Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik
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Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik
Antonius H. Gunneweg Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Grundrisse zum alten Testament Vandenhoeck & Ruprecht Band 5 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Grundrisse zu m Alten Testamen t 5 V&R © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Grundrisse zum Alten Testament Das Alte Testament Deutsch · Ergänzungsreihe Herausgegeben von Walter Beyerlin Band 5 Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik von A. H. J. Gunnewe g Zweite, durchgesehene un d ergänzt e Auflag e Vandenhoeck & Ruprech t in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Meinen Täuflingen un d Patenkinder n Claus und Jochen Gasteyer , Sixta Schmithal s sei dies Buch gewidme t CIF'-Titelaufnahme de r Deutsche n Bibliothe k Gunneweg, Antoniu s H . f. : Vom Verstehe n de s Alten Testament s : e. Her meneutik / von A. H. J.Gunneweg. - 2. , durchges. u. erg. Aufl. - Göttingen : Vandenhoeck u . Ruprecht, 1988 (Grundrisse zu m Alte n Testament; Bd . 5) ISBN 3-525-51660-6 NE: G T 2. Auflage 1988 © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1977. - Printe d i n Germany. Alle Recht e vorbehalten . Ohn e ausdrücklich e Genehmigun g de s Ver lages is t e s nicht gestattet , da s Buc h ode r Teile darau s auf foto - ode r akustomechanischem Weg e z u vervielfältigen . Gesamtherstellung: Huber t & Co. , Göttingen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Inhalt I. Kapitel: Da s Alt e Testamen t al s hermeneutische s Proble m 7 II. Kapitel: Da s Alt e Testamen t al s Erb e 1 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. Der Kanon de r Väter 1 Die Haltung Jes u 1 Das Alt e Testamen t i n de n nachösterliche n Gemeinde n 1 Der Bruc h mi t de r jüdische n Vergangenhei t 2 Verheißung, Weissagung , Typo s 2 Die Allegores e 3 Das „Alt e Testament " 3 Die Einheit vo n Al t un d Ne u 3 Die dogmatische Verdrängun g de s Problems 3 III. Kapitel: Da s Alt e Testamen t i m Lich t de r Reformatio n un d i m Feue r de r historischen Kriti k 4 1. Die sakramentale Vergegenwärtigun g 4 2. Die Wiederentdeckung de r Schrif t 4 3. Luther un d da s Alte Testamen t 4 4. Dogmatisches Syste m un d kirchlich e Restauratio n 5 5. Das Inspirationsdogma un d di e Vorherrschaf t de r Dogmati k 6. Die Anfänge de r Geschichtstheologi e 7. Die philologische un d historisch e Wissenschaf t 6 8. Die Infragestellung de r „biblische n Geschichte " 9. Versuche eine r neue n „Theologie " de s Alte n Testament s 10. Zusammenfassung un d Ausblic k 8 IV. Kapitel: Da s Alt e Testamen t al s Geset z un d Bundesurkund e 8 1. 2. 3. 4. 5. 6. Kanon un d Geset z 8 Das Alte Testamen t al s Geset z un d Grundordnun g de r Kirch e 9 Die Ablehnung de s „Judengesetzes " 10 Das „prophetische " Kanonverständni s un d die Relativierun g des Gesetzes Gesetz und Bun d Die Ambivalenz un d Mehrdeutigkei t de s Gesetze s V. Kapitel: Da s Alt e Testamen t al s Dokumen t eine r Fremdreligio n 12 1. 2. 3. 4. 5. Entdeckung un d Betonun g de r religiöse n Fremdhei t Abwertung un d Verwerfun g de s Alten Testament s 12 Fremdheit al s Ärgerni s un d „Zuchtmeister " 13 Kritik de r Kriti k a m Alte n Testamen t Die Frag e nac h de m wahre n Wese n Israel s © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 3 3 5 9 1 3 2 5 7 9 2 2 4 6 2 56 58 0 70 74 2 5 5 2 0 104 108 110 1 121 6 1 134 140 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Inhalt 6 VI. Kapitel : Da s Alt e Testamen t al s Geschichtsbuc h 14 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Göttliche un d menschlich e Heilsökonomi e 14 Heilsgeschichte, Verheißungsgeschichte , Typologi e 15 Geschichtsprozeß un d Offenbarun g 15 Geschichte un d Wort : Kriti k de r Heilsgeschichte 16 Kritik de s Weissagungsbeweise s un d de r Typologi e 17 Die Strukturanalogi e de r Testamente Zusammenfassung un d Ausblic k 18 VII. Kapitel: Da s Alte Testament al s Teil des christlichen Kanon s 18 1. Das Neue Testamen t al s Kriteriu m de r kanonische n Geltun g de s Alten 2. Schrift, Sprache , Monotheismu s 18 3. Die Sprach e de r Christusverkündigun g 19 Abkürzungsverzeichnis 6 6 0 9 4 5 178 0 3 183 7 5 199 Literaturverzeichnis 20 1 Register 21 4 Sachregister Personenregister 21 Bibelstellenregister 22 Nachwort zu r zweite n Auflag e 22 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 214 7 0 4 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik I. KAPITEL Vorbemerkungen: Das Alte Testament als hermeneutisches Problem Der Begriff de r Hermeneutik is t schillernd. E r hat mit dem Verstehen, dem Verständnis, de m nich t ode r woh l Verstandene n z u tun , is t abe r selbs t nich t so eindeuti g definiert , da ß Mißverständniss e ausgeschlosse n wären . Diese r Umstand mach t es erforderlich, vora b zu erklären, i n welchem Sinn e hier von Hermeneutik un d hermeneutisc h di e Red e sei n soll . Diese r Ban d wil l kein e Hermeneutik i m Sinn e Friedric h Schleiermacher s un d Wilhel m Dilthey s al s Kunstlehre de s Verstehen s de s Alten Testament s bieten . Fü r eine Einführun g in die Methodik de r Exegese kann hier verwiesen werde n auf die im Literaturverzeichnis aufgeführte n Arbeite n vo n Ott o Kaise r u.a. , Herman n Bart h Odil Hanne s Steck , Geor g Fohre r u.a. , Wolfgan g Richte r un d Klau s Koch . Auch eine Theologie de s Aken Testament s ist nicht beabsichtigt; si e ist einem anderen Band in dieser Reih e vorbehalten. Ebensoweni g sol l eine vollständige Geschichte der Rezeption des Alten Testaments in der Kirche geschrieben werden, wie sie in dem großen, immer noc h unentbehrlichen, abe r leide r in manchen Hinsichte n überholte n Wer k vo n Ludwi g Dieste l un d de m lediglic h die Zei t sei t de r Reformatio n berücksichtigende n Buc h vo n Emi l G.Kraelin g entfaltet wird . Fü r eine Geschicht e de r biblische n Theologi e schließlic h kan n auf da s einschlägig e Wer k vo n Hans-Joachi m Krau s verwiese n werden . Di e hier gestellt e Aufgab e is t andere r Art : E s solle n di e verschiedenen , auc h widersprüchlichen Möglichkeiten , da s Alt e Testamen t al s Tei l de s christ lichen Kanon s z u verstehe n - oder auc h e s z u verwerfe n -, dargestellt un d kritisch gewürdigt werden. I^iese Aufgab e is t ein e hermeneutische , wei l si e sic h u m ei n Gesamtver ständnis de s Alte n Testament s un d desse n Voraussetzunge n bemüht . Si e is t eine theologische , wei l jed e Theologie de s Alten Testament s un d all e Theologie überhaup t implizi t ode r explizi t vo n bestimmte n Verstehensvoraus setzungen un d eine m bestimmte n Gesamtverständni s de s Kanon s Alte n un d Neuen Testament s un d de s Verhältnisse s de r beide n Testament e zueinande r ausgeht. Ja, es ist keine Übertreibung, wenn man das hermeneutische Proble m des Alten Testament s nich t blo ß al s ein, sonder n al s das Problem christliche r Theologie betrachtet, von dessen Lösung so oder so alle anderen theologische n Fragen berühr t werden . Is t Auslegun g de r Heilige n Schrif t wesentlich e Auf gabe de r Theologi e un d gil t di e Schrif t al s Grundlag e christliche n Lebens , Fundament de r Kirch e un d Mediu m vo n Offenbarung , s o is t di e Frage , o b und waru m di e Sammlun g israelitisch-jüdische r Schriften , di e i m Bereic h © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik 8 Das Alte Testament al s hermeneutisches Proble m der christliche n Kirch e al s Alte s Testamen t bezeichne t wird , Tei l un d ga r de r umfangreichste Bestandtei l de s Schriftenkanon s se i un d welch e theologisch e Bedeutung ih m zukomme , vo n fundamentale r theologische r Relevanz . Si e betrifft j a de n Umfan g un d dami t zugleic h auc h qualitati v de n Inhal t dessen , was al s christlic h z u gelte n hat . Ein e fundamentaler e Frag e läß t sic h i m Bereich de r Theologi e nich t stellen ; ihr e Beantwortun g bestimm t selbs t de n Bereich, in welchem Theologi e sic h zu vollziehen hat ! Die hie r gestellt e hermeneutisch e un d theologisch e Aufgab e is t freilic h auch ein e historische : Di e verschiedene n un d teilweis e widersprüchliche n Möglichkeiten, da s Alt e Testamen t al s Tei l de s Kanon s z u verstehe n ode r auch ih m al s nicht-christlic h di e Anerkennun g z u verweigern , finde n ihre n Niederschlag nich t ers t heut e i n unterschiedliche n theologische n Entwürfen , sondern sin d selbs t i n eine r lange n Geschicht e historisc h gewachsen . Manch e kehren i m Lauf e de r Geschicht e i n meh r ode r wenige r star k verwandelte r Gestalt un d au f andere r Reflexionsstuf e wieder . Ander e verschärfe n sic h ode r tauchen ne u au f al s Folg e de r vo n de r Reformatio n un d insbesonder e de r historisch-kritischen Wissenschaf t verwandelte n Geisteslag e un d Fragehin sichten. S o kan n ein e Darstellun g un d Würdigun g de r verschiedene n Ver stehensmöglichkeiten de s Alte n Testaments , wen n si e nich t völli g abstrakt theologisch bleibe n soll , nich t umhin , di