Ausgabe 138 - Buchkultur

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Ausgabe 138 - Buchkultur
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07.09.2011
16:02 Uhr
Seite 1
BUCHKULTUR
P.b.b. Verlagspostamt 1150 Wien Nr. 02Z033122M Erscheinungsort Wien EURO 4,90/SFR 8,90
Das internationale Buchmagazin
Heft 138 | Oktober/November 2011
Im Blitzlicht
COCO CHANEL
Auf den Kopf gestellt
MAJA HADERLAP
Gegen den Mainstream
URS WIDMER
ARNALDUR INDRIDASON & CO
Umbruch
in Island
Autoren mit kühlem Blick
IN
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Buch ISBN 978-3-431-03840-8 | € 24,99 [D] /€ 25,50 [A] / sFr 35,50 (UVP)
Hörbuch ISBN 978-3-7857-4567-0 | € 29,99 [D] [A] / sFr 42,50 (UVP)
London 1529: Der vierzehnjährige
Nick of Waringham lebt als Internatsschüler im Haus des berühmten Humanisten Sir Thomas More.
Als Nicks Vater in Verdacht gerät,
ein Lutheraner und Häretiker zu
sein, muss Nick nach Waringham
zurückkehren. Kurz darauf wird
der Earl of Waringham wegen des
Verdachts auf Ketzerei verhaftet,
und Nick findet heraus, dass
sein Vater Opfer einer politischen
Intrige geworden ist …
www.luebbe.de
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07.09.2011
9:03 Uhr
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www.aufbau-verlag.de
Editorial
Auf der Suche nach der richtigen Literatur
Oft wird in manchen Kreisen Literatur, die sich an eine breite
Schicht wendet, in Bausch und Bogen als trivial abgetan. Und
auch in der Germanistik wird der Begriff Trivialliteratur schon
seit Jahrzehnten schräg angesehen, dennoch findet er nach
wie vor Verwendung. Wer sich dort mit dieser Form von Literatur beschäftigt, entschuldigt sich fast. Über diese Lektüre
wird dann geschwiegen.
Aber hatte nicht dieser oder jener Roman doch einen gewissen Einfluss, und man sollte ihn deshalb nicht ausklammern?
CHEFREDAKTEUR Das zeigt sich auch jetzt wieder, seit der erste Band aus der
Reihe „Fantômas“ von Pierre Souvestre und Marcel Allain in
der Edition Epoca neu aufgelegt ist. Nach dem Ersten Weltkrieg haben diese Romane
den Franzosen jedenfalls ungemein gefallen.
Tobias Hierl
Ein Fest
fürs
Lesen
„Fantômas – das Sinnbild einer an die Romantik gemahnenden Märchenwelt, die
nach dem Ersten Weltkrieg im Hang zum Okkultismus ihren Ausdruck fand“, so
schreibt Jaques Schuster in der „Welt“.
€ 20.6
0
Ich meine: Fantômas wird in eine Reihe mit Caligari und Dr. Mabuse gestellt. Man
könnte noch Arsène Lupin, den König der Diebe, dazu nehmen, obwohl der einem
eigenen Ehrenkodex folgte. Diese Figuren waren
Ausdruck ihrer Zeit, höchst populär, und verströmen eigentlich auch heute noch ihren Reiz. Nur lieNur durch Offenheit und
gen sie eben in einer Schublade mit x-beliebigen
Unvoreingenommenheit
anderen Büchern.
Diese Haltung zeigt auch das Beispiel Charles Dickens: Hierzulande gilt er als
Erzähler für Jugendliche und jene, die große voluminöse Romane lieben. Eher einfach gehalten und spannend in der Handlung, mit ein wenig Sozialkritik gewürzt. Im
angloamerikanischen Sprachraum steht er jedoch in einer Reihe mit James Joyce
und Franz Kafka! Ein Unterschied, der hoffentlich spätestens dann auch bei uns diskutiert wird, wenn im Februar 2012 sein 200. Geburtstag gefeiert wird und viele Werke
von ihm neu aufgelegt sowie neue Materialien zu seinem Leben erscheinen werden.
Meiner Meinung nach kommt man nur durch Offenheit und Unvoreingenommenheit zu neuen Erkenntnissen und Einschätzungen. Deshalb finden Sie im Magazin
BUCHKULTUR regelmäßig Berichte aus dem großen Spektrum der Literatur.
Ro m a
n . 4 56
S. ISB
N 978
-3 -35
1-033
58 -3.
kommt man zu neuen
Der Unterschied ist, sie wirkten stilprägend,
Erkenntnissen.
waren innovativ und beeinflussten sicher die Literatur ihrer Zeit. Man muss diese Bücher also nicht
mit spitzen Fingern angreifen, sondern kann lustvoll darin schwelgen. Natürlich lässt sich über Gesellschaftsmodelle reflektieren, lassen sich politische Positionen diskutieren, die darin vertreten werden. Das soll man
auch, doch dafür müsste man diese Bücher kennen. Vorurteile müssen bestätigt werden – Ausgrenzung ist fehl am Platz. Sonst kommt es nämlich dazu, selbst arrivierte
Autoren in eine falsche Ecke zu stellen.
»Paula McLain erzählt Ernest
Hemingways Pariser Jahre aus
der Sicht seiner ersten Frau
Hadley. Man ist immer wieder
berührt.« f.a.z.
»Ein unterhaltsamer Blick auf
einen männlichen Mythos.«
die presse, wien
Ihr Tobias Hierl
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
bewegt
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06.09.2011
16:07 Uhr
Seite 4
BUCHKULTUR NUMMER 138 | 23. JG.
I N H A LT
SPEKTRUM
6
B U C H W E LT
14
Der Tod ist allgegenwärtig ....................................................18
Maja Haderlap: Wirbel um die Bachmann-Preisträgerin
Gekühlte Gefühle ....................................................................20
Island zu Gast auf der Frankfurter Buchmesse. Teil 2
Mythos und Mysterium ..........................................................23
Geschichten und Bücher zum 40. Todestag von Coco Chanel
ISLAND Teil 2 zum Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse: Unter anderem mit dem Autor Thórarinn Eldjárn (Foto)
SEITE 20
28
Belletristik ....................................................................................28
Lyrik ..............................................................................................35
Pro & Contra................................................................................36
Wiedergelesen ............................................................................39
Krimi-Kolumne: Peter Hiess ....................................................43
Taschenbuch ..............................................................................44
Sachliteratur ..............................................................................46
DVDs..............................................................................................55
Hörbuch........................................................................................56
JUNIOR
58
Wieder-Entdeckung! ..................................................................58
Heiri Strub und sein Buch „Das Walross und die Veilchen“
Urmel gratuliert! ......................................................................58
Max Kruse feiert seinen 90. Geburtstag
Vom Leben lernen......................................................................59
Literatur rund ums „Coming out“
Zur Sache ....................................................................................59
Über Chemie und das Universum
Nora liest .....................................................................................60
Bücher über den Holocaust
Vom Ende der Welt....................................................................60
Weltuntergang im Jugendbuch
3x3 ..................................................................................................61
Bilderbuch – Kinderbuch – Jugendbuch
CAFÉ
62
COVERFOTO: KRISTINN INGVARSSON
Buchkultur-Literaturrätsel ......................................................62
Impressum ..................................................................................64
Zeitschriftenschau ....................................................................64
SCHLUSSPUNKT
66
Das Wort kann nicht töten
Stefan Çapaliku über die Bedeutung des Schriftstellers im heutigen Albanien
4
Mit „Stille Post“ gegen das
Mainstream-Gequassel:
URS WIDMER
SEITE 14
FOTO: 2011 JIM RAKETE / COURTESY SCHIRMER/MOSEL
M A R K T P L AT Z
FOTO: REGINE MOSIMANN/DIOGENES VERLAG
Krisen, Katastrophen, Kontrollverlust ..............................26
Ein Dichterleben: Heinrich von Kleist ist vor 200 Jahren gestorben
FOTO: MAX AMANN
Pfade des Erzählens ..................................................................16
Transflair: Alex Capus und Alois Hotschnig über Geschichten am
Wegesrand und Schaffensprozesse
FOTO: KRISTINN INGVARSSON
Ein Regenwurm hebt ab ........................................................14
Urs Widmers Störarbeit gegen das Mainstream-Gequassel
Ihr schriftsllerisches Leben
ist auf den Kopf gestellt:
MAJA HADERLAP SEITE 18
BILDBÄNDE: Ein Fotoessay
über Südafrika von Santu
Mofokeng und ein Fotoband von
Jim Rakete, in dem die wichtigsten Personen des deutschsprachigen Films auftauchen
(im Bild: Moritz Bleibtreu).
SEITE 46
Neu auf www.buchkultur.net
Leseproben und Trailer von Büchern aus diesem Heft
finden Sie ab sofort auf unserer Website!
Die aktuelle Auswahl umfasst:
• Bernd Brunner, Mond. Die Geschichte einer Faszination, Kunstmann
• Alafair Burke, Online wartet der Tod, dtv
• Michael Degen, Familienbande, Rowohlt
• Doris Dörrie, Alles inklusive, Diogenes
• Rebecca Gablé, Der dunkle Thron, Lübbe
• Michaela Karl, Noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber, Residenz
• Paula McLain, Madame Hemingway, Aufbau
• Tilman Röhrig, Der Sonnenfürst, Piper
• Louis Sachar, König, Dame, Joker, Bloomsbury
• Matthias Steinbach, Wie der gordische Knoten gelöst wurde, Reclam
• Antonine Varenne, Fakire, Ullstein
• Mark Watson, Elf Leben, Eichborn
• Gerhard Wisnewski, Operation 9/11. Der Wahrheit auf der Spur, Droemer Knaur
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
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06.09.2011
16:08 Uhr
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OKTOBER/NOVEMBER 2011
ALLE BÜCHER IM ÜBERBLICK
Belletristik
28
Benrath, Ruth J.: Wimpern aus Gras
Berges, Markus: Ein langer Brief an
September Nowak
Degen, Michael: Familienbande
Dörrie, Doris: Alles inklusive
Franzobel: Bordello Ballade
Gablé, Rebecca: Der dunkle Thron
Gracián, Baltasar: Hand-Orakel und Kunst
der Weltklugheit
Gruber, Sabine: Stillbach oder Die Sehnsucht
Grün, Lili: Zum Theater!
Hermann, Wolfgang: Die Augenblicke des
Herrn Faustini
Jacobson, Howard: Die Finkler-Frage
Leroy, Gilles: Zola Jackson
Lughofer, Johann G: Reise nach Ljubljana
Lustiger, Gila: Woran denkst du jetzt
McCarten, Anthony: Liebe am Ende der Welt
McLain, Paula: Madame Hemingway
Piñeiro, Claudia: Der Riss
Röhrig, Tilman: Der Sonnenfürst
Rubin, Szilárd: Eine beinahe alltägliche
Geschichte
Rushdie, Salman: Luka und das Lebensfeuer
Saramago, José: Kain
Schischkin, Michail: Venushaar
Schmidt, Kathrin: Finito. Schwamm drüber
Skomsvold, Kjersti A: Je schneller ich gehe,
desto kleiner bin ich
Spiegel, Nadja: manchmal lüge ich und
manchmal nicht
Steiner, Peter: Der Sturz aufs Dach der Welt
Varenne, Antonine: Fakire
Watson, Mark: Elf Leben
Sachliteratur
32
38
37
36
40
42
39
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40
46
Avey, Denis, Rob Broomby: Der Mann, der
ins KZ einbrach
Brunner, Bernd: Mond. Die Geschichte
einer Faszination
Geisler, A., Ch. Schultheis: Heile Welten.
Rechter Alltag in Deutschland
Karl, Michaela: Noch ein Martini und ich
lieg unterm Gastgeber
Mamdani, Mahmood: Blinde Retter
Matussek, Matthias: Das katholische Abenteuer
Sarafan, Randy: 62 Dinge, die du mit
einem kaputten Computer und anderem
Elektroschrott machen kannst
Steinbauer, Maria: Der Schilcher und sein Land
Weiß, Volker: Deutschlands Neue Rechte
Thema: Bildbände
Neue Geschichten über Kinder,
italienische Schwiegerväter und
andere Verrückte
54
53
48
54
54
52
53
54
48
46
Diserens, Corinne: Chasing Shadows –
Santu Mofokeng
Rakete, Jim: Stand der Dinge
Auch als
E-Book
Thema: Marshall McLuhan 48
Baltes, Martin, Rainer Höltschl: absolute
Marshall McLuhan
Coupland, Douglas: Marshall McLuhan
McLuhan, Marshall: Das Medium ist die Massage
Thema: Nine Eleven
50
232 Seiten. Laminierter Pappband.
€ 17,50 (A) / sFr. 24,50 (UVP)
© Enno Kapitza
Bröckers, Mathias, Ch. Walther: 11. 9. – zehn
Jahre danach
von Bülow, Andreas: Die CIA und der 11. September
Ventura, Jesse, Dick Russel: Die amerikanische
Verschwörung
Wisnewski, Gerhard: Operation 9/11
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06.09.2011
16:11 Uhr
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SPEKTRUM
DU SOLLST NICHT…
Eine Empfehlung
VON SYLVIA TREUDL
Selber schuld, wenn man TV schaut. Anstatt
sich eine Niveau-DVD mit Frühwerken des film
noir oder eine gelungene Literaturverfilmung
einzulegen. Noch selberer schulderer, wenn
man sich dem österreichischen ÖffentlichRechtlichen aussetzt. Dem mit dem Bildungsauftrag. Stimmt schon.
Aber ab und zu passiert’s halt. Und auch die plain pleasures dürfen
zu ihrem Recht kommen.
Und dann passiert’s halt auch, dass man eventuell bei einer österreichischen Krimiserie hängenbleibt. Weil man dem Genre nicht abhold
ist und schließlich, das muss zu Trost und Rechtfertigung gesagt werden, auch aus einer der größten Müllserien heimischer Provenienz, in
der ein Köter (ja, schon gut, eh ein schöner Hund, aber halt ein Hund)
die Fälle gelöst hat, schließlich und immerhin ja doch einer wie Karl
Markovics sich herausgeschält hat.
Allerdings gibt’s auch jene Serien, aus denen sich nie und nimmer
was ergeben wird, außer schlechten Plots und relativ talentfreien DarstellerInnen, die bei diversen SOKO-Einsätzen zu Wasser und zu Berge
auch noch ein gar schauerliches Idiom daherschwätzen, das ZuschauerInnen offenbar auf die jeweilige Region, in der die seichte
Handlung sich hinquält, verweisen soll. Wen wundert’s da noch, dass
Synchronisationsstudios weltweit meinen, der „typische Wiener“
spräche eine Mischung aus Bayerisch und einer Phantasievariante von
Schönbrunnerdeutsch. Oder stamme eh überhaupt aus Frankfurt.
All das wäre ja schon ärgerlich genug, aber in einer vor geraumer
Zeit ausgestrahlten SOKO-Episode hat man sich dann doch zu einer
einigermaßen impertinenten Story verstiegen, die in ihrer Darstellung
von intellektuellem Umgang mit der Welt ein Spürchen zu dummdreist
daherkam.
Ganz mit dem Finger auf den Wunden der Zeit, ging’s um die copypaste-Gesellschaft und um abgeschriebene Doktorarbeiten und das
Klauen im wissenschaftlichen Literaturbetrieb. An sich ja ein Thema,
dem eine gewisse Relevanz nicht abgesprochen werden soll.
Was allerdings dem Zuschauer/der Seherin, der/die sich zurecht zur
Primetime ein wenig vor der Glotze entspannen möchte, serviert wurde, das waren folgende Metatexte:
a) der Superintellektuelle (= der Plagiatsjäger) ist ein karrieregeiler
Unsympathler,
b) Abschreiben ist vielleicht nicht ganz ok, aber wen interessiert’s,
außer, wenn man Promis und solchen, die’s gerne wären, hämisch eins
am Zeug flicken kann, sobald aufkommt, dass die auch nur mit Wasser
kochen,
c) der Superintellektuelle (= der Plagiatsjäger) ist nicht nur ein
widerlicher Arsch, der eh in einer Welt existiert, die nur Spinner interessiert, die dort ebenfalls hauptgemeldet sind, sondern hat selbst
abgeschrieben – ha! – und ist nur deshalb so heiß drauf, andere auffliegen zu lassen, weil er Dreck am Stecken hat,
d) die ganzen Intellektuellen mit ihren Scheinproblemen und mit
ihren Bauchschmerzen vom geistigen Eigentum/Urheberrecht kann
man getrost vergessen.
So viel zur Abhandlung eines Themas zur Hauptsendezeit. Auch so
wird Meinung gebildet – oder besser: gemacht.
Was übrig bleibt, ist ein schales Gefühl und das Raunen einer gelangweilten Gratiszeitungs-Konsumgesellschaft, die da vielleicht zwinkert, dass man ja auch in der Schule schon ein bissl abgeschrieben hat.
Dass in Zeiten des www alles anders, salonfähig ist. Und dass man dem
Vernehmen nach (war da nicht was, irgendwann) sogar bei renommierten Verlagen punkten kann, wenn man richtig klaut. Frechheit siegt,
Ellenbogen raus, wer sich aufregt, hat wahrscheinlich selber eine
copy-paste-Leiche im Keller. Oder in der Dissertation, im Debütroman.
Was soll’s. Die nächste SOKO ermittelt eh wieder in Milieus, die Menschen interessieren.
6
EINDRUCKSVOLL
Arno Schmidt als Fotograf
Seit den ersten Ausstellungen im
Jahr 2003 findet das fotografische
Werk (mehr als 3500 Farbdias und
Schwarzweiß-Negative) des Schriftstellers Arno Schmidt (1914–1979)
immer größeres Interesse. Nun
erscheint im Hatje Cantz Verlag der
Bildband „Arno Schmidt als Fotograf. Entwicklung eines Bildbewusstseins“ mit Texten von Janos
Frecot, Gabriele Kostas, Rainer
Stamm, Thomas Weski und einem
Vorwort von Jan Philipp Reemtsma. Herausgeber ist Janos Frecot.
Die Aufnahmen, die vorwiegend
die norddeutsche Heidelandschaft
dokumentieren, verwandeln diese
in Farb- und Strukturflächen. Bis
Anfang Oktober ist im Lübecker
Günter-Grass-Haus und später in
der Ècole Normale Supérieure de
Photographie in Arles eine Ausstellung des Fotografen Arno
Schmidt zu sehen. Weitere Stationen dieser Ausstellung werden
Koeppenhaus, Greifswald, Venedig, Rheinsberg, Hamburg, Erfurt
u. a. sein. •
GROSSARTIG
Punktgenau
„Hätten Sie’s gewusst?“ Die Kommunikationsdesignerin Anja
Haas hat 45 Persönlichkeiten aus
Kunst, Politik und
Märchen gepixelt
und in dem kleinen
Booklet „The Pixel Book“ (cadeau/
Hoffmann und Campe Verlag)
zusammengestellt. Ein bisschen
erinnern die Figuren an Lego-Bauten, bei denen man sich fragte: Ist
das nun ein Schiff oder ein Flugzeug? Bei Anja Haas geht es dar-
um, z. B. Charly
Chaplin – rein
äußerlich! – von
Adolf Hitler zu
unterscheiden,
Marilyn von Marlene oder den vermeintlichen Fuchur aus der Unendlichen Geschichte als weißen
Tiger von Siegfried und Roy zu enttarnen. Da sich die Auflösungen
sehr geschickt in der Falz verstecken,
ist das Buch für Rate-Runden super
geeignet. Beflügelnde Heiterkeit
ist garantiert! •
VERZICHTBAR
Unverlangte Manuskripte
Verrückte Briefe an Verlage von verhinderten „Autoren, die die Welt
nie lesen musste“ haben Rolf Cyriax
und Peter Wichmann für den Band
„Das habe ich im Koma gedichtet“ (Bassermann Verlag) zusammengetragen und kommentiert.
Berücksichtigt wurden aus rechtlichen Gründen nur Einsendungen
aus den 1980er-Jahren. Ob das ein
oder andere Projekt
in der Zwischenzeit
doch noch verwirklicht wurde, darf
allerdings bezweifelt werden. Die
ab- und zurückgewiesenen AutorInnen tragen es vermutlich dennoch mit Fassung, schließlich mangelte es ihnen offenkundig nicht an
gesunder Selbst(über-)schätzung. •
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: AUS „ARNO SCHMIDT ALS FOTOGRAF“/HATJE CANTZ; ILL: AUS „THE PIXEL BOOK“/CADEAU
DURCHBLICK
06_13_spektrum_02_09
06.09.2011
16:12 Uhr
Seite 7
SPEKTRUM
G EWAGT
VERGLEICHEND 1
Proust als Comic, die Dritte
ILL: AUS „AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT. BD. 3“/KNESEBECK
Seit 1988 arbeitet der
Bretone Stéphane
Heuet daran, die sieben in „Auf der Suche
nach der verlorenen
Zeit“ verbundenen
Romane von Marcel
Proust in Graphic
Novels zu verwandeln.
Sechs Bände sind bislang in Frankreich
erschienen, zehn weitere sind geplant. Stéphane Heuet dürfte
also voraussichtlich die
nächsten 30 Jahre
Proust zeichnen. In
deutscher Übersetzung der Unter- und
Dialogtexte von Kai
Wilksen ist nun der
dritte Band bei Knesebeck erschienen.
Die berühmteste Szene, als Marcel sich
Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit: Dieser
Comic spricht Erstleser
ebenso an wie Experten.
durch den Geschmack
von Biskuit in Lindenblütentee in der
„verlorenen Zeit“ wiederfindet, schien dem
Mitbegründer der
deutschen MarcelProust-Gesellschaft
Jürgen Ritte in „Kulturzeit“ unübersetzbar: „... dann ist man
auch sehr schnell in
der Ästhetik eines
kitschigen Werbefilms, wo jemand die
Tasse hebt und sagt:
Ah.“
Mittlerweile werden
die an den Stil der
Ligne claire der
1930er-Jahre angelehnten Comics allerdings als beeindruckende „Verdichtung“ gepriesen. •
KRANK
Wahl des kuriosesten Buchtitels
Bis zum 28. September ist noch
Gelegenheit, auf www.kuriosesterbuchtitel.de unter 20 – freiwillig
oder unfreiwillig – irrwitzigen
Buchtiteln den durchgeknalltesten
auszuwählen. Die Redaktionsteams
von „Schrotts Sammelsurium“ und
BuchMarkt haben aus den Einsendungen die Vorauswahl getroffen.
Die Leser entscheiden nun über die
Short-List von sechs Titeln … und
dann kommt die Jury, bestehend
aus ZDF-Aspekte-Moderatorin
Luzia Braun, Kabarettist und Autor
Eckart von Hirschhausen und
Sprachhistoriker Bodo Mrozek an
die Reihe. Die Preisverleihung findet auf der Frankfurter Buchmesse statt. Persönlicher Favorit der
Verfasserin dieser Zeilen: „Geritten
werden. So erlebt es das Pferd“ von
Ulrike Thiel. •
BIX - der Bibliotheksindex
Auch bei den Bibliotheken gibt
es große Unterschiede. Angebote, Serviceleistungen, Effizienz
und Entwicklungspotenzial sind
nur einige der 17 Indikatoren für
die Stärken und Schwächen
bibliothekarischer Dienstleistungen, die seit 1999 im BIX erhoben werden. Dieses Jahr haben
236 der rund 2000 im Deutschen Bibliotheksverband e.V.
(dbv) vertretenen Bibliotheken
aller Sparten und Größenklassen teilgenommen.
Institute, von der Gemeindebücherei bis zur Universitätsbibliothek, stellten sich dem
Ranking, um ihr Verbesserungspotential auszuloten. Alle Teilnehmer und Ergebnisse des
BIX 2011 finden Sie unter
• www.bix-bibliotheksindex.de
VERGLEICHEND 2
EU-Studie zur Lesekompetenz
Einer von fünf europäischen
Jugendlichen im Alter von 15
Jahren kann nicht richtig lesen.
Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie zur Lesekompetenz
der EU-BürgerInnen,
die EU-Kommissarin
Androulla Vassiliou
vorgelegt hat.
Die von Eurydice
durchgeführte Analyse zeigt, auch auf
Basis von PISA und
PIRLS, die Korrelation der Lesekompetenz mit den
Faktoren Familie, Lehrer und
Schulsystem. Bildung, Herkunft
und Einkommen der Eltern prägen die Fähigkeiten der Kinder.
Im länderspezifischen Vergleich
liegt Österreich mit 28 Prozent
leseschwachen SchülerInnen
deutlich hinter Finnland, das diese Wertung mit 8 Prozent
anführt. Schlusslicht ist mit
knapp 41 Prozent Rumänien. In
Österreich wird seit dem Schuljahr 2005 versucht, der Leseschwäche mittels kriteriengeleiteter Individualisierung zu begegnen.
SchulanfängerInnen durchlaufen
dieses Programm
innerhalb von acht
Wochen und werden, wenn nötig, so
lange individuell
gefördert, bis sie es erfolgreich
abschließen können. Bisher
haben nur Polen, Finnland und
Dänemark das EU-weite Ziel,
den Anteil an leseschwachen
SchülerInnen auf 15 Prozent zu
senken, erreicht.
• Info: http://eacea.ec.europa.eu/education/eurydice/thematic_studies_en.php#2011
06_13_spektrum_02_09
06.09.2011
16:13 Uhr
Seite 8
SPEKTRUM
PERSONALIA
Rupert Bucher
Töchterlich die Zeit
Buch 1: Zahllose Gestalten des Ich
Die gescheiterte Familie –
den Wandel begreifen
Hardcover | 17 x 24,5 cm | 304 Seiten
Euro 24,50 | ISBN 978-3-99018-071-6
Das Zusammenleben der
Geschlechter löst sich aus seinen
alten Formen und Konventionen. Dieser Umbruch trifft alle.
Ihn zu verstehen, erfordert neue
Begriffe und Modelle; er wird
erfahren in der Neuordnung der
Gesellschaft.
Mit der Vorstellung eines
rationalen Ich als Zentrum
der Persönlichkeit befanden
wir uns bisher in einem quasi
vorkopernikanischen Weltbild,
in dem sich die Sonne um die
Erde zu drehen schien. Diese
Vorstellung gilt es ebenso zu
verabschieden wie das Konzept
der persönlichen Autonomie
und der Dreiteilung von Körper,
Geist und Seele.
B U C H E R Verlag
Hohenems – Wien
T 0 55 76-71 18-0
info@bucherverlag.com
www.bucherverlag.com
Donald Windhams
Debütroman „Dog
Star“ zum ersten
Mal in deutscher
Übersetzung und
erregte die Aufmerksamkeit, die
schon Thomas Mann, André Gide
und Albert Camus dem Original
zukommen ließen. Nun gab die Yale
Universität bekannt, dass sie von
dem am 31. Mai 2010 in Manhattan,
NYC Verstorbenen beauftragt wurde, die nach ihm und seinem Lebensgefährten benannten „Donald
Windham-Sandy M. Campbell Literature Prizes“ in sieben bis neun
Kategorien zu vergeben. Jede
Kategorie ist mit 150.000 US$
dotiert und gehört damit zu den
höchst dotierten Preisen der englischsprachigen Literatur.
Keinen Schreib-, sondern einen
Verkaufsratgeber hat der Amerikaner John Locke verfasst: „How I
Sold 1 Million eBooks in 5 Months!“.
Die darin enthaltenen Beschreibungen ähneln frappant den Erfolgsstorys von Schlankheits- oder Raucherstopp-Instituten. „Knapp ein
Jahr lang hab ich überhaupt nichts
verkauft ...“ Dann habe er sein eigenes Vermarktungskonzept ausgearbeitet und seither wird alle 7 Sekunden irgendwo auf der Welt eines von John Lockes Büchern (7
Krimis, 2 Western) um 99 Cent heruntergeladen. Das Geheimnis?
Locke ist Selbstverleger und hat
seine Bücher über Amazons KDPProgramm hochgeladen. Jetzt
gehört er neben Leuten wie Stieg
Larsson und James Patterson mit
einer Handvoll Supersellern zu
Amazons „Kindle Million Club“.
Der algerische Schriftsteller
Boualem Sansal erhält 2011 den
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er wurde 1949 in Téniet el
Had geboren und lebte seit 1956 in
Algier. Als Generaldirektor der
Industrie im Ministerium für Industrie und Umstrukturierung beaufsichtigte er ab 1996 die industriel-
8
len Aktivitäten in Algerien. Zugleich
begann er an seinem ersten Roman
„Le serment des barbares“ zu
schreiben. Nachdem dieser 1999
bei Gallimard veröffentlicht wurde,
wurde Boualem Sansal seiner Aktivitäten im Minsterium entbunden.
In seinem letzten Buch, „Das Dorf
des Deutschen“, erzählt Sansal von
einem Algerier aus Paris, der sich
auf die Spuren seines deutschen
Vaters macht. In diesem Buch zieht
Boualem Sansal Parallelen zwischen Faschismus und Islamismus,
denn der gesuchte Vater ist SSOffizier und Unterstützer der arabischen Widerstandsbewegung.
Eine der
wichtigsten
Stimmen der
europäischen
Literatur,
Ágota Kristóf (* 30. Oktober 1935
in Csikvánd) ist am 27. Juli 2011 in
Neuenburg in der Schweiz gestorben. In ihrem Hauptwerk „Le grand
cahier“ (Deutsch: „Das große Heft“,
Berlin 1987) schreiben Zwillingsbrüder einzelne Episoden ihres Lebens
in ein großes Heft. Sie wurden während des Kriegs zu ihrer Großmutter, einer einsamen alten Bäuerin,
gebracht. Ágota Kristóf, die 1956,
nach der Niederschlagung des
Ungarischen Volksaufstands in die
Schweiz floh, hat damit einen der
bedeutendsten Anti-Kriegs-Romane des vergangenen Jahrhunderts
geschrieben. Ihr Werk wurde in
dreißig Sprachen übersetzt und mit
zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Vor dreieinhalb
Jahren wurde
beim britischen
Science-FictionAutor Terry Pratchett Alzheimer
diagnostiziert. Der damit zu erwartende schleichende Verfall des
Gehirns wird von den meisten
Betroffenen als extrem beängstigend empfunden. Terry Pratchett
selbst musste sich für seinen 38.
Roman bereits von einer Schreib-
kraft helfen lassen und muss davon
ausgehen, zunehmend nicht mehr
die komplexen Welten erfinden zu
können, für die er berühmt ist. Nun
kämpft er mit einer Kampagne gegen das Verbot der Sterbehilfe, die
in Großbritannien mit bis zu 14 Jahre Gefängnis bestraft werden kann,
und sorgt mit seinem Dokumentarfilm „Choosing to die“ für Aufregung. Er begleitete mit einem BBCTeam einen 71-Jährigen, der an
einer unheilbaren Motorneuronkrankheit litt, in die Schweiz zum
Sterbehilfeverein Dignitas und löste
damit im Königreich heftige Debatten aus. Allerdings plädiert er nicht
für das Schweizer Modell, sondern
für Schiedsgerichte, die Todkranken den Erwerb von tödlichen Medikamenten erlauben und ihnen
damit ermöglichen, in vertrauter
Umgebung ihr Leben zu beenden.
Der Autor, Zeichner, Filmemacher,
Bühnen- und Kostümbildner, Schauspieler, vor allem aber große Humorist Vicco von Bülow mit dem Künstlernamen Loriot ist am 22. August
2011 in Ammerland am Starnberger
See an Altersschwäche gestorben,
wie sein Verlag mitteilte. Mit „Auf
den Hund gekommen“ (1954) war
er einer der ersten Autoren des Diogenes Verlags, bei dem er in fast
sechzig Jahren 114 verschiedene
Bände herausbrachte. Der am 12.
November 1923 in Brandenburg an
der Havel geborene Vicco von
Bülow studierte von 1947 bis 1949
Malerei und Grafik an der Kunstakademie in Hamburg und war anschließend als Werbegrafiker und für
die Zeitschriften „Die Straße“,
„Stern“, „Weltbild“ und „Quick“
tätig. Ab 1967 textete und moderierte er die Fernsehsendung Cartoon
für die ARD, für die er auch CoRegie führte. Der Zeichentrick-Hund
Wum, Maskottchen für die „Aktion
Sorgenkind“ in der ZDF-Quizshow
„Drei mal Neun“, entstand 1971.
1988 drehte Loriot als Autor, Regisseur und Hauptdarsteller den Film
„Ödipussi“, 1991 „Pappa ante Portas“.
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: LILIENFELD VERLAG; CHRISTIAN THIEL
2008 erschien
06_13_spektrum_02_09
07.09.2011
9:31 Uhr
Seite 9
SPEKTRUM
EINFÜHLSAM
AMÜSANT
Während der Vorbereitungen zu einem Konzert hat die Musikerin
und Fotografin Gabriele Kostas im Haus des
Schriftstellers Walter
Kempowski in Nartum
bei Bremen die Aufnah-
men für den Band „Das
Haus der Kempowskis“
(Hatje Cantz) gemacht. Die
von Glas und Spiegeln
erzeugten Lichtreflexe im
Haus Kreienhoop ermöglichen auf den Bildern den
Eindruck des Ineinanderfließens von Innen und
Außen. Für diesen Effekt
wurden keinerlei Doppelbelichtungen oder digitale
Tricks angewendet. Texte
von Janos Frecot, Walter
Kempowski und Gabriele
Kostas vervollständigen das
Porträt des Hauses. •
FRAGWÜRDIG
Beantwortet
„Bin ich Jesus?“ fragen die Autoren Elias Hauck, Dominik Bauer und Michael Tetzlaff auf dem
Cover von „Die
Kunst, nicht zu
antworten“ (Verlag Antje Kunstmann). Diese
Antwort-Frage ist
dem
Kapitel
„Wie Sie antworten, wenn Sie keine Ahnung haben“ entnommen. Darüber
hinaus gibt es
noch Tipps, wie Sie antworten,
wenn Sie Zeit gewinnen wollen,
dem anderen ein gutes Gefühl
geben wollen, überhaupt nicht
wissen, wie Sie reagieren sollen,
ein Gespräch beenden wollen
oder mal nicht
antworten wollen.
Das Geniale daran ist, dass in all
den Ausweichund Ablenkungsmanövern keine
Beleidigungen
enthalten sind.
Wie das funktioniert? Das weiß ich jetzt auch
nicht mehr … •
Jugendtorheiten
Lisa Seelig und Elena Senft
klingt ja eigentlich nach
Künstlername, doch
die beiden jungen
Damen heißen angeblich wirklich so und stehen für ihr „Lexikon der
Jugendsünden“ gerade. 1979 sind sie geboren
und blicken schon zurück mit Schamesröte. Die
Erinnerung an Kurt Cobain, David
Hasselhoff und Kevin Costner
treibt ihnen beispielsweise diese auf die Wangen. Sniffer,
Säufer, Seitenspringer. Die
drei sind gar nicht so
unterschiedlich, wie der
erste Eindruck glauben
machen will. Dies und
noch viel mehr in „Wir
waren jung und
brauchten das Gel“ (sic!), Peinlichkeiten aus der Jugendzeit – heute ein
bei S. Fischer erschienen. kurzweiliges Vergnügen
FORTSCHRITTLICH
Amazon Authors Central
Nicht nur die LeserInnen, auch die
AutorInnen werden bei Amazon
bestmöglich betreut. In den Vereinigten Staaten können sie sich
neuerdings ein öffentlich einsehbares Konto anlegen, in das sie
Videos, Fotos, Blogs und was ihnen
sonst noch rund um ihre Bücher
einfällt und für User von Interesse
sein könnte, einstellen. Wenn sie
dann neugierig die Ranking-Zahlen überprüfen, um herauszufinden,
ob sich der Einsatz gelohnt hat, können sie seit kurzem sogar nachsehen, wo ihre Bücher zuletzt gekauft
wurden. Natürlich auch, wo sie
NICHT gekauft wurden, also ob
sich ein bestimmter Inhalt in Utah
oder doch in Kalifornien besser verkauft hat. •
lad
Auf der Suche nach dem verlorenen Vater
© Guy Gi
FOTOS: AUS „DAS HAUS DER KEMPOWSKIS“/HATJE CANTZ; ILL: AUS „DIE KUNST, NICHT ZU ANTWORTEN/KUNSTMANN; AUS „WIR WAREN JUNG UND BRAUCHTEN DAS GEL“/S. FISCHER
Fotodokumentation Haus Kreienhoop
Wer ist der Vater, nach dem
das Mädchen wieder und wieder
vergeblich fragte? War er ein
Kapo oder ein Partisan gewesen?
Ein Verräter oder ein Held?
Eine berührende Suche
nach Sinn und Begründung eines
wahnwitzigen Geheimnisses.
Aus dem Hebräischen
von Mirjam Pressler
Deutsche Erstausgabe
_ premium
220 Seiten ¤ 15,40
ISBN 978-3-423-24895-2
www.dtv.de
06_13_spektrum_02_09
06.09.2011
16:15 Uhr
Seite 10
SPEKTRUM
€ 21,99 (D) / € 22,70 (A)
sFr 30,90 / 576 Seiten
978-3-550-08873-5
Erscheint: 10. Oktober
KURZMELDUNGEN
Das größte E-Book-Projekt der
Welt planen die Perry-Rhodan-Redaktion und ihr Technik-Partner
bookwire GmbH: Alle der in 50 Jahren erschienenen 200.000 sollen
zum Download verfügbar werden.
Joanne Rowling will mit dem
Start ihrer neuen Website Pottermore.com erstmals E-Books der
Buchserie anbieten und dafür die
offene Plattform Google E-Books
nützen.
Das vermeintlich verschollene
Verlagsarchiv des Schweizer Arche Verlags konnte nun von den
Söhnen des Verlagsgründers Peter
Schifferli (1921–1980) dem Schweizer Literaturarchiv übergeben werden. In den 22 Kisten befinden sich
Korrespondenzen, Manuskripte,
Typoskripte und Illustrationen
bedeutender Künstler des 20.
Jahrhunderts.
Seit dem 13. Juli 2011 können
sich Self-Publishing-Autoren um
den mit insgesamt 20.000 Euro
dotierten derneuebuchpreis.de
bewerben, indem sie ihr Werk
kostenlos auf www.epubli.de veröffentlichen und zur Wahl stellen. Die
Webuser und ein Expertenteam mit
der Agentin Petra Eggers und der
Autorin Cora Stephan entscheiden
über die vier Gewinner in den Kategorien Belletristik, Sachbuch, Wissenschaft und Buchgestaltung.
Die brasilianische Nationalbibliothek will bis zum Jahr 2020 7,6 Mil-
Du siehst
ihn nicht.
Er jagt Dich.
Unerbittlich.
Der neue
Thriller
vom SpiegelBestsellerautor
lionen US-Dollar zur Förderung von
Übersetzungen und Wiederveröffentlichungen von Werken brasilianischer Autoren in Form von Verlagszuschüssen ausgeben.
Wie das Auktionshaus Sotheby’s
mitteilte, ist ein unvollendetes
Manuskript von Jane Austen (1776–
1817) mit dem Titel „The Watsons“,
das vermutlich 1804 entstanden
ist, für fast eine Million Pfund versteigert worden.
Oliver Graute, Marketingchef
und Produktionsleiter des Mannheimer Verlags Feder & Schwert,
setzt auf Crowd-Funding. Er will in
Zukunft die Kunden mit Hilfe des
Internetportals StartNext.de selbst
bestimmen lassen, ob ein Buchangebot produziert wird oder nicht.
Gemäß der ARD/ZDF-Onlinestudie 2011 lesen die Menschen heuer
täglich um 3 Minuten weniger als
im Vorjahr (25 Min.) und sehen um
15 Minuten weniger fern (2010: 244
Min.). Schlusslicht ist mit 4 Min.
täglich der Konsum von Videos.
Da Apple seit einiger Zeit Apps
verbietet, um sich auf Online-Shops
zu verlinken, auf denen Inhalte
gekauft werden können, hat Amazon mit dem Kindle-Cloud-Reader
eine in HTML5 programmierte
Website installiert, auf der sich in
den Browsern Chrome und Safari
Amazon Kindle E-Books auch
ohne spezielle Kindle-Apps lesen
lassen.
Der zur Ueberreuter Verlagsgruppe gehörende Oldenburger
Lappan Verlag geht gegen 400
von 7000 Verstößen gegen das
Urheberrecht vor, die auf gewerblich genutzten Seiten Gedichte des
1979 verstorbenen Heinz Erhardt
betreffen. Die Erbengemeinschaft
Erhardts hat sich davon distanziert.
Facebook hat das Internet-Startup Push Pop Press, das herkömmliche Bücher für den interaktiven
Gebrauch auf mobilen Apple-Geräten aufbereitet (u. a. Al Gores „Our
Choice“), erworben.
Die Wiedeking-Stiftung Stuttgart
überlässt 28 private Briefe Franz
Kafkas an seine Bekannte Grete
Bloch dem Deutschen Literaturarchiv Marbach als Dauerleihgabe
für seine Kafka-Sammlung, in der
sie ab 5. Oktober d. J. zugänglich
sein werden.
Ministerpräsident Winfried
Kretschmann überreichte im
Neuen Schloss, Stuttgart, den
Innovationspreis 2011 aus dem
Bereich Kunst an den Hatje Cantz
Verlag für die Reihe „Kunst zum
Hören“, die auf dem Konzept des
illustrierten Hörbuchs beruht.
Einen „einzig- und neuartigen
Weg“ für Self-Publishing-Portale
geht www.triboox.de gemäß seinem Geschäftsführer Karl-Friedrich
Pommerenke mit dem Druck der
Anthologie „Facetten der Liebe“.
EFFEKTIV?
Das etwas andere Einschlafbuch
Jetzt abLeseprobe:
d reinlesen!
scannen un
www.nesbo.de
Keine Tipps, sondern den Trost, nicht allein zu sein, bietet „Verdammte Scheiße, schlaf ein!“. Das Kinderbuch
für Erwachsene von Adam Mansbach hat einen solchen
Medienhype ausgelöst, dass man jungen Eltern fast nichts
anderes mehr schenken kann. Auf Amazon hatte es schon
vor Erscheinen Verkaufsrang eins und Fox hat sich
schnellstens die Filmrechte gesichert. Gerahmt von eindrucksvollen, selbstgemalten Bildern, liefert der Autor
darin liebliche Einschlafreime von Schäfchen, Kätzchen und Fröschlein, die nach ein paar Zeilen im F...Wort münden, und schafft damit eine Mischung aus
Wut und Witz, in der sich offensichtlich fast alle Eltern
verstanden fühlen. Die deutsche Übersetzung von Jo
Lendle ist bei DuMont erschienen. •
AZ_Buchkultur_Nesboe_42x265_3.indd
29.08.2011
1 11:56:44 Uhr
Für schlaflose Eltern: übers Internet zum Hype und
Bestseller
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NEU
Beckett digital
Bei der Beckett-Konferenz in New
York diskutierten 170 Beckett-Forscher den so genannten „grauen
Kanon“ aus dem handschriftlichen
Nachlass von Samuel Beckett, zu
dem u. a. 16.000 Briefe zählen. Mit
dem digitalen Archiv, das unter der
Leitung von Mark Nixon und Dirk
von Hulle angelegt wird, sollen
Handschriften lesbar und an einem
zentralen Ort zugänglich gemacht
werden. Unter anderem
geht aus Becketts Briefen hervor, wie mühselig sein Weg war, bevor
er im Alter von 47 mit „Warten auf
Godot“ internationalen Erfolg hatte. Von seinen ersten beiden Romanen wurden weniger als 100 Stück
verkauft und seine Eltern waren
sicher, dass er kein Talent hätte. Das
neu angelegte Archiv bietet die
Becketts handschriftlicher Nachlass endlich
für alle zugänglich
Möglichkeit, bei der Erforschung
der bis zu 16 Textversionen, die
Samuel Beckett von einem Werk
erstellte, die Bezüge zu Philosophie
und anderen Dichtern wie Shakespeare und Dante besser zu verstehen. •
K
o
A LT
100 Jahre Éditions Gallimard
In 100 Jahren kann einiges in einem
Familienverlag geschehen, noch
dazu wenn er ein Renommee hat
wie die Editions Gallimard. Beinahe alle großen französischen Namen
wie Proust, Camus, Sartre und Beauvoir standen dort unter Vertrag, aber
auch angelsächsische und deutsche
wie Hemingway, Joyce und Kafka. Erst durch die Rechte an Harry
Potter konnten bei den Banken lie-
gende Anteile zurückgekauft werden, sodass
die Familie inzwischen
wieder 98 Prozent hält.
