Entscheidung and er Weichsel
Transcription
Entscheidung and er Weichsel
Impressum Wolfgang Schreyer Entscheidung an der Weichsel Dokumentarbericht über Vorgeschichte und Verlauf des Warschauer Aufstandes ISBN 978-3-86394-359-2 (E-Book) Die Druckausgabe erschien 1960 im Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR, Berlin Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta © 2013 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: verlag@edition-digital.com Internet: http://www.ddrautoren.de Vorbemerkung Die Leser des Romans „Unternehmen Thunderstorm" mögen sich fragen, weshalb der Verfasser dieses Buches heute jene Vorgänge wiederum aufgreift und sie in der vorliegenden Form darstellt. Ihm ging es darum, verlogenen Schilderungen, wie sie besonders vom westdeutschen Rundfunk und in Westillustrierten beharrlich verbreitet werden, erneut entgegenzutreten: Diesmal unter Verzicht auf jede erfundene Einzelheit oder romanhafte Episode, an Hand unwiderlegbarer Dokumente. Auch ist in den sechs Jahren, die seit der Niederschrift des Buches verstrichen sind, von polnischer Seite viel neues Tatsachenmaterial veröffentlicht worden, mit dem er, um das früher gegebene Bild zu ergänzen, seine Leser bekannt machen möchte. W. S. 1960 Eine Stadt widersteht Im Morgengrauen des 1. September 1939 drang die Wehrmacht in Polen ein. Der zangenförmige Grenzverlauf ermöglichte ihr einen Umfassungsangriff, wie zuvor im Falle der Tschechoslowakei. Deutsche Soldaten, zu Revanche und Völkerhass erzogen und durch monatelange Hetzpropaganda aufgeputscht, zerbrachen triumphierend Zollschranken, stürzten Grenzpfähle um und überfluteten nun auch dieses Nachbarland. Auf die Untätigkeit der Westmächte bauend, setzten Hitlers Generale die Masse ihrer aktiven Verbände und alle motorisierten Truppen im Osten ein. So hatte die nagelneue Kriegsmaschine des deutschen Imperialismus leichtes Spiel: 58 faschistische Divisionen warfen sich auf 32 polnische, 2000 moderne Flugzeuge zerfetzten 900 veraltete, Panzer mähten Kavallerie nieder. Von England und Frankreich völlig im Stich gelassen, ging Polens Armee nach tapferer Gegenwehr unter. Die Goebbelspropaganda höhnte: „Mit Mann und Ross und Wogen, hat sie der Herr geschlagen." Hitlers Blitzsieg schien vollkommen. Denn rascher noch als die Armee zerfiel der polnische Staat. Schon am 6. September floh die reaktionäre Regierung, an ihrer Spitze Marschall Rydz-Smigly, aus der Hauptstadt. Fünf Jahre hindurch hatte sie mit Nazideutschland Freundschaft gepflegt, im März 1939 noch an der Zerstückelung der Tschechoslowakei teilgenommen - nun entwich sie mitsamt dem Goldschatz über die rumänische Grenze. Am 8. September erreichte die Vorhut der 10. Armee, das Panzerkorps Hoepner, den Südwestrand Warschaus. Sie griff aus dem Marsch heraus an. Ihr Versuch aber, quer durch die Arbeitervorstadt Ochota ins Zentrum zu stoßen, scheiterte am Widerstand von Garnison und Bevölkerung. Die Warschauer rissen das Pflaster auf, stürzten Straßenbahnwagen um, schossen aus Kellern und Dachluken. Dutzende Panzer blieben auf der Strecke, der Rest machte kehrt. Die Wehrmacht biss auf Granit. Drei Wochen lang hielten die Verteidiger aus, eingekreist und ohne Hoffnung. Ihr Heldenkampf reizte die Nazigenerale zum ersten brutalen Zerstörungswerk des Zweiten Weltkriegs. Sie ließen Warschau erbarmungslos bombardieren - wie bald darauf Rotterdam, London und Belgrad. Die brennende Stadt behauptete sich bis zum 28. September; dann erlag sie der Übermacht. Und über die Ujazdowska-Allee, über den trümmerbedeckten Pilsudskiplatz, auf dem inmitten seiner Generale Hitler stand, knallten faschistische Paradestiefel. „Das Schicksal hat entschieden ..." „Polen ist als Kriegsschauplatz ein guter Bekannter unserer alten Heere", schreibt um diese Zeit der Wiener Generalmajor Kerchnawe, und er macht den geraubten Bissen als künftige Militärprovinz genussvoll schmackhaft: „An Unterkünften ist kein Mangel. Verpflegung, auch für große Heere, ist in Polen ausreichend aufzubringen. Die klimatischen und sanitären Verhältnisse sind bei guter Witterung günstig. Das vielfach gehörte Urteil, Polen bestehe nur aus Wald und Sumpf, ist vollkommen unrichtig ..." Als sie diese Sätze drucken, haben die Eroberer längst gehandelt. Auf der Krakauer Burg, auf dem Warschauer Brühlpalais weht die Hakenkreuzfahne, und auch vom letzten Marktflecken haben sie Besitz ergriffen. Noch während des Vormarsches hat der Oberbefehlshaber des Heeres als Inhaber der vollziehenden Gewalt das polnische Verwaltungspersonal verhaftet oder verjagt und es durch Nazis ersetzt: Je ein Landrat mit zwei Hilfsbeamten und sechs Gendarmen rückt hinter der angreifenden Truppe in die oft noch brennenden Kreisstädte. Es folgt die Gestapo. Man schafft „Ordnung". Binnen weniger Wochen macht der Faschismus aus Polen ein Zuchthaus und aus Warschau eine „deutsche Stadt". 3000 „Volksdeutsche" hat es beim Einmarsch dort gegeben, nun schwillt die Zahl an. Eine vieltausendköpfige Bürokratie, Parteidienststellen, Besatzerfamilien und das Personal deutscher Firmen machen sich breit. An Kinos, Droschken, Restaurants und Straßenbahnen erscheint das Schild NUR FÜR DEUTSCHE. Geschäfte firmieren zweisprachig, die 98 Hauptstraßen erhalten deutsche Namen. Im Spätherbst 1939 treffen sich Warschaus neue Herren im Hotelrestaurant „Europa" am Adolf-Hitler-Platz, sie sitzen - meist gestiefelt und graugrün, braun oder schwarz uniformiert - in Weinstube, Bar oder Tearoom des CaféClub-Cabarett oder speisen in der „Silbernen Rose" („geführt von deutschem Besitzer"). Sie bewohnen Barockpaläste. Die besten Kinos und sämtliche Theater sind für sie. Sie planen Schlosskonzerte, Ballettabende, Weichselregatten. Im Fußballstadion spielt Schalke 04 gegen die „Deutsche Sportgemeinschaft Palais Brühl". Man beschlagnahmt Schwimmbäder und Tennisplätze, reitet, saust im Auto durch die Stadt und kauft die Läden leer. Gefragt sind Pelzwerk, Schmuck und Schuhe. Man zahlt mit Besatzungsgeld; ist der Geschäftsinhaber Jude, wird beschlagnahmt oder erpresst. Zum Statthalter beruft Hitler seinen „bewährten Mitkämpfer, Reichsminister Dr. Frank", und ermächtigt ihn mit Erlass vom 12. Oktober 1939 „innerhalb seines Machtbereichs Recht zu setzen". Von nun an ist das Wort dieses später in Nürnberg gehenkten Faschistenhäuptlings für ein ganzes Volk Gesetz. „Kein Pole soll über den Rang eines Werkmeisters hinauskommen", schärft er schon Anfang 1940 seinen Beamten ein. „Das Schicksal hat entschieden, dass wir hier die Herren sind, die Polen aber die uns anvertrauten Schutzunterworfenen sind ... Bei dem geringsten Versuch des Polentums, etwas zu unternehmen, würde es zu einem ungeheuren Vernichtungsleidzug kommen; dann würde ich vor keinem Schreckensregiment zurückscheuen!" Frank scheut auch ohne besonderen Anlass davor nicht zurück. Bald häufen sich die Hinrichtungen derart, dass er einem Nazijournalisten, der ihn im Auftrage des „Völkischen Beobachters" interviewt, bei einem Glase Wein verrät: „Wenn ich für je sieben erschossene Polen ein Plakat aufhängen lassen wollte, dann würden die Wälder Polens nicht ausreichen, das Papier herzustellen für solche Plakate." Die grausamste Terrorwelle schwemmt im Juni/Juli 1941 über das gequälte Land, als die Wehrmacht über den Bug setzt und in jene Gebiete einfällt, die die Sowjetunion bis dahin vor dem faschistischen Zugriff hat bewahren können. Unter dem Rauchschleier des neuen Großangriffs will man ungesehen morden und das Verbrechen der Roten Armee zur Last legen. Hauptziel ist jetzt die Ausrottung der polnischen Intelligenz. In Weißrussland, Galizien, der Karpatoukraine, am Ufer des Dnestr sinken Zehntausende in hastig ausgehobene Massengräber. Horden ukrainischer Krimineller - nationalistisch verhetzt, von deutschen Kontrolloffizieren angeleitet - leisten der SS Henkersdienste. Mit Handgranaten, Spaten und Pistole machen sie wehrlose Menschen nieder. Politischer Chef und Adjutant des Vernichtungsbataillons „Nachtigall", das sich besonders hervortut, ist Dr. Oberländer, ein Geheimdienstoffizier, Naziprofessor und langjähriger Ostexperte des deutschen Imperialismus. Unter seiner Aufsicht bringt man im eben eroberten Lemberg namhafte Wissenschaftler und Schriftsteller mitsamt ihren Familien um, werden 11 000 Zivilpersonen allein bei Kamensk-Podolsk erschossen und verscharrt. Fünfzehn Jahre später aber wird Oberländer dem Kabinett Adenauer als Westdeutschlands „Vertriebenen"-Minister angehören. Als im Oktober 1959 unwiderlegbare Dokumente die Schwere seiner Mitschuld offenbaren und sich ein Proteststurm gegen ihn erhebt, bricht der ukrainische Hauptbelastungszeuge, „Nachtigall"-Kommandeur Bandera, unter geheimnisvollen Umständen in München vor einem Fahrstuhlschacht tot zusammen. Oberländer bleibt zunächst im Amt, bis er im April 1960 unter dem Druck der Weltöffentlichkeit den Ministersessel räumt - nachdem seine Pensionsansprüche gesichert sind. Mit seinem Sitz im Bundestag behält er jedoch Einfluss auf die Politik Westdeutschlands. Wie der Profit es befahl Damals wie heute brauchten Deutschlands Imperialisten Männer, die zugunsten ihrer Geschäftsinteressen nicht nur imstande waren, unseren Nachbarn finsterste Gewalt anzutun, sondern auch fähig, geplantes und schon begangenes Unrecht akademisch zu begründen. Henkersknecht Dr. Oberländer rechtfertigte ihre Expansionspolitik nachträglich, als er im April 1940 in Heft 45 einer „landwirtschaftswissenschaftlichen" Nazizeitschrift schrieb: „Rom und Griechenland sind an der Vergiftung der rassischen Struktur zugrunde gegangen. England und Frankreich gehen einen ähnlichen Weg. Die Eindeutschung der Ostgebiete muss in jedem Falle eine restlose sein. Solche Maßnahmen vollständiger Aus- und Umsiedlung mögen für die Betroffenen hart erscheinen ..., aber eine einmalige Härte ist besser als ein durch Generationen währender Kleinkampf. Reinhaltung der Rasse und eigenvölkische dichte agrarische Unterschicht sind nur möglich, wenn das fremde Volkstum voll und ganz das Land verlässt." Inzwischen hatten die Nazis Westpolen kurzerhand dem Reich einverleibt. Oberländers Thesen und das Schlagwort vom „Lebensraum" sollten schrankenlose Annexionen bemänteln. Bis auf wenige Kilometer schob man die deutsche Grenze an Warschau heran. Die Bewohner der geraubten Provinzen wurden in ein südpolnisches Restgebiet gewiesen, das sogenannte Generalgouvernement. Es war als Slawenreservat gedacht. Die Polen sollten dort arbeiten oder sterben. Fünf Jahre lang regierten hier Armut und Furcht. Kein Pole durfte eine Mittelschule besuchen, geschweige denn studieren. Nach Einbruch der Dunkelheit hatte niemand die Wohnung zu verlassen. Es wurde ohne Warnung geschossen. Auch tagsüber jagte man Menschen. Polizei und SS griffen wahllos Passanten auf und schleppten sie zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Hunderttausende Warschauer gingen, durch ein „P" als „minderrassig" gekennzeichnet, diesen bitteren Weg. In der Stadt selbst schufteten 35 000 Metallarbeiter für die deutsche Rüstung. Ihr Lohn: wertlose Zlotys. „Wir denken hier imperial im größten Stil aller Zeiten", verkündete Generalgouverneur Frank im alten Königssaal der Krakauer Burg. „Dem Imperialismus, wie wir ihn entwickeln, ist kein Vergleich vergönnt mit jenen kläglichen Versuchen früher in Afrika ... Wir haben hier ein gigantisches Arbeitslager, wo alles, was Macht und Selbstständigkeit bedeutet, in den Händen der Deutschen ist." Die anwesenden Distriktchefs, Regierungsdirektoren, Wehrmachtsoffiziere, Arbeitsdienst-, HJ- und SSFührer, Ministerialräte, Amtsleiter, Bankdirigenten und Vertreter der deutschen Großindustrie spendeten Beifall. Franks unglaubliches Tagebuch schildert, wie von Jahr zu Jahr höhere Ernteaufkommen aus dem Generalgouvernement herausgepresst wurden. Das 142 000 Quadratkilometer große Land hätte seine 17 Millionen Einwohner ernähren können: Doch die Lebensmittel rollten nach Deutschland. Drei Scheiben Brot am Tag blieben für die Polen übrig. Wem das nicht reichte, der konnte auf dem schwarzen Markt ein Pfund Fleisch für 40, ein Brot für 18 oder ein Pfund Speck für 80 Zloty kaufen - bei einem Monatslohn von 90 bis 230 Zloty. Während das Volk verelendete, griffen Deutschlands Wirtschaftsführer nach der polnischen Industrie. Vor Kriegsausbruch hatten 43 Prozent des Gesamtkapitals aller polnischen Aktiengesellschaften ausländischen Firmen gehört, meist französischen. Kraft Mehrheitsbeteiligung kontrollierten westeuropäische Banken Polens Steinkohle, sein Erdöl, seine Stromerzeugung, Bahnen und Zinkgruben. Nach dem Einmarsch änderte sich das Bild. Deutsche Konzernbeauftragte, genannt Treuhänder, besetzten die Betriebe. Ende 1939 schon fielen Milliardenwerte den deutschen Unternehmern als erste Kriegsfrucht in den Schoß. Durch Scheinkäufe brachten sie nach und nach fast alle Aktien an sich. Das Großkapital war der eigentliche Nutznießer des Polenfeldzugs. 