sphinx
D i e Sphinx ist ein Fabelwesen, das aus einem Löwenkörper m i t Frauenkopf u n d
Italien (Florenz), ca. 1560
weiblicher Brust sowie Adlerflügeln besteht. Sie w i r d hier auf allen V i e r e n hockend
Bronze
dargestellt, m i t schweren Augenlidern u n d den K o p f weit nach hinten gestreckt - wie
64 cm
85.SB.418.1
eine Schlange kurz vor dem Angriff. Ihr langer, S-förmiger, m i t Juwelen geschmückter
Hals führt hinab zu großen Brüsten, die einem nichtsahnenden Opfer herausfordernd
entgegengestreckt werden. Ihr exotischer Reiz ist typisch für den
florentinischen
Manierismus; die Skulptur hat viele Parallelen z u den Arbeiten Benvenuto Cellinis
u n d V i n c e n z o Dantis.
O b g l e i c h ägyptischer Herkunft, erscheint die Sphinx allerdings auch i n griechischer
u n d römischer Kunst als S y m b o l der Verlockung, der Intelligenz u n d des Rätsels. In
der Renaissance wurde diese Kreatur m i t Feuer u n d T o d i n V e r b i n d u n g gebracht,
u n d zahlreiche Schornsteine u n d Gräber waren m i t Darstellungen der Sphinx versehen.
D i e vorliegende Figur ist Teil eines Paares, das i m Besitz der S a m m l u n g Getty ist. Beide
Plastiken weisen vorne, u n d teilweise an den Seiten, grob gemeißelte Oberflächen auf,
u n d beide sind am R ü c k e n u n d am Oberteil der Flügel unvollendet (kein Polieren nach
dem Gießen); dies legt die V e r m u t u n g nahe, daß die Skulpturen ausschließlich v o n
unten betrachtet werden sollten. Wahrscheinlich sollten sie als Stützen der beiden
vorderen E c k e n eines Sarkophages dienen.
30
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PF
8 GIOVANNI BOLOGNA
G i a m b o l o g n a , der am H o f e der M e d i c i offiziell tätig war, gehört z u den
(Jean Boulogne), genannt
herausragendsten u n d innovativsten Bildhauern des Manierismus des ausgehenden
Giambologna
16. Jahrhunderts. D i e vorliegende weibliche M a r m o r f i g u r ist beispielhaft für seinen
Italien/Flandern (geboren i n
Douai, tätig i n Florenz),
1529-1608
Weibliche Figur (möglicherweise
Venus, vormaliger Titel:
Bathsheba), 1571-1573
Marmor
Stil. D i e Pose der dargestellten Figur entspricht einer aufsteigenden Spirale, figura
serpentinata genannt, wobei der i n sich gewundene Torso u n d die angewinkelten
Glieder eine graziöse, w e n n auch künstliche, dreidimensionale S-förmige Kurve bilden.
Es handelt sich hier weder u m eine Sitzfigur, noch u m eine Statue: eine Gesäßhälfte ist
v o l l k o m m e n frei u n d ungestützt, m i t ihrem rechten A r m tupft sie ihren Fuß m i t einem
kleinen T u c h u n d m i t ihrem erhobenen l i n k e n A r m hält sie einen Behälter über ihrem
114,9 cm
Kopf. D a sie ein Bein u n d beide A r m e vor ihrem K ö r p e r hält, ist ihr Gleichgewicht
82.SA.37
bedrohlich nach vorne verlagert. G i a m b o l o g n a war die elegante u n d gefällige Silhouette
der Figur, die v o n verschiedenen B l i c k w i n k e l n betrachten werden soll, wichtiger als
die Natürlichkeit ihrer Pose. D e r kühle Reiz des glatten, nackten Körpers steht i n
starkem Kontrast z u der eng geflochtenen Frisur u n d den ausgeprägten Falten
des fallengelassenen Gewandes, dessen Ärmel u m ihre Lenden drapiert sind.
Es handelt sich bei Giambolognas Figur möglicherweise u m eine Marmorstatue,
die dem H e r z o g v o n Bayern v o n den M e d i c i als diplomatisches Geschenk überreicht
wurde. D i e Statue wurde v o n Giambolognas frühen Biographen nicht erwähnt, doch
handelt es sich wahrscheinlich u m eine Darstellung der Venus, ein verbreitetes Sujet
bei der Darstellung eines weiblichen Aktes i m Bade. D o k u m e n t e belegen, daß der
schwedische K ö n i g , Gustav A d o l p h , die M a r m o r s k u l p t u r während des dreißigjährigen
Krieges m i t Deutschland (also i m 17. Jahrhundert) als Beute i n sein H e i m a t l a n d
brachte. In der Zwischenzeit war die Statue i n Bathsheba umbenannt worden,
vermutlich u m , während der Gegenreformation, die Nacktheit der Figur mit
biblischer Bedeutung z u bekleiden. D i e Figur verblieb auf schwedischem B o d e n
bis ins 20. Jahrhundert h i n e i n . E i n e Reihe v o n miteinander verbundenen Kanälen
innerhalb der Figur, die v o n dem Behälter i n der erhobenen H a n d bis i n den Sockel
führen, legen die V e r m u t u n g nahe, daß sie auch als Brunnenskulptur benutzt
wurde. D i e H ä n d e u n d F ü ß e wurden i m 18. Jahrhundert beschädigt; der obere
Teil des Behälters sowie Teile der l i n k e n H a n d wurden i m 20. Jahrhundert
inkorrekt restauriert.
PAF
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
33
9 JOHANN GREGOR VAN
Diese Bronze stellt M e r k u r dar, den göttlichen Boten der Götter u n d Schutzpatron
DER SCHARDT
der Reisenden, Wissenschaftler, H ä n d l e r u n d Diebe. E r ist n u r m i t H e l m u n d
H o l l a n d (tätig i n Venedig,
Sandalen bekleidet, deren Flügel die Geschwindigkeit ausdrücken, m i t der er durch
W i e n , Nürnberg und
Dänemark), ca. 1530-1581
Merkur, ca. 1570-1580
Bronze
114,9 cm
95.SB.8
die H i m m e l zieht. D e r athletische, junge G o t t hat ein B e i n vorgestreckt u n d hält den
Heroldsstab i n der rechten H a n d . E r hat den K o p f nach links gewandt, sein B l i c k folgt
der Bewegung seines ausgestreckten l i n k e n A r m s . M e r k u r spricht m i t offenem M u n d
u n d ausdrucksvoller Geste, das Ideal der Eloquenz verkörpernd. E i n e Version des
Merkur i m N a t i o n a l m u s e u m z u S t o c k h o l m v o n gleicher Größe u n d gleichem Entwurf,
gezeichnet LG V.S.R für "Ian Gregor V a n Sart Fecit" (Johann Gregor van der Schardt
schuf dies), bestätigt, d a ß die Bronze der S a m m l u n g G e t t y v o n Schardt geschaffen
wurde. D e r Merkur k a n n bis zur S a m m l u n g eines gewissen Paul Praun ( 1 5 4 8 - 1 6 1 6 ) ,
einem N ü r n b e r g e r Patrizier u n d passionierten Sammler v o n Schardts Werken,
zurückverfolgt werden; es ist jedoch nicht geklärt, ob Praun den Merkur"vor
oder nach d e m T o d des Künstlers i m Jahre 1581 erwarb.
Schardt, ein gebürtiger Holländer, verbrachte seine ersten Arbeitsjahre i n Italien, w o
er berühmte Statuen der A n t i k e u n d der Renaissance studierte u n d kopierte, u n d sich
die klassizistischen u n d manieristischen Ideale zeitgenössischer Bildhauer wie Jacopo
Sansovino, Benvenuto C e l l i n i u n d G i a m b o l o g n a z u eigen machte. E r war einer der
ersten Künstler, die dieses Gedankengut nach N o r d e u r o p a brachten, während er an den
H ö f e n N ü r n b e r g s , W i e n s u n d D ä n e m a r k s tätig war. Schardt war sich der berühmtesten
zeitgenössischen Darstellung des M e r k u r v o n G i a m b o l o g n a entweder nicht bewußt,
oder er lehnte sie schlicht u n d einfach ab; denn G i a m b o l o g n a zeigt den M e r k u r i m
Fluge, auf einem F u ß schwebend, die Glieder i n den R a u m gestreckt (eine Skulptur,
entworfen u m v o n allen Seiten betrachtet z u werden). I m Gegensatz dazu bezieht sich
Schardts Merkur auf eine der berühmtesten Statuen der A n t i k e : Apollo Belvedere, eine
Figur, die fest auf dem B o d e n steht. Schardt verfeinerte die K o m p o s i t i o n des verehrten
Vorbilds, i n d e m er die Glieder, den Torso u n d den Hals verlängerte u n d die graziösen,
schweifenden L i n i e n sowie die simple H a r m o n i e des sich i n Bewegung befindlichen
Körpers betonte.
MC
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
35
10 C E S A R E T A R G O N E
Dieses Relief ist das einzig bekannte signierte W e r k des Venezianischen Goldschmieds
Italien (tätig i n R o m , Florenz
Cesare Targone, der auch i n R o m u n d Florenz tätig war u n d für namhafte K u n d e n ,
und Venedig) tätig während des
wie die Großherzöge v o n M e d i c i , m i t antiken S c h m u c k s t ü c k e n handelte. Für
späten 16. Jahrhunderts
Die Jungfrau Maria trauert um
den toten Christus, 1 5 8 6 - 1 5 8 7
Goldenes Repoussoirrelief auf einem
Ferdinando I. de' M e d i c i schuf Targone Goldreliefs auf der Grundlage v o n
M o d e l l e n v o n G i a m b o l o g n a , die vor H i n t e r g r ü n d e aus exotischen Steinen wie
Jaspis u n d Amethyst gesetzt wurden. Diese Reliefs waren Teil der D e k o r a t i o n des
Obsidian-Hintergrund
berühmten "Tribunale", eines oktagonalen Raumes i n den Uffizi i n Florenz, i n dem
Goldrelief, 28,9 x 26 cm
die Kunstwerke u n d wertvollen Objekte i m Besitz der M e d i c i ausgestellt wurden.
Obsidian-Hintergrund, 38,4 x 26,5 cm
Die Jungfrau Maria trauert um den toten Christus hätte aufgrund der seltenen u n d
Inschrift unterhalb der Füße Christi:
OPVS. CESARIS. TAH
VENETI
84.SE.121
edlen Materialien, des kleinen M a ß s t a b s u n d der virtuosen Ausführung sehr gut
i n eine derartige S a m m l u n g gepaßt. Es handelt sich u m ein meisterhaftes Beispiel
des Goldrepoussoirs, bei der Blattgold über ein M o d e l l gepresst w i r d oder v o n
hinten bearbeitet w i r d , u m dreidimensionale F o r m e n z u erhalten. D e r G o l d s c h m i e d
bearbeitete dann das weiche M a t e r i a l v o n vorne, u m Details auszuarbeiten oder
u m verschiedene Oberflächen z u erhalten, wie hier z u m Beispiel H a a r u n d Bart
des Christus, sowie den moosigen B o d e n , auf dem er liegt. D i e V e r b i n d u n g v o n
glänzendem G o l d auf schwarzem O b s i d i a n (einem vulkanischen Glas) unterstreicht
den prachtvollen Effekt. D i e Figuren dominieren die Fläche u n d erwecken dabei einen
E i n d r u c k v o n M o n u m e n t a l i t ä t , der i m W i d e r s p r u c h z u m kleinen M a ß t a b des Werkes
steht u n d somit den wundersamen Charakter des Objekts verstärkt.
D i e Szene zeigt die Jungfrau hinter d e m toten Christus stehend, ihre H ä n d e i n
einer Geste des Klagens gefaltet; der Betrachter sieht ihren K o p f i n ausdrucksvollem
Profil. Christus liegt auf einer drapierten Decke, sein O b e r k ö r p e r v o n der abfallenden
Hügelseite gestützt, A u g e n u n d M u n d leicht geöffnet. D i e beiden einsamen Figuren
rufen das A n d a c h t s b i l d der Pietä i n Erinnerung, i n dem die Jungfrau M a r i a den
L e i c h n a m ihres Sohnes i m Schöße hält. D i e stehende M a d o n n a u n d der am B o d e n
liegende Christus ähneln den zahlreichen Klageszenen i n der Malerei u n d der
Bildhauerei, die typischerweise mehrere trauernde Figuren enthalten. Dieses Relief
verbindet u n d bündelt diese Einflüsse, i n d e m es den devotionalen B r e n n p u n k t auf
den K ö r p e r C h r i s t i u n d die verhaltene Trauer der H e i l i g e n Jungfrau verlagert. B i l d l i c h
gesehen erscheint die Szene zeitlos, nur der schwarze H i n t e r g r u n d läßt vermuten,
daß sie sich i n den dunkelsten Stunden der N a c h t abspielt. Ähnliche Episoden des
Leidens C h r i s t i sind i n F o r m v o n Skizzen u n d als Wachs-, Bronze- u n d Goldreliefs v o n
G u g l i e l m o della Porta (gest. 1577) bekannt (oder zumindest m i t i h m i n V e r b i n d u n g z u
bringen), dem bedeutendsten Bildhauer, der nach Michelangelos T o d i n R o m tätig war.
MC
38
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
11 T I Z I A N O A S P E T T I
Aspetti, einer der wichtigsten Bildhauer des S p ä t m a n i e r i s m u s , wurde vermutlich i n
Italien (tätig i n Venedig, Padua,
Padua geboren, w o er zwischen 1591 u n d 1603 an einer Reihe religiöser Bronzen für
Pisa u n d Florenz),
die Santo (die K i r c h e v o n Sant'Antonio) u n d für die Kathedrale arbeitete. V o n den
ca. 1559-1606
Männlicher
Akt, ca. 1600
Bronze
74,9 cm
88.SB.115
Aspetti zugeschriebenen säkularen oder mythologischen Bronzestatuetten sind keine
vollständig dokumentiert. D i e Bronze i m G e t t y M u s e u m ist eine der wenigen Arbeiten,
die m a n , a u f der Grundlage stilistischer Vergleiche sowie einer Qualitätsprüfung, m i t
einiger Sicherheit Aspetti zuschreiben k a n n . D e r Männliche
Akt ist zwei v o n Aspettis
dokumentierten Arbeiten besonders ähnlich: d e m männlichen A k t aus M a r m o r ,
1 5 9 0 - 1 5 9 1 für die Eingangshalle der venezianischen M ü n z a n s t a l t angefertigt, u n d
der männlichen Figur i n d e m Bronzerelief Das Martyrium des Heiligen Laurentius,
1 6 0 4 - 1 6 0 5 für die K i r c h e Santa T r i n i t a i n Florenz hergestellt. Diese A r b e i t e n stellen
einen ähnlich gewundenen, sehr m u s k u l ö s e n , männlichen K ö r p e r dar, m i t breiten
Schultern u n d Hüften, langgestreckten G l i e d m a ß e n , einem proportional eher
kleinen Kopf, einem bärtigen Gesicht m i t feiner Nase u n d eleganten H ä n d e n
m i t langen Fingern.
Bevor das M u s e u m den Männlichen
Akt erwarb, wurde er zusammen m i t einem
begleitenden männlichen A k t (heute i n einer Privatsammlung) versteigert. D i e
beiden Bronzen wurden allem A n s c h e i n nach weder als Pendants zueinander, n o c h
als krönende Figuren eines K a m i n b o c k s angefertigt, da ihre Posen k e i n Spiegelbild
bilden u n d sie keine dreieckigen Sockel aufweisen (beides klassische M e r k m a l e v o n
K a m i n b ö c k e n des späten 16. Jahrhunderts). D i e zueinander passenden runden
Sockel legen vielmehr die V e r m u t u n g nahe, d a ß die Bronze i m G e t t y M u s e u m
u n d i h r K o m p a g n o n Teil einer Serie waren, die vielleicht für die D e k o r a t i o n einer
Ballustrade oder eines Arbeitszimmers eines Gelehrten vorgesehen war. D a der
Männliche
Aktkeine
Hinweise auf eine gezielte Identifizierung des Subjekts
aufweist, bleibt dieser Aspekt der Bronze vorerst ungeklärt.