e Geschicht e z u berücksichtigen . Dies nötig t freilic h noc h nich t z u eine r rei n chronologische n Darstellungs weise un d z u eine r Konzeption , welch e derjenige n vo n L.Dieste l ode r E . G. Kraelin g ähnlic h wäre ; beid e wolle n j a di e verschiedene n hermeneutische n Ansätze un d Entwürf e i n chronologische r Reihenfolg e schildern . Fü r di e hie r zu bewältigend e Aufgab e empfiehl t sic h vie l ehe r ein e problemorientiert e Verfahrensweise, welch e di e diachrone n un d synchrone n Aspekte , als o di e historischen Entwicklunge n ebens o wi e di e sic h de r Sach e nac h gleichblei benden Frage n un d Antworte n gleichermaße n z u berücksichtige n bestreb t ist . Dies empfiehl t sic h einma l deshalb , wei l i n eine r Einführun g i n di e herme neutische Problemati k ohnehi n kein e Vollständigkei t de r Problemschattierun gen i n ihre r lange n Geschicht e un d de r u m Lösunge n bemühte n Persone n i n ihrer Vielfältigkei t angestreb t werde n sol l - dazu se i au f Diestel , Kraelin g und Krau s verwiese n - , und zu m andere n au s sachbezogene n Gründen , wei l des öftere n unterschiedlich e un d einande r widersprechende , j a bestreitend e hermeneutische Ansätz e - man denk e nu r a n di e polemisch e Ablehnun g de s Alten Testament s durc h Marcio n ode r a n de n theologische n Pluralismu s de r Gegenwart! - gleichzeitig auftrete n können . Auc h de r Umstand , da ß manch e Fragestellungen un d Konzeptionen , wen n auc h mi t gewisse n Modifikationen , sich i n de r Geschicht e wiederholen , leg t ei n Verfahren , da s meh r systematisc h als chronologisch ist , nahe . Das Wiederauftauche n gleiche r ode r doc h vergleichbare r Problem e un d Lösungen zeig t deutlich , da ß da s hermeneutisch e Proble m de s Alte n Testa ments mi t seine n vielfältige n Aspekte n nich t zuers t durc h di e Zufälligkeite n der Geschicht e ode r di e Willkü r de r Theologe n bedingt , sonder n mi t de r Sache de s Alte n Testament s selbs t vorgegebe n ist . Di e Vorgegebenhei t selbs t © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Das Alte Testament al s hermeneutisches Proble m 9 ist da s Problem : Da s Alt e Testamen t is t ein e Sammlun g israelitische r un d jüdischer Schriften . Dies e Schrifte n sin d di e religiös e Nationalliteratu r de s israelitischen Volke s un d da s heilig e Buc h de r jüdische n Gemeinde , de r Syna goge. Si e sin d zweifelsohn e un d fraglo s nich t christliche n Ursprungs , sonder n älter al s da s Christentum . Auc h ihr e Sammlun g z u eine m Kano n heiliger , unantastbarer - sakrosankter - und, wi e gelehr t wurde , göttlic h inspirierte r Schriften is t nicht zuers t da s Werk de r christlichen Kirch e gewesen. Sammlun g und Abschlu ß de s hebräische n Kanon s ware n da s Wer k de r Synagog e u m 100 n.Chr., un d zwa r eine r Synagoge , welch e star k vo n de r pharisäische n Richtung jüdische r Theologi e gepräg t war . Auc h noc h di e griechisch e Über setzung zunächs t de r fün f Büche r Mose , de r Tora , dan n de r übrige n Schrifte n des Alte n Testaments , di e i n de r christliche n Kirch e allgemei n verbindlic h wurde, is t jüdische n un d nich t christliche n Ursprungs ; si e wa r ursprünglic h für di e griechisc h sprechend e jüdisch e Diaspor a un d keinesweg s fü r di e christ liche Kirch e bestimmt . Un d auc h di e vo m hebräische n Kano n abweichend e griechische Ordnun g de r Schrifte n (Geschichtsbücher , Lehrbücher , Pro phetenbücher gemä ß de n Zeitdimensione n Vergangenheit , Gegenwart , Zu kunft), di e fü r di e Kirch e maßgeblic h wurd e un d welch e di e späte r - seit Hieronymus (u m 350) bzw. sei t Karlstad t un d Luthe r - sogenannten Apo kryphen (3.Esra , Makkabäerbücher , Tobit , Judith , Gebe t Manasses , Zusätz e zu Daniel , Zusätz e z u Esther , Baruch , Brie f Jeremias , Jesu s Sirach , Weishei t Salomos) umfaßt , is t jüdische n un d nich t christliche n Ursprungs . Di e frühe n Gemeinden ware n hie r vermutlic h vo n örtlic h verschiedene n jüdische n Schriftensammlungen abhängig . Das Alt e Testamen t is t als o i n jede r Hinsich t ei n Erb e au s vorchristliche r Zeit. Ebe n hieri n steck t da s hermeneutisch e Problem : Is t da s Erb e au s vor christlicher Zei t deswege n selbs t vor-christlic h un d daru m nicht-christlich ? Kann di e Anerkennun g al s Tei l de s christliche n Kanon s nicht-christlich e Schriften nachträglic h christianisiere n un d sozusage n taufen ? Ferner : Di e israelitisch-jüdische Schriftensammlun g wir d i m christliche n Bereic h da s Alte Testamen t genannt , abe r wa s besag t da s Prädika t „alt" ? Is t hiermi t nu r die zeitlich e Dimensio n de s Älteren , Früheren , Vorhergehende n i n seine m Bezug zu m Neue n al s de m Spätere n bezeichnet , ode r mein t „alt " hie r ein e geringere Qualität , ga r das Veraltete ? Diese scho n relati v frü h aufbrechend e Problemati k mußt e sic h durc h di e Reformation un d dan n ers t rech t durc h da s Aufkomme n de r historisch-kriti schen Wissenschaf t un d ihr e konsequent e Anwendun g au f da s biblisch e Schrifttum noc h meh r verschärfen . Sollt e di e Schrif t allei n Quell e vo n Offen barung un d Grundlag e de r reformatorische n Kirch e sei n un d nich t auc h di e Tradition un d di e Lehrautoritä t de r Kirche , s o mußt e de r rechte n Auslegun g der Schrif t primär e theologisch e Bedeutun g zukommen ; un d kehrt e ma n ers t zum wortgetreue n Sinn , de m sensu s litteralis , zurück , wi e e s j a di e Refor matoren wollten , s o mußt e ei n wörtlic h un d nich t meh r allegorisc h über tragen verstandene s Alte s Testamen t sein e lang e Jahrhundert e hindurc h verborgene Eigenständigkeit , abe r auc h Fremdhei t erneu t zeigen . Solch e © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik 10 Das Alte Testament al s hermeneutisches Proble m Fremdheit zeigte sich erst recht und immer klarer dem unbestochenen Blick der von de n dogmatische n Fessel n befreite n historische n Forschung . Da s alt e hermeneutische Proble m de s al s Erb e vorgegebene n Alte n Testament s stellt e sich nu n ers t recht . Is t da s alt e Testamen t nich t zuers t »Gesetz" , wi e e s jüdischerseits un d auc h i n de r frühe n Gemeind e genann t wurde ? Is t e s al s Gesetz imme r noc h verbindlic h ode r fü r de n Christe n al s Geset z abgetan ? Ist da s israelitisch-jüdisch e Erb e nich t doc h Dokumen t eine r Fremdreligio n Wäre au s der historischen Tatsache , daß die christliche Gemeinde seit Paulus' Zeiten au s de r Synagog e auszo g un d ein e eigen e Religionsgemeinschaf t bildete, nich t di e Konsequen z z u ziehe n gewesen , wi e au f di e Synagog e s o auch au f da s synagogale Erb e zu verzichten? Un d d a solche s a m Anfan g au s welchem Grund e auch immer nicht geschah, könnte es dann jetzt nicht an der Zeit un d woh l endlic h auc h höchst e Zei t sein , da s inkonsequenterweis e Versäumtes nachzuholen? Wenn jedoch solche Konsequenz nicht zu ziehen ist, sondern da s Alt e Testamen t trot z alle r Erkenntni s seine s vorchristliche n Ur sprungs weiterhi n al s erster Tei l de s Kanons gültig bleibe n soll , wi e läß t sic h diese Geltun g dan n nich t blo ß historisch , durc h Verwei s au f di e Tradition , sondern theologisch begründen? Freilich öffne t sic h auc h di e gegenteilig e Möglichkeit , da s Alt e Testamen t zu verstehe n un d z u bewerten : di e vermeintlich e Fremdhei t de s Alten Testa ments kan n auc h Ausdruc k de s „totalite r aliter" , de r totale n Andersartigkei t des einen wahren Gottes sein, der zuerst als der Gott Israels und hernach auch in Jesu s Christu s sic h offenbar t hat . De r erst e un d umfangsreichst e Tei l de r Bibel, eins t di e einzig e Heilig e Schrif t de r alte n Kirche , wär e auc h jetz t di e eigentliche Heilig e Schrif t un d da s Neu e Testamen t lediglic h dere n recht e Auslegung sei t Christi Geburt , Tod und Auferstehung. Auc h noch das Gesetz, sofern nich t speziel l fü r israelitisch-jüdisch e Zeite n un d Verhältniss e be stimmt, blieb e i n Geltung , wen n auc h nich t al s menschliche r We g zu m gött lichen Heil, so doch als Gottes unveränderter Wille . Wehe dem, der am Feiertag arbeitet oder Knecht, Magd oder auch nur das Vieh arbeiten läßt ! Bei diese r Vorrangstellun g un d Hochschätzun g de s Alten Testament s mu ß aber das alttestamentliche Geset z nicht unbedingt in den Vordergrund gerück t und eingeschärf t werden . E s kan n auc h de r i n manche r Hinsich t unabge schlossene Charakte r diese r Schriftensammlung , da s Unabgegoltensei n seine r Verheißungen i n den prophetischen un d apokalyptischen Teile n herausgestell t werden. Da s Alt e Testamen t wir d dan n al s da s Buc h eine r Geschicht e ver standen, di e vo n Verheißun g z u Verheißun g drängt , a n dere n End e di e Erfüllung i n Christus steht, die selbst abe r auch wieder Verheißungscharakte r hat: noc h blieb der Auszug, de r Exodus aus dem Lande der Knechtschaft un vollendet, das Land der Verheißung ist noch nicht erreicht! Eine ander e Möglichkeit , da s Alt e