Marcel Proust wurde übrigens von André Gide, der damals
dem Lektorenkomitee angehörte,
abgelehnt. Gallimard gelang es später doch noch, die Rechte an Prousts
Werk zu erwerben, und immerhin
macht der Verlag heute 60 Pro-
EMPFEHLENSWERT
FOTO: JERRY BAUER/SUHRKAMP VERLAG; EDITION GALLIMARD; ARCHIV DER SPAUN-STIFTUNG, SEEWALCHEN
Dialekt-Diktionäre
Zwegn de poa
nedsch? Ligt
do a Kombinesch am Trottoaa wisawii?
Langenscheidts Dialekt-Lillis
ermöglichen
Nicht-Wienern die korrekte Antwort, jo oda na, und
brillieren zugleich mit einigem Hintergrundwissen.
Négy = vier (ungarisch) und damit als Ausdruck für
wenig Geld, ein Relikt der Doppelmonarchie; vis-á-vis
= gegenüber, Combinaison = Kombination (hier des
passenden Unterkleids) und Trottoir = Gehweg gelten in Wien als Überbleibsel höfischer Habsburgerkultur, in Köln als solche napoleonischer Besatzung.
Das Trottoir findet sich in leichter Modifikation („Trottoar“) auch im „Schweizer-deutsch“. Alle LangenscheidtLilliput-Bände – Badisch, Bairisch, Berlinerisch, Fränkisch, Hessisch, Kölsch, Plattdeutsch, RuhrpottDeutsch, Sächsisch, Schwäbisch und s. o. – sind kleiner als eine Zigarettenschachtel und ausgesprochen
praktisch. •
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
zent seines
Umsatzes
mit der Backlist. Anlässlich
des „Geburtstags“
ist in der Bibliothèque
Nationale eine Ausstellung zu sehen, und die Adresse in Saint Germain, an der der Verlag residiert,
wurde von Rue Sébastian-Bottin in
Rue Gallimard umbenannt. •
AUSSTELLUNG
Karl Wilhelm Diefenbach
In Wien erinnert eine Straße an den Maler und Vordenker von Nacktkultur und autoritär geführtem
Kommunenleben. Hier sollte er auch in Florian Berndl,
dem „Vater des Gänsehäufels“ und späteren Zeitgenossen, Nachfolger finden. Die von Claudia Wagner
kuratierte Münchner Ausstellung ist noch bis 26.
Oktober 2011 in der Hermes Villa in Wien zu sehen,
wo Diefenbach von 1992 bis 1999 für den Österreichischen Kunstverein sein monumentales „Per aspera ad astra“ schuf und am Himmelhof, der nur 20
Gehminuten von der Hermesvilla entfernt liegt, seine zweite Kommune anführte. Die
Ausstellung „Der
Prophet – Die Welt
des Karl Wilhelm
Diefenbach“ zeigt
Bilder Diefenbachs
und seiner Weggefährten ebenso wie
Fotografien und Dokumente aus seinem
Umfeld. •
www. wienmuseum.at
11
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16:17 Uhr
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SPEKTRUM
U M FA S S E N D
LESENSWERT
Musik und Text
Gemeinsam lesen
„Na und? Hat sich bewährt, sollte man beibehalten.“ So ungefähr heißt es in der Kabarettnummer „Schnulzenentbindung“ des
Duos Wehle/Bronner augenzwinkernd über
das Plagiieren. Die Gründerin der „Celler Schule für Textdichter“, Edith Jeske, und ihr Kompagnon Tobias Reitz haben ein
„Handbuch für Songtexter“ (Autorenhaus Verlag) verfasst, das
Anfängern auf die Sprünge helfen soll. Von den „Capri-Fischern“
bis zu „Männer sind Schweine“ werden erfolgreiche Liedtexte
unter die Lupe genommen. Dabei wird z. B. gezeigt, dass Verben viel intensivere Vorstellungen auslösen als Substantive oder
gar Adjektive. Wer gerne so vor sich hintextet, kann sicher
einiges optimieren, indem er ab und an in diesem Handbuch
schmökert. Für blutige Anfänger stellt sich aber möglicherweise der Tausendfüßler-Effekt ein: Vor lauter Nachdenken, was man
alles beachten müsste, fällt einem gar nichts mehr ein. Obwohl
der Tipp, sich doch mal irgendwelche Melodien „auszuleihen“
und dazu zu dichten, um die Phrasierungen kennenzulernen,
gerade für sie von Nutzen ist. •
Mannschaftssportler haben es gut, denn sie sind
mit ihrem Hobby nie allein. Ganz anders ergeht
es den Lesern. Einsam lachen oder weinen sie
in die Seiten und haben niemanden, der sie aufmuntert, wenn sie sich langweilen. Um der
Gefahr der Einsamkeit vorzubeugen, können
sie sich nach einem Lesekreis umsehen oder am
besten gleich selbst einen gründen. Das Basiswissen dazu liefert der langjährige Programmleiter des Literaturhauses Köln und designierte Leiter des Literaturfestivals Berlin Thomas
Böhm in „Das Lesekreisbuch“ (Bloomsbury
Verlag). Geschichtliches findet hier neben Organisatorischem und Lektürevorschlägen
seinen Platz. Sagen Sie nicht,
das mach’ ich, wenn ich mal in
Pension bin, fangen Sie gleich
damit an! •
PREISE UND AUSZEICHNUNGEN
Preis
Spycher: Literaturpreis Leuk
Spycher: Literaturpreis Leuk
Goethe-Medaille
Silberne Feder
Uwe-Johnson-Förderpreis
Reinhard-Priessnitz-Preis
Buxtehuder Bulle
Übersetzerpreis Erlangen
Deutscher Sprachpreis
Dr.-Manfred-Jahrmarkt-Ehrengabe
Buchpreis d. Salzburger Wirtschaft
Hannah-Arendt-Preis
Translatio
Translatio
outstanding artist award
Anton-Wildgans-Preis
Robert-Helmlé-Preis
Rheingau Literatur-Preis
Gernhardt-Preis
Robert-Gernhardt-Preis
Nicolas-Born-Preis
Eschenbach-Preis
Ernst-Jandl-Preis
Erich-Fried-Preis
Celan-Preis
Cotta-Übersetzerpreis
Kranichsteiner Literaturpreis
Kleist-Preis
Böll-Preis
Petrarca-Preis
Petrarca-Preis
Erich-Maria-Remarque-Preis
Österr. Staatspreis für europ. Literatur
Thomas-Mann-Preis
Europäischer Litraturpreis
Andersen-Preis
Preisträger
Marie NDiaye
Mikhail Shishkin
John le Carré
Martin Baltscheid
Judith Zander
Richard Obermayr
Susan Beth Pfeffer
Elke Erb
Gustav Seibt
Andreas Altmann
Peter Stephan Jungk
Navid Kermani
Adnan Kovacsics
Johann Strutz
Barbara Hundegger
Doron Rabinovici
S. Müller u. H. Fock
Josef Haslinger
Thomas Gsella
Matthias Göritz
Peter Waterhouse
Ludwig Fels
Peter Waterhouse
Thomas Stangl
Mirjana u. Klaus Wittmann
Claudia Ott
Jan Wagner
Sybille Lewitscharoff
Ulrich Peltzer
Florjan Lipus
John Burnside
Ben Jelloun
Javier Marias
Jan Assmann
Hanna Krall
Isabell Allende
Buchtitel
Drei Frauen
Venushaar
Gesamtwerk
Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor
Dinge, die wir heute sagten
Das Fenster
Die Welt, wie wir sie kannten
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Jáchymov
Tiere und Reime
Das Geschäft mit den Träumen
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Tausendundeine Nacht
Australien
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Gesamtwerk
Preisgeld
Aufenthalt
Aufenthalt
undotiert
2.000 EUR
2.500 EUR
4.000 EUR
5.000 EUR
5.000 EUR
5.000 EUR
5.000 EUR
7.000 EUR
7.500 EUR
8.000 EUR
8.000 EUR
8.000 EUR
10.000 EUR
10.000 EUR
10.000 EUR
12.000 EUR
12.000 EUR
15.000 EUR
15.000 EUR
15.000 EUR
15.000 EUR
15.000 EUR
20.000 EUR
20.000 EUR
20.000 EUR
20.000 EUR
20.000 EUR
20.000 EUR
25.000 EUR
25.000 EUR
25.000 EUR
25.000 EUR
67.000 EUR
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06.09.2011
16:19 Uhr
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SPEKTRUM
FESTIVALS
BuchBasel
Messe und Festival, 18. bis 20. November
2011 am Messeplatz
Mehr über die 100 Veranstaltungen, über
neue Sachbücher, über Literatur, über
aktuelle gesellschaftliche Fragen und
über die rund 200 Autorinnen und Autoren aus dem In- und Ausland, die in
Basel zu Gast sein werden, finden Sie
unter www.buchbasel.ch
BUCH WIEN
10. bis 13. November 2011, Messe Wien,
Halle D (U2 Station Krieau), Trabrennstraße, 1020 Wien
Petros Markaris wird in seiner Eröffnungsrede über seine Heimat Griechenland, die Wirtschaftskrise und die Rolle
von Kunst und Literatur sprechen.
Die Lesefestwoche eröffnet der deutschiranische Autor Navid Kermani, weiters
werden u. a. Judith Schalansky mit
ihrem aktuellen Bildungsroman „Der
Hals der Giraffe“ und Charlotte Roche
mit ihrem neuen Buch „Schoßgebete“
erwartet. www.buchwien.at
Bücherbüffet
20. bis 28. Oktober 2011,
Fleischmarkthalle Karlsruhe
Autorenlesungen, Gäste-Rezensionen,
Vorlese-Oma, Musik und – der Name verpflichtet – ein kostenloses Drei-GängeFingerfood-Menü für die Besucher der
großen Abendveranstaltung.
www.bücherbüffet.de
Göttinger Literaturherbst
14. bis 23. Oktober 2011, Altes Rathaus,
Markt 9, Aula am Wilhelmsplatz, Wilhelmsplatz 1, Deutsches Theater, Theaterplatz 11,
Paulinerkirche, Papendiek 14
Schwerpunkte sind die internationale
Literatur und das wissenschaftliche
Sachbuch. Bei 33 Veranstaltungen werden u. a. die österreichische Bachmannpreisträgerin Maja Haderlap, der deutsche Ozeanograph und Klimatologe Stefan Rahmstorf, der Yale-Professor Thomas Pogge und der Biologe Gerhard
Roth erwartet. www.literaturherbst.com
29. Karlsruher Bücherschau
10. November bis 4. Dezember 2011,
Regierungspräsidium Karlsruhe, KarlFriedrich-Straße 17, 76133 Karlsruhe
Dreieinhalb Wochen Gelegenheit, in ein
Meer von 22.000 Büchern aus 300 Verlagen einzutauchen. Lesungen, Vorträge
und Diskussionen runden den thematischen Schwerpunkt – diesmal „Buch &
Kunst“ – ab.
www.buecherschau.de
DR. TRASH EMPFIEHLT
KriLit 11 im ÖGB
4./5. November 2011, Johann-BöhmPlatz 1, 1020 Wien
Ziel der „Kritischen Literaturtage“ des
Österreichischen Gewerkschaftsbundes
ist es, unabhängige und kleine Verlage
mit alternativen, gesellschafts- und sozialkritischen Büchern zu unterstützen,
indem sie im neuen Haus des ÖGB ihr
Sortiment bewerben und verkaufen
können. www.kritlit.at
LesArt.Festival Dortmund
11. bis 20. November 2011, an 9 Orten
9. Dortmunder Lyriktag, Autorinnen und
Autoren aus den Niederlanden, Polen und
anderen Ländern, Renitenztheater Stuttgart, LesArt.Preis der jungen Literatur,
KindergartenBuchTheaterFestival,
Poetry Jam …
www.lesart-festival.de
Literatur im Nebel
21./22. Oktober 2011, in der Margithalle
Heidenreichstein
Gast wird der somalische Schriftsteller
Nuruddin Farah sein, der den Großteil
seines Werks dem Zerfall des Staates
Somalia widmet.
www.literaturimnebel.at
Literatürk 2011:
GRENZGÄNGE!
14. bis 17. Oktober 2011, in Essen
und im Ruhrgebiet
Seit 2005 besteht das eigensinnige
türkisch-deutsche Literaturfestival des
Kulturzentrums GREND e.V. in Zusammenarbeit mit Fatma Uzun und Semra
Uzun-Önder. Hoflgeldiniz!
www.Grend.de
52. Münchner Bücherschau
und Literaturfest München
10. bis 27. November 2011, im Gasteig
Verlage können sich noch mit nationalen und internationalen Romanen
und Sachbüchern anmelden.
www.muenchner-buecherschau.de
Österreich liest.
Treffpunkt Bibliothek
17. bis 23. Oktober 2011
Tausende Veranstaltungen für
Erwachsene ebenso wie für Kinder.
www.oesterreichliest.at
Zürich liest
27. bis 30. Oktober 2011, im ganzen
Kanton Zürich
Das gesamte Festivalprogramm mit
über 100 Lesungen, Bilderbuchkino und
Eröffnungsgala im Schauspielhaus
finden Sie auf www.zuerich-liest.ch
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
Agenturmeldungen
sind das Letzte
Selbst als Freund der „unsichtbaren Literatur“ kann der Doc dem
Textmüll, den Presseagenturen ausschicken und der dann meist
eins zu eins vom Boulevard, den Qualitäts-Propagandaorganen und
dem Staatsfunk abgekupfert wird, nichts abgewinnen. Zumal ja klar
und bekannt ist, dass diese angeblichen Nachrichten A. von ausländischen Agenturen übernommen, B. von Spin-Doktoren konstruiert
oder C. von Werbemenschen erfunden wurden.
Dennoch gab‘s vor kurzem eine wie immer hatschert formulierte
Meldung, die den alten Trash faszinierte: Der Comic-Verlag Marvel,
mittlerweile im Besitz der Disney-Corporation und verantwortlich
für Kino-Superheldenschund wie „Thor“ und „Captain America“, hat
Comic-Händler dazu aufgerufen, die Hefte des größten Konkurrenten DC (Besitzer: Time Warner) zu zerstören. Für jedes vernichtete
DC-Produkt sollen die Händler ein limitiertes Marvel-Comic gratis
erhalten.
Üble Sache – und typisch für die mutierten „X-Men“ von Marvel.
Der Konflikt zwischen den beiden Comic-Giganten wird ja bereits
seit Jahrzehnten ausgetragen, bis in die Herzen der Fans hinein.
Die Frage, ob man Marvel oder DC (die Heimat von Superman und
Batman) lieber hat, stellt sich bereits in frühester Jugend und ist
etwa so lebensentscheidend wie einst die Präferenz für die Beatles
oder die Stones. Als altem Fab-Four-Freund, der stets mehr auf
Qualität setzte als auf Pseudo-Revoluzzerei, war und ist dem
Doc DC naturgemäß näher; nicht umsonst sind ja auch die
genialen „Watchmen“ dort erschienen …
Umso größer war die Freude, als vor nicht ganz einem Jahr der
Riesenprachtband „75 Years of DC Comics: The Art of Modern
Mythmaking“ von Paul Levitz im Taschen-Verlag (dt. & engl.) herauskam. Zugegeben, das ist schon eine Zeit her – aber die 720 Seiten
wollten einmal ausführlich studiert werden, ohne dass man sich
einen Bruch hebt. Nach entsprechenden architektonischen Umgestaltungen kann der Doc guten Gewissens sagen: freigegeben!
Investieren Sie ruhig die 150 Euro in dieses unentbehrliche Stück
Comic-Geschichte.
Um an den Beginn zurückzukehren: Die vertrotteltste Agenturmeldung des Sommers berichtete von der Gründung der US-Firma
1DollarScan, die ihren Kunden anbietet, Bücher, Zeitschriften,
Photos etc. billig zu digitalisieren und die Papieroriginale dann zu
„entsorgen“. Denkt man da nicht gleich an „Fahrenheit 451“? Der
Plan, der Menschheit ihre Bücher zu entziehen, wurde angeblich in
Japan ausgeheckt, weil dort (so die Meldung) die Menschen solche
Angst haben, bei Erdbeben von ihren Bücherregalen erschlagen zu
werden.
Wer sowas kritiklos abschreibt, gehört selbst unter ein paar Regale
gesetzt. Irgendwo im Tsunami-Gebiet …
13
14-27 buchwelt
06.09.2011
16:36 Uhr
Seite 14
B U C H W E LT
Ein Regenwurm hebt ab
Erinnern Sie sich? Wir saßen an einem
Tisch und haben uns reihum einen Satz ins
Ohr geflüstert – damals, als Kinder, an
Geburtstagspartys. Je mehr Ohren, desto
unverständlicher das Ergebnis, und der Letzte in der Reihe verkündete schließlich ein
einziges Gestammel. Wir haben uns krumm
und schief gelacht und fingen von vorne an.
Das Spiel heißt „Stille Post“ – genauso wie
das neue Buch mit Kurzprosatexten von Urs
Widmer. Dort treibt er das Spiel weiter, als
Experiment und ganz in Widmerscher Manier: witzig, spritzig und – wie immer –
mit seinem unerschöpflichen Potential an
Fantasie.
Der Autor hat sich an einen Tisch gesetzt,
zusammen mit einem Spanier, einem Chinesen, einer Engländerin, einem Russen und
einem Franzosen. Seine zu diesem Zweck
geschriebene Geschichte „Erste Liebe. Ein
Brauch“ hat er dann dem Spanier „ins Ohr“
geflüstert – d. h. zur Übersetzung in die Mailbox geschickt, dieser, nach getaner Arbeit,
dem Chinesen und so weiter und so fort. Und
dann hielt Urs Widmer sein eigenes Ohr hin,
um zu hören, was seinem Text auf der Reise
rund um die Welt geschehen war. Um es vorweg zu nehmen: Urs Widmer war entsetzt.
Aus der verspielten Geschichte, einer Art
„Initiationsritus“, wie er sagt, war ein knochentrockenes, bierernstes Etwas geworden.
Und die Moral von der Geschicht? Anderssprachige verstehen sich halt nicht? Kaum.
Denn was wäre das Lesen im Allgemeinen
und das Lesen von Literatur im Besonderen,
wenn nicht Übersetzung? Wenn nicht Übertragung der Sätze in die je eigene Welt, ins
je eigene Getümmel von Erfahrungen, Vorstellungen, Vorurteilen …? Nichts käme dabei
heraus als Langeweile und Öde – ein Häufchen Buchstaben, gerade wert genug, zusammengekehrt zu werden. Und was wäre (ist)
das Schreiben von Literatur denn, ohne Übersetzung in die eigene Sprache? Siehe oben.
Urs Widmer beherrscht die Übersetzungskunst wie kein anderer Schweizer Autor.
Mit enormer Sprungkraft hebt er ab vom
gängigen und – sehr oft – vom realistischen
Boden. Was er zu sagen hat, kleidet er in
Mythen und Legenden und Märchen. „Das
Metaphorische ist (…) die Domäne der Literatur“, sagt er in seinen Frankfurter Poe14
tikvorlesungen, und pocht so auf das Recht
der Fantasie – um nicht zu sagen: auf die
Pflicht dazu.
Die Pflicht zur Fantasie: In seiner Rede
zur diesjährigen Eröffnung der Klagenfurter
Tage der deutschsprachigen Literatur wies
Urs Widmer den Anspruch nach der eigenen Sprache zwar zurück, weil sie „just das
Allgemeine ist, über das die andern auch verfügen und das uns mit den andern verbindet“. Wohl wahr. Wahr ist allerdings auch,
dass ihrer Verwendung so wenig Grenzen
gesetzt sind wie einem Knäuel Wolle. Und
Witzig, spritzig und mit
einem unerschöpflichen
Potential an Fantasie.
diese je eigene Verwendung – Rhythmus,
Tonfall, Farbe, Dichte … –, wäre nicht sie das
Eigene? Und dieses Eigene, ist es nicht (auch)
dazu da, beharrlich Störarbeit zu leisten im
unsäglichen Getriebe des Mainstream-Gequassels? Oder anders gesagt, blumig, nach
Urs-Widmer-Art: „Vielleicht sind die Dichter auch heute für Sprache so etwas wie das,
was die Regenwürmer für die Erde sind. Sie
halten sie schön locker und sorgen dafür, dass
aus ihr etwas gedeihen und wachsen kann.“
Schon der Anfang der Geschichte in seinem neuen Buch „Reise nach Istanbul“ pflügt
den Boden um, und es „gedeiht“ beim Lesen
erstmal ein Stirnrunzeln, aber dann ein unaufhaltsames Wachsen von Gedanken, ein Sprießen von Vorstellungen und ein Blühen von
Bildern: „Ich weiss nicht mehr, wann ich dies
erlebte: kürzlich jedenfalls, gestern vielleicht,
jeden Tag. Ich fuhr in einem Zug, da bin
ich mir sicher, in einem Schlafwagenabteil,
zusammen mit meiner Frau und meinem
Kind, das ein fünfjähriges Mädchen ist.“ So
weit, so verwirrend. Doch dann nimmt die
Konfusion erst recht ihren Lauf. Als der Zug
an einem Grenzort anhält, steigt der Mann
aus, um Zeitungen zu kaufen. Er verlässt auch
kurz den Bahnhof, flaniert ein wenig im
Ort und will dann zurück. Die Straße, auf
der er eben noch ging, ist nicht mehr da.
Auch der Bahnhof ist nicht mehr da …
„Im Anfang war eine Stille; das All still,
still.“ So beginnt eine andere Geschichte: Die
Schöpfungsgeschichte von Urs Widmer. Es
gab – vielleicht – ein paar Götter, die, wenn
es sie denn gab und wenn sie schliefen, von
Farben träumten. Denn das All war zwar still,
aber es war farbig. Später kamen die Tiere
dazu, und als dann die Menschen das All bevölkerten, war es mit der Stille vorbei: „Dann
erschlugen wir uns mit Stein und Bein. –
Dann mit Kreuz und Schwert. – Mit Korn
und Pulver.“ Am Ende der Geschichte warten eine Beschwörungs- und eine Hoffnungsgeste: „Wir werden sterben, wenn wir
nicht wieder fliegen lernen. Warum sollten
wir es nicht können.“
Warum sollten wir nicht endlich zu weinen anfangen über den „Lärm“, den wir auf
dieser Welt machen? Warum sollten wir uns
nicht eingestehen, so wie der Mann, der nach
Istanbul reisen wollte, dass wir uns verirrt
haben? Warum sollten wir es nicht können?
Vielleicht, weil wir es allein nicht können.
Weil wir Anstöße brauchen, das Fliegen wieder zu lernen – das Davonfliegen. Urs Widmers fantasiegetränkte Bücher helfen beim
Flüggewerden. Und beim Fliegen gegen den
Wind.
ZUM AUTOR
Urs Widmer, geboren 1938 in Basel, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte.
Er arbeitete einige Jahre als Verlagslektor
und gründete mit anderen Lektoren den Verlag der Autoren, bevor er selbst zum Schriftsteller wurde. Für seine Werke
vielfach ausgezeichnet, lebt
Urs Widmer in Zürich.
Urs Widmer |Stille Post| Diogenes 2011,
176 S., EurD 19,90/EurA 20,50/sFr 33,90
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: REGINE MOSIMANN/DIOGENES VERLAG
„Stille Post“ – Urs Widmers Störarbeit gegen das
Mainstream-Gequassel. VON SILVIA HESS
ahres
„Ein w
rwerk“
Wunde
lda
a Gava
Ann
Aus dem Englischen von Ilija Trojanow und Susann
379 S. Geb. f 20,60[A] / f 19,95[D]
Aus dem Französischen von Christian Kolb.
Urban. 515 S. Geb. f 20,60[A] / f 19,95[D]
ISBN 978-3-406-62166-6
239 S. Klappenbr. f 17,50[A] / f 16,95[D]
ISBN 978-3-406-62156-7
Der neue große Roman vom
Autor des Weltbestsellers
„Der weiße Tiger“. Adiga
erzählt eine Geschichte um
Geld und Macht, Luxus und
Entbehrung, bietet ein breites Gemälde der Menschen
in Bombay und nicht zuletzt
das Porträt einer brodelnden
Stadt – „Der letzte Mann im
Turm“ wirft einen tiefen Blick
in die Herzen und Köpfe der
Bewohner einer Mega-City
– einfache Menschen, die an
einem Ort ohne Grenzen bis
an ihre Grenzen getrieben
werden.
ISBN 978-3-406-62162-8
„Dieser grandios komponierte
Roman … verwebt die verschiedenen Zeiten, Orte und
Biografien so kunstvoll miteinander, er schafft ein so fein
gesponnenes Netz aus Leitmotiven, Bildern und Symbolen, dass sich daraus eine ganz
eigene, viel tiefere Wahrheit
ergibt: nicht die historische,
sondern die literarische; nicht
die Wahrheit der Fakten, sondern die der Fiktion.“
Andreas Wirthensohn,
Wiener Zeitung
„Sabine Gruber gehört zu den
wichtigsten Talenten der
österreichischen Autorengeneration nach Elfriede Jelinek
und Marlene Streeruwitz.“
Frankfurter Allgemeine
Zeitung
„Dieses große kleine Buch
macht Lust zu lieben, geliebt
zu werden, sich in die Liebe
zu stürzen und alles zu geben!“
Anna Gavalda
„Es gibt Bücher, bei denen
man noch Tage später stille
Freude spürt. Dieses ist so
eines.“
Christine Westermann,
WDR Bücher
„Die Geschichte dieser neuen
Liebe erzählt Foenkinos so
empfindsam, dass man sich
beim Lesen schon mal wundert, dass ein Mann diese
Zeilen geschrieben hat.“
Vanessa Plodeck, Freundin
C.H.BECK
www.chbeck.de
14-27 buchwelt
06.09.2011
16:38 Uhr
Seite 16
B U C H W E LT
Zu Gast bei Klaus Zeyringer: Alois
Hotschnig, ein Sprachkünstler mit
Tiefenschärfe (l.), und Alex Capus,
ein Meister der Schilderung
Über Geschichten am Wegesrand und Schaffensprozesse –
wie mit Elementen der Wirklichkeit literarische Fiktion
ersteht: Alex Capus und Alois Hotschnig bei TRANSFLAIR. VON KLAUS ZEYRINGER
Beim Festival „Literatur und Wein“ fand
TRANSFLAIR an einem sonnigen Spätvormittag statt, aufgeweckt die Gäste und munter das Publikum. Auf dem Podium Alex
Capus, ein Meister der Schilderung, und Alois
Hotschnig, ein Sprachkünstler mit außergewöhnlicher Tiefenschärfe. Ihre Literatur nimmt
Elemente von Realitäten und schafft daraus –
auf ganz unterschiedliche Weise – eine neue
Art von Wirklichkeit.
Im Banne des Erzählten kann man der Existenz enthoben werden, um anderen Leben zu
folgen. Mit der Verve der Darstellung von Capus
vermag man sich die schwierige Liebe eines
Léon und einer Louise zwischen 1918 und 1940
und danach auszumalen; mit Hotschnigs differenzierten Momentaufnahmen kann man eine
spezifische Situation nachvollziehen. In beiden
Fällen ist es ein Spiel mit der Wahrheit und
mit der Konstruktion der Realitäten.
Alois Hotschnig, 2010 mit dem erstmalig
vergebenen Jonke-Preis ausgezeichnet und
zuvor mit dem Fried-Preis, schafft eine äußerst
16
präzise Literatur. In seinem Roman „Leonardos Hände“ (1992) lautet der erste Satz: „Wenn
einer stirbt, heißt das hier, der kauft nicht mehr
ein.“ Ein Rettungsfahrer hat einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein Ehepaar gestorben ist. Deren Tochter liegt im Koma, der Rettungsfahrer sucht sie, besucht sie, bis sie tatsächlich aus dem Koma erwacht – und als, in der
Mitte des Buchs, die beiden miteinander zu
leben beginnen, lautet der erste ÜberlebensSatz „Wir kaufen ein“. Im Jahr 2000 erschien
„Ludwigs Zimmer“, ein Roman, in dem es um
ein Haus und um Pfade der Erinnerung geht,
um ein KZ-Außenlager am Loiblpass. Als Großmeister der Reduktion erwies sich Hotschnig
mit „Die Kinder beruhigte das nicht“ und
zuletzt mit den sechs Prosastücken des Bandes
„Im Sitzen läuft es sich besser davon“. Hier findet sich eine bemerkenswerte Weiterführung
von Hotschnigs Erzählhaltung, die nun einen
feinen grotesken Humor bietet. In Dialogsequenzen lässt er Stimmen aufeinander treffen,
nebeneinander reden.
An diesem Spätvormittag im Literaturhaus liest Alois Hotschnig „Die kleineren Reisen“ ebenso pointiert und fein, wie er seine Prosa baut. Alex Capus erzählt meist historische
Momente und eine geschichtliche Umwelt. In
seinen Prosabänden schildert er oft recht merkwürdige und bemerkenswerte Figuren, viele
aus der Schweizer Geschichte. Etwa in „Zehn
Porträts“ einen schwäbischen Herrn Nestlé,
der am Genfersee in seiner kleinen Apotheke
Milchpulver erfunden hat. Oder in „Dreizehn
wahre Geschichten“ Louis Chevrolet aus dem
Jura, der in den USA als Mechaniker in der
eigenen Fabrik endete. Um Deutsch-Ostafrika geht es in „Eine Frage der Zeit“ (2007): Kaiser Wilhelm II. gab 1913 den Auftrag für ein
großes Schiff, das zerlegt an den Tanganikasee transportiert und dort wieder zusammengebaut wurde; der Roman schildert die drei
Werftarbeiter, die jene 5000 Kisten begleitet
haben und dafür sorgen mussten, dass daraus
wieder ein Dampfer wird. 1914 geraten sie in
den Krieg, als auch die Engländer ein Schiff
auf dem Landweg zum Tanganikasee bringen.
Mit seiner tiefen, warmen Stimme liest Alex
Capus aus seinem neuen Roman „Léon und
Louise“. Das erste Kapitel ist in der Jetztzeit
angesiedelt: Der Großvater ist gestorben, die
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTOS: WOLFGANG KÜHN/ULNÖ
Pfade des Erzählens
14-27 buchwelt
07.09.2011
10:12 Uhr
Seite 17
B U C H W E LT
Totenmesse findet in Notre Dame statt – und
eine kleine Dame, die nicht zur Familie gehört,
trippelt herein, beugt sich über den Sarg, küsst
den Leichnam und lässt eine Fahrradklingel
erschallen. Die beiden, Léon und Louise, hatten sich unweit der Front 1918 verliebt, sich
danach gegenseitig für tot gehalten und erst
zehn Jahre später zufällig wieder gesehen. Einen
Geschichtenbogen über die Zeiten schafft Capus
mit pointierten Episoden in Milieus, die in
einigen Strichen plastisch und nachvollziehbar erstehen.
„Hab viel in Archiven recherchiert“ (Capus)
Beide, Capus und Hotschnig, recherchieren
für ihre Werke, der eine in der Art des Historikers, der andere eher als sozialer Beobachter.
Er habe viel in Archiven gearbeitet, sagt Capus,
in der Schweiz sei ja die Quellenlage besonders
gut, da sie seit langem von keinem Krieg beeinträchtigt worden sei. Alois Hotschnig erläutert, dass seine Vorbereitungen jeweils anders
verlaufen, und wenn er es von vornherein wüsste, wäre der nächste Text leichter zu schreiben.
Nach der Arbeit an einem Buch vergesse er
diese Art der geschaffenen Wirklichkeit und
müsse wieder eine neue erfinden, etwa durch
die Figuren, die sich melden. Sein Theaterstück „Absolution“ habe für ihn in der S-Bahn
in Berlin begonnen, wo ein Mann mit einer
Frau gestritten und den Waggon mit dem Satz
verlassen hat: „Sag ihm, für ihn bin ich jetzt
tot.“ Er habe gerade an einem Roman geschrieben und dies unterbrochen, um ein Drama zu
schaffen, weil er sich gedacht habe: Wer sagt
jemandem so einen Satz, der ja eine seltsame
Inversion ist; üblicherweise heißt es „du bist
gestorben für mich“. Was für ein Leben kann
jemand geführt haben, dass es zu so einem Kulminationspunkt kommt? Das ist für Hotschnig ein Anlass, eine Vergangenheit von fiktiven Figuren zu erfinden, für die so ein Satz gilt
– der dann in seinem Text meist gar nicht
vorkomme.
Alex Capus seinerseits geht oft von der Vergangenheit faktischer Personen aus. Er sei ja
viel unterwegs, da liegen die Geschichten am
Wegesrand. Er stoße auf Figuren, von denen
er in der Sekunde wisse, dass er von ihnen
erzählen wolle. Und dann müsse er Genaueres von ihren Umständen und ihrem Umfeld
wissen. Wie haben sie Kaffee gebraut, gab es
1928 schon Filterkaffee, gab es da Lockenwickler, Staubsauger, wie schepperte 1918
ein Fahrrad (wie es im Roman „Léon und Louise“ eine wichtige Rolle spielt)? Über diese
Äußerlichkeiten erschließe sich ihm die Figur
auch. Die Geschichte von Léon und Louise habe
er aus seiner Familie übernommen; sein Großvater sei ebenso Polizeichemiker am Quai des
Orfèvres in Paris gewesen wie dieser Léon im
Roman. Die Wohnung, die er beschreibe, sagt
Capus, sei die seiner frühen Kindheit, gleich
gegenüber der Sorbonne. Die genauen biografischen Hintergründe schildert er dem Publikum im Literaturhaus, es ist eine Geschichte
faszinierender Zufälle, wie sich seine Eltern
1960 in Paris kennen gelernt haben.
Beim Schreiben brauche er bald ein dramaturgisches Gerüst; bei „Léon und Louise“
habe er gleich gefühlt, dass die TotenmessenSzene zu Beginn des Romans stehen müsse:
um eine billige Spannung herauszunehmen
und von vornherein klar zu stellen, wo die
Geschichte endet – der Held stirbt, aber hoch
betagt –, und dann in Ruhe vom Anfang her
zu erzählen. Alois Hotschnig bemerkt dazu,
dass ja in Capus’ Roman bestimmte Koordinaten unaufdringlich auf den ersten Seiten vorgegeben seien und sich zwischen diesen Koordinaten das ganze Instrumentarium der
Geschichte ergebe. „Ich habe eine Art Grafik
der Geschichte vor dem Auge“, sagt Capus,
„der dramaturgische Bogen hat seine Farben
und seine Geräusche wie eine Partitur.“
Darauf Hotschnig: „Ich hingegen bin Versenkungsspezialist.“ Was bei Capus die Farben seien, das seien bei ihm Entfernungen, Perspektiven, Landkarten. Er müsse zunächst wissen, ob er auf ein Meer oder auf einen See hinausschaue: „Ist das, was es zu beschreiben gilt,
eine begrenzte Angelegenheit oder etwas
Romanhaftes, weit über den momentan sichtbaren Horizont hinaus; spielen da noch Inseln
mit hinein, als Sehnsuchtsmoment oder als
Projektionsfläche? Und außerdem brauche ich,
um zu schreiben beginnen zu können, eine
Position, wo ich gerade selbst bin, meist eine
bildhafte Verortung. Im Text kann sie auch
wieder verschwinden, weil der Text nicht das
nötig hat, was ich nötig hatte, um zu dem Text
überhaupt hinzukommen.“ Er beginne mit
einem Satz, den er verfolge? „Nein, der verfolgt mich. Er blinkt wie eine Ampel. Und ich
suche die Geschichte, die zu dem Satz geführt
hat.“
ZUM THEMA
Alex Capus |Léon und Louise| Hanser 2011, 320 S., EurD 19,90/
EurA 20,50/sFr 29,90
Alois Hotschnig |Im Sitzen läuft es sich besser davon| Kiepenheuer & Witsch 2009, 144 S., EurD 16,95/EurA 17,50/sFr 24,90
Die grenzüberschreitende Lese-Gesprächsserie „Transflair“
findet seit März 2004 im Unabhängigen Literaturhaus Niederösterreich (www.ulnoe.at) statt. In Gesprächen österreichischer
AutorInnen mit KollegInnen von anderswo werden mithilfe der
Literatur Bekanntes und Fernes miteinander verbunden.
14-27 buchwelt
06.09.2011
16:41 Uhr
Seite 18
Der Tod ist
allgegenwärtig
Nachdem Maja Haderlap den Bachmann-Preis bekommen
hatte, war der mediale Wirbel groß. Deshalb ging sie erst
einmal auf Urlaub … danach stellte sie sich dann doch einigen Fragen von DITTA RUDLE zu ihrem ersten Roman.
Leicht war der Jury die Wahl nicht gefallen. Erst nach dem vierten Wahlgang stand
fest: Maja Haderlap hat den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Natürlich hat Maja
Haderlap gehofft und sich gewünscht, „halbwegs gut abzuschneiden. Dass es dann so
kommen wird, konnte keiner voraussagen
oder ahnen.“ Wohl kein Literatur-Preis wird
medial so heftig und intensiv begleitet wie
das mehrtägige Klagenfurter Event. Auch
wenn der Erfolg bei einigen PreisträgerInnen in der 35-jährigen Geschichte der Veranstaltung nicht gehalten hat, was die Ehrung
versprach, so stehen sie doch einige Zeit im
Blitzlichtgewitter. Das musste auch Maja
Haderlap, bisher als Lyrikerin in einem eher
stillen Winkel zu Hause, hautnah erleben:
„Mein schriftstellerisches Leben ist auf den
Kopf gestellt worden. Ich habe als sloweni-
18
sche Lyrikerin angefangen und Gedichte
auf Slowenisch, später auch auf Deutsch veröffentlicht, und habe mich an die Lyriknische gewöhnt, daran, nur marginal und von
einem kleinen Kreis von Literaturinteressierten wahrgenommen zu werden. Der Bachmann-Preis hat mich aus dem Literaturnebenraum ins grelle Licht katapultiert.“
Erste Reaktion: Flucht in einen langen
Urlaub. Dabei ist sie sich klar geworden, wie
es weiter gehen wird und ob „Engel des Vergessens“, ihr erster Roman, ein einmaliges
Ereignis bleiben soll. Aber sie hat, wie man
gemeinhin sagt, auch wenn die Metapher
hier nicht wirklich korrekt ist, Blut geleckt:
„Das Erzählen möchte ich nicht aufgeben,
obwohl ich im Moment am liebsten an Gedichten weiterarbeiten würde. Zur Zeit stehen jedoch andere Aufgaben im Vordergrund,
Im Roman erzählt ein etwa achtjähriges
Mädchen, das im Lauf der immer wieder
durch Erinnerungen der Personen, vor allem
der Großmutter (in deren „schwarzer Küche“
die Erzählung beginnt), unterbrochenen Geschichte allmählich älter wird, den Heimatort verlässt und in Wien ein Studium beginnt.
Dieses Mädchen, das schon sehr früh begreifen muss, dass sich der Tod, körperliches Leid
und Demütigungen auch in ihr „eingenistet“ haben, lebt die Biografie der Autorin
von den frühen 60er-Jahren bis 1991, als
der Krieg in Jugoslawien beginnt, Slowenien sich für unabhängig erklärt. Haderlap
selbst war zu dieser Zeit in Ljlubljana und
erlebte am Hauptplatz das erste Hissen der
neuen slowenischen Nationalflagge. Aus
Angst vor der jugoslawischen Volksarmee
reiste sie noch am selben Tag nach Österreich
zurück. Der von den Kriegserlebnissen schwer
traumatisierte Vater „verliert über den drohenden Krieg in Slowenien beinahe den Verstand“. Das Ende des Buchs ist dem qualvollen Tod des Vaters gewidmet. Immer wieder hat sich der Mann, der als Zwölfjähriger
von österreichischen Polizisten gefoltert worden ist und den Vater dennoch nicht verraten, sich aber den Partisanen angeschlossen
hat, selbst töten wollen. Dann hat ihn die
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: MAX AMANN
Lesungen und Interviews, der Literaturbetrieb fordert seinen Tribut.“
In „Engel des Vergessens“ richtet die
Kärntner Slowenin den Scheinwerfer auf die
Zeit des Widerstands und Kampfs der Kärntner Slowenen gegen die deutsche Wehrmacht.
Die Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl,
die Maja Haderlap vorgeschlagen hat, meinte in der Laudatio: „Sie
hat den Kärntner Parti„Mein schriftstellerisches
sanen eine Stimme gegeLeben ist auf den Kopf
ben“ und lobte, dass die
gestellt worden. Der BachAutorin „bedächtig, mit
großer Genauigkeit und
mann-Preis hat mich aus dem
Literaturnebenraum ins grelle ohne Hass“ beschreibt.
Doch „Engel des VergesLicht katapultiert.“
sens“ ist keine Kriegsgeschichte und keine historische Aufarbeitung des Kampfs der Kärntner Slowenen um Freiheit und Gleichberechtigung, sondern viel mehr. Haderlap
stützt sich auf die eigene Biografie und die
ihrer Familie, siedelt den Roman in ihrem
Geburtsort Lepena an, bezieht die Landschaft
und die Natur mit ein und geht weit über
die verbürgten Tatsachen hinaus. Autobiografisch, historisch und fiktional zugleich,
könnte auf die Banderole geschrieben werden, wenn es denn notwendig ist zu kategorisieren.
14-27 buchwelt
06.09.2011
16:42 Uhr
Seite 19
B U C H W E LT
Großmutter mit rauchenden Weidenruten
„geheilt“. Doch die Tochter lebte in ständiger Angst, nicht nur vor den schwarzen Stunden des Vaters, sondern auch vor seinen Wutausbrüchen. Alles Folgen des Kriegs, wofür
er als Entschädigung im sogenannten Gedenkjahr 2005 einen Betrag von 5000 Schilling erhielt. Damit will er sich das Gebiss
von einem slowenischen Zahnarzt reparieren
lassen. Seine Tochter fährt mit ihm und wieder tauchen die Bilder auf, die sich vor 50
Jahren eingeprägt haben. Manchmal sind sie
auch der Leserin unerträglich. Darf man das
Buch auch als Epitaph für ihren Vater lesen?
„In gewisser Weise“ darf das Buch auch als
Epitaph auf Maja Haderlaps Vater gelesen
werden.
Sie habe „viel recherchiert und auch viel
imaginiert“, sagt die Autorin und sieht ihr
Buch keineswegs als pure Autobiografie: „Das
Buch geht, hoffe ich, weit über das Autobiografische hinaus. Natürlich sind die Figuren real, aber ich wollte an ihrem Beispiel
eine Geschichte erzählen, die auf etwas Anderes hinweist, die sie in einen größeren Zusammenhang integriert. Das Ich hat im Text auch
die Funktion eines Mediums, es erzählt die
Geschichten der anderen und hat doch nachvollziehbar mit mir zu tun. Denn nur über
dieses Ich konnte ich die Chronologie der
Ereignisse darstellen und das Dokumentarische, Historische, das Teil des Texts ist, mit
einbeziehen. Die Geschichte der Kärntner
Slowenen ist oft Teil der Familiengeschichte und wird auch so weitergegeben. Aber
Erinnerung ist harte Arbeit und verlangt von
jedem, der ihr nachgeht, Geduld und Kraft.“
Diese Geschichte der Kärntner Slowenen ist so grausam und so blutrünstig, so von
Verrat und Gemeinheit gespickt, dass es
schwierig ist, sie als literarisches Werk, als
Roman ohne Kitsch und Pathos, ohne Übertreibung und Parteinahme zu erzählen. Wenn
das erzählende Kind allmählich erwachsen
wird und begreift, was die Großmutter erzählt
und der Vater bei sich behält, wechselt Haderlap den Stil und thematisiert auch immer
wieder, wie heikel es ist, für das Geschehen
die richtigen Wörter zu finden. Dann flüchtet sie sich in die Natur. An den Beschreibungen des Waldes, der nicht nur ein Ort
ist, wo man jagt, sondern auch einer, wo
viele gejagt worden sind, der Wiesen und
Teiche und auch des Lebens im Dorf, erkennt
man die Lyrikerin. Man kann den Rauch
der glosenden Weidenruten riechen und die
Apfelmarmelade, „Malada“, schmecken –
bittersüß.