Aspetti, der v o n Michelangelo u n d Tintoretto sowie v o n G i a m b o l o g n a u n d
toskanischem Manierismus i n der Malerei beeinflußt war, entwickelte seinen eigenen,
lebhaften, pathetischen maniera -Stil, der sich durch eine ungewöhnliche K o m b i n a t i o n
v o n Kraft, Eleganz u n d ausdrucksstarker Energie auszeichnet. In der vorliegenden
Bronze bedingt die übertriebene Darstellung der individuellen M u s k e l n einen
Riffeleffekt, der auf der gesamten Oberfläche m i t L i c h t u n d Schatten spielt, sowie
gut definierte, wellige Profile. D i e Pose der Figur ist kompliziert gewunden, beinahe
unbalanciert, u n d wäre i n W i r k l i c h k e i t schwierig "zu halten"; die H a l t u n g der Figur
sowie die lebhaften, ungewöhnlich ausdrucksvollen H ä n d e , erinnern an die eloquenten
Instruktionen eines Dirigenten.
40
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PF
12
Corpus, ca. 1600
Dieser hölzerne Corpus ist eine verhaltene u n d edle Darstellung des Todes C h r i s t i am
Italien
Kreuz. D e r gekreuzigte Christus - ein zentraler Bestandteil christlicher Ikonographie,
Holz
der mindestens bis z u m 5. Jahrhundert zurückreicht - wurde auf unterschiedliche
32,5 cm
97.SD.45
Stiftung von Lynda und Stewart
Resnick zu Ehren Peter Fuscos
Weise dargestellt, wobei i n den verschiedenen Darstellungen bestimmte Aussagen
verdeutlicht oder gewisse Aspekte des christlichen Glaubens unterstrichen wurden. So
zeigen z u m Beispiel frühe Darstellungen einen n o c h lebenden Christus am K r e u z m i t
offenen A u g e n , was seinen T r i u m p h über den T o d z u m A u s d r u c k bringt. W ä h r e n d des
14. Jahrhunderts wurde der Schwerpunkt auf das Leiden C h r i s t i verlagert, wobei seine
Menschlichkeit u n d Schwäche hervorgehoben wurden.
I m 15. Jahrhundert schuf F i l i p p o Brunelleschi ein monumentales Kruzifix i n der
florentinischen
Kirche Santa M a r i a Novella, bei dem es sich u m einen "Vorfahren"
des vorliegenden Corpus handelt. E r stellte Christus tot aber nicht leidend dar, den
K o p f zur Rechten gesenkt, m i t geradem, m u s k u l ö s e m Torso sowie den Beinen an den
Füßen gekreuzt u n d ebenfalls nach rechts verlagert. Dieses idealisierende B i l d C h r i s t i
wurde i m 16. Jahrhundert v o n Künstlern wie Michelangelo u n d G u g l i e l m o della Porta
weiterentwickelt. D e r vorliegende Corpus ist i n der Tat einer Reihe v o n Kruzifixen u n d
Kruzifixreliefs, die della Porta zugeschrieben werden, sehr ähnlich. D i e Plazierung der
G l i e d m a ß e n u n d des Kopfes, die i m Detail modellierte M u s k u l a t u r des Torsos u n d
Rückens, sowie die zurückhaltende Darstellung des Todes C h r i s t i sind M e r k m a l e , die
i n Arbeiten della Portas wiederzufinden sind. D e r Torso steht frontal z u m Betrachter
u n d nicht i n gewundenem Kontrapost späterer, lebhafterer Darstellungen. V o n hinten
betrachtet zeigt das am K ö r p e r haftende Lendentuch die K o n t u r e n der A n a t o m i e des
Körpers, ganz i m Gegensatz z u den meisten barocken Versionen, i n denen das drapierte
T u c h alles verdeckt.
42
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
MC
13 A N T O N I O S U S I N I
In dieser lebhaften Szene eines Tierkampfes w i r d ein Pferd v o n einem L ö w e n seitlich
Italien (Florenz)
angegriffen, wobei der L ö w e m i t Z ä h n e n u n d K l a u e n tiefe Fleischwunden verursacht
tätig 1572-1624
u n d das Pferd somit auf dem felsigen B o d e n i n die K n i e zwingt. Das Pferd, das sich
oder
GIOVANNI
FRANCESCO
SUSINI
Italien (Florenz)
ca. 1585 - c a . 1653
i m Schmerz windet, dreht unter großem W i e h e r n seinen K o p f d e m Angreifer z u .
D e r durch die Position v o n Pferdekopf u n d -Schwanz entstehende Kreis hält die
K o m p o s i t i o n u n d überläßt der zentralen, dramatischen Figur des zupackenden L ö w e n
den M i t t e l p u n k t . D i e angespannten M u s k e l n u n d verzerrten Posituren der Tiere i n
N a c h einem M o d e l l von
dieser dichten G r u p p i e r u n g veranschaulichen dynamischen K a m p f u n d physisches
Giovanni Bologna
Leiden. D i e ü p p i g e , gold-braune Patina u n d die perfekt ausgearbeiteten Details - wie
(Jean Boulogne), genannt
z. B . die Falten i m nach hinten gebeugten Pferdehals u n d d e m sorgfältig gestanzten
Giambologna
Schnurrhaar am L ö w e n m a u l - verwandeln jedoch diese Darstellung einer brutalen
Italien/Flandern (geboren
Szene i n ein kostbares, juwelenartiges Objekt.
in D o u a i , tätig i n Florenz),
1529-1608
Ein Löwe greift ein Pferd an,
erstes Viertel des
17. Jahrhunderts
Bronze
G i a m b o l o g n a , der herausragendste Bildhauer i m Florenz des 16. Jahrhunderts,
schuf das M o d e l l für diese Gruppe, die dann v o n einem seiner engen Mitarbeiter
i n Bronze gegossen wurde. E r leitete diese K o m p o s i t i o n v o n einer fragmentierten
M a r m o r s k u l p t u r i m Garten des Palazzo dei Conservatori i n R o m ab. Beine, Hals
u n d K o p f des Pferdes, sowie Hinterbeine u n d Schwanz des L ö w e n waren nicht
24,1 x 28 cm
vorhanden, als G i a m b o l o g n a die M a r m o r s k u l p t u r i n den 1550er oder 1580er Jahren
94.SB.11.1
besichtigt haben m u ß . Seine Bronze stellt demnach eine meisterhafte L ö s u n g für die
Restaurierung eines antiken Fragments dar. Ein Löwe greift ein Pferd an wurde als ein
Teil eines Paares angefertigt. D i e zweite G r u p p e , Ein Löwe greift einen Ochsen an, ist
ebenfalls Bestandteil der S a m m l u n g des M u s e u m s .
44
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PAF
14 A D R I A E N D E V R I E S
Das Pferd, oder der Reiter u n d sein Pferd, waren seit der Renaissance äußerst populäre
Niederlande (tätig in Florenz,
Sujets i n der europäischen Bildhauerei, vielleicht aufgrund v o n Assoziationen zu
Mailand, Augsburg und Prag),
berühmten antiken M o n u m e n t e n wie z. B . das bronzene Reiterstandbild des Marcus
1545-1626
Aurelius i n R o m . D i e ersten bronzenen Einzelstatuetten v o n Pferden der Renaissance
Ein sich aufbäumendes
Pferd,
ca. 1610-1615
17. Jahrhundert erlaubten technische Fortschritte i m Bronzegießen den Bildhauern,
Bronze
das gesamte G e w i c h t einer K o m p o s i t i o n auf zwei Standbeine des Pferdes z u verlagern.
48,9 cm
Inschrift i m Sockel:
FRIES HAGUENSIS
86.SB.488
wurden vermutlich gegen Ende des 15. Jahrhunderts i n N o r d i t a l i e n produziert. I m
ADRIANUS
FECIT
Einige der prinzipiellen Kriterien der barocken Ästhetik - plötzliche, heftige
Bewegungen, eine offene K o m p o s i t i o n m i t i n den R a u m hineinragenden Formen
u n d das Konzept der i m A u g e n b l i c k festgehaltenen Bewegung - sind immanent
i n der Erscheinung eines sich a u f b ä u m e n d e n Pferdes, weshalb es auch z u einem
so ansprechenden Sujet für Bildhauer u n d deren Auftraggeber wurde. B e i m
vorliegenden Sich aufbäumenden
Pferd'ist der rot-goldene Lack gut erhalten; diese
Oberflächenbehandlung wurde angewandt, u m den E i n d r u c k v o n Bewegung durch
das Lichterspiel auf dem glatten, m u s k u l ö s e n Körper hervorzuheben. D i e G r ö ß e
des Pferdes, die dynamische Pose m i t den Vorderbeinen hoch i n der Luft, u n d die
wundervolle Patina bezeugen de Vries' außergewöhnliches Geschick als Gestalter
u n d Hersteller v o n Bronzen.
In D e n H a a g geboren, reiste de Vries i n den frühen 1580er Jahren nach Florenz,
u m dort i m Atelier Giambolognas, dem offiziellen Bildhauer der M e d i c i , zu arbeiten.
D e Vries war der einflußreichste u n d innovativste A n h ä n g e r Giambolognas u n d spielte
eine Schlüsselrolle i n der Verbreitung des florentinischen Manierismus des ausgehenden
16. Jahrhunderts an den königlichen H ö f e n Nordeuropas. I m Jahre 1601 wurde
de Vries z u m offiziellen Bildhauer am H o f e Rudolfs I L i n Prag ernannt, w o er bis zu
seinem Tode arbeitete. O b g l e i c h er bekanntermaßen auch Skulpturen aus Terrakotta
u n d Stuck hergestellt hatte, verarbeitete de Vries d o c h v o r n e h m l i c h Bronze u n d
wurde z u einem technisch außerordentlich versierten Bildhauer, dessen Skulpturen,
u n d ungewöhnlicher Weise alle, ein hohes M a ß an V o l l e n d u n g aufweisen. N e b e n
großen Figuren für aufwendige Brunnenprojekte, führte de Vries auch zahlreiche
kleine Bronzen für den Innenbereich aus, wie z. B . das vorliegende Sich
aufbäumende
Pferd. D e Vries produzierte mehrere bronzene Reiterstandbilder, die der vorliegenden
Plastik sehr ähnlich sind, darunter ein Sich aufläumendes
Pferd mit einer Schlange
i m N a t i o n a l m u s e u m z u S t o c k h o l m u n d ein Porträt v o n Herzog Heinrich Julius von
Braunschweig hoch zu Roß, früher i m H e r z o g A n t o n U l r i c h M u s e u m i n Braunschweig.
PAF
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
47
15 A D R I A E N D E V R I E S
Dieser m u s k u l ö s e männliche A k t wurde v o n einer hellenistischen Marmorstatue eines
Niederlande (tätig i n Florenz,
Tanzenden Fauns i n der Galleria degli Ufifizi i n Florenz inspiriert. Jener altertümliche,
Mailand, Augsburg und Prag),
musizierende Faun hat H ö r n e r u n d einen kleinen Schwanz, hält Z i m b e l n i n den
1545-1626
Jonglierender Mann, ca. 1615
Bronze
76,8 cm
90.SB.44
H ä n d e n u n d bedient m i t d e m F u ß eine Fußorgel. D e Vries entfernte Schwanz
u n d Hörner, machte aus der Fußorgel einen Blasebalg u n d entfernte die R i e m e n
der Z i m b e l n , w o d u r c h sie z u Jongliertellern wurden.
Indem er ein antikes V o r b i l d bewußt i n E r i n n e r u n g rief, stellte de Vries
unter Beweis, d a ß sich seine Fähigkeiten durchaus m i t den Errungenschaften
antiker Künstler messen können. Des weiteren verdeutlichte seine Revision der
K o m p o s i t i o n seinen Einfallsreichtum u n d sein ausgeprägtes Verständnis für den
sich i n Bewegung befindlichen menschlichen Körper. D i e Figur w i r d i n einem
entscheidenden A u g e n b l i c k während einer akrobatischen Darbietung festgehalten;
der Jongleur balanciert eine Scheibe m i t Geschick auf seinen Fingerspitzen, während
die andere Scheibe m i t Hilfe der Zentripetalkraft i m R a u m z u schweben scheint. D i e
Figur drückt außergewöhnliche Vitalität u n d Beweglichkeit i m R a h m e n einer perfekten
K o m p o s i t i o n aus. D i e kraftvolle Darstellung der riffeligen M u s k u l a t u r hebt den
R h y t h m u s u n d die Elastizität der offenen Pose hervor. D i e Skulptur w i r d z u m
M e d i u m der Erforschung dynamischen E q u i l i b r i u m s . Es sei an dieser Stelle
bemerkt, daß virtuose Kunststücke u n d Jongliertricks i n der deutschen Sprache
des 16. Jahrhunderts m i t einem gemeinsamen Begriff bezeichnet wurden: Kunststücke
machen. Derartig selbstbewußte Demonstrationen künstlerischer Leistungen wurden
am H o f e Kaiser Rudolfs I L , für den de Vries tätig war, sehr geschätzt.
D i e expressionistische Darstellung der A n a t o m i e , des Haares u n d der
Gesichtszüge des Jonglierenden Mannes ruft de Vries' weitere Werke aus derselben
Zeit i n E r i n n e r u n g . In Stil u n d M a ß s t a b ist die vorliegende Skulptur den
Flußgöttern
u n d anderen Figuren aus der 1615 für Schloß Frederiksborg i n D ä n e m a r k i n
Auftrag gegebenen Neptunbrunnen sehr ähnlich (heute i n Schloß D r o t t i n g h o l m ,
Schweden, befindlich). D i e Skulptur der S a m m l u n g Getty war jedoch vermutlich
zur Schaustellung i n einem Interieur vorgesehen. D u r c h das Aufstellen i m
Außenbereich während des 20. Jahrhunderts wurde ihre Oberfläche matt
u n d verfärbte sich.
48
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PAF
16 G I A N L O R E N Z O
BERNINI
Gianlorenzo B e r n i n i war der großartigste Erneuerer u n d der bedeutendste
Italien (geboren i n Neapel, tätig
Vertreter der Skulptur des Barock. Seine erstaunliche Produktivität, künstlerischer
in Rom), 1598-1680
Erfindungsreichtum, Virtuosität, sein persönliches C h a r i s m a u n d die A n e r k e n n u n g ,
Junge mit einem Drachen,
ca. 1 6 1 4 - 1 6 2 0
Marmor
55,9 cm
87.SA.42
die i h m seine Zeitgenossen z u k o m m e n ließen, sind n u r m i t der Karriere das
flämischen
Malers Peter Paul Rubens z u vergleichen. B e r n i n i dominierte die künstlerische Szene
R o m s für r u n d sechzig Jahre; während dieser Zeit erhielt er wichtige Aufträge für
Skulptur- u n d Architekturprojekte, die das Erscheinungsbild der päpstlichen Stadt
v o l l k o m m e n veränderten. E r hatte erheblichen Einfluß auf die Geschichte der
Bildhauerei bis z u m Aufblühen des Neoklassizismus - i n nicht geringem M a ß e
eine Reaktion gegen Berninis Schaffen - i m ausgehenden 18. Jahrhundert.
Gianlorenzo begann seine künstlerische A u s b i l d u n g schon sehr früh unter seinem
Vater Pietro, ebenfalls ein großartiger Bildhauer. Seine frühen Arbeiten sind v o n einer
derartigen technischen Kompetenz, zeugen v o n so tiefem Verständnis u n d einer
v o l l k o m m e n e n Aufnahme früherer Stilrichtungen, d a ß m a n durchaus v o n einem
W u n d e r k i n d sprechen kann. Viele seiner frühen Skulpturen, darunter der Junge
mit einem Drachen i m Getty M u s e u m , weisen M e r k m a l e auf, die m a n i n seinem
gesamten späteren W e r k wiederfindet: ein Interesse an psychologischem Realismus,
die feinfühlige Darstellung emotionaler Z u s t ä n d e , die bildliche Interpretation v o n
Bewegung, Vergänglichkeit u n d Verwandlung i n einem so unnachgiebigen M a t e r i a l
wie M a r m o r , u n d schließlich der W u n s c h , den Betrachter u n d das Objekt i n eine
interaktive Beziehung z u bringen.
Das Sujet Junge mit einem Drachen hat i n der Geschichte der Bildhauerei
Seltenheitswert. D i e Skulptur wurde v o n hellenistischen M a r m o r s k u l p t u r e n ,
wie Das Herkuleskind tötet Schlangen u n d Ein Junge tötet eine Gans, inspiriert.
