Der Vorleser – Bernhard Schlink

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Der Vorleser – Bernhard Schlink
Der Vorleser – Bernhard Schlink
Der Roman
Grundsätze zum Roman
 umfangreicher und vielschichtiger als Novellen
 die Literaturgattung des Bürgertums
 Abenteuer-, Kriegs-, Bildungs-, Brief-, Entwicklungs-, Familien-, Fantasy-, Kriminalromane, historische Romane
Chronologie und Schauplätze
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Roman ist in 3 Teile mit 46 kurzen Kapitel unterteilt, jedes Kapitel beginnt wieder mit 1
das Erzählen folgt der Chronologie der Ereignisse, im Rückblick erzählt
erhält immer wieder Einschübe, Unterbrechungen, Vorausdeutungen
die ersten Kapitel der Teile 2 und 3 erzählen gerafft die Ereignisse zwischen den Lebensabschnitten
einzelne Kapitel sind kurz und in sich abgeschlossen
alle Kapitel fangen mit einem kurzen Satz an und schliessen in einem thematischen
Schwerpunkt
Rahmen um jedes Kapitel
alle drei Teile werden einerseits durch ein überleitendes erstes Kapitel, andererseits
durch Rückblicke und Vorausdeutungen sowie durch das Leitmotivgeflecht miteinander
verknüpft
Lebensalter Michael, Jugendlicher, Jurastudent, Erwachsener
Herbst 1958 erste Begegnung
rückblickend in chronologischer Abfolge der Ereignisse bis zu Erzählgegenwart
1994/1995
keine ausdrücklichen Ortsnamen
Heidelberg, dann andere Stadt, evtl. Frankfurt, am Schluss New York
Aufbau
 Michael als Jugendlicher
o Liebesaffäre mit Hanna und ihr Verschwinden
 Michael als Student
o Prozess und Verurteilung Hannas
 Michael als Erwachsener
o Haft und Selbstmord Hannas
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Der Vorleser – Bernhard Schlink
Steckbrief Bernhard Schlink
1944
Geburt in Bielefeld
1944-1974
Jurastudium
Professor für öffentliches Recht
juristische Fachbücher
1975
Dissertation
1987
ab hier auch Kriminalromane
1989
Preis für deutschsprachige Kriminalliteratur
1995
Erscheinung Vorleser
1999
The Reader auf 1. Platz der Bestellerliste
2010
Sommerlügen (Erzählungen
Weiteres:
 Hauptberuf: Jurist
 viele Protagonisten sind Juristen
 Prinzip von Schuld und Sühne
 juristische Denkweise
 klar und schön schreiben
 knappe und präzise Darstellungsweise
 viele literarische Texte, Texte stammen aus der Literatur des Vormärz
 aufrichtig: Authentizität; zeitdiagnostischer Realismus wie in Amerika
 bewusste Ablehnung der Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur (ernster und unterhaltener Kultur) = Postmoderne
 sagt, dass es keine besondere Vorlage für den Roman gegeben habe
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Der Vorleser – Bernhard Schlink
Postmoderne und neue Übersichtlichkeit
Postmoderne und neue Übersichtlichkeit, 1980-2000
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spielt mit Foren, Themen und Stilen vergangener Epochen
geschickt arrangiert und geschrieben, dass es älter klingt
wichtigste Verfahren sind Zitat, Parodie und Montage
keine fest gefügten Ideologien oder politische Blöcke
offene, globale Kultur
Internetliteratur, Popliteratur, Slam Poetry
Vorleser
zeitgeschichtlicher Hintergrund
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Vertreter aller drei Generationen (Kinder/Kinder/Enkel)
Verstrickungen mit der NS-Zeit
Menschen gehen unterschiedlich mit dem Holocaust um
zeitliche Distanz zum Holocaust wirkt sich auf Stil und Darstellung aus: Leichtigkeit des
Tons, Erzeugung von Betroffenheit auf allgemeinerer Ebene, Einbeziehen von Vorkenntnissen und dem Leser vertrauten Bildern
Verzicht auf eindeutige Verurteilungen und Urteile, stattdessen Aufzeigen von Umständen der Verstrickung in Schuld
dritte Phase der Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg
weltweites Interesse aufgrund des hohen Alters der letzten Zeitzeugen und Opfer
Berichte, Befragungen, Schuldbekenntnissen und Entschädigungen von Opfern nur noch
begrenzt mögliche
gewachsene zeitliche Distanz zu den Geschehnissen ändert Umgang
Nachgeborene Verarbeiten Geschehnisse von Seiten der Täter- und Opferkinder
Leser sind Vertreter der dritten Generation, kennen Holocaust nur aus Filmen etc. (aufgeklärte Zeitgenossen)
3. Generation: Ende eines Schuldzusammenhangs, Vermächtnis der Furchtbarkeiten des
Dritten Reiches auch für die dritte und folgende Generationen
Aufgabe der Literatur: Herstellung eines individuellen Zugangs zu den Geschehnissen, persönliche Auseinandersetzung des Lesers damit
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Figurenbeschreibung
Name
Michael Berg
Merkmale
 1943: Geburt
 15 Jahre als er Hanna kennenlernt
 Handlungsmotivation: Handlungen sind bestimmt durch
Erfahrungen mit Hanna, sucht Distanz
 1962: Abschluss der Schule und Beginn Jurastudium
 1966: Teilnahme am Prozess als Jurastudent und Wiederbegegnung mit Hanna als Angeklagte
 Besuche bei Vater, Richter und KZ Struthof im Elsass
 Winter 1967/68: Skiurlaub, er lernt Gertrud kennen und
wird krank
 Sommer 1968: Beginn des Referendariats
 1969: Heirat mit Gertrud und Geburt Tochter Julia
 1974: Scheidung und wechselnde Verhältnisse mit anderen Frauen, Kassetten, schriftstellerische Tätigkeit
 1983: Brief der Gefängnisleiterin an Michael mit Bitte um
Besuch
 1984: Besuch im Gefängnis, Treffen mit Hanna, Besuch
ihrer Zelle nach Freitod
 1984: Dienstreise in die USA und Besuch einer Überlebenden, Vollstreckung des Testaments, Besuch Grab
Hanna
 1994: Beendigung des Buches über Hanna und seine
Geschichte
 aus gutbürgerlicher Familie, hat drei Geschwister
 Mutter ist Haushälterin, Vater ist Professor der Philosophie, mit älterem Bruder geprügelt und auch später verbal
weitergemacht, ältere Schwester, der er Geheimnisse anvertraut hat, jüngere Schwester, die er als lästig empfindet
 überdurchschnittlich begabter Schüler, weder Examen
noch Referendariat machen ihm Schwierigkeiten
 Pubertät: typische Merkmale, dann Ablösungsphase von
Eltern und Kindheit
 christlich moralische Erziehung; deshalb Konflikt, als ihn
sexuelle Wünsche und Lüste plagen, lässt sich aber trotzdem verführen
 zuerst Unwissenheit, Unsicherheit und Angst, aber auch
Begierde und Neugier
 wirkt auf Mitschüler, Lehrer und andere Erwachsene interessant, souverän und erfolgreich, aber in bestimmten
Situationen (Wutausbruch Hanna) ratlos und erschrocken
 Hanna ist er regelrecht sexuell hörig
 hat erhebliche Fähigkeit zur Selbstanalyse und Selbstkritik, welche aber oft in der Feststellung seiner eigenen
Schuld mündet
 voller Scham und zur Flucht vor Entscheidungen und
Übernahme von Verantwortung bereit
 entwickelt eine Art des Umgangs mit Emotionen, die die
Möglichkeit einer Erniedrigung oder Verletzung seines
Selbstwertgefühls minimieren
 Gefühl der Nichtswürdigkeit und Angst vor Verlust der
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Hanna Schmitz
Anerkennung durch andere
 Nebeneinander von Kaltschnäuzigkeit und Empfindsamkeit, er fühlt sich nicht wohl bei Entscheidungen und
präsentiert sich als Arroganter, während er sich aber verletzt und gedemütigt sowie unsicher fühlt
 Ambivalenz seiner Gefühle als Auswirkung des Verschwinden Hannas und der daraus resultierenden Verletzung
 ob Hanna der einzige Grund für seine Bindungsunfähigkeit ist, ist jedoch nicht sicher, evtl. könnte der Wunsch
nach Distanz zu anderen Menschen auch ein grundlegender Charakterzug sein (Distanz zu Geschwister etc.)