„War das Schreiben auch therapeutische
Arbeit?“, werfe ich vorsichtig ein. Die Antwort kommt prompt und präzise: „Ich glaube, dass jede Autorin, jeder Autor, nachdem
er oder sie einen Text abgeschlossen hat, befreit
ist. Bei mir stellte sich auch ein Gefühl von
Genugtuung ein, aus der Empfindung heraus, einer Pflicht nachgekommen zu sein.
Jetzt bin ich frei für Anderes und Neues.“
Wenige Tage nach Erscheinen des Romans
ist der jahrzehntelang schwelende „Kärntner Ortstafelstreit“ durch ein Verfassungsgesetz beigelegt worden. Wie sieht Maja
Haderlap die Zukunft für die Kärntner Slowenen? „Ich mache mir Sorgen um den
Bestand der slowenischen Sprache in Kärnten. Da werden auch die zweisprachigen Ortstafeln wenig daran ändern. Denn eine Sprache kann nur überleben, sich entwickeln, wenn
Sie Teil des öffentlichen und medialen Lebens
ist. In Kärnten konnte man innerhalb der
eigenen vier Wände Slowenisch reden, wann
immer man wollte, solange nicht ein Ehepartner oder andere Verwandte etwas dagegen hatten. Der politische Konflikt entzündete sich immer an den Fragen der öffentlichen und gesellschaftlichen Funktion des Slowenischen. Denn das Slowenische war kein
selbstverständlicher Bestandteil der öffentlichen Kommunikation im zweisprachigen
Gebiet und ist es auch jetzt nicht. Dazu
kommt, dass die Slowenen vorwiegend im
ländlichen Raum leben und im verstärkten
Maße von der Abwanderung sowie von der
strukturellen, wirtschaftlichen Verarmung
der Randregionen betroffen sind. Sie werden sich als Abgewanderte bald nicht mehr
als Gruppe wahrnehmen können, sondern nur
noch als Vereinzelte, die ihre Muttersprache
in Gegenden mitgenommen haben, wo sie
museal wirkt, weil sie niemand mehr benutzt.“
ZUR AUTORIN
Maja Haderlap, geb. 1961 in Bad Eisenkappel, lebt in Klagenfurt. Sie studierte Theaterwissenschaften und Deutsche Philologie,
war Redakteurin und Herausgeberin der
Kärntner slowenischen Literaturzeitschrift
mladje, hält Lehraufträge an der AlpenAdria-Universität Klagenfurt und war lange
Jahre Chefdramaturgin am Stadttheater
Klagenfurt. Sie schrieb Lyrik, Prosa, Essays
und Übersetzungen aus dem Slowenischen
ins Deutsche. Diverse Auszeichnungen, u. a. HubertBurda-Preis für Lyrik 2004.
|Engel des Vergessens| Wallstein 2011,
288 S., EurD 18,90/EurA 19,50/sFr 27,50
|Gedichte – Pesmi – Poems| Drava 1998,
128 S., EurD/A 34/sFr 58,90
14-27 buchwelt
06.09.2011
16:43 Uhr
Seite 20
B U C H W E LT | B U C H M E S S E S P E Z I A L
Gekühlte Gefühle
Unbeständiges Klima unterhalb des Atlantik-Polarkreises und eine wie mit einem
Katapult beschleunigte Umgestaltung zur
digitalen Zivilisation haben in Island spezielle Charaktertypen geprägt. Solche Zusammenhänge darzustellen, haben sich Autorinnen und Autoren der Gegenwart in
vielen Varianten und Genres der Belletristik zu eigen gemacht. Bei den genannten
geografischen und gesellschaftlichen Bedingungen zeigt sich als dominante Thematik, sich mit der Sozialpsychologie der Menschen zu beschäftigen. Einer prinzipiellen
Konstante der Mentalität in Island ist Jón
Klaman Stefánsson auf der Spur, wenn er
vom wortkargen Jens und seinem anonymen jugendlichen Begleiter erzählt. Beide befinden sich, historisch noch abseits der
dynamischen Transformation, in archaischer Naturlandschaft auf einem riskanten Marsch durch Schnee, Eis und Sturm,
um im Süden der Insel Post in entlegenen
Dörfern zuzustellen. Unter dem Druck der
extremen Route ergeben sich ungewollt
persönliche Gespräche zwischen dem alten
Griesgram und dem welt-neugierigen Jungen, die allerdings eine Grenze haben: „Besorgte Frage, beschwichtigende Antwort,
isländischer Umgang miteinander in nuce,
alle sind wir unfähig, anderen unsere Gefühle offenzulegen – komm meinem Herzen
bloß nicht zu nah!“ Wie Zuneigung trotz
existenzieller Bedrängnis verkapselt bleiben kann, erscheint im „Schmerz der Engel“
wie eine fatal-überwältigende Tragödie.
Obwohl die Menschen offenbar nur gekühlte Gefühle zulassen, gibt es aber keinen
Grund zum Pessimismus. Gerade in winterlicher Kälte bricht „Der gute Liebhaber“
aus seinem seelischen Kokon, indem Karl,
ein pekuniär saturierter Manager, seine Jugendliebe Una nach 17 Jahren unentschlossenen Wartens in einem spontanen Coup
aus ihrem Ehegefängnis in Reykjavik befreit
und nach New York entführt. Allerdings
20
Thórarinn Eldjárn
Hallgrímur Helgason
mit dem Tribut, dass er von einer helfenden Psychiaterin zur schonungslosen Selbstanalyse genötigt wird. Eine Glücksgeschichte mit dezentem Humor, die sich
Steinunn Sigurdadóttir ausgedacht hat. Sarkastisch, ja zynisch wird der Humor, wenn
„Eine Frau bei 1000°“ wegen hoffnungsloser Krebsdiagnose verbrannt werden will
und zuvor noch in einem intensiven Monolog ihr turbulentes Leben bilanziert.
Ein ambitionierter Versuch von Hallgrímur Helgason, das Schweigen als „eine
der tragenden Säulen isländischer Kultur“
durch eine kritische Revue europäischer
Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts zu
ersetzen. Denn Schweigen festigt gesellschaftliche Tabus wie Alkohol- und Drogensucht, die wohl erst durch Krankheitserfahrungen bewusst und per Literatur öffentlich werden. Insofern ist der Briefroman „Vorübergehend nicht erreichbar“ zugleich eine berührende Liebesgeschichte
über ein Paar auf Entzug und ein ehrliches
Therapeutikum, mit dem sich Einar Már
Gudmundsson selbst von hochprozentiger Abhängigkeit herausgelöst hat. Was als
episches Großformat eine gewisse Aufklärungswucht hat, wird in Erzählungen pointierter. Etwa wenn Thórarinn Eldjárn in
seinen ironischen „Geschichten aus Island“
den Deckmantel der Selbstzufriedenheit
lüftet, indem er „Die Zauberformel“, nämlich das Pro-Kopf-Prinzip als Maßstab für
nationale Rekorde, als Hybris oder die kleinen Schuldgefühle eines Familienvaters
beim Fahrradklau als Heuchelei der „glücklichsten Nation unter der Sonne“ entlarvt.
Drastischer noch sind „freche junge Autoren“, wie Hallgrímur Hellgason in seinem
Vorwort zur Anthologie „Junge Literatur
aus Island“ meint. Da ist keine Agrar-Idylle mehr, sondern Regionen wandeln sich
durch Binnenmigration zum einsamen
„Niemandstal“, eine nostalgische Erinnerung von Gudmundur Óskarsson. Und
Audur Jónsdóttir präsentiert in ihrer Erzählung „Die dicke Mutter“ eine Skala destruktiver Emotionen (Ohmacht, Wut, Hass
u. a.), um sich über den negativen Einfluss des Fastfood zum Ausgleich von Frustrationen aufzuregen, weil ihre Protagonistin deshalb „ihr dreifaches Idealgewicht“
und die Zerstörung der Familie erreichte.
Hinter der Fassade intakter Lebens-
wirklichkeit lauern also unheimliche Gefahren, die als Thriller verpackt zum Albtraum
werden. Unbemerkt zunächst, wie für Eva.
Sie ist eine Künstlerin, die in einem Luxusappartement, das sie während eines Aufenthalts in Reykjavik kostenlos nutzen darf,
mit einem perfiden Manipulationssystem
von „Frauen“ konfrontiert. Durch eine raffinierte Apparatur gezwungen, sich ihrem
vergangenen (Schuldgefühle am Kindbetttod ihrer unehelichen Tochter) und
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTOS: KRISTINN INGVARSSON
Aspekte isländischer Lebenswirklichkeit in zeitgenössischer Erzählliteratur, eingefangen von HANSDIETER GRÜNEFELD. Der zweite Teil unseres Beitrags über
das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse.
14-27 buchwelt
06.09.2011
16:45 Uhr
Seite 21
Steinunn
Sigurdardóttir
Einar Már Gudmundsson
aktuellen Leben (zaudernde Regisseurin)
zu stellen, erlebt sie die Möglichkeiten grausamer Macht der neuen ökonomischen Elite, die Steinar Bragi in surrealistischen Szenen beleuchtet. Politisch deutlicher ist Óttar
Martin Nordfjörd, denn sein Sujet ist militanter Rassismus. Wobei „Das Sonnenkreuz“, ein Symbol kultureller Identität
aus der Wikingerzeit, zur fixen Idee eines
Fanatikers wird, Island von Ausländern zu
„reinigen“. Während der aufregenden Jagd
nach dem Täter brutaler Blutrituale werden sowohl fundiertes Wissen über germanische Mythologie als auch brisanter
Inzest zum überraschenden Plot stilistisch
virtuos verklammert. Verborgene sexuelle Delinquenzen, ein ebenso bedrückendes
wie verdrängtes Sujet, führen erwartungsgemäß an gesellschaftliche „Abgründe“,
das ahnt auch der ehemüde Kommissar
Sigurdur Óli, als er eine Erpressung aus
einem Swingerclub untersucht. Doch darüber hinaus findet er bei seinen Recherchen noch ganz andere Indizien für einen
obskuren Mord, nämlich Motive in Zirkeln neureicher Finanzspekulanten. Eine
Wendung, wodurch Arnaldur Indridason
in seinem exquisiten Krimi die Nähe von
spießiger Moral und ökonomischer Potenz
kritisiert.
Fazit: Um die Diskursfähigkeit gegen das
Schweigen über die eigenen Defizite zu
mobilisieren und um das Lesepublikum aus
emotionaler Reserve zu holen, haben die
Autoren in Island sich internationalen
Trends angeschlossen, indem sie die Romanform und auch populäre Mischgenres für
differenzierte Darstellungen der Lebenswirklichkeit kultivieren. Dabei reflektieren sie in ihren Büchern oft die Tradition
der Sagas und andere literarische Referenzen, füllen somit ein Vakuum zur europäischen Moderne. Nicht gekühlte Gefühle
sollen länger das Verhalten bestimmen, sondern der kühl engagierte Blick darauf, wie
man den Umbruch in Island meistern kann.
DIE BÜCHER
Steinar Bragi |Frauen. Roman| Übers. v. Kristof Magnusson.
Kunstmann 2011, 255 S., EurD 19,90/EurA 20,40/sFr 28,90
Hallgrímur Helgason |Eine Frau bei 1000°| Übers. v. Karl-Ludwig Wetzig. Klett-Cotta 2011, 390 S., EurD 19,95/EurA 20,60/sFr 27,90
Thórarinn Eldjárn |Die glücklichste Nation unter der Sonne.
Geschichten aus Island| Übers. v. Coletta Bürling. Conte 2011,
160 S., EurD 14,90/EurA 15,40
Arnaldur Indridason |Abgründe. Island Krimi| Übers. v. Coletta
Bürling. Lübbe 2011, 429 S., EurD 19,99/EurA 20,60/sFr 30,50
Ursula Giger, Jürg Glauser (Hg.) |Niemandstal. Junge Literatur aus Island| Div. Übersetzer. dtv 2011, 288 S., EurD 8,90/
EurA 9,20/sFr 12,90
Einar Már Gudmundsson |Vorübergehend nicht erreichbar.
Eine Liebesgeschichte| Übers. v. Angela Schamberger u. Wolfgang Butt. Hanser 2011, 336 S., EurD 19,90/EurA 20,50/sFr 29,90
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
Óttar Martin Nordfjörd |Das Sonnenkreuz| Übers. v. Richard
Kölbl. Aufbau TB 2011, 442 S., EurD 9,99/EurA 10,30/sFr 15,25
Steinunn Sigurdardóttir |Der gute Liebhaber| Übers. v. Coletta
Bürling. Rowohlt 2011, 208 S., EurD 17,95/EurA 18,50/sFr 25,90
Jón Kalman Stefánsson |Der Schmerz der Engel| Übers. v.
Karl-Ludwig Wetzig. Piper 2011, 343 S., EurD 19,99/EurA 20,60/
sFr 30,50
14-27 buchwelt
07.09.2011
15:52 Uhr
Seite 22
B U C H W E LT | B U C H M E S S E S P E Z I A L
Lebensnerv des Volkes
In der Spätantike und im Mittelalter lebten die
Germanen, als Begriff ein Kollektivum für kulturell und ethnisch durchaus heterogene
Nationalitäten, mobil (Völkerwanderung)
oder verstreut in verschiedenen europäischen Regionen. Kommunikativen Kontakt
hatten sie aber offenbar dennoch durch die
Verwandtschaft der Sprachen und die
gemeinsame Mythologie. Bemerkenswert
ist vor allem die altnordische Schöpfungsgeschichte, weil da, ein scheinbares Paradox, nicht
nur Ähnlichkeiten zum antiken griechischen Polytheismus, sondern auch
Einflüsse aus christlichen Lehren (etwa bei der göttlichen Naturgestaltung)
auffallen: Aus vagem Etwas, altnordisch: Ginnungagap, formte sich spontan Leben: der Ur-Riese Ymir saugte seinen Lebenssaft aus der Ur-Kuh
Audhumla, die wiederum die erste Kreatur Bur aus salzigen Steinen herausleckte. Deren Nachkommen, die Götter-Brüder Odin, Wili und We erschlugen Ymir und nutzten seinen gigantischen toten Körper als Baumaterial
für die Welt: So entstanden gemäß der anonymen Dichtung „Völuspá oder
Die Weissagung der Seherin“ in locker assoziierten Szenen Erde, Meer und
Himmel. Sowohl vertikal als auch horizontal dreigeteilt, findet die germanische Kosmogonie ihre Ordnung im Weltenbaum Yggdrasill, wo die Götter in
Asgard, die Menschen zentral in Midgard und feindliche Dämonen, Riesen
und Trolle außen, in Utgard wohnen. (Diese unheimlichen Parallelwelten
kann man als Touristenattraktion im Icelandic Wonders Museum Stokksyri
besichtigen.) Die Menschen nun sind bei dieser Konstellation in „ein
Schicksal eingespurt“, in die Machtkämpfe der Göttersippen um Gut und
Böse verwickelt und und mit eigenen Konflikten beschäftigt. Diese „Daseinserfahrungen unzähliger Generationen, die sich zu Bilderfolgen verdichtet
haben“ (Arthur Häny) sind von keiner spirituellen Religion, sondern eigentlich von einem materialistisch bedingten Fatalismus bestimmt. Und zwar
transnational: Denn viele Motive der „Götter- und Heldenlieder der Edda“,
eine Sammlung poetischer Epen, und aus der „Prosa Edda“ des isländischen Gelehrten und Dichters Snorri Sturluson (1178–1241 / beide Texte sind
im Codex Regis aus dem Jahr 1325 überliefert), finden sich auch im „Nibelungen-Mythos“ und anderen germanischen Texten, die außerhalb Skandinaviens entstanden sind. Vier große Sagas übersetzten Rudolf Simek und
Reinhold Hennig. Sie bieten einen guten Einstieg in die isländische Sagenwelt. Sie wimmeln von Geistern und ungewöhnlichen Gestalten, doch
erzählen sie auch auf eigene Art von der Geschichte Islands.
Eine Prosa-Übersetzung der Edda bietet die Reclam-Edition von Arnulf
Krause, Spezialist für Altnordische Literaturgeschichte in Bonn. Sein Stil ist
direkt an verständlicher Syntax orientiert, ändert aber nicht die Strophenformen, sodass Lesegewohnheiten der Gegenwart unterstützt werden.
Akribische Kommentare auf jeder Seite erklären das genuin isländische
Vokabular. Wesentlich sparsamer verwendet Arthur Häny, Altphilologe und
Autor in Zürich, im Anhang aufgelistete Anmerkungen zum Edda-Text der
Manesse-Ausgabe. Er nähert sich mit bewusster Berücksichtigung rhythmischer Strukturen einer respektablen Nachdichtung. Den gleichen Prinzipien folgt Arthur Häny bei der Übersetzung der großartigen Prosa-Edda von
Snorri Sturluson, eine Kompilation „altgermanischer Traditionen, die er
(Snorri) in einer christlichen Epoche dem drohenden Vergessen entreißen“
22
wollte. Dieses literarische Erbe gehört in Island
bis in die Gegenwart zum „Lebensnerv des
Volkes“, wie der Nobelpreisträger Halldór
Laxness meinte. Ebenso und vielleicht noch
intensiver ist die Kenntnis der Sagas verbreitet, also Geschichten der Inselclans, die vor
Gewalt- und Eifersuchtsdramen nur so
strotzen. Gerade wegen des Pathos, sich
im rauen Inselalltag zu behaupten, sind die
berühmten Helden aus der Saga-Zeit
(930–1030) wie Egil, Gudrun, Grettir, Hühnerthorir und Njàl
Identifikationsfiguren geblieben. Eine komplette Neuübersetzung der Originale ist bei S. Fischer erschienen. Im Buch „Der Mordbrand von Örnulfsdalur“ hat Tilman Spreckelsen die fünf oben erwähnten Sagas gewissermaßen als spannende Krimis oder Abenteuergeschichten in moderne Prosa komprimiert. Je eine Rahmenszene von Originalschauplätzen, von Kat
Menschik mit expressiven Illustrationen dekoriert, bereitet atmosphärisch
auf die folgende Saga vor.
Obwohl man bei der Lektüre mittelalterlicher Literatur aus Island mit einer
entfernten Epoche konfrontiert ist, hat man nicht das Gefühl, in einem fiktiven Mausoleum zu sein. Denn die Stoffe, die Charaktere und die Episoden
der Edda und der Sagas haben, liest man sie als poetisch sublimierte Träume oder Phantasie, einen überraschenden Aktualitätswert als Sozialdramen. Ihre Bedeutung für den „Lebensnerv des Volkes“ ist im Saga-Museum Reykjavik und dem Saga-Zentrum in Hvolsvöller (Süd-Island) präsent.
HANS-DIETER GRÜNEFELD
Bis heute
Identifikationsfiguren:
die Helden
aus der
Saga-Zeit
(Illus aus: Der
Mordbrand
von Ornölfsdalur)
DIE BÜCHER
Klaus Böldl, Andreas Vollmer, Julia Zernack (Hg.) |Isländersagas| 5 Bde. im Schuber. Diverse
Übersetzer. S. Fischer 2011, 2700 S., Subskriptionspreis bis Juni 2012: EurD 98/EurA 100,80/sFr 139
(Die Bände sind auch einzeln erhältlich.)
|Die Edda Götter- und Heldenlieder der Germanen| Übers. v. Arthur Häny. Manesse 2009,
592 S., EurD 22,90/EurA 23,60/sFr 35,90
Arnulf Krause (Hg.) |Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda| Übers. v. Arnulf Krause.
Reclam 2011, 455 S., EurD 24,95/EurA 25,70/sFr 35,50
Rudolf Simek, Reinhold Hennig (Hg.) |Sagas aus Island. Von Wikingern, Berserkern und Trollen|
Übers. v. Rudolf Simek u. Reinhold Hennig. Reclam 2011, 596 S., EurD 34,95/EurA 36/sFr 46,90
Tilman Spreckelsen |Der Mordbrand von Ornölfsdalur und andere Island Sagas| Ill. v. Kat
Menschik. Galiani 2011, 208 S., EurD 24,99/EurA 25,70/sFr 35,90
Snorri Sturluson |Prosa-Edda| Übers. v. Arthur Häny. Manesse 2011, 256 S., EurD 17,95/EurA 18,50/
sFr 27,90
Internetportale zu den Sagas: www.perlan.is (Saga-Museum), www.draugasetrid.is (Islandic
Wonders), www.sagenhaftes-island.de, www.literaturhaus.net
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: THE ÁRNI MAGNÚSSON INSTITUTE FOR ICELANDIC STUDIES; ILL: KAT MENSCHIK/AUS „DER MORDBRAND VON ORNÖLFSDALUR UND ANDERE ISLAND SAGAS“/GALIANI
Das literarische Erbe der Edda und der Sagas aus Island
14-27 buchwelt
06.09.2011
16:47 Uhr
Seite 23
Coco Chanel (5. v. l.)
inmitten einer Schar ihrer
bezaubernden Models
Mythos und Mysterium
Legenden, Mythen, Kollaboration: Das Leben von
FOTOS: WILLY RIZZO; PATRICK DEMARCHELIER FOR US HARPER’S BAZAAR
„Mademoiselle Chanel“ wird neu ausgeleuchtet. Was sie,
vielleicht, mit der Gestapo zu tun hatte. Und was die
Modewelt aus ihrem Erbe machte. VON ALEXANDER KLUY
Coco Chanel. Keine andere Modeschöpferin ist weltweit so bekannt wie die Französin. Über sie, deren Todestag sich heuer im
Jänner zum 40. Mal jährte, sind in den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche Bücher
geschrieben worden – so manches davon
präsentierte, wie auch zwei Kinofilme, nur
überschaubar Neues. Es hat den Anschein,
dass kein Editionshaus in Deutschland,
Österreich oder der Schweiz sich der Chance entschlagen will, sich mit dem Namen
des noch heute in der rue Cambon im ersten
Pariser Arrondissement, unweit der Place
Vendôme, ansässigen Modehauses zu
schmücken, denn kaum eines dieser Bücher
ist nicht auf Deutsch erschienen.
Daher war abzusehen, dass auch die jüngste, schön ausgestattete Biografie der Londoner Modejournalistin Justine Picardie
gleich nach Erscheinen der Originalausgabe auf Deutsch vorliegen würde. Doch das
Buch der Engländerin, einst für „Vogue“
wie für die seriöse Wochenzeitung „The
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
Als „Inbegriff der Eleganz“ sah die
amerikanische Vogue die Modelle der
Coco Chanel.
Observer“, heute als Modekolumnistin für
den „Sunday Telegraph“ tätig, ist eine wohltuende Ausnahme. Denn sprachlich so geschmeidig, scharfsinnig, einfühlsam und
erhellend ist selten über die Legendenbildnerin Gabrielle – genannt Coco – Chanel
geschrieben worden. Picardie reiste zu den
Lebensstationen der 1883 in kleinsten Verhältnissen geborenen Chasnel, so der Familienname auf ihrem Geburtsschein. Nach
Saumur, dem kleinen Flecken in der Provinz. Zum Nonnenkloster in der Auvergne, in der Gabrielle mit zwölf Jahren landete und nähen lernte. Zum Gut des ersten
wohlhabenden Geliebten, eine Stunde entfernt von Paris. Nach London und Schottland, wo Chanel in der Stadtresidenz und
auf dem noblen Landsitz des Duke of Westminster, genannt „Bendor“, des reichsten
Engländers seiner Zeit, viele Sommer verbrachte. Zum Pariser Hotel Ritz und zu
Chanels Villa La Pausa in Roquebrune an
der Côte d’Azur. Mit vielen hat sie gesprochen; vor allem Chanels Nichte, eine Psychoanalytikerin, ist Picardie eine wichtige
Hilfe gewesen, um hinter den zahlreichen,
von Chanel in Umlauf gebrachten, immer
wieder anders erzählten Legenden, Mythen
und Schleiern die Persönlichkeitsstruktur
Coco Chanels herauszuschälen: die einer
23
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B U C H W E LT
Für Coco Chanel beginnt die Modernisierung der Frau im und auf dem Kopf.
Karl Lagerfeld führt seit 1983 das Modehaus. Für Cocos Biografie im Steidl Verlag
steuerte er flotte Grafiken bei.
24
Zu flüchtig geht Picardie jedoch auf das
Kapitel „Chanel und die Kollaboration“
ein. Auch von Chanel in ihren eigenen Worten erhalten wir keine ausreichende
Erklärung. Damit hat
sich Hal W. Vaughan
„Sleeping with the Enemy“.
beschäftigt. Der Amerikaner war lange JahVaughan will nachweisen,
re im Auswärtigen
dass die Modeschöpferin
Dienst der USA tätig,
ein „dunkles“ Doppelleben
als Journalist sowie
als Nazi-Agentin führte.
nach eigenen Angaben an verdeckten
Operationen der CIA beteiligt, heute lebt
der 83-Jährige in Paris. Nach seinem letzten Buch über zwölf kaum bekannte USGeheimdienstmitarbeiter, die Anfang der
1940er-Jahre in Nordafrika der Invasion
der Alliierten in Südeuropa den Weg
gebahnt haben sollen, legt er nun ein Buch
über Chanel vor, das Skandal heischend daherkommt und wohl deshalb, gleichzeitig
in mehreren Ländern erschienen, ein PRBallyhoo erzeugte. Den Titel der englischen
Originalausgabe, „Sleeping with the
Enemy“, hat der Hoffmann und Campe
Verlag horribel sensationalis-tisch als „Der
schwarze Engel. Ein Leben als NaziAgentin“ eingedeutscht. Vaughan will
anhand archivalischer Recherchen den
ungeheuer ambitionierten, energisch auf Nachweis führen, dass die Modeschöpferin
Unabhängigkeit pochenden, jede poten- ein „dunkles“ Doppelleben führte und in
ziell Erfolg versprechende Möglichkeit den 1940er-Jahren im besetzten Paris aktiv
dynamisch beim Schopf packenden moder- für die Gestapo tätig gewesen sein soll.
nen, späterhin spitzzüngig-verbitterten, Recht einfallslos bettet er seine Thesen
von Arbeit besessenen Frau. Ihr eigener, auf ein in die stilistisch glanzlos erzählte BioKorsett und jegliche Beengungen verzich- grafie Chanels.
tender, flirrend androgyner, sachlicher, dabei
Kurios, ja geradezu Atem beraubend ist,
auf raffinierte dekorative Accessoires nie dass hier ein Biograf der Couturière am
verzichtender Bekleidungsstil wurde zum Werk ist, der sich rein gar nicht für Mode
Signum zweier Epochen, des Jazz-Age der interessiert und ganz offensichtlich auch
Zwischenkriegsjahre sowie, nach ihrem nichts davon versteht. Chanels Arbeit und
Comeback 1954 über den Umweg USA, ihre Kollektionen, die Modeströmungen
der 60er-Jahre. Der einzige Makel dieses und Rivalinnen kommen bestenfalls, wenn
Zeit- wie Modeströmungen kundig wie- überhaupt, unverstanden am Rande vor.
dergebenden, ihr Umfeld und ihre Freun- Viel näher ist Vaughan die schattige Welt
de präzis skizzierenden, stilistisch geschmei- der Spione. Selbst wenn es sich um solch
Die Fotos auf diesen Seiten sind aus dem Band „Chanel. Ein Name – Ein Stil“. Der französische Designer und Modehistoriker
Jérôme Gautier zeichnet darin die unverwechselbare Linie von Coco Chanel nach, die ihrer Zeit stets voraus war. Viele Designer
orientieren sich noch heute an ihrem zeitlosen Stil, dem „Kleinen Schwarzen“, den bordierten Tweedjäckchen und ausgestellten Röcken. Gautier stellt der zeitgenössischen Modefotografie das Fotomaterial aus den 1950er-Jahren gegenüber und verdeutlicht so den unmittelbaren Einfluss von Chanel auf die aktuelle Modeszene. Mit glanzvollen Aufnahmen von Karl Lagerfeld,
Richard Avedon, David LaChapelle u. a.
Jérôme Gautier |Chanel. Ein Name – Ein Stil| Prestel 2011, 304 S., EurD/A 69/sFr 99. Erscheint am 24. Oktober!
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: CONDÉ NAST ARCHIVE/CORBIS/EDWARD STEICHEN; ILL: AUS „COCO CHANEL. IHR LEBEN“/STEIDL/LSD (2)
digen Buchs sind die überflüssigen, da
mediokren Zeichnungen, die Karl Lagerfeld beisteuerte, der heute die kreativen
Geschicke des Hauses Chanel leitet.
14-27 buchwelt
06.09.2011
16:48 Uhr
Seite 25
Edition Nautilus
raschungsfreies inklusive schiefer suggestiver
Unterstellungen, etwa dass Dincklage zeitweilig
am Königsee nahe Berchtesgaden lebte, weil
bekanntlich auf dem Obersalzberg oberhalb Berchtesgadens Hitler residiert hatte. Zudem ignoriert
Vaughan, enthusiasmiert von deutschen Geheimdienstlisten, in denen Chanels Name aufgeführt
ist, Gegenargumente, die bei Picardie problemlos nachzulesen sind. Auch leicht greifbare Forschungsliteratur über Frankreich zwischen 1940
und 1950 hat Vaughan nicht abwägend zur Kenntnis genommen. Nimmt man so wie er eine Agentenpetitesse wie Dincklages „Operation Modellhut“, an dessen Erfolg augenscheinlich von Anfang an keiner der Beteiligten glaubte,
mit groteskem Vergrößerungsfaktor unter die Lupe,
dann starrt man auf einen einzelnen Baum, sieht aber den
Wald nicht mehr. Was wenig
an Chanels energischem Opportunismus ändert. Von
Klaus Harpprecht und dessen Buch über den französischen Filmstar Arletty könnte Vaughan lernen, wie eine
liebevoll kritische Monografie zu schreiben ist. Arletty,
und das zeigt die aufschlussreiche Darstellung
Vaughan besitzt erstaundes seit langem in Südlich wenig Empathie für
frankreich lebenden Publidie komplexe widersprüchCoco Chanel gilt bis heute
zisten deutlich, war viel
liche Mentalität seines bioals einflussreichste Designe- stärker und eindeutiger in
grafischen Objekts. Maderin des 20. Jahrhunderts –
moiselle Chanel bleibt ihm
die Zusammenarbeit mit
eine zeitlose Stilikone.
fremd, erst recht ihre erraden deutschen Besatzern
tische, impulsive, inkonseverstrickt als die dezidiert
quente Legenden-, Stimeigensinnige Chanel.
mungs- und Meinungsbildung ist für ihn undurchdringlich. Auch die anderen, wichtigeren Lieb- Wie pluralistisch und multidisziplinär, teils
haber Boy Capel und „Bendor“ sowie Paul Iribe schreiend bunt und auf schieren Effekt angelegt
geraten ihm blass. Dincklage, der angebliche - es mit der Mode nach Chanels Tod weitergeganMeisterspion, dagegen wird episch in Cinemas- gen ist, führen zwei abwechslungsreich und fulcope skizziert und seine mutmaßliche Bedeutung minant illustrierte Modebücher vor. Zugleich wird
innerhalb der deutschen „Abwehr“ überhöht. Wie- deutlich, dass das Bezugsfeld der Mode weiter
so aber kam ihm dann die Surêté so oft so rasch denn je ist und von Subkultur bis zu artistischer
auf die Schliche?
Untragbarkeit reicht. Dies und dass heute manVersucht sich Vaughan an atmosphärischen che Models bekannter sind als die Modeschöpfer,
Schilderungen, rutscht er nicht selten ab in Über- würde Coco Chanel spitz kommentieren.
DIE BÜCHER
Markus Brüderlin, Annelies Lütge (Hg.) |Art & Fashion. Zwischen Haut
und Kleid| Christof Kerber 2011, 136 S., EurD 38,90/EurA 40/sFr 52,50
Justine Picardie |Coco Chanel. Ihr Leben| Übers. v. Gertraude Krueger
u. Dörthe Kaiser. Steidl/LSD 2011, 428 S., EurD 38/EurA 39,10/sFr 54
Coco Chanel, Paul Morand |Die Kunst, Chanel zu sein. Coco Chanel
erzählt ihr Leben| Schirmer Graf 2009, 286 S., EurD 19,80/EurA 20,40/
sFr 30,50
Adelheid Rasche (Hg.) |Visions & Fashion. Bilder der Mode 1980-2010|
Christof Kerber 2011, 224 S., EurD 39,95/EurA 41,10/sFr 53,90
Klaus Harpprecht |Arletty und ihr deutscher Offizier. Eine Liebe in
Zeiten des Krieges| S. Fischer 2011, 448 S., EurD 24,95/EurA 25,70/
sFr 37,90
Hal W. Vaughan |Coco Chanel – Der schwarze Engel. Ein Leben als
Nazi-Agentin| Übers. v. Gerlinde Schirmer-Rauwolf u. a. Hoffmann
und Campe 2011, 416 S., EurD 22,99/EurA 23,60/sFr 36,90
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
Matthias Wittekindt
Schneeschwestern
Im Wald von
Fleurville wird die
sechzehnjährige
Geneviève tot
aufgefunden.
An Verdächtigen
herrscht kein
Mangel.
Der Leser ist gleichzeitig dem Mörder
auf der Spur und erlebt hautnah, was
geschieht, wenn das fein austarierte
Zusammenspiel zwischen Vernunft und
Trieb auseinanderbricht.
Gebunden mit SU, 256 Seiten, € [D] 14,90 | [A] 15,40
unbekannte und offenkundig erfolglose handelt
wie Hans Günther von Dincklage, um den herum das Buch eigentlich angelegt ist. Mittels angeblich von ihm erstmals ausgewerteter Dokumente erhebt Vaughan den Anspruch, dass der dreizehn Jahre jüngere deutsche Militär Dincklage,
von 1940 bis 1950 Chanels Geliebter, diese nicht
nur manipuliert habe. Sondern dass sie, antisemitisch, wie sie seit ihrer Jugend eingestellt gewesen sein soll – tatsächlich wollte sie die NS-„Arisierungen“ in Frankreich arglistig (aber erfolglos)
ausnutzen, um die französisch-jüdische Mehrheitsteilhaberfamilie Wertheimer aus der gemeinsamen Parfumfirma zu drängen –, sich nach der Okkupation Frankreichs auf eine
„diabolische“ Kollaboration
einließ. Ja dass sie gar
geheimdienstliche Arbeit
betrieben und eine eventuell Frieden bringende Korrespondenz mit ihrem langjährigen Freund Winston
Churchill geführt habe, mittels derer der deutsche Geheimdienst hinter Hitlers
Rücken einen Separatfrieden mit Großbritannien einfädeln wollte.
Gebunden mit SU, 352 Seiten, € [D] 18,00 | [A] 18,50
Suspense und Geheimnis
Patrick
Pécherot
Boulevard
der Irren
Im Juni 1940
in Paris einen
depressiven
Nervenarzt zu
überwachen,
ist für Nestor
Burma nicht
gerade ein Traumjob. Die Nazis stehen
kurz vor Paris, die Hauptstädter fliehen
aus der Stadt und der merkwürdige Selbstmord des Irrenarztes macht die Sache
nicht besser ...
»Die Atmosphäre! Sie ist es, die an Patrick
Pécherot so begeistert …«
Gérard Meudal, Le Monde des Livres
In jeder guten Buchhandlung
Mehr Infos: www.edition-nautilus.de
14-27 buchwelt
07.09.2011
9:20 Uhr
Seite 26
B U C H W E LT
Krisen,
Katastrophen,
Kontrollverlust
Das Leben des Heinrich
von Kleist, beendet vor
200 Jahren. Vier Biografien und anderes,
durchgesehen von
KONRAD HOLZER.
Die Informationen über sein Leben sind
nicht umfassend, für viele der Fragen, die
gestellt werden, gibt es keine Antworten. Wie
geht ein Biograf heutzutage – aus aktuellem
Anlass – damit um? Indem er das, was gesichert ist, für seine Überlegungen benützt –
und da ergibt sich äußerst Vielfältiges. Jeder
der Autoren holt sich aus den spärlichen Quellen Beweismaterial für seine Theorie, oder besser: für seine Anschauung dieses so ganz eigenartigen Lebens.
nicht wisse, was die Zukunft bringt. Er fragt,
wie ein ehemaliger Soldat zu einem der größten Erneuerer der deutschen Literatur wird,
„wo die generativen Kerne sind, aus denen sich
seine Kreativität entfaltet“, und weiß, dass er
mehr Fragen sammeln wird, als Antworten
darauf zu wissen. Er stellt die Frage nach der
Homosexualität, er forscht nach, ob Kleist
wirklich als Spion gearbeitet hat usw. Und
schiebt auch eine Betrachtung über die Unterschiedlichkeit deren Rezeption durch Literaturwissenschaftler und Leser ein: „Lesen hat
vor allem emotionelle Beweggründe. Literaturwissenschaftler halten in ihren Analysen
Distanz und bemerken nicht mehr, wie Texte sie berühren und welche Erzählmittel dafür
verantwortlich sind.“
UNGLÜCKLICH ORGANISIERT
UND FAST IMMER IN FIEBERHAFTEM ZUSTAND
So sieht Hans Joachim Kreutzer, Professor für Deutsche Philologie, dieses Leben. Kreutzer war Präsident der Heinrich-von-KleistGesellschaft, gründete das Kleist-Jahrbuch
und rief den Kleist-Preis wieder ins Leben.
Er sieht sich bei der Lebensbeschreibung Kleists
„kaum zu lösenden Problemen“ gegenüber.
Und reagiert darauf, indem er ganz knapp
unter dem Kapitel „Lebensphasen“ die biografischen Daten anführt. Mit 16 Eintritt in
die Armee, zwei Jahre stand er im Krieg, vier
Jahre tat er Garnisonsdienst. „Kleist wurde
ein Kriegsdichter par excellence. Doch über
das, was er im Kriege selber gesehen, erlebt
hat, lesen wir bei ihm nichts. Die Kriege in
seiner Dichtung sind von ihm erdachte.“ So
weit Kreutzer über das Ineinanderwirken von
Leben und Werk. Dann also Studium, Verlobung, Reisen, Kriegsgefangenschaft. Und
schon widmet er sich den „Schreibereien“, geht
da vorerst einzeln und recht genau auf die Dramen ein. Kreutzer ist sehr genau im Aufspüren
von Quellen. So fand er heraus, dass Goethe,
der ja bei der Uraufführung des „Zerbrochenen Krugs“ Regie führte, den Dorfrichter
Adam – ganz entgegen späteren Usancen –
mit einem Schauspieler besetzte, der, wäre er
ein Sänger, dem Fach „Leichter Spieltenor“
angehörte. Fortgesetzt wird mit Kleists publizistischem Wirken und seinem erzählerischen
Werk. Um dann noch einmal ein Kapitel „dem
26
letzten Jahr“ zu widmen. Dieser Tod – Mord
und Selbstmord oder Doppelselbstmord – ist
für Kreutzer nicht leicht zu beschreiben,
„geschweige denn zu erklären“. Er überlässt
es Rahel Levin, einer Freundin Kleists, emotional darauf zu reagieren.
ER BESCHREIBT DAS
ENTSETZEN
„Von Kleists Werken zu schwärmen, ist leicht,
mit seiner Person hat man es schwerer.“
Günter Blamberger ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und leitet das Internationale Wissenschaftskolleg „Morphomata“,
das Denkbilder des Schöpferischen oder des
Todes im interkulturellen Vergleich untersucht. Und unwillkürlich denkt man bei diesen beiden Begriffen an Kleist. BlamDER
berger ist zurzeit Präsident der HeinDICHTER
rich-von-Kleist-Gesellschaft und
SPRICHT
Herausgeber des Jahrbuchs. Sein
Buch kann man mit Fug und
Anna Maria CarRecht als Standardwerk bezeichpi lehrt deutsche
nen, so umfassend und ausführLiteratur an der
lich – daher manchmal auch
Universität in
abschweifend – kommt es daher.
Venedig, ist
So beginnt er mit der von DideAutorin von
rot gestellten Denkaufgabe:
Gedichten und
„Wenn man in einer Kutsche sitzt
Romanen,
und die Pferde plötzlich durchgeÜbersetzerin
hen, in welche Richtung man da sprinund Hergen solle.“ Weil nämlich Kleist – mit seiausgeberin
ner Schwester Ulrike unterwegs nach
einer
Paris – so ein Unglück passierte.
neuen
Und falsch reagierte, dennoch
überlebte. Blamberger weigert
sich, die Kleist’sche Biografie von
ihrem monströsen Ende her zu
schreiben, er will versuchen, sie
von den Anfängen, aus den Prägungen der Kindheit zu verstehen. Und – wie er es ausdrückt – „eine präsentische
Erzählweise wählen“, das
Widersprüchlich, von großer Nachhaltigkeit:
heißt: beim Schreiben
der Dichter Heinrich von Kleist
so zu tun, als ob er
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
14-27 buchwelt
06.09.2011
17:00 Uhr
Seite 27
italienischen Ausgabe der Werke Kleists. Sie hat in ihrem Buch
einen äußerst gewagten Schritt getan: Sowieso erzählt sie seine Geschichte wahrheitsgetreu – sie beruft sich da auf die Dokumentensammlung
von Helmut Sembdner („Heinrich von Kleists Lebensspuren“, Hanser). Aber, sie theatralisiert, das heißt, sie hat die Kleist’sche Sehnsucht
nach Kommunikation inszeniert, dialogisiert, dazu die äußeren Umstände dargestellt. Man könnte nach diesem Buch einen Film drehen; sie
lässt ihn „mit blitzenden Augen aufspringen“, dann gleich wieder von
Verzweiflung gepackt werden „und die Hände vors Gesicht schlagen“.
Es kann sein, dass sie von den extremen Situationen in Kleists Erzählungen Farbe angenommen hat, die aber bei der ernsthaften Darstellung des Lebens zu grell, zu bunt, zu aufgesetzt wirkt.
ORDNUNGEN WERDEN DURCH
LEBHAFTESTE UNRUHE ZERSTÖRT
„Er scheint zur Unzeit in die Welt gekommen. Sie braucht ihn
nicht.“ Hans-Jürgen Schmelzer war Oberstudienrat, also Mittelschulprofessor. Er meint, dass „verwissenschaftlichte Theorien den
Zugang zum Werk verbauen“, daher am Anfang einer guten Lebensdarstellung die Liebe stehen muss und nicht das Wissen. Auch der
Titel seiner Biografie scheint ausschließlich Emotionelles anzukündigen: „Deutschlands unglücklichster Dichter“. Aber Schmelzer
beschreibt, beginnt natürlich auch beim selbstmörderischen Ende,
stützt sich ebenfalls auf die Dokumente von Helmut Sembdner, baut
das Werk in die Biografie ein, hat da eigenständige, originelle Ideen
und will haben, dass der Michael Kohlhaas wieder in den Kanon der
Werke eingegliedert werden soll, die im Deutschunterricht durchgenommen werden. Er holt den Dichter in unsere Zeit, indem er untersucht, wie sich die Nachfolger der Soldatenfamilie Kleist im Nationalsozialismus verhalten haben: einige nämlich waren auf der Seite
Hitlers, andere im Widerstand.
Auch Peter Michalzik legte eine anschauliche Biografie vor, wobei
er für sich auch den Mangel an Quellenmaterial nutzbringend umsetzte. Erst im Oktober erscheint die Arbeit des Redakteurs Adam Soboczynski, der auch über Kleist promovierte.
Nachdem man alle, mehrere oder nur eine dieser Biografien gelesen hat, bleibt einem noch, zu einem kleinen gelben Büchlein zu
greifen, „Heinrich von Kleist: Sämtliche Erzählungen und andere Prosa“, erschienen in Reclams Universalbibliothek. Möglich wären natürlich auch die „Sämtlichen Werke und Briefe“ in drei Bänden, die im
Oktober bei dtv erscheinen werden. Und dann stürzt all das, was diesen Mann ausmachte, ungefiltert auf einen herein. Dem sollte man
sich aussetzen.