Testamen t christlic h einzuordne n un d seiner Qualität al s des Alten in seiner Polarität zum Neuen gerecht zu werden, liegt darin , e s nich t nu r zeitlich , sonder n meh r noc h sachlich-inhaltlic h al s Vorstufe zu m Neue n z u verstehen , se i e s so, daß di e alttestamentlich e Weis sagung oder Verheißung al s im Neuen Testament erfüllt betrachte t wird, oder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Das Alte Testament al s hermeneutisches Proble m 11 auch so , da ß das , wa s sic h i n Geschehnissen , Persone n ode r Institutione n des Alte n Testament s au f typisch e Weis e präfigurativ , schattenhaft , al s Vorausschattung ankündig t un d anbahnt , i m Neue n Testamen t al s in s voll e Licht getrete n un d - antitypisch - als erfüll t betrachte t wird . Ma n nenn t diese Betrachtungsweise , di e beid e Testament e einande r zuordne t un d doc h das Alte al t und das Neue neu zu lassen sic h bemüht, di e typologische. Droht aber nich t völlig e Willkür , wen n Ereignisse , Persone n un d Institutione n de s alten Israel , di e selbs t keinesweg s bloß e Vorausschattunge n un d Typen , di e über sic h hinausweisen , sei n wollten , nachträglic h vo n Christe n typologisc h interpretiert werden? Wird hier Auslegung nicht zur Hineinlegung? Diesem Bedenke n entgeht , we r da s Alt e Testamen t un d auc h da s Neu e Testament zunächs t al s schriftliche n Niederschla g vo n Lebensäußerunge n und Daseinshaltunge n z u verstehen versucht , di e in einer polare n Gegensätz lichkeit stehen . E s ist di e Polaritä t vo n i n de n To d führende m Geset z einer seits un d Hei l un d Lebe n bringende m Evangeliu m andererseits . De r gesetz lichen Kultgemeind e i n Jerusalem un d in de r Diaspora, di e doch die Bindung an da s jüdisch e Vol k nich t preisgib t un d sic h gege n ander e Völke r abgrenzt , steht di e christlich e Gemeinde , di e sic h al s da s wahre , endzeitlich e Gottes volk versteht , gegenüber . I n diese r Sich t is t da s Alt e Testamen t durc h da s Neue erledigt . Erledig t abe r heiß t nich t unbeding t abschaffungswürdig . Da s Alte Testamen t behäl t i m Gegentei l ein e bleibend e Gültigkei t al s de s Men schen un d auc h noc h de s Christe n eigen e falsch e Möglichkeit , al s Buch , da s auch de m Christe n wi e i n eine m Spiege l sei n Scheiter n vorhäl t - Scheitern, dessen imme r neu e Überwindun g durc h di e Gnad e de s Evangelium s herbei geführt wird . Da s Alte Testament wird s o im prägnant theologische n Sin n als alt, nämlic h al s Urkunde des alten Mensche n verstanden, der täglich ne u vom Evangelium überführ t un d zurechtgebrach t werde n muß . Läß t ein e solch e Konzeption da s Alt e Testamen t i m stren g theologische n Sinn e al t un d da s Neue neu sein, ohne das Alte als veraltet abtu n zu müssen, so erhebt sich doch auch hie r di e weiter e Frage , o b den n wirklic h da s ganz e Alt e Testamen t al s Dokument de s Gesetze s un d de s Scheitern s aufgefaß t werde n kan n ode r o b einer genaue r differenzierende n Sicht , di e zwische n verschiedene n Schichte n und Höhenlage n innerhal b de s Alte n Testament s unterscheidet , ei n solche s Gesamtverständnis al s Verallgemeinerun g erscheine n muß . Setz t doc h da s Neue Testament selbst, wenn nicht das ganze Alte Testament, so doch wesentliche Teil e desselbe n al s nac h wi e vo r gülti g vorau s un d kan n ohn e solch e Voraussetzung gar nicht verstanden werden. Hierin ist es begründet, daß auch nach Christ i Geburt , To d un d Auferstehun g alttestamentlich e Text e al s da s Evangelium auslegende , wei l selbs t vo m Evangeliu m vorausgesetzt e Ver kündigung i n de r christliche n Kirch e i n Unterrich t un d Verkündigun g ver wendet werden. Diese skizzenhaft e Übersich t übe r di e verschiedene n Möglichkeite n eine s Verständnisses de s Alten Testament s lehr t bereit s be i alle r Vorläufigkeit , da ß hier nich t immer eine s das andere restlo s ausschließt , da ß Anliegen zu m Ausdruck kommen , di e trot z Einseitigkei t ihr e Berechtigun g haben , un d Frage n © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik 12 Das Alte Testament al s hermeneutisches Proble m auftauchen, di e sic h infolg e menschlic h beschränkte r Möglichkeite n zu m Teil al s nich t auflösba r erweisen . E s wär e zwa r falsch , Unvereinbare s ver söhnen z u wolle n - eine marcionitisch e Verwerfun g un d ein e calvinistisch e Hochschätzung de s Alte n Testament s etw a schließe n sic h gewi ß aus ! - , aber dennoc h könne n i n wege n ihre r Einseitigkei t unmögliche n Möglich keiten de s Verständnisse s richtig e Einsichte n verborge n sein , welch e nich t unbeachtet bleibe n dürfen . Di e lang e un d breit e Diskussio n u m da s recht e Verständnis de s Alte n Testament s un d sein e Stellun g i m Kano n is t nich t oder doc h nich t nu r — das Ergebni s theologische r Streitsucht , sonder n wei t mehr noc h ei n Refle x de r einande r widerstreitenden , auc h bekämpfende n Positionen un d Gegenpositione n religiöse r un d gelegentlic h auc h handfes t weltlicher Ar t innerhal b de r Alte s Testamen t genannte n tausendjährige n bunten Sammlun g israelitische r un d jüdische r Schrifte n selbst . Di e ihne n allen zuerkannt e jüdisch e un d christlich e Kanonizitä t is t nich t selte n da s einzige alle n gemeinsam e Merkmal . Dies e Gemeinsamkei t kan n leich t daz u verführen - und da s wa r i n de r Vergangenhei t auc h tatsächlic h öfte r de r Fall - , nach eine m einzige n hermeneutische n Wunderschlüsse l z u suchen , mi t dem di e Vielfal t de s Überlieferte n einheitlic h un d vo n eine r sichere n Mitt e her aufgeschlosse n werde n könnte . Manche r meint e woh l auch , jen e Mitt e und de n passende n Schlüsse l entdeck t z u haben , bi s dan n ei n andere r mi t neuem Schlüsse l ka m un d da s vermeintlich e Zentrum , u m da s sic h i m Alte n Testament alle s drehe n soll , ander s bestimmt e un d aufzuschließe n versuchte . Hier sollte n begangen e Einseitigkeite n ein e Warnun g sein . Z u denke n gib t auch de r Umstand , da ß da s Neue Testamen t - und d.h . di e frühen christliche n Gemeinden - von Anfan g a n ein e mehrschichtig e Behandlun g de s Alte n Te staments kennt , di e ers t i n spätere r Zei t de n Versuche n zu r einschichtig einheitlichen Rezeptio n weiche n mußte . De m sol l nunmeh r nachgegange n werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik II. KAPITEL Das Alte Testament als Erbe 1. Der Kanon der Väte r Von eine r christliche n Rezeptio n ode r Übernahm e de s Alte n Testament s zu sprechen , wi e e s vielfac h geschieht , is t eigentlic h nich t korrek t un d sach gemäß. Da s is t scho n deshal b nich t gan z richtig , wei l zu r Zei t Jes u un d noc h im erste n Jahrhunder t n.Chr . da s hebräisch e Alt e Testamen t nich t endgülti g abgeschlossen war . Ers t u m 100 n.Chr. stan d de r Bestan d de s jüdischen , hebräischen Kanon s i m große n un d ganze n fest . Da s Alt e Testamen t i n grie chischer Übersetzun g - die sogenannt e Septuagint a - blieb noc h länge r ein e unabgeschlossene un d variabl e Größe , di e sic h auße r durc h di e ander e An ordnung de r einzelne n Teil e (Geschichtsbücher , poetisch-didaktisch e Bücher , Prophetenschriften) insbesonder e dadurc h unterscheidet , da ß si e zusätzlic h auch Apokryphe n enthält . Diese r unabgeschlossen e un d vorers t offen e grie chische Kano n i n variable r Gestal t wurd e Heilig e Schrif t de r christliche n Kirche. Deren Abschluß und Abgrenzung wa r dan n nich t mehr jüdische Ange legenheit; da s Judentu m wandt e sic h vo n de r vo n ih m selbs t geschaffene n griechischen Übersetzun g de r Septuagint a a b un d de r „Veritas Hebraica", de r hebräischen Wahrheit , ode r abe r neuen , wörtliche n Übersetzunge n zu . De n Umfang de s griechische n Kanon s de s Alte n Testament s z u bestimmen , wa r damit Aufgab e de r christliche n Kirche , ihr e einheitlich e Lösun g is t bi s heut e ausgeblieben. Hieronymus (u m 400 n.Chr.), de r Verfasse r de r Vulgat a genannte n lateinische n Übersetzung de s Alte n Testaments , konnt e sei n Anliegen , de n jüdische n Kano n hebräischer Schrifte n allei n zu r kirchliche n Nor m z u erheben , nich t durchsetzen . Später hat dann Luther diejenigen Bücher, die nicht im hebräischen Kanon , wohl aber in de r Vulgat a eine n Plat z bekomme n hatten , al s Apokryphe n gelte n lassen . Luthe r definiert si e al s „Bücher , s o der heilige n Schrif t nich t gleich gehalten, un d doc h nützlich un d gu t z u lese n sind" . Di e lutherische n Kirche n habe n übe r dies e Frag e ein e verbindliche Entscheidun g nich t getroffen . I m reformierte n Bereic h formulier t de r Articulus 6 der Confessi o Belgic a (1559) den Unterschie d vo n kanonisc h un d apo kryph präziser: di e Kirche darf di e Apokryphen lese n und sich daraus belehren lassen , sofern si e mi t de n kanonische n Bücher n übereinstimmen . Richtschnu r un d nor mierende Nor m (norma normans) sin d si e als o nicht . I n de r offizielle n niederlän dischen Übersetzun g („Statenvertaling" ) finde n si e ihre n Plat z al s Anhan g zu m Neuen Testament un d mit einer vorangestellten Warnung , wori n ausdrücklic h erklär t wird, da ß si e nich t z u de n heiligen , göttliche n Schrifte n gehören . Di e jüngere n Aus gaben verzichte n konsequenterweis e gan z au f sie . Di e reformiert e Kirch e ha t dami t © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik 14 Das Alte Testament al s Erbe nur de n jüdischen , hebräische n Kano n al s kanonisc h anerkannt . Ein e verbindlich e Kanonabgrenzung, welch e di e - apokryphen - Bücher Weishei t Salomos , Jesu s Sirach, Tobit, Judith, 1. und 2. Makkabäer al s deuterokanonisch de m gültigen Kanon zurechnet, vollzo g di e römisch e Kirch e ers t au f de m Tridentinische n Konzi l 1546. Die Ostkirch e lie ß di e Geltun g u.a . de r Apokryphe n noc h länge r offen . Au f eine r Synode i n Jerusale m i m Jahr e 1672 wurden di e Büche r Weishei t Salomos , Jesu s Sirach, Tobit und Judith als kanonisch anerkannt. Schon diese r kurz e Rückblic k i n di e Geschicht e lehrt , da ß vo n eine r Rezep tion ode r Übernahm e de s Alte n Testament s durc h di e Kirch e eigentlic h nich t die Red e sei n kann . Di e Kirch e selbs t ha t de n Kano n mi t bestimmt ; un d auc h noch di e Offenlassun g un d Unentschiedenhei t wa r ein e Mitbestimmung . Statt vo n eine r Übernahm e de s Alte n Testament s durc h di e Kirch e sollt e besser vo n de m Alte n Testamen t al s Erb e di e Red e sein . Dan n kan n deutlic h werden, da ß di e alttestamentliche n Schrifte n einerseit s nich t da s literarisch e Erzeugnis de s Christentum s sin d - sie sin d vorchristlic h - , andererseits abe r nicht ein e beliebig e Sammlun g fremdreligiöse r Literatur , welch e da s sic h bildende jung e Christentum , au s welche m Grund e auc h immer , vo n auße n her übernahm . Dies e Schrifte n ware n da s überkommen e Erb e de r israeliti schen un d jüdische n Väter , al s dere n erbberechtigt e Söhn e sic h di e frühe n Christen verstanden . Si e waren j a selbs t geboren e Jude n und , wie auc h immer , Anhänger de r i n de n Schrifte n de r Väte r bekundeten un d verkündigte n Reli gion. In diese r Hinsich t unterscheide n sic h di e Christe n nich t vo n andere n Gruppie rungen ode r Sekten , di e au s de m Schoß e de s Judentum s hervorgegange n sind . S o betrachteten sic h auc h di e Mitgliede r de r Gemeinschaf t vo n Qumran , jene r jüdische n Sekte, dere n literarisch e Erzeugniss e i n de n Jahre n nac h de m Zweite n Weltkrie g i n der Gegen d de s Tote n Meere s entdeck t wurden , al s legitim e Erbe n de r väterliche n Schriften, auc h wen n si e ihr e eigene n eigentümliche n Schrifte n de m Erb e al s gleich oder mehrwertig a n die Seite stellten . Das hermeneutisch e Proble m besteh t als o nich t darin , o b di e jung e Kirch e berechtigt ode r auc h gu t berate n war , da s Alt e Testamen t z u übernehmen ; si e besaß e s imme r scho n un d vo n alle m Anfan g a n al s ihr e Heilig e Schrift . Di e Frage laute t vielmehr , o b e s möglic h un d nöti g war , da s überkommen e Erb e des Alte n Testament s weiterhi n beizubehalten , ode r o b e s nich t besse r gewesen wäre , e s dene n z u überlassen , di e e s exklusi v fü r sic h beanspruch ten, nämlic h de n Juden . Dies e Frag e stellt e sic h zwa r noc h nich t gleich , wa r aber in der Sache des überkommenen Erbe s angelegt . Polemik kan n fü r di e schwache n Stelle n de s Gegner s hellsichti g machen . S o wundert e s nicht , da ß di e Frage , o b di e Christe n sic h mi t Rech t au f di e ererbt e Schrif t berufen konnten , seiten s der Judenschaft gestell t wurde . Di e griechische Übersetzun g der Septuagint a wa r da s Wer k vo n jüdische n Schriftgelehrte n gewesen . Al s dies e Übersetzung nunmeh r zu m heilige n Buc h de r Christenhei t wurde , konnt e ei n Strei t nicht ausbleiben . E s wa r scheinba r nu r ein e Disputatio n u m di e recht e Auslegun g einzelner Stellen . A m bekannteste n is t di e Diskussio n u m da s Verständni s vo n Jes. 7,14. Die von de n Christe n benutzt e griechisch e Übersetzun g lies t hie r da s Wor t „parthenos", da s Jungfrau bedeutet , de r hebräische Text abe r mein t eine junge Frau . © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Die Haltung Jes u 15 Da nu n Je s 7,14 überhaupt christlicherseit s al s Weissagun g au f Christu s gedeute t wurde, meint e di e christlich e Gemeinde , hie r eine n Schriftbewei s fü r di e Jungfrauen geburt, als o di e Gebur t Christ i au s de r Jungfra u Mari a z u finden . Die s wurd e jüdischerseits mi t Verwei s au f eine n bessere n Tex t un d ein e besser e Auslegun g be stritten. Freilic h konnte n umgekehr t di e Jude n schwerlic h i n Frag e stellen , da ß di e Übersetzung, au f di e sich die Christen beriefen , doc h von den Juden selbs t geschaffe n worden war . Kontroverse n diese r Ar t habe n schließlic h daz u geführt , da ß di e Judenschaft di e Septuagint a preisga b un d al s nicht de r hebräische n Wahrhei t entsprechen d verdammte. Al s hebräische Wahrhei t wurd e vo n der pharisäisch-rabbinischen Ortho doxie ausschließlich der hebräische Kanon anerkannt, der nur die Schriften de r älteren, klassischen Zei t enthält . De r hebräisch e Kano n is t selbs t ei n Stüc k Polemi k gege n alle hellenistischen un d apokalyptischen Neuerungen , abe r auch gegen die „Sekte" der Kirche mi t ihre r Christusverkündigung . Be i diese m Strei t gin g e s abe r nu r scheinba r um Einzelfrage n de r Auslegung . O b de n Kontrahente n bewuß t ode r nich t - hier standen letztlich die Gültigkeit des Alten Testaments für die Christen und deren Recht, sich darauf überhaupt berufen zu dürfen, auf dem Spiel. Das anfänglich e Bewußtsein , a n Christu s glaubend e Jude n un d i n solche m Glauben gerad e da s wahr e Israe l z u sein , lie ß au f Seite n de r Christe n freilic h zunächst keine n Zweife l dara n aufkommen , sic h mi t volle m Rech t au f di e ererbten Schrifte n berufe n z u dürfen . E s is t auc h seh r wahrscheinlich , daß , von alle m andere n un d auc h vo n de r zuers t noc h verborgene n hermeneu tischen Problemati k abgesehen , di e überal l un d imme r z u beobachtend e Beharrlichkeit i n religiöse n Dinge n auc h hie r sic h ausgewirk t hat . Da s reli giöse Erbe der Väter gibt man nich t ohne Not preis. 2. Die Haltung Jes u Dies gilt auc h fü r Jesus . E s sind genügen d i n ihre r Echthei t nich t z u bezwei felnde Jesuswort e erhalten , welch e zeigen , da ß auc h Jesus , nich t ander s al s die Schriftgelehrten , di e Autoritä t de s alttestamentliche n Gesetze s anerkann t hat. We r ih n nac h de m höchste n Gebo t fragt , wir d au f da s Alt e Testamen t und sein e Forderunge n verwiesen : „Da s wichtigst e Gebo t is t dies : Höre , Israel, de r Her r unse r Got t is t de r Her r allein , un d d u solls t de n Herr n deine n Gott liebe n vo n ganze m Herze n un d vo n ganze r Seel e und vo n ganze m Gemü t und mi t ganze r Kraft . Da s zweit e lautet : D u solls t deine n Nächste n lieben , wie dic h selbst " (Mk . 12,29-31). Diese Antwor t Jes u zitier t 5.Mose 6,4f; 3.Mose 19,18. Auf di e Frage : „Wa s mu ß ic h tun , u m da s ewig e Lebe n z u ererben?" erwider t er : „D u kenns t di e Gebote " un d zitier t dan n au s de m Dekalog: „D u solls t nich t töten , nich t ehebrechen , nich t stehlen , nich t fal sches Zeugni s ablegen , nich t täuschen ; ehr e Vate r un d Mutter " (Mk . 1 0 , 1 7 19). Nicht nu r gesetzlich e Vorschriften , auc h andere s kan n vo n Jesu s al s bib lische Begründun g herangezoge n werden . Fü r die Auferstehung vo n de n Tote n beruft e r sic h au f 2.Mose 3,2ff.: „Hab t ih r nich t gelese n . . ., wie Got t z u ihm (Mose ) sagte : Ic h bi n de r Got t Abrahams , Isaak s un d Jakobs? " (Mk.12 , 25f.). Zu r Verteidigun g seine s un d seine r Jünge r freiere n Umgang s mi t de m © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik 16 Das Alte Testament al s Erbe Sabbat beruf t e r sic h au f di e Stell e l . S a m . 