 hat nur wenige Bekannte
 Parallele zwischen ihm und dem Vater, er verhält sich
genauso, wie er es früher an seinem Vater bemängelt hat
 klug, belesen, später Akademiker
 zunächst unsicher, dann zunehmend selbstkritisch
 Beziehung bestimmt sein Leben bis in das Erwachsenenleben und ist Grund für seine spätere Bindungsunfähigkeit
 Eltern von Michael sind Widerstand Leistende und passiv Duldende (Holocaust, erste Generation)
 er und seine Mitschüler sind Vertreter der zweiten Generation (kritisch Fragende, Anklagende in Generationskonflikt Verstrickte
 Avantgarde der Aufarbeitung, selbstkritisch an fanatischen Eifer, versucht, sich aus der eigenen individuellen
und kollektiven Verstrickung zu befreien
 ausgeprägte Neigung, sich schuldig zu fühlen
 21.10.1922: Geburt
 alle Handlungen sind bestimmt durch Furcht vor Entdeckung des Analphabetismus
 Arbeit bei Siemens in Berlin, dann SS, arbeitet in
Auschwitz, wird Aufseherin, dann Aufseherin in einem Lager bei Krakau
 1944/45 Flucht der Aufseherinnen mit den Gefangen
nach Westen, Brand
 danach Gelegenheitsjobs, Strassenbahnschaffnerin
 Herbst 1958 erste Begegnung mit Michael, im Februar
Beginn Beziehung und im April Fahrradtour, dann Sommer Abgang, im Frühjahr 1966 Beginn des Prozesses, im
Juni fliegt das Gericht nach Israel
 Ende Juni 1966 wird Hanna zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt
 1974 bekommt sie zum ersten Mal Kassetten von Michael
und lernt lesen und schreiben, vier Jahre später erster
kurzer Brief
 1984 Begnadigung und Treffen, dann Freitod
 Täter im Holocaust, erste Generation
 21 Jahre älter, 36 Jahre
 rätselhaft
 keine Familienbindung
 Analphabetin
 ehemalige KZ-Aufseherin
 unberechenbar für Michael
 ambivalentes Verhalten
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Beziehungen
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unsicher, verwirrt, ratlos, verletzt
bestimmt, und entschlossen
zärtlich und hilfsbereit
ist sogar grausam, unbeherrscht und brutal, herrisch, kalt
ungewöhnlich sauber und gepflegt (evtl. wegen Schuldgefühlen)
Machtspiele sind erniedrigend und verletzend, leidet
selbst unter ihrem Erkalten und Erstarren, als sehne sie
sich nach der Wärme von Michaels „Entschuldigungen“
beharrlich, diszipliniert und scheut keine Arbeit
recht klug, Interesse an Literatur
Analphabetismus führt zu keinen eigenen Beziehungen
(Distanz), zu keinen Bekanntschaften; sie hat das Gefühl,
dass sie ohnehin keiner versteht, leitet daraus ab, dass
keiner Rechenschaft von ihr fordern kann
erst als sie entlarvt wird (über die tatsächliche Schuld
hinaus), setzt eine neue Form des Umgangs mit ihrer
Schwäche ein; sie lernt lesen und schreiben und ist stolz
und froh, kann diese Emotion aber mit niemandem teilen
(Michael verweigert es)
setzt sich selbstverantwortlich mit ihrem Teil an Schuld
auseinander und versucht nach ihren Kräften eine Wiedergutmachung
attraktiv, kräftig
fliessende, anmutige, verführerische Bewegungen
reife und erfahrene Frau
Michael: Freundschaft zu Schulkollegen, Distanz zu Eltern, Distanz zu Studienkollegen, Ehescheidung mit
Gertrud, Beziehungsunfähigkeit zu Tochter, sexuelle Abhängigkeit von Hanna, er liebt sie
Hanna: Isolation im Prozess, Zurückgezogenheit im
Gefängnis, Gefühle für Michael unbekannt, treibt mit ihm
Machtspiele, einerseits hilfsbereit und zärtlich, andererseits kalt, herrisch, unbeherrscht
Michael ist sexueller Partner, Vorleser, unterwirft sich
Hanna, voller Schuldgefühle
alle Entwicklungsphasen von Michael sind mit Hanna
verknüpft (sexuelle Bindung, Konfrontation mit NSVergangenheit und der persönlichen Verstrickung darin,
Unfähigkeit zur langfristigen familiären Bindung)
selbst nach dem Tod Hannas hat Michael ihre Geschichte
nicht abgeschlossen
Hanna: Geliebte, Zuhörerin, unberechenbar für Michael
die Beziehung ist ungleich, es muss berücksichtigt werden, dass Michael als Erzähler zu Beschönigungen und
Entschuldigungen neigt (Frau sagt, Hanna sei brutal gewesen)
die beiden sind gemischte Charaktere, also nicht einseitig gut oder schlecht, Hanna hat Angst vor Aufdeckung ihrer Schwäche, und Michael hat Sehnsucht nach Hanna,
Angst, sie zu verlieren und Furcht vor Verletzung
Verhältnis ist durch sich ergänzende Rollen geprägt
beide räumen sich nur einen begrenzten Platz in ihrem
Leben ein
Beziehung ist durch Rituale gesteuert: Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bisschen beieinanderliegen
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 Beide: intensive sexuelle Bindung (Michael ist abhängig),