10 000 deutsche Soldaten kamen bei diesem Raubzug um; die Industrie stieß sich gesund. Am Beispiel des IG-Farben-Konzerns wird deutlich, welch entscheidende Rolle Deutschlands Großindustrie bei der Ausbeutung des unterjochten Landes spielte. Keineswegs begnügte sich die IG-Farben damit, drei der größten chemischen Fabriken Polens (Boruta, Wola und Pobjanice) für einen Spottpreis zu erwerben und an dem Lohngefälle zu verdienen. Vielmehr setzte sie die Errichtung betriebseigener KZ-Lager durch und ließ sich von enormen Häftlingsarmeen neue Anlagen, besonders zur Produktion synthetischen Kautschuks, bauen. Als einer der Standorte zur Bunaerzeugung wurde das südpolnische Monowitz gewählt, weil Kohle, Kalk und Weichselwasser nahe waren und des benachbarte KZ Auschwitz den Arbeitskräftebedarf billigst deckte: 4 Mark zahlte der Konzern dem Reich für jeden gelernten, 3 Mark für den ungelernten Häftling pro Tag, was einem Stundenlohn von 30 Pfennigen entsprach. Keine Staatsstelle zwang die IG-Direktion dazu, sich dieser Arbeitssklaven zu bedienen. Sie handelte ganz aus eigner Initiative, im Interesse weiterer Profiterhöhung. Etwa 400 000 Häftlinge gingen durch das IG-Lager Monowitz, einen Ableger des sieben Kilometer entfernten Todeslagers Auschwitz. Nur ein winziger Bruchteil hat die grausamen Antreibermethoden, die barbarischen Unterbringungs- und Ernährungsbedingungen überlebt. Allein beim Bau eines der hundert Meter hohen Bunaschornsteine kamen 3000 Menschen um. Die Werkleitung weigerte sich grundsätzlich, schwache Häftlinge zu beschäftigen. Die Erschöpften wurden nach Birkenau oder Auschwitz in die Gaskammern geschafft; ebenso jene, die von IG-Aufsehern beim Rauchen ertappt wurden. Das Verwaltungsgebäude lag im Schatten der Verbrennungsschlote, und manchmal klagten die IG-Direktoren über den üblen Geruch. Dennoch scheuten sie sich nicht, für eine Gruppe polnischer Frauen, deren Haftentlassung bevorstand, verlängerte Strafzeit zu fordern, damit sie der Firma als Ausbeutungsobjekt erhalten blieben. Für Schlafmittelexperimente kaufte der Konzern von der SS weibliche Häftlinge für 200,- RM auf, nicht ohne zu versuchen, den Kopfpreis noch herunterzuhandeln. Auch mit Giftgasen wurde experimentiert. Befragt, ob er Versuche an Menschen für gerechtfertigt gehalten habe, erklärte Dr. Fritz ter Meer, ein Hauptdirektor und Aufsichtsratsmitglied der IG-Farben, später vor dem Internationalen Militärtribunal: „Diesen KZ-Häftlingen ist dadurch kein besonderes Leid zugefügt worden, man hätte sie ja ohnehin getötet." Das herzliche Verhältnis der IG-Direktion zu den Auschwitzmördern bezeugen folgende Briefzeilen, die Bunaproduktionsleiter Dr. Otto Ambros am 12. April 1941 an seine Konzernvorgesetzten richtete: „... außerdem wirkt sich unsere neue Freundschaft zur SS sehr segensreich aus. Anlässlich eines Abendessens, das uns die Leitung des Konzentrationslagers gab, haben wir weiterhin alle Maßnahmen festgelegt, welche die Einschaltung des wirklich hervorragenden Betriebs des KZLagers zugunsten der Bunawerke betreffen." Briefschreiber Ambros, Dr. Dürrfeld (Direktor des Auschwitzer Zweigwerks) und Dr. Bütefisch (Leunawerkleiter und Verantwortlicher für die polnischen Brennstofffabriken) wurden 1948 zusammen mit elf anderen IG-FarbenVerbrechern vom Nürnberger Tribunal zu insgesamt 56 Jahren Gefängnis verurteilt. Fast alle jedoch nahmen wenig später im westdeutschen Wirtschaftsleben wieder maßgebende Stellungen ein und waren damit beschäftigt, den aufgeteilten Riesenkonzern zusammenzuflicken. Dürrfeld, der Hunderttausende von Arbeitssklaven buchstäblich zu Tode hetzen ließ, war 1956 Vorstandsmitglied der Scholven-Chemie-AG in Gelsenkirchen. Ambros ist heute dreifaches Aufsichtsratmitglied: bei der Bergwerksgesellschaft Hibernia AG in Herne, den Süddeutschen Kalkstickstoffwerken und der Grünzweig & Hartmann AG in Ludwigshafen. Bütefisch gehört den Aufsichtsräten der Deutschen Gasolin-AG, Westberlin und der Feldmühle Papier und Zellstoffwerke AG in Düsseldorf an; er leitet ferner das Technische Expertenkomitee der internationalen Konvention der Stickstoffindustrie. Ausbeuten oder umbringen? Seit dem Nürnberger Prozess weiß die Welt, dass Hitler und Himmler vorhatten, die »slawische Rasse" um 30 Millionen Köpfe zu dezimieren. Aber zunächst wurde die Judenausrottung ins Auge gefasst. Ab November 1939 kennzeichnet man die im Generalgouvernement ansässigen Juden mit dem Davidstern und treibt sie in Gettos zusammen. Dreieinhalb Millionen Menschen müssen ihre Wohnungen und Heimatdörfer verlassen. In Regen und Schnee wandern graue Elendszüge über Polens Landstraßen in besondere Stadtviertel, die von der Außenwelt abgeriegelt werden. Fünfundfünfzig solcher Gettos entstehen in Polen: Sammelbecken, in denen die Mörder ihre Opfer griffbereit holten. Das größte liegt im Zentrum Warschaus. Fast eine halbe Million Menschen sind dort hinter einer neun Kilometer langen Mauer zusammengepfercht. Zu sechst hausen sie in einem Zimmer, und sie leben offiziell von dreißig Gramm Brot am Tag, hundert Gramm Marmelade und fünfzig Gramm Fett im Monat. Kinder schmuggeln Kartoffeln und Mohrrüben - unter Lebensgefahr. Die Wachmannschaft schießt auf jeden, der unbefugt das Getto verlässt. Die absichtlich erzeugte Hungersnot rafft Tausende hinweg. Doch diese Vernichtungsart ist unkontrollierbar; es dauert den Nazis zu lange. Auch brechen im Winter 1941 Seuchen aus: Flecktyphus bedroht das Hinterland der Ostfront. Da beginnt man, die arbeitsunfähigen Juden abzutransportieren. Musterungskommandos sortieren nach und nach zwei Drittel der Gettobewohner als „nutzlosen Anhang" aus, verladen sie auf Güterwagen und führen sie achtzig Kilometer nordostwärts Warschau, bei dem Ort Treblinka, wie es im offiziellen Amtsdeutsch zynisch hieß, „einer Sonderbehandlung zu". Solange dort die Verbrennungsöfen noch nicht fertig sind, scharren Bulldozer die Leichname der vergasten Juden ein. Im Getto selbst richtet man Uniformschneidereien und Rüstungswerkstätten ein. Sie sind für viele die letzte Zufluchtsstätte. Die jüdischen Arbeiter fordern nicht nur keinen Lohn, sie zahlen oft Geld hinzu: für einen Arbeitsausweis, der sie vor dem Abtransport bewahrt. Bei zwei Litern Suppe stehen sie elf, zwölf Stunden an den Maschinen. Was Deutschlands Konzerne im ganzen besetzten Europa tun, das treiben hier einige Unternehmer auf die Spitze. Fabrikanten wie Schultz oder Walter Többens, der in seinen Warschauer Werkstätten zeitweilig 15 000 Juden beschäftigt, werden in kurzer Zeit Multimillionäre. So profitieren können die Gettofabrikanten nur, wenn sie ihre Gewinne mit den örtlichen SS-Führern teilen. In Warschau steckt die SS bald derart im Geschäft, dass ihr an der Judenausrottung nichts mehr liegt. Wen man umbringt, kann man nicht mehr ausbeuten. Also bremsen die lokalen Machthaber ihre Vernichtungsaktion. Monatelang überwiegt ihre Geldgier dem Bestreben, Warschau als „judenrein" zu melden und dafür belobigt zu werden. Ab August 1942 jedoch schreiten sie, von Himmler gedrängt, zur „Endlösung". Von nun an jagen Rollkommandos Tag für Tag Tausende zum Verladeplatz am Danziger Bahnhof. Auf die Vernichtung durch Hunger, auf tödliche Ausbeutung folgt als letzte Phase die unterschiedslose Ermordung aller durch Zyklon B, ein vom IG-Farben-Konzern entdecktes und produziertes Giftgas. - Es ist unmöglich, im Rahmen dieses Berichts auch nur ein mattes Abbild der Gettoszenen zu geben. Sie gehören zu den grauenhaftesten der Menschheitsgeschichte. In der Osterwoche 1943, als nur noch 70 000 Männer, Frauen und Kinder im Getto vegetieren, peitschen plötzlich der einrückenden SS, die gewohnheitsmäßig ein paar Häuserblocks „auskämmen" will, Kugeln entgegen. Sie weicht verblüfft zurück. Dass sich die gequälten Juden zu einem letzten verzweifelten Kampf erheben, hat niemand für möglich gehalten, am wenigsten ihre Henker. Es ist eine Tat, die die Welt erschüttert. Am 20. April beginnt ein Rachefeldzug ohnegleichen. Die Deutschen stampfen das Getto nieder - mit Flammenwerfern, Dynamit und Feldhaubitzen. Sie vergiften das Trinkwasser, räuchern Verstecke aus, machen alles dem Erdboden gleich. Sie brauchen volle vier Wochen, um den Widerstand einer Handvoll Todgeweihter zu brechen. Die kleinen Kampfgruppen - oft sind es Jugendliche - wehren sich bis zur letzten Patrone. In einem Fernschreiben meldet der mit der Niederschlagung beauftragte faschistische Polizeigeneral: „Nach der Durchsuchung wurde der gesamte Block in Brand gesetzt. Wie immer hielten sich die Juden bis zuletzt in den sich unter der Erde befindlichen oder auf den Dachböden angebrachten Bunkern. Sie feuerten bis zum letzten Augenblick und sprangen dann nach vorherigem Herauswerfen von Betten, Matratzen usw. mitunter sogar aus dem vierten Stock auf die Straße, aber erst dann, wenn ihnen durch das Feuer gar kein anderer Ausweg mehr übrig blieb. Mit Beschimpfungen auf Deutschland und auf den Führer auf den Lippen und mit Flüchen auf die deutschen Soldaten stürzten sie sich aus den brennenden Fenstern und von den Balkonen." Er fügt beflissen hinzu, dass SS-Leute auch in die Kanalisation hinabgestiegen seien und dort gesehen hätten, wie „die Leichen verendeter Juden in großer Anzahl vom Wasser fortgeschwemmt werden". „Unter den erfassten Banditen", heißt es weiter, „sind mit Bestimmtheit polnische Terroristen ermittelt. Heute gelang es u. a. auch, einen der Gründer und Führer der jüdisch-polnischen Wehrformation zu erfassen und zu liquidieren." Die meisten werden an Ort und Stelle ermordet. In Blut und Qualm erlischt der letzte Lebensfunke. Zurück bleiben Schutthalden, ein gestaltloses Trümmerfeld, sieben Quadratkilometer groß ... Zurück bleibt das Andenken der jüdischen Kämpfer. Ihr heroischer Untergang mahnt uns bis auf den heutigen Tag, eine Wiederkehr des Faschismus in Deutschland um jeden Preis zu verhindern. In der Steinwüste zwischen Powazki-Friedhof und Sächsischem Garten steht nach Sprengung der Synagoge am 16. Mai 1943 nur noch das PawiakGefängnis, ein Stützpunkt der SS. Eine tiefe Wunde klafft im Antlitz Warschaus. Die Stadt aber hat zum zweiten Mal gezeigt, dass sie unbezwungen ist. Sie wird es noch ein drittes Mal beweisen. Der unterirdische Strom Die Flamme des Widerstands war in Polen nie erloschen. Gleich nach der Besetzung hatten sich im Lysa-Gora-Gebirge aus versprengten Truppenteilen Partisanengruppen gebildet. Sie griffen Etappenposten an und hoben Magazine aus, bis sie Mitte 1940 in erbitterten Waldgefechten aufgerieben wurden. Doch die Ruhe, die folgte, trog die Eroberer. Angesichts ihres Terrors, ihrer Ausrottungspläne begann das polnische Volk zu kämpfen. Im Ringen um Polens nationale Existenz gab es von nun an keine Pause. Schon im Winter 1941 kam es erneut zu Sprengstoffanschlägen und Attentaten. Partisanengerichte fällten Todesurteile über verbrecherische deutsche Beamte. Acht Leiter von Arbeitsämtern, die insgesamt anderthalb Millionen Polen deportiert hatten, wurden erschossen. Im Warschauer CaféClub-Cabarett detonierte inmitten der Besatzerprominenz eine Bombe. Telefondrähte wurden durchschnitten, Bahngleise gesprengt. Die Nazis antworteten mit Geiselmorden. Für jeden getöteten Deutschen erschossen sie fünfzig bis hundert Polen. Ihre Polizeiregimenter formierten Schlitten- und Skistreifen, motorisierte und berittene Kommandos. In den unwegsamen Wäldern und schwer überschaubaren Städten, vor einer in schweigendem Hass verharrenden Bevölkerung stießen sie meist ins Leere. Die grausamen Vergeltungsaktionen blieben ohne die erhoffte Abschreckungswirkung. Über Nacht erschienen an den Mauern antifaschistische Losungen. Ein SD-Bericht aus dieser Zeit spricht von wöchentlich hundert illegalen Flugblättern, die in je 500 bis 1500 Exemplaren gedruckt und verbreitet worden seien. Hinter solchen Unternehmen stand anfangs fast ausschließlich die polnische Exilregierung in London. Sie war aus Mitgliedern der über Rumänien und Frankreich nach England emigrierten Generalität und Vertretern jener vier Mittelparteien hervorgegangen, die schon vor dem September 1939 in Opposition zum Regime Moscicki/Rydz-Smigly gestanden hatten. Die Londoner Exilpolitiker distanzierten sich vom offen reaktionären, halbfaschistischen Kurs ihrer „Sanacja"-Vorgänger. Sie planten Reformen: Nachkriegspolen sollte sich vertraglich an den Westen binden und eine bürgerliche Republik werden. Die alten Macht- und Eigentumsverhältnisse jedoch wollte man nicht antasten. Polens bürgerliche Patrioten, die sich überwiegend zu dieser Regierung bekannten, kämpften für die Befreiung ihres Vaterlandes vom deutschen Faschismus; zugleich aber auch - oft ohne das ausdrücklich zu wünschen - für eine Rückkehr zu den misslichen sozialen Bedingungen von 1939. Die Londoner Exilregierung stellte im Ausland Streitkräfte auf, die bei Narvik, in Frankreich und Italien auf westalliierter Seite fochten. Ihre internationale Geltung hing aber, wie sie bald sah, auch vom Umfang des militärischen Beitrags ab, den das geknebelte Polen noch zu leisten imstande war. Beim Aufbau einer illegalen „Heimatarmee", der Armija Krajowa (A. K.), half ihr Großbritannien, das überall im nazibesetzten Europa den Untergrundkampf bürgerlich-konservativer Kreise förderte. Britische Flugzeuge, vielfach mit polnischer Besatzung, brachten immer wieder Waffen, Sprengmittel und Sabotageanweisungen nach Polen. In den Wäldern entstanden geheime Lager und Abwurfplätze. so besonders im Urwald von Kampinos nordwestlich Warschaus. Unter den Emigranten, die nach England geflohen waren, wählte die VI. Abteilung des polnischen Generalstabs zuverlässige Personen aus und schmuggelte sie am Fallschirm nach Polen ein. Die „Polish Section" des SOE, eines Sonderstabes des britischen Secret Service, unterstützte diese Aktionen. Die Heimatarmee erstarkte, schlug aber noch nicht los. Von mutigen Einzelaktionen abgesehen, verharrte sie „Gewehr bei Fuß" - eine Losung, die den Befreiungskampf jahrelang lähmte. Die Londoner gaben sie heraus, damit die Armija Krajowa ihren Bestand nicht gefährdete und jederzeit als unverbrauchte Kraft militärisch-politisch ins Spiel gebracht werden konnte. Ihr Chef, General Rowicki (Deckname „Grot") entwickelte 1942 nach Richtlinien, die er vom Oberbefehlshaber Sikorski aus London erhielt, einen detaillierten Aufstandsplan. Danach sollte der Kampf erst beginnen, wenn die deutschen Armeen zusammenbrachen. Am 30. Juni 1943 fiel General Rowicki den Deutschen in die Hand. An seine Stelle trat Graf Komorowski - sein Deckname war „Bór" -, ein 48-jähriger Kavalleriegeneral, der im Interventionskrieg 1920 mit dem polnischen 12. Reiterregiment gegen die Rote Armee gezogen war. Ebenso wie General Anders, dessen Truppe nach ihrem schmählichen Verlassen sowjetischen Gebiets zur Zeit der Stalingrader Schlacht nun in Italien lag, und General Sosnkowski, der nach Sikorskis seltsamem Tod von London aus die Operationen lenkte, war Bór ein Gegner der Sowjetunion. Bór stand mit dieser Haltung nicht allein. In Polen war als Folge der 120jährigen Zarenherrschaft nach dem Ersten Weltkrieg eine russlandfeindliche Stimmung zurückgeblieben. Das bürgerlich-aristokratische Regime hatte sie zwei Jahrzehnte hindurch genährt. Wie anderswo war es Polens Gutsbesitzern und Kapitalisten gelungen, ihre persönliche Furcht vor Enteignung und Machtverlust auf weite Kreise besonders des Kleinbürgertums zu übertragen. Die Entfremdung der beiden Nachbarvölker - unter überholten historischen Bedingungen entstanden - war dadurch weiter vertieft worden. In der Heimatarmee aber musste diese Linie nun den Befreiungskampf hemmen, um so mehr, als sich ab 1942 die fortschrittlichen Kräfte Polens gleichfalls militärisch formierten. Hier bestanden unüberbrückbare Gegensätze. Es bildete sich ein tiefer Konflikt heraus: Jener Riss wurde sichtbar, der fast alle vom Faschismus unterjochten Nationen durchlief und die Widerstandskräfte der besetzten Länder in ein rechtes (bürgerliches) und ein linkes (proletarisches) Lager teilte. Um keinen Preis wollten die rechten Gruppen die Sowjetunion, den konsequentesten und mächtigsten Feind des deutschen Faschismus, als Verbündeten anerkennen. Das schuf die Kluft, das schied sie im Untergrundkampf von den fortschrittlichen Kräften. Auch in Deutschland selbst verlängerte die volksfeindliche und antisowjetische Einstellung der rechten Hitlergegner den Fortbestand der Nazidiktatur. Denn diese lähmende Haltung wirkte bis weit in die sozialdemokratische Führung hinein; sie vereitelte das Entstehen einer antifaschistischen Einheitsfront und verhinderte große gemeinsame Aktionen. Isolierte Aktionen der Rechten - wie der Offiziersputsch vom 20. Juli 1944 - waren zum Scheitern verurteilt. Für das polnische Volk hatte diese verhängnisvolle Spaltung gleichfalls tragische Folgen. Zwei Wege zur Freiheit? Das Verhältnis der Londoner Emigrantenregierung zur