21,7, die davo n erzählt , wi e Davi d in seine r Notlag e di e sogenannte n Schaubrot e de s Tempel s verzehrte , di e normalerweise nieman d esse n durft e auße r de n Priestern . Da ß dies e Stelle n nicht hergeben , wofü r si e zitier t werden , un d gege n ihre n ursprüngliche n Sin n erklärt werden , is t späte r noc h z u erörtern . Hie r interessier t zunächst , da ß Jesus überhaup t di e Autoritä t de r ih m überkommene n Schrifte n anerkenn t und beibehält . Nich t hieri n unterscheide t e r sic h vo n de n zeitgenössische n Schriftgelehrten. Da ß e r Gesetzliche s un d Passage n au s historische n Bücher n oder prophetische n Schrifte n al s Beweisstelle n heranziehe n kann , zeig t nur , daß fü r ih n - nicht ander s al s fü r da s zeitgenössisch e Judentu m - die ver schiedenen Teil e de r Schrif t weitgehen d ein e unterschiedslos e Einhei t dar stellten, un d da s heißt : i n ihre m ursprüngliche n Sinn e nich t meh r vol l ver ständlich waren . De r zitiert e Verwei s au f ein e Stell e au s de m erste n Buc h Samuel, u m ei n bestimmte s Verhalte n z u rechtfertigen , läß t vermuten , da ß fü r Jesus wi e fü r da s Judentu m di e Schrif t primä r al s Geset z i n Frag e ka m un d daß nich t nu r di e i m eigentliche n Sinn e gesetzliche n Partie n al s Geset z ver standen wurde n (vgl . hierzu auc h Kap. IV). Dieses fü r da s zeitgenössisch e Judentu m i m allgemeine n typisch e Verständni s de r Schrift al s Geset z un d der Propheten al s Gesetzesauslege r zeig t nu n aber, da ß nich t erst fü r da s Christentum, sonder n auc h scho n fü r da s Judentum da s überkommen e Erbe problematisc h un d ohn e bestimmt e Auslegun g unverständlic h geworde n war . Die ältere n Gesetze , di e jetz t i m Zeitalte r de r Römerherrschaf t - wie scho n frühe r unter andere r Fremdherrschaft , al s Israe l ein e Kultgemeind e geworde n wa r - den ursprünglichen Bezu g au f Staat , Volksgemeinschaf t un d Sipp e un d dere n konkret e politische un d soziale Erforderniss e eingebüß t hatten , mußte n wi e ein Erbe anmuten , dessen Fremdhei t und , trotz Fremdheit , getreu e Verwaltun g nu r den Sinn hatten , das Volk al s herausgehobenes , auserwählte s un d al s Fremdlin g z u erhalten . Un d die Geschichte, sofer n jetz t nich t al s bloß e Sammlun g vo n Beispielen fü r das rechte und das falsch e Verhalte n unte r de m Gesetz verstanden , mußt e wi e abgeschlossen erschei nen. Auch dere n Niederschla g i n der Schrift bedar f de r Auslegung un d ist ohne sie nicht mehr zugänglich . Di e Wichtigkei t de s bereit s i m Judentu m aufgebrochene n herme neutischen Problem s un d damit derer , di e als die Ausleger - wirklich ode r vermeint lich - für sein e Aufschlüsselun g zuständi g waren , ha t soga r de n Stan d de r priester lichen Kultdiene r un d de n Tempeldiens t überhaup t scho n i n vorchristliche r Zei t i n den Hintergrun d trete n lasse n zugunste n de r Schriftgelehrte n un d ihre r Arbeit . Von dieser hermeneutische n Problemati k he r ist auch di e Gestalt Jes u z u sehen. Auc h sei n Umgang mi t dem Erbe ist Auslegung - und sei diese auc h nac h moderne n Maßstäbe n gemessen Hineinlegung . De r Unterschie d z u de n zeitgenössische n Schriftgelehrte n liegt woanders . Fü r sie wa r di e formal e Autoritä t de r Schrift , als o da ß das Geset z befiehlt un d verbietet, al s Wille Gotte s bindend , un d sei dieser Will e de m Mensche n auch völli g unbegreiflich . S o laute t ei n Rabbinenspruch : „Wede r mach t de r Tot e unrein, noc h da s Wasser rein . Abe r de r Heilige ha t gesagt: Ei n Gesetz hab e ic h fest gestellt, eine n Entschei d getroffen ; d u bis t nich t befugt , meine n Entschei d z u über treten, de r geschrieben ist ; die s is t die Losung meine s Gesetzes " (zitier t nac h R.Bult mann, Jesus, S.60f.) . Während e s jüdische r Hermeneuti k wenige r au f Verstehe n al s au f Gehor sam auc h ohn e Einsich t ankommt , wei l da s Göttlich e vo n ih r al s da s Unb e © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Die Haltung Jesu 17 greifliche aufgefaß t wird , is t fü r Jesu s di e auc h vo n ih m anerkannt e Autoritä t der Schrif t begründe t in , abe r auc h abgeleite t vo n de m Wille n Gottes . Daru m ist, ander s al s für di e zeitgenössische n Schriftgelehrten , de r Inhal t nich t neben sächlich. E s gilt vielmehr , nac h de m rechte n Inhal t bzw . Verständni s de s gött lichen Willen s z u fragen . Is t fü r jüdisch e Auslegun g da s Geset z i n al l seine n verschiedenen un d auc h widersprüchliche n Teile n gleichermaße n i n Kraft , und geh t e s i n de r Auslegun g nich t zuletz t auc h u m Harmonisierun g de s Widersprüchlichen, s o kan n Jesu s deutlic h zwische n Gebo t un d Gebo t un d zwischen Wichtige m un d Unwichtigem , abe r auc h zwische n Wesentlichem , Primärem un d Nachträglichem , Hinzugekommene m unterscheiden . De r Will e Gottes is t nich t ohn e di e Schrift , abe r nich t au f diese , sonder n au f jene n kommt e s an. Ein bekannte s Beispie l fü r solch e Schriftauslegun g is t Jes u Interpretatio n de s i m Gesetz vorgesehene n Scheidungsrechtes : Läß t da s Geset z (5. Mose 24,1) die Ehe scheidung zu , steh t abe r ebenfall s geschriebe n (l.Mos e 1,27): „Als Man n un d Fra u hat Got t si e geschaffen ; daru m wir d ei n Man n Vate r un d Mutte r verlassen , un d di e beiden werde n ei n Fleisc h sein" , s o laute t di e jesuanisch e Folgerun g au s de m Ver gleich beide r Schriftstellen : „Wa s den n Got t zusammengefüg t hat , sol l de r Mensc h picht scheiden". Anders formuliert: Gotte s wahrer Will e wil l di e Unscheidbarkeit de r Ehe; di e Ehescheidun g is t nu r ein e Notmaßnahm e „u m de r Herzenshärtigkeit " de s Menschen willen, die nicht der eigentlichen Absicht Gottes entspricht (Mk. 10,2-9). Damit ist , trot z Berufun g au f di e Schrift , di e formal e Autoritä t zugunste n des au s de r Schrif t z u erkennende n Willen s Gotte s preisgegeben . Di e Unter scheidung vo n Geis t und Buchstaben bahn t sich hier schon an . Daß hier , bereit s be i Jesus , di e Möglichkei t eine s grundsätzliche n Kon fliktes mi t de m alttestamentliche n Erb e gegebe n ist , leuchte t ein . Is t fü r jüdi sche Schriftgelehrt e Auslegun g de s Inhalt s wenige r wichti g al s di e formal e Autorität de s Geschriebenen , s o gil t jetz t praktisc h da s Gegenteil . Komm t e s darauf an , de n Wille n Gotte s inhaltlic h z u vernehme n un d z u tun , un d ziel t Gottes Will e au f de n ganze n Menschen , seine n Gehorsa m un d sein e Hingabe , so könne n nich t nu r einzeln e Bestimmunge n de s geschriebene n Gesetze s al s bloß u m de r Herzenshärtigkei t wille n relativiert , sonder n auc h al s de m Wille n Gottes zuwiderlaufen d gan z verworfe n werden . Jes u Satz , da ß nichts , wa s von auße n i n de n Mensche n hineinkommt , ih n verunreinige n könnte , sonder n was au s de m Mensche n herauskommt , ih n verunreinig t (Mk . 7,14ff.), heb t die Reinheitsgesetz e un d alles , wa s i m jüdische n Ritua l dami t zusammen hängt, au s de n Angeln . Di e vo n Jesu s anerkannt e Autoritä t de s Alte n Testa ments hinder t ih n nich t daran , dies e Schriftensammlun g nu r i n Auswah l positiv heranzuziehen . Di e christlich e Benutzun g de s Alte n Testament s i n bestimmter Auswah l bahn t sich bei ihm schon an . Auswahl bedeute t auc h Ablehnung , j a auc h antithetisch e Gegenüberstel lung vo n Alte m un d Neuem . Die s sprich t sic h vo r alle m i n de n sogenannte n Antithesen de r Bergpredig t au s (Mt. 5,21 ff.). Scho n da ß Matthäu s Jesu s diese Wort e vo n eine m Ber g he r verkündige n läßt , bedeute t ein e Antithes e zum mosaische n Gesetz , da s j a vo m Berg e Sina i he r erlasse n wurde . Nunmeh r 2 Gunneweg, Verstehen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik 18 Das Alte Testament al s Erbe heißt es : „Ih r hab t gehört , da ß z u de n Alte n gesag t wurd e . . . Ich abe r sag e euch . . ." Was Jesu s jetzt „de n Heutigen " z u sagen hat , steh t i n einem Gegen satz z u dem , wa s „de n Alten" , de n Vorfahren , dene n da s Alt e galt , gesag t worden war . E s entschränkt , verschärft , radikalisier t da s „de n Alten " Gebo tene. Verbiete t da s mosaisch e Gesetz , da s de n Alte n gegebe n wurde , Mor d und Totschlag , Ehebruc h un d Meineid , s o verkündet Jesu s de n Heutigen , da ß Gottes Will e auc h scho n de n Zorn , da s boshaft e Schimpfwort , bös e Begehr lichkeit un d Lügenhaftigkei t ausschließe . Gotte s Will e is t nich t mi t juristi schen Formel n de s Gesetze s faßbar , welch e de n Mensche n eine n Spielrau m des Böse n offenließen , sonder n forder t di e ganz e Hingab e de s Menschen . I n diesem „Ic h abe r sag e euc h . . . " kündigt sic h scho n be i Jesu s auc h di e Gegen sätzlichkeit vo n Alte m un d Neue m an . Angesicht s de s Neuen , da s mi t Jesu s anbricht, bekomm t da s überkommen e Erb e de n Charakte r de s Alte n i m Sinne de s Vergangenen , i m Sinn e de s Vergänglichen , Vorläufige n un d auc h Überholten. Freilich nich t alles , wa s de n Alte n gesag t wurde , is t i n diese m Sinn e scho n alt. Di e stark e Betonun g de s Schöpfersein s Gotte s un d seine s Herrsein s durc h Jesus is t auc h ohn e ausdrücklich e Zitat e au s de n ererbte n Schrifte n israeli tisch-jüdisches Erbe . Gotte s väterlich e Fürsorg e fü r Blumen , Tier e un d ers t recht fü r di e Mensche n (Mt. 6,25-34) ist Auslegun g alttestamentliche n Ge dankengutes. Ne u a n solche r Auslegun g is t freilich , da ß di e gegenwärtig e Fürsorge un d di e heutig e Näh e de s güti g sorgende n Gotte s eine r Generatio n verkündigt wird , fü r die , wie e s i m Judentu m de r Fal l war , Got t i n unnahbar e Ferne un d wi e au s de r Geschicht e i n eine n jenseitige n Himme l weggezoge n schien. Dies e neu e Auslegun g bring t als o aktualisieren d da s Alt e ne u z u seiner Geltun g und Wahrheit . Jesus is t jedoc h nich t zuers t un d zumeis t Schriftauslege r wi e di e Pharisäe r oder di e Lehre r de r Qumransekte , sonder n e r nimm t fü r sic h i n Anspruc h („Ich abe r sage euch . . ."), Gottes Willen