Italienische Inventare aus d e m 17. Jahrhundert bezeichnen die vorliegende Skulptur
sogar fälschlicherweise als einen Ercoletto, einen jungen Herkules. I m Gegensatz z u
antiken Versionen besitzt Berninis Skulptur einen spielerischen Naturalismus, der die
Identifikation des Betrachters reizt. Berninis Junge weist Babyspeck u n d Pausbäckchen
auf, er lächelt verschmitzt u n d sieht nicht seinen Herausforderer, den Drachen,
sondern den Betrachter an, während er den Kiefer des Drachens scheinbar mühelos
auseinanderbricht. I m Gegensatz z u antiken M a r m o r s k u l p t u r e n des Sujets Herkules
tötet einen Drachen weist der Junge v o n B e r n i n i M e r k m a l e eines neapolitanischen
Straßenkindes (Bernini wurde i n Neapel geboren) auf. B e r n i n i hat somit ein
traditionelles, mythologisches Sujet m i t heroischen Implikationen i n eine genreähnliche
Szene verwandelt, die d e m Betrachter a u f eine direktere Weise zugänglich ist. Bernini
hat so die bis dahin geltenden Parameter seriöser Kunst erweitert.
52
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PF
17 G I O V A N N I
FRANCESCO
SUSINI
Italien (Florenz)
ca. 1 5 8 5 - c a . 1653
Paris entführt
Helena, 1627
Bronze auf einem vergoldeten
Bronzesockel aus dem 18. Jhd.
M i t Sockel: 68 cm
Ohne Sockel: 49,5 cm
Inschrift: 10. FR. S VSINI/FL OR. F A CJ
MDCXXVII
90.SB.32
Diese Bronze zeigt ein verheerendes Ereignis aus der griechischen M y t h o l o g i e . D i e
Entführung Helenas, G e m a h l i n des spartanischen K ö n i g s Menelaus, durch den
trojanischen Prinzen Paris entfachte den Trojanischen Krieg. In Susinis Skulptur
hebt Paris, bis a u f seine Kappe unbekleidet, die sich wehrende Helena, während er
über einer gefallenen weiblichen Figur steht, die den Entführer z u hindern sucht.
Helenas G e w i c h t w i r d überzeugend durch i h r scheinbares Entgleiten aus Paris'
U m k l a m m e r u n g dargestellt. D i e präzise gemeißelten, naturalistischen Details der
Skulptur - etwa Helenas Gesichtszüge u n d flatterndes H a a r u n d die hervortretenden
Venen an Paris' H ä n d e n - verstärken den realistischen E i n d r u c k des physischen u n d
emotionalen Kampfes. D e r F u ß der Bronze deutet eine felsige Landschaft an, u n d
die G r u p p e ist i n einem vergoldeten Bronzesockel späteren Datums verankert.
G i o v a n n i Francesco Susini war eine zentrale Persönlichkeit der
florentinischen
Skulptur des frühen 17. Jahrhunderts. W ä h r e n d Entfuhrung der Helena M e r k m a l e
des S p ä t m a n i e r i s m u s , der i n Florenz vorrangig war, aufweist, so treten doch bereits
einige der wichtigsten Elemente des neuen Barockstils i n Erscheinung, der i n R o m
schon praktiziert wurde. D i e spiralförmige Bewegung v o n Paris' geschmeidigem
Körper i m Z e n t r u m der K o m p o s i t i o n ist ein Indiz dafür, d a ß die Plastik v o n
mehreren B l i c k w i n k e l n aus betrachtet werden soll, was den Einfluß des
florentinischen
Manierismus reflektiert. D i e Schaffung eines primären Blickwinkels, die Betonung des
psychologischen Dramas sowie der E i n d r u c k eines festgehaltenen Augenblicks sind
jedoch Elemente, die m i t d e m Barock assoziiert werden.
56
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PAF
18
MARCUS HEIDEN
D i e Kunst, Elfenbein an einer Drechselbank z u geometrischen F o r m e n z u verarbeiten,
Deutschland (Coburg),
war an nordeuropäischen H ö f e n äußerst beliebt. M a r c u s H e i d e n , Elfenbeindrechsler
tätig 1618-nach 1664
u n d Feuerwerks- bzw. Waffenmeister am H o f e v o n H e r z o g Johann C a s i m i r v o n
Deckelpokal, 1631
Gedrechseltes und geschnitztes
Elfenbein
63,5 cm
Sachsen-Coburg, war einer der großartigsten Vertreter dieser K u n s t des Barocks.
D e r D e c k e l p o k a l i m G e t t y M u s e u m , höchstwahrscheinlich für H e r z o g Johann
angefertigt, besteht aus vier Hauptelementen: einem langgestreckten,
oktagonalen
Inschrift unterhalb des Sockels:
Sockel; einem Stiel i n der F o r m eines trompetenden Puttos; einem nach geometrischen
??????? ???????
Gesichtspunkten entworfenen K e l c h , m i t kleineren, musizierenden Putten dekoriert,
?????????????????? ????
91.DH.75
sowie einem D e c k e l , gekrönt v o n einem pfeilschießenden A m o r . D i e pummeligen,
lebhaft modellierten Figuren, deren A n a t o m i e an Rubens erinnert, wurden d e m
K e l c h später, v e r m u t l i c h i m 17. Jahrhundert, beigefügt.
D e r vorliegende D e c k e l p o k a l weist zwei bedeutende stilistische Innovationen
i n der K u n s t des Elfenbeindrechselns auf, wie sie sich i n der ersten Hälfte des
17. Jahrhunderts herausgebildet hatten. D i e Haupteigenschaft früherer Standpokale
aus Elfenbein bestand i n einer symmetrischen A n o r d n u n g u m eine gerade, vertikale
Achse, m i t vorwiegend abstrakten Elementen; Heidens Pokal dagegen enthält sowohl
geometrische als auch figurative F o r m e n . A u ß e r d e m streckt der trompetende Putto,
der den K e l c h stützt, die linke H ü f t e keck nach außen, was der vertikalen Achse
eine Assymetrie verleiht u n d somit eine Illusion der Bewegung schafft. A u f g r u n d
des Arrangements u n d Drechselhandwerks der stehenden u n d sitzenden Figuren,
kann Heidens Pokal als einer der ersten vollständigen Barockentwürfe gedrechselten
Elfenbeins angesehen werden.
P A F und P F
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
61
19 G E R A R D V A N O P S T A L
Ü b e r den Bildhauer van Opstal, der i n seinem Geburtsort Brüssel ausgebildet
Flandern (tätig i n Flandern und
wurde, ist i m Bezug auf seine frühe Tätigkeit, bevor er für K a r d i n a l Richelieu i n
Paris), ca. 1 6 0 5 - 1 6 6 8
Paris z u arbeiten begann, wenig bekannt. E r erhielt Aufträge i m Zusammenhang m i t
Meeresszene, ca. 1640
Dekorationsvorhaben für das Louvre, die Tuilerien, den Justizpalast sowie das Palais
Alabaster
61,9 x 1 0 1 , 8 x 7 , 3 cm
85.SA. 167.1
Royal, u n d er war G r ü n d u n g s m i t l g i e d der Französischen Academie Royale de Peinture
et de Sculpture (1648).
D i e vorliegende Arbeit, eines v o n fünf Alabasterreliefs i n der S a m m l u n g des
Getty Museums, wurde vermutlich für die architektonische D e k o r a t i o n eines Staats­
oder G e m e i n d e g e b ä u d e s angefertigt, das m i t der M a r i n e oder der See z u t u n hatte.
In einer sprichwörtlich stürmischen Szene ziehen fünf bärtige Fischer u n d sechs
beflügelte Putten ein N e t z voller Fische auf ihr Boot. V a n Opstals Stil war sehr v o n
den dynamischen Barockwerken seines Landsmanns Peter Paul Rubens beeinflußt.
Das vorliegende Relief drückt diese D y n a m i k klar aus: es w i r d v o n einer Reihe
wallender R h y t h m e n bestimmt, die durch die pummeligen B ä u c h e der Putten
u n d die g e k r ü m m t e n Rücken, schwellenden M u s k e l n u n d wehenden Kleider der sich
anstrengenden Fischer entstehen. Des Weiteren entsteht durch die A r t u n d Weise, i n
der der Alabaster gemeißelt wurde, eine Reihe kleiner, sich konstant i n unterschiedliche
Richtungen bewegende Flächen, die den E i n d r u c k einer flatternden Bewegung über die
gesamte Oberfläche verstärkt.
62
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PF
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
63
20
FERDINANDO TACCA
Diese Figur ist Teil eines Paares v o n bronzenen, nackten, beflügelten Putten i n der
Italien (Florenz), 1619-1686
S a m m l u n g des Getty Museums. D i e beiden Skulpturen, deren Posen ein Spiegelbild
Ein Putto hält ein Schild zu
ergeben, wurden für die D e k o r a t i o n des Hochaltars der Kirche Santo Stefano al Ponte
seiner Linken, 1650-1655
Bronze
65,1 cm
85.SB.70.1
Vecchio i n Florenz i n Auftrag gegeben. D i e Renovierung der Kirche wurde v o n der
Familie B a r t o l o m m e i vorgenommen, die Tacca beauftragte, zwei bronzene Engel m i t
beschriebenen Kartuschen z u liefern, die über dem A l t a r aufgestellt werden sollten.
O b w o h l Tacca das Projekt 1655 fertigstellte, bleibt weiterhin ungeklärt, ob die
Engel tatsächlich jemals dort aufgestellt wurden; die Familie Bartolommei hat
sie möglicherweise für ihre private S a m m l u n g benutzt, da die Bronzen bereits
1695 i n Inventaren des Familiensitzes i n Florenz auftreten.
Tacca erbte nicht n u r das Atelier, sondern trat auch das künstlerische Erbe des
größten
florentinischen
Bildhauers des Manierismus an: G i a m b o l o g n a . D e r Putto
weist allerdings einige M e r k m a l e auf, die Taccas Abweichen v o m Manierismus u n d
gleichzeitige A n n ä h e r u n g an Ausdrucksformen des Barocks unterstreicht: die realistische,
pummelige A n a t o m i e ; die lebhaften Gesichtszüge; die theatralische Gestik u n d das
dynamische Spiel des Lichts, das durch die Falten der drapierten G e w ä n d e r entsteht.
Tacca war ein Bronzegießer v o n außergewöhnlichem Geschick, was die meisterhaft
genau ausgearbeiteten Details verdeutlichen, etwa die Beschaffenheit der Oberfläche
der Flügelfedern u n d die Haarlocken der Figur. D e r Putto hat nichts v o n der für
florentinische
Bronzen dieser Epoche so typischen lichtdurchlässigen, rot-braunen
Patina verloren.
PAF
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
65
21
MICHEL ANGUIER
Z w e i auf antiken V o r b i l d e r n beruhenden ikonographischen Traditionen i n der
Frankreich (tätig i n R o m u n d
Darstellung des römischen Gottes Jupiter hatten sich bis z u m 17. Jahrhundert
Paris), 1612-1686
durchgesetzt. D i e erste ist eine Sitzfigur, die die Gottheit auf dem T h r o n als
Jupiter, wahrscheinlich gegen
Ende des 17. Jahrhunderts nach
einem Modell von 1652 gegossen
Bronze
61 cm
94.SB.21
absoluten Herrscher des O l y m p zeigt. D i e zweite, i m Französischen Jupiter
tonnant oder foudroyant (der donnernde Jupiter) genannt, sah i h n als den G o t t der
Gerechtigkeit, der über die Erde gebietet u n d m i t ihr unter tödlichen Blitzen ins
Gericht geht. Anguiers bronzene Statuette, die Jupiter vorwärts schreitend u n d ein
Bündel flammender Blitze i n der erhobenen rechten H a n d haltend zeigt, gehört
offensichtlich zur letzteren A r t der Darstellung. Nichtsdestotrotz verleihen sein
klassischer Kontrapost u n d die ehrwürdige H a l t u n g dem Jupiter i n Anguiers
Interpretation eher eine Ausstrahlung ruhiger Ausgewogenheit denn gewaltsamer
oder unberechenbarer Aktivität. D i e minuziös definierte, solide M u s k u l a t u r u n d
das weiche, a m K ö r p e r haftende G e w a n d verstärken den E i n d r u c k selbstbewußter
Eleganz, die die gesamte K o m p o s i t i o n auszeichnet.
A n g u i e r war einer der ersten Vertreter eines klassizistischen Barockstils i n der
französischen Bildhauerei des 17. Jahrhunderts. U m 1641 ging Anguier nach R o m ,
w o er die folgenden zehn Jahre verbrachte, u m i m Atelier eines der angesehensten
Bildhauer Roms, Alessandro Algardi, z u arbeiten. W ä h r e n d seines Aufenthalts i n Italien
konzentrierte sich A n g u i e r hauptsächlich auf das S t u d i u m antiker Kunst u n d Literatur.
In der Tat sind Pose u n d Physiognomie des Jupiter NOXY einer antiken M a r m o r s k u l p t u r
inspiriert, die A n g u i e r i m Palazzo G i u s t i n i a n i i n R o m besichtigt hatte. I m Jahre 1652,
kurz nach seiner Rückkehr nach Paris, stellte A n g u i e r eine Serie v o n sieben Figuren
her, die Götter u n d G ö t t i n n e n i n ihrem jeweils typischen Temperament
darstellten:
ein Blitze schleudernder Jupiter, die eifersüchtige Juno, der erregte N e p t u n , die ruhige
A m p h i t r i t e , der melancholische Pluto, ein seine Waffen niederlegender M a r s u n d eine
verzweifelte Ceres. Es existieren mehrere Bronzen v o n fünf dieser Gottheiten, doch
ist die Statuette der S a m m l u n g Getty der einzig bekannte Jupiter v o n Anguier. D i e
Statuette weist viele, für die männlichen Figuren Anguiers typischen M e r k m a l e auf,
etwa die stark ausgeprägte Muskulatur, die wallenden L o c k e n , hervortretende Venen
an A r m e n u n d Beinen sowie eine vorstehende, dinarische Nase.
PAF
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
67
22
ROMBOUT VERHULST
R o m b o u t Verhulst war ein brillianter Porträtist u n d der bedeutendste flämische
Flandern (tätig i n Amsterdam,
Bildhauer des 17. Jahrhunderts. Verhulst, i n M e c h e l e n geboren, zog 1646 nach
Leiden und D e n Haag),
A m s t e r d a m u n d arbeitete dort m i t d e m führenden Bildhauer A r t u s Q u e l l i n u s an
1624-1698
der D e k o r a t i o n des neuen Rathauses. N a c h d e m Q u e l l i n u s 1665 nach A n t w e r p e n
Büste des Jacob van Reygersberg,
1671
W e r k umfaßt hauptsächlich Grabmäler, Porträts u n d Gartenskulpturen, d o c h stellte
Marmor
er auch einige Elfenbeinwerke her. Verhulsts realistischer Porträtstil w i r d i n der B ü s t e
62,9 cm
Inschrift an der Vorderseite: MBA
SORTE CONTENTUS;
Inschrift auf
der linken Seite: R. Verhulst fec,
Inschrift auf der Rückseite:
HETAFBEELTSEL
DITIS
VANIACOB
VAN REIGERSBERGH,
IN MIDDELBURGH
GEBOREN
DENX.
APRIL. 1625. WEGENS DE
PROVINTIE
VANZEEIANT
GEDEPUTEERDT
TER
VERGADERINGH
VAN HAER
HOOGH
ging, wurde Verhulst z u m bekanntesten holländischen Bildhauer des Barocks. Sein
MOGENTHEDEN
DEN. 17.7BER DES IAERS 1663
STURE DEN.29APRIL.
1675
84.SA.743
der S a m m l u n g G e t t y anhand der subtilen M o d e l l i e r u n g des Gesichtsausdrucks u n d
der reichhaltigen Differenzierung unterschiedlicher Oberflächen wie die der Haare,
der R ü s t u n g sowie des Jabots veranschaulicht. Verhulst fand zudem eine einzigartige
u n d formell höchst innovative L ö s u n g zur M i l d e r u n g des Abschlusses an Schultern
u n d Brust: er verwandte dekorative, kurvige V o l u t e n u n d Laubblätter auf jeder Seite
sowie unter der R ü s t u n g , u m der B ü s t e einen R a h m e n zu geben u n d den B l i c k des
Betrachters z u m Gesicht zu lenken.