DIE BÜCHER
Günter Blamberger |Heinrich von Kleist| S. Fischer 2011, 597 S., EurD 24,95/EurA 25,70/sFr 35,90
Anna Maria Carpi |Kleist. Ein Leben| Übers. v. Ragna Maria Gschwend. Insel 2011, 477 S.,
EurD 24,90/EurA 25,60/sFr 35,50
Heinrich von Kleist |Sämtliche Werke und Briefe. Münchner Ausgabe: Auf der Grundlage
der Brandenburger Ausgabe| Hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle. dtv 2011, 2736 S., EurD 58/
EurA 59,70/sFr 77,90
Heinrich von Kleist |Sämtliche Erzählungen und andere Prosa| Reclam 1986, 380 S., EurD 8/
EurA 8,30/sFr 11,90
Hans Joachim Kreutzer |Heinrich von Kleist| C. H. Beck Wissen 2011, 128 S., EurD 8,95/EurA 9,20/
sFr 14,50
Peter Michalzik |Kleist: Dichter, Krieger, Seelensucher| Propyläen 2011, 560 S., EurD 24,99/
EurA 25,70/sFr 34,90
Hans-Jürgen Schmelzer |Heinrich von Kleist. Deutschlands unglücklichster Dichter| Hohenheim 2011, 250 S., EurD 14,90/EurA 15,40/sFr 36
Adam Soboczynski |Kleist. Vom Glück des Untergangs| Luchterhand 2011, 128 S., EurD 14,99/
EurA 15,50/sFr 24,90
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AKTUELLES. GUTES ODER SCHLECHTES.
Auf alle Fälle Bemerkenswertes finden Sie auf
den folgenden Seiten.
Mit seinem neuen Roman „Luka
und das Lebensfeuer“ schließt Salman Rushdie an sein Buch „Harun
und das Meer der Geschichten“ an.
Manfred Chobot arbeitete sich
durch neun Ebenen einer märchenhaften Geschichte.
Nach einem Zirkusbesuch spricht der zwölfjährige Luka, Sohn des Geschichtenerzählers
Raschid, einen Fluch gegen den Zirkusdirektor Captain Aag aus, der seine Tiere miserabel
behandelt. Tatsächlich brennt der Zirkus ab.
Hund der Bär und Bär der Hund flüchten sich
zu Luka und werden seine besten Freunde. Wie
alle Tiere in diesem Buch können sie sprechen.
Da Raschid in einen todesähnlichen Schlaf
verfällt, liegt es an Luka, für ihn das Lebensfeuer zu stehlen – eine scheinbar unlösbare Aufgabe, doch ahnt der Leser bereits, dass er es schaffen wird, lernwillig und vif wie Luka allemal
auftritt. Wie bei einem Computerspiel arbeitet sich Luka von einer Ebene zur nächst höheren, sammelt 999 „Leben“, um bei seinen Abenteuern einen entsprechenden Vorrat zur Verfügung zu haben. Im richtigen Augenblick tauchen immer wieder Helfer auf, die ihm zur
Seite stehen. Besonders nützlich erweist sich die
Insultana Soraya, die den fliegenden Teppich
König Salomons besitzt. Nachdem Luka ihr den
klugen Rat gegeben hatte, als Waffen gegen
ihre Feinde, die „Ratten des Respektorats“,
anstatt Betelsaft, Eier und vergammeltes Gemüse besser Juckpulverbomben einzusetzen, steht
sie voll an seiner Seite.
Mit dabei ist ständig Nobodaddy, der gläsern aussieht und einen Panamahut trägt. Je
28
Wahrheit sein.“ Für einen Zwölfjährigen eine
beachtliche Denkleistung. Und Nobodaddy
doziert: „Unter allen Jungen solltest gerade du
wissen, dass der Mensch ein Geschichten
erzählendes Wesen ist, das allein in Geschichten seine Identität findet, seinen Lebenssinn,
das Lebensblut. Erzählen Ratten Geschichten?
Kennt der kleine Zeck einen narrativen Zweck?
Ele-fantasieren Elefanten? Im Menschen allein
brennt das Verlangen nach Büchern.“ Ob auch
nach diesem Buch? Jedenfalls weiß ich jetzt,
dass außerhalb der Kármán-Linie in 100 Kilometern Höhe das All beginnt. „Um den Berg
des Wissens erklimmen zu können, musst du
wissen, wer du bist“, hatte Raschid Khalifa
seinem Sohn Luka mit auf den (Lebens-)Weg
gegeben.
PERSONEN-TEILE
ad absurdum geführt. In der Geschichte „Lisa
und Elias und ich“ sind alle Handlungen gleich
plausibel. Lisa hat manchmal recht und manchmal nicht. Ausweg aus dem Nullsummenspiel
der Erkenntnis bilden höchstens ausgesprochene Trivialitäten. In der Sequenz „Rechts und
links“ wälzt sich ein Paar synchron durch die
ganze Nacht und sieht naturgemäß alles doppelt. Wir drehen links, wir drehen rechts, heißt es
den ganzen Text hindurch. Kann sein, dass es
sich bei diesem Paar um Milchsäuren handelt.
Nadja Spiegel erzählt trocken von den Wahrscheinlichkeiten, den Porträts eines doppelten
Ichs, vom Hunger eines Kleinkinds auf Befehl
und von Schwesternmotiven, worin Veränderungen zum Konkurrenzkampf der beteiligten Personen-Teile werden.
HS
Nadja Spiegel stellt in ihren zwanzig Erzählungen jeweils Heldinnen vor, die sich in zwiespältigen Situationen lapidar zu wehren wissen. Die
Situationen gleichen oft einem Münzwurf, bei
dem Kopf oder Zahl, Lüge oder Wahrheit, Sein
oder Nichtsein gleich wahrscheinlich auftreten.
In der Eingangserzählung spaltet sich eine junge
Frau in zwei Metas auf, die nur durch das Geigenspiel voneinander zu unterscheiden sind. Die
eine Meta kommt aus der Ukraine, die andere
heißt vielleicht Anna und trinkt zu viel Bier. Das
ständige Wechseln zwischen den Meta-Bildern
lässt schließlich eine Figur entstehen, die nur
manchmal eindeutig ist.
Aber nicht nur im künstlerischen oder theatralischen Sujet ist die Identitätsspaltung State of
the Art, auch in trivialen Situationen tritt oft ein
anderes Ich auf und stellt beinahe mathematische Übungen an.
In diesem Zusammenhang werden feste Regeln
FAZIT Im Galopp durch Mythen
und Märchen bis zur 9. Ebene
geleitet Salman Rushdie seine
Leserschaft.
Salman Rushdie |Luka und das Lebensfeuer| Übers. v. Bernhard Robben. Rowohlt
2011, 268 S., EurD 19,95/EurA 20,60/sFr 30,50
Fazit: Frech, schön verlogen, wahrscheinlich
oder nicht.
Nadja Spiegel |manchmal lüge ich und manchmal nicht|
Skarabaeus 2011, 256 S., EurD/A 16,90/sFr 28,50
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: BEOWULF SHEEHAN-PEN AMERICAN CENTER
DAS VERLANGEN NACH
LEBEN UND BÜCHERN
schlechter es Lukas Vater geht, desto stabiler
wird Nobodaddy. Dass er Luka belügt, ist ohnedies gleich klar. Weniger klar ist, ob das Buch
für Kinder oder erwachsene Kinder geschrieben wurde. Neben Wissensbergen gibt es den
Zeitfluss und den Zeitstrudel, aber auch Radar
und Geschichtenströme. Rushdie bedient sich
aus dem Fundus des Götterpantheons, vom nordischen Odin zu den Azteken und Inkas, mit
dabei sind griechische, römische, indische, japanische, chinesische und polynesische Gottheiten, „als sei das Herz der Magie eine Art Altersheim für gestrandete Superhelden“. Der Leser
begreift die Kritik an den Religionen, doch
erscheint der „mythologische Vergnügungspark“ überstrapaziert. Die gigantischen Feuerringe, wo das Lebensfeuer lagert, „bilden eine
unpassierbare Dreifachsperre“ und sehen aus wie
Doughnuts. Ist zwar gut vorstellbar, allerdings
eher „unmagisch“.
„Schließe das Unmögliche aus, dann muss
das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein – wie
unwahrscheinlich sie auch klingt.“ Daraus folgerte Luka: „Dann muss das Unmögliche die
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DIE FRAU IM HINTERGRUND
Die Idee, einen Roman über eine Gattin
zu schreiben, um damit besseren Einblick
in das Leben eines Schriftstellers zu geben,
ist keine neue. Der Franzose Gilles Leroy legte etwa den Roman „Alabama Song“ vor wenigen Jahren vor, in dem er die Ehe – und das
fulminante Leben – der Fitzgeralds aus Sicht
der Gattin Zelda erzählt.
Nun, im Ernest-Hemingway-Jahr (im Juli
war sein 50. Todestag), präsentiert Paula
McLain ihren Roman „Madame Hemingway“. Es ist eine berührende Geschichte,
die Hemingways erste Ehefrau Hadley Richardson zur Protagonistin hat. Sie lernt
Hemingway auf einer Party in Chicago kennen, als dieser gerade einundzwanzig Jahre
alt ist. Sie selbst ist sieben Jahre älter und hat
eine schwierige Zeit hinter sich: Hadley hatte die kranke Mutter gepflegt und ihr eigenes Leben in den Hintergrund gestellt. Nach
der Bekanntschaft mit Hemingway scheint
das Leben wieder Sinn zu machen. („Ich sah
etwas Neues. Den Funken einer Möglichkeit.“) Die beiden heiraten, ziehen nach Paris,
sie gebärt ihm einen Sohn, Bumby.
Im Originaltitel heißt das Buch „The Paris
Wife“. Treffender könnte der Titel nicht sein.
Denn Richardsons und Hemingways gemeinsame Zeit spielt sich (hauptsächlich) im Paris
GALAKTISCHE EMPFÄNGNIS
1999, McCarten war eben 30 geworden,
erschien „Spinners“, die unglaubliche Geschichte der 16-jährigen Delia, die behauptet, ein
Kind von einem Außerirdischen zu erwarten.
Der Durchbruch gelang ihm aber erst mit dem
zweiten Roman. „Der englische Harem“, der
2008 (sieben Jahre nach dem Erscheinen in
Australien) endlich auch ins Deutsche übersetzt wurde. Davor war aber schon McCartens dritter Roman „Superhero“ bei Diogenes
erschienen. Beide Romane kamen beim Publikum so gut an, dass der Verlag nun auch sein
Erstlingswerk übersetzen ließ. „Spinners“ wurde zu „Liebe am Ende der Welt“.
Am Ende der Welt scheint die neuseeländische Kleinstadt Opunake tatsächlich zu liegen. Im Zentrum steht Borthwicks Fleischfabrik, in der im Sommer auch die Schülerinnen
am Fließband arbeiten. Eine von ihnen ist
unverhofft in ein Märchen eingetaucht. „Es
war am Samstagabend, nach der Arbeit, aber
noch bevor der Pub zumachte, dass Delia Chapman einen Außerirdischen sah. Na ja, genau
genommen stimmt das nicht ganz – es waren
zehn Außerirdische.“
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der 20er-Jahre ab. Sie wird als Pariser Ehefrau bekannt, gefolgt von einer Key-WestWife Pauline Pfeiffer und der spanischen Bürgerkriegs-Gattin Martha Gellhorn. (Gellhorns Erzählungen „Reisen mit mir und
einem anderen. Fünf Höllenfahrten“ sind
soeben im Dörlemann-Verlag erschienen.)
Während Hemingway in Paris schreibt
und im Salon der Gertrude Stein ein- und
ausgeht, ordnet Hadley sich unter. Sie ist eine
einfache Frau, die an die Ehe glaubt und so
gar nicht nach Paris passt, wo gefeiert, geflirtet und getrunken wird.
Paula McLain hat der Geschichte viel Platz
gegeben. 456 Seiten hat das Buch, ein paar
weniger Ausschweifungen hätten es zu einem
noch besseren gemacht. Interessant ist vor
allem die empfindsame Seite Hemingways,
die die Autorin beschreibt. War er doch sonst
als Macho und Grobian bekannt. Leider sind
die Dialoge etwas sperrig. Das mag aber auch
an der Übersetzung liegen.
EMILY WALTON
FAZIT Paris in den Zwanzigern:
Die berührende Geschichte der
Hadley Richardson – Ernest
Hemingways erste Ehefrau.
Paula McLain |Madame Hemingway|
Übers. v. Yasemin Dincer. Aufbau 2011,
456 S., EurD 19,99/EurA 20,60/sFr 28,90
So beginnt Anthony McCartens Debütroman, und ihn zu lesen, ist pures Vergnügen.
McCarten kann erzählen und beobachten. Das
Kleinstadtleben, die eingebildeten Sorgen und
echten Probleme der weiblichen Teenager, die
Aufregung, die durch Delias Bericht hervorgerufen wird und bald über die Grenzen Opunakes hinausgeht, das alles amüsiert, auch wenn
der junge Autor sich brav an Stereotypen und
Klischees hält. Kleinstädte mit ihrer Enge und
den Tratschereien, den Eifersüchteleien und
Intrigen sind offensichtlich auf der ganzen Welt
ziemlich ähnlich. Opunake ist eine echte Stadt,
bei der Volkszählung von 2006 wurden 1368
Bewohner gezählt.
Bis alle Lügen aufgeklärt, alle Geheimnisse gelüftet, alle Rätsel gelöst sind, dauert es
eine ganze Weile. Am Ende, das darf verraten
werden, wird ein Baby geboren. Woher es
kommt, ist keine Frage, denn kommt nicht
jedes neue Menschenwesen aus einer fernen
Galaxie?
DITTA RUDLE
FAZIT Ein vergnügliches Erstlingswerk, das den
späteren Erfolg des Autors bereits ahnen lässt.
Anthony McCarten |Liebe am Ende der Welt| Übers. v. Manfred
Allié. Diogenes 2011, 360 S., EurD 22,90/EurA 23,60/sFr 38,90
Treffpunkt
Bibliothek
17.–23. Oktober 2011
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Seite 31
Christian
Einmal noch begehrte der Alte auf. Einmal
noch beließ der portugiesische Literaturnobelpreisträger es nicht nur bei Ironie und Spott.
Einmal noch ließ Saramago seinem Zorn gegen
Gott freien Lauf. Nun also sein letzter Roman:
Kain, der Widersacher des alttestamentarischen
Gottes, ist sein Titelheld. Er beginnt bei Adam
und Eva, in der Stimmung, die man aus seinen
letzten Geschichten kennt: sanft ironisch, weise lächelnd. Die beiden werden auch bei Saramago aus dem Paradies vertrieben, doch der Wache
haltende Cherub lässt sich von Eva zu gewissen Hilfsdiensten verleiten, Adam und Eva sind
dann auch nicht die einzigen Menschen auf
der Erde. Der Tonfall ändert sich bald, und zwar
mit dem Opfer der Brüder Kain und Abel.
Der Dichter stellt die Frage, die bis jetzt niemand hat beantworten können: Warum hat Gott
das Opfer Kains abgelehnt? Es kommt auch in
diesem Roman, wie es kommen muss: Kain
tötet Abel und wird von Gott dazu verurteilt,
unstet auf der Erde umherzuirren. Vorher aber
rechtet Kain mit Gott, wie es so nicht in der
Bibel steht: „Ich habe Abel getötet, weil ich
dich nicht töten konnte, doch meiner Absicht
nach bist du tot. Ich verstehe, was du sagen
willst, aber Göttern ist der Tod verwehrt.“ Kain
WUCHERNDE GESCHICHTEN
Mit Venushaar wird eine Farn-Art
bezeichnet, die aus allen Fugen üppig herauswuchern kann. Ähnlich funktioniert das
Erzähl-Konzept von Michail Schischkin, aus
allen Poren der Mythologie, Zeit- und Weltgeschichte wuchern Geschichten hervor. Lose
von der Figur eines Dolmetschers begleitet, stürmen die wildesten Textsorten auf
den Leser ein.
Zu Beginn scheint es noch ein ziemlich
fassbares Einstiegsloch in das amorphe Textsystem zu geben. Ein Dolmetscher, der neben
einem Himmelspförtner Marke Petrus sitzt,
übersetzt sinnlose Fragen und Antworten,
wie sie bei einem Asylverfahren gestellt werden. Bei dieser Gelegenheit erzählen die
Delinquenten absurde Geschichten aus fernen Ländern und Kulturkreisen, bedrückende Sequenzen aus dem Lagerleben am Rande jeglicher Zivilisation. Alle Fragen, die zu
diesen Fällen gestellt werden, wirken in
ihrem Bürokratie-glatten Humanismus
zynisch. Das konkrete Frage-Antwort-Spiel
einer behördlichen Vernehmung löst sich
bald einmal auf in Mythen, zeitgeschichtliche Einschübe, Erinnerungen, Folterberichte und Ehe-Störungen. Dabei kommen so
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
bekommt also sein Zeichen und wandert von
da an über die Erde, aber nach dem Willen
Saramagos bewegt er sich auch in der Zeit vor
und zurück: Er hindert Abraham daran, Isaak
zu opfern, er kämpft vor Jericho, er wundert
sich über den Turmbau zu Babel, ist mit den
Engeln in Sodom, hört die Klagen Hiobs und
landet am atemberaubenden Ende in der Arche
bei Noah. Jede dieser Geschichten hat eine eigene Stimmung, manchmal verlässt den Dichter
der Witz und er geifert nur mehr – das sind
die blasphemischen Stellen, mit denen er in Spanien und Portugal noch einmal Aufsehen erregte. Dann aber wieder äußert er sich ironisch über
die literarische Qualität der alttestamentarischen Flüche und Verwünschungen und erzeugt
Heiterkeit damit, Engel bei der Arbeit zu beobachten. Zwischen all das streut er eine Prise Erotik, dazu dient ihm seine Variation der Lilith.
Einmal ergreift er auch selbst als Erzähler das
Wort: „Die Geschichte der Menschheit ist die
Geschichte ihrer Uneinigkeiten mit Gott, weder
versteht er uns, noch verstehen wir ihn.“
Mähr
Foto: © www.corn.at / Deuticke
GROLL GEGEN GOTT
KONRAD HOLZER
FAZIT Saramago erzählt mit all seinem Können
von Kain, mit aller Ironie, allem Humor, aber
auch aller Wut, zu der er fähig war.
José Saramago |Kain| Übers. v. Karin von Schweder-Schreiner.
Hoffmann und Campe 2011, 208 S., EurD 19,99/EurA 20,60/sFr 32,90
gut wie alle erdenklichen Textsorten zum
Einsatz. Groteske Situationen, wenn sich etwa
ein Gefangener mit einer Zeitung gegen
die Explosion einer Handgranate schützen
will, lösen sich mit seltsamen Lebensweisheiten ab. Einmal wird der Leser geradezu
aufgefordert, die kommenden Seiten zu überblättern, auf denen die Namen von im Feuer Umgekommenen in voller Länge aufgezählt sind. Das knapp zwanzig Seiten dicke
Glossar strotzt vor russischer Literatur- und
Zeitgeschichte, ist aufgefüllt mit Schlachten
der Weltgeschichte und griechischer Mythologie und hat ab und zu ein verrücktes Zitat
auf Vorrat. Etwa Alexander Blok am 5. April
1912: „Untergang der Titanic, hat mich
gestern unsagbar gefreut. (Es gibt ihn noch,
den Ozean!) Maßlos öde und schwer.“
Venushaar ist ein Jahrhundertbuch; es
erstreckt sich über Themen des letzten Jahrhunderts, verwendet alle gängigen ErzählModelle und hat schließlich etwas von der
einladenden Strenge einer „Ästhetik des
Widerstands“ von Peter Weiss.
HS
FAZIT Solche Bücher können wahrlich den
Geisteszustand einer Gesellschaft verändern!
Michail Schischkin |Venushaar| Übers. v. Andreas Tretner.
DVA 2011, 554 S., EurD 24,99/EurA 25,70/sFr 35,50
31
Auch als
-book
erhältlich
»Absurd und abgefeimt wie
ein Qualtinger-Text und ein herrlich
böses Lesevergnügen.«
Wolfgang A. Niemann, Rheinischer Merkur
320 Seiten. Gebunden. € 18,40 [A]
www.deuticke.at
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Seite 32
HERZEN AUS HEIDELBERG
SCHICHTEN DER ERINNERUNG
Vor zehn Jahren wurde die „Frau Ava Gesellschaft für Literatur“ gegründet, die heuer zum
fünften Mal den „Frau Ava Literaturpreis“ vergab, für einen Text, „der sich auf neuartige und
innovative Weise in Sprache und Form mit Themen im Spannungsfeld von Spiritualität, Religion und Politik auseinandersetzt und sich an
erwachsene und/oder junge Leserinnen und
Leser wendet“. Dieser Text ist der Roman
„Wimpern aus Gras“ der Heidelberger Autorin
Ruth Johanna Benrath. Es geht darin um eine
Mädchenfreundschaft, die irgendwann einmal
zwischen Anna und Rena sehr eng war und
dann aber auseinanderbricht: Anna ist in die
Welt hinausgezogen, hat geheiratet und ist bald
darauf gestorben. Rena, die in Heidelberg Zurückgebliebene, versucht jetzt mehr über das
Leben ihrer Freundin zu erfahren. Die Autorin
hält nichts vom chronologischen Erzählen,
setzt Szenen aus den diversen Vergangenheiten und Gegenwarten nebeneinander und
unterbricht den Erzählfluss noch einmal mit
englischsprachigen Einsprengseln. Diese formalen Brüche kontrastieren sehr stark mit
der Handlung, die wie aus längst vergangenen
Tagen daherkommt. Die beiden Mädchen sind
sehr dünnhäutig, können sich aber andrerseits
ganz und gar nicht in jemand anderen hineindenken. (Daran scheitert ja letztlich auch ihre
Beziehung, daran leidet Anna noch sehr viel
mehr als Rena.) Man muss ihnen schon sehr
gewogen sein, um ihnen ihre Eigenheiten
durchgehen zu lassen. Aber vielleicht denkt
sich eine junge Frau, die zum ersten Mal mit
einem Mann ins Bett geht, wirklich: „Ich bin
nackt wie ein Kind.“ Ja, die Religion: Anna versucht immer dort, wo sie fremd ist, in Kirchen
Heimat zu finden, so wie sie das in ihrer Kindheit und frühen Jugend gewöhnt war. Nach
San Clemente in Rom geht sie immer und immer wieder, um dort das Apsismosaik zu betrachten. Halt finden beide jungen Frauen auch
in der Literatur, bei Ingeborg Bachmann, weniger bei Emily Dickinson. Letztlich ist es sehr
schwer, eine Erzählung, die so auf ein bestimmtes Publikum ausgerichtet ist, adäquat zu beurteilen, wenn man nicht zum auserwählten Leserkreis gehört. Das ist aber bei den Romanen
um alte Männer genauso. Die Jury schloss ihre
Begründung: „Der Roman präsentiert sich als
das reife Ergebnis eines wohldurchdachten
Arbeitsprozesses.“
KONRAD HOLZER
Mit „Stillbach“ legt Sabine Gruber
einen starken Roman vor.
FAZIT: Ein sehr empfindungsreiches Buch, in
dem dünnhäutige junge Frauen aneinander und
an ihrer Umwelt scheitern.
Ruth Johanna Benrath |Wimpern aus Gras| Suhrkamp nova
2011, 218 S., EurD 13,95/EurA 14,40/sFr 20,50
32
Clara, eine nicht mehr ganz junge, in
Wien lebende Südtirolerin, wird durch einen
Hilferuf aus ihrer Heimatgemeinde Stillbach – einem fiktiven Ort irgendwo im Vintschgau – aus ihrer Arbeit an einem Buch
über große Liebespaare in Venedig gerissen.
Sie soll in Rom die Verlassenschaft ihrer
dort plötzlich verstorbenen Kollegin und
Jugendfreundin sichten und ordnen.
Dabei stößt sie auf umfangreiche Aufzeichnungen, deren Hauptbestandteil Erinnerungen dieser Ines während eines Ferialjobs in einem kleinen römischen Hotel 1978
darstellen. Durch Begegnungen mit noch
lebenden Protagonisten des scheinbar so
authentischen Konvoluts wird deutlich,
wie sehr jeder Versuch eines Erinnerns – sei
es an kollektiv Öffentliches, sei es an Privatestes – aus dem subjektiven Blickwinkel des jeweiligen Betrachters geschieht.
Die neben Ines zentrale Figur dieses Erzählkorpus (er macht mehr als die Hälfte des
Buchs aus), eine in den späten 20er-Jahren als Magd in das gleiche Hotel gelangte Stillbacherin, durch Heirat nun zur Besitzerin geworden, kann in ihrer Altersdemenz
dem über sie Erinnerten nicht mehr viel
entgegensetzen. Umso aktiver bemüht sich
ihr Sohn, der niedergeschriebenen Version
seiner Familiengeschichte seine Vision gegenüberzustellen. Und auch ein österreichischer Historiker, im Text als junger Student eher eine Randfigur, bemüht sich um
Retuschen in aufklärerischer Absicht.
Sabine Gruber, geboren 1964 in Meran,
studierte Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft. So beginnt ihr Portrait im
Klappentext, der dann einen kursorischen
Überblick ihres bisherigen Werks (Romane, Hörspiele, Lyrik) gibt, das überdies Essays und herausgeberische Arbeit umfasst.
All dies schlägt sich im Aufbau des vorliegenden Romans deutlich nieder. Drei
Zeitebenen werden da geschichtet: eineinhalb Jahrzehnte des italienischen Faschismus, die 70er-Jahre, in denen die brigate
rosse das Land in Aufgeregtheit und Stillstand zugleich versetzten, und ein heutiger Horizont, ein prägnant skizziertes Italien der Berlusconi-Ära. In der Gegenwart
schichtweise abgelagerte Erinnerungen:
Politologin und Historikerin ergänzen einander da unter der Federführung einer einfühlsamen Schriftstellerin.
Politische Tendenz der Akteure/Betrach-
FOTO: KARL-HEINZ STRÖHLE
M A R K T P L AT Z
Sabine Gruber, glaubhaft, mitfühlend – und
authentisch
ter, ihre soziale, geografische und ethnische
Herkunft lassen ein jeweils anderes Bild
einer Geschichte entstehen, deren objektive Fakten jedoch detailreich dargelegt
werden: Arbeitsimmigration in den Süden,
Konkurrenzfaschismus, Verweigerung jedes
Versuchs einer Vergangenheitsbewältigung
seien als Beispiele genannt. Von besonderem Interesse dabei ist auch eine behutsame Einführung einer gewissen Genderperspektive, die Anklänge einer weiblichen oral
history der (männlichen?) offiziellen Geschichtsschreibung gegenüberstellt. Wenn
man Inhalt, Interessenslage und Aufbau
so resümiert, kann der Verdacht eines überfrachteten, allzu ehrgeizigen Entwurfs entstehen. Das ist aber das eigentliche Wunder dieses Buchs: Trotz aller seiner Konzeptionalität und Selbstreflexion leben seine Figuren von allem Anfang an, sind glaubhaft und mitfühlend gestaltet – ihre Interaktionen sind menschlich und plausibel, ja
sogar einzelne Landschaften erhalten durch
den Blick auf ihre Geschichte Farbe und
Umriss. Diese Authentizität kommt sicherlich auch daher, dass Sabine Gruber sehr
nahe an ihrem Leben schreibt. Ist sie doch
selber Herausgeberin einer jung verstorbenen Südtiroler Schriftstellerin und trägt
auch mit „Stillbach“ dazu bei, dass Anita
Pichler nicht zu schnell vergessen wird.
(Dies hätte sich allerdings aus Biografie und
Lektüre auch ohne expliziten Selbstverweis
erschlossen. Das Auftauchen der Figur des
Autors/der Autorin sollte nicht zur Mode
THOMAS LEITNER
werden ...)
FAZIT Ein komplexes Konzept, das durch
stilistische Sicherheit zu literarischem Leben
erweckt wird.
Sabine Gruber |Stillbach oder Die Sehnsucht| Beck 2011,
379 S., EurD 19,95/EurA 20,60/sFr 30,50
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17:07 Uhr
Seite 33
KURZ UND EINPRÄGSAM
Ein Mann begrüßt seine Nachbarin jeden
Mittwoch mit dem immer gleichen Satz: „Bissel Ljebe wär nett, göll.“ Und die treue Lucie
geht Woche für Woche zum Markt, um dem
Nachbarn Leber zu kaufen, der sie nie kocht,
sondern nur einfriert. Weil er in Wahrheit nicht
Hunger hat, sondern bloß einsam ist. Es sind
Geschichten wie diese, die Kathrin Schmidt
erzählt. „Finito. Schwamm drüber“ ist der erste
Erzählband der Autorin, die 2009 für ihren
Roman „Du stirbst nicht“ mit dem Deutschen
Buchpreis ausgezeichnet wurde und davor eher
der Lyrik zuzuordnen war.
In ihrem aktuellen Werk verwebt Schmidt
poetische Sprache zu Prosa. Es sind Texte, die
Titel wie „Laubers Lachen“, „Königsberger
Klops“ oder „Norwegische Formel“ haben und
meist nur wenige Seiten lang sind. Mit dem
Zusatz „Erzählungen“ hat der Verlag ein wenig
geschummelt: Wenn sich 31 Texte auf 237 Seiten ausgehen, sind es eher Kurzgeschichten.
Aber die Bezeichnung ändert an der Qualität und Sogkraft der Texte nichts. Viel eher ist
es so, dass Schmidt gerade durch diese kurze
Form und die Verknappung überzeugen kann.
Die Sätze sind kurz, nur mit dem Nötigsten
gefüllt.
REISE NACH LJUBLJANA
Anthologien erzählen über die einzelnen Texte hinaus immer auch von einer Idee, die mit
diesen Bausteinen verwirklicht wird.
„Reise nach Ljubljana“ versammelt Texte
jener österreichischen Autorinnen und Autoren, die ständig unterwegs sind und beispielsweise auf einen Sprung oder ein Projekt in Laibach vorbeischauen, wo die Literatur gerade eine
Blüte erlebt. Die ausgewählten Reise-Literaten
gehen nicht nur mit den Texten durchaus an
ihre Grenzen, sie verfassen kompakte Texte, die
sich jederzeit an jedem Ort auspacken und vorführen lassen. Aus Tiroler Sicht ist vor allem
Markus Köhle zu nennen, der mit seinem Thomas-Bernhard-Stück unter einem Kastanienbaum jede Grenze von Ehrfurcht überschreitet.
Thomas und Bernhard haben sich ein Spiel ausgedacht, bei dem sie vor allem eines können:
saufen. Denn der Verlierer (oder der Gewinner) muss jeweils ein oder zwei Stamperln trinken. Stefan Abermann geht in „Kokon“ einem
strengen Geruch nach. Irgendwie ist jemand
unbemerkt in einer Wohnung verstorben und
hat nichts außer seinem Geruch hinterlassen.
Jetzt rätselt man vor allem, wie so etwas möglich ist und ob vielleicht die Philosophie des
Cokoonings dahintersteckt. Wer ist drinnen,
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
Entstanden sind die Texte in den vergangenen 15 Jahren. Stilbrüche merkt man dabei aber
nicht. In einer so langen Zeit lässt sich eine ganze
Bandbreite an Themen abhandeln. Trauriges,
Witziges, Böses, Groteskes und Derbes gibt
es. Die Geschichten siedelt Schmidt meist in
Ostdeutschland an. Grau ist die Umgebung. Es
geht um Menschen, die Sinn und Halt suchen,
weil sie den Boden verloren haben: Manche sind
arbeitslos, andere einsam oder entwurzelt. Oft
sind die Protagonistinnen Frauen um die vierzig, die Liebe suchen und Sehnsucht haben. Was
sonst treibt eine Frau dazu, einen vietnamesischen Lover zu (er-)finden? Eine andere Heldin strickt ihrem Mann einen Ganzkörper-Strampelanzug, um ihn dann beim Vorspiel aufzutrennen und Erregung zu spüren. Sexualität
spielt in vielen Texten eine Rolle. Ekel und auch
Missbrauch kommen in manchen der drastischeren Texte vor. Nicht alle 31 Texte werden
dem Leser gefallen. Aber jeder wird die für ihn
passenden Geschichten finden. Oder sich zumindest über Sprachspiel, Originalität und sehr einprägende Bilder freuen.
EMILY WALTON
FAZIT Originelle Kurzgeschichtensammlung.
Bizarr und versponnen sind die Texte der genauen Beobachterin Kathrin Schmidt.
Kathrin Schmidt |Finito. Schwamm drüber| Kiepenheuer &
Witsch, 237 S., EurD 17,95/EurA 18,50/sFr 25,90
wer ist draußen? Wer hat sich eingekapselt, der
Tote oder die ignoranten Hinterbliebenen?
Die versammelten Geschichten von Stefan Abermann, René Bauer, Nadja Bucher,
Milena M Flasar, Yasmine Hafedh, Michael
Hammerschmid, Markus Köhle, Jürgen Lagger, Mieze Medusa, Alexander Peer, Michael
Stavaric, Otto Tremetzberger und Erwin Uhrmann haben alle einen bemerkenswerten Kern,
den man nicht so leicht vergisst. Jürgen Lagger etwa schickt die Jahreszeit ins Out, unter
dem Titel Markusplatz brechen die verfaulenden Früchte des letzten Jahres auf, der
Lebenssinn verrottet kurzfristig, jemand berichtet, dass am Markusplatz Tauben vergiftet worden sind. Yasmin Hafedh hingegen packt gleich
die ganze Welt in einen Koffer, und das drei
Mal. Als Trend ist vielleicht auszumachen: das
akustisch verspielte und am Slam orientierte
Textkomponieren, andererseits das Hinterfragen vordergründiger Wahrnehmungen,
schließlich die ironische Durchbrechung erwarteter Textstrukturen.
HS
FAZIT Ein verschmitzter Einblick
in die Literatur der jungen Szene
Österreichs.
Johann Georg Lughofer (Hg.) |Reise nach
Ljubljana. Junge Literatur aus Österreich|
Limbus 2011, 221 S., EurD/A 18,90
€ 16,- [D] / € 16,50 [A]
ISBN 978-3-8270-1004-9
Bücher fürs Handgepäck …
… geben jedem, der ein Land kennenlernen will,
einen Schlüssel zu dem, was er sieht, hört und erlebt.
Jeder Band ca. 224 Seiten
Ab € 9.90 / sFr 14.90
Bereits erschienen:
Ägypten • Argentinien • Bali • Belgien • China • Emirate
Himalaya • Hongkong • Indien • Indonesien • Innerschweiz
Island • Japan • Kanada • Kapverden • Kolumbien
Kreta • Kuba • London • Malediven • Marokko • Mexiko
Myanmar • Norwegen • Patagonien • Provence • Sahara
Schweiz • Südafrika • Tessin • Thailand • Toskana
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17:09 Uhr
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M A R K T P L AT Z
DIE FREMDE WELT
Als Außenseiter – obwohl er es schon zwei
Mal auf die Longlist geschafft hatte – bekam
der 68-jährige Howard Jacobson 2010 den Booker-Preis für seinen elften Roman, „The Finkler-Question“. Howard Jacobson ist Jude, und
als man ihn fragte, ob er ein englischer Philip
Roth sein möchte, antwortete er darauf, dass
er lieber eine jüdische Jane Austen wäre. „Die
Finkler-Frage“ ist ein durch und durch jüdischer Roman, in der Tradition von Malamud,
Bellow und Roth, durchsetzt mit Elementen
von Woody Allen. Wobei Jacobsons Humor
noch viel sarkastischer ist als der des amerikanischen Filmemachers. Held dieses jüdischen
Romans ist ein Versager. Julian Treslove, gescheitert als Mann, Vater und im Beruf, wünscht sich
ein neues Leben.
Er, der Nicht-Jude, hat zwei jüdische Freunde, und er möchte so gerne sein wie sie: so klug,
so wortgewandt, so „voll Grandeur und Tragik“. Dass den beiden an ihrem Judentum gar
nicht so besonders viel liegt, stört ihn dabei
gar nicht. Der Familienname eines dieser Freunde, des äußerst erfolgreichen Sachbuchautors
Samuel Finkler, wird für Julian die Bezeichnung für Juden schlechthin. Samuel, der sich
lieber Sam nennt, von seiner Frau, die für ihn
zum Judentum übergetreten ist, aber Schmuel
genannt wird, ist Mitglied in einem Verein, der
BÜHNE AM RAND DES
DROHENDEN UNTERGANGS
Mit ihrem 1935 erschienenen zweiten Roman
„Zum Theater!“ feierte die junge Wiener Schriftstellerin Lili Grün einen großen Erfolg. Sieben
Jahre später war sie tot. Ermordet. Im Konzentrationslager Maly Trostinec. Die Autorin
erzählt hier, wie auch in ihrem von der Kritik
gepriesenen Erstling, zweifellos viel Autobiografisches, dennoch berechtigt diese Tatsache,
so verlockend es sein mag, keineswegs dazu, die
gekonnte literarisch-künstlerische Gestaltung
als nebensächlich zu behandeln.
Abgesehen vom Zsolnay Verlag, dem viel
an der jungen Erfolgsautorin lag, und den Übersetzungen ins Ungarische und Italienische sowie
der positiven Kritik insgesamt, klingt auch der
bekannte Romancier Robert Neumann überzeugt: „Um diese Lili Grün ist mir nicht bange. Sie wird ihren Weg machen.“
Tatsächlich ist dem zweiten, leicht und flott
geschriebenen Roman aus der Theater- und Operettenwelt nicht anzumerken, unter welch gesundheitlichen und finanziellen Schwierigkeiten er entstand. Allenfalls die Erfahrungen der
Protagonistin Loni Holl – erst als Komparsin,
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
sich „Die schamerfüllten Juden“ nennt. Der
andere Freund ist ein alter tschechischer Lehrer, der in seiner besten Zeit mit Marilyn Monroe und Ava Gardner zu tun hatte. Beide Freunde sind soeben Witwer geworden, gehen damit
aber sehr verschieden um. Alle drei Freunde
weinen leicht und viel.
„Die Finkler-Frage“ ist also der jüdische
Roman dieser Tage. Er ist randvoll mit allem,
was auch – und schon wieder – in unserer Zeit
Juden angetan wird. Und das nicht nur von
Nicht-Juden. Ein enges Netz aus jüdischem
Antizionismus, nichtjüdischem Antisemitismus und jüdischem Selbsthass umgibt die handelnden Personen, die dennoch irgendwie versuchen, ihren ganz eigenen, privaten Weg zu
gehen. Nicht allen gelingt dies, und auch der
Möchtegern-Jude Julian muss in diesem Netz
stolpern und sich am Ende eingestehen, dass er
sich mehr vorgenommen hat, als er verkraften
konnte. Die letzten Szenen des Romans spielen auf einem Friedhof, er endet mit einem Kaddisch, dem Totengebet der Juden. Aber: „die
Juden wünschen sich bei einer Beerdigung ein
langes Leben, geben ihre Stimme im Angesicht
des Todes der Fortdauer des Lebens.“
KONRAD HOLZER
FAZIT Ein umfassendes Bild zeitgenössischen
jüdischen Lebens.
Howard Jacobson |Die Finkler-Frage| Übers. v. Bernhard
Robben. DVA 2011, 448 S., EurD 22,99/EurA 23,70/sFr 35,90
später als Ensemblemitglied an einer Provinzbühne – sind autobiografisch. Milieu, Ensemble, Repertoire, Atmosphäre des fiktionalen
Mährisch-Niedauer Theaters jedoch sind der
Autorin mittels weniger kraftvoller und bildhafter Schilderungen eindrücklich gelungen.
Ebenso treffend sind Grüns Charakterisierungen der Ensemblemitglieder und irgendwelcher Nebenfiguren, die häufig bloß in einer Skizze hingeworfen sind. Doch dieser Schein trügt,
denn ein einziger Satz Lili Grüns reicht oft, eine
ganze Geschichte zu erzählen.
1933 musste Lili Grün Berlin verlassen, doch
auch aus ihrer Heimatstadt Wien emigrierte sie
via Prag nach Paris. Trotz ihrer wieder aufgeflammten Lungenerkrankung vollendete sie
ihren Theaterroman, der 1935 in Zsolnays Züricher Ableger erschien. Ob des tragischen Todes
bleibt die Frage, welche Werke der literarischen
Welt vorenthalten blieben. SUSANNE ALGE
FAZIT Der flotte Ton, das amüsierte,
zwischen den Zeilen hervorschimmernde Lächeln lassen die Tragik
des wahren Geschehens fast (!)
vergessen.
Lili Grün |Zum Theater!| Hg. v. Anke Helmberg.
Aviva 2011, 216 S., EurD 18/EurA 18,50/sFr 32,40
LYRIK HEUTE
Hundertundein Gedichte verspricht Herbert J.
Wimmer in seiner Sammlung „Ganze Teile“. Man
ist gespannt – und erfreut, denn er hält sein Versprechen. Die meist kurz gehaltenen Texte sind
unterschiedlichster Art, Aphoristisches ebenso
wie Persönliches, Beobachtungen eines Stadtmenschen; ein paar sympathische Momente der
Betroffenheit über den Tod seiner Lebensgefährtin, der Dichterin Elfriede Gerstl; ein langes EssayGedicht, Siegfried J. Schmidt gewidmet, das sich
aus zehn Modulen zusammensetzt. Schönes Beispiel: unter dem verfänglichen Titel „urban intim
geruchsverkehr“ steht „nachmittags/ im septembersommer/ zwischen vorstadt und zentrum/
riecht die stadt/ wie ein alter lederschuh/ unersetzbar/ bequem“. Lyrisch wie lapidar, sehr schön!
Eine Sammlung von 37 Gedichten präsentiert
uns Christoph W. Bauer, „mein lieben mein hassen
mein mittendrin du“. Im Nachwort stellt der Münchener Altphilologe Niklas Holzberg fest: Titel und
Zitat am Anfang zeigen, dass Bauers Gedichtesammlung „im Zeichen des römischen Dichters …
Catullus“ steht. Man muss aber kein Catull-Kenner sein, um mit Bauers Gedichten zurechtzukommen. Sein ausschließliches Thema in diesem
Band: die Liebe. Von der ersten, zarten Annäherung zum überschäumenden Glück, zum Schmerz
bei Trennung und zum Hass. Im Ton oft unkonventionell, stellt er viele starke Momentaufnahmen
vor, etwa „wieder drückt der abend die stadt an
die wand/ in der präzision eines bilds von canaletto legt/ die maserung eines verfrühten sommers
frei“.
Ihr Roman „Dinge, die wir heute sagten“ wurde für den Deutschen Buchpreis 2010 nominiert.
Jetzt legt Judith Zander, u. a. Absolventin des
Deutschen Literaturinstituts in Leipzig, ihren
ersten Lyrikband vor. Der ist sprachlich gewandt
geschrieben, wenngleich zu merken ist, dass Zander noch sehr von der Prosa bestärkt scheint. So
wäre es angebracht, zu ihren Texten Prosagedicht
zu sagen. Was ja nichts Schlechtes bedeutet. Wird
Zander sprachlich „experimentell“, klingt das
dann doch nach Das-kann-ich-auch. Zu empfehlen
ist der Schlussteil des Bands, „vergessen und
nachtfrost“ übertitelt. Verstreute Bilder, Momentaufnahmen ohne lauten Ton, umso anrührender.
Christoph W. Bauer |mein lieben mein hassen mein
mittendrin du| Nachwort Niklas Holzberg. Haymon 2011,
89 S., EurD/A 17,90/sFr 25,90
Herbert J. Wimmer |ganze teile| Klever 2010, 143 S.,
EurD/A 15,90
Judith Zander |oder tau| dtv Premium 2011, 100 S.,
EurD 11,90/EurA 12,30/sFr 17,90
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pro & c ontra
Die Strand- und Sommertage sind ja bereits vorbei, trotzdem will ich diese kurzweilige Lektüre empfehlen. Für den
herbstlichen Regennachmittag.
_
Doris Dörrie macht es sich ein wenig zu einfach. Lesevergnügen auf Kosten der Figuren zu bereiten, ist weder fair
noch fein. Und auch nicht witzig.