unmittelba r un d nicht nur aus dem Gesetz erkenne n z u könne n un d erkann t z u haben . Diese r Gotteswill e is t gewiß Forderun g un d Anspruch , welch e da s geschrieben e Geset z noc h radi kalisieren, abe r meh r noc h Zuspruch , de r Vergebun g un d Neuwerdun g un d Rettung i m bal d kommende n Gottesreic h i n Aussich t stellt . Dami t trit t da s als Gesetz verstandene Alte Testament zugunste n de s Evangeliums, der frohen Botschaft vo m nahe n Hei l Gotte s i n de n Hintergrund . Abe r wi e be i de r Betonung de s gegenwärtigen Schöpfertum s un d Herrseins Gottes konnten dami t zugleich auc h Verheißung , Zusag e un d Zuspruc h de r rettende n Näh e Gotte s und seine s Heiles , wi e si e da s Alt e Testamen t gewi ß auc h kenn t - etwa di e Abrahamsverheißungen (l.Mos e 12, 1ff. ) oder di e göttlich e Namensoffen barung: „Ic h werde je und je für euch da sein, der ich da sein werde" (2. Mose 3,14) - , neu i n Kraf t treten . Vo n eine m i m zeitgenössische n Judentu m alle s überwuchernden Verständni s de r Schrif t al s Geset z un d vo n de m vorherr schenden Lebensgefühl , al s se i di e heilvoll e Geschicht e Gotte s mi t seine m Volke längs t abgeschlossen e un d fern e Vergangenheit , zu m Schweige n ge bracht, komme n solch e Wort e nunmeh r ne u un d auc h ohn e ausdrückliche s © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Das Alte Testament in den nachösterlichen Gemeinden 19 Zitat zu r Sprache ; si e sind jetz t vo m Gesetz , das „nebeneingekommen " (Rom . 5,20; Gal. 3,19) war, befreit . Auc h da ß vo m Neue n he r da s Alt e Testamen t in seine r verschollene n Wahrhei t nu n ers t rech t i n Kraf t gesetz t wird , kündig t sich in Jesu Verkündigun g bereit s an . Es ist vo r alle m z u beachten , da ß da s alttestamenthch e Erb e hie r wede r ein seitig bejaht , noc h verworfen , noc h gan z un d ga r umgedeute t un d ne u ver standen wird . Ei n einheitliche r hermeneutische r Schlüsse l wir d nich t ange setzt, un d da ß ei n solche r fehlt , is t kei n Mangel , sonder n entsprich t sachlic h der Vielfal t de s ererbte n Gutes . Auc h da ß ein e hermeneutisch e Besinnun g auf Verschiedenartigkei t de s Umgang s mi t de m überkommene n Erb e un d dessen inner e Problemati k jetz t noc h nich t einsetzte , is t begreiflich . 3. Das Alte Testamen t in den nachösterlichen Gemeinde n Es wa r vorers t auc h i n de r nachösterliche n Gemeind e nich t anders . Auc h für si e is t da s Alt e Testamen t ei n zunächs t selbstverständliche s Erbe . Wi e an Tempe l un d Tempelkult , a n Tempelsteue r un d Rechtsprechun g de r Syna goge ha t da s Judenchristentu m a m väterliche n Geset z festzuhalte n (vgl . Apg . 6,46; Mt. 5,23f.; 17,24-27; Mk. 13,9; Mt. 10,17). Es versteh t sic h al s das wahr e Israel ; un d e s kan n auc h tatsächlich , vo n auße n betrachtet , reli gionsgeschichtlich al s ein e eschatologisch e Sekt e de s Judentum s bezeichne t werden, di e vo n de r Hauptströmun g de s Judentum s durc h da s Bewußtsein , das endzeitlich e Israe l z u sein , un d durc h de n Glaube n a n di e Heilsbedeutun g des gekreuzigte n un d auferstandene n Jesu s Christu s unterschiede n un d dan n auch förmlich getrenn t war . Die Hoheitstitel , di e di e Urgemeind e Jesu s beilegt : Messia s - Christus - , Menschensohn, Soh n Gottes , Knech t Gottes , sin d zweifelsohn e israelitisch jüdischen Ursprungs . Soseh r si e durc h ihr e Anwendun g au f de n gekreuzig ten un d auferstandene n Jesu s vo n inne n he r umgewandel t werde n - nicht nur: Jesu s is t de r Messia s usw. , sonder n ebens o auch : de r wahr e Messia s ist de r gekreuzigt e un d auferstanden e Jesus ! —, so ordne n si e doc h da s i n Jesus Christu s erschienen e Neu e i n da s Alt e ein : da s Erb e de r Väte r stell t di e Sprache, die neue Offenbarun g sagba r un d verkündbar z u machen . Sofern da s Judenchristentum de r Urgemeinde i n Palästina sic h vom Judentum nich t löste, bedeutet e dies e Treue zu r religiöse n un d ethnische n Herkunf t nich t nur , da ß es selbst a m Gesetz, also a m Alten Testamen t al s Erbe der Väter festhielt, sonder n auch , daß Nichtjuden, die der judenchristlichen Gemeind e beitreten wollten, sich dem Gesetz unterstellen un d zu r Bekundun g diese s Willen s sic h beschneide n lasse n mußten . Christ konnt e hie r nu r werden , we r auc h Jud e z u werde n berei t war . Gal t da s Alt e Testament al s Geset z fü r Christ-geworden e Heiden , s o ers t rech t fü r die , di e vo n Geburt Juden waren . Das Wirkliche ist , ander s als es der Philosoph Hege l gelehrt hat , nicht imme r auc h vernünftig . Den n vernünftig-konsequen t wa r dies e Haltun g keines wegs, hatt e doc h scho n Jesus ein e seh r vie l differenzierter e Haltun g de m väterliche n Erbe gegenübe r gezeigt . Obscho n Jes u Wort e gege n Gesetzlichkei t un d pharisäische s Lohndenken, auc h gege n de n kultische n Ritualismu s unvergesse n bliebe n un d über 2* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik 20 Das Alte Testament als Erbe liefert wurden, fan d woh l ein e Rückentwicklun g zu m gesetzlichen Denke n statt . Hie r wurde dan n Jesu s da s Wor t zugeschrieben , e r se i nich t gekommen , da s Geset z auf zulösen, sonder n e s zu erfüllen ; un d bi s zum End e der Tage soll e kein Jot a un d kei n Tüttelchen a m Gesetz vergehen (Mt. 5,17f.). Christentu m al s neue, aber nicht immer bessere Gesetzlichkei t au f de r Basis eines unumschränk t fü r gülti g erachtete n un d al s Gesetz verstandene n Alte n Testament s is t scho n i n de r Urgemeind e un d scho n i m Neuen Testamen t vorgezeichnet . Freilic h gehört e nich t diese r Ausprägun g un d Rich tung de s christliche n Glauben s di e nächst e Zukunft . Si e verlo r nac h de m Untergan g Jerusalems (70 n.Chr.) ihr e Bedeutun g un d san k zu r Sekt e de r Ebionite n herab . Bemerkenswert is t allerdings , da ß auc h dies e sektiererisc h gesetzlich e Gestal t de s Christentums nich t ei n unveränderte s Alte s Testament beibehielt , sonder n di e „gerei nigten" fünf Büche r Mose ohne allen Opferkult und Priesterwesen und mit Verwerfun g der nur von Weibern geborenen Propheten (Diestel, S.27f.). Weit wichtige r fü r di e sic h herausbildend e Kirch e un d dere n Aufnahm e und Verständni s de s väterliche n Erbe s wa r di e hellenistisch e Richtung , di e auf de r Diaspor a entstammend e Kreis e zurückgeht . Ihr e größer e Freihei t de m Gesetz gegenüber verringert e sic h durc h de n Übertrit t zu m Christentu m gewi ß nicht. De r Verblei b i m Verban d de s Judentums un d au f de m Bode n de s väter lichen Erbe s hindert e di e judenchristlich e Gemeind e i n Jerusale m daran , Mission unte r Heide n z u betreiben . Dies e gin g vo n hellenistische n Juden christen aus , un d i n de n sic h nunmeh r bildende n heidenchristliche n Gemein den ware n di e Anerkennun g de s Gesetze s un d di e Übernahm e de r Beschnei dung nich t meh r erforderlic h (vgl . Apg . 8,4ff. ; l l , 1 9 f f . ; 15; Gal. 2 , 1 - 1 0 ) . Das sogenannt e Apostelkonzi l (Gal . 2 , 1 - 1 0 ; Apg. 15) hat da s gesetzesfrei e Heidenchristentum ausdrücklic h anerkann t un d dami t faktisc h scho n frühe r Gegebenes bestätigt . Di e hie r verhandelt e Frag e ha t nu r scheinba r blo ß kirchenrechtlichen Charakter . Theologisc h gin g e s ja darum , o b das Christen tum de m Wese n nac h jüdisc h se i ode r bleibe n könne , o b da s überkommen e Gesetz un d da s väterlich e Erb e überhaup t hie r noc h gan z un d unveränder t in Geltun g bleibe n könne , ja , o b da s i n Christu s erschienen e un d dargeboten e Heil allei n un d fü r sic h genüg e ode r a n di e Bedingun g de r Gesetzeserfüllun g gebunden bleibe n müsse . Dabe i wa r e s de r Sach e nac h gleichgültig , o b da s ganze Geset z ode r nu r Teil e desselbe n - etwa di e Beschneidun g - gültige Vorbedingung bleibe n sollten . Es wa r Paulus , de r diese s Proble m i n alle r theologische n Klarhei t erkann t und gelös t hat . Fü r ih n is t da s Geset z zwa r gewi ß vo n Got t erlassen , dami t e s erfüllt werde , wir d abe r vo m Mensche n al s Mittel , mi t eigene n Werke n di e eigene Gerechtigkei t z u erlange n un d solcherweis e gott-lo s di e eigen e Existen z zu verwirklichen , stat t au s de r allei n Lebe n gewährende n Gnad e Gotte s z u leben, pervertier t (Gal . 2 , 1 5 - 2 1 ; 3,21-25 ; Rom. 3,19-28; 7 u.ö.). Paulus ' Theologie un d auc h sein e theologisch e Polemi k un d sei n Strei t betreffe n diese kardinal e Frage : o b de r Mensc h letztlic h sei n eigene s Hei l schafft , o b der Mensc h sic h selbs t erlöst , sic h selbs t mach t ode r rech t („gerecht" ) ers t lebt, wen n e r au s de r Gnad e Gotte s lebt . Dies e damal s wi e z u alle n Zeite n und s o auch heut e zentral e Frag e war de r Gegenstan d de s ersten theologische n © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Der Bruch mit der jüdischen Vergangenheit 21 Streites i n de r junge n Kirche . E r war ein e Auseinandersetzun g u m da s Geset z und um das als Geset z verstandene Alte Testament . War fü r Paulu s de r Strei t theologisc h zugunste n de r alleinige n Gnad e (sol a gratia) entschieden, s o zeig t da s sogenannt e Aposteldekre t (Apg . 