Jacob van Reygersberg ( 1 6 2 5 - 1 6 7 5 ) war Repräsentant der Provinz Seeland
i m Generalstaat der Niederlande, sowie ein D i r e k t o r der Admiralität u n d ferner
Besitzer der Landsitze Couwerve u n d Crabbedijke, deren T i t e l er trug, sowie v o n
S c h l o ß Westhove. A l s Verhulst diese Büste 1671 anfertigte, war van Reygersberg
sechsundvierzig u n d befand sich auf dem H ö h e p u n k t seiner politischen Karriere.
Einzelne M a r m o r b ü s t e n waren i n dieser Periode sehr selten u n d w u r d e n v o r n e h m l i c h
von M i t g l i e d e r n des Amsterdamer Universitätsrates oder des königlichen Hofes i n
D e n H a a g i n Auftrag gegeben. Trotz van Reygersbergs Status u n d R e i c h t u m gehörte
er diesen Institutionen nicht an, u n d beauftragte daher Verhulst m i t dem Anfertigen
einer B ü s t e , u m diese v e r m u t l i c h später i n einem G r a b m a l zu verwenden. W i e d e m
auch sei, van Reygersberg starb vier Jahre nachdem die B ü s t e fertiggestellt w o r d e n war;
i n die Skulptur wurden eine Gedenkschrift u n d ein M o t t o eingraviert, w o d u r c h der
Skulptur endgültig der Charakter der Trauer u n d eines Ehrenmals verliehen wurde.
D i e lateinische Devise, die am Vorderteil des Sockels, unterhalb der Schnörkel,
eingemeißelt wurde, lautet: "Ich b i n m i t m e i n e m Schicksal zufrieden", w o m i t van
Reygersberg seinen nahenden T o d akzeptiert. D i e Inschrift an der Rückseite der
B ü s t e identifiziert van Reygersberg folgendermaßen: "Dies ist das Bildnis Jacob van
Reygersbergs, am 10 A p r i l 1625 i n M i d d e l b u r g geboren. Repräsentant der Provinz
Seeland i n der V e r s a m m l u n g des Erhabenen [Generalstaats] am 17 September 1663 [.]
Verstorben am 29 A p r i l 1675."
68
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PAF
23 Corpus
Diese elegante Darstellung v o n Christus am K r e u z ist ungewöhnlich i n ihrer
Flandern, ca. 1 6 8 0 - 1 7 2 0
behutsamen Sinnlichkeit u n d V e r m e i d u n g jeglicher, C h r i s t i physische Leiden
Buchsbaum
beschreibenden Details. D i e Skulptur zeichnet sich durch das Nichtvorhandensein
48,3 cm
82.SD.138.1
von Dornenkrone, seitlicher Lanzenwunde u n d aus den Nagelwunden tropfenden
Blutes aus. D i e M u s k u l a t u r C h r i s t i ist gleichmäßig u n d ausgeprägt u n d weist keinerlei
Anzeichen der Abmagerung auf. Sein Torso bildet eine geschmeidige Kurve, die eine
H ü f t e ist leicht angehoben. D i e Falten des Lendentuchs laufen entsprechend dem
scheinbaren Schwingen des Körpers; das T u c h selbst w i r d v o n einem D o p p e l b a n d
gehalten, daß an den Hüften zwei dekorative Halbkreise bildet. D i e robust u n d
fließend modellierten A r m e sind beinahe horizontal u n d tragen dem offensichtlichen
G e w i c h t des leblosen Körpers, oder des Corpus, somit nicht Rechnung; sein Körper
scheint vor dem K r e u z zu schweben anstatt am K r e u z zu hängen. Sein entspannter
Gesichsausdruck - A u g e n u n d M u n d leicht geschlossen, die Brauen nicht gerunzelt zeigen keinerlei Zeichen v o n Schmerz.
D e r Bildhauer des vorliegenden Corpus hat auf intelligente Weise die traditionelle
Ikonographie des Cristo morto, des toten Christus am Kreuz, m i t der des Cristo vivo,
des lebenden Christus am Kreuz, verbunden. V o r dem 10. Jahrhundert wurde Christus
i n Kreuzigungsszenen vornehmlich m i t horizontal ausgestreckten A r m e n u n d einem
triumphierenden u n d wachen Gesichtsausdruck proträtiert, was seinen Sieg über die
S ü n d e ausdrückte. Später wurde Christus meist tot, m i t fast vertikal gestreckten A r m e n
u n d v o m G e w i c h t seines leblosen Körpers nach unten gezogen dargestellt, sein Torso
abgemagert u n d voller W u n d e n , die seine Q u a l e n u n d sein Leiden bezeugten. I m
16. Jahrhundert existierten die beiden Ikonograhpien gleichzeitig. D i e Diffusion
der beiden Traditionen i n der flämischen Bildhauerei wurden sehr stark durch
die K o m p o s i t i o n e n des Malers Peter Paul Rubens beeinflußt. Rubens Bedeutung
hinsichtlich des Corpus der S a m m l u n g Getty w i r d i n der Position des Kopfes sowie
der Physiognomie u n d dem A u s d r u c k des Gesichtes deutlich.
70
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PAF
24
CHRISTOPH
DANIEL
Dieses Relief illustriert die biblische Erzählung der Lamentation Petri: " U n d Petrus
SCHENCK
erinnerte sich der Worte Jesu, der sprach: 'Bevor der H a h n kräht, wirst D u m i c h
Deutschland (Konstanz),
dreimal verleugnen . U n d er ging hinaus u n d weinte bitterlich" ( M a t t h ä u s 26:75).
1633-1691
Der reuige Petrus, 1685
Lindenholz
36,5 x 26,7 cm
D i e Figur des Petrus dominiert das Relief; sie ist, was Reliefskulpturen angeht,
ungewöhnlich monumental u n d dreidimensional. Schenck erreichte dies, i n d e m
er tief ins H o l z schnitzte: die tiefen Furchen i m Gesicht des v o n Trauer ergriffenen
Inschrift an der rechten Seite unten:
Petrus sowie die klagend gerungenen H ä n d e u n d die auf den unteren R a n d der
CDS.
Tafel gepreßten, knochigen Füße ergeben eine optisch besonders eindrucksvolle
1685
96.SD.4.2
K o m p o s i t i o n . D i e wehenden, runden Formen des Gewandes unterstreichen das
angedeutete V o l u m e n der Figur u n d verleihen dem Relief Bewegung u n d E m o t i o n .
Es handelt sich bei dem vorliegenden Relief u m eine ebenso überwältigende wie
feinfühlige Interpretation dieser biblischen Geschichte.
Szenen der Ereignisse, die zur Lamentation Petri führten, erscheinen i m
H i n t e r g r u n d i n Basrelief. U n t e n rechts sieht man, wie Petrus Jesus ein drittes M a l
verleugnet, was er mit drei erhobenen Fingern bestätigt. Darüber, also oben rechts,
kräht der besagte H a h n , m i t gespreizten Flügeln u n d offenem Schnabel, C h r i s t i
Vorhersage erfüllend. O b e n links w i r d Christus v o n gemeinen, höhnischen Soldaten
abgeführt, was die Bitterkeit der Trauer des Petrus n o c h verschärft, da dies zur
gleichen Zeit mit seiner Verleugnung passiert. W ä h r e n d dieses Relief ein B i l d
tiefster menschlicher Verzweiflung darstellt, so w i r d es den Betrachtern doch
H o f f n u n g gegeben haben, i n d e m es sie daran erinnerte, daß sogar Petrus der
Apostelfürst sündigte u n d bereute, u n d daß i h m vergeben wurde.
Schenck, der i n S ü d d e u t s c h l a n d u n d dem nördlichen Teil der Schweiz, genauer
gesagt u m den Bodensee herum, tätig war, behandelte vorwiegend religiöse T h e m e n
der Reue u n d des Leidens, oft für klösterliche Auftraggeber. O b g l e i c h er tief i n der
Tradition nordischer D r u c k e u n d H o l z s k u l p t u r e n verankert war - i m expressiven
Naturalismus dieses Reliefs besonders deutlich - so war er sich doch der italienischen
Barockmodelle bewußt, was die M o n u m e n t a l i t ä t der Figur des Petrus u n d die bewegten
Formen der G e w ä n d e r des vorliegenden Reliefs bezeugen.
74
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
MC
25
LUISA R O L D A N
Diese Statue fordert die Grenze zwischen Kunst u n d W i r k l i c h k e i t heraus. D u r c h
genannt La Roldana
das Schnitzhandwerk u n d die Bemalung ist diese lebensgroße Statue einem lebenden
Spanien (Madrid), 1652-1706
Menschen täuschend ähnlich, u n d das Brokatgewand, ebenfalls aus H o l z geschnitzt,
Der Heilige Ginés de la Jara,
169(2?)
erweckt den E i n d r u c k echten Brokatstoffes. Diese erstaunliche Statue stellt die Echtheit
zur Schau, die für die spanische barocke Bildhauerei so typisch ist. D i e Eindringlichkeit
Polychromes Holz (Kiefer oder Zeder)
mit Glasaugen
des Bildes hat w o h l z u einer Intensivierung des devotionalen Erlebnisses des Betrachters
175,9 cm
beigetragen, da sie so echt u n d präsent wirkt. Dieser Effekt w i r d dadurch unterstrichen,
Inschrift auf der Oberseite des
daß der Heilige nach vorne schreitet u n d gebannt nach links schaut. Sein M u n d ist
Sockels: [LUIS] A RO[LD] AN,
geöffnet, als würde er sprechen u n d seine rechte H a n d ist i n Verwunderung erhoben;
ESC [U] L [TO] RA DE
CAMARA
AÑO 169 [2?]; ferner, mehrere Male
auf der Robe: S. GINES DE
85.SD.161
LAXARA
vermutlich hielt er einen Stab i n der l i n k e n H a n d .
Mehrere Legenden beschreiben wie der Heilige Gines, der v o n der französischen
königlichen Familie abstammte (was die Fleurs-de-Lys, E m b l e m der französischen
K ö n i g e , i m Muster des Gewands verdeutlichen), i n der Gegend v o n M u r c i a , Spanien,
auch als L a Jara bekannt, verehrt wurde. Einer dieser Legenden zufolge wurde der
Heilige i n einem Schiffswrack an L a n d gespült, als er sich auf einer Wallfahrt nach
Santiago de Compostela befand, u n d wurde anschließend als Eremit am besagten
O r t seßhaft; dieser O r t wurde i m 15. Jahrhundert z u m Heiligen Gines geweihten
Franziskanerkloster v o n L a Jara. E i n e weitere Legende besagt, daß der Heilige nach
seiner Enthauptung seinen K o p f i n einen Fluß warf, der i n L a Jara angespült wurde,
w o sich daraufhin ein Z e n t r u m des Kultes u m den Heiligen Gines bildete.
Luisa Roldän, eine der wenigen uns bekannten Bildhauerinnen des 17. Jahrhunderts,
erlernte ihr H a n d w e r k bei ihrem Vater, dem Bildhauer Pedro R o l d ä n aus Sevilla. Sie
stellte kleine Terrakottagruppen u n d Holzskulpturen i n Zusammenarbeit m i t ihrem
M a n n her, der für die Polychromie sowie die estofado zuständig war. Dieses Verfahren
k o m m t i m G e w a n d des Heiligen Gines hervorragend zur Geltung: Blattgold wurde
auf das H o l z aufgelegt u n d anschließend m i t braunem Pigment bedeckt; dann wurde
das Pigment abgekratzt, w o d u r c h das vergoldete H o l z z u m Vorschein k a m u n d der
Brokateffekt erzielt wurde, der durch Stanzarbeiten auf den Goldflächen noch verstärkt
wurde. D e r H ö h e p u n k t i n L a Roldanas Karriere k a m , als sie von Carlos II. 1692 als
königliche H o f b i l d h a u e r i n (Escultora de Camard) engagiert wurde; sie signierte den
Heiligen Gines m i t ihrem N a m e n sowie ihrem königlichen T i t e l .
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
MC
77
26
FRANgOIS GIRARDON
G i r a r d o n war der bedeutenste Bildhauer am Hofe Louis' X I V . ; er arbeitete sowohl an
Frankreich (Paris), 1628-1715
Projekten für die Schlösser v o n Versailles u n d Marly, als auch an Projekten i n Paris.
Pluto entführt
Seine frühe A u s b i l d u n g wurde durch einen Aufenthalt i n Italien abgerundet, w o
Proserpina,
ca. 1693-1710
Bronze
105,1 cm
G i r a r d o n alte u n d zeitgenössische Skulpturen studierte, was seinen feinfühligen,
klassizistisch anmutenden Stil prägte. N a c h seiner Rückkehr nach Frankreich i m
Inschrift oben am Sockel:
Jahre 1655 n a h m sich Charles Le B r u n , des K ö n i g s Erster Maler, seiner an. D i e
F. Girardon Inv. et F.
Vergabe des Auftrags für eine bedeutende M a r m o r g r u p p e , Die Nymphen bedienen
88.SB.73
Apollo, für die Grotte der Thetis i n Versailles, an G i r a r d o n , bestätigte seinen Erfolg
bei Hofe; seine Laufbahn durch die Hierarchie der Academie Royale de Peinture et
de Sculpture fand i n der E r n e n n u n g Girardons z u m Chancelier seinen H ö h e p u n k t .
D i e vorliegende Bronze wurde auf der Grundlage Girardons monumentaler
M a r m o r s k u l p t u r angefertigt, eine v o n vier jeweils dreifigürigen Entführungsgruppen,
die Teil eines grandiosen Skulpturprogramms für das Parterre d ' E a u i n Versailles waren.
Diese G r u p p e n , alle v o n unterschiedlichen Bildhauern angefertigt, sollten die vier
Elemente i n einem umfassenden kosmischen Schema, das die Assoziation Louis' X I V .
m i t dem Sonnengott A p o l l o behandelte, symbolisieren. Girardons G r u p p e , eine
A n s p i e l u n g auf das Element des Feuers, zeigt die Entführung Proserpinas durch
den G o t t der Unterwelt Pluto, der sie zur K ö n i g i n seines feurigen Reiches machte.
Pluto hebt Proserpina hoch u n d schreitet über eine ihrer am Boden liegenden
Begleiterinnnen, die N y m p h e Cyane, die i n einem vergeblichen Versuch, die
Entführung z u verhindern, an dem G e w a n d zerrt.
In seiner K o n z e p t i o n dieser Szene verdeutlichte G i r a r d o n die Ergebnisse seiner
Untersuchungen der berühmten dreifigürigen Entführungsgruppe Der Raub einer
Sabinerin ( 1 5 8 1 - 1 5 8 2 ) v o n G i a m b o l o g n a , u n d schuf eine K o m p o s i t i o n , die einige
interessante u n d informative B l i c k p u n k t e aufwirft. G i r a r d o n bezog sich ebenfalls
auf Gianlorenzo Berninis zweifigurige, dramatische Version der Geschichte v o n
Pluto u n d Proserpina, i n der die Gewalttat durch extreme Aktivität, Gestik u n d
Gesichtsausdrücke betont ist. G i r a r d o n reduzierte die Aspekte der Bewegung u n d
der E m o t i o n e n i m Vergleich z u Berninis G r u p p e u n d schuf statt dessen ein edleres,
verhalteneres B i l d des Sujets, i m E i n k l a n g m i t dem D e k o r u m des französischen
Klassizismus sowie den Erfordernissen des Auftrags, eine Skulptur anzufertigen,
die ein Element i m kosmischen Schema darstellt.
G i r a r d o n stellte mehrere Bronzen dieser populären K o m p o s i t i o n her, die manchmal
m i t einer anderen G r u p p e des Parterre d'Eau, Gaspard Marsys Boreas entführt
Orithyia,
gepaart wurden. Das J . Paul Getty M u s e u m erwarb die Skulptur Girardons zusammen
m i t einem Pendant der M a r s y G r u p p e .