Liebe zur Literatur, reinigende Bäder (Versuch sich reinzuwaschen), Schutz und menschliche Wärme, die sie sich
gegenseitig geben
 Unterwerfung
 Beherrschung
 vielfältige Verstrickung in alte und neue Schuld
 Michael weiss bis zum Ende des Buches nicht, was er für
Hanna bedeutet hat und ebenso was sie für ihn war
 Distanz und Nähe des Verhältnisses (typisch Schlink, unmöglich, sich zu erkennen, obwohl die sexuelle Anziehung
vorhanden ist; Helden sind alles Männer, die Sehnsucht
nach einer Frau haben, die es nicht gibt, fremd und andersartig, unüberbrückbar, Gedächtnisbilder)
 intensive Nähe und gleichzeitige Fremdheit, sich auf freie
Weise nah als auch fernhalten, zuerst Hanna, dann später
Michael
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Interpretation „Der Vorleser“
Sprache
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Retrospektive
sprachlich passen sich die Teile an dem immer älter werdenden Ich-Erzähler Michael an
Eindruck grosser Authentizität
Wortwahl immer komplexer und poetischer
Klarheit und Knappheit
nichts Komisches oder Humorvolles
Selbstverständlichkeit für eine peinigende, kaum erzählbare Geschichte!
Passagen von grosser emotionaler Wirkung
poetisch ausgefeilte Textteile
rhetorische Mittel
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Kontraste
Alliterationen
Metaphern
Parallelismen
kunstvolle Sprachgebäude
dichtes Netz von Leitmotiven
o Odyssee, Fahrten und Fluchten, Orte und Räume, Körperlichkeit, Augen
 1. Teil: Parataxen, viele Fragesätze
o Zeitraum eines dreivierteil Jahres
o Ich-Erzählweise
o zeitdeckende Erzählung, Erinnerung des Erzählers (subjektiv, Sehnsüchte, Empfindungen)
o kurze Sätze, Satzanfänge mit ich oder sie (Perspektive aus Kenntnisstand Michael)
o verschiedene Bezeichnungen für Hanna (Naivität, Doppeldeutigkeit = spannungsfördernd)
o Gebrauch des Konjunktivs
o Fragesätze für Unsicherheit, Unsicherheiten bezüglich Erinnerungsvermögen
o Gegenfragen Hannas als Ausweichmanöver
o Kontrastierung als zeitliche Distanz zu dem Geschehen
o Rückblicke und Vorausdeutungen (Herstellung Bezug zum Protagonisten)
o Leitmotiv Bild: Erinnerung in Form von Bildern
o Erklärungen und Kommentare (Beurteilung der Vergangenheit)
 2. Teil: Konjunktiv 1, komplexere Syntax, juristische Fachbegriffe
o Zeitraum vom Sommer 1959 bis zum Ende des Prozesses im Juni 1966
o Wiedergabe der Verhöre in indirekter oder direkter Rede (Verdeutlichung der
Betroffenheit Michaels, Vergegenwärtigung)
o Kommentare Michaels (Gefühle veranschaulichen)
o Juristisches Wissen (Fachwissen Michael, Student)
o innerer Monolog (Anspannung Michael)
o Aufzählungen, Correctio (spannungsgeladene Schilderung der Ereignisse als
Kontrast zur behaupteten Fühllosigkeit)
o Wiederholung ganzer Sätze, Wörter, oft Dreiergruppen (Verstärkung, Beteuerung)
o Anaphern (Erklärungen und Bestätigungen)
o Parallelismus, Klimax (Verdeutlichung)
o kürzere Sätze und Fragen (grössere Wirkungen, unvermittelt gemachte Aussagen)
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Fragen des Richters, an sich selbst, unbeantwortete Fragen um Leser einzubeziehen)
 3. Teil Hypotaxen, Aufzählungen
o Zeitraum zwischen Ende Prozess 1966 und Besuch in New York, Zeitsprung von
10 Jahren
o besonders ausgewählte und zeitdeckend wiedergegebene Episoden
o Vielzahl grundlegender Überlegungen und Erinnerungen (Argumente, Begründungen, Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen und der eigenen Geschichte)
o Hinweise auf Dokumente (Stützen der Erinnerung, Erkenntnisgewinn)
o Parataxen und Hypotaxen (Reflektion)
Motive & Themen
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Juristisches
Naivität des Protagonisten
Verstrickung in Schuld ohne Wissen
Unkenntnis der wahren Identität einer Frau
Beziehung durch Distanz geprägt
Unsicherheit in der Rolle
Liebe und Lust
Suche nach einem Zuhause
Entscheidungen und Fluchten
Leitmotive (leitmotivische Anklänge)
Rituale
Verstrickung in Schuld
o Frage des Zufalls, des Glückes der späten Geburt, von einer Vielzahl von Konstellationen abhängig, ob ein Mensch schuldig wird oder nicht
Umgang mit der NS-Zeit
o Aufarbeitung der Umstände des Zweiten Weltkrieges aus Sicht der Nachgeboren
o allgemeinere Ebene der Auseinandersetzung mit menschlichen Verhaltensweisen
Frage von Schuld und Sühne
Heimkehr
Liebesbeziehungen
Literatur
o hilft, nicht in dieser Betäubung zu verharren, sondern zu registrieren, zu analysieren, literarisch zu gestalten und damit persönliche Betroffenheit zu erreichen
und eine selbstkritische Einstellung zu ermöglichen
o es ist extrem schwierig, zu allen Zeiten, nicht schuldig zu werden!