Sowjetunion schwankte mehrfach, blieb aber im Wesen stets ablehnend. Anfangs erklärte sie sich als mit der UdSSR im Kriegszustand befindlich, weil diese die westukrainischen und belorussischen Gebiete wieder besetzt hatte, die ihr 1921 von Pilsudski entrissen worden waren. Zu dieser Zeit verbreiteten die Londoner ihre „Theorie der zwei Feinde", wonach Deutschland und die UdSSR gleichermaßen als Gegner betrachtet werden sollten. Als Hitlerdeutschland im Juni 1941 auch die Sowjetunion überfiel, korrigierte Premierminister Sikorski diese Linie und entsandte einen Botschafter nach Moskau. Dort kam man am 14. August überein, in der UdSSR aus entlassenen polnischen Internierten eine Streitmacht zu bilden, die an der Seite der Roten Armee bei der Befreiung Polens mitwirken sollte. Diese Truppe wurde, acht Divisionen stark, auf Wunsch ihres Befehlshabers, General Anders, weit hinter der Wolga aufgestellt. In einem Augenblick, da der Feind vor Moskau stand und die Sowjetarmee jede Patrone benötigte, erhielt sie Waffen und Ausrüstungsstücke im Werte von 300 Millionen Rubel. Premier Sikorski, der bedeutendste unter den Londoner Exilpolitikern, setzte sich für ehrliche Einhaltung des offiziellen Bündnisses mit der UdSSR ein. Doch konnte er sich gegen reaktionäre Generalskameraden vom Schlage eines Sosnkowski und ihre traurig antiquierten Vorstellungen auf die Dauer nicht durchsetzen. Die meisten seiner Kabinettsmitglieder wünschten jetzt lediglich, Deutschland und die Sowjetunion möchten sich gegenseitig möglichst blutige Wunden schlagen, Ihr enges nationalistisches Denken erblickte in einer weitgehenden Schwächung der „beiden Feinde" ein Unterpfand für ein glücklicheres Polen. Deshalb billigten die Londoner Minister durchaus General Anders' Taktik, den Einsatz seiner Armee an der sowjetischen Front beharrlich zu hintertreiben. Ohne einen Schuss abgegeben zu haben, verließ die polnische Truppe schließlich im August 1942 mit 40 000 Familienangehörigen die UdSSR und zog über Persien in den Irak. Die Briten transportierten sie nach dem Mittelmeer weiter, wo sie sich fern der Heimat tapfer schlugen. Anders' Adjutant, Rittmeister Klimkowski, hat später das hohe Offizierskorps dieser Armee, besonders den General selbst, als antisemitisch, ränkesüchtig und korrupt geschildert. Der Führungsspitze ging es nur um die Wiedereinsetzung in ihre alten Vorrechte. Um hier ans Ziel zu gelangen, war ihr der Umweg über Nordafrika nicht zu weit. Im April 1943 fand die Wehrmacht bei dem weißrussischen Ort Katyn ein Massengrab polnischer Offiziere - in russischer Kriegsgefangenschaft vom sowjetischen Geheimdienst beim Rückzug der Roten Armee umgebracht. Ein Verbrechen der Stalin-Ära, das nun von Hitlers Propagandaminister Goebbels angeprangert wurde. Dies schürte den Hass der polnischen Westemigranten auf die Sowjetunion. Premier Sikorski aber wollte, zugunsten der Anti-Hitler-Koalition, durch einen Besuch in Moskau dem offenen Bruch mit der Roten Armee, die seit Stalingrad westwärts vordrang, entgegenwirken. Doch bei Gibraltar stürzte sein Flugzeug am 4. Juli mitsamt dem Stab ins Meer. Den militärischen Oberbefehl übernahm nun der Reaktionär Sosnkowski. Politischer Nachfolger Sikorskis wurde Mikolajczyk, Führer der Landwirtepartei, ein kleinbürgerlicher Gegner der Sowjetunion. Unterdessen jedoch zeichnete sich ein zweiter, ganz andersgearteter Weg des politischen Lebens in Polen ab. Ihn beschritt die polnische revolutionäre Linke. In jahrzehntelangen Klassenkämpfen vom Vorkriegsregime bespitzelt, verboten, als landesverräterisch diffamiert und mit terroristischen Methoden wiederholt zerschlagen, hatte sie sich sowohl in der Heimat als auch in der UdSSR-Emigration gesammelt. Ihre Bemühungen führten Ende 1941 zur Gründung der Polnischen Arbeiterpartei (PPR) und einer Nationalen Front, die Kommunisten, Linkssozialisten und den linken Flügel der Bauernbewegung umfasste. Sie trat unter dem Vorsitz der Schriftstellerin Wanda Wasilewsko in Saratow zusammen. Der Kern dieser fortschrittlichen Gruppe war die PPR. Sie sah in der Sowjetunion den natürlichen Bundesgenossen des polnischen Volkes, das sich die politische Macht erkämpfen musste. Eine Bodenreform und die Enteignung der Großindustriellen standen auf ihrem Programm. Sie billigte das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung Belorusslands und der Westukraine. Vor allem wollte sie mit ganzer Kraft zur Befreiung der eigenen Heimat beitragen. Hier vermochte sie einen Lebensnerv der faschistischen Kriegsmaschine zu treffen: Polen war zum wichtigsten Durchgangsland der Wehrmacht geworden. Deshalb baute die PPR unter enormen Schwierigkeiten jetzt eine eigene Untergrundbewegung auf - die Volksgarde (G. L.). Zwar durfte die Volksgarde von der schwer ringenden Sowjetunion nur einen Bruchteil der Materialunterstützung erwarten, die Großbritannien der Armija Krajowa zuteilwerden ließ. Sie konnte auch nicht mit den militärischen Ködern der alten Armee rechnen. Die ehemaligen Offiziere hatten sich, soweit sie Widerstandsarbeit leisteten, fast ausschließlich dem Kommando der Heimatarmee unterstellt. Die A. K. war weit besser ausgerüstet und wesentlich zahlreicher. Das Stärkeverhältnis zwischen dem Untergrundheer der Rechten und der Linken schätzte ein Gestapolagebericht noch zu einem viel späteren Zeitpunkt auf fünf zu eins. Aber es hemmten die Volksgarde nicht politisch-taktische Vorbehalte. Keine „Gewehr-bei-Fuß"-Losung minderte ihre Schlagkraft. In dem Bewusstsein, die sowjetische Front zu entlasten und damit die Naziherrschaft am wirksamsten abzukürzen, ging sie kompromisslos in den Kampf. Ihre Stoßtrupps begannen im Frühjahr 1942 groß angelegte Sabotage- und Störaktionen tief in der deutschen Etappe. Gelegentlich riss sie die Heimatarmee mit. Unter dem Druck der allgemeinen Stimmung sah sich das Londoner Kabinett bald genötigt, zum „beschränkten Kampf" aufzurufen. Ständig verbreitete die Volksgarde die Thesen der Nationalen Front und forderte alle polnischen Patrioten zur Zusammenarbeit auf. Um die Jahreswende 1942/43 wandte sich im Namen der Polnischen Arbeiterpartei Wladislaw Gomulka an die Heimatvertretung („Delegotur") der Londoner Regierung und schlug ihr Zusammenarbeit vor: Die Untergrundarmeen der Rechten und der Linken sollten den Befreiungskampf gemeinsam führen. Die Londoner jedoch lehnten das aus ihrer antisowjetischen Klasseneinstellung heraus ab. Sie scheuten sich keineswegs, den Kampf der Volksgarde als „kommunistische Wühlarbeit" zu verleumden. Ihre Weigerung führte die Heimatarmee letztlich - anderthalb Jahre später - in die Katastrophe. Die proletarischen Widerstandsgruppen standen dennoch nicht allein. Frei von nationalistischen und Rassevorurteilen, halfen ihre Formationen den jüdischen Gettokämpfern, nahmen deutsche Antifaschisten auf und fanden Anschluss an belorussische und ukrainische Partisanen, deren Operationen sich immer mehr auch auf polnisches Gebiet erstreckten. Es sei hier an den berühmten Streifzug der Kowpak-Partisanen erinnert, die 1943 aus den Wäldern von Brjansk bis Galizien vordrangen. Im folgenden Jahr stieß ein ähnlicher Verband, geführt vom sowjetischen Oberstleutnant Werschigora, von Lwow aus auf Warschau. Und schließlich suchte die Volksgarde auch Verbindung mit den heranrollenden Angriffsspitzen der Roten Armee, in deren Reihen polnische Divisionen vorrückten. Bald nach dem enttäuschenden Abzug der Anders-Truppe nämlich hatte die Sowjetregierung polnischen Patrioten geholfen, neue Streitkräfte zu formieren. Diese reguläre Armee war ostwärts Moskau und bei Sumy aufgestellt worden. Sie hatte im Sommer 1943 bei Lenino ihre Feuerprobe bestanden. Die polnische 1. Armee bestand aus Männern, die überzeugt waren, dass die Straße zur Freiheit nicht über Afrika und durch das Lager der Westmächte führte. Im November setzte sie im Verband der 1. Ukrainischen Front bei Kiew über den Dnepr und schlug die Winterschlacht auf dem rechten Ufer mit. Ein Vierteljahr später überschritt sie zwischen Korosten und Sarny die ehemalige Ostgrenze Polens und nahm - nun nur noch 350 Kilometer von Warschau entfernt - an den Aprilkämpfen um Kowel teil, Ohne Umweg zielte ihr Marsch auf die Heimat. Dort spielte sich noch immer ein oft verzweifeltes Ringen ab. Der ungleiche Kampf gegen die faschistische Besatzungsmacht forderte täglich blutige Opfer. Unter Vorsitz des späteren Staatspräsidenten Bierut (Deckname „Tomasz") trat am 1. Januar 1944 im SS-beherrschten Warschau furchtlos ein Landesnationalrat zusammen, dem Kommunisten, Sozialisten, die Linken der Bauernbewegung und parteilose Demokraten angehörten. Dieses Untergrundparlament einte der Wille, die nationale mit einer echten sozialen Befreiung zu verknüpfen. Es bildete die Volksgarde zur Volksarmee (A. L.) um. Die Armija Ludowa sollte zum Sammelbecken der bewaffneten Kräfte des Fortschritts werden. Gab es für Polen zwei Wege zur Freiheit? Konnte das Volk auch unter dem Banner der liberalen Bourgeoisie, die sich in London eine Regierungsspitze geschaffen hatte, in eine helle Zukunft ziehen? Die Besten der polnischen Arbeiter und Bauern, die klarsehenden bürgerlichen Patrioten wussten: niemals. Ihnen hatte Polens Vorkriegsgeschichte gezeigt, wie jene Schicht Bevorrechteter, die Industriekonzerne, Großgrundbesitz und Banken beherrschten, die nationale Wiedergeburt schon einmal zur Totgeburt gemacht hatten. Solange sie die Staatsgewalt noch nicht wieder in den Händen hielten, hatten sich die alten Herren höchst liberal gebärdet; später waren sie zum Totengräber der Freiheit geworden. Wer die Freiheit erringen und wahren wollte, musste diese Volksfeinde für immer von der Macht fernhalten. Der Plan "Gewitter" Inzwischen sind die Aufstandspläne der Heimatarmee weiter gediehen. Ihnen liegt bis zum Herbst 1943 die Idee einer allgemeinen Erhebung im ganzen Land zugrunde. Auch Zivilisten sollen mitkämpfen. Im passenden Moment soll der Sturm überall zugleich losbrechen: Zu einem Zeitpunkt, an dem die Macht der Deutschen von außen her ins Wanken gerät. Dann nämlich entscheidet sich - wie man in London glaubt - die Frage, wer die Regierungsgewalt in Polen übernimmt. Um keinen Preis die Kommunisten! Man hofft auf britische Truppen, die auf dem Luftwege oder von Jugoslawien her in den Endkampf eingreifen. Diese Hoffnung hängt mit Churchills Geheimplan zusammen, auf dem Balkan zu landen. Der britische Premier hegt jahrelang den fantastischen Gedanken, die zweite Front gegen den deutschen Faschismus nicht in Westeuropa, sondern im Südosten zu errichten. Er will mit einer angloamerikanischen „Flutwelle vom Mittelmeer her, entlang der historischen Achse Belgrad-Warschau" der siegreichen Sowjetarmee zuvorkommen, ihr den Weg nach Jugoslawien, Ungarn, Polen verlegen und die antiquierten Vorkriegsverhältnisse dieser Länder unter dem Schutz westalliierter Militärs wiederherstellen. Königstreue Parteien fördert er besonders, sie gelten als sicherster Schutz gegen den Kommunismus. Doch nur in Griechenland gelingt ihm die Wiederherstellung der Monarchie. In Erwartung britischer Waffenhilfe schafft die Heimatarmee ein straffes Mobilmachungssystem. Ihr Stab teilt das Land in Wehrbezirke ein. Der Wehrbezirk Warschau ist Schwerpunkt: Hier wird das Emigrantenkabinett einziehen und als Polens neue Regierung amtieren. Wer Warschau besitzt, ist im Vorteil! Mühsam werden die Standorte der deutschen Garnisonen, Ämter, Polizeiwachen, SS-Stützpunkte erkundet und mit Rotstift in einen Stadtplan vom Maßstab 1:25 000 eingezeichnet. Das Stadtgebiet gliedert man in acht Wehrbezirke, diese wiederum in mehrere Wehrbereiche. Mobilisiert werden soll durch Geheimkuriere in drei Alarmstufen. Die dritte Stufe, unmittelbar vor Aufstandsbeginn, verlangt das Sammeln der Sturmgruppen an den Bereitstellungspunkten. Da die Feuerkraft der Armija Krajowa kaum für einen Tagesangriff ausreicht, will man nachts losschlagen. In der Hauptstadt rechnet man mit hartem Widerstand. Hier ist der Feind sehr stark. Die Provinz soll im Handstreich genommen und Warschau gegen Entsatztruppen allseitig abgeschirmt werden. Man hofft, die Faschisten in Mittelpolen binnen vier Tagen zu überwältigen. Am 27. Oktober 1943 jedoch erfährt der A.K.-Befehlshaber Bór aus London, dass er mit britischer Unterstützung großen Stils, besonders Luftlandungen westalliierter Truppen, kaum mehr rechnen darf: Während der Moskauer Außenministerkonferenz hat Eden nicht einmal die USA für Churchills strategisch sinnlose Invasionsabsichten auf dem Balkan gewinnen können. Die Sowjetunion besteht auf der längst vereinbarten, von den Westmächten immer wieder hinausgezögerten Landung in Frankreich, Nun ist klar, die Rote Armee wird Polen befreien. Bór weiß, das kann nicht schlagartig, sondern nur schrittweise geschehen, gegen den zähen Widerstand der faschistischen Wehrmacht. Ihre Rückzugsschlachten hat er studiert. Wenn es so weit ist, wird ein millionenstarkes Feindheer im Lande stehen. Er gibt den Gedanken einer großen Erhebung auf. Seine Operationsabteilung entwirft statt dessen unter der Tarnbezeichnung „Burza" (Gewitter) einen ganz andersartigen Plan. "Gewitter", an dem sich nur bewaffnete Kämpfer beteiligen sollen, sieht kleine Einzelaufstände vor. Bór will sie zu verschiedenen Zeitpunkten, entsprechend der Frontbewegung, im Rücken der Deutschen befehlen: Stets dicht hinter deren Linien und kurz bevor die Rote Armee die Aufstandspunkte erreicht. Militärisch ist dieser Plan richtig. Er entspricht weit besser als der erste den beschränkten Kräften der A.K.; und ersetzt nicht mobilisierte Zivilistenmassen, die man weder bewaffnen noch überall sinnvoll verwenden kann, einem faschistischen Gemetzel aus. Erfolgreich durchführbar ist er nur im Zusammenwirken mit den sowjetischen Truppen, genau wie der ursprüngliche Plan engstes Zusammenwirken mit den Briten erfordert hätte. Es müssten jetzt Kuriere getauscht, Aktionen abgestimmt werden; kaum einer im Stabe der Heimatarmee, der das nicht begreift. Hier aber zerschellt die militärische Einsicht Bórs an ideologischen Schranken. Er und seine Londoner Vorgesetzten wollen das Vaterland nicht gemeinsam mit der Roten Armee, sondern nur unter deren beiläufiger, anonymer Mitwirkung befreien - die sie geschickt zu nutzen gedenken. Bewusst täuschen sie sich über die entscheidende Rolle der Roten Armee, ignorieren, dass diese die Hauptlast des Kampfes trägt. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die sowjetischen Truppen zwar ohne sie imstande sind, die Faschisten zu vertreiben, nicht aber sie ohne die Sowjettruppen. Diese Tatsache hoffen sie aus dem Gedächtnis der Nation zu löschen. Die Welt soll meinen, das bürgerliche Polen habe, bei geringem Anstoß von außen, die Fesseln selbst gesprengt. Weder die polnischen Generale noch ihre britischen Schirmherren verständigen die Sowjetunion. Denn im tiefsten Herzen wünschen sie Polen nicht mit ihr, sondern gegen sie zu befreien. Wie jedoch soll das vonstatten gehen? Scheitern oder Gelingen der „Gewitter"-Aktionen hängt nun überall vom Vormarsch der Roten Armee ab, deren Pläne die Heimatarmee so wenig kennt wie der sowjetische Hauptstab das polnische Aufstandsvorhaben. In völliger Unkenntnis der sowjetischen Operationsziele wollen Bór und seine Offiziere örtliche Erhebungen auslösen. Was man da beabsichtigt, wird in gewohnter Weise der Volksarmee verschwiegen, auch keiner anderen Widerstandsgruppe mitgeteilt. Die SS jedoch erfährt davon und trifft ihre Vorkehrungen, soweit das die allmählich schwindenden deutschen Kräfte zulassen. Die große Flut Im Frühsommer 1944 war das faschistische Heer erschöpft, aber noch zu Gegenschlägen fähig. Es zählte viereinhalb Millionen Mann Feldtruppen, verstärkt durch 500 000 SS-Leute, Luftwaffen-Felddivisionen und verbündete Armeen. Daheim lagen 900 000 Krüppel, Kranke und Schwerverletzte in den Lazaretten. Anderthalb Millionen Tote hatte der imperialistische Raubkrieg dem deutschen Volk bis dahin abgefordert - eine Zahl, die sich bis zum Kriegsende noch fast verdoppeln sollte. Eine Million Gefangene saß hinter fremdem Stacheldraht. Im anglo-amerikanischen Bombenhagel waren 300 000 Großstädter verbrannt oder erstickt, fünf Millionen obdachlos geworden. Die Faschisten aber gaben nicht auf. Ihre Kriegsmaschine knirschte, es fehlte an Treibstoff und Munition, doch sie lief noch. Jeden dritten männlichen Deutschen, gleich welchen Alters, hatten die Militärbehörden in Uniform gezwungen und eben wieder eine halbe Million Rekruten ausgehoben. 400 000 weitere standen, hastig gedrillt, zur Absendung an die Front bereit. 100 000 Mann Sanitätspersonal machten die Zusammengeschossenen von Neuem „kriegsverwendungsfähig". Der Hauptstrom frischen Kanonenfutters floss nach dem Osten. In der Roten Armee sahen die Nazigeneräle ihren weitaus gefährlichsten Feind. Bis zum Juni 1944 hatte die Wehrmacht 85 Prozent ihrer Gesamtverluste in der Sowjetunion erlitten. Das änderte sich auch nach der Normandielandung nicht wesentlich. Am Tage des Attentats auf Hitler standen rund fünfzig faschistische Divisionen in Frankreich, zwanzig in Italien, im Osten jedoch zweihundertdreißig. Da griff am 23. Juni die Sowjetarmee im Mittelabschnitt mit geballter Wucht an. Anderthalb Millionen Rotarmisten und 4 000 Panzer warfen sich auf die deutschen Linien. Ein 350 Kilometer langer Frontbogen zerbrach im Nu. Drei Jahre hindurch hatte die Sowjetarmee unter schweren Opfern allein der Wehrmacht widerstanden, ihr zuletzt immer mächtigere Schläge versetzt mäßig unterstützt von den Westmächten, die ihr nur fünf Prozent des benötigten Kriegsmaterials liefern konnten. Nun durchstieß sie binnen vier Wochen das Hinterland der faschistischen Heeresgruppe Mitte, schloss eine 100 000 Mann starke faschistische Gruppierung ostwärts Minsk ein, vernichtete innerhalb weniger Tage 30 Divisionen und drang 450 Kilometer nach Westen vor. Hochsommerglut lastete über Belorussland. In brodelnder Hitze fluteten die Trümmer der vier deutschen Armeen zurück. Grauer Staub sprühte auf, legte sich auf die Kehlen, bedeckte das versengte Gras, über dem Schilf der Sümpfe spielten Mücken, und es roch nach Waldbränden. „Verrat!", raunten die irregeführten deutschen Soldaten einander zu. .Die Generale haben uns verraten!" Von sowjetischen Panzerkeilen abgeschnitten, ergaben sie sich nach oft wochenlangem Umherirren; oder sie starben einen qualvollen, einsamen, nutzlosen Tod. Das Ausmaß der Niederlage übertraf die Katastrophe von Stalingrad. Ein Gebiet vom Umfang der britischen Insel war der Wehrmacht entrissen worden. Und während diese mächtige Welle ausrollte, 200 Kilometer nordostwärts Warschau gegen hastig herangeführte faschistische Reserven brandete, brach südlich des Sumpfgebietes Polessje ein neuer Angriff los. Von der Ukraine her überschritten Panzerverbände am 20. Juli den Bug. Sie wandten sich nach Norden und bohrten sich in die offene Flanke des Heeresgruppenrests, der eben erst zum Stehen kam. Jede Gegenwehr zwischen Brest und Lublin schwemmten sie hinweg. Ihre Spitzen erreichten vier Tage später die Weichsel, zwei Autostunden südostwärts der polnischen Hauptstadt. Mit verbundenen Augen In der deutschen Etappe bricht Panik aus. Durch Warschau irren Wehrmachtseinheiten, geschlagen und zersprengt. Von Mund zu Mund springt die Parole „rückwärts sammeln!" Flüchtende „Volksdeutsche" verstopfen die Straßen nach Posen und Lodz. Fabrikeinrichtungen werden überstürzt verladen, Besatzerfamilien evakuiert. Der Distriktchef, Nazigouverneur Dr. Fischer, entweicht unter dem Vorwand einer Dienstreise nach Berlin. Der SD-Kommandeur des am meisten bedrohten Distrikts, Radom, befiehlt am 19. Juli, dass „in allen Fällen, in denen Attentate auf Deutsche erfolgt sind oder Saboteure lebenswichtige Einrichtungen zerstörten, nicht nur die gefassten Täter erschossen werden, sondern darüber hinaus sämtliche Männer der Sippe gleichfalls zu exekutieren und die dazugehörigen weiblichen Angehörigen über 16 Jahre in das KZ einzuweisen sind." Zwei Tage darauf verfügt er: „Soweit es die Frontlage erforderlich macht, sind rechtzeitig Vorkehrungen für eine Totalräumung der Gefängnisse zu treffen. Bei überraschender Entwicklung der Lage, die einen Abtransport der Häftlinge unmöglich macht, sind die Gefängnisinsassen zu liquidieren, wobei die Erschossenen nach Möglichkeit beseitigt werden müssen. (Verbrennen, Sprengung der Gebäude u. ä.) Unter allen Umständen muss vermieden werden, dass Gefängnisinsassen vom Gegner, sei es Widerstandsbewegung oder Rote Armee, befreit werden bzw. ihnen lebend in die Hände fallen." General Bór alarmiert die Heimatarmee des Wehrbezirks Warschau, zögert aber, den Aufstandsbefehl zu geben. Seine Streitmacht ist geschwächt. Im März hat er Warschau aus dem „Gewitter"-Plan herausgenommen, damit die Hauptstadt nicht zerstört werde. Er hat 4 000 der bestausgerüsteten Untergrundkämpfer, auch Waffentransporte, in die östlichen Wehrbezirke geschickt, wo die ersten Erhebungen stattgefunden haben: Die Rote Armee sollte auf polnischem Boden sofort Truppen der Londoner Regierung vorfinden und respektieren müssen. Doch sie hat Städte wie Lwow und Lublin in schnellem Zugriff genommen. Die Heimatarmee ist nicht recht zum Zuge gekommen. Das soll sie nun. Bórs Stob wägt die Kräfte ab. 11 000 deutsche Soldaten liegen mitten in Warschau, 5 700 SS-Leute und Polizisten, weiter 3 500 Mann Bahn- und Werkschutz: Zusammen zwanzigtausend schwerbewaffnete, gut verschanzte Faschisten, nicht gerechnet die weit überlegenen Feindkräfte außerhalb der Stadt. Ihnen stehen knapp vierzigtausend Mitglieder der Heimatarmee gegenüber. Dazu die Kämpfer der Volksarmee und der kleineren Widerstandsgruppen, etwa sechstausend Mann, von denen Bór weiß, sie werden in den Aufstand hineingerissen werden, ob sie das Unternehmen billigen oder nicht. Jetzt losschlagen? Die Frontsituation ist unklar, von ihr hängt alles ab. Sind die Städte im Osten zu schnell gestürmt worden, als dass man sichtbar hätte eingreifen können, so kann sich umgekehrt die Eroberung Warschaus verzögern. Was, wenn der sowjetische Angriff 50 Kilometer vor der Stadt steckenbleibt? Die eigene Munition reicht nur für vier bis fünf Kampftage. Bór schwankt. Am 25. Juli funkt er nach London: »Wir sind bereit zum Kampf um Warschau. Die Landung einer Fallschirmbrigade würde große politische Bedeutung haben ..." Und ein paar Stunden später: „Beim jetzigen Stand der deutschen Streitkräfte in Polen und angesichts ihrer Vorbereitungen auf einen Aufstand - Ausbau eines jeden von deutschen Truppen besetzten Gebäudes und sogar eines jeden von deutschen Ämtern belegten Hauses zur Festung mit Bunkern und Stacheldrahtverhauen - hat ein Aufstand keine Aussicht auf Erfolg." Dieser militärischen Erkenntnis steht der allgemeine Kampfwille entgegen, ferner das politische Ziel. Die Londoner Emigrantenkreise drängen zum Handeln, nachdem sie erfahren haben, dass am 22. Juli in Chelm auf befreitem polnischem Boden der Landesnationalrat, das Vorläufige Parlament des Volkes, das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung als legale provisorische Regierung berufen hat. Sie zieht wenige Tage später in das befreite Lublin ein. Die Westemigranten sind aufs Höchste beunruhigt. Katowicer Grubenbesitzer, Textilmillionäre aus Lodz, der begüterte Adel - sie alle bangen um ihre alten Rechte. Ihnen soll die Heimatarmee nun endlich ein Alibi verschaffen, das sie am Ende des Krieges berechtigt, mitzureden und ihre Ansprüche durchzusetzen. Die große patriotische Woge gedenken sie für ihre Klasseninteressen zu nutzen. So stark ist ihr Einfluss auf die Exilregierung, dass diese Ende Juli ihren Chef Mikolajczyk nach Moskau schickt, um die Anerkennung ihrer Macht- und Gebietsinteressen zu ertrotzen. Nun überstürzen sich die Ereignisse. Der Aufstand ist beschlossene Sache, seine Auslösung nur noch eine Frage der Zeit. Den A.K.-Offizieren, die sich um das Schicksal der Hauptstadt und ihrer Millionenbevölkerung sorgen, wird versichert, man könne Warschau nicht vor der Zerstörung bewahren, indem man zögere: „Die Deutschen nutzen an Flüssen gelegene Städte aus, um Widerstandspunkte zu schaffen, die lange und verbissen verteidigt werden." Auch scheint ein faschistischer Befehl vom 27. Juli, der 100 000 Warschauer zum Stellungsbau auffordert, eine Zwangsevakuierung einzuleiten, die das Gefüge der Heimatarmee bedroht. Am selben Tag werden im A.K.-Stab noch einmal Warnungen laut. Deutsche Panzerkolonnen rollen ostwärts durch die Stadt, offenbar verstärken frische Kräfte die Front. Verantwortungsbewusste Offiziere erinnern an die fehlenden Kontakte zur Roten Armee. Sie raten, mit dem Aufstand zu warten, bis die Weichselbrücken angegriffen werden. Doch die Sorge, sowjetische Truppen könnten noch vor Beginn der Erhebung in Warschau einrücken, ist stärker. Oberst Monter, örtlicher (Wehrbezirks-)Befehlshaber der Heimatarmee, verfügt eigenmächtig das Sammeln der Sturmgruppen. Es dauert viele Stunden, bis eine solche Weisung durch die konspirativen Kanäle bis hinab zu den Einheiten dringt. General Bór erteilt am 28. Juli Gegenbefehl. Er hat sich noch immer nicht entschlossen. Aber nun beginnt er zu fürchten, das Oberkommando der Volksarmee könne ihm mit dem Aufstandssignal zuvorkommen. Ein Aufruf des Moskauer Kosciuszko-Senders, der freilich ganz allgemein die Befreiung Polens ankündigt und zur Verteidigungsbereitschaft auffordert, bestärkt ihn in diesem Verdacht. Tags darauf entscheidet er, grundsätzlich um fünf Uhr nachmittags loszuschlagen. Im starken Berufsverkehr ist der Aufmarsch leicht zu tarnen. Dass ein Kampfbeginn um diese Stunde die meisten Familien auseinanderreißt, kümmert ihn nicht. Es ist sogar wünschenswert: Die abgeschnittenen Männer werden, wenn auch waffenlos, seine Streitmacht stärken. Damit kehrt die Heimatarmee im letzten Augenblick zum alten Plan einer Massenerhebung zurück; jedoch unter veränderten, fast selbstmörderischen Bedingungen. Was jetzt folgt, ist eine hektische Improvisation. Mit dem Näherrücken der Front schwillt die deutsche Garnison in Warschau auf annähernd 36 000 Mann an. Im östlichen Vorfeld operieren vier frisch herangeführte Panzerdivisionen (die 19., „Totenkopf", „Wiking", „Hermann Göring") und die 73. Infanteriedivision. Sie fangen einen sowjetischen Stoß auf, der Gefechtslärm dringt bis in die Stadt. In dieser Lage überbringt Monter die irrige Meldung, sowjetische Panzer rollten in die östliche Vorstadt Praga ein. Er beschwört den Stab, den Kampf zu eröffnen: „Sonst ist es zu spät." Bór holt die Zustimmung der Londoner Regierungsvertreter ein. Die wirkliche Frontsituation zu erkunden ist keiner imstande. Er setzt alles auf eine Karte. Am 31. Juli gegen 18 Uhr gibt er Monter die mündliche Weisung: „Morgen, Punkt 17 Uhr, eröffnen Sie das Unternehmen 'Gewitter' in Warschau ..." Mit verbundenen Augen hat der General einen tragischen Entschluss gefasst. Warschaus Stunde Der gewiss nicht sowjetfreundliche Nazigeneral v. Tippelskirch schreibt fünf Jahre später in seiner „Geschichte des Zweiten Weltkriegs": „Als sich Rokossowskis Armeen Ende Juli anscheinend unaufhaltsam der polnischen Hauptstadt näherten, hielt die polnische Untergrundbewegung die Stunde der Erhebung für gekommen. Auch an einer Aufmunterung von englischer Seite hat es wohl nicht gefehlt. Gehörte es doch zu den schon vorher in Rom und bald darauf in Paris von den Engländern angewandten Gepflogenheiten, die Bevölkerung der Hauptstädte, deren Befreiung bevorzustehen schien, zur Erhebung aufzurufen. Der Aufstand brach am 1. August aus, als die Kraft des russischen Vorstoßes bereits gebrochen war und die Russen den Versuch, die Hauptstadt im Handstreich zu nehmen, einstellten. So blieben die polnischen Aufrührer sich selbst überlassen. Sie hatten zunächst überraschend große Erfolge." Eine so kurzfristige Mobilisierung, wie sie Bór befohlen hatte, konnte in der feindbesetzten Stadt nicht restlos gelingen. An drei Punkten - auch im nördlichen Wola, nahe dem A.K.