Natürlich hat es sie gegeben, ich kann mich selbst daran erinnern: An
Sonne, Meer und eine Urlaubsliebe genügen nicht, um glücklich zu machen.
jene Zeit, als Kinder noch Zufall gewesen und mitten drin herumwuDas wissen wir alle, doch wenn Doris Dörrie diese Binsenweisheit mit
selten. Dabei darf man heute eines nicht vergessen: Zu jenen Zeiten,
spitzer Feder ausmalt, dann sollte das für einen Nachmittag recht nette
in denen Doris Dörries Roman teilweise angesiedelt ist, gab es ja
Unterhaltung ergeben. Dörrie, mit dem scharfen Blick einer Film- und
schon unterschiedlichste Gruppen und Grüppchen. Da war bereits die
Opernregisseurin ausgestattet, kennt kein Mitleid. Gnadenlos werden ihre
gestrenge Maoisten-Formation, daneben das Häuflein von Trotzkis JünFiguren entkleidet und demaskiert, bis sie nackt und leblos im Pool schwimgern, außerdem natürlich die „ächte“ Kape-Fraktion, Wahrer der Wahrmen. Also eine wenigstens, die anderen werden seelisch gemordet. Die
heit, plus diverse Nebenströmungen. Plus – nicht vergessen, die große
Personen der Handlung: Ingrid, eine Mutter, die barbusig als Hippie
Gruppe all derjenigen, die mit dem Sektiererwesen nichts am Hut hat(deshalb muss die Geschichte 1976 beginnen) am Strand von Torremolite, die herumliefen in wahrlich buntem Gewand, ohne Haarschnitt (Männos Schmuck verkauft, und ihre damals und auch später unglückliche
ner), mit blankem Busen (Frauen); diese Abteilung, überschlagsmäßig
Tochter mit dem originellen Namen Apple; ein Bankangestellter, der
„Hippies“ genannt, war wohl die fröhlichste. Auch wenn es nicht immer
sich von den Brüsten der Hippiefrau betören lässt und seine Frau betrügt,
fröhlich gewesen. Geldmangel, die unterschiedlichsten Schlafplätze, die
die einsam mit Söhnchen Tim (das sich später zu Tina wandelt) in der
schönsten Sonnenaufgänge – aber hungrig. Naja. Wie das gewesen
wunderbaren Villa sitzt; 30 Jahre später erscheint eine andere Deutsche
und was daraus auch werden kann, das beschreibt Dörrie in ihrem „Alles
(dick natürlich), die unter hispanischen Sonnen den Mann ihrer Träume
inklusive“. Dass ein Mädchen Apple heißt, wirkt heute wohl viel
gefunden hat, der sich bald als Albtraummacho entpuppt, und eine deutwitziger, als es damals gewesen sein mag, egal, diese Apple ist eine
sche Journalistin (Frauenzeitschrift), die für ihren Mann samt neuer NieHauptfigur. Deren (frühes) Leben verfolgen wir ebenso wie ihren Zustand
re ein Haus an der Costa del Sol kauft, auf dass er genese. Das tut er
(!) an die dreißig Jahre danach. Während ihre Mutter, die Strandköniauch und entdeckt gleichzeitig sein schwules Ich.
gin von ehemals, immer noch leicht schwebend durch die Gegend
Alle diese Leute interessieren mich überhaupt nicht, weil ich sie auch nicht
tanzt, hat sich Apple, schon als Kind etwas schaumgebremst, wenig
wirklich kennen lerne. Sie sind nicht lebendig, lediglich Karikaturen,
mitgenommen für ein leichteres Leben. Beziehungsstörungen, Erinnegezeichnet ohne Gefühl und Respekt zur Unterhaltung der Pharisäer/innen,
rungsfelsen, noch nicht ganz flügge, wie es scheint.
die sich an die Brust klopfen: „Göttin, ich danke
Ach ja, wie das genau ausschaut mit ihrem gesdir, dass ich nicht so bin wie diese.“ Den vielen
trigen und gegenwärtigen Leben, wie es ihrer Mutkleinen Geschichten, manchmal von den Figuren
ter ging und geht, wie den anderen Hauptfiguren
selbst in Tagebuchform erzählt, wohnt keinerlei
Doris Dörrie |Alles
dieses Dramas ohne Aussicht, das muss man schon
Erkenntnisgewinn inne, und wenn die gute Apple
inklusive| Diogenes
selber lesen.
nach dreißig Jahren „entgeistert“ nach dem FischerNILS JENSEN
2011, 250 S., EurD 21,90/
dorf sucht, das Torremolinos einst war, dann wird
EurA 22,60/sFr 36,90
sie als Konstrukt geoutet und mein Interesse
schwindet unter den Nullpunkt. DITTA RUDLE
FLOTTER ABGANG
In Kjersti A. Skomsvolds Roman vom
Ausgeistern knapp vor dem Tod versucht
Mathea Martinsen noch ein paar Kurven zu
kratzen, ehe sie die große Kurve angehen
wird. Sie ist steinalt und kürzlich ist ihr
Mann gestorben, der mehr oder weniger
alles im Leben ausrechnen konnte. Denn er
war ein mathematischer Typ, weshalb er im
Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung
Epsilon genannt wurde.
Jetzt gilt es für Mathea, vielleicht noch
einmal Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen, aber eigentlich ist ihr das Alleinsein
lieber.
Eine Tombola im Altersheim ist auch
nicht gerade die ideale Kommunikation,
denn ungefragt sind es die Ungeziefer und
andere Tiere, die die Einsamen heimsuchen.
Eine gute Methode, neben dem Stricken
36
von Ohrwärmern noch einmal so etwas wie
Geschichte ins Leben zu bringen, ist das
Vergraben einer Zeitkapsel. Darin kann
man die wichtigsten Erinnerungen abspeichern, etwa wie Mathea vom Blitz getroffen wurde und wegen der minimalen Wahrscheinlichkeit des Ereignisses gleich Epsilon geheiratet hat. Denn bislang wurde
sie vom anderen Geschlecht stark abgelehnt
und man kriegt bekanntermaßen dicke
Oberschenkel, wenn man vom anderen
Geschlecht abgewiesen wird. Freilich hat
sie in der Folge mit vielen Unterhosen stark
verhütet, so dass sie kinderlos geblieben ist.
Der Hund Stein, der ersatzweise angeschafft
wurde, ist eines Tages freiwillig ins Wasser gegangen und ertrunken.
Als der Mann nach Spitzbergen ziehen
wollte, hat sie es mit Hinweis auf die Eisbären abwimmeln können, obwohl es auch
gegen Eisbären ein Mittel gibt, man braucht
jemanden, der langsamer ist und als Ersatz
gefressen wird. Und ein Leben lang hat der
Protagonistin die Banane gefallen, weil
sie geschlechtslos und sinnlos ist und sogar
Buddha beeindruckt hat.
Jetzt wird es genug sein, denkt sich die
Frau, die wegen ihres gekrümmten Rückens
verkehrt ins Wasser gehen muss, sie taucht
unter und alles ist klar.
Kjersti A. Skomsvold schreibt von diesen letzten Dingen mit einer Gelassenheit
und Fröhlichkeit, dass man als Leser aus
dem Staunen nicht mehr herauskommt.
HS
FAZIT So müsste man den
eigenen Abgang hinkriegen,
dann ist alles o.k.!
Kjersti A. Skomsvold |Je schneller ich gehe,
desto kleiner bin ich| Übers. v. Ursel
Allenstein. Hoffmann und Campe 2011,
144 S., EurD 18/EurA 18,50/sFr 28,90
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IM SCHATTEN DES VATERS
Michael Degen, Schauspieler und Schriftsteller, zeichnet in seinem neuesten Roman das
Bild des jüngsten Sohns von Thomas Mann,
gänzlich ohne Kitsch und Schnörkel, nüchtern, beinahe distanziert. Im Hause des Schriftstellers und Nobelpreisträgers geht es streng
und äußerst kühl zu, auch die zärtlichen Verniedlichungen der Namen der einzelnen Familienmitglieder vermögen darüber nicht hinwegzutäuschen. Mutter „Mielein“ ordnet ihr
gesamtes Tun und Denken ihrem beherrschten, kaum zu Empfindungen fähigen Ehemann
unter und bildet keineswegs einen sanften
Gegenpol zu Vater „Pielein“, der zu Michael,
„Bibi“, dem Jüngsten, ein noch seltsameres
Verhältnis als zu seinen anderen Kindern hat
– besser gesagt: gar keines. Der kleine Junge
liest nichts als Abscheu und Ekel in den Augen
des „Zauberers“ Thomas Mann, den er trotz
aller Enttäuschungen und Lieblosigkeiten bis
an sein Lebensende verehrt und um dessen Liebe er buhlt. Er selbst, Wunderkind auf der Violine, wird nach schwierigen Schuljahren und
Reibereien auf dem Züricher Konservatorium
tatsächlich Musiker, ein anerkannter noch dazu,
bevor auch er zur Feder greift, die Musik an
den Nagel hängt, Germanistik studiert und
DIE LANGE NACHT
DER TRAUER
Zwei Frauen sitzen in der Küche, später im
dämmerigen Garten, und reden, erinnern sich,
streiten ein wenig, denken lange nach, philosophieren und gehen dann wieder zu Belanglosigkeiten und Alltagskram über. Es sind die
Schwestern Tanja und Lisa, die eine Art Totenwache halten. Onkel Paul, heiß geliebter und
hoch verehrter Bruder der Mutter, liegt aufgebahrt im Wohnzimmer nebenan. Überraschend
kam sein Tod nicht, er litt an Bauchspeicheldrüsenkrebs, und als ihm die Ärzte nur noch
wenige Wochen an Leben zugestanden hatten,
wünschte er sich nach Hause. Damit meinte er
nicht die eheliche Wohnung, sondern sein Elternhaus, wo die Schwester ihre beiden Töchter aufgezogen hat, als deren Vater auf und davon
war und eine andere geheiratet hatte.
Onkel Paul, der das Denken und Handeln
der beiden nun erwachsenen Schwestern Lisa
und Tanja geprägt hatte, ob sie nun seinen Wünschen und Anweisungen gefolgt waren oder
genau das Gegenteil getan hatten, ist tot. Und
jetzt noch, da er im Wohnzimmer stumm auf
die Trauergäste wartet, die am Morgen eintreffen werden, eifern sie um seine Zuneigung.
Eifersucht und Sehnsucht nach Anerken-
sich der Herausgabe der Tagebücher seines
Vaters widmet. Ein unsteter Charakter, cholerisch, jähzornig, so wird Michael dargestellt.
Auch die Liebe und Hingabe seiner Frau Gret
kann ihn nicht besänftigen oder für die Kälte
im Elternhaus entschädigen. Er verfällt wie
seine älteren Geschwister dem Alkohol. Zu
seinen wenigen Bezugspersonen zählen ein
jüdischer Schulkamerad, der wie er nach Amerika ausgewandert ist, und sein Bruder Klaus,
Außenseiter, Homosexueller sowie begnadeter Schriftsteller, den er verehrt, liebt. Alkohol und Medikamente beenden Michaels
unglückliches Leben mit 57 Jahren.
In einer Sprache, wie sie sich ein anspruchsvoller Leser nur wünschen kann, wird das Bild
nicht nur eines Mannes, sondern einer ganzen
Familie entworfen, auf Fakten basierend, gut
recherchiert, nicht vordergründig wertend,
dennoch anrührend und packend auf nahezu
befremdende Weise; unsentimental wird die
Tragik eines Menschen aufgezeigt, zermalmt
im Bannkreis großer, herausragender Talente
und äußerer Einflüsse.
KAROLINE PILCZ
FAZIT Romanhafter, dennoch seriöser Einblick
in die Familie Mann. Gleichzeitig selbst ein ernstzunehmendes Stück deutscher Literatur.
Michael Degen |Familienbande| Rowohlt Berlin 2011, 476 S.,
EurD 22,95/EurA 23,60/sFr 34,90
nung, Wahrheit und Lüge und das ganze Gespinst, das wir Leben nennen, sind die zentralen Punkte, um die die beiden Schwestern in
dieser Nacht, da die Zeit aufgehoben scheint,
kreisen. Doch im Mittelpunkt steht immer Onkel Paul, der nicht nur Vater war, sondern auch
die Mutter ersetzt hat. Allmählich entsteht
das Bild einer Familie, die von einem egoistischen Tyrannen beherrscht wurde und an dessen Rand die einsame, blasse Figur der Frau
Onkel Pauls steht. Kleine Lügen werden aufgedeckt und große Geheimnisse gelüftet, nur
das letzte Geheimnis bleibt im Dunkeln. Gila
Lustiger, Übersetzerin, Lektorin, Autorin, hat
mit dem Familienroman „So sind wir“ (Buchkultur 99/2005) die Leserinnen erobert. Wie
es ihre Art ist, blitzt auch in ihrem jüngsten
Roman immer wieder ihr Humor durch, selbst
wenn der Grundton tragisch ist. Die Gespräche
und stummen Gedanken der Schwestern weiß
die Autorin so spannend zu schildern, dass man
weiter und weiter liest, auch wenn kaum etwas
passiert.
DITTA RUDLE
FAZIT Mit ausnehmender Kunstfertigkeit komponiertes Kammerspiel, das ganz klar auch von uns,
den Leserinnen, handelt.
Gila Lustiger |Woran denkst du jetzt| Berlin
Verlag 2011, 160 S., EurD 18,90/EurA 19,50/sFr 27,50
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M A R K T P L AT Z
MEMOIREN, GEFUNDEN IN
DER KUR-BADEWANNE
Szilárd Rubin, geboren 1927
in Budapest und im vergangenen Jahr verstorben, brachte
1963 den Roman „Kurze
Geschichte von der ewigen
Liebe“ heraus, der erst 2004
in Ungarn wiederentdeckt und nach der
Veröffentlichung der deutschsprachigen
Version 2009 auch jenseits der ungarischen (Sprach-)Grenze euphorisch als herausragendes Meisterwerk des 20. Jahrhunderts gefeiert wurde. Viel zu spät erfuhr
der „geistreiche Melancholiker“ Rubin
internationale Würdigung.
Nun liegt bei Rowohlt ein zweiter Titel in
deutscher Sprache vor, der sich erneut mit
einer unmöglichen Liebe beschäftigt. In
„Eine beinahe alltägliche Geschichte“ kurt
sich der in die Jahre gekommene Protagonist Levente Rostàs durch verschiedene
Heilbäder, um einerseits seiner lästigen
Schuppenflechte und andererseits seiner
Piroska zu entkommen. Ersteres ist ihm ein
Anliegen, zweiteres nicht – aber seine wohlmeinenden Freunde sind der Auffassung,
dass Levente sich selbst und auch ihre Nerven ausreichend mit den Wirren dieser
erneuten amour fou strapaziert habe und
arrangieren eine Auszeit für ihn.
In den Badewannen zwischen Karlsbad und
einem ungarischen Sanatorium reflektiert
der Schrifsteller Rostàs nicht nur über seine dramatisch-tragikomische Geschichte
mit Piroska, er erzählt seine Lebensgeschichte, die vom täppischen Knaben, den
alle für etwas dümmlich halten, bis zu seinen ersten literarischen Erfolgen reicht,
spöttelt geradezu anmutig und liebevoll
über die Marotten seiner schreibenden
Freunde – und erzählt über Ungarn in der
Nachkriegszeit. In einer kraftvollen und
zugleich zarten Poesie tunkt Rubin seinen
Protagonisten in goldene Ströme von Heilwasser, lässt ihn in den sehr frühen Morgenstunden ganz allein seltsame und berührende Symphonien aus den Leitungsrohren
hören, rettet ihn vor einem rachsüchtigen
Heilmasseur und lässt ihn die Qualen der
Liebe und des Schreibens erzählen. Beides
wider jede Vernunft …
SYLVIA TREUDL
Fazit: Eine melancholische Kostbarkeit, abgeklärt, traurig, heiter und bezaubernd.
Szilárd Rubin |Eine beinahe alltägliche Geschichte| Übers.
v. Andrea Ikker. Rowohlt 2010, 160 S., EurD 16,95/EurA 17,50/
sFr 25,90
38
RISS IM LEBEN
Das Ruder mit Mitte 40 herumreißen –
oder was tun, wenn klaffende Risse sich
abzuzeichnen beginnen? Alles andere als ein
Lebenshilferatgeber eines Midlifecrisis
geplagten Protagonisten ist Claudia Piñeiros
soeben erschienener Roman „Der Riss“. Der
Architekt Pablo Simó stellt sich schon lange weder Fragen zu seiner Ehe, noch zu
seinen beruflichen Ambitionen oder weshalb er – im Gegensatz zu seiner pubertierenden Tochter – keine Musik mehr zu hören
pflegt. Er hält seine gewohnte Ordnung aufrecht, der Caran-d’Ache-Bleistift exakt diagonal über dem Notizblock, in den er Tag
für Tag das gleiche elfstöckige Hochhaus
mit Ausrichtung nach Norden zeichnet, das
er niemals bauen wird. Er lebt seine sexuellen Phantasien über seine Kollegin Marta, mit der ebenfalls keine Annäherung stattfinden wird, während er mit seiner Frau Laura schläft. Er trägt die zweckmäßigen Hemden und Hosen, die Laura besorgt, obgleich
er ihre Farben verabscheut. Er denkt nicht
mehr an Nelson Jara, der im Betonfundament des Hauses, in welchem sich das Architekturbüro befindet, begraben liegt – und
WO DER KROKUS SPRIESST
Können Sie sich etwas unter dem Begriff
„Erdmöbel“ vorstellen? Indie-Pop-SpezialistInnen werden ob der dummen Frage verächtlich die Schulter zucken, denn natürlich
ist eine durchaus gefeierte Band aus dem Raum
Münster seit 1995 KennerInnen ein Garant
für Qualität. Der Terminus „Erdmöbel“ stammt
angeblich aus dem pittoresken Fundus der ehemaligen DDR-Sprachverregelung und meint
ganz sachlich „Sarg“. Der Songschreiber und
Sänger der „Särge“ ist Markus Berges, welcher bereits in seiner Eigenschaft als LyricsVerantwortlicher bei „Erdmöbel“ als Schöpfer von Geschichten „wie traumverloren hingeraunt“ (Die Zeit) gelobt wurde. Im vergangenen Jahr brachte die Formation ihr achtes
Album auf den Markt, das „Krokus“ titelt. Das
letzte Stück auf dem Tonträger heißt „September Nowak“. Und der Debütroman von
Markus Berges, der parallel zu den Songs für
das Album entstand, nennt sich „Ein langer
Brief an September Nowak“.
Dieser 200 Seiten starke Text, der so hinreißend ist, dass er beim Lesen zu kurz wird,
ist ein durch und durch gelungenes Roadmovie um die 19-jährige Betti aus einem kleinstädtischen Nest in Westfalen. Sehr zum Missfallen der Eltern macht Betti sich auf den Weg
seine ehemaligen Träume sind mindestens
ebenso leblos. Pablo Simó wartet; bis eines
Nachmittags eine junge Frau, einen schweren Rucksack über der Schulter, das Büro
mit der Frage nach Nelson Jara betritt, sie
habe etwas Persönliches mit ihm zu besprechen. In der Folge erhält Simó von seinem
Chef Borla den Auftrag, sich um sie zu kümmern, herauszufinden, wer sie ist und wie
viel sie weiß. Dass die Geschichte unvorhergesehen weitergeht, was es mit Nelson
Jara und mit seinem Status als einbetonierte
Leiche auf sich hat, wie sich Pablo Simós
Leben hierdurch zu wandeln beginnt, sei
vorerst nicht verraten. Nur so viel: Die Lektüre lohnt sich! Nicht nur für Liebhaber der
Architektur oder der Stadt Buenos Aires.
Ein weiterer klug gebauter Roman der
1960 geborenen Argentinierin Claudia
Piñeiro, die sich mit „Elena weiß Bescheid“
im letzten Jahr auch im deutschsprachigen Raum einen Namen machte.
MARLEN SCHACHINGER
FAZIT Spannend, unterhaltsam, intelligent –
schlicht: lesenswert!
Claudia Piñeiro |Der Riss| Übers. v. Peter Kultzen.
Unionsverlag 2011, 248 S., EurD 19,90/EurA 20,50/sFr 28,90
an die Cote d’Azur, um ihre langjährige Brieffreundin mit dem aufregenden Namen September Nowak zu besuchen. Endlich Monaco
live. Endlich das Palais sehen, in dem die mondäne September lebt. Endlich das wirkliche
Leben, inklusive der Yacht „Kismet“, auf der
ein österreichischer Josef kochen wird.
Es kommt ein klein wenig anders, als Betti nach anstrengender Zugfahrt an der Endstation Nizza anlangt. Es könnte eine Katastrophe sein, es könnte darauf hinauslaufen, dass
Betti, verzweifelt, betrogen und sich lächerlich gemacht fühlend, sofort wieder den Zug
Richtung Mutti und Vati besteigt.
Aber Betti nimmt die Herausforderung
an und ihre Neugier ernst. Es ist ihre große
Reise. In den folgenden Wochen trifft Betti
auf erstaunliche, schräge Personen, es ist nicht
ganz ungefährlich, worauf sie sich einlässt. Betti taucht ein in einen Sommer voller Erfahrungen, zu denen sich auch eine neu erwachte Liebe zur Architektur, zur Kunst gesellt,
Betti erlebt den Sommer ihres Lebens. Als sie
nach Hause zurückkehrt, ist sie erwachsen.
SYLVIA TREUDL
FAZIT Ein zauberhaftes Roadmovie, poetisch
angelegt wie ein Spiegelkabinett.
Markus Berges |Ein langer Brief an September Nowak|
Übers. v. Dieter E. Zimmer (Zitat S. 206). Rowohlt 2010, 208 S.,
EurD 18,95/EurA 19,50/sFr 28,90
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
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WIEDER
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VON RICHARD CHRIST
BALTASAR GRACIÁN
Der Krieg in seiner
ganzen Wahrheit
Erschreckend, bewegend und
fesselnd wie ein Roman:
Peter Englunds Meisterwerk
über den Ersten Weltkrieg
Auch als
E-Book
©Getty Images
Wenige Bücher haben wie Graciáns „Hand-Orakel“ ihre Gegenwart wie
auch die Epochen danach beeinflusst. Es ist das in der Welt meist gelesene Werk der spanischen Literatur. Viele sehen in dem Jesuitenzögling und
Theologieprofessor Baltasar Gracián einen Vorläufer der europäischen
Aufklärung, indes hatte er auch philosophische Gegner, Voltaire zum Beispiel hielt ihm Verworrenheit des Denkens vor, manche argwöhnten bei
ihm Unmoral. Gracián, 1601 geboren, stammte aus der Region Zaragossa
und trat sehr früh dem Jesuitenorden bei. Der Jesuitenorden jedoch witterte in Graciáns Texten eine feindselige Haltung und erteilte dem Gelehrten zeitweise Publikationsverbot.
Gracián gibt mit seinen Aphorismen Verhaltenshinweise, nicht aber Gesetze für den Gerechten oder Ratschläge für den Weisen. Gracián war
einer der gelehrtesten Männer seines Zeitalters, er versammelte ein riesiges Wissen über Theologie und alte Sprachen. Schon in jungen Jahren
stand er einer Bibliothek vor und lehrte lateinische Grammatik. Er lebte in
der Zeit des absolutistischen Königs Philipp IV.; das spanische Weltreich
hatte unter seiner Herrschaft schwere politische und religiöse Konflikte; es wurde zum Ursprungsland der Gegenreformation. Trotzdem entwickelte sich ein Goldenes Zeitalter (Siglo de oro) der Literatur und Kunst;
Graciáns Zeitgenossen waren zum Beispiel Ribera
(Schule von Valencia), Velásquez (Kastilische
Schule) und Morillo (Schule von Sevilla).
Gracián verwendet in seinem „Hand-Orakel“ viele
Gedanken antiker Autoren – vor allem Plato, Aristoteles
und die Römische Stoa, von ihr besonders Seneca.
Gracián hebt in seinen dreihundert Aphorismen des „Hand-Orakels“ das
Gefühl für menschliche Würde hervor. Er unterstreicht die soziale Bedeutung des Individuums, besonders dessen Rechte gegenüber der Verfügungsgewalt der Feudalherren und der Willkür der katholischen Autoritäten. Zum ersten Mal in der Neuzeit regte sich ein Geist, der die unterschiedlichsten Bereiche von Kultur, Politik und Geschichte als wissenschaftliche Fächer behandelt. Unter den dreihundert Aphorismen finden
sich viele, die auch in einer Epoche ohne einen autoritären Herrscher ihre
Wahrheit behalten haben.
Gracián bewahrte den Kontakt zum ungelehrten und ungebildeten Mann.
Er wurde Feldkaplan und nahm an der Schlacht von Lérida 1646 teil, wo
die von französischen Truppen unterstützten katalanischen Separatisten
besiegt wurden. Seine Fürsorge für die Verwundeten und sein Beistand
für die Sterbenden wie auch sein persönlicher Mut brachten ihm bei den
Soldaten den Ehrentitel „Pater des Sieges“ ein. Baltasar Gracián starb
1658 in Spanien eines natürlichen Todes.
Das „Hand-Orakel“ wurde von dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer meisterhaft übertragen. Er wurde durch diese Arbeit auch
angeregt zu seinen misanthropischen „Aphorismen zur Lebensweisheit“.
Baltasar Gracián |Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit| Hg. v. Otto Taube, Übers. v. Arthur
Schopenhauer. Insel 2008, 136 S., EurD 10,80/EurA 11,10/sFr 16,50
Baltasar Gracián |Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit| Übers. v. Arthur Schopenhauer.
Diogenes 2003, 272 S., EurD 9,90/EurA 10,20/sFr 16,90
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
704 Seiten. Gebunden
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06.09.2011
17:13 Uhr
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VERKNÜPFT
Einen besonderen Erzählreigen entspinnt Mark Watson in seinem Roman, denn darin verknüpft er
die Schicksale mehrerer Personen. Sie kennen sich zwar nicht, doch ihr Handeln hat Auswirkungen
auf das Leben der anderen. Gewissermaßen im Mittelpunkt steht der Radiomoderator Xavier, der sich
in London einen neuen Namen zulegte und ein neues Leben aufgebaut hat. Das Unglück in seiner
Vergangenheit möchte er vergessen. Nun ist er Moderator einer Nachtsendung, in der Anrufern Tipps
bei Problemen gegeben werden. Nur in seinem Privatleben zeigt er sich nicht als Problemlöser, sondern versucht sich eher zu drücken.
Und genau darum geht es Watson, er will nämlich zeigen, wie notwendig es manchmal ist, sich in das Leben anderer einzumischen.
Bei Xavier beginnt die Änderung mit seiner Putzfrau, die er auf einem Speeddatingabend kennenlernt. Mit viel Witz und genauer
Beobachtung knüpft Watson unterhaltsam Geschichte an Geschichte und findet gute Querverbindungen. Interessiert folgt man dem
Wandel von Xavier und ist überrascht über die Einfälle von Watson, die gekonnt zwischen Melancholie und Ironie irrlichtern.
LB
Mark Watson |Elf Leben| Übers. v. Stefanie Jacobs. Eichborn 2011, 272 S., EurD 19,95/EurA 20,60/sFr 28,50
Die Idee für seinen zwar schmalen,
doch eindringlichen Roman kam
Gilles Leroy, als er in Alabama an
seinem vorherigen Buch („Alabama Song“) arbeitete. Da sah er im
Fernsehen einen Film über die Flutkatastrophe in New Orleans. Dabei
sah er eine Afroamerikanerin, die
aus dem Fenster ihres Hauses blickte und auf Hilfe zu warten schien,
während das Wasser höher stieg.
Eine Afroamerikanerin ist auch seine Titelheldin. Zola Jackson ist eine
ehemalige Lehrerin, die mit ihrer
Hündin allein wohnt und sich weigert, ohne ihren Hund das Haus
vor der anstehenden Katastrophe
zu verlassen. Ihr Mann verstarb
schon vor Längerem, auch ihr Sohn
Caryl starb an Krebs. Sie ist alleine und denkt vor allem an die Vergangenheit. Sie ist verbittert geworden, auch eigensinnig und trinkt
aus Überdruss noch ein Bier. Leroy
hielt sich bei seiner Geschichte an
die Chronologie der Ereignisse von
2005 und erzählt dabei in Rückblenden und Einschüben auch eine
Geschichte von Rassismus, Homophobie und Diskriminierung. Daraus wird ein nahegehender Monolog auf engstem Raum vor einer
dramatischen Kulisse. Nicht zuletzt
will man erfahren, ob Zola und ihre
Hündin das Unglück überleben.
SE
Gilles Leroy |Zola
Jackson| Übers. v.
Xenia Osthelder.
Kein & Aber 2011, 176 S.,
EurD 18,90/EurA
19,40/sFr 27,50
40
FERNLIEBE
Gegen das ewige Abenteuer der
Liebe ist jede Expedition nur ein
kleines Blatt im Dschungel der
Gefühle. In Peter Steiners Roman
gibt es beides, bei einer Expedition stürzt der Ich-Erzähler an Bord
eines Helikopters ab, und der Sturz
ist so gewaltig, dass nach einem
knappen Vierteljahrhundert eine
große Liebe daraus hervor wuchert.
Der Botaniker und Ich-Erzähler
Lorenzo fliegt in den entlegenen
Urwald Boliviens, um für einen
Pharmakonzern eine seltene Heilpflanze zu erkunden. Mit im Camp
ist seine Tochter, die von ihrer
Freundin Marlies begleitet wird.
Einmal erhascht der Forscher einen
magisch-erotischen Blick von Marlies Körper, und schon ist es um
ihn geschehen. Im zweiten Kapitel, dreiundzwanzig Jahre später,
sind rundherum die Liebschaften
ad acta gelegt und der Erzähler hat
sich auf einen mondänen Villenhügel zurückgezogen. Aus heiterem Himmel erhält er einen Brief
von Marlies.
Beim alten Ich-Erzähler geht es
nun hormonell rund. Peter Steiner
hat die ungestümen Phasen einer
Fernliebe in die Körper abgeklärter, ausgereifter Figuren gelegt. Der
Sturz aufs Dach der Welt ist gewissermaßen der Beweis für die Zeitlosigkeit der irdischen Gefühle,
eine wohltuend
romantische VorHS
stellung.
Peter Steiner |Der Sturz
aufs Dach der Welt|
Otto Müller 2011, 169 S.,
EurD/A 18/sFr 27,50
HELD VOLLER
ROMANTIK
SEX MIT WÜRDE
In diesem Songspiel nach einem
Text von Franzobel wird die Welt
am Beispiel des ältesten Gewerbes abgehandelt. Die Szenerie ist
authentisch, an der Grenze steht
ein kleines Puffhäuschen, das vor
allem die Männer von drüben
bedient. Zuckergoscherl und Ferkel treten als schwache und starke
Prostituierte auf. Die Puffmutter
Rosl managt den Laden mehr
schlecht als recht, vor allem Bussibär und Kirschgarten müssen als
alter und junger Mafioso in Schranken gewiesen werden.
Die Wirtschaftskrise erreicht
auch das kleine Bordell, die Geschäfte gehen schlecht, und so beschließen die Frauen, aus dem System der Ausbeutung auszusteigen
und die Dienste gratis beziehungsweise gegen freiwillige Spenden
auszuführen. So kriegt der Sex wieder seine Würde zurück und die
Mafiosi schauen mit ihrem Inkasso durch die Finger. Bordello Ballade erhöht schon durch den operettenhaften Charakter das Geschehnis ins Grotesk-Nachdenkliche. So endet das Stück mit einem
gesellschaftlichen Patt, nach dem
Muster Brechts, der im Vorspann
ausdrücklich als Ahnvater dieses
Gesellschaftsstücks angesprochen
wird. Musik und Idee stammen
übrigens von Moritz Eggert.
HS
Franzobel |Bordello
Ballade. Ein DreiGoscherl-Songspiel
mit Spelunkenliedern|
Kyrene 2011, 47 S.,
EurD/A 10,90
Faustini ist ein aufmerksamer
Zeitgenosse mit geradezu übersinnlichen Empfindungen für den
Alltag. Die neuen Abenteuer des
Herrn Faustini nennen sich
schlicht Augenblicke. Da irrt er
angewidert vom letzten Wahlsonntag in Vorarlberg herum;
so zeigt er nach dem Zufallsprinzip im Atlas auf einen Ort namens
Edenkoben in Rheinland-Pfalz
und reist, nachdem ihn die Zugsauskunft persönlich betreut hat,
dorthin.
Edenkoben hat den Höhepunkt des Städtedaseins schon
hinter sich, jetzt wuchert es unauffällig zwischen Volksfesten,
Weinlese und vergangenen Denkmälern dahin. Manche Erkenntnisse Faustinis können gar als
Faustini-Faustregeln gelesen werden. Wolfgang Hermann erzählt
die Abläufe Satz für Satz von
innen her, quasi von der anderen Seite des Sichtbaren. Jede
noch so unauffällige Kleinigkeit
ist in Wirklichkeit das Ergebnis
einer großen Geschichte.
Herr Faustini ist ein Held voller Romantik, kindlicher Aufgeregtheit und ungebrochener
Entschleunigung. Gerade weil er
so genau und schräg auf die Dinge schaut, entdeckt er überall nur
Sachlagen, die beinahe aus den Fugen
geraten sind. HS
Wolfgang Hermann |Die
Augenblicke des Herrn
Faustini| Haymon 2011,
135 S., EurD/A 17,90/sFr 25,90
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
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VOR DEM
UNTERGANG
Der Thriller-Star eröffnet die Jagdsaison.
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SELBSTMORDFIEBER
Für jene, die bewährte Serienkillerkost gewöhnt sind, mag der
dritte Krimi des französischen
Autors Antonine Varenne wahrscheinlich nichts sein. In Frankreich war er ein großer Erfolg
und hat wichtige Preise abgeräumt, doch zu
schräg, zu abgedreht sind die Figuren und zu
verwinkelt die Handlung. Wer allerdings nach
neuen Stimmen sucht und auch ungewöhnliche Szenarien schätzt, wird hier gut bedient.
Es beginnt schon bei den Ermittlern. Rätselhafte Selbstmorde geschehen in Paris. Da
läuft ein Mann nackt auf einer vielbefahrenen Straße auf die Autos zu und wird von
einem LKW frontal erwischt. Im Museum
springt ein anderer auf das Gerippe eines
Wals und lässt sich von einem Knochen
durchbohren. Schließlich verblutet ein Fakir
in einem Sado-Maso-Lokal, weil er sich
während seiner Show an Fleischerhaken aufhängen ließ. Zuständig für Selbstmorde ist
Kommissar Guérin, ein strafversetzter Sonderling, der in einem kleinen Büro unterm
Dach arbeitet, gemeinsam mit seinem Assistenten Lambert. Wie ein Besessener sucht er
nach Verbindungen, und dabei kratzt er sich
manchmal so intensiv, dass seine Kopfhaut
blutet. Von den Kollegen werden die beiden
scheel angesehen, denn Guérin galt zwar als
außergewöhnlicher, aber unbestechlicher
Ermittler. Zu dieser Zeit kommt der amerikanische Psychologe John Nichols nach Paris.
Er war ein Freund des Fakirs Alan und soll
seine letzten Dinge regeln. Er glaubt nicht an
einen Selbstmord, sondern denkt, die Gründe
liegen in Alans Vergangenheit, der im Irak
Mitglied einer Sondereinheit der CIA war und
dort folterte. Nichols schrieb seine bislang
unveröffentlichte Doktorarbeit über das
Sankt-Sebastion-Syndrom. Dabei wird ein
einstiger Folterer zum Masochisten, der sich
selbst zugrunde richten möchte. Bei ihren
Nachforschungen treffen Nichols und Guérin
zusammen. Nun zeichnet sich doch eine
Lösung zumindest für einen Fall ab, und die
Spur scheint in die US-Botschaft zu führen,
wo ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher
arbeitet. Doch ein gutes Ende gibt es eigentlich nicht. Manches hätte vielleicht noch
erklärt werden können, etwa wie die Übertragung von Folterer zu Masochisten funktioniert, doch so bleiben immerhin Felder für
Mutmaßungen.
SE
Fazit: Ungewöhnlicher Krimi, raffiniert
gezeichnet.
Antonine Varenne |Fakire| Übers. v. Claudia Steinitz und Tobias
Scheffel. Ullstein 2011, 493 S., EurD 18/EurA 18,50/sFr 24,90
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FORTSETZUNG DER
WARINGHAM-SAGA
Das Epos um das Geschlecht derer von
Waringham geht weiter. In gewohnter Seitenstärke und Opulenz entführt Rebecca Gablé
ihre Leser nun ins England des 16. Jahrhunderts. Der junge Nick of Waringham verliert,
kurz nachdem er die Schule von Sir Thomas
More frühzeitig verlassen hat, seinen Vater, der
als Ketzer angeklagt worden ist. Plötzlich ist
er auf sich selbst gestellt, seine Baronie heruntergewirtschaftet, die böse Stiefmutter gegen
ihn. Im Reich herrscht Unfriede, weil sich
König Henry VIII. gegen den Papst stellt, um
die Annulierung seiner Ehe mit Catalina von
Aragon zu erreichen und Anne Boleyn ehelichen zu können. Seine Tochter, Prinzessin Mary,
steht dem gleichaltrigen Nick sehr nahe. Die
Dinge nehmen ihren turbulenten Lauf. Der
blutjunge Waringham durchlebt mit seinen
Gefährten Abenteuer, die so waghalsig und
unwahrscheinlich anmuten, dass sie schon wieder realistisch wirken, eingebettet natürlich in
das historische Geschehen um Heinrich den
Achten und seine sechs Ehefrauen sowie die
damit verbundene politisch-geistliche Neuordnung des Königreichs England. Das, was
manchmal in eine nahezu triviale Abenteuergeschichte abgleitet, deren Held alles Glück
der Welt in den größten Miseren erfährt, erhält
LIEBE ZWISCHEN MORD
UND TOTSCHLAG
Dem Erzbischof von Köln und Kurfürsten
des Hl. Römischen Reiches, Clemens August
I., widmet Tilman Röhrig seinen jüngsten
Roman. Als Folge des spanischen Erbfolgekriegs verbrachte Clemens August, Sohn des
Kurfürsten Max Emanuel von Bayern, seine
Schulzeit in österreichischer Ehrenhaft und lebte in Klagenfurt und Graz. Sein Vater hatte ihn
zum Geistlichen bestimmt, um seinen eigenen
Machtbereich zu vergrößern. Clemens August
zögerte nicht, Titel um Titel, Amt um Amt auf
sich zu ziehen. Diese Ämterkumulierung gab
dem „Sonnenfürsten vom Rhein“ auch Macht
und Ansehen.
Doch Röhrig widmet sich mehr dem Innenleben des sensiblen Kunstmäzens und leidenschaftlichen Bauherrn. Im Zentrum steht die
innige Freundschaft von Clemens August mit
dem Freiherrn von Roll. Die (niemals gelebte)
Liebe endet tragisch. Johann Baptist von Roll
wird ermordet. Im Duell erstochen, heißt es
offiziell. Doch es gibt Zeugen für den feigen
Mord, und Clemens August schwört Gerechtigkeit und Rache.
unbestritten Qualität durch das Einbringen
von genauen historischen Fakten, die seriös
recherchiert und dem Leser durch brillant
gezeichnete Szenen nahe gebracht werden.
Natürlich ist von Anfang an klar, dass alles gut
enden wird. Von der bösen Schwiegermutter
über den tugendhaften Mentor und den gottesfürchtigen, unauffälligen Retter bis hin zu
den politischen Intriganten ist das Inventar
einer guten Komödie vollzählig. Stellenweise
plakativ erzeugt Gablé dennoch einen Kosmos,
dem man sich unschwer entziehen kann. Man
möchte doch wissen, welche Wendungen die
Geschichte noch nimmt, um die Helden zu
retten. Eines muss man ihr lassen: Ihre Romane entbehren nicht der Spannung, auch nicht
der fünfte Band der Waringham-Saga. Ausgehend von früheren Romanen erfindet Gablé
stets Neues, nichts, das man schon kennen würde. Nur hat man als Leser die alten Geschichten und Figuren (die freilich nicht zum Verständnis der aktuellen Handlung nötig sind)
nicht immer so parat, wie man gern möchte.
Eine Stammtafel der Waringhams wäre wünschenswert.
KAROLINE PILCZ
FAZIT Gewohnte Spannung, brillant vermengt
mit Historischem. Lebendige Geschichte als
leichte Kost. Gehobene Unterhaltung für
ausdauernde Leser.
Rebecca Gablé |Der dunkle Thron| Lübbe 2011, 956 S.,
EurD 24,99/EurA 25,70/sFr 35,50
Höfischer Alltag und höfische Feste, Intrigen, Machtkämpfe, Spionage in allen Ecken
und auch des feinfühligen Fürsten Privatleben,
das er bald mit der Harfenspielerin Mechthild
Brion teilt, ergeben einen spannenden Roman,
dessen politischer Hintergrund in Österreich
liegt. Angelpunkt ist die von Kaiser Karl VI.
geplante „Pragmatische Sanktion” (ein Dokument, um die Erbfolge der habsburgischen Reiche neu zu ordnen). Die europäischen Mächte
waren gespalten, vor allem Karl Albrecht, Kurfürst von Bayern, der Bruder Clemens Augusts,
erhob selbst Anspruch auf das habsburgische
Erbland. Sein Bruder in Köln sollte an seiner
Seite stehen. Dessen Zögern wurde mit brutaler Gewalt geahndet. Dass das Leben im 18. Jh.
noch so barbarisch war, dass Menschen, waren
sie nicht in Schlösser hineingeboren, nichts galten und ohne Zögern ermordet wurden, ist eine
erschreckende Erkenntnis, die Röhrig den Leserinnen nicht erspart.
DITTA RUDLE
FAZIT Einige Jahre aus dem
Leben eines Sonnenfürsten,
spannend und unterhaltsam und
voller Überraschungen.
Tilman Röhrig |Der Sonnenfürst| Piper 2011,
448 S., EurD 19,99/EurA 20,60/sFr 29,90
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
06.09.2011
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SCHMAUCH
SPUREN
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Biedermänner und Brandstifter, Chefober und Lustmörder,
Leutefinder und Kleinstadt-Gangster: PETER HIESS liefert diesmal
ein Wienkrimi-Special, umrahmt von zwei amerikanischen
Abenteuern.
VON PETER
HIESS
Für einen Privatdetektiv ist Leonid McGill im
Privatleben ungewöhnlich stark gebeutelt: Er ist
in eine Frau verliebt, mit der er nicht zusammen sein kann; mit einer ungeliebten Gattin und
mit drei Kindern geschlagen, deren zwei nicht
von ihm sind; fünfzig vorbei und ohne große
Zukunft. Und eigentlich wäre er sowieso lieber
Boxer geworden.
Krimifreunde, die jetzt einen klischeehaft traumatisierten PI erwarten, dürfen dennoch beruhigt aufatmen: Walter Mosleys neuer Antiheld
wirkt in seinem Romandebüt Manhattan Karma realistisch und sympathisch, samt Kommunistenvater und Rassismusproblematik. Und das
ist ein Kunststück bei einem Protagonisten, der
Spezialist für das Auffinden von Menschen ist
und das auch für die Mafia schon oft getan hat
– mit tödlichen Folgen. Gerade als Leonid sauber werden will, läuft ihm ein Auftrag über den
Weg, bei dem er wieder vier Männer finden soll.
Dummerweise werden auch die alle ermordet,
sobald er sie aufgespürt hat, so wie sein Auftraggeber. Und er selbst steht ebenfalls auf der
Abschussliste … Mosley liefert mit „Manhattan
Karma“ nach langem wieder ein lesbares, erfreuliches und spannendes Buch ab. Verzeihen wir
ihm also, dass sein Erstling „Teufel in Blau“ Bill
Clintons Lieblingskrimi war. Man kann es sich –
wie auch Detektiv McGill weiß – im Leben halt
nicht immer aussuchen.
Auch dem Krimirezensenten passiert oft Uner-
FOTO: ANGELIKA HERGOVICH
wartetes – zum Beispiel die neue Lieferung des
auf Regionalkrimis spezialisierten Gmeiner Verlags, der in seinem aktuellen Programm gleich
vier Genrevertreter aus Wien vorstellt. Da will
der Autor dieser Zeilen seine Herkunft nicht verleugnen und stürzt sich ins Leseabenteuer …
Neue
Krimis
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
Gerhard Loibelsberger setzt seine Serie um den
ebenso dicken wie findigen Inspektor Nechyba, der in den letzten Jahren der Monarchie
ermittelt, mit dem Roman Mord und Brand
äußerst erfolgreich fort. Diesmal jedoch stehen
nicht Nechyba und sein Journalistenfreund Goldblatt im Mittelpunkt, sondern ein Duo infernal,
das sich fast moritatenmäßig durchs alte Wien
mordet wie das gutgelaunte Pärchen in „Natural Born Killers“: Frantisek Oprschalek – ein ehemaliger Arbeiter, der in seinem privaten Kampf
gegen den Kapitalismus die Besitzenden massakriert und ihre Häuser abfackelt – und sein
Freund, der Berufsverbrecher Nepomuk Budka.