Odyssee
o Schule, mit Bildern von Hanna oder Sophie
o liest Buch als er nicht schlafen kann da Gedanken quälende zirkuläre Bahnen
machen
o Geschichte einer Heimkehr
o Geschichte einer Bewegung, zugleich zielgerichtet und ziellos, erfolgreich und
vergeblich
Heimkehr
o Sehnsucht nach Zuhause
o Ehe Irrweg
o Fluchten beruflicher Art
o er wird zum Herumreisenden, Suchenden, Heimkommenden und wieder Aufbrechenden
o Sehnsucht danach, nach Hause zu kommen
o Bahnhofstrasse, Haus, Sehnsucht nach Hause zu kommen an Hanna festgemacht, ohne ihr zu gelten
o Böser Traum ist Strassenbahnfahrt, ausgestossen aus der normalen Welt, verdammt zu einer ziel- und endlosen Fahrt (Umherirren)
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im Zug ist er auch isoliert
Bahn ist schaffnerlos, Rückkehr an einen Ort, springt auf das Trittbrett und
nimmt ihn auf
o Fahrt nach New York als wichtiges Ergebnis, denn er erwacht aus dem Traum
und stellt sich der Realität, er schafft es, sich ein Stück von Hanna loszulösen
o Fahrradfahrt, Besuch Struthof, Erkenntnisgewinn und Entwicklung der Persönlichkeit
o er flieht vor beruflichen Entscheidungen und Verantwortung
o ständig unterwegs sein, die Entfernung von alltäglichen Geschehnissen, aber
auch die Isolation von anderen Menschen führt demnach dazu, dass Entscheidungen nicht getroffen, einfache Lösungen nicht gefunden werden
o Schlink verweigert seinen Protagonisten, nach Hause zu kommen und sich
beruhigt und zufrieden dort einzurichten
Nachkriegsgeschichte
Suche nach der Identität
Neuordnung der Geschlechterrollen (eigenwillige und resolute Frauen, gefühlsbetonte
und unentschlossene Männer)
Symbolgehalt
Orte und Räume
o gelehrt und gelernt
o Gericht gehalten wird
o Verbrechen geschieht und Verbrechen gesühnt wird
o Intimitäten stattfinden
o Hannas Geheimnis enthüllt wird (Wald)
o alle Räume sind von anderen Menschen und vom Alltag abgeschlossen
Körperlichkeit, Sexualität und Zuhause-Sein
o Obsession für den Liebesakt
o Einladung Hannas, im Inneren des Körpers die Welt zu vergessen
o fühlt sich in ihrem Körper noch mehr zu Hause
o Rückzug in ihren Körper, denn sie lässt sich gehen
o körperliches Verlangen, also erst Beziehung der Körper
o Spannungsfeld zwischen Lust und Liebe, es bleibt unklar, was darunter zu verstehen ist
o für ihn ist seine Liebe, dass sie mit ihm geschlafen hat, für sie ist er eher Junge
als ebenbürtiger Sexualpartner
o er weiss nicht ob Hanna ihn liebt, ist es von seiner Seite aus ein Gefühl der Entgeltung (Scheitern der Liebe)
o Unglück und Verzweiflung mit Sex kompensieren
o für Michael ist Beziehung zu Hanna Quelle von Scham, Schuldgefühl, Verwirrung
Leitmotive: Augen, Blicke, Tiermotive, Betäubung, Erstarrung, Kälte, Träume, Requisiten,
Namen und Gesichter
Holocaust und Umgang damit
o Motive für Handeln im Verbergen von Defiziten
o Ausführung von Befehlen und Erledigen von Alltagsaufgaben
o gedankenloses Mitläufertum
o Egoismus (egoistische Motive)
 Selbstdarstellung Anwalt
 Reisefreude des Richters mit touristischen Angelegenheiten
o fehlende Bereitschaft zur bewussten aktiven Auseinandersetzung oder zum
Widerstand
o Betäubung, Fühllosigkeit, innerliches Unbeteiligtsein, Erstarrtheit in einem Zustand der Betäubung
Eingebundenheit in eine individuelle Lebenssituation, die ihre individuellen Wünsche
und Ziele bestimmt, welche alle in einen zu bewältigenden Alltag hineingehören
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Ansätze
 Analphabetismus
o Problemaufriss
o Anzeichen
o Folgen
o Hinweise gibt es, aber nur bei genauem Hinsehen (überlässt Wahl der Routen,
Hotels, Zettel nicht gefunden, lässt sich aus Büchern vorlesen, wahllose Auswahl
von Kinofilmen, hoher Druck auf Hanna, hält Termine der schriftlichen Vorladung
nicht ein, will nicht auf Verlesung verzichten, sicht- und hörbar verwirrt im Zusammenhang mit dem Protokoll
o gute Strategien zur Vertuschung der Schwäche, führt jedoch zur ersichtlichen
Ermüdung
o erst im Gefängnis gibt sie den Kampf auf und tritt in die produktive Phase der
Bewältigung, und zwar ohne Hilfe anderer!
o Leser ist von Erkenntnis überrascht
o Mechanismen der Verdrängung und Täuschung der Umwelt über die Schwäche
o Konsequenzen sind Unsicherheit, Unruhe, ständige Wechsel von Wohnort und
Arbeitsstelle und kaum private Beziehungen
o allgemeine negative Folgen sind z.B. niedriger sozialer Status, sprachlos, verhindert schöpferische Leistungen, macht abhängig von anderen, fordert viel
Kraft und Konzentration, führt zu Minderwertigkeitsgefühlen
o es bleibt die Frage, wieweit ihr Analphabetismus schuldmindernd ist
 Beziehung und Kommunikation
o Bedingungen
o verbale und nonverbale Kommunikation
o verbal aufgrund Alter, sozialem Unterschied, Bildungsstand und Geheimnis Hannas sehr beeinträchtigt
o nonverbal keine gravierenden Missverständnisse, kennen Namen erst irgendwie
nach einer Woche, das erste Gespräch endet sofort in einer Auseinandersetzung
o Hanna behält die Oberhand, indem sie die nonverbalen Kommunikationsmittel
sowie ihre Anziehungskraft einsetzt
o Drohung der Zurückweisung bringt Michael dazu, in jeder Hinsicht zu kapitulieren und sich ihr zu unterwerfen
o mündliche und schriftliche Kommunikation scheitern
o sie weit in die Pantomime (Gestik und Mimik) aus, statt sich argumentativ auseinanderzusetzen
o Unverständnis des anderen auf Grund fehlender Gespräche
o sprechen nicht über sich und über ihren Alltag
o sie weicht immer aus, spricht nie über sich (fühlt sich immer unverstanden)
o Folgen der sprachlichen Inkompetenz sind z.B. ein verärgerter Richter
o Kommunikation mit Texten: sie ist sehr an Literatur interessiert
o warum lässt sich Michael auf die Beziehung hinsichtlich der Sprachkompetenz
ein????