-Hauptquartier - entwickelten sich vorzeitig Gefechte; anderwärts griff man verspätet an. Das Aufstandssignal war kurz vor der Sperrstunde ergangen, daher erst am folgenden Tage zu den meisten Einheiten gelangt, die knapp zwei Drittel ihrer verstreut wohnenden oder arbeitenden Mitglieder rechtzeitig hatten verständigen und sammeln können. Nur dank hoher Kampfdisziplin glückte der Aufmarsch im Ganzen. „Punkt fünf Uhr nachmittags blitzten, als sie aufgerissen wurden, Tausende von Fenstern", schrieb Bór später in seinen Memoiren. „Von allen Seiten ging ein Kugelhagel auf die vorübergehenden Deutschen nieder, zerfetzte ihre marschierenden Kolonnen und prallte gegen die von ihnen besetzten Baulichkeiten. Die Zivilisten verschwanden im Nu von den Straßen, während die sich zum Angriff sammelnden Männer aus den Häusern strömten. Binnen fünfzehn Minuten war die ganze Stadt mit ihrer Million Einwohner zum Kampfplatz geworden. Jeder Verkehr hörte auf. Der große Knotenpunkt Warschau hinter der deutschen Front mit seinen aus Nord, Süd, Ost und West zusammenlaufenden Straßen bestand nicht mehr." Nach dem ersten Feuerschlag begann der Sturm auf die faschistischen Stützpunkte. In unbeschreiblichem Schwung warfen sich Stoßtrupps gegen Stacheldrahtverhaue, verbluteten vor Bunkern, drangen schließlich in die Gebäude ein. Jeder Winkel, jedes Zimmer musste Schuss um Schuss, Mann gegen Mann den Besatzungen entrissen werden. Die Deutschen wussten, dies war die Stunde der Vergeltung, Sie verteidigten Stockwerk für Stockwerk, kämpften ums nackte Leben, und sie hatten die besseren Waffen, Zu diesem Zeitpunkt besaßen die Aufständischen nicht mehr als tausend Karabiner, 500 Maschinenpistolen, sieben schwere und sechzig leichte MG, zwanzig Panzerbüchsen, 3 700 Pistolen, einige Hundert selbstgefertigte Handgranaten und fünfzehn Granatwerfer mit 25 000 Schuss. In letzter Minute hatte der Feind mehrere Waffenlager aufgespürt, den polnischen Kämpfern mangelte es an vielem. Ihr Mut aber und der Wille, die verhassten Faschisten nach fünf Leidensjahren in einem einzigen Augenblick hinwegzufegen, gaben dem Angriff vernichtende Wucht. Bis zum Abend hatten die Deutschen 7 000 Mann verloren. Sie verteidigten noch mit schwerer Flak die Weichselbrücken, behaupteten die Bahnhöfe, wehrten sich am Dreikreuzplatz und im Pawiakgefängnis, hielten - gedeckt von 18 Panzerwagen - die Regierungspaläste am Sächsischen Garten, ferner die Universität, die alte Zitadelle, das Polizeiviertel rund um die Schuch-Allee und einige weitere, zu Festungen ausgebaute Häuser. Auch der Vorort Ochota, wo starke faschistische Alarmeinheiten lagen, die Flugplätze Bielany im Norden, Okecie im Süden und das rechte Weichselufer waren in ihrer Hand. Die Aufständischen jedoch beherrschten 80 Prozent des Stadtgebiets, und sie sicherten das Errungene nun durch ein tief gestaffeltes System mächtiger Barrikaden. Dahinter erwachte Warschau zu neuem Leben. Ein ungeheurer Druck wich von den Menschen, sie wähnten den Sieg nahe. In den ersten Stunden der heiß ersehnten Freiheit rissen sie Hitlerbilder von den Wänden und schleuderten alles, was an die faschistische Unterdrückung erinnerte, zerfetzt auf die Straßen. Naziakten und deutsch bedruckte Zettel bedeckten wochenlang das Pflaster. Aus den Radios schallten die Stimmen der ehemals verbotenen alliierten Sender. Vom Prudentialgebäude, einem Hochhaus im Zentrum, wehte die weiß-rote Flagge. Als die Nacht kam, brannte in den befreiten Vierteln Licht. In stundenlangem Nahkampf hatten die Aufständischen das Elektrizitätswerk nahe dem Weichselufer erobert; es gab keine Stromabschaltungen mehr. Man war voller Hoffnung, tausend Hände regten sich, schufen Truppenquartiere und Lazarette. Beutewaffen und deutsche Uniformen wurden an die Kämpfer verteilt. Keime einer Zivilverwaltung bildeten sich, mit eigener Post, Hilfsdiensten, Gendarmerie, Gerichtsbarkeit und Munitionsherstellung. In den erstürmten Druckereien bereiteten Dutzende von Zeitungen ihr Erscheinen vor. Alle politischen Richtungen waren zugelassen - ein Beispiel für die liberale Duldsamkeit, die die Bourgeoisie dort walten lässt, wo sie auf den Schwung der Massen angewiesen ist. Am nächsten Morgen vereitelten die Aufständischen planlose Ausbruchsversuche der Faschisten und erbeuteten zwei schwere Panzer. Trotz aller Verluste waren sie in diesem und während der folgenden Tage schlagkräftiger als zuvor. Die übrigen Widerstandsgruppen hatten die Heimatarmee verstärkt: Oft stießen sie spontan hinzu, da ein Teil ihrer Stäbe außerhalb der Stadt vom Aufstand überrascht worden war. „Die bewaffnete Aktion wird, unabhängig davon, von wem und zu welchem Zweck sie begonnen wurde, von Warschaus Bevölkerung unterstützt", schrieb „Armija Ludowa", die Zeitung der Volksarmee. „An allen Abschnitten ist gemeinsames Handeln vereinbart." Freiwillige baten um Waffen, doch die waren knapp. Man wartete auf die versprochene britische Luftunterstützung und auf die - nicht verständigte Rote Armee. Nun, da Bór vier Fünftel der Hauptstadt in den Händen hielt, wünschte er Sowjettruppen herbei. Sie konnten ihm den Ruhm des Befreiers nicht mehr streitig machen, und er brauchte ihre Hilfe, ehe die Faschisten zum Gegenschlag ausholten. Im Osten rumorte die Front ... Mit Bór bangte ganz Warschau, bangten die Menschen, die nichts vom Vabanquespiel der Londoner ahnten, Sie horchten hinüber zum anderen Weichselufer, spähten in den Himmel. Aber erst in der Nacht des 4. August warfen zwei britische Flugzeuge Versorgungsgut ab. Und fast zur selben Stunde verstummte im Osten die Artillerie. Was ist geschehen? Warum schweigen die sowjetischen Geschütze? Antikommunisten verbreiten das Gerücht, die Rote Armee lasse Warschau vorsätzlich im Stich. Bis auf den heutigen Tag erhebt die Propaganda des Westens dreist diese Behauptung, allen militärischen Tatsachen zum Trotz. Die Zwickmühle Schon als der Aufstand ausbrach, war die Front im Raum Warschau zum Stehen gekommen. Ende Juli war die 1. Belorussische Front Rokossowskis vor der mittleren Weichsel nach Norden geschwenkt. Der sowjetische Marschall wollte die geschlagene Heeresgruppe Mitte in der Flanke fassen. Deren neuer Chef, Model, verstand sich jedoch darauf, ermattete Truppen von Neuem in die Schlacht zu werfen. Seine Feldgendarmen hetzten jeden, der noch ein Gewehr halten konnte, wieder nach vorn. Auch trafen südostwärts Warschau starke Reserven ein. Am 27. Juli stieß Rokossowskis Westflügel bei Garwolin und Siedlce auf frische deutsche Kräfte. Von Bialystok war das IV. SS-Panzerkorps herangebracht worden, die 19. Panzerdivision aus Holland, die FallschirmPanzerdivision „Hermann Göring" aus Italien. Deutsche Schlachtflieger griffen am folgenden Tag 560-mal in den Erdkampf ein. Dennoch brach der sowjetische Stoßkeil durch und schob sich bis zum 31. Juli siebzig Kilometer vor, an Warschau vorbei auf Radzymin. Dabei aber wurde er von der 9. Armee und der zurückbrechenden 2. Armee in die Zange genommen, seine Spitze am 2. August abgekniffen. Es gelang nicht mehr, das weit vorgepreschte III. Panzerkorps aus der faschistischen Umklammerung zu befreien. Die sowjetischen Truppen waren vom langen Vormarsch erschöpft, ihre Nachschublinien überdehnt, Treibstoff und Munition aufgebraucht. Das eingeschlossene Korps wehrte sich bis zuletzt. Alle Entsatzangriffe scheiterten. Im Kessel nordostwärts Warschau schwiegen am 5. August die Waffen. Die sowjetischen Geschütze feuerten nicht mehr, weil ihre Kanoniere zerfetzt oder in den Panzern verbrannt waren. Rokossowski konnte den eigenen Männern nicht helfen, die diesseits der Weichsel zugrunde gingen. An eine Flussüberquerung, an einen Stoß auf Warschau war noch viel weniger zu denken. Der Londoner Rundfunk jedoch meldete in jenen Tagen, Rokossowski sei dabei, Warschau einzukreisen. „Der Gürtel verengt sich", behauptete die BBC in einer ihrer polnischsprachigen Nachrichtensendungen. „Der Angriff wird von drei Seiten vorgetragen ... Warschau langsam umzingelt." Durch Falschmeldungen führte Radio London die Aufständischen irre, versprach den Polen Unterstützung und appellierte im Übrigen an das „Gewissen der Welt". Obwohl örtlich geschwächt, griff die Rote Armee den vierzig Kilometer tiefen deutschen Brückenkopf ostwärts Warschau weiterhin an. Sie engte ihn allmählich ein. Es dauerte aber mehrere Wochen, ehe sie - über zunächst zerstörte Transportwege - genügend Nachschub heranbringen und erneut das Übergewicht erlangen konnte. In dieser Zeit bedrängten westalliierte Ministerpräsidenten die Sowjetregierung mit Hilfsgesuchen. Besonders Churchill und der nach Moskau geeilte polnische Emigrantenchef Mikolajczyk erhoben hartnäckige Forderungen. In seiner Botschaft vom 16. August sicherte Stalin dem britischen Premier Waffenabwürfe zu, lehnte aber die Verantwortung für den Aufstand mit folgenden Worten ab: .... bin ich, nachdem ich mich gründlicher über die Warschauer Affäre informiert habe, zur Überzeugung gelangt, dass die dortige Aktion ein tollkühnes, furchtbares Abenteuer darstellt, das der Bevölkerung schwere Opfer auferlegt. Das hätte nicht sein müssen, wäre das Sowjetkommando vor Beginn der Warschauer Aktion informiert worden und hätten die Polen die Fühlung mit ihm aufrechterhalten." Im Zusammenhang mit der Niederlage bei Radzymin stellte der Aufstand die sowjetische Führung vor schwierige Entscheidungen. „Vom militärischen Standpunkt aus", telegrafierte Stalin sechs Tage später an Roosevelt und Churchill, „ist die entstandene Situation, die die Aufmerksamkeit der Deutschen in zunehmendem Maße auf Warschau lenkte, für die Rote Armee ebenso ungünstig wie für die Polen. Die Sowjettruppen, die kürzlich auf neue und beachtenswerte Anstrengungen der Deutschen gestoßen sind ..., zur Gegenoffensive überzugehen, tun ihr Möglichstes, ... im Raum Warschau einen neuen groß angelegten Angriff auszulösen. Es besteht kein Zweifel darüber, dass es die Rote Armee nicht an Anstrengungen fehlen lässt, die Deutschen rund um Warschau niederzuringen und Warschau für die Polen zu befreien." Was die sowjetische Führung zum gegebenen Zeitpunkt in dieser Sache auch tat, es musste ihr schaden. Ein Frontalangriff auf Warschau von Osten her hätte die im Vorfeld der Stadt konzentrierten faschistischen Kräfte niederkämpfen müssen, die gut vorbereitete Stellungen verteidigten. Ein solches Unternehmen hatte in diesen Augusttagen keine Aussicht auf Erfolg, weil die Frontlage Vorbereitungen, die zu diesem Schlag unbedingt notwendig waren, nicht zuließ. Improvisierte die sowjetische Führung in der unmittelbaren Nähe Warschaus eine Weichselüberquerung, riskierte sie auf dem Westufer eine zweite Niederlage. Ließ sie sich aber auf ein so unverantwortliches Wagnis nicht ein, hatte sie mit politischen Verleumdungen zu rechnen. Die britische liberale „News Chronicle" umschrieb diesen Sachverhalt Mitte August so: Die polnische Exilregierung habe aus Prestigegründen den Aufstandsbefehl zu früh gegeben und damit „politisch und militärisch Moskau aufs Eis geführt". Im Allgemeinen indes vermied es die Westpresse, nach den Schuldigen zu forschen. Neutrale Zeitungen urteilten meist wie das St. Gallener Tageblatt: „Das einzig Sichere in der düsteren Warschauer Episode ist, dass hier wieder einige Tausend Menschenleben um Prestigeansprüche verspielt werden ..." Der britische Premier selbst war es, der als einer der Ersten dem allgemeinen Unbehagen eine für sein Kabinett vorteilhafte Richtung gab. Er hatte die Möglichkeit, aus der von ihm mitverschuldeten Tragödie politisches Kapital zu schlagen, längst erkannt, als er am 23. August seinen Informationsminister telegrafisch fragte: „Steht die Veröffentlichung der Tatsachen über das Martyrium Warschaus unter Zensur, dass die Zeitungen Nachrichten darüber praktisch unterdrücken? Es ist nicht unsere Sache, der Sowjetregierung Vorwürfe zu machen; aber sollte es nicht gestattet sein, die Tatsachen für sich selbst sprechen zu lassen?" Das war eine geschickte Regieanweisung zum behutsamen Umlenken der öffentlichen Meinung. Presse und Funk sollten den Bundesgenossen, der die Hauptlast des Kampfes trug, indirekt verdächtigen und eine antisowjetische Stimmung schaffen, indem sie ihrem Publikum die Leiden Warschaus ausmalten. Später übten reaktionäre Kreise des Westens nicht mehr die von Churchill damals noch empfohlene Zurückhaltung. Sie verdrehten den Sachverhalt gründlich. Von Anfang an hatten sie damit gerechnet, in jedem Falle etwas zu gewinnen: Wenn Bór sich hielt, sollte die von ihnen geförderte Exilregierung in Warschau landen; ging er jedoch unter, konnte man die Sowjetunion des Verrats bezichtigen. Man hoffte, mit dieser Geschichtsfälschung den polnischen Kommunisten erheblich zu schaden. Mordbrigade Dirlewanger Das kämpfende Warschau weiß nichts von solchen Spekulationen. Hier geht es um Sein oder Nichtsein einer Millionenstadt. An ihrem Westrand sind inzwischen fünf regimentsstarke faschistische Kampfgruppen zur Rückeroberung angetreten, die sich aus Posener Polizeiformationen, rückwärtigen Verbänden der 9. Armee, sogenannten Kosaken, der ukrainischen SS-Brigade „Rona" und deutschen Kriminellen zusammensetzen. Sie werden kommandiert von General Rohr, dem Infanterieoberst Schmidt, dem SS-Brigadeführer Dr. Dirlewanger und dem russischen Faschisten und Kollaborateur Kaminski, einem Konkurrenten des Verräters Wlassow. Die Gesamtführung der SS-Kräfte hat Polizeigeneral Heinz Reinefarth, Höherer SS- und Polizeichef des Distrikts Posen. Dirlewangers Horden - zur Partisanenbekämpfung ausgewählte SSSträflinge und Zuchthäusler - dringen am 5. August plündernd in Wola ein, treiben Zivilisten als lebende Deckung vor ihren Panzern her und ermorden im Handumdrehen vierzigtausend Warschauer Bürger. Ein „Führerbefehl" ermächtigt sie dazu. Sofort nach Aufstandsbeginn hat Hitler verfügt, keine Gefangenen zu machen. Er hat Himmler zur Mobilisierung aller verfügbaren SS-Kräfte nach Posen geschickt und den als „Verteidiger Wilnas" erprobten Luftwaffengeneral Stahel zum Kampfkommandanten von Warschau bestimmt. Stahel aber ist - wie Warschaus Polizeichef, General Geibel -, in seiner Kaserne an der Schuch-Allee, zusammen mit dem aus Berlin zurückbefohlenen Gouverneur Dr. Fischer, im Regierungsviertel eingeschlossen worden. Er kann von dort aus den Gegenschlag nicht lenken; ein halbes Dutzend faschistischer Kommandeure wütet zunächst auf eigene Faust, Der Brutalste von allen ist Dr. Oskar Dirlewanger, ein Sadist, der dem eben erst zum SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei beförderten Heinz Reinefarth persönlich untersteht. Die ganze Ostfront munkelt über seine Untaten in Polen und Belorussland, jeder seiner Vorgesetzten kennt Dirlewangers sensationelles Strafregister. Auch die Wehrmachtsgeneralität weiß, dass er 1933 als Leiter eines Rollkommandos im Ruhrgebiet Antifaschisten folterte, dass er bald darauf, nach Vergewaltigung mehrerer minderjähriger Mädchen, sogar aus der SS ausgestoßen wurde und zwei Jahre Zuchthaus absaß, dann aber nach Franco-Spanien gehen durfte, um sich in der Legion Condor zu „bewähren"; und dass er um die Jahreswende 1941/42 „zur weiteren Rehabilitierung wegen begangener Verfehlungen" von Himmler damit beauftragt wurde, aus Sträflingen ein „Sonderkommando zur Bandenbekämpfung" zu bilden. Für dieses Sonderkommando gibt es in der gewiss nicht fleckenlosen deutschen Militärgeschichte kein Vorbild. Es besteht anfangs aus einem Bataillon von „Wilddieben", wie die Generalität den ihr peinlichen Tatbestand, rechtskräftig Verurteilte zu Waffengefährten zu haben, lange Zeit umschreibt. Durch straffällig gewordene SS-Leute, kriminelle Häftlinge, Diebe, Plünderer, Sexualverbrecher, Totschläger und Raubmörder immer wieder aufgefüllt, schwillt es zur „.Sturmbrigade" an und trägt schließlich die Bezeichnung „36. SS-Grenadierdivision". Die Wehrmachtsführung fordert von diesem Abschaum nichts als Draufgängertum, als Gegenleistung hat sie ihren Banditen erlaubt, während der Partisaneneinsätze beliebig zu »morden, rauben, brennen und schänden" - so drückt sich Göring selbst im September 1942 aus. Und das gilt jetzt für Warschau. Dabei hat Dirlewanger seine Strolche fest im Griff. Für leichte Vergehen verhängt er 25 bis 50 Stockhiebe, für schwerere 75 bis 100; ab 50 muss der Delinquent ins Lazarett geschafft werden. Als schweres Vergehen gilt versuchter Ungehorsam. Vollendete Widersetzlichkeit bestraft Gerichtsherr Dirlewanger sofort mit dem Tode. Eine vom Brigadeführer erdachte Sonderstrafe ist der „Dirlewanger-Kasten": Der Verurteilte wird tagelang in einen aufgerichteten Sarg gezwängt. Gegenüber der Bevölkerung kennt man bei einer derart barbarischen Selbstjustiz natürlich überhaupt keine Gnade. Auf sogenannten Strafexpeditionen im Hinterland der deutschen Ostfront treibt die Brigade in der Regel die gesamte Einwohnerschaft in eine Scheune und zündet sie an. Oft lässt Dirlewanger Straßen dadurch auf Verminung prüfen, dass er die eingefangenen Dorfbewohner darüber jagt. Aktenkundig ist ferner, dass er Juden unter der Beschuldigung des Ritualmordes verhaften, sie um hohe Summen erpressen und bei Nichtzahlung erschießen ließ. Er hat das Lubliner Getto auf eigene Faust geplündert. Das alles weiß Polizeigeneral Reinefarth, als er die Brigade in den ersten Augusttagen zum Sturmbock gegen das aufständische Warschau macht. Sogar ein SS-Richter hat gegen Oskar Dirlewanger Haftbefehl beantragt, gegen den beim Obersten SS- und Polizeiführer Ost schon Ende 1942 zehn Strafanzeigen vorliegen. Eines seiner abscheulichen Verbrechen beschreibt der Hamburger „Spiegel" vom 4. 