78
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
M C und P A F
27
LORENZO
OTTONI
Dieses Porträtmedaillon zeigt Papst Alexander V I I I . O t t o b o n i , der nur kurz amtierte
Italien (Rom), 1648-1726
(6 O k t o b e r 1 6 8 9 - 1 Februar 1691). D i e Inschrift, "Alexander V I I I . Pontifex M a x i m u s
Porträtmedaillon
K a r d i n a l Francesco Barberini beauftragte dieses Werk", identifiziert nicht nur
Papst
Alexanders VIII., 1691 - 1 7 0 0
Weißes Marmormedaillon auf einen
bigio antico Marmorsockel
das Subjekt, sondern ungewöhnlicherweise auch den Auftraggeber, was eine enge
Beziehung zwischen beiden herstellt. Alexander, der aus einer noblen venezianischen
Familie k a m , war sehr beliebt, da er Steuern senkte, Einfuhrzölle für Lebensmittel
M i t Sockel: 88,9 cm
Inschrift, um das Medallion herum:
erhöhte, politische Spannungen m i t Frankreich entschärfte u n d Venedig i m K r i e g
ALEX. VIII.P. O.M.FRAN.
m i t den T ü r k e n unterstützte. E r war gegen jegliche Reformbewegung, die Jansenisten
BARB. F. F
95.SA.9.1.-2
CARD.
eingeschlossen. Kardinal Francesco Barberini Giuniore ließ dieses Porträt i m Gedenken
an den Papst anfertigen, der i h n 1690 z u m Kardinal ernannte. Alexander V I I I .
trägt hier einen camauro, einen H u t m i t Hermelinkrempe, u n d ein mozetta, oder
Schultertuch, ein nicht-liturgisches G e w a n d , das bei informellen Audienzen
getragen wurde.
Das Porträt ist i n einem bigio antico-Sockd i n der F o r m eines doppelköpfigen
Adlers verankert, der das Porträt i n der Luft zu halten scheint. R u d o l f I L gestattete
den O t t o b o n i , diese kaiserliche Devise 1588 i n A n e r k e n n u n g ihrer Unterstützung i m
K a m p f gegen die T ü r k e n i n ihr Familienwappen aufzunehmen. Lorenzo O t t o n i nutzte
den natürlichen Farbton des grauen M a r m o r s , i n d e m er den A d l e r aus dem dunkelsten
Teil des Steins meißelte, u m einen starken Kontrast z u m hellweißen M e d a i l l o n
zu schaffen. O t t o n i , der der Familie Barberini i m ausgehenden 17. Jahrhundert
angehörte, produzierte auch Porträtbüsten v o n M i t g l i e d e r n der Barberini,
darunter auch v o n K a r d i n a l Francescos Vater.
D i e vorliegende Arbeit verbindet mehrere, normalerweise i n Gedenk- oder
Grabmalskulpturen v o r k o m m e n d e n Elemente, woraus sich ein kleines, aber
äußerst symbolisches G e d e n k b i l d des Papstes ergibt, das i m Jahrzehnt nach
seinem T o d angefertigt wurde. Porträtmedaillons wurden oft als Teil architektonischer
Grabmalstrukturen eingesetzt. Des weiteren scheint der A d l e r - der einen Bezug z u m
W a p p e n der O t t o b o n i s herstellt u n d somit zu einem heraldischen, dynastischen M o t i f
w i r d - die Darstellung u n d , i n übertragener Weise, natürlich auch den Dargestellten
gen H i m m e l zu tragen.
M C und PF
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
81
28 A N T O N
MARIA
Diese Skulptur stellt das C h r i s t k i n d dar, unbekleidet bis auf einen v o m W i n d
M A R A G L I A N O zugeschrieben
aufgeblähten M a n t e l , den es sich u m die Schultern zieht, u n d der hinter seinem
Italien (Genua), 1664-1739
linken Bein hinweg fließt. Es steht auf einem Sockel, der felsigen Boden andeutet. Es
Christkind, ca. 1700
Polychromes Holz, mit Glasaugen
73,7 cm
96.SD.18
dreht den O b e r k ö r p e r u n d die Schultern nach links u n d streckt die H a n d i n die gleiche
R i c h t u n g ; es hielt vermutlich ein heute verlorenes Objekt i n dieser H a n d . Dies hätte
ein G l o b u s oder vielleicht ein B u n d Weintrauben sein können: erstgenanntes hätte
den Gedanken von Christus als Salvator Mundi (Retter der Welt) verdeutlicht u n d
letztgenanntes hätte eine eucharistische T h e m a t i k betont. Seine rechte H a n d ist i n einer
lieblichen Geste nach innen gebogen, was die Erscheinung des Christkindes als Zuhörer
der betenden Betrachter andeutet. Es handelt sich hier u m eine Vollplastik, die von
allen Seiten sowie auch von unten betrachtet werden kann; die Statue wurde vermutlich
bei Prozessionen getragen, eine populäre F o r m devotionalen Ausdrucks i m Italien des
17. Jahrhunderts.
D a ß Maragliano diese Skulptur zugeschrieben w i r d , beruht auf Vergleichen mit
seinen bekannten Werken, von denen viele für Genueser Bruderschaften produziert
wurden, w o die Tradition von Prozessionsskulpturen aus H o l z sehr lebendig war.
Maraglianos weitere Skulpturen haben mit dem Christkind mehrere Elemente gemein:
eine lebendige Qualität; den Naturalismus u n d den für polychrome Holzskulpturen
so typische unmittelbare, emotionale Reiz; das spiralförmige Haar u n d schließlich
die wehenden Gewänder, die den Skulpturen einen typisch barocken D y n a m i s m u s
verleihen. D i e vorliegende Skulptur ist dank der fülligen A n a t o m i e des Kindes
besonders reizvoll: die dicken Fesseln u n d K n i e , der runde Bauch, der niedliche
Gesichtsausdruck u n d die lieblichen Gesten. D u r c h diese Elemente gehört die
vorliegende Figur vollständig zur bildenden Kunst Genuas u m 1700.
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
MC
83
29
MASSIMILIANO SOLDANI
Soldani war sicherlich der herausragendste europäische Bronzegießer des späten
B E N Z I , genannt Soldani
17. u n d frühen 18. Jahrhunderts. E r war außerdem, m i t G i o v a n n i Battista Foggini,
Italien (Florenz), 1 6 5 6 - 1 7 4 0
der bedeutendste Vertreter des
Venus und Adonis,
ca. 1 7 1 5 - 1 7 1 6
Bronze
46,4 cm
93.SB.4
florentinischen
Spätbarocks i n der Bildhauerei.
D i e v o m M u s e u m erworbene G r u p p e erzählt die Geschichte v o n A d o n i s ' T o d
u n d bezieht sich dabei auf O v i d s Metamorphosen (10.495-739). Typisch für Soldanis
theatralischen Stil ist das bühnenhafte Arrangement der Figuren. D e r primäre
Betrachtungswinkel ist frontal - das i m vorigen Jahrhundert i n Florenz geborene
Genre der O p e r w i r d hier aufgenommen. D i e szenographisch anmutende Qualität der
G r u p p e w i r d durch die Verwendung v o n Landschaftsdetails, wie dem felsigen B o d e n ,
B l u m e n u n d W o l k e n , noch verstärkt; sie dienen auch als H i n t e r g r u n d für die sich
abspielende Erzählung. D i e Plastik zeigt einen S c h l ü s s e l m o m e n t u n d unterstreicht die
ergreifende Tragödie der Liebenden - der verwundete A d o n i s liegt sterbend am Boden,
86
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
während Venus, gerade erst erschienen (mit noch wehendem Gewand), den K o p f ihres
Geliebten i m Schöße hält u n d i h m i n die A u g e n schaut. Soldani benutzt die v o m W i n d
aufgeblähten G e w ä n d e r u n d andere Details, u m Spannung u n d D r a m a zu schaffen
u n d , natürlich, u m seine unübertreffliche Beherrschung des Bronzegusses zu zeigen.
So ist z u m Beispiel die Hundeleine, an der der stehende A m o r zieht, i n einer A r t u n d
Weise gespannt, die die statischen Eigenschaften v o n Bronze aufzuheben scheinen.
Eine zweite Bronze dieser G r u p p e , i n der Walters A r t Gallery, Baltimore,
steht noch auf d e m ursprünglichen Sockel, der eine Kartusche m i t der Inschrift
AMORE RESVRGAM
(Die Liebe w i r d auferstehen) trägt. Dies bezieht sich auf
O v i d s Beschreibung der Blutstropfen v o n A d o n i s ' Beinwunde, die sich sofort, als
sie den B o d e n berühren, i n A n e m o n e n verwandeln - ein Detail, das auch i n der
vorliegenden Skulptur enthalten ist.
PF
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
87
30
EDME
BOUCHARDON
Bouchardon war einer der bedeutendsten Bildhauer i m Frankreich des 18. Jahrhunderts;
Frankreich (tätig in R o m und
sein W e r k stellte eine entscheidende V e r b i n d u n g zwischen dem grandiosen, barocken
Paris), 1698-1762
Klassizismus Louis' X I V . u n d dem u m 1750 i n Erscheinung tretenden Neoklassizismus
Der Heilige
Bartholomäus,
ca. 1 7 3 4 - 1 7 5 0
Terrakotta
57,2 cm
94.SC.23
her. Bouchardon war einer der ersten französischen Bildhauer, der sich m i t einem
vollständig ausgeprägten neoklassizistischen Stil befaßte, wobei er einen allzu
nüchternen Akademismus durch naturalistisches Modellieren der Oberflächen,
elegante R e d u k t i o n der Proportionen u n d die Verwendung einfacher, anmutiger
Posen z u vermeiden wußte. Dieser Heilige Bartholomäus
aus Terrakotta ist
wahrscheinlich ein vorläufiges, später verworfenes M o d e l l für Bouchardons
D e k o r a t i o n der K i r c h e Saint-Sulpice i n Paris. Dieser Auftrag, der den Bildhauer
v o n 1734 bis 1750 beschäftigte, schrieb die Anfertigung einer lebensgroßen Steinstatue
für jede Säule i m Kirchenschiff sowie i m C h o r r a u m vor. D i e schmale u n d kompakte
Erscheinung der Figuren, die man am Heiligen Bartholomäus
gut erkennen kann,
ergeben sich durch die auftragsgebundene Plazierung vor den Säulen. O b g l e i c h
die endgültige Version des Heiligen Bartholomäus
der sich i m Besitz des M u s e u m s
befindlichen Statue nicht allzu ähnlich ist, so weisen doch zwei weitere Figuren aus
der Eglise Saint-Sulpice, Petrus u n d Der Heilige Andreas, hinsichtlich der Pose, dem
G e w a n d u n d der A n a t o m i e einige Ähnlichkeit m i t der Terrakottastatue auf.
Das Subjekt der Terrakottastatue, der Heilige B a r t h o l o m ä u s , lebte i m
1. Jahrhundert u n d soll i n Indien u n d A r m e n i e n gepredigt haben, bevor i h m
bei lebendigen Leibe die H a u t abgezogen, u n d er anschießend enthauptet wurde.
D i e meisten Porträts dieses H e i l i g e n zeigen i h n m i t einem Messer i n der H a n d ,
dem Instrument seines M a r t y r i u m s , u n d seiner eigenen H a u t über einem A r m
oder über einen Baumstamm gelegt. D e r Heilige B a r t h o l o m ä u s war v o m 16. bis
z u m 18. Jahrhundert ein häufiges u n d beliebtes M o t i v i n der Malerei, jedoch nicht i n
der Bildhauerei. Bouchardons Interpretation zeigt den Heiligen halbnackt, m i t u m ein
B u c h geklammerten H ä n d e n , den B l i c k nach rechts i n die Ferne gerichtet, als ob i h m
i n dem M o m e n t eine göttliche V i s i o n erschiene. D e r zugerichtete K ö r p e r u n d das
ausgemergelte Gesicht des alten Mannes wurden m i t äußerster Behutsamkeit u n d
Feinfühligkeit behandelt. D i e abgezogene H a u t , die über dem hinteren Teil des
Baumstamms hängt, w i r d i n grauenhaftem Detail dargestellt, die schlaffen Füße,
H ä n d e u n d Genitalien vollständig ausgearbeitet.
88 EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PAF
31
JACQUES-FRANÇOIS-
Diese M a r m o r s k u l p t u r zeigt einen jungen M a n n , dessen unbekleideter,
JOSEPH SALY
geschmeidiger K ö r p e r i n klassischem Kontrapost an einen B a u m s t u m p f lehnt, u n d
Frankreich (geboren i n
der eine kleine Ziege i m A r m hält. Bei der Figur handelt es sich u m einen Faun (ein
Valenciennes; tätig in R o m ,
Paris und Kopenhagen),
1717-1776
Faun mit einer Ziege, 1751
mythologisches Waldwesen), was an dem kleinen Schwänzchen oberhalb des Gesäßes,
der Ziege als Reflektion der eigenen ziegenhaften M e r k m a l e des Fauns sowie den
M u s i k i n s t r u m e n t e n , m i t denen Faune u n d Satyrn häufig i n V e r b i n d u n g gebracht
werden, zu erkennen ist. D e r Bildhauer dieses männlichen Aktes, Saly, verbrachte die
Marmor
Jahre v o n 1 7 4 0 - 1 7 4 8 an der A c a d é m i e Française i n R o m . Seine zahlreichen Studien
84,1 cm
Fehlerhafte Inschrift am Sockel:
u n d K o p i e n antiker Kunst k o m m e n i n dieser Skulptur zur G e l t u n g . Sie bezieht sich
NL COUSTOU
auf mindestens zwei berühmte antike Statuen: Faun mit Kind, heute i m M u s e o
FECIT
1715
85.SA.50
N a c i o n a l del Prado i n M a d r i d u n d dem Satyr mit Trauben und einer Ziege, heute
im Museo Capitolino in R o m .
Saly fertigte das Terrakottamodell für diese Marmorstatue an, als er sich n o c h i n
R o m aufhielt. K u r z nach seiner Rückkehr nach Paris reichte er eine Version aus G i p s
bei der A c a d é m i e Royale de Peinture et de Sculpture i m R a h m e n seiner Bewerbung
für eine Mitgliedschaft ein. W e n n das morceau de réception,
also das " E m p f a n g s s t ü c k " ,
angenommen wurde, folgte ein Auftrag für eine M a r m o r v e r s i o n , u n d der Künstler
wurde z u m vollständigen M i t g l i e d der A k a d e m i e erklärt. Salys Faun mit einer Ziege
wurde angenommen, u n d 1751 fiel ein V o t u m über die Frage seiner Mitgliedschaft
einstimmig zu seinen Gunsten aus. W i e auch andere morceaux de réception
— die für
die Laufbahn eines Künstlers v o n größter Bedeutung waren - war Salys Faun eine
seiner feinsten Arbeiten. M i t der Ausstellung der Skulptur i m Pariser Salon v o n
1751 erreichte Saly R u h m u n d A n e r k e n n u n g über Nacht; Louis X I V , M a d a m e
de Pompadour u n d C h r i s t i a n V I I . v o n D ä n e m a r k wurden zu seinen G ö n n e r n .
90
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PAF
32
FRANCIS H AR W O
OD
H a r w o o d war einer der wenigen englischen Bildhauer, die sich i n Italien dauerhaft
England (tätig in Florenz),
niedergelassen hatten; den größten Teil seiner Karriere verbrachte er damit, britische
tätig 1 7 4 8 - 1 7 8 3
Aristokraten m i t K o p i e n u n d R e d u k t i o n e n berühmter Antiquitäten z u versorgen
Büste eines Mannes, 1758
Schwarzer, sandiger Kalkstein
(pietra da paragone) auf einem Sockel
aus gelbem Sienamarmor
u n d M a r m o r u r n e n oder Kaminobjekte für die D e k o r a t i o n der adeligen Landsitze
anzufertigen. D i e Büste der S a m m l u n g G e t t y scheint das einzig bekannte Porträt
H a r w o o d s zu sein, das nicht direkt auf einem antiken oder zeitgenössischen Prototypen
M i t Sockel: 69,9 cm
beruht. Das Subjekt ist m i t breiter, glatter u n d m u s k u l ö s e r Brust u n d i n einem Bogen
Inschrift, entlang der unteren linken
endenen Schultern dargestellt. D i e nackte Brust, die F o r m des Abschlusses u n d der
Seite und der Rückseite: F.Harwood
Fecit 1758
88.SA.114
runde Sockel weisen auf antike Porträtbüsten sowie auf H a r w o o d s großes Interesse
für die A n t i k e h i n . A u ß e r d e m w i r d d e m Subjekt d u r c h die Assoziierung m i t antiker
K u n s t eine gewisse Noblesse verliehen.