o gelungene Kommunikation auf der Grundlage der Körpersignale
o Gefühle, Absichten und Wünsche werden nicht durch Worte vermittelt, sprachliche Verständigung ist für beide Seiten problematisch
o Michael reagiert auf Hannas Appelle
o Michael verweigert den persönlichen schriftsprachliche Kommunikation mit Hanna
und gesteht ihr damit jetzt seinerseits nur eine Nische zu
o mühsames Gespräch
o Vorbild des Vaters, Worte von grosser Wichtigkeit, aber ohne Alltagswelt, nicht an
den rituellen Umgang mit Menschen gewohnt, keine gelungenen Gespräche über
Persönliches, Ausklammern des Alltags und anderer Menschen aus der Kommunikation (evtl. weil Gesellschaft das Liebesverhältnis ablehnt)
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wenn alle persönlichen Dinge des Lebens nie Gegenstand der Kommunikation sein können, fehlt ein wichtiger Bestandteil der Beziehung!
wirkliche menschliche Nähe und dauerhafte Liebe sind unverzichtbar mit dem
Austausch durch Worte und die Bereitschaft, über sich zu sprechen, verknüpft
 Literatur
o Buch der Tochter, Sachliteratur über Philosophie, Holocaust, Analphabetismus,
eigene Texte Michaels, Briefe Hannas, Brief der Gefängnisleiterin und Testament
Hannas
o zitierte Texte decken einen breiten gattungsspezifischen und literaturgeschichtlichen Raum ab
o Lesen, Schreiben, Vorlesen
o Hanna trennt nicht zwischen fiktionalen und realen Personen
o Michael lernt, literarische Texte für sich selbst in Anspruch zu nehmen
o Michael als Leser, wächst mit Büchern auf
o Michael lernt durch Hanna literaturgeschichtliche Distanzen zu überwinden und
das Aktuelle in den Aussagen auch historischer literarischer Werke zu sehen
o Funktion der Literatur für beide ist die Entdeckung und Öffnung einer anderen
Welt, persönliche Verständigung über Literatur, Vorlesen verdeckt Unfähigkeit oder die mangelnde Bereitschaft, auf andere Weise mit Hanna zu kommunizieren
o Michael beginnt selber zu schreiben, Gedichte, möglicherweise von Hanna angeregt
o Buch der überlebenden Tochter ist wichtig für die Bewältigung der Vergangenheit,
aber Michael denkt, als er sie sieht, dass sie unter dem frühen Leid erstarrt ist
o ihm gelingt es nur teilweise, durch Schreiben seine Erfahrungen zu verarbeiten
 Frage nach Schuld
o Definition von Schuld: das Ursachesein für ein Übel. Schuld im sittlichen Sinne
setzt Verantwortlichkeit voraus, und es gibt Unterschiede in der Schwere der
Schuld; sie hängen ab von der Grösse des herbeigeführten Übels, dem Bewusstsein davon und dem Grad der dabei gegebenen Willensfreiheit
o die seelische Belastung durch Schuld ist oft auch dann vorhanden, wenn die Entschlussfreiheit durch Unwissenheit oder Zwang beeinträchtigt war…
o vermeidet eindeutige Festschreibungen von Schuld und Unschuld, Täter und Opfer, Böse und Gut
o beide werden auf sehr unterschiedliche Weise im juristischen und menschlichen
Sinne schuldig
o Schuld der Zeitgenossen des nationalsozialistischen Deutschlands
o Schuld der Kinder- und Elterngeneration
o Umgang mit Schuld: Scham, Erstarrung, Verdrängung, aktive Auseinandersetzung, Wegsehen, Tolerieren, empörter Fingerzeig auf die Schuldigen, Umsetzen
des passiven Leidens in Energie, lärmendes Übertönen, Versuch zu vergessen,
Vermeidung der Erinnerung, Fühllosigkeit, Arroganz, Lieblosigkeit, Distanz zu
Mitmenschen, Verstörung, Tränen, Erschütterung, Zorn, Wut, Ratlosigkeit, Verstummen, Leere, Flucht, aktive Auseinandersetzung mit dem Geschehen, Versuch der Wiedergutmachung, Tod Hannas als Möglichkeit der Sühne???
o individuelle Schuld und Kollektivschuld werden eindrucksvoll zueinander in Beziehung gesetzt, Einzelschicksale spiegeln in gewisser Weise das Schicksal ganzer Generationen wider
o Menschen können durch ganz banale Umstände schuldig werden
o es gibt keine eindeutigen Rollenzuweisungen zu Nur-Schuldigen oder NurUnschuldigen
o gleichzeitiges Verstehen und Verurteilen geht nicht
o Umstände, die zur Schuld führten, können zwar verstehbar und erklärbar gemacht werden
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Möglichkeiten der Reaktion
Rollen, Umstände und Verantwortung
Hanna: Selektion Gefangene, Brutalität, unterlassene Hilfeleistung, Kälte, Demütigung, Schlag mit Gürtel, Zuweisung beschränkter Platz im Leben, juristische Schuld (Sexualstrafrecht), Verführung Minderjähriger
Michael: Liebe zu Verbrecherin, Verrat durch Ausschluss aus seinem Leben, fehlende Hilfe nach Erkenntnis ihres Geheimnisses, Vermeiden von Besuchen, Versuch, auf sie Einfluss zu nehmen, sie nicht stehen lassen können, Verletzung der
Gefühle von Sophie, Ablehnung des Segens des Grossvaters, Vergleich mit Hanna in jeder Beziehung, Verweigerung von Geborgenheit für Julia, Diebstahl
Vater: unzureichende Herzlichkeit/Wärme gegenüber den Kindern
Zeitgenossen der NZ-Zeit: mangelnder Widerstand, Mithilfe, fehlende Scham
Kindergeneration: überheblicher Eifer beim Aufklären der Furchtbarkeiten
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Zusammenfassung
Der Vorleser ist in drei Kapitel aufgeteilt. Der Roman enthält die Geschichte von Michael
Berg in drei Abschnitten seines Lebens. Als 15-Jähriger verliebt er sich in die 21 Jahre ältere
Hanna, zu der er eine Liebesbeziehung entwickelt, die durch das Ritual des Duschens, sich
Liebens und des Vorlesens geprägt ist. Sie verschwindet nach dem Sommer und der leidenschaftlichen Beziehung ohne Abschied. Michael bleibt von Schuldgefühlen geplagt zurück.