4. 51 folgendermaßen: „Zeugenaussagen und Meldungen von Kriminalbeamten besagten, dass er u. a. ein halbes Dutzend Jüdinnen von 13 bis 18 Jahren festgenommen, dann ein paar Freunde eingeladen und Radiomusik angestellt habe. Danach wurden die Frauen nackt ausgezogen und mit Lederpeitschen bis zum Zusammenbrechen bearbeitet. Zum Abschluss der Orgie wurde ihnen eine Strychninspritze injiziert, die zu wilden Todeszuckungen der Vergifteten" führte. Es ist heute unfassbar, wie deutsche Soldaten solche Bestien neben sich dulden konnten. Bei allem Furchtbaren, zu dem sie sich missbrauchen ließen, war das Bestehen einer Verbrecherdivision, die Schulter an Schulter mit Wehrmachtseinheiten focht, doch eine besondere Schande für unser Volk. Die Mehrheit der nazitreuen Generäle freilich hat das nicht empfunden. Sie war 1944 schon so verkommen, dass sie vor Gräueltaten dieser Art die Augen schloss. Trotz hoffnungsloser Gesamtlage wollte sie Erfolge erzwingen und nahm dabei den Blutrausch eines pathologischen Wüterichs bewusst in Kauf, wenn er ihr nur half, „Führerbefehle" auszuführen. Ihr ging es einzig darum, von Hitler gelobt, ausgezeichnet, mit Landgütern oder sechsstelligen Schecks beschenkt und immer wieder befördert zu werden. Nach Kriegsende beeilte sie sich, von der SS abzurücken. „Das sind nicht meine Kameraden!", entrüstete sich Generaloberst Guderian, der als Generalstabschef des Ostheeres letzter Verantwortlicher für die Warschauer Vorgänge war, als ihm der polnische Staatsanwalt Sawicki am 29. 1. 46 im Nürnberger Zeugengefängnis vorhielt, die SS habe Frauen und Kinder an seine, Guderians, Panzer gebunden, um die Aufständischen moralisch zu lähmen. „Diese Herren der SS sind nicht meine Kameraden und waren es niemals." Wenige Jahre später jedoch pries Guderian in seinem Geleitwort zu den Memoiren des SS-Obergruppenführer Hausser die soldatischen Tugenden gerade dieser Truppe. Als man ihn 1954 mit großem Pomp begrub - die alte Reichskriegsflagge schmückte den Sarg, eine Hundertschaft des Bundesgrenzschutzes feuerte drei Ehrensalven - erwartete die SS in Westdeutschland ihre endgültige Rehabilitation. Und heute, 1960, ist ein so furchtbar belasteter Mann wie Reinefarth, der mehr als irgendein anderer die ersten Warschaugräuel zu verantworten hat, Abgeordneter im schleswig-holsteinschen Landtag zu Kiel und, durch die Ortsgruppen des BHE und der CDU dazu gewählt, Bürgermeister von Westerland auf Sylt. Zerstückeln! Zu Beginn der zweiten Augustwoche 1944 traf vor der Stadt der SSObergruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski ein. Er war Chef der gesamten Partisanenbekämpfung seit 1942 und nun Sonderbeauftragter zur Niederwerfung des Warschauer Aufstands. Der polnischen Vernehmungskommission schilderte er 17 Monate später seinen ersten Eindruck so: „Nachdem ich angekommen war ..., stellte ich eine große Verwirrung fest. Jede Einheit schoss in eine andere Richtung, niemand wusste, auf wen man schießen muss, und es war sehr schwierig, die Situation militärisch zu meistern. Auf dem Friedhof sah ich mit eigenen Augen, wie eine Gruppe Zivilisten von Angehörigen der Kampfgruppe Reinefarth erschossen wurde ... Ich ging persönlich zu Reinefarth und traf ihn auf seinem Befehlsstand, wo er sich eingegraben und, soviel ich mich erinnere, eine eigene Radiostation hatte. Ich ... lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Missstände, die ich beobachtet hatte, und auch darauf, dass seine Abteilungen die unschuldige Zivilbevölkerung erschossen. Darauf machte mich Reinefarth auf den bestehenden, ausdrücklichen Befehl Himmlers aufmerksam. Er sagte mir, er habe Befehl erhalten, keine Gefangenen zu machen; jeder Einwohner Warschaus sei zu töten. Ich fragte ihn: ,Frauen und Kinder auch?' Er antwortete: ,Jawohl, Frauen und Kinder auch'." Bach-Zelewski entschied, quer durch Warschau drei Keile zur Weichsel vorzutreiben, die Viertel Zoliborz, Altstadt, Innenstadt und Mokotów voneinander zu trennen und die isolierten Kessel der Reihe nach zu zerschlagen. Seine Sturmkolonnen hatten im Norden über Ringbahn und Danziger Bahnhof die Zitadelle zu erreichen; in der Mitte längs der Ostwestachse Wolska-Chlodna auf das Regierungsviertel, dann weiter zur Kierbedz-Brücke durchzubrechen; im Süden das Polizeiviertel zu entsetzen und einen Sperrriegel zur Poniatowski-Brücke vorzuschieben. Später sollten die Aufständischen gänzlich vom Weichselufer abgedrängt und zur Kapitulation gezwungen werden. Der Zentralstoß führte über den Fabrikvorort Wola, der den Faschisten nach pausenlosen Luftangriffen und einem unbeschreiblichen Gemetzel bis zum 7. August in die Hände fiel. Das sozialistische Bataillon, das Wola befreit hatte, klammerte sich an jeden Mauerrest. Doch unter den Donnerschlägen der Artillerie, der Stukabomben sank ein Haus ums andere über ihm zusammen. In der folgenden Nacht musste General Bór seinen Befehlsstand nahe dem jüdischen Friedhof räumen. Durch die alten Schutthalden des Gettos pirschte sich sein Stab nebst dem Londoner Regierungsvertreter ins Stadtinnere zurück. Am 9. August erreichte der mittlere Angriffskeil die belagerten Regierungsgebäude am Sächsischen Garten. Dirlewanger hetzte seine schwerbewaffneten Berufsverbrecher über den Theaterplatz. Er hatte kurz zuvor die gewalttätigsten Kriminellen von Sachsenhausen erhalten, und diese Horde war noch nicht militärisch ausgebildet worden. „Dann sollen sie eben mit dem Gewehrkolben dreinschlagen, wenn sie noch nicht schießen können", hatte er angeordnet und reichlich Schnaps verteilen lassen. Betrunken stürmten seine Leute vor, halb wahnsinnig vor Angst, die eigene Verzweiflung durch Grausamkeitsexzesse niedertobend. Am Königsschloss vorbei stießen sie zur Kierbedz-Brücke durch. Altstadt und Innenstadt, die Herzstücke des Aufstandsgebiets, waren damit auseinandergerissen. Und in dem eroberten Schlauch sprengten Pioniere Wohnblocks und Denkmäler, walzten die Trümmer platt, um freies Schussfeld zu schaffen für die Sicherung der Ostwestachse. Über diese Straße rollte von nun an wieder Nachschub ostwärts, stärkte die 9. Armee, die den sowjetischen Truppen zunächst den Weg nach Warschau verlegte. Als Reinefarth vier Wochen später für Dirlewanger das Ritterkreuz beantragte, schrieb er: „Lediglich den taktischen Fähigkeiten, der Kühnheit und Kaltblütigkeit des SS-Oberführers Dirlewanger ist es zu verdanken, dass der Angriff fließend vorgetragen werden konnte und die befohlenen Tagesziele erreicht wurden. Dirlewanger... war hierbei seinen Männern ein Vorbild an Mut, Tapferkeit und Pflichterfüllung." Denselben Vorgang stellten deutsche Augenzeugen folgendermaßen dar: „Als das Kernkommando Dirlewangers die Nowy Swiat hinabstürmte, einen schreienden, schießenden, sich verheddernden Menschenhaufen von Alten und Jungen vor sich hertreibend, musste der ostpreußische Dirnenmörder Petrat von einer 'Dirlewanger-Charge' mit dem Gewehrkolben erschlagen werden, weil der Kerl im Blutrausch seinem verwundeten Nebenmann, über den er beim Stürmen gestolpert war, mit den Zähnen das Fleisch aus der klaffenden Beinwunde herauszuzerren begann. Ein Sachse wurde von einem degradierten Untersturmführer, Rottenführer Kramer, durch Genickschuss erledigt, weil er in einem Hauseingang eine Jüdin vergewaltigt und hernach erdrosselt hatte. Hätte er zuvor die Leinenbinde mit dem blauen Davidstern vom Arm seines Opfers gerissen, kein Mensch hätte ihm den Lustmord verübelt. Er war ja Dirlewanger-Mann. Aber dies da war Rassenschande." Von all dem freilich bemerkten die deutschen Generale nichts. In seiner Begründung zum Ritterkreuzantrag urteilte Heinz Reinefarth: „Dirlewanger hat durch seine wiederholten Taten gezeigt, dass er zu den Tapfersten der Tapferen gehört." Und Bach-Zelewski, als „Kommandierender General des Raumes Warschau", jetzt Reinefarths Vorgesetzter, schloss sich an: „Die erzielten Erfolge sind in erster Linie das persönliche Verdienst des SSOberführers Dirlewanger, der seinen Männern durch persönlichen Mut und Draufgängertum stets leuchtendes Vorbild ist ... Ich befürworte den Antrag wärmstens." Schlacht um die Altstadt Mitte August hat Bach-Zelewski sein erstes Ziel zwar erreicht. Die Aufständischen fechten, in Gruppen zerteilt, mit dem Rücken zur Weichsel, an deren Ostufer Deutsche liegen. Aber je schmaler ihr Hinterland wird, desto teurer verkaufen sie jeden Meter des blutgetränkten Bodens. „Der deutsche Versuch, durch Panzereinsatz den Angriff zu beschleunigen, scheiterte schnell und musste bald ganz eingestellt werden", erklärte Bach später vorm Nürnberger Tribunal. „Jedes Panzerfahrzeug wurde in kürzester Zeit von todesmutigen Jünglingen und Mädchen mittels Brandflaschen zerstört. Sämtliche Straßen waren sehr geschickt durch unzählige fünf bis zehn Meter hohe Barrikaden gesperrt ... Jeder Häuserblock musste einzeln in blutigstem Nahkampf genommen werden, ohne Sprengung von Breschen und unterirdische Minenstollen war überhaupt nicht heranzukommen." Die Fronten erstarren. Quer durch das Stadion, mitten durch Kirchen, Kaufhäuser und Parks verlaufen die polnischen Stellungen: Vorm Nationalmuseum gräbt man sich ein, verschanzt sich in Mietskasernen, denen der oberste Stock schon fehlt. Die Aufständischen durchbrechen Kellerwände und Brandmauern, sie untertunneln Straßen, die der Feind mit Maschinengewehren bestreicht, und legen ein Netz rückwärtiger Verbindungswege und Auffangstellungen an. Dahinter drängt sich die nicht kämpfende Zivilbevölkerung zusammen, hungert in den Kellern, wird von Bomben verschüttet, bohrt Brunnen und sammelt Regenwasser, hebt Gräben aus, pflegt Verwundete und fertigt Waffen: 42 000 Handgranaten, 87 Flammenwerfer, 10 Granatwerfer, 90 Maschinenpistolen, zahllose Brandflaschen und Geschosse werden im Laufe der Belagerung in primitiven Werkstätten hergestellt. Den nötigen Explosivstoff schaffen Frauen-Pioniergruppen heran; sie entnehmen ihn nichtdetonierten deutschen Granaten und Bombenblindgängern. General Bór und Oberst Monter, die sich im Innenstadtkessel befinden, sind in ihrer Kampfführung sehr behindert. Der Mut der Aufständischen, das tapfere Ausharren der Bevölkerung können weder den immer drückender werdenden Materialmangel wettmachen noch die zerrissene Verbindung zu den anderen Vierteln ersetzen. Weil eine direkte Befehlsübermittlung durch Funk meist missglückt, lassen sie Durchsagen von Stadtbezirk zu Stadtbezirk mehrmals über die starken Londoner Stationen laufen. Dennoch lähmen Missverständnisse die gemeinsame Verteidigung. Da aber springen Hunderte Warschauer Jungen ein. Unter Lebensgefahr, oft vor den Augen der Faschisten, tragen sie Meldungen durch das Trümmermeer. Bach-Zelewski braucht Erfolge. Am 19. August zieht er zehn Bataillone Infanterie und zwei Pionierbataillone im Halbkreis um die Altstadt zusammen. Dort haben auf engem Raum eine Viertelmillion Menschen Zuflucht gesucht. Die Angriffstruppen unterstehen wiederum dem Generalleutnant Reinefarth, dem einige Wochen später das Eichenlaub zum Ritterkreuz verliehen wird. Reinefarth verfügt über 9 „Tiger"-Panzer, 20 Sturmgeschütze, 50 ferngelenkte „Goliath"-Tanks, 6 Feldhaubitzen, zwei 28cm-Kanonen, zwei 38-cm-Mörser und den 60-cm-„Titan" mit seinen 30Zentner-Granaten. Hinzu kommen Minen- und Flammenwerfer, ein schwer bestückter Panzerzug und Stukas. Von der Weichsel her feuert ein Kanonenboot. Ein 1000 Meter langes, 700 Meter breites Häusergeviert, mit mittelalterlichen, krummen Gassen wird systematisch vernichtet. Historische Bauten stürzen zusammen, die Sonne ertrinkt in einem ungeheuren Qualmstrudel. Dann brechen Dirlewangers Mordbanden vor. „Sie kämpfen wie die Raubtiere", sagt der SS-Oberführer zu seinem Stabschef Brandt. Immer wieder jagt er seine Mannschaft bis an die Rauchwand, dort jedoch, vor Feuer speienden Löchern, bleibt sie liegen und flüchtet zurück. Ganze neun Hausruinen hat sie am ersten Abend erobert, keine einzige Barrikade. Ein Korrespondent der Goebbelszeitschrift „Das Reich" notiert mit unverhohlener Freude an der Zerstörung: „Unsere Minenwerfer, Schmeißer, schweren Geschütze reißen alles in Fetzen; Fliegerbomben vernichten Höfe, knacken Hinterhäuser; und die Tanks ... verjagen mit ihrem mörderischen Feuer die Verteidiger aus den oberen Stockwerken. Doch in den reichverzweigten Kellern, den unterirdischen Gängen und Gewölben tobt der Kampf weiter, sogar dann noch, wenn ein großes Gebäude sich in einen einzigen Trümmerhaufen verwandelt, über dem ständig Rauch und Staub schwebt." Während sich die Schlacht um die Altstadt zum Inferno steigert, während auch die Widerstandszentren im Norden und Süden Warschaus konzentrisch bedrängt werden, gelingt es den Aufständischen in der Stadtmitte, zwei seit Langem eingeschlossene Hochhäuser zu stürmen. Sie erbeuten viele Waffen und machen Gefangene. Von den 2 000 Deutschen, die ihnen im Laufe der Zeit in die Hand fallen, urteilen sie nur diejenigen ab, die sich an der Bevölkerung vergriffen oder andere Verbrechen begangen haben. Die übrigen teilen das Schicksal der Einwohner; oft kommen sie durch die Bomben und Geschosse der eigenen Kameraden um. Den Nazibefehl zur unterschiedslosen Vernichtung vergelten die Polen an ihnen nicht. Vierzehn Tage hindurch wehren sich die Verteidiger der Altstadt. Unter den Trümmern eines vierstöckigen Hauses findet dort am 26. August die Warschauer Führung der Volksarmee den Tod; an ihrer Spitze Major Ryszard, der Kommandeur, und Kapitän Edward, sein Stabschef. Die polnischen Einheiten verlieren 80 bis 90 Prozent ihres Mannschaftsbestandes, aber sie ergeben sich nicht. In dieser Hölle fehlt es an allem: an Munition, an Verbandstoff, an Milch für die Säuglinge. Stinkende Abwässerkanäle dienen als Nachschublinien. Junge Frauen leisten die Hauptarbeit. Sie setzen Wegweiser in den verschlammten Rohren, regeln den Wasserstand oder spannen Seile, an denen sich die Kolonnen - unter den faschistischen Stellungen hinweg vorwärtszerren. Es kommt zu Begegnungen mit SS-Trupps, die auf die gleiche Art ihre belagerten Stützpunkte versorgen. Zuletzt werden die Rohre zum Rückzugsweg. In der Nacht des 2. September räumen die Reste der Verteidiger das, was einmal Warschaus Altstadt gewesen ist. Geheime Fäden Unterdessen hotte sich auch Bach-Zelewski für „korrekte" Gefangenenbehandlung entschieden. Weil er anders mit ihnen nicht fertig wurde, ließ er die Aufständischen wissen, er werde sie als reguläre Truppe anerkennen, falls sie die Waffen niederlegten. Erst ihre Tapferkeit nötigte ihn, Himmlers Vernichtungsorder außer Kraft zu setzen. Er wagte das nicht, ohne sich beim Chef des Heeresgeneralstabs, Guderian, rückzuversichern. „Ich sagte ihm: 'In erster Linie ist es wichtig, den Aufstand schnellstens zu beenden'", erklärte Guderian am 29 1. 