D i e Identität des Subjekts ist nicht bekannt. D i e besonders betonten
Gesichtsmerkmale u n d die kleine Narbe über d e m rechten Auge legen die V e r m u t u n g
nahe, d a ß es sich u m eine bestimmte Person handelt; diese Tatsache, i n V e r b i n d u n g
mit d e m würdevollen A u s d r u c k u n d den Assoziationen m i t der A n t i k e , machen dieses
Porträt z u einer A u s n a h m e nicht nur i n H a r w o o d s Œ u v r e , sondern auch generell
i m H i n b l i c k auf die europäische Geschichte der Darstellung Farbiger. Afrikaner, die
1555 erstmals nach E n g l a n d gebracht wurden, waren seit d e m 18. Jahrhundert i n
der englischen Gesellschaft eine ganz alltägliche Erscheinung. Ihre Darstellung i n
der K u n s t unterlag jedoch nach wie vor stereotypen Vorstellungen. In G e m ä l d e n
wurden sie meist als Bedienstete dargestellt u n d i n den H i n t e r g r u n d verbannt. In der
Bildhauerei beschränkte sich die Wiedergabe der M e r k m a l e u n d K o s t ü m e Farbiger auf
die Symbolisierung des Exotischen. D o c h H a r w o o d s B ü s t e ist, ganz i m Gegenteil, ein
seltenes, ja sogar einzigartiges Porträt eines Farbigen i n der europäischen Bildhauerei
des 18. Jahrhunderts.
92 EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PAF
33 J E A N - J A C Q U E S C A F F I E R I
Jean-Jacques Caffieri war das letzte u n d am meisten gefeierte M i t g l i e d einer berühmten
Frankreich (Paris), 1725-1792
Künstlerfamilie; er studierte unter seinem Vater, Jacques, u n d unter Jean-Baptiste
Büste des Alexis-]ean-Eustache
Lemoyne i n Paris. E r gewann den prix de Rome 1748 u n d arbeitete während seines
Taitbout, 1762
Italien-Aufenthalts m i t Jean-François de Troy u n d Charles Natoire. I m Jahre 1757
Terrakotta
M i t Gipssockel: 64,5 cm
Inschrift auf der Rückseite:
M. Taitbout, ecuyer, chevalier de St.
Lazare consul de France ä Naples, Fait
par j.j. Caffieri en 1762
96.SC.344
stellte Caffieri religiöse u n d allegorische Arbeiten sowie Porträtbüsten i m Salon de
Paris aus; zwei Jahre darauf wurde er M i t g l i e d der A c a d é m i e Royale de Peinture et
de Sculpture.
Caffieris R u h m begann m i t der Anfertigung einer Reihe v o n Porträtbüsten für das
T h é â t r e Français, u n d i m Laufe seiner Karriere schuf er zahlreiche B ü s t e n gefeierter
Zeitgenossen. Caffieri verband Naturalismus u n d Realismus m i t psychologischem
Scharfsinn i n der Darstellung seiner Subjekte, w o m i t er den Geist des Zeitalters der
Aufklärung widerzuspiegeln wußte; seine Büste des Alexis-]ean-Eustache Taitbout ist
hierfür ein gutes Beispiel. Caffieri gab auch scheinbar unschmeichelhafte M e r k m a l e
wieder, etwa die vorstehende Nase Taitbouts, die Furchen auf der Stirn, die buschigen
Augenbrauen, die alternde H a u t sowie Muttermale, die allerdings i n h o h e m M a ß e zur
Vitalität des Bildes, das hier v o n Taitbout entsteht, beitragen. Das Subjekt, dessen
Familie während der Herrschaft Henris IV. v o n Belgien nach Paris umsiedelte, war ein
Reitersmann, ein Ritter v o n Saint-Lazare u n d französischer Generalkonsul z u Neapel i n
den 1750er Jahren. D i e informelle M a n i e r der Büste läßt vermuten, daß sie entweder
von Taitbout selbst oder einer i h m nahestehenden Person i n Auftrag gegeben wurde.
D e r persönliche Charakter der Büste w i r d dadurch unterstrichen, daß Taitbout en
négligé
dargestellt w i r d - m i t oben aufgeknöpftem H e m d ; die erfrischende, detaillierte
u n d realistische Bearbeitung u n d der E i n d r u c k der Unmittelbarkeit tragen ebenfalls
dazu bei.
94
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
P A F und PF
34 J O S E P H N O L L E K E N S
Venus, eine der drei weiblichen Gottheiten v o n Nollekens i n der S a m m l u n g Getty,
England (London), 1737-1823
wurde v o n Charles Watson-Wentworth, dem zweiten M a r q u i s v o n R o c k i n g h a m ,
Venus, 1773
i n Auftrag gegeben, u m die Statue v o n Paris, die für eine bedeutende Antiquität
Marmor
gehalten wurde, u n d die sich bereits i m Besitz Rockinghams befand, z u
124 cm
Inschrift an der Seite des Sockels:
komplementieren. M i t Paris hätten die drei G ö t t i n n e n - Minerva, Juno u n d Venus -
Nollekens F. 1773
eine G r u p p e gebildet, die den klassischen M y t h o s erzählt, demzufolge der sterbliche
87.SA.106
Schafhirte berufen wurde, zu entscheiden, welche der drei die Schönste sei. Nollekens
1
entschied sich, den A n f a n g des Parisurteils z u illustrieren, i n d e m er jede G ö t t i n i n
unterschiedlichen "Entkleidungsphasen" darstellte, während diese sich die G u n s t des
Schafhirten z u sichern suchten. Minerva, jungfräuliche G ö t t i n der Weisheit u n d des
Krieges, war bei weitem die bescheidenste der drei G ö t t i n n e n , u n d so hob sie nur ihre
H ä n d e , u m ihren H e l m abzunehmen. Juno, G ö t t i n der Ehe, entblößt eine Brust beim
Offnen ihres Kleides. Venus, G ö t t i n der Liebe, u n d die Siegerin dieses Wettbewerbs, ist
v o l l k o m m e n unbekleidet - bis auf die einzelne Sandale, die sie i m Begriff ist, v o n ihrem
Fuß z u streifen.
O b g l e i c h Nollekens eher als Bildhauer v o n Porträtbüsten u n d D e n k m ä l e r n
bekannt war, galt sein besonderes Interesse doch auch freistehenden, mythologischen
Figuren. Solche Skulpturen sind sehr selten, u n d so stellen die Marmorstatuen i m
Getty M u s e u m eine der frühesten bedeutenden G r u p p e n v o n Museumsskulpturen
eines englischen Bildhauers für einen englischen G ö n n e r dar. Nollekens studierte
acht Jahre i n R o m u n d sein Stil - ein betonter Klassizismus, m i t scheuem C h a r m e
durchzogen - weist den Einfluß italienischer Bildhauerei der A n t i k e sowie des
16. Jahrhunderts auf. D i e Venus-Statue beruht i n ihrer K o m p o s i t i o n auf mehreren
bildhauerischen Q u e l l e n , etwa den Arbeiten des
florentinischen
Bildhauers des
Manierismus G i a m b o l o g n a . Nollekens' Interesse an G i a m b o l o g n a sowie seine
Verschönerungen typischer mythologischer Sujets untersteichen seine lyrische
u n d freizügige Herangehensweise an die klassische Vergangenheit.
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PAF
97
35
CLAUDE MICHEL,
In der Geschichte europäischer Bildhauerei ist C l o d i o n der vielleicht berühmteste
genannt C l o d i o n
Bildhauer, der m i t T o n arbeitete. W ä h r e n d seiner neunjährigen Studienzeit i n R o m
Frankreich (geboren in Nancy;
auch tätig i n R o m und Paris),
1738-1814
Eine Vestalin präsentiert
eine
junge Frau am Altar des Pan,
( 1 7 6 2 - 1 7 7 1 ) errangen seine Terrakotten einen derartigen R u h m , daß, wie seine erste
Biographie verkündet, "Amateure i h m die unfertigen Skulpturen abkauften." E i n e
seiner Bewunderinnen war Kaiserin Katharina II. v o n Russland, die vergeblich
versuchte, i h n an ihren H o f z u locken. C l o d i o n wußte während seines R o m Aufenthalts das wachsende Interesse v o n Sammlern an Terrakottaskulpturen z u
ca. 1775
Terrakotta
nutzen, u n d seine technische Brillianz trug auch dazu bei, daß sie zunehmend als
45,1 cm
eigenständige Kunstwerke ästhetisch geschätzt wurden (anstatt nur als Skizze oder
Inschrift auf den Wolken, hinten an
der rechten Seite:
85.SC.166
CLODION
M o d e l l für eine A r b e i t aus einem permanenteren M a t e r i a l zu dienen).
D i e vorliegende A r b e i t zeigt eine als Vestalin gekleidete Frau, die ein junges
M ä d c h e n z u der Figur Pans führt, d e m G o t t der W e i d e n u n d der Fruchtbarkeit. A m o r ,
dessen Pfeil u n d Bogen am B o d e n liegen, hat soeben einen Rosenkranz strategisch
u m die H e r m e gehängt. D e r Weihrauchbrenner u n d der Opferdreifuß, die neben Pan
stehen, legen die V e r m u t u n g nahe, daß es sich bei der H e r m e u m einen Altar handelt
u n d hier eine liebes- oder ehebezogene Initiationsszene erzählt w i r d . Ähnliche Sujets mit Figuren i n klassischem G e w a n d i n Szenen der Liebe, der Opfergabe u n d anderen
altertümlichen R i t e n - waren i n der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts i n Frankreich
sehr beliebt. M i t diesen Sujets beschäftigten sich M a l e r wie Charles Natoire, Joseph
V i e n u n d Jean-Honore Fragonard i n den 1760er u n d 1770er Jahren, aber auch
Bildhauer, die G r u p p e n aus Biskuitporzellan für die Porzellanmanufaktur Sevres
produzierten. C l o d i o n s spielerische, romantische Auffassung der klassischen W e l t
w i r d i n der vorliegenden Skulptur widergespiegelt; diese Arbeit ist typisch für C l o d i o n
i n ihrer Darstellung der Szene eines nicht-seriösen Genres m i t mythologischen Figuren
zweiten Ranges. ( C l o d i o n hat selten monumentale Szenen behandelt oder bedeutende,
klassische G ö t t e r abgebildet.) Ferner ist die Zusammenstellung eines grotesken Mannes
m i t einer hübschen Frau typisch für C l o d i o n s Arbeiten. O b g l e i c h es sich hier u m eine
Vollplastik handelt, ist der primäre B l i c k w i n k e l frontal.
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PF
99
36
PHILIPPE-LAURENT
R O L A N D zugeschrieben
Frankreich (Paris), 1 7 4 6 - 1 8 1 6
Allegorische Gruppe mit der
Porträtbüste
eines Architekten
(möglicherweise Pierre
Rousseau), ca. 1780-1790
Terrakotta
67,3 cm
97.SC.9
D i e Figuren dieser Skulptur gruppieren sich u m die Büste eines Mannes auf einem
klassizistisch anmutenden, runden Sockel. E i n e weibliche Figur i n antiker K l e i d u n g
u n d entspannter Pose, m i t gekreuzten Beinen (eine A r t , i n der M u s e n oft dargestellt
werden), legt ihren A r m u m die Büste, die sie gerade zwei kleinen K i n d e r n zeigt. Eines
der K i n d e r sitzt auf einem H o c k e r u n d blickt zur Büste empor, die linke H a n d i n
einer entsprechenden Geste erhoben. Das andere K i n d versucht eifrig, den Sockel
zu e r k l i m m e n . H i n t e r d e m stehenden K i n d sieht m a n auf dem B o d e n die Instrumente
eines Architekten: Z i r k e l , W i n k e l m a ß , G l o b u s , Bücher u n d Papierrollen - Hinweise
auf den B e r u f des Subjekts der Büste. Schließlich befindet sich n o c h ein kleiner H u n d ,
S y m b o l für eheliche Treue u n d familiäre Pietät, hinter der weiblichen Figur, was einen
weitern Aspekt des Subjekts enthüllt: seine Rolle als Familienvater. D i e ungezungene
Beziehung zwischen den Figuren u n d dem Porträt deuten fast ein familiäres Verhältnis
an, während die didaktische Geste der Frau ein beliebtes moralisierendes Sujet
des 18. Jahrhunderts i n E r i n n e r u n g ruft: die ihre K i n d e r unterrichtende Mutter.
D i e Zuschreibung der G r u p p e z u R o l a n d beruht auf d e m subtilen, lyrischen
Klassizismus der weiblichen Figur, ein Aspekt v o n Rolands Stil, den er während seines
fünfjährigen Aufenthalts i n R o m entwickelte. Des weiteren sind die Sentimentalität
u n d der Naturalismus der G r u p p e - verdeutlicht durch die entspannte Pose der Frau,
die sorgsame Wiedergabe ihrer A n a t o m i e , die spielerische Energie der K i n d e r u n d die
subtil modellierte, sensible Qualität der Büste - für die dokumentierten Skulpturen
Rolands charakteristisch.
MC
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
101
37 A N T O N I O
CANOVA
A n t o n i o C a n o v a galt v o n den 1790er Jahren bis zu seinem T o d als der größte
Italien (tätig in Rom),
neoklassizistische Bildhauer u n d war w o h l der berühmteste europäische Künstler
1757-1822
seiner Zeit. Trotz seines Rufes als Meister des Neoklassizismus weisen Canovas frühe
Apollo krönt sich selbst,
1781-1782
Arbeiten, i n Venedig ausgeführt, eine größere Affinität zur Bildhauerei des S p ä t b a r o c k
u n d des R o k o k o auf. D i e vorliegende Statuette v o n Apollo war Canovas erste römische
Marmor
Arbeit i n M a r m o r u n d stellt einen W e n d e p u n k t i n seiner Karriere dar. D u r c h die
84,8 cm
Inschrift auf dem Baumstamm:
unmittelbare Studie antiker Statuen inspiriert, diente diese Figur als ein frühes
ANT. CANOVAJVENET.
Beispiel des anmutigen Stils u n d idealisierten Schönheit, die über die nächsten
FA CIEBJ
1781
95.SA.71
vierzig Jahre z u m Markenzeichen dieses Bildhauers werden sollten.
W ä h r e n d sich C a n o v a 1781 i n R o m aufhielt, wurde er v o n D o n A b b o n d i d o
Rezzonico gebeten, diese Statuette v o n Apollo zu produzieren, damit sie i m R a h m e n
eines Wettbewerbs m i t einer Skulptur der Minerva (heute verloren) des römischen
Bildhauers Giuseppe A n g i o l i n i beurteilt werden konnte. Canovas Skulptur, die seine
meisterhafte Beherrschung des neoklassizistischen Stils unter Beweis stellen sollte,
ist eine Studie klassischer Pose u n d Proportion. D i e H a l t u n g des nackten Gottes
entspricht dem kanonischen Kontrapost, bei dem angestrengte Glieder entspannten
G l i e d e r n gegenüberstehen u n d der K ö r p e r i n harmonischem E q u i l i b r i u m ruht. Das
Sujet der Statuette ist v o n einer berühmten Geschichte i n O v i d s Metamorphosen
abgeleitet. V o n einem lüsternen A p o l l o verfolgt, ruft die völlig verängstigte, schöne
N y m p h e D a p h n e die G ö t t i n D i a n a u m Hilfe, die D a p h n e kurzerhand i n einen
Lorbeerbaum verwandelt, u m ihre Jungfräulichkeit z u wahren. A p o l l o , der sich
daraufhin m i t Lorbeerblättern den K o p f schmückt, lamentiert: " W e n n d u nicht meine
Braut sein kannst, so sollst d u wenigstens m e i n B a u m sein. M e i n Haar, meine Leier,
m e i n K ö c h e r sollen auf E w i g m i t dir verschlungen sein, O Lorbeere" ( 1 . 5 5 7 - 5 5 9 ) .
D a ß C a n o v a diesen relativ ruhigen, selten wiedergegebenen M o m e n t einer sonst sehr
handlungsreichen Geschichte für seine Arbeit gewählt hat, zeugt v o n seinem Bestreben,
sich auf den klassischen A k t z u konzentrieren - was durch den Verzicht auf Bewegung
oder extreme E m o t i o n verstärkt w i r d . Es verdeutlicht darüber hinaus, daß C a n o v a zeit
seines Lebens vielsagende, introspektive Szenen bevorzugte.
102 E U R O P Ä I S C H E B I L D H A U E R E I
PAF
38 J O H N
DEARE
J o h n Deare war einer der fähigsten u n d innovativsten britischen Bildhauer des
England (geboren in Liverpool,
Neoklassizismus. E r signierte dieses Relief ("John Deare schuf dies") i n Griechisch,
tätig i n L o n d o n und Rom),
statt i m eher üblichen Latein. In frühem Alter bereits hochbegabt, begann er seine
1759-1798
Venus liegt auf einem
Seeungeheuer mit Amor und
einem Putto, 1 7 8 5 - 1 7 8 7
Marmor
Lehre 1776 bei dem Bildhauer T h o m a s Carter. I m Jahre 1780 war er der j ü n g s t e
Künstler, dem je die Goldmedaille der Royal A c a d e m y verliehen wurde, u n d 1785
ging er als Stipendiat der A k a d e m i e nach R o m , u m antike Bildhauerei z u studieren.