Erst als Jurastudent begegnet er Hanna wieder. Sie ist als ehemalige Aufseherin ein einem
Konzentrationslager angeklagt, den Tod vieler jüdischer Frauen und Mädchen verschuldet zu
haben. Erst im Laufe des Prozesses begreift Michael, dass Hanna Zeit ihres Lebens alle
Entscheidungen getroffen hat, um ihr Analphabetentum zu verheimlichen. Trotz dieser Erkenntnis hilft Michael ihr zwar nicht (teilt die Erkenntnis dem Richter nicht mit), schickt ihr
jedoch nach ihrer Verurteilung zu lebenslanger Inhaftierung Kassetten mit von ihm vorgelesenen Texten ins Gefängnis. Mit Hilfe dieser Bänder lernt Hanna im Gefängnis lesen. Michael pflegt jedoch keinerlei privaten Kontakt mit ihr. Nach 18 Jahren Haft bereitet Michael zögerlich und nur auf Bitte der Gefängnisleiterin die Zeit nach der Entlassung vor und besucht
Hanna erstmalig im Gefängnis, wo er feststellt, wie alt und müde sie geworden ist. Kurz vor
ihrer Entlassungen aus dem Gefängnis nimmt sie sich das Leben.
1.
Teil
Liebesgeschichte, Angabe Krankheit, Gelbsucht, mehrere Monate ans Bett gefesselt von
Oktober bis Februar: Ausbruch fällt zusammen mit erster Begegnung. Erste Begegnungen
zwischen Hanna und Michael: Sie nimmt sich des Jungen an, als sich dieser übergeben
muss. Für ihn Gefühl der Scham, Schwäche, Hilflosigkeit. Er ist pubertierend und nimmt das
irritierend Weibliche der Frau wahr. Mutter fordert ihn auf, sich bei der Frau für die Hilfe zu
bedanken. Er wird von einem Hausbewohner zu Frau Schmitz geschickt. Er findet sie in der
Küche beim Bügeln und erinnert sich später nur noch an die Räumlichkeiten und die Bewegungen der Frau. Sie will ihn ein Stück begleiten und zieht deshalb Strümpfe an. Michael ist
fasziniert von Hanna. Er kann seine Augen nicht von ihr lassen und ist irritiert. Er stürzt aus
der Wohnung. Später weiss er nicht, weshalb sie ihn so faszinierte. Die Weltvergessenheit
der Haltungen und Bewegungen, Einladung, im Inneren des Körpers die Welt zu vergessen.
Es folgt eine Woche von Fantasien, Wünschen, Sehnsüchten und vor allem das Ringen der
Entscheidung. Er besucht sie noch einmal. Er muss auf sie warten. Sie kommt von der Arbeit
als Strassenbahnschaffnerin und bittet ihn, Kohleschütten hochzutragen. Es passiert ein
Missgeschick und er ist ganz schwarz vom Kohlestaub. Sie lässt ihm ein Bad ein und trocknet ihn ab. Es kommt zum ersten Sex zwischen der erfahrenen, reifen Frau und dem unsicheren und ängstlichen, aber auch erregten und von der Sicherheit und Schönheit der Frau
überwältigten Jungen. Das Erlebnis ist der Anfang seiner Liebe zu ihr. Die Loslösung von
Familie und Kindheit beginnt. Ab dann schwänzt er die letzten Schulstunden, um sich mit ihr
zu treffen und sich des Badens und des Sex hinzugeben. Hanna wirft ihn raus, als sie vom
Schwänzen erfährt. Michael ist verwirrt. Er fragt sich, welche Rolle er für sie spielt und verspricht ihr, für sie den Schuljahresabschluss zu erarbeiten. Hanna ist sehr an Sprachen und
Literatur interessiert und bittet ihn, ihr aus Texten vorzulesen. Das Ritual des Vorlesens,
Duschens, miteinander Schlafens, Beieinanderliegens wird nun zur neuen Beschäftigung. Er
schafft die Versetzung in die nächste Klasse (11. Klasse). In den Osterferien kommt es zum
ersten Streit der beiden, und zwar als Michael am frühen Morgen mit der Strassenbahn fährt,
in der Hoffnung auf „Privatheit und eine Umarmung oder einen Kuss. Aber Hanna im vorderen Wagen ignoriert ihn während der Fahrt. Sie wirft ihm später vor, dass er sie nicht habe
kennen wollen. Er ist verärgert und beleidigt und von ihrer Kälte irritiert. Er fühlt sich unfair
behandelt. Aber er ist dennoch bereit, alle Schuld auf sich zu nehmen und zu gestehen, dass
er gedankenlos, rücksichtslos und lieblos gehandelt habe. Auch bei allen folgenden Streitigkeiten unterwirft er sich in dem Machtspiel, um sich ihre Nähe und Zuneigung zu bewahren.
Als nächstes folgt ein eskalierender Streit während einer Fahrradtour. Michael legt ihr einen
Zettel hin, als er am Morgen rasch das Hotelzimmer verlässt. Als er zurückkommt, ist sie
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ausser sich vor Zorn und schlägt ihn sogar mit ihrer Gürtelschnalle ins Gesicht, sodass seine
Lippe blutet. Dann beginnt sie fassungslos zu weinen. Michael hat keine Erfahrung mit einem
solchen Verhalten, weil in seiner Familie Konflikte durch Gespräche gelöst werden. Sie lieben sich, aber eine Erklärung folgt nicht. Während der Tour überlässt Hanna Michael alles,
die ganze Planung. Michael ist die ganze Zeit bereit, die Schuld auf sich zu nehmen und
alles für ein Missverständnis zu halten. Die letzte Woche der Osterferien will Michael zuhause bleiben um so viel Zeit wie möglich mit Hanna zu verbringen. Für seine kleine Schwester
beginnt er sogar, im Einkaufszentrum zu klauen. Bei einem Diebstahl eines Nachthemdes für
Hanna wird er sogar fast erwischt. Eines Abends lädt er Hanna zu sich nach Hause ein. Er
kocht sogar für sie. Aber sie drückt ihm durch ihr Verhalten aus, dass sie sich in dem durch
Bücher und Intellektualität geprägten Haus als Eindringling fühlt. Ein neues Schuljahr beginnt, und Michael kommt in eine andere Klasse mit neuen Mitschülern. Er lernt Sophie kennen, seine neue Banknachbarin. Michael kann mit seiner gelernten Reife und Erfahrenheit
punkten. Den kommenden Sommer bezeichnet er als „Gleitflug“ der Liebe. Er nimmt das
Ende der Beziehung vorweg und betont gleichzeitig das Beglückende. Es gibt einen Moment
von eigentümlicher Innigkeit. Er vergleicht Hanna mit einem Pferd, und sie ist entsetzt. Aber
er meint es positiv. Trotzdem fehlt der Beziehung die tragende gemeinsame Basis. Er bekennt sich dort, wo die beiden nicht bekannt sind, mit Gestik und Verhalten frei zu ihr. Aber
er verschweigt gegenüber seinen Freunden die Existenz Hannas und die Bedeutung, die sie
für ihn hat. Er sagt deswegen, dass er sie verrate. Er bekennt sich also eindeutig zur Schuld.