46 in Nürnberg. „'Die Kapitulation aber können wir nur dann erreichen, wenn die Aufständischen die Gewissheit hoben, dass sie als Soldaten behandelt werden.'" Während Bach versuchte, die Aufständischen durch Flugblätter und Parlamentäre zur Übergabe zu veranlassen, verbot er auf dem Höhepunkt der Schlacht allen ihm unterstellten Einheiten plötzlich das Plündern, Foltern und Morden. Auch hierbei leiteten ihn keineswegs humanitäre Erwägungen oder Rücksicht auf das Völkerrecht. Er hoffte vielmehr, dem Feind durch vorgetäuschte Menschlichkeit die Waffenstreckung schmackhaft zu machen und zugleich die Kampfdisziplin der eigenen mehr und mehr verwildernden Formationen zu heben. Er drang jedoch mit dieser Weisung bei verrohten Kommandeuren vom Schlage eines Dirlewanger und Reinefarth nicht durch. Der Freiburger Professor Dr. jur. Hans Thieme, damals Adjutant des Chefs der Artillerieabteilung, schildert Reinefarths zynische Reaktion: „Dieser stand an einer breiten Warschauer Ausfallstraße, während auf der anderen Seite polnische Bevölkerung in einer endlosen Kolonne von deutschen Soldaten oder Polizisten aus der Stadt getrieben wurde. Es war ein Bild des Jammers, bei dem uns die Tränen kamen. Herr Reinefarth aber äußerte zu meinem Kommandeur: 'Sehen Sie. das ist unser schweres Problem: So viel Munition haben wir nicht, um alle umzulegen!'" Als die Barbarei kein Ende nahm, bestrafte Bach-Zelewski zwar keinen seiner deutschen Untergebenen, ließ aber den Brigadeführer Kaminski samt Stab standrechtlich erschießen. „Weil ich selbst die Beweise gesehen habe, Herr Staatsanwalt", erklärte er hierzu in Nürnberg. „Nämlich einen ganzen Wagen mit geraubten Wertsachen, voll bis obenhin. Er selbst hatte ganze Koffer voll Silber, Gold und Brillanten." Wenn Bach einen Mann, der ihm bei der Partisanenjagd im Gebiet von Witebsk und Borissow jahrelang gute Dienste geleistet und dessen Methoden er bis dahin stets gebilligt hatte, nun auf einmal töten Iieß, dann geschah das nicht nur zur Abschreckung. Guderian bemerkt in seinen Memoiren („Erinnerungen eines Soldaten", 1951) zu diesem Vorgang, BachZelewski habe „damit einen nicht einwandfreien Zeugen beseitigt". Und die britische Zeitschrift „lllustrated" veröffentlichte am 12. 7. 58 die Zuschrift eines Augenzeugen, wonach der Kollaborateur Kaminski erschossen wurde, weil er auch zur polnischen Widerstandsbewegung Verbindung unterhielt. So hart Bach-Zelewski zuschlug, wenn es ihm darum ging, Fäden durchzuschneiden, die sich seiner Kontrolle entzogen, so intensiv bemühte er sich selbst um Kontakt zur Leitung der polnischen Heimatarmee. Solche Kontakte hatte es schon vor dem Aufstand gegeben. Wie Bachs Stabschef. Polizeigeneralmajor Ernst Rode, am 28. 1. 46 dem polnischen Staatsanwalt Sawicki verriet, war es dem deutschen Geheimdienst lange vor jener Zeit gelungen, in den Führungskreis der Armija Krajowa einzudringen. Befragt, ob er von dem bevorstehenden Aufstand gewusst habe, gestand Rode: „Jawohl, wir waren über alles genau informiert. Ich wusste es schon im Juli, etwa 14 Tage vorher, aus dem geheimen Informationsdienst, den der SSGruppenführer Koppe herausgab." Seinen Angaben zufolge war es der SS „durch Vermittlung von Spionen" sogar bekannt, dass der Befehlshaber der Heimatarmee, Bór, die Warschauer Aktion persönlich leiten wollte. Auf die Frage: „Wenn Sie davon wussten, warum haben Sie dann keine Vorbeugungsmaßnahmen getroffen?", antwortete Rode: „Es wurde nichts dagegen versucht, weil Himmler unbedingt davon überzeugt war, dass bei der bestehenden Lage der Aufstand nicht losbricht." Um diese merkwürdige Aussage richtig zu werten, muss man wissen, dass die SS ihre Informationen vor allem über die NSZ (Nationale Streitkräfte) erhielt, eine polnische faschistische Untergrundorganisation, die im Kampf gegen die Deutschen eine höchst zwiespältige Haltung einnahm. Rechtsradikale polnische Splittergruppen wie „Szaniec" (Schanze) und NSZ lehnten die Londoner Exilregierung ab, da sie ihnen zu liberal und zu nachgiebig gegenüber der Sowjetunion war. Der von der Besatzungsmacht betriebenen Judenverfolgung stimmten sie aus ganzem Herzen zu, erschraken aber vor weitergehenden Vernichtungsabsichten, die sich letztlich auch gegen sie selbst richteten. Die deutsche Ausrottungspraxis gegenüber den slawischen Völkern und die nazistischen Versklavungspläne vereitelten das Aufkommen einer breiten, dauerhaften Kollaboration der einheimischen Rechtskräfte mit den deutschen Faschisten, wie sie im übrigen besetzten Europa bestanden hat. Dennoch kam es namentlich im Kampf gegen die kommunistische Partisanenbewegung, oft zur Zusammenarbeit zwischen NSZ und SS. Die NSZ spielte der Besatzungsmacht nicht nur Mitglieder der polnischen Volksarmee in die Hände, sie wühlte auch innerhalb der Heimatarmee und schuf dort unterirdische Kanäle zu den Deutschen, besonders nachdem sie sich im Frühjahr 1944 dem Kommando der Armija Krojowa offiziell unterstellt hatte. Ihre antikommunistische Grundhaltung entsprach völlig der rechtsradikalen sowjetfeindlichen Einstellung einer kleinen Offiziersgruppe in der Spitze der Heimatarmee. Am Warschauer Aufstand nahm die NSZ aus Furcht vor dem eigenen Volk nicht teil. Sie lehnte es ab, die deutschen Faschisten zu bekämpfen, während ihr Hauptfeind, die Rote Armee, sich bereits der Weichsel näherte. „Angesichts der bestehenden Lage", wie Generalmajor Rode es ausdrückte, rechnete sie nicht mehr damit, dass Bór wirklich losschlagen würde - und Himmler hatte sich auf die Berichte seiner Vertrauensmänner verlassen. Mit dem Beginn des Aufstandes war diese Verbindung zerrissen, und BachZelewski versuchte nun, sie neu zu knüpfen. Er tat das um so eifriger, je härter der polnische Widerstand wurde. Schließlich bediente er sich, wie Guderian später bestätigte, der Vermittlung des Obergruppenführers Fegelein, eines Alkoholikers, der Verbindungsoffizier zwischen Hitler und Himmler war und im „Führerhauptquartier" Sonderrechte genoss. Vor dem Krieg hatte er auf Reiterturnieren Bór-Komorowskis Bekanntschaft gemacht; diese alte Beziehung aufzuwärmen, entsprach den Zwecken der SSFührung. Fegelein sollte an jene Zeiten erinnern, in denen die Interessen der deutschen und der polnischen Nationalisten noch miteinander zu harmonieren schienen. Er sollte auf die Bedrohung aus dem Osten hinweisen und Bór nicht nur zur Kapitulation veranlassen, sondern ihn jetzt, in letzter Minute, sogar als Waffengefährten gegen „den Bolschewismus" gewinnen - ein freilich recht unrealistisches Vorhaben. In die Gespräche schaltete sich bald auch das Rote Kreuz, Angehörige des polnischen Adels und der katholische Klerus ein; sie mündeten allmählich in Kapitulationsverhandlungen. So mühsam jedoch angesichts des fortdauernden faschistischen Gemetzels diese Kontakte auf höherer Ebene zustande kamen, noch weit größere Schwierigkeiten hatte Bach-Zelewski mit einfachen Menschen, wenn er sie für seine Ziele einspannen wollte. Die meisten seiner polnischen Unterhändler kehrten nicht ins Stabsquartier zurück; sie schlossen sich den verzweifelt ringenden Aufständischen an. Selbst unter Lebensgefahr weigerte sich mancher, auch nur als Parlamentär dem verhassten Feind zu dienen. Bach-Zelewski sagte darüber in Nürnberg: „Ich erinnere mich, dass ich eines Tages einen neuen Versuch durch Absendung einer polnischen Studentin machte ... Sie trug (bei der Gefangennahme) Uniform sowie die Rote-KreuzBinde und war mit einem Revolver bewaffnet. Ich empfing sie wie einen Gast und bat sie während der Unterredung, für mich die Kampflinie als Parlamentär zu überschreiten. Das Mädchen erklärte, ... sie tue es nur, wenn sie über den Inhalt meines Briefs an die Aufständischen genau informiert würde. Ich schrieb solchen Brief, doch sie lehnte die Überbringung desselben sofort ab, da - wie sie erklärte - die Überbringung eines Briefs an ihre Landsleute, der die Aufforderung zur Kapitulation enthält, gegen ihre nationale Ehre verstößt." Befragt, ob er eine bedingungslose Kapitulation verlangt habe, antwortete Bach: „Nein, ganz und gar nicht. Das hatte ich nicht geschrieben. Der Brief enthielt nur die Aufforderung zu kapitulieren. Das Mädchen antwortete: 'Nein!' Zugleich mit der Ablehnung erklärte sie mir ihre Bereitwilligkeit, in Angelegenheiten, die die Zivilbevölkerung betrafen, als Parlamentär zu gehen; das heißt, wenn ich in Unterhandlungen über das Los der Zivilbevölkerung eintreten wolle, würde sie gern als Vermittlerin tätig werden. Dazu aber brauchte ich sie nicht." Aus all dem folgt, dass die SS den Kampfwillen des polnischen Volkes zwangsläufig unterschätzte, solange sie sich auf Berichte der NSZFaschisten und anderer rechtsradikaler Elemente stützte. Denn diese verräterischen Subjekte hofften sehnlichst, die Heimatarmee werde sich im Falle eines weiteren sowjetischen Vormarsches eher gegen die Rote Armee und die einheimischen Fortschrittskräfte wenden als gegen die zurückweichenden Deutschen. Die SS-Führung glaubte dem um so mehr, als eine solche Annahme ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen entgegenkam. Erst am beispiellosen Widerstand Warschaus und an der Unmöglichkeit, polnische Patrioten auch nur für die geringsten Hilfsdienste zu gewinnen, erkannte sie das Ausmaß ihres Irrtums. Hilfe von außen General Bór, vom Londoner Hauptquartier mittlerweile ehrenhalber zum Oberbefehlshaber der gesamten polnischen Auslandsstreitkräfte ernannt, hatte ursprünglich an eine Parade der Heimatarmee zum fünften Jahrestag des deutschen Überfalls gedacht. Doch in der ersten Septemberhälfte wurde die Lage hoffnungslos. Am 4. September fiel das Elektrizitätswerk. Im Zentrum erlosch das Licht. Am 7. ging der Stadtteil Powisle verloren und damit ein wichtiges Stück Weichselufer, am 15. das untere Mokotów. Nach sieben Kampfwochen standen, bei einer Verpflegungsstärke von 32 000, noch 18 000 Soldaten der Heimatarmee an den Kesselfronten. Die übrigen Widerstandsgruppen waren auf weniger als 3 000 Mann zusammengeschmolzen. Da man nun kaum noch Waffen erbeutete und die eigene Munitionserzeugung ständig sank, hätten die Aufständischen sich ohne Abwürfe aus der Luft nicht länger wehren können. Von Anfang an allerdings war die versprochene britische Luftunterstützung weit hinter Bors Erwartungen zurückgeblieben. Churchill, der sich damals in Süditalien aufhielt, urteilt in seinen Erinnerungen selbst: „Die wackeren Versuche britischer Maschinen mit polnischen, britischen und DominienBesatzungen, von den (1100 Kilometer entfernten) italienischen Stützpunkten aus nach Warschau zu fliegen, waren ebenso unzureichend wie aussichtslos. Zwei Maschinen überflogen Warschau in der Nacht des 4. August, drei weitere erschienen dort vier Nächte später." Auf Bórs Notrufe hin begonnen die Westalliierten erst in der dritten Augustwoche, die Luftversorgung der Heimatarmee besser zu organisieren. Das 334. britische Bombergeschwader flog mit schwachen Teilkräften insgesamt 24 Einsätze; es warf im Laufe von acht Wochen 36 Tonnen an Waffen, Munition und Verpflegung ab. Meist trieb ein erheblicher Teil der Fallschirmkanister hinter die deutschen Linien ab. In London verwies man entschuldigend auf die weite Flugstrecke und übertrug die Hauptlast einer kleinen polnischen Fliegertruppe. Sie büßte im August sieben, im September acht Maschinen ein. Nur zwei Besatzungen blieben übrig. Weshalb beförderte man nicht mehr als 36 Tonnen, den Inhalt zweier Güterwagen? Das gleich weit entfernte Königsberg überschüttete die Royal Air Force in einer einzigen Nacht - am 26. August 1944 - mit 1 500 Tonnen Bomben. Eine großzügige Hilfe für Warschau aber blieb aus. Die britischen Stäbe nahmen die militärische Seite des mit ihrem Wissen begonnenen Unternehmens niemals so ernst, wie sie es verdiente. Die eigenen Fronten in Italien und Frankreich genossen Vorrang, und das große, sinnlose Zerstörungswerk an deutschen Städten erschien ihnen wichtiger. Inzwischen hatte die Rote Armee begonnen, Warschau aus der Luft zu versorgen. Ab 12. September überflogen sowjetische Doppeldecker Nacht für Nacht das Stadtzentrum, Mokotów und Zolibórz. Sie warfen ihr Nachschubgut im Tiefflug, oft ohne Fallschirm, in Säcken und Kisten treffsicher ab. Das 1. polnische Jagdfliegerregiment „Warszawa" sicherte diese Einsätze gegen die deutsche Abwehr. 100 Tonnen Lebensmittel vorwiegend Zwieback, Grütze, Konserven - und 50 Tonnen Waffen, darunter 200 Panzerbüchsen, 68 Granatwerfer, 160 Schnellfeuergewehre und 15 000 Handgranaten, stärkten die Abwehrkraft der Verteidiger und machten ihnen Mut. Am 18. September starteten auch amerikanische Maschinen zu einer einmaligen Hilfsaktion. In England stiegen 107 „Fliegende Festungen" auf, überquerten die Ostsee, erschienen um 13 Uhr sehr hoch über Warschau, warfen Fallschirmkanister ab und landeten weit hinter den sowjetischen Stellungen. Nur zwei der Langstreckenbomber gingen verloren. Die meisten Fallschirme freilich wurden in faschistisch besetzte Stadtteile abgetrieben; die Zielflächen waren schon sehr klein geworden. Immerhin konnten die Aufständischen 16 Tonnen Versorgungsgut bergen. Wenig später nahte entscheidendere Hilfe. In einwöchigem Ansturm hatten Rokossowskis Divisionen die 9. deutsche Armee erneut zurückgeworfen. Nun brachen Sowjetpanzer zur Weichsel durch. Panik ergriff die Besatzung von Praga. Sie floh, da sie ihren Rückzugsweg durch die Stadt bedroht glaubte, Hals über Kopf auf dem Ostufer stromabwärts. Es gelang der faschistischen Führung eben noch, die Brücken in die Luft zu jagen - dann musste sie über den Fluss vorgetragene Angriffe abwehren. Bach-Zelewski schilderte dies später so: „Ein besonders kritischer Moment entstand, als die Rote Armee Praga nahm, die deutsche Besatzung aber nicht wie vorgesehen sich über die Weichselbrücken auf Warschau zurückzog, sondern ... nach Norden abgedrängt wurde. Glücklicherweise hatten meine Truppen gerade einen schmalen Uferstreifen von den Aufständischen säubern können. Hier, auf engstem Raum zusammengedrängt, jenseits der Weichsel die Rote Armee, die einen Übersetzversuch nach dem anderen unternahm, im Rücken die Aufständischen, verbluteten meine Verbände. Das gut liegende Artilleriefeuer des Feindes ... machte unsere Lage zur Hölle." Unter diesem Feuerschirm setzte das 9. Infanterieregiment der polnischen 1. Armee in Sturmbooten nach Czerniakow über, wo die Aufständischen noch ein Stück Stromufer beherrschten. Die 1. Armee, die seit über einem Jahr an der Seite der Sowjettruppen für ein neues Polen kämpfte, hatte im Juli Lublin befreit und zuletzt bei Pulawy gestanden. Nun setzte sie alles daran, zu ihren eingekesselten Landsleuten durchzustoßen. Doch Bór versuchte nicht, sich zu den polnisch-sowjetischen Auffangstellungen durchzuschlagen. „Das war strategisch möglich", erklärte Guderian im Laufe der Vernehmung vom 29. 