Wie sich die beiden durch Hotels und Kaffeehäuser, Zimmermädchen und Vermieterinnen,
Fabriken und Holzlagerplätze morden und brennen, das ist einfach wunderbar erzählt und
beweist A., dass wir keine kindheitsgeschädigten Serienkiller aus den USA brauchen, weil
wir selber bessere haben, und B., dass Gerhard
Loibelsberger mit diesem Roman nicht nur den
Regional-, sondern auch den historischen Krimi eigenhändig aus der Krise reißt, sodass wir
C. bitte mehr von ihm lesen wollen.
Vom 2008 verstorbenen Pierre Emme erscheinen weiterhin regelmäßig Bücher, als
würde er posthum eifrig weiterschreiben.
Obwohl: Bei Zwanzig/11, seinem Versuch eines
in Österreich angesiedelten Polit-Thrillers, hat
er sich eventuell etwas zu sehr von den Versuchungen im Jenseits ablenken lassen. Die
Geschichte, wie sein Protagonist Max Petrark
nach dem Autounfall des Bruders in ein globales Terrorkomplott à la 9/11 verstrickt wird,
liest sich viel zu langatmig, hält sich ewig mit
familiären und weltpolitischen Betrachtungen
auf und hätte noch stark überarbeitet werden
müssen.
Hermann Bauer lässt in Philosophenpunsch
Andreas Pittler liefert in Mischpoche 14 zum
Teil durchaus witzige Stories um seinen Ermittler David Bronstein aus der Zwischenkriegszeit
ab. Nur: Die versprochenen „Wiener Kriminalgeschichten“ findet man hier leider nicht,
sondern eher Vignetten um historische Ereignisse, bei denen der Polizist oft nur eine Statistenrolle spielt und kaum ermitteln darf. Man
merkt, dass der Autor Politikwissenschaftler
ist und sich in der Landesgeschichte auskennt
– aber das Ergebnis ist dann doch mehr Schulfernsehen als Straßenfeger-Krimiserie.
wieder seinen Kaffeehauskellner Leopold aus
Floridsdorf in Sachen Mord und Totschlag ermitteln; diesmal um die Weihnachtszeit, mit Liebesg‘schichten und Familiensachen. Man merkt,
dass Bauer von Buch zu Buch besser wird, stringenter erzählt und mehr Atmosphäre aufbauen kann – insofern ist seine Story um schlamperte Studentinnen und gescheiterte Häfenphilosophen wirklich liebens- und lesenswert,
obwohl sie halt eher auf Stimmung setzt als auf
Spannung.
Und weil kein Platz mehr ist, schnell noch
im Telegrammstil: Murder Is My Business von
Brett Halliday. Würdiger Abschluss der ersten
Staffel von Hard Case Crime, der wunderbaren
Pulp-Serie. Held: der leider fast vergessene
coole Privatdetektiv Mike Shayne. 40er-Jahre,
El Paso, Kleinstadtkorruption, Silberminen,
Nazispione, verwickeltes Komplott. Routiniert
erzählt, beste Unterhaltungslektüre. Bitte
weitermachen!
Hermann Bauer |Philosophenpunsch|
Gmeiner TB 2011, 273 S., EurD 9,90/
EurA 10,20/sFr 14,90
Brett Halliday |Murder Is My Business|
Pierre Emme |Zwanzig/11|
Gmeiner TB 2011, 322 S.,
EurD 11,90/EurA 12,20/sFr 17,90
Gerhard Loibelsberger |Mord und Brand|
Gmeiner TB 2011, 328 S., EurD 12,90/EurA
13,30/sFr 18,90
Hard Case Crime (Dorchester Publ.)
2010, 223 S., 7,99 US-$
Walter Mosley |Manhattan Karma| Übers.
v. Kristian Lutze. Suhrkamp TB 2011, 389 S.,
EurD 9,95/EurA 10,30/sFr 14,90
Andreas Pittler |Mischpoche| Gmeiner
TB 2011, 324 S., EurD 11,90/EurA 12,20/
sFr 17,90
43
43-54 TB_SB
06.09.2011
17:18 Uhr
Seite 44
M A R K T P L AT Z | TA S C H E N B U C H
TRUNKENE
SCHLAGSCHATTEN
ALLTAGSWAHNSINN
Ein ganzer Kontinent kann sich innerhalb
von Minuten in zig Variationen zeigen, je
nachdem, worauf man bei diesem kontinentalen Blick achtet.
Serhij Zhadan beschreibt die musikalisch-philosophische Lage der Gesellschaft aus der Sicht eines Erzählers, der
als aktiver Musiker, als Undergroundler,
als Geheimjournalist oder auch bloß als
verspielter Fan in die Epizentren der Szene reist, Ukraine, Wien, Linz, Berlin beispielsweise. Der Kern dieser elf Erzählungen ist 2003 entstanden, seither werden diese Texte regelmäßig upgedatet
und ergänzt.
Schon die erste Erzählung „Berlin“ führt
perfekt jene Methode vor, mit der gesellschaftliche Verschiebungen, das Zusammenprallen von Nostalgie und glatter
Zukunft analysiert werden. Während
einer undefinierbaren Reise durch die
Musik-Galaxie brechen ein paar Untergrund-Musiker von Wien auf, um in Berlin
vielleicht das zu finden, was sie vage im
Auge haben, eine Szene, die sowohl für
die Gegenwart authentisch ist, als auch
eine Zukunft verspricht. Der Sinn dieser
Reise besteht im Durchtasten einer
Nacht in einem klapprigen Auto, im sich
Zurechtfinden in einer amorphen Geografie und im sauber kalkulierten Trinken. Der Sixpack erweist sich als ideale
Dosierung von generell düsteren Erlebnissen.
Territorialgewässer in der Badewanne,
Pornogefühle an der Bushaltestelle eines
irren Städtchens, verrückte bisexuelle
Gefühle, Wodka als Gleitmittel durch die
Nacht, die Einmaligkeit toter Objekte
oder das Gefühl einer totalen Evakuierung beim Betreten eines Bahnhofs
sind weitere Schlagschatten in diesen
mit dem wildem Sound einer inneren
Anarchie vorgetragenen Erzählungen.
Serhij Zhadans Geschichten sind aufregend durch den Untergrund der Gesellschaft gebuddelt, die postsowjetischen
Zustände zeigen sich nicht nur in der
Ukraine, sondern auch in Berlin und
Wien, das ist das Überraschende dieser
Texte.
HS
Geschichten nicht an, aber schön schräg sind sie allemal.
Ihr Zentrum haben sie in der bayerischen Provinz, und von
dort geht es schon mal statt in den Süden in den hohen Norden auf Sommerurlaub. Es ist eine kleine Sammlung „hilfreicher“ Geschichten, die manchmal ins Schräge und Absurde abgleiten und wo man viel über die Persönlichkeit und
das Umfeld von Georg Ringsgwandl erfährt. Er war kardiologischer Oberarzt am Klinikum in Garmisch-Partenkirchen, ehe er mit 45 das Handtuch warf und sich beruflich der Musik und dem Kabarett verschrieb und wo er im
schrillen Outfit zu sehen ist. Er hat viel und schmissig zu
erzählen, seine Wendungen sind oft überraschend und dann
doch jedes Mal plausibel. Kurzweilig und verblüffend.
Ringsgwandl: „Es gibt Künstler, die nicht besonders intelligent sind. Die straft Gott
durch Schönheit.“
Ringsgwandl |Das Leben und Schlimmeres| rororo 2011, 256 S., EurD 9,99/EurA 10,30/sFr 14,90
ANEKDOTISCH
Anekdoten sind auf alle Fälle kurzweilig. Sie erzählen einen außergewöhnlichen Vorfall
oder bemerkenswerten Sachverhalt, sind manchmal kurios, manchmal sehr erhellend. Aus
allen Zeiten sind Anekdoten überliefert. Es kann sich um Herodot handeln oder Konfuzius, um Friedrich den Großen oder die Autorin Ricarda Huch. Obwohl sie gewissermaßen
ein geschichtlicher Splitter sind, spiegelt sich doch in ihnen Weltgeschichte und als Streiflichter fallen sie auf die gesamte Geschichte. Diese Miniaturerzählungen, eigentlich ein literarischer Bastard, wie der Herausgeber erklärt, können doch historische Wahrheiten offenbaren. Man muss nur wissen wie.
Versammelt sind Anekdoten der Weltgeschichte, die in kürzeren Essays historisch
erklärt werden. Insgesamt 27 Geschichtsanekdoten haben Herausgeber Matthias Steinbach
und sein Autorenteam vorwiegend aus dem Umfeld der TU Braunschweig und der Uni
Jena zusammengetragen und auf ihre mindestens doppelte Wahrheit untersucht.
Es finden sich bekannte Geschichten, aber auch so manche entlegene Erzählung. Etliche
Zusammenhänge sind wirklich überraschend. Wer sich weiter damit befassen möchte, findet zu jedem Kapitel anregende Literaturhinweise. Ein erfrischendes Geschichtsbuch.
Matthias Steinbach (Hg.) |Wie der gordische Knoten gelöst wurde| Reclam TB 2011, 250 S., EurD 12,95/EurA 13,40/sFr 18,90
UNTERWEGS
Mit ihrem Kommissar Kluftinger haben Volker Klüpfel und Michael Kobr einen Kulthelden geschaffen. Das liegt einerseits am Allgäuer Kommissar, aber andererseits an den Autoren selber. Ihre Lesungen werden geschätzt und vermitteln viel Witz und Esprit. Live sind
sie besser als etwa im Hörbuch. Durch ganz Deutschland und Österreich sind sie schon
getourt. Naheliegend war deshalb, über diese Reisen auch ein Buch zu schreiben, um zu
erzählen, was man als Autorenduo so erlebt. Wie man sich mit Veranstaltern einigt und mit
Fotografen umgeht. Kurzweilig wird der Vorhang gelüpft, um hinter die Kulissen zu
blicken. Das Erlebnisbuch gibt es auch in einer limitierten Fan-Edition mit einer DVD. Aufgezeichnet wurde eine Live-Act-Lesung des Romans „Laienspiel“.
Volker Klüpfel, Michael Kobr |Zwei Einzelzimmer, bitte! Mit Kluftinger durch Deutschland| Piper TB 2011, 160 S., mit Fotos,
EurD 9,95/EurA 10,30/sFr 14,90
FLOTT ERMITTELT
Das Schreiben liegt bei Alafair Burke in der Familie, ist doch ihr Vater der bekannte
Autor James Lee Burke. Sie selbst hat zwei Serien konzipiert, sieben Romane gibt es schon.
Einmal steht die Staatsanwältin Samantha Kincaid im Zentrum, dann die New Yorker
Polizistin Ellie Hatcher. In ihrem ersten übersetzten Roman tritt Ellie Hatcher auf. Sie
ist eine junge Polizistin, die überraschend in das Morddezernat versetzt wird. Dort erwartet sie der Fall eines möglichen Serienkillers, der via Internet an seine Opfer kommt.
Geschickt konstruiert Burke ihren Fall und setzt dabei weniger auf drastische Einzelheiten, sondern eher auf gekonnte Wendungen.
Alafair Burke |Online wartet der Tod| Übers. v. Susanne Wallbaum. dtv 2011, 459 S., EurD 8,95/EurA 9,20/sFr 12,90
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BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTOS: AUS „DAS LEBEN UND SCHLIMMERES“/RORORO; SZENENFOTO AUS „NAKED LUNCH“/DVD BEI STUDIOCANAL
Serhij Zhadan |Big Mäc. Geschichten| Übers. v. Claudia
Dathe. Suhrkamp TB 2011, 227 S., EurD 14/EurA 14,40/sFr 20,90
Die großen Themen schneidet Ringsgwandl in seinen
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9:35 Uhr
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TA S C H E N B U C H | M A R K T P L AT Z
ZEITENWENDE
Eigentlich sollte der erste Roman von Donna Milner nur eine kleine Erzählung werden,
doch dann wuchs er sich zu einer großen Geschichte voller Dramatik und der richtigen
Dosis Tragik aus. Damit landete die ehemalige Immobilienmaklerin einen internationalen Bestseller und arbeitete sofort am Folgeband. Er spielt wieder in Vancouver. Dieses
Mal im Jahr 1962. Im August stirbt nicht nur Marilyn Monroe sondern am selben Tag
und unter merkwürdigen Umständen auch Lucy Coulter. Zurück bleiben ihre Kinder, die
elfjährige Ethie, die als Ich-Erzählerin fungiert, ihr etwas älterer behinderter Bruder Kipper, dann Frankie, der schon eigene Wege geht, und noch ihr Mann Howard, der unter
einem schweren Kriegstrauma leidet. Fast zerbricht die Familie am Tod der Mutter. In
langen Rückblenden wird auch die Geschichte von Howard erzählt, der während des
Kriegs in japanischer Kriegsgefangenschaft war. Von Schuldgefühlen bedrängt, flüchtet
er in den Alkohol. Doch das Unglück trägt unter anderem dazu bei, dass er sich dieser
Zeit nun zu stellen beginnt.
Donna Milner |Der Tag, an dem Marilyn starb| Übers. v. Sylvia Höfer. Piper TB 2011, 400 S., EurD 9,95/EurA 10,30/sFr 14,90
MORAL UND KAPITAL
Die Antwort auf die Frage im Titel kommt sehr klar vom französischen Philosophen
André Comte-Sponville: „Der Kapitalismus ist nicht moralisch; er ist auch nicht unmoralisch; er ist – aber das total, radikal und definitiv – amoralisch.“ Moral und Kapitalismus passen nicht zusammen, dafür sorgt schon der menschliche Eigennutz. Allerdings ist
der Kapitalismus ohne Alternative. Der Kapitalismus ist zwar ungerecht und amoralisch,
doch wirtschaftlich leistungsfähiger. André Comte-Sponville untersucht seine Thesen an
einigen Beispielen, etwa, ob der Unternehmer aus Nächstenliebe niemand entlassen sollte. Sollte er pleite gehen, würden die Arbeiter aber trotzdem auf der Straße stehen, meint
Comte-Sponville. Es sind keine dummen Überlegungen, wohl aber provozieren sie Widerspruch. Wie auch immer, bei den Diskussionen über Links oder Rechts und wer nun eher
richtig argumentiert, gehören die Ausführungen von Comte-Sponville sicher zu den
durchdachtesten.
André Comte-Sponville |Kann Kapitalismus moralisch sein?| Übers. v. Hainer Kober. Diogenes TB 2011, 336 S., EurD 11,90/EurA 12,30/sFr 19,90
NACHWUCHSPROBLEME
Nicht nur Frauen haben ihre Probleme beim Kinderkriegen oder besser -nichtkriegen,
auch Männer. Es wird nur seltener angesprochen. Wenn Felix Wegener erzählt, dann
bekommt man ein ganzes Buch davon und erfährt, was so manche Männer über 30 denken und wie sie leben. Um den Kinderwunsch zu realisieren, nimmt der Protagonist
Felix einiges auf sich. Erzählt wird flott und nicht ohne Selbstironie, immerhin geht es
um ein Thema, bei dem Männer schnell nervös werden, wenn es bei ihnen nicht klappt.
Gewissermaßen nebenbei erfährt man so manch Aufschlussreiches über Spermiogramme, Insemination, In-vitro-Fertilisation und so andere Termini in diesem Zusammenhang. So wird daraus ein Erfahrungs- und Aufklärungsbuch für interessierte Männer, aber
auch Frauen, die sich über das andere Geschlecht informieren wollen.
Felix Wegener |Nichtschwimmer| Ullstein TB 2011, 240 S., EurD 8,99/EurA 9,30/sFr 12,50
Gelungene Neuverfilmung
NAKED LUNCH
James Grauerholz und Barry Miles
haben den berühmten und lange verbotenen Roman „Naked Lunch“ mit zusätzlichem Material neu herausgegeben.
Er zählt wahrscheinlich zu den einflussreichsten Romanen der Gegenkultur
und hat heute einen festen Platz im
Kanon. Mit wirklicher Wucht und ohne
jede Scheu hat William S. Burroughs
(1914–1997) seine Zeit als Junkie erzählt,
jedoch fehlte ihm jegliche präzise Erinnerung an das Schreiben dieser Aufzeichnungen, wie er in seinem Epilog
bemerkte. Drogen waren für ihn eine
Flucht, aber auch ein Widerstand gegen
jede Form von Kontrolle. Er galt aus
Ausnahmeliterat, liebte allerdings auch
Waffen und hatte manche reaktionäre
Meldung parat. Burroughs selbst sah
eine von ihm gekürzte und überarbeitete
Version des Romans als letztgültig an.
Die ursprüngliche Fassung, noch zusätzlich aufgemöbelt mit Materialien, wollte
er ehedem nicht gedruckt sehen. Doch
es lohnt sich. Es ist ein umfangreiches
Buch geworden, bei dem auch die Materialien, etwa zusätzliche Texte von Burroughs, beeindrucken.
William S. Burroughs |Naked Lunch. Die ursprüngliche
Fassung| Übers. v. Michael Kellner. rororo 2011, 416 S.,
EurD 9,99/EurA 10,30/sFr 15,90
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06.09.2011
17:54 Uhr
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FOTOS: AUS „CHASING SHADOWS – SANTU MOFOKENG”/PRESTEL (3)
M A R K T P L AT Z | B I L D B Ä N D E
In Soweto 1986: Die Kirche im Zug (o.) und Schlafzimmer einer Familie in Vaalrand (u.)
In intensiven Fotoessays zeigt Santu Mofokeng
die Geschichte und Gegenwart seines Landes
Südafrika, aber auch den Umgang mit unserer
historischen Erinnerung. VON LORENZ BRAUN
Der Künstler Santu Mofokeng zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen Fotografen Südafrikas. In seinem Werk greift er verschiedene Aspekte des jetzigen Lebens des Landes auf, wie Religion, die sozialen Verhältnisse oder die symbolische Bedeutung
von Landschaft. Dabei bezieht er immer auch die Kritik an der
Apartheid mit ein. Seine Fotos zeigen die Ungleichheiten des
Lebens, die Missstände, kleine Freuden. Es sind oft nur Ausschnitte,
die in ihrem Zusammenhang, dem Essay, der manchmal aus einer
Vielzahl an Bildern besteht, sehr differenziert viele Geschichten
erzählen. In „Township Billboards“ zeigt er die modernen Werbeflächen und ihr unmittelbares Umfeld. Großflächig wird für
Omo, Cola, Dove oder die Demokratie geworben. Manchmal
hängen die Werbemittel schief, vermitteln nur eine trügerische
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Klare
Blicke
Hoffnung vor einer tristen und öden Landschaft, in der Frische und
Sauberkeit zu einem unerreichbaren Ideal werden. In „Child headed households“ fotografierte er Jugendliche aus der Nordprovinz,
die sich um den Haushalt kümmern müssen, da ihre Eltern an Aids
verstarben. Dadurch verändern sich auch traditionelle Rollenbilder, die besonders in ländlichen Gegenden noch üblich sind. Grundlage seiner Arbeit sind aber vor allem die persönlichen Geschichten und die Familienhistorie der Menschen. Besonders augenfällig zeigt sich das in „The Black Photo Album/Look at Me 1890 –
1950“. Dafür suchte Mofokeng zahlreiche ältere Fotos und Familienporträts aus verschiedenen Sammlungen, die er dann retouchierte und erneut fotografierte. Zu jedem Bild recherchierte er
die Geschichte und den Kontext, wann und wo es aufgenommen
wurde. Es war ihm wichtig herauszufinden, welche Motive ausschlaggebend waren, sich auf eine gewisse Art und Weise fotografieren zu lassen. Dadurch werden uns die Sichtweisen der Kolonialisierten auf sich selbst und ihre Identifikationsmuster klarer. In
Ausstellungen waren auch Interviews der Betroffenen zu den Bildern zu hören und ihre Statements wurden abgedruckt. Vor einiBUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
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17:50 Uhr
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M A R K T P L AT Z
Das Coverbild des großen Fotobands: ein verwunschener Anblick zwischen
Traum und Erwachen
gen Jahren begann er seine Arbeit nicht nur auf Südafrika zu beschränken. Er schuf etwa für den Essay
„Landscapes of Trauma“ Fotografien des Konzentrationslagers Auschwitz und von Ravensbrück. So
sieht er auch Ähnlichkeiten zwischen der südafrikanischen Apartheid und dem deutschen Nationalsozialismus: „Ich denke nicht, dass ich übertreibe, wenn ich sage, dass der Holocaust und die Apartheid die beiden unvergesslichsten Übel sind, die in
diesem Jahrhundert die Welt hypnotisierten.“ Auf
der Suche nach tragischen Orten fuhr er auch nach
Hanoi und Nagasaki.
Erstmals wird seine Arbeit der letzten 30 Jahre in
einer Monografie sowie in einer Ausstellung in Paris
gezeigt. Nach Paris wird die Ausstellung bis November in der Kunsthalle Bern zu sehen sein. Einen
ersten Eindruck von seiner Arbeit und den verschiedenen Fotoessays erhält man auf seiner Website, wo er auch ausführlich seine Arbeiten kommentiert: www.santumofokeng.com
Kinoträume
FOTOS: 2011 JIM RAKETE / COURTESY SCHIRMER/MOSEL (2)
Fast alle wichtigen Personen des
deutschsprachigen Films tauchen im
neuen Fotoband von Jim Rakete auf.
VON LORENZ BRAUN
Zur Wiedereröffnung des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt
wird eine Ausstellung neuer Arbeiten von Jim Rakete gezeigt. Natürlich drehen sich die Fotos um den Film bzw. die Darsteller. Posiert
wird mit typischen Requisiten aus ihren Filmen. So ist Götz George natürlich mit seiner
Schimanski-Jacke zu sehen oder Doris Dörrie mit Kirschblüten. Moritz Bleibtreu umklammert eine Beretta. Es kommt immer auf den Moment an. Das Besondere soll eingefangen
und nicht einfach ein Bild eines Stars abgeliefert werden. Manche Bilder wirken inszeniert, andere wiederum sehr privat. Sie sind aber insgesamt sehr einfühlsam, obwohl der
Fotograf oft nur wenig Zeit für ein Foto braucht. Im Mittelpunkt stehen die Gesichter,
deren Details wichtig sind. Die Umgebung oder der Hintergrund kann demgegenüber
sogar unscharf sein. Diese Einstellung erfreute auch die Porträtierten. Zwei Änderungen
in seiner Arbeit gab es jedoch bei dieser Arbeit: Er fotografierte digital und in Farbe,
allerdings in sehr erdigen, zurückhaltenden Tönen.
Weit über ein Jahr hat Rakete an dem Projekt gearbeitet. Der wichtige Portraitfotograf, der schon als Schüler mit der Fotografie begann und auch als Musikproduzent reüssierte, kannte viele der Aufgenommenen schon von ihrem Karrierebeginn an. Ein Termin
ließ sich deshalb leicht finden. So ein Pantheon des Deutschen Films gab es aber trotzdem noch nicht. Die Bilder erzählen mitunter mehrere Geschichten. So ließ sich Volker
Schlöndorff mit der originalen Blechtrommel und auf der Berliner Straße in Babelsberg
abbilden. Christoph Waltz wiederum trägt die Armbanduhr aus dem Film „Inglourious
Basterds“, der ihn weltweit bekannt machte.
Bis zum Februar 2012 ist die Ausstellung der Bilder in Frankfurt/Main noch zu sehen.
Corinne Diserens |Chasing Shadows – Santu Mofokeng. 30 Years of Photographic Essays| Prestel 2011, 240 S., EurD 49,95/
EurA 51,40/sFr 72,90
Jim Rakete |Stand der Dinge: 100 Porträts für das Deutsche Filmmuseum| Schirmer Mosel 2011, 207 S., EurD 49,80/EurA 51,20
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
Wer schreibt hier so viel?
Martina Gedeck mit ihren Drehbüchern
Ulrich Tukor spielte die Hauptrolle in
„John Rabe“.
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17:21 Uhr
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MEDIAL
AUFBEREITET
Viele Artikel erschienen zu Marshall McLuhans 100. Geburtstag, doch seine wichtigsten Werke sind derzeit zum Großteil nur
antiquarisch zu bekommen.
Für einen lockeren Einstieg lohnt sich auf
alle Fälle die Biografie von Douglas Coupland. Darin erzählt er sehr unprätentiös
das Leben des ungewöhnlichen Forschers,
der aus der kanadischen Provinz kam und
letztlich zu einem weltberühmten Popautor wurde. Viele tun sich schwer mit den
Theorien, doch die üblichen Schlagworte wie „globales Dorf“ und „das Medium
ist die Botschaft“ werden gerne verwendet. Coupland, der selbst für einen
modernen Begriff wie „Generation X“
steht, erzählt recht launig das Leben
McLuhans und wie er von einem Fachmann für altenglische Literatur zu einem
Spezialisten der neuen Medien wurde,
obwohl ihm das Moderne eher unangenehm war. Er sah aber die Möglichkeiten der Veränderung und war der erste,
der diese interdisziplinären Gedanken
hatte.
Noch immer aktuell ist „Das Medium ist die
Massage“. Der Titel rührt von einem Fehler des Setzers her, McLuhan fand die Doppeldeutigkeit witzig. Es ist eines der
berühmtesten Bücher, selbst wenn es gar
nicht von ihm geschrieben wurde. Zusammengestellt wurden die Texte von Jerome
Agel und Quentin Fiore sorgte für ein spannendes Layout. Einen guten Einstieg in die
Arbeit von McLuhan bietet „absolute Marshall McLuhan“. Es beginnt mit einem wirklich langen und umfangreichen Interview,
das er damals dem Playboy gab. Ein detaillierter Lebensabriss wird unterbrochen
durch Passagen aus seinen wichtigsten
Werken wie „Die mechanische Braut“ oder
„Die Gutenberg-Galaxis“.
SE
Fazit: Gute Einstiege zu Leben und Werk eines
ungewöhnlichen Denkers.
Martin Baltes, Rainer Höltschl (Hg.) |absolute Marshall
McLuhan| Orange Press 2011, 223 S., EurD 18/EurA 18,50/
sFr 25,90
Douglas Coupland |Marshall McLuhan| Übers. v. Nicolai v.
Schweder-Schreiner. Tropen 2011, 221 S., EurD 18,95/
EurA19,50/sFr 26,90
Marshall McLuhan |Das Medium ist die Massage. Ein
Inventar medialer Effekte| Übers. v. Martin Baltes,
Rainer Höltschl. Tropen 2011, 160 S., EurD 12/EurA 12,40/
sFr 17,90
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AUF RECHTEN PFADEN
Rechtes Gedankengut klingt
heute in vielen Bereichen
anziehend, denn über die
passenden Feindbilder und
über nötige Strategien
sind sich viele einig.
Astrid Geisler und Christoph Schultheis haben sich auf den Weg gemacht,
die Welten und Lebensfelder der neuen Rechten in Deutschland zu erkunden. Entstanden sind sehr unaufgeregte
Reportagen, die nicht auf den Skandal abzielen, sondern einfach den Alltag beschreiben wollen. Es sind darunter
gewöhnliche Bürger, die in der Provinz für
die NPD kandidieren und schon einmal
für die potentiellen Wähler grillen.
Andere zeigen sich im Internet mit ihren
Insignien oder rotten sich zusammen, um
gegen eine angeblich geplante Moschee zu
demonstrieren. Sicher gibt es darunter auch
welche, die gerne zu viel trinken und dann
mal jemanden verprügeln. Eine spezielle
Gruppe sind die Esoterikfans, die hinter
weißen Streifen am Himmel die große Verschwörung wittern.
Die neuen Rechten gelten nicht als Unholde, vielleicht als nicht besonders klug,
aber sie hängen Meinungen an, die in weiten Teilen der Bevölkerung keinen Anstoß
erregen. In den Medien liest man hin und
wieder von einem Skandal, einem vermeintlichen Aufreger, doch geht es vielmehr
um die kleinen Verschiebungen, die das Denken in neue Kanäle bringt. Wenn ein junger Mann seine Freundin ersticht, weil sie
sich von ihm trennen wollte, denken viele
heute sofort an Ehrenmord und an den Islam.
Das war erst jüngst wieder bei den Postern
einer ansonsten liberalen Zeitung wieder
zu lesen. Es ist auch egal, selbst wenn nicht
ein Fizzelchen Migrationshintergrund daran beteiligt ist. Mit so einer Denkhaltung
werden einem Rechtspopulisten vielleicht
nicht sympathisch, doch man steht ihren
Kommentaren nicht von vornherein ablehnend gegenüber. Nach außen hin bieder und
mit einem „anständigen“ Flair, findet die
Rechte auch mehr Wähler, die gerne mal
gegen die übliche Politik protestieren wollen. Rassismus und Nationalismus sind aber
ungebrochen bei den Rechten, selbst wenn
sie im Elternbeirat sitzen und heimisches
Gemüse schätzen. Ihre Anhänger sorgen sich
um den Arbeitsplatz und fürchten sich vor
Globalisierung, der EU und den Migranten.
Rechtes Denken gehört laut Geisler und
Schultheis zum Alltag in Deutschland. Lei-
Auf der Website zu „Heile Welten“ möchten
die Autoren ihre Arbeit fortsetzen, indem
sie auf Artikel hinweisen, die von der Alltäglichkeit rechter Akteure berichten.
der ist es nicht nur auf diesen Raum
beschränkt, sondern taucht auch in anderen Ländern auf. Zu dem Buch gibt es auch
einen eigenen Blog unter www.heile-welten.de. Dort werden zum Teil die Reportagen fortgesetzt.
Ein wenig geht jedoch das theoretische
Fundament ab. Einen intellektuellen Hintergrund haben kaum welche der befragten
und porträtierten Rechtspopulisten. Hier
kommt Volker Weiß zum Zug, denn er erfasst die wichtigen Vordenker dieses Milieus
von 1900 bis heute. Als einen der ersten Kulturpessimisten sieht er Oswald Spengler.
Engagiert war auch Edgar J. Jung. Dazu
stieß später noch Friedrich Sieburg, der sich
ähnlich wie Ortega y Gasset von der Masse
abheben wollte und einen exzentrischen Elitebegriff vertrat.
Heute sind Botho Strauß, Peter Sloterdijk und immer wieder Thilo Sarrazin im
Gespräch. Sie können nicht eindeutig der
extremen Rechten zugeordnet werden, sind
aber deswegen in ihren Aussagen mit der
bürgerlichen Mitte kompatibel, während sie
gleichzeitig in vielen Aspekten von den Rechten genutzt werden. Sarrazin etwa sieht sich
in der sozialdemokratischen Denktradition
und will den Verfassungsstaat nicht aushebeln. Trotzdem hat er sozialdarwinistische
Ausfälle, spricht von Eliten, Leistung
bestimmter Bevölkerungsgruppen und Vererbung. Womit er wieder passendes MateSE
rial für die Rechten liefert.
FAZIT Zwei Studien, die akribisch die rechte
Seite analysieren.
Volker Weiß |Deutschlands Neue Rechte| Ferdinand
Schöningh 2011, 141 S., EurD 16,90/EurA 17,40/sFr 24,90
Astrid Geisler, Christoph Schultheis |Heile Welten. Rechter
Alltag in Deutschland| Hanser 2011, 224 S., EurD 15,90/
EurA 16,40/sFr 22,90
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
»Einer der besten
spanischen Romane
© Sarah Shatz
des vergangenen
Jahrzehnts!« El País
Madrid 1935/36, am Vorabend des Bürgerkriegs. Ignacio Abel, ein erfolgreicher Architekt, entgeht knapp den Erschießungskommandos und flieht in die USA. Dort trifft er
überraschend Judith Biely wieder, mit der
er in Madrid eine leidenschaftliche Affäre
hatte. Sie verbringen eine letzte Nacht miteinander, die »Nacht der Erinnerungen« …
Deutsch von Willi Zurbrüggen
Gebunden | 1008 Seiten | € 30,90 [A]
ISBN 978-3-421-04499-0
Eine Leseprobe und
Veranstaltungstermine unter
www.dva.de
RH_Molina_210x295_4c_CS4 1
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06.09.2011
17:22 Uhr
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M A R K T P L AT Z
Mit Stanley-Messern
in den 3. Weltkrieg
Zum 10. Jahrestag des Anschlags vom 11.9. sind die Gazetten wieder
voll mit Nachberichterstattung und bekannten Bildern. Besonders für
Verschwörungsfans war und ist das Ereignis ein wahrer Fundus. Deshalb
werden einschlägige Bücher überarbeitet sowie erweitert und danach
neu aufgelegt. PETER HIESS hat sich durchgeackert und war ganz weg.
50
nen Massenvernichtungswaffen fand, störte
dann auch schon niemanden mehr – schließlich waren die Massenmedien (und das gilt
auch für die österreichischen „Qualitätszeitungen“ und den Staatsfunk) spätestens seit
9/11 völlig gleichgeschaltet; das sah man
auch heuer bei der Berichterstattung über
die arabischen „Revolutionen“ (hallo, Erdöl!)
oder das Kasperltheater über die Ermordung
eines Bin-Laden-Darstellers durch das USMilitär (aufgeführt als Wahlkampfhilfe für
den neuen US-Präsidenten) wieder.
Schon kurz nach dem Attentat wurden
kritische Stimmen laut, die den offiziellen
Hergang der Ereignisse anzweifelten – nicht
nur in den USA, sondern auch in den Kolonien des neuen Weltherrschers. Es gab ja auch
genug offene Fragen, die zu Spekulationen
verleiteten: Wie hatten es 19 mit StanleyMessern bewaffnete Araber, die nicht einmal
zum Steuern von Sportflugzeugen fähig
waren, eigentlich geschafft, große Passagiermaschinen mit waghalsigen Profi-Flugmanövern genau ins Ziel zu steuern? Warum waren die Türme des World Trade Centers trotz ihrer absolut sicheren Bauweise eingestürzt – noch dazu genau so, als wären sie
gesprengt worden? Wie war es möglich, dass
die bombensicheren Flugschreiber aller vier
entführten Flugzeuge vernichtet waren,
während sogar noch Festplatten aus dem
WTC gerettet werden konnten? Was hatte
die US-Luftabwehr an diesem Tag Besseres
zu tun? Ach ja: Wo war eigentlich das Flugzeug hingekommen, das angeblich ins Pentagon gekracht war? Und wo waren die Leichen des von mutigen amerikanischen Bürgern zum Absturz gebrachten Flugs UA 93,
bei dem sich (ungewöhnlicherweise) ebenfalls alles und jeder in Staub aufgelöst hatte? Der offizielle Bericht der US-Regierung
über 9/11 konnte diese Fragen nicht zureichend beantworten – weil er von allem Anfang
an eine Alibiaktion und ein aufgelegter
Schwindel war. Und die vielen Zweifler, die
sich im vergangenen Jahrzehnt nicht mit
dem Märchen von „Osama und den 19 Räu-
Warum waren die Türme des WTC
trotz ihrer absolut sicheren Bauweise
eingestürzt?
bern“ zufriedengeben wollten, wurden von
den Medien-Hofnarren schlicht als Verschwörungstheoretiker denunziert.
Zu den deutschsprachigen Autoren, die
schon relativ bald nach den Ereignissen von
2001 ihre Zweifel anmeldeten, gehörten
die Journalisten Mathias Bröckers und Christian C. Walther, der Ex-Politiker und Publizist Andreas von Bülow und der Aufdecker
Gerhard Wisnewski (der sich auch über den
tödlichen Unfall Jörg Haiders ein Buch lang
Gedanken machte); ihre Werke wurden nun
anlässlich des „Jubiläums“ in aktualisierten
und überarbeiteten Fassungen neu aufgelegt.
„11.9. – zehn Jahre danach. Der Einsturz
eines Lügengebäudes“ von Bröckers und
Walther dreht den Spieß um und behandelt
statt der angeblichen Verschwörungstheorien die einzige real existierende Verschwörungstheorie – nämlich die Version der amerikanischen Regierung und ihrer Medienvasallen über den Hergang der Ereignisse.
Statt sich auf alternative Deutungen festzulegen, nehmen die Verfasser sehr geschickt
jeden einzelnen Punkt der offiziellen „Geschichtsschreibung“ her, zerlegen ihn nach
allen Regeln der Kunst und schlagen jeweils
am Schluss dieser Kurzkapitel dem fiktiven
Staatsanwalt eines noch zu führenden Prozesses zur Klärung des Sachverhalts vor, welche Zeugen er vorladen sollte und welche
Fragen beantwortet werden müssten.
Andreas von Bülow, vor der Ära Kohl
immerhin deutscher Bundesforschungsminister, macht in „Die CIA und der 11. September: Internationaler Terror und die Rolle der Geheimdienste“ sehr konkret – wie der
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: SEANPAVONEPHOTO/SHUTTERSTOCK.COM
Schon auf den ersten Blick war es die nahezu perfekte Fernsehinszenierung: die zwei
Passagiermaschinen, die in die berühmtesten
und symbolträchtigsten Wolkenkratzer der
Welt krachten, zufällig in hervorragenden
Winkeln aufgenommen. Die in Sekundenschnelle in sich zusammenstürzenden Türme des World Trade Centers. Die heroischen
Helfer und Feuerwehrleute. Das Flugzeug,
das ins Pentagon krachte. Die heldenhaften
Passagiere, die noch ein bisschen telefonieren durften und dann verhinderten, dass auch
die vierte Maschine ein Terrorziel traf.
Ein wenig zu sehr nach großer Show roch
es dann schon, dass die USA binnen weniger Stunden nach dem Terroranschlag vom
11. September 2001 (der sich heuer zum
zehnten Mal jährt und die Welt in ein neues dunkles Zeitalter gestürzt hat) schon den
Täter parat hatten: einen gewissen Osama
bin Laden, der aus einer finsteren Höhle irgendwo in den Bergen von Afghanistan diesen größten Coup der Terrorgeschichte inszeniert haben sollte. Manchen machte es stutzig, dass die saudiarabische Familie dieses
bin Laden in besten Geschäftsbeziehungen
mit den USA – und dort vor allem mit der
Präsidentendynastie Bush – stand. Oder dass
es sich beim angeblichen Terrornetzwerk AlKaida, das dieser bärtige „islamistische“
Dämon leitete, um genau die Mudschaheddin-Truppe handelte, die von der CIA zum
Guerillakampf gegen die Sowjetunion und
andere unliebsame Staaten ausgebildet worden war.
Alles egal. Die Vereinigten Staaten waren
auf ihrem eigenen Grund und Boden von
irgendwelchen „Untermenschen“ angegriffen worden. Sie hatten – ein Jahrzehnt nach
dem Zusammenbruch des Ostblocks – endlich einen neuen Feind: den Islam. Die Schurkenstaaten. Sie durften endlich wieder in den
Krieg ziehen, erst nach Afghanistan, um dort
den Opiumanbau sicherzustellen, und dann
wieder einmal in den Irak, um sich dort das
Öl unter den Nagel zu reißen. Dass man bei
Saddam keine der als Kriegsgrund erfunde-
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07.09.2011
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Titel schon verrät – den berüchtigten amerikanischen Auslandsgeheimdienst für die
Inszenierung der 9/11-Ereignisse verantwortlich. Er belegt seine Thesen von den ferngesteuerten Drohnenflugzeugen, der Sprengung des von den Attentaten nur entfernt
betroffenen Gebäudes WTC-7 und der rechten Kamarilla, die mit dem angeblichen Terroranschlag das „amerikanische Jahrhundert“
und den „Clash of Civilisations“ einläuten
wollte, mit Interviews, Internet- und anderen Quellen – und ist dabei nicht immer konsistent, stellt aber immerhin wichtige Fragen, die nach wie vor ihrer Beantwortung
harren. Zum Beispiel die, wie es möglich war,
dass in den verdächtig schnell beseitigten
Trümmern des WTC Spuren des äußerst
wirksamen Sprengstoffs Nanothermit gefunden werden konnten …
Auch Gerhard Wisnewski präsentiert in
„Operation 9/11: Der Wahrheit auf der Spur“
die vielen neuen Indizien, die im vergangenen Jahrzehnt von Rechercheuren aller Art
zusammengetragen wurden. Für ihn ist klar,
dass es sich bei den Flugzeugentführungen
und ihren Folgen um eine großangelegte,
viele Millionen Dollar teure Geheimdienstoperation gehandelt haben muss – und dass
die unmöglich in irgendwelchen afghanischen Höhlen geplant worden sein kann. Er
präsentiert neue Fakten über die offensichtlich gesprengten Türme, die Indizien für den
Einschlag einer Rakete im Pentagon, die gefälschten Anrufe aus den entführten Maschinen (damals war es technisch gar nicht möglich, mit Handys aus dem Flugzeug zu telefonieren) und vieles mehr, durchwegs gut
belegt, nicht unpolemisch und ohne Scheu,
auf die wahren Drahtzieher der Anschläge
(also die Leute, die seit Jahrzehnten die USA
und die Welt hinter den Kulissen regieren)
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
hinzuweisen. Wer da noch behauptet, in
der Wikipedia und im „Spiegel“ (die beide
Systemmedien sind) sei all das längst widerlegt worden, ist schon nicht mehr naiv, sondern geradezu bösartig.
Eine Stimme aus Amerika, die sich ebenfalls – unter anderem – mit den Ereignissen
um den 11. September 2001 befasst, ist der
Ex-Wrestler, -Filmschauspieler, - Navy-SEAL
und -Gouverneur Jesse Ventura, der zusammen mit dem Journalisten Dick Russel einige Erkenntnisse aus seiner erfolgreichen TVSerie „Conspiracy Theory“ im Buch „Die
amerikanische Verschwörung: 9/11 und andere Lügen“ zusammengefasst hat. Ventura
ist kein US-Gegner, sondern glaubt an die
amerikanische Verfassung und an die Werte seines Landes; umso empörter ist er darüber, dass die amerikanische Regierung (oder
die Männer im Hintergrund) seit vielen Jahren ihr Volk und die Welt belügen und betrügen. „9/11“ ist nur ein Kapitel seines durchaus informativen und unterhaltsam geschriebenen Werks, das sich mit Widersprüchen,
Ungereimtheiten und offensichtlichen Lügen
der amerikanischen Geschichte – angefangen vom Attentat auf Präsident Lincoln über
die „irren Einzeltäter“, die angeblich für die
Ermordung der Kennedy-Brüder, Martin
Luther Kings und anderer verantwortlich
waren, die erfundenen Kriegsanlässe, Wahlbetrügereien und Wall-Street-Geldvernichtungen bis hin zu 9/11 und dem Plan, die
Demokratie endgültig abzuschaffen – befasst. Wer sich mit der Thematik bereits
beschäftigt hat, dem wird vieles in Venturas Buch bekannt vorkommen; für „Einsteiger“, die das glauben, was ihnen die Gehirnwäscheindustrie Tag für Tag vorsetzt, ist es
jedoch ein garantierter Augenöffner.
FAZIT Vier Bücher, die sich auf verschiedene
Weise mit den wahren Hintergründen hinter den
9/11-Terroranschlägen befassen – und mit anderen
Schweinereien des Weltherrschers.
