Schweizer Illustrierte - Dezember 2015
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Schweizer Illustrierte - Dezember 2015
Kämpfer mit Kummer DR. BEAT RICHNER hätte Grund zur Freude. Er hat eine neue Geburtenabteilung eröffnet. Der König schenkt ihm eine Residenz. Und täglich verlassen Hunderte gesunde Kinder seine Spitäler. Doch ihn plagen Zukunftsängste. Rauchen, Essen, Cellospielen Viele «Freudeli» gibts nicht in Dr. Richners Alltag. Seit 1992 lebt der 68-jährige Zürcher in Kambodscha. Heimweh ist sein ständiger Begleiter. SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 49 Täglich bis zu neunzig Geburten. Glück neben Leid und Armut Start ins Leben Am Einweihungstag bringen 45 Frauen im Spitalneubau ihr Kind zur Welt. Die Mützen, so will es der Brauch, sollen sie vor Krankheit und bösen Geistern schützen. SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 51 Ein Mädchen 3,6 kg schwer, 52 cm lang. Der Untersuch der Ärztin zeigt: Das zweite Kind von Mutter Oum Sokong ist kerngesund. Erschöpft Oum Sokong ist dankbar, dass sie hier kostenlos gebären durfte. Die Marktverkäuferin verdient drei Dollar am Tag. Pressen! Loum Sinets erste Geburt raubt ihr die Kräfte. Die Hebamme hält bereits das Köpfchen ihres Sohnes in den Händen. Ruhe nach dem Sturm Loum Sinets Sohn erholt sich. Der Kleine soll Samnop (Khmer-Wort für « geliebt») heissen. SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 53 Seine Spitäler werden grösser, die Hochbetrieb Am Telefon erfährt Dr. Richner: In Phnom Penh sind es heute 1355 Patienten. In Siem Reap zählt er 1058. Sorgen aber nicht kleiner Verlegung Nach der Entbindung werden die Mütter auf die Stationen verteilt. Treten keine Komplikationen auf, erfolgt nach 30 Stunden die Entlassung. 54 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE Alle vereint Stolz zeigt Mama Loum Sinet ihrem Mann Voeurn Vannah den gemeinsamen Sohn. Er soll Arzt werden – wie Dr. Richner. TEXT NINA SIEGRIST FOTOS MONIKA FLÜCKIGER G lücksgefühle? Dr. Beat Richner schüttelt den Kopf, lächelt nur müde. Er sitzt auf einem Klappstuhl im Foyer seines Spitals, zieht an einem Zigarillo. 90 Kinder sind an diesem Sonntag Ende Oktober in der KanthaBopha-Maternité in Siem Reap zur Welt gekommen. In der Frauenklinik Triemli in Zürich sind es gleichentags deren drei. Für die 90 Neugeborenen ist es ein erster, sorgenfreier Tag in einem künftig oft beschwerlichen Leben. Für Dr. Beat Richner nur ein weiterer Tag, an dem seine Spitäler grösser, seine Sorgen aber leider nicht kleiner geworden sind. Richners «Baby» heisst Kantha Bopha, wächst und wächst, seit nunmehr 24 Jahren, seit jenem Tag, an dem er sich 56 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE Vertrauen und loslassen Immer mehr Mütter reisen in die Maternité. Wie Oum Sokong schätzen sie die Sicherheit, die ihnen hier geboten wird. entschloss, seine Praxis in Zürich aufzugeben, um den Kindern im von Krieg und Zerstörung ge beutelten Kambodscha zu helfen. Fünf Spitäler hat der Schweizer Kinderarzt mittlerweile gebaut, soeben wurde eine weitere Geburtenabteilung fertiggestellt: ein Neubau mit drei Stockwerken, 80 Betten, acht zusätzlichen Gebärplätzen, 110 neuen Mitarbeitern. Richner ist froh, dass endlich keine Mütter mehr am Boden gebären müssen. Aber glücklich? Ein bisschen gehe es ihm wie den Eltern eines behinderten Kindes: «Ständig frage ich mich: Was passiert, wenn ich nicht mehr da bin, nicht mehr für es sorgen kann?» Das Führen der Spitäler sei nicht das Problem. Geld brauche er, sagt der Doktor – viel Geld. Jahr für Jahr kostet ihn das Retten Tausender Kinderleben 40 Mil lionen Franken, noch immer sei er auf Kleinspender angewiesen, Zahlen Kambodscha zählt 15 Mio. Ein wohner. Etwa 20 Prozent verdienen weniger als einen Dollar pro Tag. Im Oktober wurden in Richners fünf Spitälern 13 845 Kinder