15,20. 28-29 ; 21,25) , das den Heidenchriste n de n Genu ß vo n Götzenopferfleisch , vo n Fleisc h vo n nich t nac h den jüdische n Ritualvorschrifte n geschlachtete n Tieren , vo n Speisen , di e mi t Blu t zubereitet sind , sowi e di e „Unzucht" , d.h . Heirate n i n bestimmte n Verwandtschafts graden gemä ß den immer schon auc h für Heide n gültigen Bestimmunge n vo n 3. Mose 17,8.10ff. 13; 18,6ff. verbietet , da ß nicht überall ebens o gesetzesfrei gedach t wurde . Dieses Dekret erkennt also ein gesetzesfreies Heidenchristentu m nu r an, sofern e s dem mosaischen Geset z konfor m ist ! Da s Dekret , da s ein e Kompromißlösun g darstell t und vermutlic h da s Zusammenlebe n un d insbesonder e di e Tischgemeinschaf t vo n Judenchristen un d Heidenchristen ermögliche n wollte, steht also in der Mitte zwischen einem strenge n Judenchristentum , da s selbs t au f de m Bode n de s ererbte n Gesetze s verbleibt un d fü r welche s Jud e werde n muß , we r sic h z u Christu s bekehrt , un d de m gesetzesfreien paulinische n Christentum. 4. Der Bruch mi t der jüdischen Vergangenhei t Dennoch bedeute t Freihei t vo m jüdische n Gesetz , ebensoweni g wi e di e grundsätzliche theologisch e Polemi k de s Paulu s gege n da s Gesetz , keines wegs di e Abschaffun g de s alttestamentliche n Erbes . Woh l abe r mußt e nun mehr einma l i m praktische n Vollzu g de r christliche n Missio n unte r de n Hei den un d anderma l noc h deutliche r i n de r theologische n Besinnun g au f da s Gesetz bzw . au f da s jüdisch-traditionel l al s Geset z verstanden e Alt e Testamen t dieses i n seine r hermeneutische n Problemati k bewuß t werden . De r Strei t um di e Gültigkei t de s Gesetze s fü r Heidenchriste n bar g di e Frag e nac h de r Gültigkeit de s Gesetze s fü r Christe n überhaup t i n sich , un d dies e mußt e sic h wiederum zu m Proble m de r Geltun g de s Alte n Testament s überhaup t i m Bereich de r christliche n Kirch e ausweiten . Auc h mußt e di e Freihei t vo m Gesetz, se i e s nu n vo m ganze n ode r vo n seine n rituelle n Bestandteilen , de n Blick ne u dafü r schärfen , da ß da s vo n de n Väter n überkommen e Erbe , da s nunmehr auc h zu r heilige n Schrif t de r Heidenchriste n wurde , nich t nu r Gesetze enthält , sonder n auc h Geschichte n un d Erzählungen , Belehrunge n und Gebete , Weissagunge n un d Verheißungen . Inwiefer n gelte n dies e noc h und gelte n si e de r neuen , christliche n Gemeinde ? I n de r Freihei t de m Geset z gegenüber, scho n be i Jesus , dan n vo r alle m i n de r Theologi e un d Verkündi gung de s Paulus , endlic h überhaup t i m Heidenchristentum , da s alsbald , zuma l nach de r Zerstörun g Jerusalem s (70 n.Chr.), da s Judenchristentu m wei t a n Bedeutung z u überflügel n begann , komme n mi t schwerwiegende n praktische n Folgen di e Unterschied e zu m Judentu m und , wa s di e Judenchriste n anbe langt, de r Abstan d vo n de r eigene n religiöse n Herkunf t symptomatisc h zu m Ausdruck. Zwische n Väter n un d Söhnen , zwische n de m Erb e un d denen , di e es verwalten, j a ausschließlic h fü r sic h i n Anspruch nehmen , ha t sic h ein Bruc h vollzogen. Jetz t laute t di e Frag e nich t nur , mi t welche m Rech t diejenige n au f das Erb e de r Väte r Anspruc h erheben , di e sic h a n di e Forderunge n de s ererb © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik 22 Das Alte Testament al s Erbe ten Gesetzes nich t meh r halten , sonder n meh r noch : kan n überhaup t da s Alte, ma g e s imme r Erb e de r Väte r un d Bibe l Jes u sein , noc h wesentlich e Bedeutung haben , d a doc h durc h Kreu z un d Auferstehun g Jes u Christ i di e Endzeit hereingebroche n is t un d di e neu e Gemeind e durc h diese s Ereigni s allein begründe t wurd e (l.Kor . 3,11) und d a doc h dami t „alle s ne u gewor den" ist (2. Kor. 5,17)? Bekanntlich ha t sic h di e christlich e Gemeind e al s da s wahr e Israe l Gotte s (Gal. 6,16) im Gegensat z z u dem empirische n Volk , da s nur Israel nac h dem Fleisch is t (l.Kor . 10,18), und al s die wahren Söhn e Abrahams (Röm . 4,1215; 9,6-8 ; Gal. 4,22-28) verstanden. Is t die Kirche au s an Christus glauben den Jude n un d Heide n nac h eigene m Selbstverständni s da s wahre , endzeit liche Israel, s o ist da s väterliche Erb e in Wahrheit de r Christenheit Eigenstes , und all e i n ih m enthaltene n Verheißunge n un d Zusagen , abe r auc h Warnun gen un d Ermahnunge n gelte n de r Gemeind e de r Endzeit . Mi t diese r herme neutischen Vereinnahmun g is t da s Erb e bejah t un d angenommen , abe r da s hermeneutische Proble m noc h nicht gelöst. Das gilt für di e alte Kirche ebenso wie fü r di e gegenwärtig e theologisch e Rechtfertigun g de r christliche n Bei behaltung de s Alte n Testaments . De r Verwei s au f da s Erb e al s solche s un d der Titel des neuen, wahren Israel s reichen hie r nicht aus. Denn das neue oder wahre Israe l wa r un d is t nich t di e historisch e Fortsetzun g de s alte n Israels ; ebensowenig wa r un d is t e s ein e Sekt e innerhal b de s israelitisch-jüdische n Religionsverbandes, al s welch e e s anfang s fü r ein e rei n äußerlich e Betrach tungsweise erscheinen mochte . Keine historische Entwicklung führ t vo n Israel zum Judentum un d von dort kontinuierlic h zu m Christentum, s o vieles auch, historisch gesehen , Israe l un d da s Judentu m einerseit s un d da s Christentu m andererseits verbinde n mag , - so vieles , da ß ei n angemessene s Verständni s des Christentums ohn e dies e historische n Zusammenhäng e nich t möglic h ist . Hier geht es aber nicht nur um historisches Verstehen , sonder n u m die Erfassung un d Bestimmun g de s Wesens . Das Bekenntnis z u de m gestorbene n un d auferstandenen Jesu s al s de m Messias-Christu s un d Herr n nimm t auc h nich t nur da s Gekommensei n de s Messia s i m Gegensat z zu m Judentum , da s au f den Messia s noc h wartet , vorweg ; de r Unterschie d besteh t nicht zuers t sozu sagen i n de r Datierun g de s Messias , s o wichti g dies e gewi ß ist . Vielmeh r bekennt sic h de r Glaub e a n de n gestorbene n un d auferstandene n Jesu s Chri stus dami t z u de m eschatologischen , d.h . endzeitliche n un d endgültige n Handeln Gottes , da s i n absolut-qualitative m Sinn e alle m Bisherige n ei n Ende setzt, e s vergangen sei n läß t (2. Kor. 5,17), vom Tode zu m Lebe n führ t (Röm. 5,12-21; 6,3-11 ; Gal. 2,20; l.Kor. 15,21f. ; 2.Kor . 4,10; 13,4 ; Kol. 3,3 f.) un d da s neu e Israe l al s di e i m absolut-qualitative n Sinn e neue , endzeitliche Gemeind e konstituiert , di e a m endzeitliche n Hei l i m Glaube n schon jetz t teilhat . Is t abe r da s neu e Israe l durc h Gotte s endzeitliche s Han deln i n Jesu s Christu s vo m alte n Israe l unterschiede n un d geschieden , j a geradezu au s ih m un d au s alle r Wel t „herausgerufen" , s o mußt e un d mu ß die Frage lauten, ob nicht dies neue Israel mit dem alten nu r noch den Namen gemeinsam hat . Wi e kan n dan n da s a n da s alte , historisch e Israe l gerichtet e © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Verheißung, Weissagung , Typos 23 Alte Testament , da s eine n Stämmeverban d Israel , ei n Staatsvolk , schließlic h eine volksgebunden e Kult - un d Gesetzesgemeind e voraussetzt , noc h Bedeu tung habe n fü r da s neu e Israel , da s Got t i n Christu s endzeitlic h „heraus gerufen" hat ? De r christlich e Glaub e is t ja , trot z alle r ererbte n Schrift gläubigkeit, nich t zuers t Glaub e a n di e Schrift , erwächs t nich t au s de r Schrift , auch nich t au s eine r christlic h ne u ausgelegte n Schrift , sonder n is t Glaub e an Christus , der sich im Zeugnis christlicher Verkündigun g selbs t verkündigt . Die Gesetzesproblemati k stell t sic h dami t al s bloß e Teilfrag e heraus . Si e mußte sic h au s naheliegende n historische n Gründe n zuers t ergeben , abe r da s eigentliche Proble m wa r mi t de r Freihei t vo m Geset z nich t gelöst . E s war un d ist nich t nu r ei n hermeneutisches , wi e nämlic h da s überkommen e Erb e al s ei n historisch bedingte s un d geschichtliche s übe r di e Distan z de r Zeite n hinwe g verständlich gemacht , als o interpretier t un d verstande n werde n könne . Dies e Frage stell t sic h angesicht s jede r Literatu r un d überhaup t alle r menschliche n Lebensäußerungen. Da s Proble m is t vielmeh r auc h un d vo r alle m ei n i m strengen Sinn e theologisches , wi e e s sic h nu r hie r un d nich t auc h i n Hinsich t auf di e neutestamentliche n Schrifte n stellt : wi e da s i m qualitative n Sinn e alt e Erbe fü r di e christlich e Gemeind e al s ein e endzeitlich e un d al s i m strenge n Sinne neue s Israe l Gültigkei t habe n könne . Dies e Frag e wurd e i n de r Urge meinde, abe r auc h i n de r star k reflektierende n Theologi e etw a de s Paulu s noch nich t mi t diese r Genauigkei t un d Härt e gestellt . Si e war abe r da , wi e de r faktische Umgan g mi t de m überkommene n Erb e - und nu n nich t nu r mi t dem Gesetz - zeigt. 