Mathias Bröckers & Christian C. Walther |11. 9. – zehn Jahre
danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes| Westend 2011,
320 S., EurD 16,99/EurA 17,50/sFr 24,90
Andreas von Bülow |Die CIA und der 11. September:
Internationaler Terror und die Rolle der Geheimdienste|
Piper TB 2011, 336 S., EurD 9,95/EurA 10,30/sFr 14,90
Jesse Ventura & Dick Russel |Die amerikanische Verschwörung: 9/11 und andere Lügen| Übers. v. Lotta Rüegger
u. Holger Wolandt. Heyne TB 2011, 379 S., EurD 8,99/EurA 9,30/
sFr 15,50
Gerhard Wisnewski |Operation 9/11: Der Wahrheit auf der
Spur| Knaur TB 2011, 480 S., EurD 12,99/EurA 13,40/sFr 20,50
43-54 TB_SB
06.09.2011
17:26 Uhr
Seite 52
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Matthias Matussek ist SPIEGEL-Redakteur, kommt also nicht unbedingt aus
der Ecke, aus der man sich eine Verteidigung des Katholizismus erwartet. Er
aber, der reflexhaft zu denen hält, auf die
eingedroschen wird, hat nun unter dem
Titel „Das katholische Abenteuer“ eine
Provokation losgelassen, die es in sich
hat.“ Die Debattenbeiträge zum Thema katholische Kirche sind eine geradezu beleidigende Unterforderung der
Intelligenz, denn sie kreisen um die immer gleichen Reizthemen:
Zölibat, Papst, Priester.“ Und er, Matussek, verteidigt alle diese drei
Institutionen, ihn langweilt der sattsam bekannte Reformkatalog,
mit dem eigentlich der Protestantismus gefordert wird. Er kennt
keine ruhige Mittellage, sein Katholizismus besteht aus „Zorn
und Liebe, Glaube und Zweifel und bisweilen Verzweiflung über
den eigenen Verein“. Er ist wolllüstig pathetisch, dramatisiert eher,
bevor er unterspielt, schreibt andauernd unter allerhöchster Spannung und beginnt publikumswirksam mit den Todsünden – denen
gibt er Gesichter, stellt sie recht plakativ, aber dadurch auch einprägsam dar. Und wenn er den Gott des Alten, des Ersten Testaments, selbst der Todsünde des Zornes zeiht, schrammt er für viele knapp an der Blasphemie vorbei. Dann erzählt er von der eigenen katholischen Sozialisierung, von seinem Kindheitsglauben. Und
zitiert einen katholischen Philosophen, der meinte, dass für ihn
ursprünglich der Glaube der Kindheit gewesen wäre, „und alles spätere Nachdenken bedeutete nur, dass dieser Glaube vertieft und
befestigt wurde“. Als nächstes legt er sich mit den atheistischen
Wissenschaftlern an, holt sich Darwin, Voltaire, Planck und Heisenberg zu Hilfe und bezeichnet deren Aussagen als „Traumtore,
die gegen das Team der Atheisten verwandelt wurden“.
Und bevor er mit Martin Walser und Rüdiger Safranski Erbsünde und Zölibat bespricht, wettert er auch noch schnell gegen
den Ethikunterricht. Bernhard Schlink schickt ihm sein Buch
über die Wichtigkeit von Ritualen und liturgischen Formen, das
von der Sehnsucht eines Protestanten zum Katholizismus handelt.
Und dann folgt ein Kapitel, mit dem man sich auch als überzeugter Katholik recht schwer tut, in dem er schreibt, warum die Kirche mit ihren Päpsten Glück hat. Darin verteidigt er den „starken
und starrsinnig unfehlbaren, lachenden und zornigen MystikerPapst Woytila“ und den kontroversen Professorenpapst Ratzinger.
Weitere Themen sind seine Reisen auf der Suche nach Gott in Nordund Südamerika, wo er auch bei orthodoxen Juden Halt macht.
Matussek macht sich Gedanken über die Rolle der Massenmedien
als Ersatzgötter, meditiert über Engel und setzt ans Ende seines
Buchs eine Glaubens-Safari. Das sind Begegnungen, die er in Deutschland hatte: mit ganz einfachen Menschen, aber auch mit Philosophen und zuletzt mit dem Dichter Michael Krüger. „Der Unterschied zwischen mir und Michael Krüger liegt … darin, dass ich
mit meinem Werben für den Glauben bisweilen die Türen eintrete, während er Nachdenkliches durch die Dachluke schmuggelt
KONRAD HOLZER
oder durch eine unverschlossene Kellertür.“
FAZIT Matussek hält, was er verspricht, er provoziert. Und es tut gut, auf
seiner Seite zu sein.
Matthias Matussek |Das katholische Abenteuer. Eine Provokation| DVA 2011, 368 S., EurD 19,99/
EurA 20,60/sFr 30,90
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: MELANIE FEUERBACHER
STANDPAUKE UND STOSSSEUFZER
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06.09.2011
19:22 Uhr
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S A C H L I T E R AT U R | M A R K T P L AT Z
UNSER MANN IM MOND
Bernd Brunner ist unser Mann im Mond,
keine Frage. Nachdem der 1964 geborene
Kultur- und Wissenschaftshistoriker schon
erhellende Bücher über die Erfindung des
Aquariums, die Beziehung von Mensch und
Bär und die deutsche Auswanderung nach
Amerika veröffentlichte, schafft er es in seiner kurzen Geschichte des Mondes Wernher von Braun und Werwölfe, Bischöfe, Christoph Kolumbus, australische Mythen, das
buchstäbliche Versanden von Julius Cäsars
Englandinvasion, das Geschlechtsleben von
Meereskorallen und Ideen für eine kommerzielle Ausbeutung sowie Vignetten von
Flügen ins All zusammenzuführen. Alles
unter den Auspizien des blassen, geo-atmosphärisch eher abweisenden Erdtrabanten
namens Mond. Denn, so fragt Brunner durchaus berechtigt, was wäre unser Heimatplanet ohne diesen? Jede Zivilisation besaß (mindestens) eine Beziehung zum Mond. Das
zeigt der in Berlin lebende Brunner auf seiner kulturellen Promenade durch die lunare Historie des Menschengeschlechts leichthändig auf. Viele großartige, kuriose Zitate, eigentlich kondensierte Anekdoten, hat
er ausfindig gemacht und flicht sie in sei-
IDEENREICH BEIM SCHROTT
Randy Sarafan empfiehlt letztlich etwas
gleichsam Nützliches und Anarchistisches:
Warum nicht aus kaputten Geräten und
edlem Schrott etwas Sinnvolles machen!
Wie in einem echten Lehrbuch gibt es
zuerst eine Einschulung in den Sinn. Die
Materialien sind manchmal wertvoller als
Gold und der Raubbau im Dschungel des
Kongo dementsprechend. Nach dem Sinn
braucht es kluges Werkzeug. In einem Kapitel werden die brauchbarsten Werkzeuge
und ihre Handhabung vorgestellt. Und dass
das alles ernst gemeint ist, beweisen die Dutzenden Sicherheitshinweise, die durchklingen lassen, dass Strom auch außerhalb des
Elektrischen Stuhls tödlich sein kann. Der
direkteste Zugang zur Wiederverwertung
liebgewordener Geräte ist der Umbau zu
heimeligen Wohnungseinrichtungen. Wer
sich von seinem Scanner nicht trennen will,
kann daraus mit ein paar Handgriffen ein
Beistelltischchen mit persönlichen Intarsien formen. Tastaturlampen, Kabel-Untersetzer, Zahnrad-Uhr oder Walkman-Seifenschale sind weitere nützliche Dinge, die kaum
mehr an die ursprüngliche Verwendung der
Bauteile denken lassen.
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
nen im Wortsinn erhellenden Erzählfluss
kundig und geschickt ein. Gar nicht mehr
selbstverständlich ist es auch, dass ein Sachbuch mit derart vielen, nämlich fast einhundert schönen, oft genug kuriosen Illustrationen, aus Magazinen des 19. Jahrhunderts wie aus dem Bereich der Science-Fiction, versehen ist, die den Text trefflich ergänzen. Vor 50 Jahren stellte der Astronom und
Autor Axel Firsoff die – rhetorische – Frage: „Ist der Mond ein Museumsstück aus
einer geologisch weit zurückliegenden Zeit,
das im Vakuum des Weltalls wie in einem
beschrifteten Glaskasten erhalten geblieben
ist?“ Wie lebendig über die Jahrhunderte
die Wissenschaft vom Mond gewesen ist und
wie anregend für Film, Fernsehen und Literatur – von Casanova über Jules Verne bis
zu Arthur C. Clarke und Stanley Kubrick –
und die bildende Kunst, das zeigt Brunner
anregend und informativ, Komplexes leichthändig präsentierend. ALEXANDER KLUY
FAZIT Faszinierend, vielgestaltig und bis heute
in seinen Bann ziehend: Der Mond und die Beziehungen der Menschen zu ihm, lebendig und informativ aufgeschrieben.
Bernd Brunner |Mond. Die Geschichte einer Faszination|
Übers. v. Bernd Brunner. Kunstmann 2011, 320 S., EurD 19,90/
EurA 20,40/sFr 28,90
Modische Technik nennt sich jener Abschnitt, in dem so ziemlich alle erdenklichen
Aufputzmittel und Accessoires zum Einsatz
kommen. Fernbedienungsarmbänder, Tastaturknöpfe, Kabel-Ansteckblumen oder Kondensator-Ohrringe sind nicht nur am digitalen Laufsteg ein Muss.
Ein besonderes Kapitel stellen LärmKünste dar, immerhin ist die Lautstärke in
manchen Kulturkreisen das erste Kunstmittel. Tragbare Verstärker, Trichterlautsprecher oder sogenannte Musik-Monster
verströmen beinahe überirdischen TurboLärm. Natürlich kriegen auch so genannte
sinnlose Sachen jede Menge Platz. Wer fühlt
sich nicht angeregt, den nächstbesten Bleistift zu spitzen, wenn dieser in einer Maus
vergraben ist? Auch wenn man als stupider
Bastler vielleicht nicht auf Anhieb alles
zusammenbaut, so dient dieses Lehrbuch
vortrefflich als Einführung in die wichtigsten Bauteile eines PC.
HS
FAZIT Das Buch sprüht nur so vor Ideen,
Gebrauchsanweisungen und überraschenden
Tipps.
Randy Sarafan |62 Dinge, die du mit einem
kaputten Computer und anderem Elektroschrott machen kannst| Übers. v. Simone
Siebert. Eichborn 2011, 252 S., EurD 16,95/
EurA 17,50/sFr 24,50
53
07.09.2011
9:37 Uhr
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M A R K T P L AT Z
SCHWELGERISCH
Im Herbst ist die Schilcherzeit in der Weststeiermark angebrochen.
Die Autorin und Edelbrandsommeliere Maria Steinbauer aus Rassach hat deshalb ein genussvolles Porträt der Weinregion verfasst.
Darin beschreibt sie die verschiedenen Varianten der Blauen Wildbachertraube, die besonders als Schilcher einen eigenen Reiz vermittelt. Die Schilcherweinstraße führt von Ligist bis nach Eibiswald. Steinbauer erzählt auch die Geschichte des Schilchers, seine Besonderheiten, seine Entwicklung und wie man ihn genießen soll. Einen großen Teil nimmt die reich bebilderte Beschreibung
der Betriebe ein, die von der Ölmühle über die Buschenschank bis zu Gasthöfen einen breiten
Überblick bietet. Die knappen Texte und Bilder sollen eher animierend wirken und die Besucher
anlocken. Abrundend werden die Feste der Region vorgestellt sowie einige Rezepte, bei denen der
spezielle Roséwein eine wichtige Rolle spielt.
LB
Maria Steinbauer |Der Schilcher und sein Land| Styria regional 2011, 190 S., EurD/A 24,99/sFr 35,50
ANALYTISCH
Als der Süden des Sudans nun seine Unabhängigkeit feiern konnte, wurde zwar ein neues Kapitel
aufgeschlagen, der bestehende
Bürgerkrieg jedoch damit noch
nicht befriedet. Mahmood Mamdani, der nun in New York lehrt
und früher an einigen afrikanischen Universitäten unterrichtete, erläutert in seiner umfassenden Studie die historischen und
politischen Dimensionen des Konflikts, um nicht auf eine verkürzte ethnische Auseinandersetzung
zwischen Afrikanern und Arabern
hereinzufallen, wie es in hiesigen
Medien gerne geübt wird. Mitglieder der Save Darfur Kampagne
instrumentalisieren diesen Zwist
gerne als Kampf gegen den Terror. In Wirklichkeit ist es ein
Kampf ums Land, der von Sesshaften gegen Nicht-Sesshafte geführt wird. Hier sind die klimatischen Bedingungen wichtig, eine
versäumte Landreform und zentralistische Unterdrückungen, die
nicht an einer Konfliktbereinigung, wohl aber an Bodenschätzen interessiert sind. Der Politologe hat sich schon seit Jahren mit
den verschiedenen Aspekten von
Darfur beschäftigt und bietet eine
Fülle an Fakten, die unsere Bilder
von Afrika und speziell dem Sudan
hinterfragen. SE
Mahmood Mamdani |Blinde Retter. Über Darfur,
Geopolitik und den
Krieg gegen den Terror|
Übers. v. Maren Hackmann. Edition Nautilus
2011, 384 S., EurD 29,90/
EurA 30,80/sFr 41,90
54
GEWAGT
Die Geschichte ist wirklich unglaublich und faszinierend zugleich:
Ein britischer Kriegsgefangener, der
in der Nähe von Auschwitz interniert ist, will sich selbst ein Bild
über die Greuel machen, von denen
er gehört hat. So beschließt er, mit
einem gefangenen Juden die Kleidung zu tauschen. Er wird Zeuge
von schrecklichen Untaten und verlässt das Lager wieder. Nach dem
Krieg schwieg er über Jahrzehnte.
Nun ist er über 90 Jahre alt, erhielt
2010 den Titel eines „British Hero
of the Holocaust“ und wurde vom
damaligen Premierminister Brown
ausgezeichnet. Seine Geschichte hat
er nun dem BBC-Journalisten Rob
Broomby erzählt. Trotz vieler Fakten und Details kochte nach der
Veröffentlichung bald eine Diskussion los, die sich um die Frage drehte, ob die Geschichte nicht bloß erfunden sei. Avey selbst meinte, er
hätte seinen Offizieren nach der
Rückkehr nach England alles erzählt, doch sie wollten ihm nicht
glauben. Er zog deshalb einen
Schlussstrich und schwieg die nächsten 60 Jahre. Im Buch erzählt er
seine ganzen Erlebnisse während
des Kriegs, den er an verschiedenen Schauplätzen erlebte. Am eindringlichsten ist aber sicher der Teil
SE
über Auschwitz.
Denis Avey, Rob Broomby
|Der Mann, der ins KZ
einbrach| Übers. v. Dietmar Schmidt. Lübbe 2011,
360 S., EurD 19,99/
EurA 20,60/sFr 28,50
POINTIERT
Dorothy Parker (1893–1967) zählt
zu den bekanntesten Schriftstellerinnen ihrer Zeit. Sie veröffentlichte zahlreiche Gedichte, eine
Reihe von Kurzgeschichten und
mehrere Theaterstücke. Besonders
beliebt war bei ihr der Geschlechterkampf in vielen Varianten.
Doch neben ihrer schreiberischen
Tätigkeit gibt es auch viel über
ihr Leben zu erzählen, denn sie
war mehrmals verheiratet, hatte
einen großen Freundeskreis, war
Korrespondentin im spanischen
Bürgerkrieg, engagierte sich politisch und lebte eigentlich im Algonquin Hotel. Es war eine gute
Adresse. Der illustre literarische
Zirkel, der sich dort traf, nannte
sich deshalb die Algonquin Runde. Die Hauptfigur war dabei eben
Dorothy Parker, die durch ihren
Witz, ihre Schlagfertigkeit und
ihren Sarkasmus immer für ein
Bonmot gut war. Sie liebte eben
das letzte Wort und kannte keine Grenzen. Als ihr der Arzt das
Trinken ausreden wollte und prophezeite, sie wäre in einem Monat
tot, antwortete sie nur kurz: „Alles
leere Versprechungen.“ Den Witz
von Dorothy Parker vermittelt
Michaela Karl recht schmissig und
weiß viel über die 20er- und 30erJahre in New York des letzten
Jahrhunderts zu
LB
erzählen.
Michaela Karl |Noch
ein Martini und ich
lieg unterm Gastgeber| Residenz 2011,
281 S., EurD/A 24,90/
sFr 35,90
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: WERNER GOACH
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06.09.2011
18:00 Uhr
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M E D I E N M I X | M A R K T P L AT Z
>DVDs aktuell • Literatur zum Ansehen
>Digital
1885 – STURM
AUF AFRIKA
KUNST BEGREIFEN
FOTOS: POLYBAND MEDIEN; ARTHAUS (2); PANDORA FILM/LES FILMS DU POISSON/TAYLOR MEDIA - PHOTO: BARUCH RAFIC
DOKU. Im November
1884 wurde im Berliner Reichskanzlerpalais die Westafrikakonferenz einberufen.
Diplomaten, Juristen
und Geografen diskutierten dort über die
Zukunft Afrikas. Konkret wurde begonnen,
Afrika in Kolonien einzuteilen und willkürlich Grenzen zu ziehen. Filmaufnahmen von damals gibt es nicht,
deshalb wurden für den Dokumentarfilm Schlüsselszenen der Konferenz nachgestellt. Joël
Calmettes nützte für seine interessante
und teilweise spannende Doku-Fiktion
Extras: keine
auch unveröffentlichtes Archivmaterial
Regie: Joël Calmettes, Darsteller: Jacques Spiesser, Carlo
und neueste Erkenntnisse der KoloniaBrandt u. a., Polyband Medien. Dauer: 90 Min., Format: 1,78:1
lismusforschung für eine ARTE-Serie, die
(anamorph), Ton: Deutsch DD 2.0
nun auf DVD vorliegt.
BRIGHTON ROCK
THE TREE
JAMES IVORY
THRILLER. Regisseur Rowan Joffe hat den 1938 erschienenen und 1947 von
John Boulting bereits verfilmten Roman von Graham
Greene neu bearbeitet. Dabei
siedelt er die Geschichte um
den Ganoven Pinkie, der zum
Boss aufsteigen möchte, in
den 60er-Jahren an, inmitten
der Auseinandersetzungen
zwischen Roller fahrenden
Mods und Rockern. Darsteller, allen voran Sam Riley und
Helen Mirren, sowie Kamera überzeugen, die Handlung
zeigt Schwächen.
DRAMA. Auf Judith Pascoes
Roman „Our Father who are
in the Tree“ basiert der Film
von Julie Bertuccelli. Feinfühlig dreht er sich um Abschied und Tod. Simone verarbeitet die Trauer über den
Tod ihres Vaters auf ungewöhnliche Art. Sie zieht sich
auf einen Feigenbaum zurück.
Als ihre Mutter sich auf eine
neue Beziehung einlassen
könnte, kommen auch vom
Baum Reaktionen. Eine interessante Auseinandersetzung
zwischen Mensch und Natur,
ohne zusätzliche Features.
ARTHAUS CLOSE UP.
Drei Filme des amerikanischen
Regisseurs, entstanden zwischen 1985 und 1992, im
Schuber: „Zimmer mit Aussicht“, „Maurice“ und „Wiedersehen in Howards End“.
Gespickt mit prominenten
Namen, unter anderen Helena
Bonham Carter, Emma
Thompson und Anthony Hopkins, hat Ivory die Romane von
E. M. Forster in opulenten Bilderwelten spannend in Szene
gesetzt. Sie entführen ins viktorianische England der vorletzten Jahrhundertwende.
Extras: keine
Extras: keine
Extras: u. a. Audiokommentare,
geschnittene Szenen, Interviews
Regie: Rowan Joffe, Darsteller: Sam
Riley, Andrea Riseborough u. a.
Arthaus. Dauer: 107 Min., Format: 2,35:1
(anamorph), Ton: Deutsch/Engl./Franz.
DD 5.1, Untertitel optional
Regie: Julie Bertuccelli, Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Marton Csokas u. a.
Alive AG. Dauer: 92 Min., Format: 1,85:1
(anamorph), Ton: Deutsch/Englisch DD
5.1, deutsche Untertitel optional
Regie: James Ivory, Darsteller: Hugh
Grant, Ben Kingsley u. a. Arthaus. 3
DVDs, Dauer: 383 Min., 1,78:1/2, 35:1 (anamorph), Ton: Deutsch/Englisch DD
2.0/DD 5.1, deutsche Untertitel optional
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
Das „Belser
Lexikon der
Kunst- & Stilgeschichte“
ist ein fachkundiger
Begleiter in
die Welt der
Bildenden Kunst – von Malerei über Plastiken bis
zur Architektur. Von den frühen Hochkulturen
bis zur Moderne werden rund 1300 Werke in Bild
und teils auch Ton vorgestellt. Außerdem die
Künstler, Epochen und über 200 Museen. Die
Bedienung ist einfach, entweder wird die Zeitleiste genutzt oder eine der vielfältigen Suchmöglichkeiten, bis hin zur Volltextsuche. Die versammelten Werke lassen sich nach Künstler, Stil,
Herstellung und anderen Kriterien durchforsten.
Ein informatives Kompendium, das leider nur
unter Windows läuft.
HL
|Belser Lexikon der Kunst- & Stilgeschichte 3.0|
United Soft Media 2011, 1 DVD für Win
Auch als Download auf www.usm.de erhältlich!
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06.09.2011
18:00 Uhr
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M A R K T P L AT Z | M E D I E N M I X
PARODISTISCH
KULINARISCH
Der letztjährige BachmannPreisträger Peter Wawerzinek
ist angeblich ein „besessener
Vielleser“, der sich seit 30
Jahren mit unterschiedlichen
Texten deutschsprachiger Autoren beschäftigt. Dabei schreibt er sie fort, um, anders – es
entstehen Parodien. Eine Sammlung davon
wurde nun in den „Raubzügen“ veröffentlicht. Sie beginnt mit modernen Klassikern
wie Gottfried Benn, Rilke oder Alfred Döblin,
geht weiter zu Ernst Jandl, Enzensberger,
Rolf Hochhuth oder Peter Handke. Unter den
Klassikern der DDR-Literatur firmieren z. B.
Anna Seghers oder Wolfgang Hilbig. Auch
Thomas Brussig bekommt sein Fett ab. Die
Palette der Gegenwartsautoren ist breit und
reicht von Wladimir Kaminer bis Helge
Schneider. Es sind vorwiegend kürzere Texte,
viel Lyrik, doch jede Gattung wird bemüht.
Die Schneisen durch die Literatur sind ungemein vielfältig. Und weil Wawerzinek auch ein
geschätzter Vortragskünstler ist, hat er eine
Reihe seiner Texte eigens für eine CD eingelesen, die dem Buch beiliegt – weshalb es auch
unter den Hörbüchern firmieren kann. Die
Lesung animiert, ist doch Wawerzinek ein
prächtiger Stimmenimitator.
Schon zwei Bände zum Thema Küchenirrtümer
hat Ludger Fischer verfasst und jetzt gibt es auch noch
ein Hörbuch darüber. Fischer studierte zwar nicht
Ernährungswissenschaften, sondern vielmehr Politik
und Kunstgeschichte, aber er ist in Brüssel in Gremien für die Hersteller von Lebensmitteln sowie für Lebensmittelsicherheit und setzt sich deshalb ständig mit
Lebensmitteln auseinander.
Über viele Themen macht er sich Gedanken. Darunter etwa Meersalz, das angeblich gesünder sein soll, dann Olivenöl, Glutamat, Kaffee
sowie Muscheln, Essig oder Zusatzstoffe. Breite Palette. Man erfährt einfache Dinge,
etwa wie absurd es ist, ein blutiges Steak zu bestellen, denn da ist kein Blut mehr vorhanden. Die rötliche Flüssigkeit kommt vom Myoglobin, das dem Muskelgewebe seine
rote Farbe gibt. Erleichtert kann man auch Spinat wieder aufwärmen. Und Fischer versichert, dass Eischnee aufgeschlagen werden kann, selbst wenn etwas Eigelb dabei ist. Im
Selbstversuch konnte er es bestätigen. Selbst Nudeln müssen nicht in kochendes Wasser
gegeben werden. Manche der Tipps sind hilfreich, sparen Zeit, Geld und vor allem Nerven bei der Küchenarbeit.
Ludger Fischer argumentiert sehr unaufgeregt, unterhaltsam und hat die eine oder andere Anekdote parat, um seinen Gedankengang zu untermauern. Als Erzähler fungiert Florian Fischer, der sich schon bei so manchem Hörbuch bewährt hat.
Peter Wawerzinek |Wawerzineks Raubzüge durch die
deutsche Literatur| Galiani 2011, 240 S., 1 CD, ca. 78 Min.,
EurD 24,99/EurA 25,70/sFr 35,90
DRASTISCH
Auch Hörbücher lassen
sich durch andere Medien erweitern. Den
Beweis tritt „Level 26“
an. Es ist eine flotte Krimihandlung, die ambitioniert von Udo Schenk gelesen wird. Protagonist ist Steven Dark, der bei seinem letzten
Einsatz übers Ziel hinausschoss und einen
gesuchten Serienkiller hinrichtete. Er quittiert
zwar den Dienst, doch die neuen Fälle interessieren ihn immer noch. Bald werden Leichen
gefunden, die nach Tarot-Motiven hingerichtet
wurden. Nun kribbelt es Dark in den Fingern …
An unterschiedlichen Stellen im Hörbuch tauchen Codes auf; wenn man diese im Internet
eingibt, kann man per Video live bei Steve
Darks persönlicher Tarotsitzung dabei sein.
Anthony E. Zuiker, Duane Swierczynski |Level 26: Dunkle
Prophezeiung| Übers. v. Axel Merz. Lübbe Audio, 6 CDs,
444 Min., EurD 19,99/EurA 20,20/sFr 29,90
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Ludger Fischer |Küchenirrtümer| Eichborn Audio, 1 CD, 85 Min., EurD 14,95/EurA 15,10/sFr 22,90
ABRECHNUNG
FAMILIÄR INTIM
Kurz vor seinem
Tod diktierte Thomas Harlan noch
diese intensive
letzte Auseinandersetzung mit
seinem Vater Veit
Harlan. Dieser war einer der wichtigsten
Regisseure unter den Nazis, der durch Filme wie „Jud Süß“ propagandistisch für sie
arbeitete. Nach 1945 kam der Regisseur
Veit Harlan zwar vor Gericht, wurde jedoch
von der „Beihilfe zur Verfolgung“ freigesprochen. Thomas hasste seinen Vater, wollte für die Schuld, die dieser auf sich geladen hatte, jedoch auch büßen. Die Konfrontation eines Sohns mit seinem NaziVater ist eine Geschichte über Verlust und
Verrat sowie Lüge und Trauer.
Als Sprecher agiert Thomas Thieme. Er
spielte schon an manchem renommierten
Theater, wie dem Burgtheater, der Schaubühne in Berlin und dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Außerdem wurde er 2000
zum Schauspieler des Jahres gewählt. Da ist
natürlich Wucht zu hören – und mit Emotion geht Thieme an die Sache heran.
Über die „Schoßgebete“ wurde allerorten
berichtet und die Autorin tauchte in vielen
Interviews sowie Talkshows auf. Wer wirklich vom Inhalt noch
keine Ahnung hat: Elizabeth versucht mit ihrem
Mann eine erfüllte Beziehung zu führen. Da
nimmt Sex in vielen Spielarten natürlich eine
wichtige Rolle ein. Das ist freilich nicht alles,
denn da gibt es noch den Alltag, das Essen
kochen, die Gespräche mit der Therapeutin.
Die Eltern sind nicht ohne und lasten auch noch
auf der Protagonistin, und dann sind noch
diese Erinnerungen an einen schrecklichen
Unfall. Geschrieben ist es flott, leichtflüssig
in ähnlicher Offenheit, wie ihr erster Bestseller. Natürlich knöpft sie sich wieder einige
Tabus vor, die es zu überwinden gilt. Selbstbewusst und doch verletzlich beschäftigt sie
sich also mit Ehe und Familie. Dazu hat Roche
sich auch an der eigenen Biografie bedient. Eingelesen wurde das Buch von ihr selbst. Sie hat
zwar Erfahrung als Moderatorin, doch die Fülle in der Stimme geht ihr ein wenig ab. Sie liest
zu abgeklärt, fast distanziert.
Thomas Harlan |Veit Strunz!| intermedium records, 1 CD,
55 Min., EurD 14,90/EurA 15,10
Charlotte Roche |Schoßgebete| Hörbuch Hamburg/Osterwold
Audio, 8 CDs, 581 Min., EurD/A 19,99/sFr 30,50
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: EICHBORN VERLAG
>Hörbuch aktuell
55-57_HB_NM
06.09.2011
18:01 Uhr
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FOTO: BILDSCHÖN/MARK BASSETT
EINFÜHLSAM
Es ist ein ungewöhnliches Buch, das Patrick Ness (Foto)
nach einer Idee von Siobhan Dowd verfasste. Dowd ist
leider nach schwerer Krankheit verstorben.
Im Mittelpunkt steht der 13-jährige Conor O’Malley,
der mit seiner Mutter, die schwer an Krebs erkrankt
ist, zusammenwohnt. Jede Nacht erscheint ihm ein
Monster, das ihm drei Geschichten erzählt und von ihm
eine vierte Geschichte hören will, die sich um das Leben
drehen soll und um die Wahrheit sowie um mögliche
Verluste. Conor selbst hat das Leben nicht gut mitgespielt.
In der Schule wird er gemobbt, die Eltern sind geschieden und mit seiner Großmutter, die sich um die kranke Mutter Conors kümmert, versteht er sich nicht sonderlich.
Die einzige Instanz, mit der er noch sprechen kann, ist eben das Monster. Es sind sehr
lebendige Figuren und die Themen Krankheit und Tod werden zwar direkt, doch sehr sensibel und mitfühlend behandelt. In 13 Ländern wird der Roman gleichzeitig veröffentlicht. Als Sprecherin wählte man Maria Furtwängler, die zwar sehr getragen spricht, aber
dennoch das nötige Einfühlungsvermögen mitbringt.
Patrick Ness, Siobhan Dowd |Sieben Minuten nach Mitternacht| Übers. v. Bettina Abarbarnell. Hörverlag, 4 CDs, 276 Min.,
EurD/A 19,99/sFr 29,90
NEUE ERFAHRUNGEN
Der „Heldensommer“ ist eine Art Roadmovie, das sicher viele
anspricht, denn die Charaktere sind gut gezeichnet, die Geschichte spannend und die Sprache lakonisch, schnoddrig und mit der
richtigen Dosis Wortwitz versehen. Es geht um den jungen
Phillip, der in Französisch nicht die Klasse besteht. Das will er
nicht auf sich sitzen lassen; so fährt er mit seinem Kumpel
Borawski und einem geklauten Soldatenkopf aus Weltkriegsbeton nach Frankreich. Der Plan: dort ist das Heimatdorf des
Austauschlehrers, der für die schlechte Note verantwortlich ist. Und dort wollen sie den
Wehrmachtsschädel auf das hiesige Widerstandsdenkmal platzieren. Das ist natürlich
nur die Rahmenhandlung, denn wichtig werden die Erlebnisse und auch Hindernisse,
die ihnen auf der Reise begegnen. Da geht es schon mal drunter und drüber. Timmo
Niesner liest die Geschichte. Er ist die deutsche Stimme von Frodo aus dem „Herrn der
Ringe“ – er hat schon eine Reihe Hörbücher für eher jugendliches Publikum eingesprochen. Enthusiasmus bringt er genug mit, und so wird eine vergnügliche Reise daraus.
Andi Rogenhagen |Heldensommer| Lübbe Audio, 6 CDs, 398 Min., EurD 16,99/EurA 17,20/sFr 25,90
KRIMINALISTISCH FLOTT
Drei Hörspiele aus
der Blüte der Krimizeit des Radios
wurden hier verpackt, nämlich
„Neues von Dickie
Dick Dickens“, dann „Die Dame ist leichtfertig“ sowie „Die vielgeliebte Dame“. Als
beliebte Serienhelden firmieren Dickie Dick
Dickens, Philip Odell und Heather McMara.
Vielleicht sind für manche diese Hörspiele
aus den 50er- und 60er-Jahren des letzten
Jahrhunderts zu nostalgisch, doch trotz
ihrer Jahre strotzen sie vor Frische,
abwechslungsreicher und spannender
Handlung und originellen Charakteren.
Dickie Dick Dickens ist einer jener guten
Ganoven, die einen eigenen Ehrenkodex
haben. In den Hörspielen mit Damen ermitteln der Privatdetektiv Philip Odell und seine Partnerin Heather McMara einmal zu
rätselhaften Morden in einem medizinischen Forschungslabor. Im anderen Fall
wurde ein berühmtes Fotomodell entführt.
Odell ermittelt, doch dann verschwindet seine Partnerin Heather ebenfalls. Es sind wie
immer sehr charmante und überaus einfallsreich inszenierte Fälle, die eine breite
Riege an Sprechern erfordern. Dickie Dick
Dickens wird von Carl-Heinz Schroth
gesprochen. Albert C. Weiland hat nicht nur
Regie geführt, sondern auch gleich die Rolle des Philip Odell übernommen. Daneben
sind noch Brigitte Dryander, Fritz Haneke
oder Norbert Gastell zu hören.
|Krimi Kult Kiste 7| Hörverlag, 12 CDs, 410 Min., 194 Min.,
232 Min., EurD/A 29,99/sFr 42,50
58-61 junior
06.09.2011
18:03 Uhr
Seite 58
JUNIOR
Wieder-Entdeckung!
1951 erschien Heiri Strubs Buch – und verschwand alsgleich aus
den Buchläden. Die seltsame Geschichte eines Zensurversuchs mit
endlich gutem Ausgang: „Das Walross und die Veilchen“ erschien
jetzt in einer Neuausgabe in Originalversion. VON NILS JENSEN
de. Wie man Freunde gewinnt? Das steht dezidiert in diesem köstlichen Buch, das der Schweizer Illustrator Heiri Strub ersonnen und gezeichnet hat. Und das ist runde 60 Jahre her.
Damals erschien das Buch in Aarau, und
während es Rezensenten hochlobten, steckte
der Verkauf fest: Es wurde kaum angeboten,
man musste insistieren, wollte man ein Exemplar. Wie das? Nun, erst als Strub vor einigen
Jahren in der sogenannten „Fiche-Affäre“ seine Polizeiakten lesen konnte, erfuhr er den
wahren Hintergrund: Der engagierte Illustrator und Künstler Strub war damals Mitglied der PdA (Partei der Arbeit; schweizerisches Äquivalent zur KP) und stand unter polizeilicher Beobachtung. Und diese Polizei hintertrieb den Vertrieb und Verkauf des Buchs
– mit Erfolg. Resultat: Strub, der schon damals
Werbeaufträge hatte und politische Kampagnen illustrierte, musste sich mit Frau und
siebenjähriger Tochter eine neue Existenz
suchen. Er wanderte in die DDR aus, fand in
Frankfurt am Main einen Drucker, der das
Buch neu auflegte, und fand schnell Käufer:
innert kurzer Zeit war die Auflage vergriffen,
das gescheite Buch um Freundschaft und
Zusammenhalt einerseits und um Verbohrtheit und Dickköpfigkeit andererseits ein Erfolg
geworden. Nur Schweizer Kinder mussten,
Urmel gratuliert!
Max Kruse feiert seinen 90. Geburtstag, und sein bekanntestes Geschöpf,
das Urmel, gratuliert ganz herzlich. HANNA BERGER gratuliert ebenfalls.
Das Urmel tritt ja mittlerweile
nicht nur in über 800.000 verkauften Büchern auf, sondern
auch als Filmheld und im Puppentheater. Dabei ist sein Schöpfer Max Kruse zuerst mit etwas
anderem berühmt geworden:
„Der Löwe ist los“ heißt die
Geschichte, die 1965 kam, verfilmt vom Hessischen Rundfunk,
in einer Aufführung der Augsburger Puppenkiste. Vier Jahre danach hieß es dann: „Urmel aus dem Eis“. Bis heute sind 11 Abenteuer um das Urmel erschienen.
58
Just zum runden Geburtstag
seines Erfinders kommt „Urmel
schlüpft aus dem Ei“, neu illustriert von Günther Jakobs, heraus. Außerdem ein über dreihundertseitiger Sammelband,
„Das dicke Urmel-Buch“. Wie
des Autors Leben eigentlich
war, erzählt er ausführlich
nebst viel Fotomaterial in seiner Autobiografie „Im Wandel
der Zeit “. Denn die Schriftstellerei war ihm nicht in die Wiege gelegt: Kruses
Mutter ist die weltbekannte Käthe Kruse, die
wie gesagt, über ein halbes Jahrhundert warten, bis sie sich an Strubs Buch erfreuen konnten. Heuer ist es in originaler Aufmachung im
Atlantis Verlag (Imprint von Orell Füssli) erschienen.
Wie weit es geht, dass Veilchenduft sogar
Walrösser zu verwirren vermag, und wie voreingenommen manche Herren Professoren sein
können, wie Freundschaft hält und wie Geschichten gut ausgehen können, ohne jemals
in Kitsch und Heuchelei abzurutschen, das
und noch mehr bietet dieses endlich wieder
zu genießende Buch des mittlerweile 95-jährigen Heiri Strub. Der immer noch zeichnet.
Übrigens: Den Text der Neuausgabe hat er
überarbeitet, die Illustrationen zeichnete er
damals direkt auf Zinkplatten und für die
Kolorierung machte er Linolschnitte. Die aufwendige Herstellungsweise lohnt sich – das
Resultat spricht für sich, erstklassig!
ZUM AUTOR
Strub, 1916 in der Schweiz geboren, lebt nach
Jahren der Emigration wieder in der Nähe
von Basel.
Heiri Strub |Das Walross und die Veilchen| Atlantis 2011,
48 S., Euro (A/D) 16,80/sFr 26,80
Schöpferin unzähliger Puppen, die mittlerweile
bedeutenden Sammlerwert besitzen. Max Kruse
hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Puppenfabrikation wieder aufgebaut und geleitet, bis er die
Agenden seiner Schwester übergab und sich ganz
aufs Schreiben konzentrierte. Den Urmel gibt es
mittlerweile in China ebenso wie in Korea, in
Russland wie in Schweden. Kruse erhielt für sein
Gesamtwerk den Großen Preis der Deutschen
Akademie für Kinder- und Jugendliteratur
(2000), er ist Mitglied des P.E.N. und Träger des
deutschen Bundesverdienstkreuzes und lebt
heute in der Nähe von München.
BÜCHER ZUM JUBILÄUM
Max Kruse |Urmel schlüpft aus dem Ei| Ill. v. Günther Jakobs.
Thienemann 2011, 32 S., EurD 12,95/EurA 13,40/sFr 20,50
|Das dicke Urmel-Buch| Ill. v. Erich Hölle. Thienemann 2011,
328 S., EurD 9,95/EurA 10,30/sFr 15,90
|Im Wandel der Zeit. Wie ich wurde, was ich bin| Thienemann
2011, 592 S., EurD 19,95/EurA 20,60/sFr 30,50
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: ATLANTIS VERLAG; THIENEMANN VERLAG
Aufgefallen ist mir der Titel gleich, als
ich das Buch in die Hände bekam: Ein monströses Walross, das einem jedoch nicht wild
und böse entgegenstarrt, sondern mit augenzwinkerndem Vergnügen. Der Zeichenstil
ist realistisch, kein Strich zuviel und doch voller Details. Die Geschichte beginnt mit dem
Streit eines Professors und eines Gärtners.
Während der Professor seine steife Lehrmeinung vorträgt – Melonen sind Früchte des
Südens und können nur dort wachsen –, widerspricht der kundige Gärtner: „Wenn man Pflanzen richtig pflegt, wachsen sie überall.“ Ha,
schreit der in seinem tiefsten Professorenherzen getroffene Mann, wenn das gelingt, dann
„müssten wir Ihnen eine Million Franken
bezahlen, den Superpreis aus der Melonenkernenbrotforschungsstiftung“.
Ergo baut der Gärtner mitten im Eis ein
Treibhaus und züchtet darin Melonen und Veilchen (die gehören zur Abmachung dazu!); und
irgendwann bricht das schwere Walross durch
den vermeintlichen Schneehügel, der in Wahrheit das Dach des Glashauses ist, stürzt tief –
da „stieg süßer Veilchenduft in seine Nasenlöcher. Der roch so gut, dass das Walross
genießerisch die Augen schloss und lächelte.
Da lachte auch der Gärtner, obwohl er Grund
hatte, böse zu sein.“ Und so werden sie Freun-
58-61 junior
06.09.2011
18:10 Uhr
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JUNIOR
Vom Leben lernen!
Ein wichtiges Thema für Heranwachsende, bei dem man
Klartext sprechen sollte. Auch wenn das selbst im 21. Jahrhundert manche immer noch nicht schaffen: „Coming out“.
VON ANNA ZIERATH
Das ist so eine Sache: Gerade ist der erste
Ansturm und Drang der Pubertät vorbei, der
Jungmensch blickt wieder halbwegs geradeaus, das taucht was auf, so ein Gefühl, und
man kann mit niemand darüber reden. So wie
in Nick Burds Romanerstling „Die Wonnen
der Gewöhnlichkeit“. Statt auf die Girlies der
Cheerleadertruppe abzufahren, fühlt sich sein
Protagonist Dade zum Star der FootballMannschaft hingezogen.
Einschub: Heute ist Homosexualität kein
besonderes Thema mehr (bis auf gewisse verbohrte Gruppen), aus den einschlägigen Selbsthilfegruppen wurden selbstbewusste Interessensvertretungen. Das gilt für Erwachsene.
Was aber, wenn ein junger Mensch draufkommt, dass er nicht so tickt wie die meisten
Mitschüler? Wohin kann er sich vertrauensvoll wenden, mit wem kann er sich austauschen, wo kann er nachfragen? Aufklärung
ist vonnöten, in jedem Fall. Auch wenn im
Internet und den zig Fernsehkanälen alles und
jedes gezeigt wird und scheinbar „eh alles
klar“ ist. Seriöses Wissen um die eigene Sexualität, ob Hetero, ob Homo, liegt eben nicht
„auf der Straße“, sprich in Internet & Co, sondern muss erlernt sein. Ein etwas hinkender
Vergleich, aber doch: Es ist wie mit dem Autofahren; wer sich das irgendwie beibringt ohne
Kenntnisse der Verkehrsregeln und der Technik, wird wohl selten einen gesellschaftlich
brauchbaren Umgang mit besagter Tätigkeit
entfalten.
Wir haben hier drei Bücher ausgewählt,
die exakt zum Thema passen: Romane, die
von den Erfahrungen, Belastungen, der Einsamkeit und Verlassenheit erzählen. Von der
Wut im Bauch und vom kaum bewältigbaren Schritt, sich als Persönlichkeit selbst anzuerkennen. Erzählen vom stillen Kampf innerhalb der Familie, von den Hänseleien in der
Schule, vom schließlichen Ausbruch und vom
Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben. Das
geht natürlich nicht so glatt, wie es klingt –
und das ist ein Qualitätszeichen dieser Romane: Dass sie weder eine tiefschwarze Unterschichtstory beibringen noch ein Comingout-Märchen mit Rosen und Tralala. Es sind
drei Geschichten, die Homosexualität zum
Thema haben und für die Altersgruppe exakt
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
passen. Wie gesagt, da ist einmal die Geschichte des jungen Dade, und die Geschichte jenes
Sommers vor dem College, als Dade sein
Coming out erfährt. Er lernt mühsam und
schmerzlich, wie es ist, zu seinem Ich zu stehen; wie man Spott und Häme übersteht, ohne
unterzugehen. Angesiedelt in den USA heute, Mittelschicht, Autos und Vorgärten und
Personen, die weder besonders auffällig noch
besonders böse sind, Alltag eben. Nick Burd
schafft es bravourös, kommt ohne Tragik und
Schwarzweißmalerei aus.
Im zweiten Beispiel beschreibt Anna Kuschnarowa in „Junkgirl“ den Ausbruch eines
wohlbehüteten Mädchens in Deutschland aus
familiärer Zwangsumklammerung. Alissa verliebt sich in eine neue Mitschülerin, um dann
als Alice an deren Seite durch die Szene zu
streifen. Alice – so nennt sie ihr alter ego,
nachdem sie Drogen und Subkultur kennenlernte. Kuschnarowa gelingt eine durchaus zärtliche Beschreibung des Mädchens in
allen Höhen und Tiefen, Ende offen. Kein
Hohelied auf Drogen oder Aussteigerfolklore, Klartext eben, und das in rasanter Geschichte. Das dritte Buch stammt von Floortje
Zwigtman und ist der Abschluss ihrer Trilogie um Adrian Mayfield. Diese spielt in London Ende des 19. Jahrhunderts, Mayfield ist
Lehrjunge, mittellos, wird von einem Kunstmaler als Modell aufgenommen. Die Teile
sind jeder für sich lesbar, ebenso als großer
Bogen um Normen und Verlogenheit jener
Epoche.