E r produzierte dort zahlreiche Einzelskulpturen u n d hatte großen Erfolg, insbesondere
33,7 cm
bei den englischen Touristen, die sich auf der sogenannten G r a n d T o u r befanden (eine
A u f Griechisch signiert: I Q A N N H X
A r t privater Studienreise, die betuchte Engländer z u den wichtigsten Schauplätzen der
A E A P H EITOIEI
A n t i k e unternahmen). E r spezialisierte sich auf Reliefskulptur, u n d selbst C a n o v a soll
98.SA.4
seine Arbeit gelobt haben. Deares blühende Karriere wurde v o n seinem frühen T o d
jäh abgebrochen; aufgrund seiner Angewohnheit, auf einem B l o c k kalten M a r m o r s
einzuschlafen, u m sich i m T r a u m für seine nächste A r b e i t inspirieren z u lassen, soll
er sich ein tödliches Fieber zugezogen haben.
Das Relief zeigt Venus, die G ö t t i n der Liebe u n d Schönheit, die auf einem
Seeungeheuer liegt; das Ungeheuer erscheint i n der F o r m einer Ziege m i t einem
Fischschwanz. D i e Finger der Venus sind i n den Barthaaren des Ungeheuers
verwickelt - eine Variation der Geste des Kinnkraulens, die traditionellerweise
erotische Absichten darstellt - u n d das Biest leckt i n E r w i d e r u n g ihre H a n d . A m o r ,
rittlings auf dem Ungeheuer, ist drauf u n d dran, einen Pfeil i n die R i c h t u n g der Venus
zu schießen, u n d ein Putto hält eine brennende Fackel i n die M i t t e der Szene, was den
a m o u r ö s e n U n t e r t o n des Bildes noch verstärkt. D a ß es sich hier u m eine Allegorie der
Lust handelt, w i r d durch die Position der Venus angedeutet: seit dem Mittelalter wurde
die Lust durch eine auf einer Ziege reitenden Frau dargestellt.
D i e Seeziege trägt Venus durch die s c h ä u m e n d e n W e l l e n , die m i t der Energie u n d
Präzision gemeißelt sind, die für Deares Meisterschaft i n der Herstellung v o n Reliefs
charakteristisch ist. Deares Reliefs weisen typischerweise mehrere Schichten auf, wie
hier, die v o l l k o m m e n dreidimensionale Schnauze der Seeziege, die i m H a l b r e l i e f
dargestellte Venus u n d die i m Basrelief wiedergegebenen Figuren, A m o r u n d Putto.
M C und P A F
104 E U R O P Ä I S C H E B I L D H A U E R E I
39 J O S E P H C H I N A R D
C h i n a r d war der führende Bildhauer des französichen E m p i r e u n d , nach Canova, der
Frankreich (Lyon), 1 7 5 6 - 1 8 1 3
v o n N a p o l e o n u n d der Familie Bonaparte am meisten geschätzte Bildhauer. W i e auch
Die Familie des General
der M a l e r Jean-Auguste-Dominique Ingres produzierte C h i n a r d eine V i e l z a h l großer,
Philippe-Guillaume Duhesme,
ca. 1808
Terrakotta
56 cm
historischer u n d mythologischer Werke, doch er wurde insbesondere als brillianter
Porträtist geschätzt. E r ging auf sehr innovative Weise an das formale Problem
des Abschlusses bei Büsten heran: er milderte den Effekt der Stutzung, i n d e m er
Inschrift an der Vorderseite: chinard
zeitgenössische Haute-Couture-Accessoires spitzfindig plazierte, u m die B ü s t e m i t
statuaire à Lyon
dem Sockel zu verschmelzen. D u r c h die Darstellung v o n Szenen i n Basrelief u n d
85.SC.82
die Verwendung symbolträchtiger Accessoires führte er erzählerische Elemente i n
die Porträtbildhauerei ein, die vorher der Porträtmalerei mehr oder weniger exklusiv
vorbehalten waren.
Es war w o h l C h i n a r d , der mehr als irgend ein anderer das Porträtmedaillon als
langfristiges M o d e l l i m Frankreich des 19. Jahrhunderts etabliert hat. Seine runden
Reliefprofile eminenter Persönlichkeiten - wie jenes, daß die Frau i n der vorliegenden
Arbeit hält - wurden i n hoher Auflage produziert u n d wurden zu Prototypen für
tausende ähnlicher Objekte, die i m Laufe des Jahrhunderts angefertigt wurden.
D i e vorliegende Arbeit ist charakteristisch für Chinards A n w e n d u n g klassischer
K o m p o s i t i o n e n u n d Formen, die den R a h m e n für detaillierte Darstellungen
zeitgenössischer Sujets bildeten. D i e Skulptur zeigt Frau u n d S o h n des General
Duhesme wie sie sein Medaillonporträt halten u n d betrachten. D i e beiden Figuren
sind i n Liebe miteinander verbunden, was durch die beiden A m o r f i g u r e n angedeutet
w i r d , die die dekorative Kordel der Liege halten, auf der M u t t e r u n d S o h n sich
befinden. Es handelt sich hier u m eine sehr seltene A r t v o n Skulptur: die detaillierten
Porträts dreier Familienmitglieder (höchst akkurat i n Kleidern u n d Frisuren der Zeit
dargestellt) werden i n eine phantasievolle, rührende Genre-Szene eingebunden. Diese
Skulptur veranschaulicht Chinards Beitrag zur Geschichte der Bildhauerei - die
Einführung erzählerischer K o m p o n e n t e n i n die Kunst des Porträtierens u n d die
Verschmelzung v o n Fakten u n d M o d e z u rein ästhetischen Konfigurationen.
P h i l i p p e - G u i l l a u m e Duhesme wurde 1766 i n B o u r g n e u f (Saöne-et-Loire)
geboren u n d starb 1815 i n Gennapes, Belgien. I m Jahre 1808 wurde er Gouverneur
v o n Catalonia, Nordspanien. D a C h i n a r d 1813 starb, also zwei Jahre bevor General
Duhesme verschied, k a n n es sich bei dieser Arbeit nicht u m ein M o d e l l für Duhesmes
G r a b m a l handeln. Höchstwahrscheinlich wurde die Terrakottaskulptur 1808 oder
kurze Zeit später angefertigt, als Duhesme nach Spanien ging u n d seine Familie i n
Frankreich zurücklies; die Skulptur diente daher vermutlich als ein A n d e n k e n für
die Familie.
106 E U R O P Ä I S C H E B I L D H A U E R E I
PF
40
PIERRE-JEAN DAVID
D'ANGERS
Frankreich (tätig in Angers und
Paris), 1788-1856
Büste der Mary Robinson, 1824
Marmor
46,4 cm
D a v i d d'Angers war der innovativste u n d einflußreichste Porträtbildhauer der
R o m a n t i k . Seine frühen Arbeiten, wie diese Büste einer jungen A m e r i k a n e r i n ,
spiegeln allerdings auch Einflüsse damaliger neoklassizistischer Tendenzen wider.
Diese Darstellung M a r y Robinsons ist i n betonter Einfachheit u n d geometrischer
Abstraktion gehalten. Ihre Gesichtszüge sind akkurat wiedergegeben, wofür die kleine
Beule unterhalb des Nasenbeins u n d die bogenförmigen L i p p e n ein Indiz sein m ö g e n .
Inschrift an der Seite des Sockels:
D i e nackte Brust endet jedoch wie eine abstrakte, klassische H e r m e . Das Haar ist zu
PJ.DAVID/1824
zwei großen Schlaufen zusammengebunden, die i n B ü n d e l n v o n L o c k e n aufgehen.
93.SA.56
D i e aufwendige Frisur ist eine A n s p i e l u n g an die stilisierte, Troubadour-ähnliche
Haarmode der Zeit, u n d gibt der Büste tief gemeißelte, beinahe architektonische
Akzente. D i e geometrische Reinheit der Büste w i r d weiterhin durch die Abwesenheit
jeglicher persönlicher Accessoires, etwa K l e i d u n g , S c h m u c k oder Haarschmuck,
unterstrichen. D i e V e r b i n d u n g realistischer Gesichtszüge m i t abstrakten Elementen
ist typisch für die weiblichen Porträts D a v i d d'Angers' der 1820er u n d 1830er Jahre.
W i e die G e m ä l d e v o n Jean-Auguste-Dominique Ingres ist die Büste der Mary Robinson
ein ausgezeichnetes Beispiel für die stilisierte Raffinesse vieler Werke v o n Künstlern des
frühen 19. Jahrhunderts.
M a r y R o b i n s o n war die Tochter K a p i t ä n H e n r y Robinsons (1782—1866) aus
N e w b u r g h , N e w York. K a p i t ä n R o b i n s o n war A l l e i n - oder Teilinhaber einer Reihe
von Postschiffen, die die Route N e w York—Le Havre bedienten. Seine vielen Reisen
nach Frankreich gaben R o b i n s o n u n d d e m M a r q u i s de Lafayette vermutlich die
Gelegenheit, eine enge Bekanntschaft z u pflegen. Möglicherweise war es Lafayette,
der R o b i n s o n m i t D a v i d d'Angers bekannt machte u n d dadurch den Auftrag einer
Porträtbüste v o n Robinsons Tochter ermöglichte. I m Jahre 1831 fertigte D a v i d
d'Angers auch eine Porträtbüste Robinsons Ehefrau, A n n Buchan R o b i n s o n
( 1 7 9 1 - 1 8 5 3 ) , an; diese M a r m o r b ü s t e ist heute i m Besitz des M u s e u m o f the
C i t y o f N e w York.
PAF
E U R O P Ä I S C H E B I L D H A U E R E I 111
41
ANTOINE-LOUIS BARYE
Barye war der herausragendste Bildhauer bronzener Tierskulpturen des 19. Jahrhunderts,
Frankreich (Paris), 1796-1875
ein äußerst begabter Zeichner u n d angesehener Aquarellist. E r war außerdem M i t g l i e d
Eine Pythonschlange tötet ein
der Barbizon Schule der Landschaftsmaler. Sein W e r k zeichnet sich durch seine
Gnu, 1834-1835
Gips, mit rotem Wachs retouchiert
27,9 cm
Inschrift am Sockel: BARYE
85.SE.48
wissenschaftliche Beobachtung natürlicher Formen aus sowie die Betonung der
gewaltsamen u n d räuberischen Aspekte seiner Subjekte, weshalb man i h n voll u n d
ganz i n der französischen R o m a n t i k ansiedeln kann. In den späten 1820er Jahren
begann Barye, Zeichnungen v o n Tieren i m Z o o des Pariser Jardin des Plantes
anzufertigen sowie v o n ausgestopften Tieren u n d Skeletten i m Laboratoire d'Anatomie
C o m p a r é e i m M u s é e d'Histoire Naturelle; dieser Tätigkeit ging er für den Rest seines
Lebens nach. E r besuchte auch Vorlesungen französischer Botaniker u n d Z o o l o g e n
u n d studierte A b h a n d l u n g e n über Zoologie u n d tierische A n a t o m i e . Sein intensives
Studieren der Fauna gab i h m die Möglichkeit, die Bewegungen u n d die M u s k u l a t u r
seiner Lieblingsmotive akkurat darzustellen - exotische Raubtiere i n brutalen
Kampfszenen. D u r c h die W a h l solch dramatischer Sujets hob Barye den Status
der Tierbronze auf das N i v e a u traditioneller, akademischer Sujets aus der Bibel,
der M y t h o l o g i e oder der Geschichte.
I m Jahre 1834 beauftragte der H e r z o g v o n Orléans Barye m i t der Anfertigung neun
kleiner Bronzengruppen als Hauptelemente eines kunstvollen surtout de table, eines
Objekts für die Tischmitte i m Palais des Tuileries. Barye brauchte fünf Jahre, u m die
Reihe zu vollenden, die fünf Jagdszenen u n d vier Tierkampfszenen umfaßte, darunter
Eine Pythonschlange tötet ein Gnu. Das G i p s m o d e l l m i t rotem Wachs für diese Bronze
zeigt eine u m ein zusammengebrochenes G n u gewundene Python, die dem G n u i n
den Hals beißt, während es seinen letzten A t e m z u g macht. D i e Pose des G n u s , der
zurückgebeugte Kopf, der offene M u n d u n d die bebenden N ü s t e r n tragen wesentlich
z u m Pathos dieses gewaltsamen Sujets bei. Baryes meisterhaft realistische Detaillierung
- etwa die Kreuzschattierung am glatten Schlangenkörper oder die parallelen L i n i e n ,
die das zottelige Fell des G n u s beschreiben - unterstreicht die natürliche Pracht der
Tiere i m tödlichen K a m p f ums Überleben.
114 E U R O P Ä I S C H E B I L D H A U E R E I
PAF
42
H E N R Y WEEKES, R.A.
M a r y Jane Seacole, geb. G r a n t ( 1 8 0 5 - 1 8 8 1 ) , war eine außergewöhnliche Jamaikanerin,
England (geboren in Canterbury;
die der viktorianischen Gesellschaft als unermüdliche Krankenschwester u n d Helferin
tätig in London), 1807-1877
englischer Soldaten während des Krimkrieges bekannt war. In K i n g s t o n , Jamaika,
Büste der Mary Seacole, 1859
Marmor, mit integriertem
Marmorsockel
geboren, reiste Seacole ausgiebig i n S ü d - u n d Mittelamerika, w o sie wertvolle Kenntnisse
zur Behandlung v o n C h o l e r a u n d Gelbsucht erwarb. A l s der Krieg 1854 ausbrach,
versuchte sie, i n einer Einheit britischer Krankenschwestern tätig z u werden, wurde
66 cm
Inschrift an der Rückseite:
aber mehrere M a l e zurückgewiesen. Sie eröffnete daraufhin ihr eigenes K r i m - " H o t e l " ,
H. WEEKES, A.RAJSc.
u m Soldaten m i t Lebensmitteln, Unterkunft u n d medizinischer Behandlung zu
95.SA.82
1859.
versorgen. Sie wurde für ihre selbstlose Aufopferung u n d ihren M u t berühmt, ging
sie d o c h täglich an die Front, u m sich u m Verwundete u n d Sterbende zu k ü m m e r n .
Die wunderbaren Abenteuer von Mrs. Seacole in vielen Ländern,
ihre Autobiographie
v o n 1857, war ein großer Erfolg, u n d Seacole wurde i m viktorianischen England zu
einem Begriff. D i e Identifizierung Seacoles als Subjekt dieser Büste beruht auf großen
Ähnlichkeiten der Gesichtszüge u n d der Frisur i n dokumentierten Porträts Seacoles,
darunter ein Aquarell i n der N a t i o n a l Library o f Jamaica u n d eine Terrakottabüste
i m Institute o f Jamaica.
Weekes, ein Schüler Francis Chantreys ( 1 7 8 1 - 1 8 4 1 ) , etablierte sich zuerst als
Porträtist; er war v o n 1868 bis 1876 Professor an der Royal A c a d e m y i n L o n d o n .
O b w o h l die M e h r z a h l seiner Büsten auf den von Chantrey etablierten klassizistischen
Typen beruhten, führte Weekes ein Element des Kunstvollen u n d des Erfinderischen
i n das Genre der Porträtskulptur ein. Seine Büste der M a r y Jane Seacole, bei weitem
sein phantasievollstes Porträt, verbindet Naturalismus m i t dem Phantastischen. Das
Gesicht, jede kleine Nuance, jedes G r ü b c h e n ist realistisch wiedergegeben, auch das
eng gewellte H a a r der M u l a t t i n , daß i n einem Haarnetz gehalten w i r d , einem damals
üblichen Haarschmuck. Gleichzeitig scheinen K o p f u n d Brust aus einem Strauß
leicht gebogener Palmenblätter hervorzukommen, ohne daß die Blätter auch nur
i m geringsten v o n dem G e w i c h t geknickt würden, u n d das ganze Ensemble sitzt auf
einem konvexen R i n g stilisierten Laubs. Weekes' innovativer, wunderlicher E n t w u r f
macht die Büste der Mary Jane Seacole z u einer seiner vollendedsten Arbeiten.