5. Verheißung, Weissagung , Typo s Das zeig t sic h scho n gleic h i n de r de n synoptische n Evangelie n voraus liegenden un d vo n ihne n aufgenommene n Sammlun g vo n Herrenworten , di e man al s Q (Logienquelle ) z u bezeichne n sic h angewöhn t ha t (vgl . Werne r Georg Kümmel , Einleitung , S.37ff.) . Hie r wir d deutlich , da ß de r Her r di e erste, unbedingt e Autoritä t ist . E r is t meh r al s Jon a un d meh r al s Salom o (Mt. 12,41; Lk. 11,31 f.); da s Hei l alle r Mensche n entscheide t sic h a m Be kenntnis z u ih m (Mt. 17,21. 24-27 ; 10,32 f.). Jesu s is t di e eigentlich e Auto rität un d sei n Erscheine n selbs t da s Heilsereignis ; di e Schrift , „di e Prophete n und da s Geset z habe n bi s au f Johanne s geweissagt " (vgl . Lk . 16,16). Hier begegnet auc h bereit s de r ander e Gedanke , de r da s überkommen e Erb e de r Schrift nich t zuers t al s Gesetz , sonder n al s Weissagun g un d al s Vorankündi gung un d Verheißun g i n Betrach t zieht . E s is t ei n Gedank e — und ei n herme neutischer Schlüsse l - , der bi s i n di e Gegenwar t vo n Wichtigkei t gebliebe n ist . Schon da s ältest e urchristlich e Glaubensbekenntni s (Kerygma) , wi e es , selbs t vorpaulinisch, vo n Paulu s weitergegebe n wird , beruf t sic h darauf , schrift gemäß z u sein: „da ß Christu s gestorbe n is t fü r unser e Sünde n nac h de n Schrif ten, un d da ß e r begrabe n wurde , un d da ß e r auferweck t is t a m dritte n Tag e nach de n Schriften , un d da ß e r Kepha s erschien , dan n de n Zwölf " (l.Kor . © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik 24 Das Alte Testament als Erbe 15,1-5). Wichtiger al s die Frage, welch e Schriftstelle n hie r konkre t gemein t seien - offenbar wir d au f Jes . 53,4-6; Hos. 6,2 angespielt - , ist die Feststellung, da ß die „Schriften " überhaup t al s Weissagung un d Beweis fü r die Schriftgemäßheit de s Christusgeschehen s zitier t werden . Da s zentral e Geschehen vo n Kreuz un d Auferstehung wir d dan n scho n frü h mi t Hilfe von Psalm 22 (Spott, Kopfschütteln , Verteilun g de r Kleider, Eli-Ruf ) erzähl t und verumständet und als schriftgemäß erwiesen. Auch fü r de n für Heidenchriste n schreibende n Marku s komm t da s alt testamentliche Erb e nich t zuers t al s Geset z i n Betracht . I n diese m „Buc h der geheime n Epiphanien " (Marti n Dibelius , Di e Formgeschichte de s Evangeliums, S.232 ) is t Jesus de r endzeitliche Menschensohn , Soh n David s und Sohn Gottes , der eine neue Lehre verkündet un d mit göttlicher Vollmach t die Dämonen austreib t (Mk . 1,27). In Streitgespräche n mi t Pharisäer n un d Schriftgelehrten wir d dere n gesetzlich-zeremonielle s Verständni s des Gesetzes verurteilt (Mk . 2,6-9; 2,23-28 ; 3,1-6 ; 7,1-13 ; 10,1-12) . Obwohl dies e Polemik faktisc h nich t nu r die jüdische Interpretation , sonder n da s Gesetz selbst au s den Angeln hebt , is t der, dem solche Diskussionswort e zugeschrie ben werden , de r vo n de r Schrif t Geweissagt e (Mk . 1,2f.; 7,6f.; 12,10f . 36f.; 14,27). Insbesondere di e Passionsgeschicht e wir d „schriftgemäß " gestaltet (15,24. 34 . 36). Insgesamt mach t da s Markusevangelium de n Eindruck, i n Hinsich t au f seine n Umgan g mi t de m alttestamentliche n Erb e von eine r vorgegebenen , noc h nich t theologisc h abgeklärte n heidenchrist lichen Traditio n abhängi g z u sein. Das Gesetz, zumal da s Zeremonialgesetz, ist abgetan; gülti g bleib t aber die überkommene Schrift al s Weissagung, di e in Christus Erfüllun g fand . Meine n abe r di e zitierte n Stelle n (Mal . 3,1 vgl. Mk. 1,2; Jes. 29,13 vgl. Mk. 7,6f.; Ps . 118,22f. vgl. Mk. 12,10f.; Ps . 110,1 vgl. Mk . 12,36f.; Sach . 13,7 vgl. Mk. 14,27) wirklich selbs t ihre m eigene n Sinne nach , wa s sie weissagen un d belegen sollen ? Au f diese Frag e is t noch zurückzukommen. Daß die Schrift da s Christusgeschehen verheiß t un d weissagt, is t auch des Apostels Paulus Überzeugung. Dabe i geht es nicht so sehr um eine Vorankündigung einzelne r Geschehniss e un d Widerfahrnisse al s vielmehr darum , daß die Schrif t überhaup t da s Heil, da s Gott de n Heiden i n Christu s bereitet , vorausgesehen ha t (Gal. 3,6). Zwar gründe t auc h de s Paulus Christusglaub e in de r Begegnung mi t dem lebendigen Jesu s Christu s un d er hat das Evangelium nich t „gelernt " (Gal . 1,12), dennoch is t und bleibt für ihn das väterliche Erb e heilige Schrif t i m strengen Sinne . Nich t nu r das Gesetz, das darin enthalten ist , is t vo n Got t gegeben , „heilig , rech t un d gut" (Rom . 7,12), sondern di e ganze Schrif t is t göttlich . Ja , ihr e Heiligkeit , Göttlichkei t und Wahrheit offenbare n sic h nac h Paulu s i m Glauben a n Christus un d von diesem Glaube n he r überhaupt ers t recht . Di e eigentliche Wahrhei t de r Schrift ist ohn e Christu s verhüllt, de n Jude n bleib t si e wi e durc h eine n Schleie r (Decke) verborge n (2.Kor. 3,14). Ohne Christu s gil t de r „Buchstabe", wel cher tötet, jetz t abe r der Geist, der lebendig mach t (2. Kor. 3,6; vgl. Rom. 2, 29; 7,6 ) und dabei is t dann mi t dem Buchstaben nich t blo ß di e Erstarrung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684 A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik Verheißung, Weissagung, Typos 25 im Formale n un d i n Formel n gemeint , sonder n di e tötend e Kraft , di e da s Gesetz ohn e Christu s entfaltet , un d di e recht e Auslegun g is t wei t meh r als ein e exegetisch e Technik , nämlic h di e Erschließun g göttliche r Wahr heit i m Licht e Jes u Christ i (2.Kor . 3,7-18). Die wahre Wahrhei t de r Schrif t ist da s Hei l i n Christus , di e Gerechtigkei t allei n durc h de n Glauben . S o glaubt vo r alle m Geset z Abraha m Gotte s Zusage , un d da s wurd e ih m al s Gerechtigkeit angerechnet , zugesproche n (R öm. 4,3; Gal. 3,6; beide Stelle n mit Bezu g au f l.Mos e 15,6). Hier wird di e Schrif t vo n Paulu s als o durchau s sinngemäß zitiert , di e neu e Glaubenserkenntni s nich t künstlic h i n di e Text e hineingelesen. Neu gegenüber der jüdischen Exegese ist jedoch das hermeneutische Prinzip , da s dies e Stelle n in s Zentrum rück t un d ihne n eine n Ran g vo r allem Gesetz gibt, das gar erst 430 Jahre danach erlassen wurde (Gal. 3,17)! Ist un d bleib t di e Schrif t i n Kraft , s o biete t si e auc h di e Sprach e dar , da s Evangelium vo n Christu s i n seine n verschiedene n Aspekte n z u verkünden . Diese Sprach e is t selbs t Weissagun g au f Christu s un d au f di e Endzeit. Zitat e und Anspielunge n durchziehe n Paulus ' Briefe . All e Weissagunge n un d Ver heißungen, di e das Alte Testament enthält , finde n ihr e Erfüllung i m Christusereignis (2.Kor. 1,20), ja, auc h abgesehe n vo n Weissagungen un d Verheißungen i m engeren Sinne , „wa s imme r zuvo r geschriebe n wurde , da s is t un s zur Lehre geschrieben " (Röm . 15,4). Alles i n de r Schrif t ha t nu r ein e Richtun g und ein Ziel: di e Endzeit, die in Christus angebroche n ist . Geht nach Ps. 19,5 „ihr (de r Himmel ) Schal l übe r di e ganz e Erd e un d ihr e Wort e bi s a n di e Enden de r Welt" , s o finde t Paulu s hie r sein e eigen e Heidenmissio n voraus gesagt (Röm . 10,18), und de r Verkünde r de r Christusbotschaf t dar f sic h von dieser Arbeit au f Koste n der Gemeinde ernähren, weil nac h 5.Mose 25,4 dem dreschende n Ochse n da s Mau l nich t zugebunde n werde n soll ! De r Durchzug durc h da s Schilfmeer , di e Wüstenwanderun g Israels , al s Jahw e i n einer Wolk e mitzo g (2.Mose 13,21 f.), das Mann a (2.Mose 16,4ff. ) un d da s Wasser au s de m Felse n (4. Mose 20,7-11) sind Vorabbildunge n (Typen ) vo n Taufe un d Abendmah l (l.Kor . 10,1-6). Überhaupt is t jene s damalig e Ge schehen, vo n dem das Alte Testament berichtet , fü r Paulu s „typisch " (l.Kor . 10,11), Typos dessen, was in der Endzeit sich ereignet. Hier sind es also nicht Worte ode r Sprüche , di e al s Weissagun g ode r Verheißun g interpretier t wer den, sonder n Geschehnisse , Personen , Institutione n werde n z u Vorausschat tungen de s Künftigen , da s jetz t eingetroffe n ist . S o is t nac h Paulu s de r erst e Adam, vo n de m alle s Unhei l übe r di e Menschhei t ausging , de r Typo s de s künftigen, kommende n un d nu n gekommene n neue n Adam , nämlic h Christi , von dem alles Heil ausgeht (Röm. 5,14). Daß typologisch e Entsprechunge n gemein t sind , mu ß jedoc h nich t imme r ausdrück lich mitgeteil t werden . l.Kor . 5,7 wird Christu s al s Osterlamm , da s fü r un s geopfer t wurde, bezeichnet , un d dami t is t gewi ß ein e typologisch e Entsprechun g vo n Passa lamm un d Kreuzesto d gemeint , wi e j a auc h Joh . 19,14 die Todesstund e Jes u de r Stunde entspricht , d a di e Passalämme r geschlachte t z u werde n pflege n (vgl . Joh . 19, 36; vgl. fü r da s N T u.a . auc h Kol . 2,17 und l.Petr . 3 , 2 1 , wo auc h de r Begrif f Anti typ auftritt : di e Tauf e is t Antitypo s z u de m Typo s de r Arch e Noahs ; Joh . 3,14f. : © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684