Dreimal Klartext zum Heranwachsen und
Werden. Dreimal Klartext mit ganz verschiedenen Stilmitteln und Stories zu einem
ganz wichtigen Thema. Gewünscht, dass es
engagierte Lehrpersonen gibt, die diese Romane ihren Schülern empfehlen.
® DIE BÜCHER
Nick Burd |Die Wonnen der Gewöhnlichkeit| Übers. von
Wolfram Ströle. dtv premium 2011, 320 S., EurD 14,90/
EurA 15,40/sFr 21,90
Anna Kuschnarowa |Junkgirl| Gulliver/Beltz & Gelberg
2011, 223 S., EurD 12,95/EurA 13,40/sFr 18,90
Floortje Zwigtman |Adrian Mayfield – Auf Leben und Tod|
Übers. v. Rolf Erdorf. Gerstenberg 2011, 634 S., EurD 22/
EurA 22,70/sFr 31,90
® ZUR SACHE
Zurück zum Urknall – Die große Verschwörung enthält eine Reihe von Beiträgen
über wissenschaftliche Themen, die einen
guten Einblick in aktuelle Theorien rund ums
Universum geben: seine Entstehung, seine
dunkle Seite, Wurmlöcher und Zeitreisen.
„Zurück zum Urknall“, von vier bedeutenden
Wissenschaftern geschrieben, besticht mit
übersichtlichen und verständlichen Begriffserklärungen (unser Sonnensystem; die
Newtonschen Gesetze etc.). Es klingt alles viel
komplizierter, als es sich liest. Immerhin geht
es ja um das Schwein Freddy und die Frage:
An welchem Ort des Universums würde ein
Schwein am liebsten leben?
Auch Wie man aus 92 Elementen ein
ganzes Universum macht dreht sich ums
Universum: Der Chemielehrer Adrian Dingle
zeigt, „wie sich chemische Elemente miteinander verbinden und dabei jede Menge Dinge
bilden (alle, um genau zu sein)“. Das großformatige Buch ist in vier Kapitel unterteilt
(Weltraum, Erde, Natur; Im Alltag; Materialien;
Technik) und anschaulich illustriert. Da wird
man schnell warm mit Kalten Kometen, mit
Diamantenfieber oder mit Chemie im Alltag
zwischen Fast Food und prickelndem Zuckerwasser. Die einzelnen Themen sind stets auf
Doppelseiten mit mehreren Textblöcken aufbereitet, die Erklärungen sowie Beispiele bieten. Hübsch.
In Trickchemie geht es um Schweine, genauer um den schlauen Hein und seine Klassenkameraden. Und um ein neues Schulfach:
Chemie. Ziemlich kompliziert das Ganze. Bis
Rosa Griebenschmalz ihnen anschaulich
macht, dass Chemie halt aus mehr besteht
als aus so komisch klingenden Sachen wie
Säuren, Laugen und Periodensysteme. Es
folgen alltagspraktische Beispiele, einfach
erklärt und leicht nachzumachen (ob man aus
Milch, Essig und Backpulver einen Klebstoff
machen kann? Man kann!). So eine Rosa
möchte man allen Schulkindern wünschen,
nicht nur Schwein Hein & Freunden.
HANNA BERGER
Lucy und Stephen Hawking |Zurück zum Urknall – Die
große Verschwörung| Übers. v. Irene Rumler, Ill. v. Quint
Buchholz. cbj 2011, 304 S., EurD 17,99/EurA 18,50/sFr 27,90
Adrian Dingle |Wie man aus 92 Elementen ein ganzes
Universum macht| Übers. v. André Mumot. Bloomsbury
2011, 96 S., EurD 16,90/EurA 17,40
Robert Griesbeck, Nils Fliegner |Trickchemie. Schräge
Experimente und schweineschlaue Tricks| Boje 2011,
117 S., EurD 9,99/EurA 10,30
59
58-61 junior
07.09.2011
10:09 Uhr
Seite 60
JUNIOR
NORA LIEST …
Nora Zeyringer, 18,
die starke Stimme der
Jugend
ÜBER DEN HOLOCAUST
„Esther“ von Maya Rinderer und „Nicht ohne
dich“ von Leslie Erika Wilson behandeln beide den
Holocaust. Während Maya Rinderer aus der Perspektive der 15-jährigen Jüdin Esther schreibt,
erzählt Leslie Erika Wilson ihre Geschichte aus
der Sichtweise eines jungen deutschen Mädchens,
Jenny, die in ihren besten Freund, den Juden Raffi, verliebt ist. Esther lebt 1942 mit ihrer Mutter
und den kleinen Geschwistern in Frankfurt. Als sie
den Transportbescheid bekommen, flieht Esther
mit der jüngsten Schwester Rachel und schlägt
sich von da an alleine durch. Ihr Ziel ist eigentlich
Frankreich, aber soweit kommt sie nicht. Es
scheint, als könnte Esther dem für sie vorbestimmten Schicksal nicht entfliehen.
Jenni und Raffi sind seit sie denken können
befreundet. Durch Zufall entgeht Raffi der Deportation, aber Jenny kommt zu spät, um seine Mutter ebenfalls vor dem Transport zu bewahren.
Durch die Liebe, die Jenny für Raffi empfindet, ist
sie bereit, alles zu tun, um ihn zu retten, auch
wenn sie selbst dabei zu Schaden kommt. Fast
hätten Jenny und ihre Mutter es geschafft, Raffi
bei sich zu verstecken, aber sie werden verraten
und müssen alle Hebel in Bewegung setzen, um
Raffi – und sich selbst – zu retten. Vom Stil her
schreibt Maya Rinderer, die erst 15 Jahre alt ist,
wie eine Jugendliche. Ihre Sätze sind so formuliert, dass man merkt, eine junge Person hat diese
verfasst. Ich denke, sie kann ihre Fähigkeiten im
Schreiben durchaus noch verbessern. Es ist ein
sehr schwieriges Thema, dem sie sich in „Esther“
angenommen hat, und dafür, dass es ihr erster
Roman ist, ist es ihr gar nicht so schlecht gelungen. Allerdings gefiel mir Leslie Erika Wilsons
Buch von Stil und der Geschichte her besser. Beim
Lesen des Buchs hab ich deutlich gemerkt, dass
das Buch von einer Erwachsenen geschrieben
wurde, sie formuliert die Sätze mit mehr Bedacht
und beschreibt die Situation besser, wie ich finde.
Ich empfehle diese Bücher allen über 13, die schon
etwas Vorwissen zum Holocaust besitzen und
auch gerne mal ernstere Bücher lesen.
Maya Rinderer |Esther| Bucher 2011, 356 S., EurD/A 19,90/
sFr 29,90
Leslie Erika Wilson |Nicht ohne dich| Übers. v. Ch. Prummer-Lehmair u. K. Förs. Boje 2011, 384 S., EurD 16,99/
EurA 17,50/sFr 24,50
60
Vom Ende der Welt
In Zeiten, da immer öfter von Naturkatastrophen und anderen
Krisen berichtet wird, verwundert es nicht, dass im Jugendbuch
vermehrt Weltuntergangsszenarien durchgespielt werden. Eine
aktuelle Auswahl von HANNES LERCHBACHER.
Ob Eiszeit, Erdbeben oder außerirdische
Besucher – das Kino hat mit Katastrophenszenarien regelmäßig Kassenschlager hervorgebracht. Im Mittelpunkt todesmutige Helden, die ihr Leben aufs Spiel setzen, als ginge es um Spieljetons beim Familienroulette.
Auch die vorliegenden Bücher bieten schauderbare Zukunftsvisionen. Hier sind
die Helden Jugendliche.
Die 16-jährige Lucy in Jo
Treggiaris „Ashes, Ashes“
kämpft, während der
Großteil der Weltbevölkerung Naturkatastrophen und Epidemien zum
Opfer gefallen ist, in den
Überresten von New York
ums Überleben. Von einem Tsunami ins Landinnere getrieben,
schließt sie sich einer Gemeinschaft an, die
zwar Schutz bietet, aber auch stetes Ziel von
Angriffen bewaffneter Truppen ist, die auf der
Suche nach etwas sind. Als Lucy begreift, worum es geht, ist es bereits zu spät. Gefällig!
Von einem noch vergleichsweise intakten
New York erzählt „Die Verlorenen von New
York“, der zweite Band von Susan Beth Pfeffers Endzeit-Reihe. Das Szenario ist gleich wie
beim Vorgänger „Die Welt wie wir sie kannten“: Ein Asteroid schlägt auf dem Mond ein
– und dieser, nun näher bei der Erde, löst alle
erdenklichen Katastrophen aus. Mittendrin
muss Alex auf seine Schwestern aufpassen,
Lebensmittel auftreiben und sich auf immer
neue Unwegbarkeiten einstellen.
Eine Fortsetzung ist „Numbers – Den Tod
vor Augen“ von Rachel Ward. Adam hat die
gruselige Gabe, in den Augen der Menschen
die Todestage zu lesen, von seiner Mutter
geerbt. Als ein Datum in immer mehr Augen
aufscheint, muss er etwas unternehmen. Ein
bewährtes Konzept neu aufgesetzt.
In „X.TRA“ erzählt Stephen Wallenfels
von einer außerirdischen Invasion aus Sicht
zweier Zeugen. Die 12-jährige Megs wartet
in Los Angeles auf ihre Mutter, als eine Flotte bedrohlicher Weltraumkugeln auftaucht.
Der 15-jährige Josh ist derweilen mit seinem Vater im Nordwesten der USA. Auch
hier schweben die Kugeln am Himmel. Was
die wollen, wird nicht klar. Die beiden Kids
erzählen abwechselnd von Hunger, Gefahren
und zunehmender Hoffnungslosigkeit.
Existenzängste leidet Neva im gleichnamigen Roman von Sara Grant keine. Dennoch
will sie ausbrechen. Sie ist überzeugt, dass es
jenseits der abgeschirmten Kuppel, in der
sie aufgewachsen ist, eine Welt gibt, in der
Menschen noch ein Recht auf Eigenständigkeit haben und für die es
sich lohnt zu kämpfen.
Um Kuppeln geht es auch in
„Deadline 24“ von Annette
John. Unter diesen sind die
Menschen nämlich sicher,
während sie außerhalb hungrigen Bestien als Futter dienen. Sally verlässt auf der Suche
nach ihrem Bruder die Kuppelfarm der Familie und zieht in den
Kampf gegen die mächtigen Warlords. Spannend bis zuletzt!
Lauren DeStefano erzählt in „Totentöchter“ von einer Zukunft, in der die Lebenserwartung recht niedrig ist. Frauen sterben
mit zwanzig, Männer mit fünfundzwanzig,
punkt. Mädchen im gebärfähigen Alter werden entführt und anschließend verkauft oder
getötet. Die 16-jährige Rhine hat „Glück“ –
sie landet in einem Harem. Pech nur, dass sie
sich statt in den Hausherrn in einen Diener
verliebt. Im Gegensatz zu den vorherigen
Büchern richtet sich letzteres ausschließlich
an Mädchen, die zudem ein Faible für üppige Liebesgeschichten haben.
DIE BÜCHER
Lauren DeStefano |Totentöchter. Die dritte Generation|
Übers. v. Catrin Frischer. cbt 2011, 394 S., EurD 16,99/
EurA 17,50/sFr 26,90
Susan Grant |Neva| Übers. v. Kerstin Winter. Pan 2011,
349 S., EurD 16,99/EurA 17,50/sFr 26,90
Annette John |Deadline 24| Beltz & Gelberg 2011, 375 S.,
EurD 16,95/EurA 17,50/sFr 24,90
Susan Beth Pfeffer |Die Verlorenen von New York| Übers.
v. Annette von der Weppen. Carlsen 2011, 350 S., EurD
16,90/EurA 17,40/sFr 26,90
Jo Treggiari |Ashes, Ashes| Übers. v. Dorothee Haentjes.
ars edition 2011, 375 S., EurD 16,95/EurA 17,50/sFr 26,90
Stephen Wallenfels |X.TRA| Übers. v. Anja Malich. Boje 2011,
284 S., EurD 14,99/EurA 15,50/sFr 21,90
Rachel Ward |Numbers – Den Tod vor Augen| Übers. v.
Uwe-Michael Gutzschhahn. Chicken House 2011, 429 S.,
EurD 14,95/EurA 15,40/sFr 23,90
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
58-61 junior
06.09.2011
18:16 Uhr
Seite 61
3x3
VON HANNES LERCHBACHER
BILDERBUCH
Rosa und Bleistift von Jens Rassmus ist wie ein Stück Lieblingstorte! Der Genussfaktor ist nicht erklärbar. Geschichte und Bilder sind stimmig, von der ersten bis zur letzten Seite passt
hier einfach alles, weckt Lust zum Lesen, Wiederlesen, Vorlesen, selbst zu zeichnen juckt es, und man möchte es verschenken – einmal, zweimal …
Astrid Walentas Affe ist wieder unterwegs, diesmal per Teppich. Ferdinand im Morgenland ist ein lustig-fröhlicher Kulturaustausch. Singend und reimend macht sich
Ferdinand auf, Neues zu entdecken. Die farbenfrohen Bilder der Reise liefert Maria Hubinger in gewohnt
(papier-)reißerischer Manier.
Die große Reise von Fräulein Pauline ist eine großformatige Liebeserklärung an das Kindsein. Das Leben ist
voller Regeln und lästiger Aufgaben: Mach dies, denk an das … Als Kind kann man vor diesen Stimmen zum
Glück noch entfliehen. Charlotte Gastaut hat Paulines Flucht-Welten fantasievoll in Szene gesetzt.
KINDERBUCH
Die Geschichte neigt dazu, sich zu wiederholen, spricht Uromimi,
und behält wieder einmal Recht. Denn Pollys Widersacher ist zurück.
Mr. Gum und die Kristalle des Unheils wollen einen alten Fluch erfüllen, den es zu verhindern gilt. Andy Stantons Bücher, übersetzt von
Harry Rowohlt, sind schräg-schauriges (Vor-)Lesevergnügen.
Schurken überall! Da hilft nur ein unerschrockenes Superheldenteam.
Ob es sich um gemeingefährliche Ganoven aus der Parallelklasse oder
Schrecken verbreitende Familienangehörige dreht – Sebastian und seine Freunde sorgen für Recht,
Ordnung und … meistens Chaos. Denn selbst mit bester Absicht geht mal etwas schief. Launig!
Ums Familiendasein dreht sich Spaghetti mit Schokosoße von Ruth Löbner. An einem Vater-Wochenende
wird Joram mit Papas neuer Familie konfrontiert. Es erwarten ihn Mädchen, Großeltern und … eine andere
Frau. Aber so ungern er Papa auch teilt, muss er sich schließlich doch eingestehen, dass so eine Zusatzfamilie auch ihre Vorteile hat.
JUGENDBUCH
Status: Online! Nachdem ihm ein iPhone den Schädel zerdeppert
und sich mit seinem Gehirn verlinkt hat, gibt’s Internet in Toms
Kopf. Unterstützt von ein paar Hardware-Erweiterungen mischt
er als iBoy die Gangster im Viertel gehörig auf. Besser schreiben
als Kevin Brooks geht nicht, um Jugendliche für Literatur zu
begeistern.
Ein ungewöhnlicher Roman ist König, Dame, Joker. Eingebettet in die Geschichte von Alton, der sich
einer Erbschaft willen die Sommerferien über um seinen Onkel kümmert, führt Louis Sachar informativ
und kurzweilig in den Bridgesport ein. Und weckt Lust aufs Ausprobieren. Rundherum gibt’s Liebe,
Spannung, Abenteuer.
Nach dem Tod der Mutter wird Zoë von einem schrulligen Onkel aufgenommen. Beide finden sich
dabei in ungewohnten Rollen wieder. Und auch sonst gibt es hier Einiges, was eines aufgeweckten
Mädchens Neugierde weckt. Zwischendurch kommt die Hauskatze zu Wort. Clay Carmichaels Debüt
ist ansprechende Geschichte, die ohne Liebe auskommt.
BILDERBUCH
KINDERBUCH
JUGENDBUCH
Charlotte Gastaut |Die große Reise von
Fräulein Pauline| Übers. v. Ana Maria
Montfort. Knesebeck 2011, 48 S.,
EurD 20,60/EurA 19,95/sFr 28,50
Ruth Löbner |Spaghetti mit Schokosoße| Ill. v. Karsten Teich. Boje 2011, 187
S., EurD 12,99/EurA 13,40/sFr 18,90
Kevin Brooks |iBoy| Übers. v. UweMichael Gutzschhahn. dtv 2011, 298 S.,
EurD 13,90/EurA 14,30/sFr 19,90
Frank Schmeißer |Schurken überall!| Ill.
v. Jörg Mühle. Ravensburger 2011, 209 S.,
EurD 12,99/EurA 13,40/sFr 22,90
Clay Carmichael |Zoë| Übers. v. Birgitt
Kollmann. Hanser 2011, 255 S.,
EurD 13,90/EurA 14,30/sFr 19,90
Andy Stanton |Mr. Gum und die Kristalle
des Unheils| Ill. v. David Tazzyman. Übers.
v. Harry Rowohlt. Sauerländer 2011, 216 S.,
EurD 12,95/EurA 13,40/sFr 21,90
Louis Sachar |König, Dame, Joker|
Übers. v. Werner Löcher-Lawrence.
Bloomsbury 2011, 363 S., EurD 16,90/
EurA 17,40
Jens Rassmus |Rosa und Bleistift|
Nilpferd in Residenz 2011, 40 S.,
EurD/A 14,90/sFr 21,90
Astrid Walenta |Ferdinand im Morgenland| Ill. v. Maria Hubinger. Bibliothek der
Provinz 2011, 64 S., EurD/A 18/sFr 30
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
62-63 BK_RÄTSEL
06.09.2011
18:18 Uhr
Seite 62
GEWINNSPIEL
Mitmachen
& Gewinnen
Das anspruchsvol
Graham Greene war einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Der Großneffe von „Schatzinsel“-Autor Robert Louis Stevenson ist heute
vor allem als Schöpfer von „Der dritte Mann“ bekannt. Er hat ein beträchtliches
Oeuvre hinterlassen, wurde mehrmals für den Literatur-Nobelpreis gehandelt.
Viele seiner Romanewurden erfolgreich verfilmt. Zuletzt der 1938 erschienene
Roman „Brighton Rock“, der bereits 1947 ein erstes Mal als Filmvorlage diente
und im Jahr 2010 von Rowan Joffe erneut verfilmt wurde. In diesem psychologischen Krimi nützt der Katholik Greene die spannende Handlung sowie eindrückliche Charakterstudien für seine Kritik am Katholizismus. Schreiben Sie
und das richtige Lösungswort und gewinnen Sie eines der 3 Greene-Pakete!
1
GEWINNFRAGE
Mit seiner Biografie nahm es unser gesuchter Autor nicht so ernst und seine Biografen tun sich etwas schwer, Fakten von Fiktion zu trennen. In jungen Jahren büchste er
von zu Hause aus. In einer anderen Version
wollten ihn seine Eltern einfach nicht mehr
auf die Schule lassen. Nach einigen Jahren
in St. Petersburg begann er zu studieren.
Doch das währte nicht lange und Reisen
rund um den Globus folgten. Auf ihnen
begann er auch zu schreiben und hatte
bald Erfolg damit. Als Kriegsfreiwilliger verlor er einen Arm. Es dauerte einige Zeit, bis
er diesen Verlust überwand, doch dann
schrieb er weiter, reiste und versuchte sich
in verschiedenen Berufen. Er war auch im
Filmgeschäft sehr rege, doch am bekanntesten wurde er als Autor. Wo befindet sich
sein Nachlass?
T Rom
62
S Paris R Bern
2
GEWINNFRAGE
Heute sind seine Bücher weitgehend vergessen, mit
einer einzigen Ausnahme. Und die hat es in sich.
Nahezu jeder und jede kennt die Figuren aus diesem
Buch, aber nicht den Autor. Als es erstmals erschien,
wurde es zum Welterfolg, und blieb es eigentlich bis
heute. Doch damals war fast jedes seiner Bücher ein
Verkaufsschlager und er gehörte zu den meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Das war zu Beginn
nicht absehbar, denn nachdem er die Schule ohne Abschluss verließ, kümmerte er sich vor
allem um einen Job, mit dem er Geld verdienen konnte. Damit reiste er dann sogar nach Indien.
Doch das Schreiben wurde immer wichtiger und er kehrte zurück. Neuerdings wurde sein Werk
wieder erforscht und unbekannte Quellen wurden untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass
unser Autor ein Antisemit war. Welche Ausbildung absolvierte er eigentlich?
E Kaufmann
3
A Buchhalter O Krankenpfleger
GEWINNFRAGE
Schwere Krisen bestimmten das Leben unseres
gesuchten Autors. Schon früh verstarb sein Vater.
Zu seiner Mutter hatte er ein sehr problematisches
Verhältnis. Nur das Verhältnis zu seiner Schwester
sorgte für Entspannung. Sie lebten auch nach dem
Tod der Mutter zusammen. Sie führte ihm den Haushalt und arbeitete zudem als seine Sekretärin.
Öfters führte ein Scheitern von ihm, etwa bei seinem Jus-Studium, zu Depressionen. Die Folge war
die Einweisung in eine Anstalt. Durch eine Erbschaft waren er und seine Schwester finanziell
abgesichert. Das war auch nötig, denn der literarische Erfolg sollte noch auf sich warten lassen.
Doch nach seinem Durchbruch erschienen regelmäßig seine Arbeiten. Gegen Ende seines
Lebens verfiel er wieder in Depressionen. Wie hieß seine Mutter mit Vornamen?
A Maria
E Magdalena U Elisabeth
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
62-63 BK_RÄTSEL
06.09.2011
18:19 Uhr
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GEWINNSPIEL
FOTOS: ARTHAUS
In der Neuverfilmung
von „Brighton Rock“:
Helen Mirren (l.) und
Sam Riley in
wichtigen Rollen.
olle Literaturrätsel
4
GEWINNFRAGE
Sehr alt wurde unser gesuchter Autor nicht. Das liegt
aber vor allem an einem Leiden aus seiner Jugend. Er
erkrankte nämlich an TBC, doch die Ärzte konstatierten
eine Lungenentzündung. Mit der Krankheit musste er zu
leben lernen. Er liebte es zu reisen, sah sich auch als
eine Art Vagabund und eckte schon früh mit seinen
Arbeiten an, ob es sich nun um erotische oder politische
Themen handelte. Bekannt wurde er nicht nur für seine Lyrik und die Theaterstücke, sondern
auch für seine Nachdichtungen, wofür er sich sehr mit dem asiatischen Raum beschäftigte.
Seine Werke veröffentlichte er unter Pseudonymen. Besonders unter einem Namen ist er
noch immer bekannt – doch wie hieß er wirklich mit Vornamen?
V Max
5
Zu gewinnen gibt’s:
3 mal
1 DVD „Brighton Rock“ (Arthaus)
1 Buch „Am Abgrund des Lebens“ (dtv)
GEWINNFRAGE
A 1916
FOTOS: DTV; ARCHIV; FLYOUT; MELEAGROS; WALTER JACOBI
Machen Sie mit und gewinnen
Sie die DVD der neuen „Brighton
Rock“-Verfilmung (Arthaus)
sowie das Buch zum Film –
Graham Greenes „Am Abgrund
des Lebens“, erschienen im
Deutschen Taschenbuch Verlag!
S Heinrich T Alfred
Unser gesuchter Autor war Philosoph und Wissenschaftler,
doch von manchen wird er eher als Journalist und Autor gesehen. Weil er angeblich zu leidenschaftlich schrieb, gerne provozierte und für eine gründliche und systematische Aufarbeitung
ihm das Naturell fehlen sollte. Er arbeitete einige Zeit als Theaterkritiker, musste dann aber emigrieren, schaffte es jedoch, eine Professur in seinem neuen
Heimatland zu bekommen und nahm auch dessen Staatsbürgerschaft an. Einige Jahre nach
dem Krieg kehrte er zurück, obwohl Verwandte von ihm während des Kriegs ermordet wurden.
Bekannt wurde er mit seinen kritischen Monografien und Porträts sowie einer Arbeit über
anstößige Literatur. Seinen kritischen Geist hat er nie aufgegeben. Er schrieb übrigens seine
Doktorarbeit über Friedrich Nietzsche. Wann wurde diese veröffentlicht?
6
+
E 1917 O 1918
GEWINNFRAGE
Trotz seines Studiums schlug sich unser Autor als freier Journalist und Schriftsteller durch. Es brauchte schon einige Jahre, bis ihm der Durchbruch gelang.
Er war mehrmals verheiratet und liebte das Reisen. Seinen Wohnsitz wechselte
er anfangs öfters, lebte in Paris, Berlin, Brüssel und in Zürich. Erst spät fand er
seinen Lebensort, an dem er auch verstarb. Geschätzt wurde er als Essayist und
Romancier. Er war sehr produktiv, ließ sich später aber unter den Nazis zu einer
Ergebenheitsadresse hinreißen. Dafür musste er heftige Kritik von manchen
Kollegen einstecken. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es deshalb sehr ruhig um ihn und er verarmte. Doch dann kam es zu einer Wiederentdeckung durch Rolf Hochhuth und seine Bücher
erreichten wieder fulminante Auflagen. In einem seiner Romane lässt er das Flair der Blütezeit
einer Stadt wieder aufleben. Um welchen Ort handelt es sich?
T Marienbad
R Baden-Baden S Bad Gastein
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
Teilnahmebedingungen:
Das Buchkultur-Literaturrätsel geht in die nächste
Runde.
Lösen Sie das „Literarische Rätsel“ dieser Ausgabe
und schicken Sie uns die Antwort. Aus den Buchstaben der 6 Fragen bilden Sie das Lösungswort.
Lösungshinweis: Das gesuchte Wort ist der Nachname
eines Autors, der für seine Bücher sehr geschätzt wurde,
obwohl er einige Zeit im Gefängnis saß. Heute trägt eine Reihe von Schulen oder Straßen seinen Namen.
1
2
3
4
5
6
Die Gewinne werden unter den TeilnehmerInnen verlost,
die das richtige Lösungswort bis zum 24. Oktober 2011 eingesandt haben. Die Gewinnspielteilnahme ist bei gleichen
Gewinnchancen auch mit einfacher Postkarte oder über
unsere Website möglich (www.buchkultur.net).
Schreiben Sie an:
Buchkultur VerlagsgmbH., Hütteldorfer Straße 26,
1150 Wien, Österreich, Fax +43.1.7863380-10
E-Mail: redaktion@buchkultur.net
Eine Barauszahlung ist nicht möglich. Die GewinnerInnen
werden von der Redaktion benachrichtigt. Der Rechtsweg
ist ausgeschlossen.
Die Auflösung von Heft 137: Gesucht war Armistead Maupin
Gewonnen haben:
Hauptpreis: Frau Heidi Riepl, Leonding
2.-4. Preis: Frau Bernhild Knichel, Rüsselsheim •
Herr Matthias Lang, Meerbusch • Frau Monika Ties, Dornbirn
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64-65 BK cafe
06.09.2011
18:36 Uhr
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B U C H K U LT U R C A F É
[Zeitschriftenschau]
die horen 242
Zum Gastland der Frankfurter Buchmesse 2011,
Island, eine erstklassige Beigabe, diese neue Ausgabe der
renommierten Zeitschrift für
Literatur, Kunst und Kritik.
„Bei betagten Schiffen“ wurde als Titel gewählt. Es ist der Gedichttitel eines Textes von Stefán Hördur Grímsson, ein betörend schöner Text. Das Bedeutende dabei: Grimsson gehörte wie einige
Kollegen damals in den 1950er-Jahren zu
den sogenannten „Atomdichtern“. Warum diese so geheißen wurden, was es mit
ihnen und ihrer umwälzenden Art zu schreiben auf sich hat, ist in diesem ausführlichen,
dicken und lesenswerten Band enthalten.
Ein Glanzstück herausgeberischer Tätigkeit, und ein Lesevergnügen besonderer Art.
Info: www.die-horen.de
Salz 144
Schweizer Literaturen diesmal das Thema der Salzburger Zeitschrift. Und immer
wieder Neues findet man in
diesem kleinen, wiewohl sehr
mehrsprachigen Land. Man
erinnere sich nur etwa des
Wespennest-Schweizhefts oder jenes des
Podium. In Salz 144 wird wieder entdeckt
und vorgestellt, ein weiteres Puzzle-Teilchen. Man glaubt es nicht, wie virulent und
bunt die Schweizer Literaturlandschaft ist.
Im Vorwort schreibt Liliane Studer ganz
richtig: „Die Schweizer Literatur hat mit
PROGRAMM ÖSTERREICH 1
Die Pest
Hörspiel in drei Teilen nach dem gleichnamigen Roman
von Albert Camus
Die algerische Stadt Oran wird von rätselhaften
Ereignissen heimgesucht. Plötzlich tauchen überall in
der Hafenstadt die Ratten auf. Kurz darauf sterben
die ersten Menschen an einem heimtückischen Fie-
HÖRSPIEL-STUDIO
Ausziehen ja, anziehen auch
Von Alois Hotschnig. Drei Männer und vier Frauen,
ältere Herrschaften allesamt, sitzen im Wartezimmer
einer Ärztin – und warten. Manche kommen oft, manche sind zum ersten Mal hier. Die Gespräche kreisen
in Endlosschleifen über Krankheiten, über das Leben,
über den Tod, den Verlust. „Ich bin eine einzige
Regenzeit“, sagt Frau Miller. „Es beginnt in den
Knöcheln. Das Wasser steigt und steigt. Dämme gibt
es nicht.“ Vorübergehend helfen Infusionen, Bandagen und Medikamente: „Ein Megalon, zwei Cervoflax,
ein Madopor.“ Herr Berg hingegen ist vor allem von
einer Angst getrieben: Die Ärztin, fürchtet er, könne
ihm eine Jacke verschreiben. Herr Renk verspricht,
ihm die Jacke noch im Wartezimmer aufzutrennen,
vorausgesetzt, Frau Dr. Thaler würde Herrn Berg eine
Strickjacke verordnen. Bei einer Lederjacke, sagt er,
wüsste er freilich „auch nicht“. Man könne allerdings
versuchen, sich die Jacke im Café Central stehlen zu
lassen. Wiewohl im Central noch niemals „etwas
abhanden gekommen“ ist.
oe1.ORF.at
Ö1 gehört gehört.
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Freibord 152
Wie gut, dass es das Freibord bereits im 35. Jahrgang gibt: Denn da kann man immer weiter
Texte entdecken sowie Autorinnen und Autoren, die ziemlich einnehmen. Bekannte Namen
ebenso wie Neues. Herausgeber Gerhard Jaschke mit neuem Elan, wie es scheint. Erfreulich!
Wir schauen und lesen: Lisa Spalt und Gerhard
Rühm, Friedrich Achleitner und Peter Rosei,
O. P. Zier und Friederike Mayröcker, Gerhard
Ruiss und Julian Schutting. Gunter Brus. Anselm
Glück. Ingrid Wald. Und so weiter sehr heiter,
chapeau! Kontakt: freibord@gmx.at
IMPRESSUM
LITERATUR IM
HÖRSPIEL-GALERIE
der Schwierigkeit, gesehen zu werden, zu
kämpfen. Dass dem nicht so ist, zeigt die
Wahrnehmung in den letzten Jahren …“.
Mit dabei etwa Arno Camenisch, Pedro Lenz,
Melinda Nadj Abonji, Simona Ryser, Dorothee Elmiger. Info: www.leselampe-salz.at
ber. Die Pest wütet in der Stadt.
Oran wird hermetisch abgeriegelt.
Ein Entkommen ist nicht möglich.
Albert Camus’ 1947 erschienener Roman gehört zu
den Klassikern der Weltliteratur. In ihm seziert der
spätere Nobelpreisträger hellsichtig das menschliche
Handeln im Angesicht der Katastrophe.
Samstag, 1., 8. und 15. Oktober 2011, 14.00 Uhr, Ö1
Ähnlich wie in seinem preisgekrönten Hörspiel „Die
kleineren Reisen“ – es wurde vom Ö1-Publikum zum
„Hörspiel des Jahres 2010“ gewählt – beschäftigt sich
der in Tirol lebende Kärntner Schriftsteller Alois
Hotschnig in seinem neuen Stück auf ebenso existentielle wie liebenswürdige Weise mit dem Alter. „Das
Wichtigste“, sagt Herr Berg, „ist, dass man rechtzeitig
stirbt. Nur wann ist rechtzeitig? Man will ja nie.“
Dienstag, 29. November 2011, 21.00 Uhr, Ö1
Ö1 CD TIPP
Italienische Reisen
Johann Wolfgang Goethe 1786 - Michael Schrott 1986
Auf den Spuren Goethes hatte sich Michael
Schrott jenseits des Brenners nach „Arkadien“
begeben und 2000 Kilometer Radio mit nach Hause gebracht. Zu hören ist sein „Hörfilm“, eine Verschränkung von literarischem und journalistischem Reisebericht, bei dem Alexander Goebel
dem Dichterfürsten seine Stimme lieh.
4 CDs um 36,20/Ö1 Club-Preis EUR 32,58
Erhältlich im ORF Shop, Argentinierstraße 30a,
1040 Wien
Telefonische Bestellung: (01) 501 70-373, per
Fax: (01) 501 70-375 oder E-Mail: orfshop@orf.at
Buchkultur Nr. 138 | Oktober/November 2011
ISSN 1026–082X
Anschrift der Redaktion
A-1150 Wien, Hütteldorfer Straße 26
Tel.: +43/1/786 33 80-0 | Fax: +43/1/786 33 80-10
E-Mail: redaktion@buchkultur.net
Eigentümer, Verleger
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Herausgeber
Michael Schnepf, Nils Jensen
Chefredaktion| Tobias Hierl
Art Director| Manfred Kriegleder
Chef vom Dienst| Hannes Lerchbacher
Redaktion| Konrad Holzer, Ditta Rudle, Sylvia Treudl, Hannes
Vyoral, Redaktion Berlin: Richard Christ
Mitarbeiter dieser Ausgabe| Susanne Alge, Hanna Berger, Lorenz Braun, Stefan Çapaliku, Manfred Chobot, Simon
Eckstein, Hans-Dieter Grünefeld, Silvia Hess, Peter Hiess,
Alexander Kluy, Thomas Leitner, Christa Nebenführ, Karoline
Pilcz, Marlen Schachinger, Helmuth Schönauer, Emily Walton,
Klaus Zeyringer, Nora Zeyringer, Anna Zierath
Geschäftsführung, Anzeigenleitung| Michael Schnepf
Vertrieb| Christa Himmelbauer
Abonnementservice| Clemens Ettenauer,
Tel. DW 25, E-Mail: abo@buchkultur.net
Druck| Wograndl Druck, 7210 Mattersburg
Vertrieb| D: W. E. Saarbach GmbH (Kiosk)
Ö: Mohr Morawa, A-1230 Wien, Morawa Pressevertrieb, A-1140 Wien
Erscheinungsweise|
jährlich 6 Ausgaben sowie diverse Sonderhefte
Preise, Abonnements|
Einzelheft:
Euro 4,90 Jahresabonnement: Euro 28 (A)/Euro 31
(Europa)/Euro 34 (andere) Studentenabonnement:
Euro 20 (A)/Euro 23 (Europa) (Inkriptionsbest. Kopie!)
Auflage| 15.100
Die Abonnements laufen über 6 Ausgaben und gelten, entsprechend
den Usancen im Pressewesen, automatisch um ein Jahr verlängert,
sofern nicht ein Monat vor dem Ablauf die Kündigung erfolgt. Derzeit
gilt Anzeigenpreisliste 2011. Über unverlangt eingesandte Beiträge keine Korrespondenz. Namentlich gezeichnete Beiträge müssen nicht der
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den Verfügungsberechtigten für die Abdruckgenehmigung.
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Im Internet: www.buchkultur.net
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
homicide_1_1_buchkultur_Layout 1 08.08.11 20:50 Seite 1
DER TRUE-CRIME-KLASSIKER
DES AUTORS VON
™
»Das beste Buch, das je ein
amerikanischer Autor über
die Ermittler einer Mordkommission geschrieben hat.«
NORMAN MAILER
¢ BUCHTRAILER ONLINE:
832 Seiten, Klappenbroschur
Euro 24,90 (D) | 25,50 (A)
SFr 35,90
ISBN 978-3-88897-723-7
verlag antje
kunstmann
66_schlusspunkt
06.09.2011
18:21 Uhr
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SCHLUSSPUNKT
Das Wort kann nicht töten
Kanun des Lekë Dukagjini auf explizite Weise die Freiheit des Wortes. In
diesem mittelalterlichen Kodex, der im nördlichen Albanien gewirkt hat
und bis heute weiterhin wirkt, heißt es: „Das Wort kann nicht töten.“
Der Autor des Kanuns erkennt in dem Wort ein universelles Werkzeug,
dessen unterschiedlichste Funktionen ermöglichen, dass es sich sogar zu seinem eigenen Gegenteil verwandeln kann. Das Wort ist gleichzeitig die tödliche Waffe, aber auch der heilende Balsam. Diese Diagonale, die entgegengesetzte Eckpunkte miteinander verbindet, ergibt eine der zentralen Achsen, auf welche sich albanische Schriften stützen.
Das Wort vermag einem Menschen auf moralischer Ebene zu schaden,
aber keineswegs auf der physischen. Die Trennung des Wortes von jeglicher
physischen und materiellen Funktion entlarvt die Intoleranz dem Wort
gegenüber als verbrecherisch und eröffnet ihm neue soziale und kulturelle
Dimensionen. Dadurch wäre das Wort gleichsam das Objekt eines Zivil- und
Moralkodexes und weniger eines Strafkodexes. Aber in ihrem geschichtlichen Rahmen konnten albanische Autoren sich nicht damit abfinden, dass
der Wortfundus, der ihnen zur Verfügung stand, einen immateriellen Charakter haben sollte, denn dadurch konnte das Wort weder bestehende soziale Missstände bekämpfen, noch als Werkzeug bei der Schaffung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung eingesetzt werden.
Bei den jeweiligen sozialen Spannungen, ihrem dringenden Handlungsbedarf, ihrem Verantwortungsbewusstsein und auch ihren Empfindungen
ist es nachvollziehbar, dass albanische Schriftsteller sich mit der ätherischen
Natur des Wortes als Gegenstand, aus dem sie schöpften, nicht begnügen
konnten. Die Idee, dass dem Wort Handlungen nicht gleichzusetzen wären,
verringerte den Stellenwert ihres gesellschaftlichen Beitrags in der Öffentlichkeit. Allmählich empfanden sie die „Unschuld“, die ihnen das intellektuelle Wort gewährte, als untragbar, weil sie tief in ihrem Innern einen Schuldkomplex zu verspüren begannen.
In der albanischen Literaturgeschichte setzt dieser Prozess in der Zeitspanne zwischen den zwei Weltkriegen ein. Ganz besonders zu dieser Zeit
bedienten sich albanische Schriftsteller einer ehrlicheren, mutigeren, eindeutigeren und engagierteren Sprache, die natürlich nach diesem ersten Aufkeimen befruchtend wirken sollte.
Diese Entwicklung war jedoch von sehr kurzer Dauer. Die Horde kommunistischer Gesetzgeber drosselte diese Bewegung albanischer Autoren
bereits in ihren Anfängen, indem behauptet wurde, dass es nicht der Wahrheit entspreche, dass das Wort keinen Tod verursachen könne, sondern dass
es sehr wohl tötet und keineswegs immateriell sei, sondern es eine weitaus
gefährlichere Wirkung als Feuerwaffen haben kann. Die Autoren verloren
im Kommunismus ihren privilegierten Unschuldsstatus. Sie wurden zu
jahrelangen Gefängnisstrafen und auch Hinrichtungen verurteilt. Mitunter
wurde in dieser Zeit auch der Kanun des Lekë Dukagjini vollständig außer
Kraft gesetzt. Und die kommunistische Gesellschaft Albaniens nutzte diese Gelegenheit, einen anderen grundlegenden Artikel des Kanuns auszurotten. Dieser lautet: „Der Bote soll frei seinen Weg gehen.“ Das kommunistische Regime hingegen ließ keine Gelegenheit ungenützt und alle erdenklichen Mittel waren recht, den Schriftsteller in seiner Funktion als Boten zu
behindern und anzugreifen.
Im Albanien der 1990er-Jahre gab es keine Rückkehr zu der Unschuld,
wie sie dem Schriftsteller durch den Kanun gewährt wurde. In dieser lan-
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gen und mühevollen postkommunistischen Übergangsphase gibt es zahlreiche Möglichkeiten, dem Boten seinen Weg abzuschneiden. Aber am
weitesten verbreitet und am effizientesten scheinen in der albanischen Realität: die finanzielle Zensur und die politische Kompromittierung.
Im Bereich postkommunistischer Literatur lassen sich aus sozialer Sicht
drei Kategorien von Schriftstellern unterscheiden:
1. Die ehemaligen Künstler des kommunistischen Regimes, die in der
Gegenwart weiterhin tätig sind.
2. Die Künstler, die nach den 1990er-Jahren mit ihren Werken
an die Öffentlichkeit getreten sind.
3. Die Künstler, die früher nur illegal geschrieben haben.
Die Schriftsteller der ersten Kategorie bemühen sich vergebens, ihre Musen
in neue Farben einzukleiden. Geflissentlich berufen sie sich auf die kulturelle und nationale Identität. Sie bedienen sich jener kollektiven Empfindlichkeiten, die die Diktatur in ihrer Suche nach einer geschichtlichen Ideologie kultivierte, wobei man glaubte, die kulturelle Identität der Bevölkerung durch die kontinuierliche Förderung des Monologs und der kulturellen Isolation zu bewahren. Einige Vertreter dieser Gruppe nutzen die Erwartungshaltungen, die der Kommunismus geschaffen hat, um das Vaterland
als eine geschlossene Struktur zu konzipieren, als eine Art Höhle, die die
Menschen vor der Welt beschützt, anstatt es als einen offenen Raum zu sehen,
in dem der Kontakt zur Welt ermöglicht wird.
Die Generation der Künstler, die ihre künstlerische Tätigkeit weitab und
außerhalb des Sozialistischen Realismus begannen, hatte das Glück, „spät“
geboren zu sein. In dieser Kategorie gibt es sehr wichtige und charismatische Autoren, die vor allem durch ihre Bemühungen, auf internationalem
Niveau Anerkennung zu finden, auffallen. Aber der Balkan bleibt ein Terrain, auf welchem stets Bilderverehrung betrieben wird. Die Plätze unserer
Städte werden immer noch von Denkmälern nationalistischer Helden dominiert. Wir haben die Peiniger unserer Nachbarvölker zu unseren Helden erklärt
und unsere Nachbarvölker feiern die geschichtlichen oder gegenwärtigen Peiniger unseres Volkes als ihre Helden. Und gerade das ist der Punkt. Trotzdem denke ich, dass die Autoren der Gegenwart wie Sterne sind. Auch wenn
der Himmel über uns wolkenverhangen ist und wir sie nicht sehen können,
wissen wir wohl, dass sie da sind.
Übersetzt von Ilir Ferra
Stefan Çapaliku, geb. 1965 in Shkodra/Albanien, studierte Albanische
Sprache und Literatur. Er war als Professor an den Universitäten Shkodra
und Belgrad tätig, arbeitete im Kulturministerium, verlegte eine Literaturzeitschrift, unterrichtet an der Theaterakademie Tirana und veröffentlichte zahlreiche Gedichtbände, Novellen
und Theaterstücke, für die er mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde.
In Kooperation mit KulturKontakt Austria lassen wir zum Schlusspunkt jeder Ausgabe eine Autorin /
einen Autor des writer-in-residence-Programms, aber auch langjährige Kooperationspartner von KK
zu Wort kommen.
BUCHKULTUR 138 | Oktober/November 2011
FOTO: PRIVAT
Als erstes Dokument der albanischen Kulturgeschichte behandelt der
Über die Bedeutung des Schriftstellers im
heutigen Albanien. VON STEFAN ÇAPALIKU
Egon Friedells
Kulturgeschichte:
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Mit einer Vivaldi-CD
›Il Complesso Barocco‹
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Kurioses aus Venedig – das erzählt Donna Leon.
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