Er verbringt immer mehr Zeit mit den Freunden und geniesst die Leichtigkeit des Umgangs
miteinander, vor allem weil Hanna immer schlechtere Laune bekommt. Sie weicht seinen
Fragen ständig aus, vor allem wenn es um ihr Leben und ihre Vergangenheit geht. Ende Juli
lastet auf ihr ein besonderer Druck. Er will ihr in dieser Situation, in der sie gequält wird und
empfindlich und unwirsch ist, helfen, aber sie lehnt jede Anteilnahme ab. Es kommt nochmals in einem höchsten Masse erregenden und intensiven sexuellen Erlebnis, bevor er sie
im Schwimmbad zum ersten und einzigen Male unverhofft in der Öffentlichkeit sieht. Sie verschwindet gleich wieder, sodass er gar nicht zu ihr gehen kann. Sie bleibt verschwunden und
er beginnt, nachzuforschen. Sie hat ein Angebot zur Weiterbildung als Fahrerin ausgeschlagen, den Posten und die Wohnung gekündigt und ist nach Hamburg umgezogen. Er bleibt
zurück mit der Sehnsucht seines Körpers und dem Gefühl der Schuld. Er glaubt fest daran,
dass ihr Weggang die Strafe für seine Halbherzigkeit der letzten Monate sei.
2.
Teil
Stark zeitraffend wird erzählt, wie Michael auf das plötzliche und unverständliche Verschwinden, das Ende der Schulzeit reagiert. Er nimmt ein Studium der Rechtswissenschaft auf. Er
beschreibt die Abnahme sowohl der Erinnerung an Hanna als auch der Sehnsucht seines
Körpers nach ihr und reflektiert aus der Distanz durchaus kritisch sein Verhalten. Er entschliesst sich, sich unverletzbar zu machen und sich nie mehr demütigen zu lassen. Er will
nie mehr demütigen. Er will sich nie mehr schuldig machen und schuldig fühlen. Er will niemand mehr so lieben, dass ihn verlieren weh tut. Er ist unnahbar, kalt, grossspurig und arrogant, gleichzeitig aber empfindsam geworden. Es beginnt dann ein nächster grosser Erzählabschnitt. Michael nimmt als Jurastudent an einem Seminar über Nazi-Verbrechen teil, das
als Praxisanteil die Verfolgung eines Prozesses, in dem KZ-Aufseherinnen sich zu verantworten haben, enthält. Hanna wird vorgeworfen, als Angehörige der SS an der Selektion und
am Tod zahlloser Menschen in einem polnischen KZ beteiligt gewesen zu sein. Michael verfolgt jeden Tag der Gerichtsverhandlung, denn es geht um das Wiedersehen mit Hanna im
Gerichtssaal. Aus der gehobenen und beschwingten Stimmung , mit der die Studenten des
KZ-Seminars den Prozessverlauf verfolgen, wird bei Michael, nachdem er Hanna erkannt
hat, zunehmend Anspannung, eine Stimmung, die er auch bei dieser beobachtet, obwohl sie
auf die anderen Beobachter eher hochmütig wirkt. Gleichzeitig registriert er für sich sowohl in
der Erinnerung an die vergangene Zeit mit Hanna als auch während der Gerichtsverhandlung ein Gefühl der Betäubung und glaubt, ein ähnliches Betäubtsein auch bei anderen beobachten zu können. Die Anklage, die in der zweiten Woche verlesen wird, gilt neben Hanna
vier weiteren Frauen, die Aufseherinnen in einem kleinen Lager bei Krakau, einem Aussenlager von Auschwitz waren und von Auschwitz dorthin versetzt worden waren. Die inhaftier15
Der Vorleser – Bernhard Schlink
ten Frauen mussten in einer Munitionsfabrik arbeiten. Die Anklage stützt sich auf ein Buch,
das eine von zwei Überlebenden der Häftlinge (Mutter und Tochter) in Amerika veröffentlicht
hatte. Es gibt zwei Anklagepunkte: Erstens die Selektion im Lager. Die Arbeitsunfähigen
wurden nach Auschwitz in die Vernichtung geschickt. Die Anzahl der Zurückgeschickten richteten sich nach der Anzahl der Neuzugänge. Die Bombennacht, in der alle Gefangenen in
einer brennenden Kirche eingeschlossen und dem Tod überlassen wurden, ist der zweite
Punkt. Das gesamte Lager befand sich auf einem Zug nach Westen, als sie in einer Nach
von Bomben angegriffen wurden. Den Angeklagten wird vorgeworfen, dass sie die Tür der
brennenden Kirche hätten aufschliessen können, dies aber nicht taten. Hanna verhält sich
ungeschickt vor Gericht. Denn sie ist bereitwillig, dort Schuld einzugestehen, wo sie es für
richtig hält und in anderen Punkten aber irritierend beharrlich zu sein. Dies nutzen die Angeklagten und ihre Verteidiger aus, um ihr die Hauptschuld zuzuschieben. Hanna ist ratlos und
verwirrt im Umgang mit Fragen, die sich auf die Anklageschrift und die Protokolle sowie andere Schriftstücke stützen. Hanna habe einige besonders zarte Mädchen unter ihren persönlichen Schutz gestellt und diese abends immer zu sich geholt. Die Mädchen durften nicht
verraten was sie taten. Eines verriet jedoch, dass es ihr vorlesen habe müssen. Aber später
wurden die Schützlinge mit den Transporten nach Auschwitz in den Tod geschickt. Hanna
schweigt. Michael ist verunsichert und erregt in Erinnerung an seine Zeit des Vorlesens. Sie
blickt ihn plötzlich gezielt an, aber ihr Gesicht bot sich nur an. Michael ist verunsichert im
Hinblick auf seine Rolle für Hanna. Im Zusammenhang mit dem Marsch der Gefangenen in
den Westen und dem Tod nahezu aller Gefangenen wird ein Bericht aus den Akten der SS
hinzugezogen. Alle Angeklagten sagen, dass der Bericht falsch sei. Sie bestreiten jede
Schuld am Tod der Gefangenen. Eine Frau schiebt Hanna die Alleinschuld zu, indem sie
behauptet, Hanna habe den Bericht falsch abgefasst. Sie wird alarmiert, als man von ihr eine
Schriftprobe machen will zum Vergleich und gibt dann zu, den Bericht geschrieben zu haben.