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
PAF
117
43
JEAN-BAPTISTE
Carpeaux war der führende Bildhauer i n Frankreich u m die M i t t e des 19. Jahrhunderts
CARPEAUX
und der bevorzugte Porträtbildhauer Napoleons III. u n d seines gesamten Hofes.
Frankreich (geboren in
D e r Stil von Carpeauxs Porträts spiegelt die Wiederbelebung des R o k o k o wider,
Valenciennes, tätig in Paris),
1827-1875
Büste des Jean-Léon
Gérôme,
1872-1873
Marmor
die auch i n vielen anderen Skulpturen dieser Periode zu erkennen ist. Carpeauxs
Skulpturen sind allerdings auch von einem oft ergreifenden Realismus durchdrungen.
D i e Büste des Jean-Leon Geröme ist ein freundschaftliches Porträt eines
Künstlerkollegen, der aus politischen G r ü n d e n nach E n g l a n d ins E x i l ging.
M i t Sockel: 61 cm
Sicherlich ist dies eine der wundervollsten u n d ansprechendsten Porträtskulpturen
Inschrift an der linken Seite unterhalb
des 19. Jahrhunderts. Carpeaux stellte seinen Kollegen i n einer typologisch völlig
des Abschlusses: ]kP Carpeaux
88.SA.8
neuartigen M a n i e r dar: die Büste ist schartig gestutzt u n d auf einer klassizistisch
anmutenden Kartusche plaziert, was antike Arbeiten i n Erinnerung ruft. G e r o m e
w i r d m i t eingefallenen A u g e n u n d Wangen u n d m i t v o m W i n d e zerwühltem Haar
abgebildet, was das romantische B i l d des Künstlers als verzweifelten u n d entfremdeten
Geist wachruft. O b g l e i c h Carpeaux i n der Büste des Jean-Leon Geröme
Elemente
der R o m a n t i k m i t klassischer Kunst verbindet, ist die Büste doch sehr modern: die
unvollständige Behandlung des Halses erinnert an den Effekt impressionistischer
Skizzen, die sich auf bestimmte Details konzentrieren, jedoch andere nur
flüchtig wiedergeben.
PF
E U R O P Ä I S C H E B I L D H A U E R E I 119
44
ALBERT-ERNEST
Diese Terrakottaskulptur zeigt den b e r ü h m t e n französischen Schrifsteller Alexandre
CARRIER-BELLEUSE
D u m a s pere ( 1 8 0 2 - 1 8 7 0 ) , der m i t seinen historischen R o m a n e n , wie z u m Beispiel Die
Frankreich (tätig i n Paris),
1824-1887
Modell für
ein Denkmal an
Alexandre Dumas pere, ca. 1883
Terrakotta
drei Musketiere u n d Der Graf von Monte Cristo, internationalen R u h m erlangte (beide
Werke werden i n der Inschrift auf d e m Pfeiler erwähnt). Carrier-Belleuse war ein enger
Freund des Schrifstellers; die sehr persönliche Darstellung D u m a s ' - die bewußt die
informellen Porträts v o n Künstlern i m 18. Jahrhundert wachruft - scheint die enge
80,7 cm
Beziehung, die die beiden miteinander verband, widerzuspiegeln. D e r Bildhauer zeigt
Inschrift an der Oberseite des
D u m a s i n einfachem H e m d , H o s e n u n d einem langen H a u s m a n t e l (rohe de chambre),
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den D u m a s aufgebauscht u n d i n achtloser, unordentlicher M a n i e r zuhält. D i e
Inschrift am Pfeiler: TROiS
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scheinbar nonchalante K l e i d u n g des Schriftstellers steht i n starkem Kontrast zur
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dramatischen W e n d u n g seines Kopfes u n d der Intensität seines Gesichtsausdrucks.
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In seiner rechten H a n d einen Füller haltend, u n d die linke H a n d a u f einem Stapel
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M a n u s k r i p t e ruhend, blickt D u m a s auf, als ob er i n seiner kreativen T ä t i g k e i t
Etc. Etc.
unterbrochen wurde. D i e Figur D u m a s ' bildet eine erhebliche, vertikale Masse,
94.SC.19
u n d die gesamte K o m p o s i t i o n ist i n groben, einfachen Z ü g e n gehalten. In dieser
H i n s i c h t n i m m t der E n t w u r f eines der größten modernen D e n k m ä l e r an einen
H e l d e n der französischen Literatur vorweg, die Statue Balzac v o n Auguste R o d i n ,
der als Assistent i m Atelier Carrier-Belleuses gearbeitet hatte.
Carrier-Belleuse, der exzellent i n T o n modellierte, schuf zahlreiche Werke, die sich
d u r c h ihre stark artikulierten Oberflächen u n d reichhaltige D e t a i l l i e r u n g auszeichnen.
D i e Bearbeitung des Tons der Skulptur der S a m m l u n g G e t t y ist ein Indiz dafür, daß es
sich u m ein Skizzenmodell handelt. D e r Saum des Hausmantels weist Fingerabdrücke
des Bildhauers auf, w o er zusätzlichen T o n einarbeitete, u n d i m H a a r sind deutliche
Spuren spontaner, reger A p p l i k a t i o n e n einer N a d e l oder eines spitzen Werkzeugs z u
erkennen. Das M o d e l l wurde i n Vorbereitung für ein Bronzedenkmal angefertigt, das
1884 i n D u m a s ' H e i m a t o r t Villers-Cotterets aufgestellt wurde. D i e Statue wurde zwar
w ä h r e n d des zweiten Weltkrieges zerstört, d o c h sie ist i n zahlreichen Fotografien aus
d e m späten 19. u n d frühen 20. Jahrhundert dokumentiert.
120 E U R O P Ä I S C H E B I L D H A U E R E I
PAF
45
ADOLF V O N
V o n H i l d e b r a n d war einer der führenden deutschen Bildhauer seiner Zeit. E r wurde i n
HILDEBRAND
N ü r n b e r g u n d M ü n c h e n ausgebildet u n d studierte i n den 1860er u n d 1870er Jahren
Deutschland (geboren in
i n Italien die Kunst der A n t i k e u n d der Renaissance; er reiste v o n 1890 bis z u seinem
Marburg; tätig in München
und Florenz), 1847-1921
Doppelporträt
Künstlers,
der Töchter
des
1889
Polychrome Terrakotta
50 cm
86.SC.729
T o d zwischen Florenz u n d M ü n c h e n h i n u n d her. D i e E n t w i c k l u n g seines Stils war
maßgeblich v o n Bildhauern der Renaissance beeinflußt, wie z u m Beispiel A n d r e a del
Verrocchio, Desidiero da Settignano u n d L u c a u n d A n d r e a della R o b b i a . In dieser
D o p p e l b ü s t e rufen der gerade, horizontale Abschluß unterhalb der Dekoltes, der
flache, ovale Sockel u n d das polychrome Terrakotta italienische Porträt- u n d
Reliquienbüsten des 15. Jahrhunderts i n Erinnerung.
D i e Skulptur der S a m m l u n g Getty zeigt v o n Hildebrands Töchter, Silvia, vier,
u n d Bertel, drei Jahre alt. Dieses bewegende u n d feinfühlige Porträt unterscheidet
sich i n h o h e m M a ß e v o n den sehr verhaltenen, offiziellen Porträts u n d D e n k m ä l e r n Auftragsarbeiten, aus denen sich der größte Teil v o n Hildebrands W e r k zusammensetzt.
D i e D o p p e l b ü s t e war als Format i n der Geschichte der Bildhauerei zwar selten, doch
i n der M a l e r e i des Neoklassizismus u n d der R o m a n t i k war es eine verbreitete u n d
populäre A r t der Darstellung, insbesondere, u m die emotionalen Bande zwischen
Liebenden, Freunden oder Verwandten zu betonen. V o n H i l d e b r a n d war einer der
wenigen Bildhauer, der diese Formel i n einer freistehenden Porträtskulptur anwandte.
Seine sehr intime u n d persönliche Darstellung, die seine jüngere Tochter i n einem
verträumten M o m e n t festhält, ist ein Zeugnis für das liebevolle Verhältnis zwischen
den Subjekten u n d dem Künstler.
122 E U R O P Ä I S C H E B I L D H A U E R E I
PAF
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
123
46
GEORGE MINNE
M i n n e s frühe Arbeiten waren relativ akademisch, doch i n den späten 1880er Jahren
Belgien (tätig in Gent, Brüssel
begann er, m i t einer Reihe drahtiger, introspektiver Figuren i m emblematischeren Stil
und Sint-Martins-Laten),
des Symbolismus zu experimentieren. D e r T o n dieser Arbeiten, häufig melancholisch
1866-1941
Jugendlicher I, ca. 1891
Marmor
42,9 cm
Inschrift mit dem Monogramm des
Künstlers in einem erhabenen Kreis
auf der Oberseite des Sockels: M
97.SA.6
u n d mysteriös, wurde durch die Freundschaften beeinflußt, die M i n n e m i t Poeten des
französischen Symbolismus' verband.
D i e vorliegende M a r m o r s k u l p t u r zeigt einen d ü n n e n , nackten Jungen m i t weit
auseinander gespreitzten Beinen u n d durchgedrückten K n i e n . D e r Jugendliche trägt
seinen K ö r p e r zur Schau, er streckt seine Genitalien völlig ungeniert, i n einer scheinbar
herausvordernden M a n i e r , nach vorn. D o c h hat er seinen K o p f nach hinten geworfen
u n d seine A r m e darüber verschränkt, als ob er sich schämte oder großen Schmerz
erlitt. D e r Künstler hat hier durch die Verwendung der umgekehrten Y-Pose ein
hieroglyphisches S y m b o l der zweideutigen Sexualität der Jugend geschaffen. Es
war außerdem eine wahrhaftige Glanzleistung, eine so d ü n n e Figur m i t so weit
gespreitzten Beinen aus M a r m o r z u meißeln.
PF
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
125
47 V I N C E N Z O
GEMITO
Italien (Neapel), 1852-1929
Medusa, 1911
Teilvergoldetes Silber
Durchmesser: 23,5 cm
Inschrift auf der Vorderseite, in der
Mitte unten: 1911,
GEMITO
86.SE.528
In vielerlei H i n s i c h t hätte V i n c e n z o Gemitos Leben den Romanen des 19. Jahrhunderts
entspringen können. E r war ein F i n d l i n g , der kurz nach seiner G e b u r t v o r der T ü r
eines Waisenhauses ausgesetzt worden war. Das K i n d wurde i n der gewohnten M a n i e r
als Genito (auf Italienisch der "Eingeborene") registriert, was später durch einen
Schreibfehler i n das poetisch passendere Gemito ("lamentieren" oder "klagen")
geändert wurde. A l s Gassenkind v o n neun Jahren fand er Arbeit i m Atelier eines
Malers. I m Jahre 1868, als er erst sechzehn Jahre alt war, stellte er seine Arbeiten
i m Protomotrice d i N a p o l i aus, u n d die Stadt kaufte seine Werke. W ä h r e n d er an
zwei wichtigen Staatsaufträgen arbeitete, verfiel G e m i t o i n eine tiefe Depression. E r
wurde 1887 i n ein Sanatorium eingeliefert, v o n d e m er sofort Reißaus nahm, u m
nach Hause zurückzukehren; dort verbrachte er r u n d zwanzig Jahre v o n der Außenwelt
abgeschnitten. U m 1 9 0 9 / 1 0 kehrte er ins "normale" Leben zurück. Bis z u seinem T o d
i m Jahre 1929 führte er weiterhin Zeichnungen u n d Skulpturen aus, u n d zwar i n
derselben A r t , i n der er schon vor seinem selbsternannten E x i l gearbeitet hatte.
Sein W e r k w i r d von einer Suche nach einem formalen, auf hellenistischen
Idealen beruhenden Schönheitsbegriff bestimmt u n d weist ein hohes M a ß an
Handwerkskunst auf, die sich m i t der v o n Künstlern der Renaissance durchaus
messen kann. D i e Medusa der S a m m l u n g Getty ist v o n der bedeutendsten erhaltenen
Kamee der A n t i k e , der Tazza Farnese, abgeleitet, die G e m i t o i m M u s e o Archeologico
Nazionale i n Neapel besichtigt haben m u ß . E r ü b e r n a h m das schuppige M o t i v der
126 E U R O P Ä I S C H E B I L D H A U E R E I
aufgespannten Schlangenhaut, die bei der antiken Kamee lediglich am R a n d erscheint,
u n d bildete m i t dieser Oberfläche den gesamte R ü c k e n seiner Skulptur. G e m i t o schuf
damit einen neuen Skulptur-Typus, den m a n weder als dekoratives Objekt (wie etwa
eine Schüssel oder tazza) m i t skulpturalen Verzierungen, noch als ein traditionelles,
flaches M e d a i l l o n m i t auf beiden Seiten gleichmäßig verteilter D e k o r a t i o n bezeichnen
konnte. Gemitos Medusa gehört i n eine eigene Kategorie: es ist einem Relief ähnlich,
ist aber beidseitig bearbeitet worden; es ist irgendwo zwischen einem M e d a i l l o n u n d
einer von allen Seiten zu betrachtenden Vollplastik anzusiedeln.
Gemitos Faszination m i t d e m Sujet der M e d u s a ist möglicherweise auf das
graphische Potential der Schlangenlinien zurückzuführen. Es ist allerdings auch
möglich, diesen wunderbaren, abgetrennten K o p f m i t Schlangenhaaren als ein
S y m b o l für Gemitos stetes Bestreben, das S c h ö n e i m Häßlichen z u m Vorschein
zu bringen, zu interpretieren. D e m M y t h o s zufolge wurde die einst w u n d e r s c h ö n e
M e d u s a v o n Athene i n ein Ungeheuer verwandelt, m i t Schlangen statt Haaren,
u n d A u g e n , die M e n s c h e n , die es wagten i n sie h i n e i n zu schauen, sofort z u Stein
werden ließen. Sie wurde v o n Perseus geköpft u n d ihr abgetrennter K o p f soll U n h e i l
abwenden. G e m i t o fertigte diese A r b e i t z u dem Z e i t p u n k t an, da er aus seiner
selbsternannten Zurückgezogenheit hervortrat - er w i r d sich also sicherlich der
apotropäischen Eigenschaften der Medusa bewußt gewesen sein, als er sich der
Gesellschaft wieder näherte.
PF
EUROPÄISCHE BILDHAUEREI
127
VERZEICHNIS DER KÜNSTLER
Die Zahlenangaben verweisen auf die Seite
Alari-Bonacolsi, Pier Jacopo
(genannt Antico) 20
Anguier, Michel 67
Robbia, Girolamo della 24
Giambologna, siehe Bologna,
Roland, Philippe-Laurent
Giovanni
Antico,sieheAlari-Bonacolsi,
Girardon, Francois 78
Pier Jacopo
Aspetti, Tiziano 40
Bernini, Gianlorenzo 52
Bologna, Giovanni (Jean Boulogne,
33, 44
Schardt, Johann Gregor van der 35
Carrier-Belleuse, Albert-Ernest
120
Meit, Conrat 18
Susini, Giovanni Francesco 44, 56
nicht identifizierte Künstler:
Cellini, Benvenuto 27
Flandern 70
Chinard, Joseph 106
Italien 30,42
Clodion, siehe Michel, Claude
Nollekens, Joseph 97
David d'Angers, Pierre-Jean 111
Opstal, Gerard van 62
Deare, John
Ottoni, Lorenzo 81
104
128 V E R Z E I C H N I S D E R K Ü N S T L E R
(genannt Soldani) 86-87
Susini, Antonio 44
Minne, George 125
Carpeaux, Jean-Baptiste 119
Schenck, Christoph Daniel 74
Soldani Benzi, Massimiliano
Maragliano, Anton Maria 83
Clodion) 99
Canova, Antonio 102
Saly, Jacques-François-Joseph 90
Sansovino, Jacopo (Umkreis von) 29
Michel, Claude (genannt
Caffieri, Jean-Jacques 94
Roldan, Luisa (genannt La Roldana) 77
Heiden, Marcus 61
Laurana, Francesco 15
Bouchardon, Edme 88
101
Harwood, Francis 92
Hildebrand, Adolf von 122
Barye, Antoine-Louis 114
genannt Giambologna)
Gemito, Vincenzo 126—127
Tacca, Ferdinando 65
Targone, Cesare 38
Verhulst, Rombout
68
Vries, Adriaen de 47, 48
Weekes, Henry
117