hospitalisiert und 70 097 ambulant behandelt. noch immer gebe es zu wenig Milliardäre oder Staaten, die bereit seien, ihm auf Jahre ein zukunftssicherndes Budget zuzusprechen. Der 68-Jährige hält inne. «Gäll, ich bi ä Chlöönitante», sagt er, drückt seinen Zigarillo aus. Schluss für heute. Richner mag nicht mehr jammern. «Byebye», sagt er, winkt, trottet davon, unterm Arm wie immer ein Wandkalender mit Bildern der Schweiz, in den er alle Termine einträgt. Der morgige Tag ist dick eingekreist. Kurz vor 7 Uhr in der Früh. Das Personal räumt im heute eröffneten Maternité-Trakt ein paar letzte Instrumente und Medikamente ein. Madame Say und Madame Polinn, zwei ältere Damen mit strengem Blick, haben alles unter Kontrolle. Die beiden Ärztinnen arbeiten seit bald 15 Jahren für Dr. Richner, leiten mittlerweile das 42-köpfige Gy- näkologen-Team. Selbst haben sie keine Kinder, nehmen sich auch nur alle sechs Monate eine Woche Ferien. Ihre Telefone klingeln ständig. Kein Wunder, 600 Frauen kommen täglich zur Schwangerschaftskontrolle, 70 Geburten sind es fast immer, davon etwa zehn Kaiserschnitte. Bei Komplikationen werden die Chefinnen oft gerufen. Letzte Nacht hörte eine Mutter nicht auf zu bluten, benötigte 24 Transfusionen. Tiv Say und Sar Polinn lassen sich durch kaum etwas aus der Ruhe bringen. Geduldig harren sie der Kinder, die da kommen. Loum Sinet hat keine Geduld mehr. Die junge Frau aus einem über hundert Kilometer entfernten Dorf wurde in der Nacht von ihrem Mann hergebracht. Mit Wehen auf einem Motorrad über holprige Strassen. Sie ist nervös, es ist ihre erste Geburt – und es tut höllisch weh! Ihr Mann war- Wehen Mit auf dem Motorrad über holprige Strassen tet draussen, wie das bei Geburten in Kantha Bopha üblich ist. Man habe hier andere Prioritäten, sagt Madame Say. Loum Sinet liegt im vordersten der vier neuen Gebärräume, ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, das Haar klebt in der Stirn. Mit den Händen umfasst sie ihre Fussfesseln, presst, stöhnt, ringt nach Luft. «Atme, atme für dein Kind», sagt Tiv Say. Dann geht sie rüber zu Oum Sokong, einer 22-jährigen Marktverkäuferin und Mutter eines eineinhalbjährigen Sohnes. Das zweite Kind ist unterwegs. Wort- wörtlich. Eine Hebamme hat eben die Öffnung des Muttermundes überprüft. Zehn Zentimeter. Bald ists so weit: die erste Geburt im Neubau! Dr. Richner kommt vom Ärzterapport, setzt sich wieder auf den Klappstuhl im Foyer, dahin, wo ihm Durchzug etwas Kühlung schenkt. Nein, erklärt er, die Kambodschaner hätten nicht immer mehr Kinder, im Gegenteil: Die Geburtenrate sank seit 1990 von sechs auf durchschnittlich zwei bis drei Kinder. Eben weil die Eltern wissen, dass die medizi- u SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 57 Tradition Nach der Geburt werden die Babys in ein mitgebrachtes Frotteetuch gewickelt. hadert Richner oft. Trost findet er bei seiner «Frau» – dem Cello u nische Versorgung ihrer Kleinen dank seiner kostenlosen Behandlung gewährleistet ist, gebären sie nicht mehr bis zu zehn Kinder, in der Hoffnung, dass zwei davon überleben. Grund für die steigende Geburtenzahl in der Maternité seien vor allem die verbesserten Strassen. Die Mütter kommen aus immer entfernteren Gegenden hierher, um sicher zu gebären. Zudem ist das Vertrauen ins Spital gewachsen. Das zeigt sich auch medial: Dr. Richners Facebook-Site zählt über 100 000 Fans, der Schweizer Doktor ist eine nationale Berühmtheit. Zeitungen und Fernsehen berichten regelmässig über ihn, und das, obwohl er wegen seiner offenen Kritik am korrupten Staat lange Zeit eine Persona non grata war. «Die Politik kann es sich nicht mehr leisten, uns zu ignorieren – wir sind zu bedeutend geworden, vier von 58 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE fünf Kindern im Land werden bei uns behandelt», erklärt Richner. Gerade kürzlich war der «Swiss Doctor» wieder in den News: Kambodschas König und die Königinmutter haben ihm – im Namen des verstorbenen King Norodom Sihanouk – die royale Residenz auf Koh Kong vermacht. Ein Grundstück, mit dessen Verkauf er dringend benötigte Mittel für Kantha Bopha generieren kann. Es gebe bereits Interessenten, die Angebote seien «ordeli». Wie hoch genau, das will Richner nicht verraten: «Darüber schweigt des Engels Höflichkeit.» Kurz vor 8 Uhr ist Loum Sinet mit einem letzten, entkräfteten Wimmern Mutter eines gesunden Jungen geworden: 2,9 Kilogramm schwer, 49 Zentimeter lang. Sie will ihn Samnop nennen. «Das bedeutet Liebling oder Geliebter», erklärt Madame Polinn. Das Putzpersonal wischt wie nach Beatocello Um Geld zu sammeln, gibt Dr. Richner Konzerte. Jeden Samstag um 19.15 Uhr in seinem Spital in Siem Reap, sowie mehrmals jährlich im Zürcher Grossmünster (Infos: www.beatrichner.ch). Am 10. Mai 2016 findet zudem die 25. BenefizGala im Circus Knie statt. Zwei Engel für Beat Dr. Sar Polinn und Dr. Tiv Say (r.) leiten seit 15 Jahren die Maternité. Letzte Rettung Der 6-jährige Sophorn Sita hat schweres Dengue-Fieber. Ohne Behandlung hätte er die nächsten Tage nicht überlebt. jeder Geburt den Boden, auf der zweiten Pritsche im Raum liegt Oum Sokong. Sie hat ihre ins mitgebrachte Frotteetuch gewickelte Tochter im Arm, muss ein letztes Mal auf die Zähne beissen, während die Ärztin sie näht. Das Mädchen hat noch keinen Namen, sonst aber die besten Voraussetzungen für die Zukunft. Sie hat eine Vitamin-K-Spritze bekommen – eine wichtige Massnahme, um bei den Neugeborenen Blutungen zu verhindern. Immer wieder werden auf der Neonatologie von Kantha Bopha Babys in kritischem Zustand hospitalisiert, die anderswo geboren wurden und diese Spritze nicht erhielten. Einen ärgert das ganz besonders: Dr. Beat Richner. Eigentlich müsste er sich längst daran gewöhnt haben, das Übel auszubaden, das andere angerichtet haben. Doch Richner hadert. Trost findet er bei seiner «Frau» – dem Cello. Und in der Arbeit. So auch heute. «Kommt, wir machen eine Tour!», sagt er und wirkt plötzlich aufgekratzt. Es geht von einer Krankenstation zur nächsten, vorbei an Labor, Röntgenräumen und Operationssälen, Treppe rauf, Treppe runter, weiter nach hinten, ein endloser Marsch. Hier, so Richner, würden Besucher normalerweise sagen: «Ich hätte nie gedacht, dass das so gross ist.» Und drüben, auf der anderen Seite der durch Barrieren blockierbaren Strasse: «Was, jetzt geht es noch weiter?» Der Doktor schwitzt, wiederholt mantramässig seine Zahlen: 1058 Patienten sinds heute in Siem Reap, 1355 in seinen Spitälern in Phnom Penh, die ambulanten Patienten nicht mitgezählt. Davon über hundert mit schwerem Dengue-Fieber – die Epidemie halte an. Noch immer würden viele die Dimension seiner Spitäler nicht verstehen, sagt er, mittlerweile sei es das grösste Kinderspital der Welt. Die Frankenkrise habe Anfang 2015 zu einem Spendeneinbruch geführt, die Situation habe sich aber beruhigt und die Flüchtlings krise sei zum Glück (noch) nicht spürbar. Noch mehr Zahlen, noch mehr Fakten, noch mehr kranke Kinder. Dann sinkt Beat Richner wieder auf seinen Klappstuhl. Was macht er heute Abend? Vielleicht ein bisschen lesen. Michael Köhlmeiers «Zwei Herren am Strand». Darin begegnen sich Churchill und Chaplin, übertrumpfen sich mit Schwermut und retten einander doch immer wieder das Leben. Ein Plot, der Richner gefällt. Im Schock Die 4-jährige Kakada Hil hat innere Blutungen, ihre Mutter bangt um ihr Leben. «Sie wird es schaffen», sagt Dr. Richner. Helfen auch Sie mit, Kinderleben zu retten! HIER sollte ein Einzahlungsschein eingeklebt sein. Wenn er fehlt, können Sie Ihre Spende auch direkt auf das POSTCHECKKONTO NR. 80-60699-1, IBAN CH98 0900 0000 8006 0699 1 überweisen. Besten Dank! SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 59