Michael entdeckt Hannas Analphabetismus als er bei einem sonntäglichen Spaziergang. Es
passt als Erklärung für ihr rätselhaftes und widersprüchliches Verhalten. Er entdeckt, dass
sie dieses Geheimnis um jeden Preis unentdeckt lassen wollte und will. Während Hanna in
den folgenden Gerichtsverhandlungen um das kämpft, was sie als recht und richtig empfindet, kämpft Michael mit einer Entscheidung, was er mit seiner Erkenntnis tun soll. Er konfrontiert Freunde und sogar den Vater mit einer abstrakten Fassung seines Konfliktes, jedoch
ohne Erfolg. Er besucht das Konzentrationslager Struthof-Natzweiler und trifft aber dann
doch die Entscheidung, zum Richter zu gehen. Doch dieser plaudert, von sich überzeugt,
über allgemeine Sachen wie sein Studium etc. Michael bringt nicht den Mut auf, den eigentlichen Grund seines Kommens zu erklären und seine Erkenntnis über Hanna mitzuteilen. Mit
Hanna kann er nicht persönlich reden. Hanna wird zu lebenslanger Haft verurteilt, während
die anderen Frauen zeitliche Freiheitsstrafen bekommen. Ihre Reaktion auf die Verlesung
der Strafe ist ein hochmütiger, verletzter, verlorener und unendlich müder Blick.
3.
Teil
Stark gerafft werden die Lebensdaten von Michael nach dem Prozess wiedergegeben. Den
Sommer verbringt er in der Universitätsbibliothek. Er vermeidet Kontakte. Doch er wird eingeladen, über Weihnachten eine Skifahrt durchzuführen mit seinen Mitstudenten. Er wird
jedoch schwer krank und kommt ins Spital. Gertrud, eine Mitstudentin wartet auf ihn. Er heiratet sie und bekommt mit ihr eine Tochter, Julia. Trotz der er anscheinend erfolgreichen
Lebensplanung kommt Michael nicht von der Vergangenheit los. Reflexionen der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und die Einstellung der Studenten dazu, der Umgang
mit Schuld und Scham, vor allem aber die Beziehungen zu Hanna bestimmen seine Gedanken. Das ständige Vergleichen Gertruds und auch später anderer Frauen mit Hanna führt zur
Scheidung und zur Unfähigkeit, sich auf die Dauer zu binden. Die Konsequenz ist ein ständiges Gefühl der Unruhe und der Schuld der Tochter gegenüber, der sie Geborgenheit verweigerten. Nach erfolgreicher Beendigung des Referendiats und des zweiten Examens flieht
Michael schliesslich in die Nische rechtshistorischer Forschungstätigkeit, da er sich ausserstande sieht, die groteske Vereinfachung des Anklagens, Verteidigens und Richtens in einem Beruf umzusetzen. Er beginnt nach der Trennung von Gertrud wieder zu lesen, erst
leise, dann laut und schliesslich bespricht er Kassetten, die er Hanna ohne jedes persönliche
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Wort ins Gefängnis schickt. Er beginnt zu schreiben und auch diese Texte spricht er auf
Band und schickt sie Hanna. Im verrieten Jahr ihres wortreichen, wortkargen Kontaktes
kommt der erste kurze Brief von Hanna, dem dann vielen weitere folgen. Hanna hat, das
registriert Michael mit Stolz und Freude, lesen und schreiben gelernt. Dennoch ist er nicht in
der Lage, selbst zu schreiben oder eine andere Form des Kontaktes aufzunehmen. Nach 17
Jahren, ein Jahr vor Hannas Entlassung aus der Haft, bekommt Michael einen Brief von der
Leiterin des Gefängnisses, mit der Bitte, da er die einzige Kontaktperson zu Hanna sei, sich
um sie nach der Haftentlassung zu kümmern. Michael sorgt für eine Wohnung, für Arbeit für
Hanna und für Bildungsangebote kirchlicher und weltlicher Einrichtungen, den Besuch im
Gefängnis schiebt er aber ein ganzes Jahr vor sich her. Als schliesslich die Gefängnisleiterin
eine Woche vor der Entlassung Hannas anruft, kann er sich nicht länger vor der Entscheidung drücken und fährt ins Gefängnis. Der Besuch ist für beide Seiten eine Enttäuschung.
Michael findet eine alte Frau vor und nimmt diese auch nur als so eine wahr. Sie fühlt sich
nicht richtig an. In der folgenden Woche beschäftigt sich Michael in eigentümlich gespannter
Gefühlslage mit Arbeit und Vorbereitungen. Noch einen Tag vor dem Abholen telefoniert er
mit Hanna und der Gefängnisleiterin. Als er sie am nächsten Tag abholen will, wird er mit der
Nachricht konfrontiert, dass Hanna Selbstmord begangen hat. Der Besuch ihrer Zelle, das
Gespräch mit der Gefängnisleiterin und der Blick auf das Totengesicht Hannas führen zu
einer aufschlussreichen und emotional sehr bewegenden Auseinandersetzung mit der Toten.
Michael hat testamentarisch den Auftrag bekommen, die Ersparnisse Hannas an die überlebende Tochter, die das Buch geschrieben hatte, weiterzuleiten. Diesen Auftrag erfüllt er viele
Monate später im Zusammenhang mit einer Dienstreise in die USA (New York). Das Gespräch mit der Tochter führt zu einer Auseinandersetzung mit Möglichkeiten des Umgangs
mit Schuld und zu Fragen über seine Beziehung zu Hanna, die Michael erstmals deutlich
beantwortet. Es endet damit, dass Michael im Auftrag der Tochter das Geld an eine jüdische
Organisation zur Unterstützung von Analphabeten überweist und die Tochter in Erinnerung
an ihre Zeit in Auschwitz die Teedose, in der das Bargeld verwahrt war, behält. Mit einem
Zeitsprung von zehn Jahren schliesst der Roman mit einer Reflexion des Ich-Erzählers über
seine Geschichte mit Hanna.
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Quelle:
Erläuterungen, K. (2014). Der Vorleser von Bernhard Schlink. . Bange, C.
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