1. 46. „Wir sind niemals zu einer klaren Schlussfolgerung gelangt, warum er die deutsche Gefangenschaft der russischen Armee vorzog." Als die deutsche Führung sah, dass Bór darauf verzichtete, seinen Verbündeten entgegenzustoßen und nach Osten abzuziehen, warf sie sämtliche Reserven an die Uferfront, um dort jedes Fußfassen polnischsowjetischer Kräfte zu verhindern. Ihre ganze Weichselstellung stand mit Warschau auf dem Spiel. In wütenden Stößen drückte sie binnen acht Tagen den Brückenkopf ein. Zusammen mit dem Rest der Czerniakower Aufständischen durchschwammen die Überlebenden des 9. Regiments den Fluss. Sie hatten bis zur letzten Patrone gekämpft. Heute bezeichnet ein Denkmal die Stelle, an der dieser heroische Entsatzversuch scheiterte. Das bittere Ende Bach-Zelewski befiehlt, die noch verbliebenen drei Kessel zu liquidieren. Im Norden, für Zolibórz, erhält er die 19. Panzerdivision; im Süden, für das obere Mokotów, unterstützt die Elitedivision „Hermann Göring" den Umfassungsangriff seines Generals Rohr. Dank brutalster Methoden kommt er zum Ziel. In die Kanäle lässt er ein Sprenggas blasen; es verschüttet das Abwassernetz auf weite Strecken und zerreißt die letzten Verbindungen. Vor dem Sturm auf Zolibórz versucht Bach-Zelewski mehrmals, den Befehlshaber dieses Stadtteils zur Waffenstreckung zu bewegen vergebens. „Mit ihm konnte ich irgendwelche Unterhandlungen überhaupt nicht beginnen", klagt er später, „Jede seiner Antworten war eine Beleidigung für mich ... Er sagte mir ständig, dass er mir trotz aller Zusicherungen, die ich im Namen des deutschen Volkes abgebe, nicht glauben kann angesichts der Art, wie sich die Deutschen während der Besetzung verhalten haben. Keine Zusicherung würde von den Deutschen eingehalten." - Fort Mokotów widersteht bis zum 27., Zolibórz fällt am 30. September. Die Aufständischen wehren sich noch in der Stadtmitte, rings um die Kreuzung Marszalkowska/Jerozolimska-Allee, verzweifelt. Doch Bór schickt jetzt von sich aus Unterhändler zu Warschaus Henker. „Erst als alle Übersetzversuche gescheitert waren", erläutert dieser später, „entschloss sich die polnische Aufstandsführung aus Mangel an Munition und Lebensmitteln zu kapitulieren. Auch die Tatsache, dass Zehntausende von Frauen und Kindern sich weigerten, die Stadt zu verlassen, wenn nicht ihre kämpfenden Väter und Brüder mitgingen, unterstützte die Kapitulationsbereitschaft. Eine bedingungslose Übergabe verlangte ich nicht, noch wäre die polnische Führung auf eine solche eingegangen." Die Verhandlungen dauern tagelang. Bach-Zelewski sichert jedem Aufständischen Straffreiheit zu. Am 2. Oktober acht Uhr abends unterzeichnet er die Urkunde. Mit den Worten: „Herr General, ich habe den Befehl und die Ehre, Sie in Gefangenschaft zu nehmen", empfängt er anderntags Bór betont ritterlich. Gleich darauf bietet er ihm mit echt faschistischer Frechheit die Hand zu künftiger Zusammenarbeit: Deutschland und Polen hätten einen gemeinsamen Feind, den „Bolschewismus", da müssten sie ihren Streit vergessen. Bór hört verblüfft, wie derselbe Mann, der soeben mit beispielloser Härte den Aufstand niedergeworfen hat, ihm nun unverfroren erklärt, er sei immer ein Gegner der Unterdrückungspolitik gegenüber Polen gewesen; man habe Fehler gemacht, müsse aber angesichts der „roten Gefahr" endlich zueinanderfinden ... Steif erwidert er, die Kapitulationsbedingungen werde er loyal erfüllen, doch könne die Übergabe Warschaus nichts an der Haltung Polens gegenüber Deutschland ändern, mit dem es seit dem 1. September 1939 im Kriege sei. Denn Bór ist zwar ein Feind der Sowjetunion, aber er weiß, die deutschen Faschisten haben nicht nur fast ein Fünftel des polnischen Volkes umgebracht, sie sind auch militärisch bankrott. So ehrlos und verblendet, noch zuletzt mit der geschlagenen Wehrmacht zusammenzugehen, sind nur wenige seiner rechtsradikalen Anhänger: Ein Teil der faschistischen NSZ verlässt unter Leitung des berüchtigten Kommandeurs Bohun-Dombrowski bald darauf das Land im Gefolge der Deutschen. Andere Splittergruppen der Armija Krajowa, kommandiert von nationalistischen Offizieren wie Okulicki und Boguslawski, bleiben in Polen und führen Bandenkrieg im Rücken der Roten Armee. Ihre letzten Reste verüben bis in die Jahre 1947/48 hinein Terrorakte gegen kommunistische Funktionäre. Bór selbst jedoch distanziert sich von diesen Rechtsextremisten. Er erklärt, dass er sich als Kriegsgefangener betrachte und für die Dauer des Krieges auf jede politische Tätigkeit verzichte. Am 5. Oktober 1944 lässt er die verbliebenen Barrikaden öffnen. Die größte aller Aktionen einer Untergrundbewegung während des Zweiten Weltkriegs ist zu Ende. „Achtzig Prozent der Warschauer Aufstandsbewegung haben meine Sonderkommandoleute unterdrückt", prahlt Dirlewanger in seinem Abschlussbericht an Himmlers Stab. Hohlwangig, mit entladenen Waffen, tritt das Aufstandsheer den Marsch in die Gefangenschaft an. 13 000 Männer und 2 000 Frauen zählt es noch. Die meisten sind verletzt, und 5 000 Schwerverwundete liegen transportunfähig in den Kellerlazaretten. 15 000 Gefallene lassen sie zurück - in Gräbern auf den Höfen, unter qualmendem Schutt, im Schlamm der Kanäle. Wie diese Schar gekämpft hat, beweisen die deutschen Verlustziffern. Während der 63 Kampftage hat die 9. Armee 25 Prozent ihrer Ausfälle hinter der Front erlitten, in Warschaus Straßen. 17 000 SS-Leute, Soldaten und Polizisten sind laut Bach-Zelewski getötet, 9 000 verwundet worden - ein Zahlenverhältnis, das von grauenvollen Nahkämpfen und der Treffsicherheit polnischer Scharfschützen zeugt. Den Aufstand niederzuschlagen hatte die Faschisten ebenso viel Blut gekostet wie fünf Jahre zuvor die Eroberung ganz Polens. Das entsetzlichste Opfer brachte Warschaus Bevölkerung. Sie verlor 150 000 Menschen. Unter den Trümmern ruhten mehr Tote als später in Hiroshima und Nagasaki. Dirlewangers und Reinefarths Formationen hatten gründlicher gearbeitet als es zwei Atombomben vermochten. Nun trieben sie die Überlebenden aus der Stadt, westwärts, durchs Lager Pruszkow, zur Zwangsarbeit, ins Nichts. Den Befehl zur Errichtung des Lagers Pruszkow hatte Bach-Zelewski erteilt. Es lag auf dem Gelände eines Reichsbahnausbesserungswerks. Dort konnte man nicht eine Million Menschen unterbringen. Tausende starben vor Kälte und Hunger. Bach-Zelewski gestand, dass weder er noch Bórs Stabsoffiziere sich um das Schicksal der Zivilbevölkerung und um die Masse der Aufständischen auch nur im Geringsten gekümmert hatten. „Nach dem Ausmarsch aus Warschau überließ ich ihm (Bór) zu seiner Verfügung und für alle höheren Offiziere einen Sonderzug und schickte sie in mein Hauptquartier Gansenstein in Ostpreußen", erklärte Bach. „Es waren rund zwanzig. Dazu kamen die Adjutanten, Ordonnanzen und BórKomorowski selbst. Ich bewilligte ihnen die Ordonnanzen, damit sie ihr ganzes Gepäck und alles, was nötig war, mitnehmen konnten ... Mein Vertreter Rode sorgte für sie. Sie wohnten in einer von meinen Baracken, die für deutsche Offiziere bestimmt waren. Sie wurden so verteilt, dass ein Zimmer mit nicht mehr als zwei Offizieren besetzt war ... Sie erhielten dasselbe Essen wie meine Offiziere sowie Tabak und alkoholische Getränke nach Wunsch. Ich habe sie dort besucht und mich persönlich erkundigt, ob sie sich wohlbefinden." - Auf die Frage: „Haben die Offiziere Sie gefragt, was aus der grauen Masse der Aufständischen geworden ist?", erwiderte Bach: „Die einzige Sache, für die sie sich interessierten, waren entweder Geldfragen oder Privilegien, die sich aus den militärischen Dienstgraden ergaben." Schuld – und Sühne? Der Versuch bürgerlicher Exilpolitiker, durch Fehllenkung des polnischen Freiheitswillens den fortschrittlichen Kräften zuvorzukommen und die Macht in Polens Hauptstadt an sich zu reißen, endete mit Warschaus Zerstörung. Während die wirklichen Helden des Aufstands im Elend verkamen, wurde Warschau aufgrund eines Hitlerbefehls vom 11. Oktober dem Erdboden gleichgemacht. Pioniertrupps bohrten Löcher in jede noch unversehrte Wand und jagten jedes Gebäude in die Luft, das die Wehrmacht nicht brauchte. Zuvor jedoch zerrten Gouverneur Fischers Räumkommandos das polnische Privateigentum an Kleidung, Möbeln, Kunstgegenständen und Rohstoffen aus den zur Vernichtung bestimmten Häusern. Um diesen Punkt entspann sich 15 Monate darauf zwischen Staatsanwalt Sawicki und Bach eine bezeichnende Kontroverse. Staatsanwalt: „Wer ist also verantwortlich für die Räumung der Häuser?" Bach: „Für das Wegnehmen der Wertsachen ..." Staatsanwalt: „Erlauben Sie, dass ich es Raub nenne, das kommt der Wahrheit näher." Bach: „Wenn es aufgrund eines Befehls geschah, dann ist es doch kein Raub!" Staatsanwalt: „Wenn aber sowohl der Befehl als auch seine Ausführung gegen das internationale Recht verstößt?" Bach: „Es war doch ein Befehl ergangen. Wir bezeichnen als Raub nur, wenn es gegen die Befehle verstößt." Während Sprengkommandos die weichselnahen Viertel restlos niederlegten, während das in Jahrhunderten gewachsene Kulturerbe der polnischen Nation zu Staub zerfiel, wurde der General, der versucht hatte, das Rad der Geschichte aufzuhalten, in ein Offizierslager bei Nürnberg gebracht. Man behandelte ihn weiterhin ehrerbietig. Die Naziführung hoffte bis zuletzt, mit einer Handvoll polnischer Weißgardisten den Vormarsch der Roten Armee zu stören. Im Durcheinander des Zusammenbruchs gelangte Bór über die Schweiz nach London, wo er heute - von der Öffentlichkeit kaum noch beachtet - polnische Emigranten empfängt und seinen alten Auffassungen lebt. Von ihrer antisowjetischen Haltung, die den schweren Befreiungskampf Polens gehemmt und ihrem Vaterland so viel Leid gebracht hat, lassen die Emigranten um Bór nicht ab. Sie unterscheiden auch nicht das faschistische Deutschland vom deutschen Volk. In ihren Memoiren übergehen sie die Rolle der linken Gruppen im Widerstandskampf, den sie als einen angeblichen Kampf gegen zwei Fronten entstellen. Bis auf den heutigen Tag konnten sie sich zu keiner wahrhaftigen Darstellung der tragischen Warschauer Vorgänge entschließen. Ohne historische Einsicht, seit 16 Jahren auch räumlich von ihrem Volke abgesondert, ist es ihr Schicksal, in der Fremde vergessen zu werden. Nicht vergessen aber sollten wir die Namen der Henker. Bach-Zelewski, Reinefarth und Dirlewanger leben noch; es ist ihnen fast so gut wie den Hintermännern des deutschen Faschismus gelungen, sich ihrer Strafe zu entziehen. Den ersten sandte Hitler Ende 1944 nach Budapest, als auch dort die Rote Armee vor den Toren stand. Während Bach dann ein Korps an der Oder führte, ließ Reinefarth die „Festung" Küstrin bis zum letzten Untergebenen verteidigen. Unter seinem Kommando wurden fünfzehnjährige Jungen wegen „Feigheit vor dem Feinde" exekutiert. Um seine Haut zu retten, befahl er zuletzt einen selbstmörderischen Durchbruchsversuch. Die meisten seiner Leute blieben zwischen den Fronten tot oder verwundet im Artilleriefeuer liegen. Der SS-General aber floh, genau wie Bach und Dirlewanger, den Westalliierten entgegen. Hier machte sich besonders Bach-Zelewski durch genaue Aussagen über die Bekämpfung sowjetischer Partisanen bald unentbehrlich. Nicht als Angeklagter, sondern als bevorzugter Kronzeuge stand er vor dem Nürnberger Tribunal, wo er Reinefarth und viele andere Spießgesellen schwer belastete. Trotz wiederholter Auslieferungsgesuche schützten ihn die Amerikaner. Sie liehen ihn 1947 zum Warschauer Prozess gegen den Nazigouverneur Fischer nur unter der Bedingung aus, dass er unbehelligt zurückkehren werde. 1949 übergaben sie ihn der westdeutschen Justiz, die ihn zwei Jahre später auf freien Fuß setzte. Nun jedoch warf ihm die alte Generalsclique seine belastenden Aussagen vor; er erhielt weder Haftentschädigung noch die übliche hohe Pension, sondern hatte sich als Angestellter einer Schließgesellschaft mit 400 DM monatlich zu begnügen. Ende 1958 wurde Bach festgenommen und des Mordes überführt: Er hatte beim Röhmputsch 1934 einen ostpreußischen Rittergutsbesitzer eigenmächtig erschießen lassen ... Seine Beteiligung am tausendfachen Massenmord in der Sowjetunion und in Polen freilich kümmerte kein westdeutsches Gericht. Um das Ungeheuerliche dessen ganz zu begreifen, muss man sich an die „Erklärung über die faschistischen Grausamkeiten" erinnern, die im Oktober 1943 von Roosevelt, Stalin und Churchill unterzeichnet wurden. Es heißt darin, dass „alle Deutschen, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben, an den Schauplatz ihrer Verbrechen zurückgebracht und an Ort und Stelle von den Völkern abgeurteilt werden, denen sie Gewalt angetan haben." Die Erklärung schließt mit der Feststellung, dass „die alliierten Mächte die Schuldigen bis an das äußerste Ende der Welt verfolgen werden, um sie ihren Anklägern auszuliefern." Aber fast alle Kriegsverbrecher, die sich in den Händen der Westalliierten befanden, kamen billig davon, denn sie wurden noch gebraucht. Am 1. 12. 47 teilte die französische Besatzungsmacht der polnischen Militärmission mit, Dirlewanger sei bereits am 7. 7. 45 im Althausener Gefängnis verstorben. Tatsächlich befand sich der SS-Mörder in britischem Gewahrsam. So wie die Franzosen deutsche Faschisten für ihren schmutzigen Vietnamkrieg warben, stellten die Briten zu jener Zeit aus 6 000 Nazisoldaten eine Fremdenlegion für den Nahen Osten auf. Sie sollte englandhörige Arabergruppen stärken und dazu beitragen, die einstürzende britische Kolonialposition zu halten. Höhere SS-Offiziere wurden, soweit sie nicht auch in Westeuropa gewütet hatten, bevorzugt. Man schaffte sie aus den Lagern der britischen Zone Deutschlands im Flugzeug nach Jordanien, Syrien und dem Irak. Im Rahmen dieser Aktion gelangte Dirlewanger in das damals noch von den Briten beherrschte Kairo, wo sich in den fünfziger Jahren seine Spur verlor. Reinefarth auszuliefern weigerte sich US-General Clay am 17. 7. 48 mit der lapidaren Begründung, dass seine Dienststellen ihn „für eine beträchtliche Zeitspanne brauchen". Später übergab er ihn den britischen Besatzungsbehörden, und diese lehnten mehrere Auslieferungsanträge der polnischen Kommission für Kriegsverbrechen am 24. 7. 50 kurzerhand „for security reasons" - „aus Sicherheitsgründen" - ab. Westdeutsche Spruchkammern unterließen es, nach jenem Belastungsmaterial zu forschen, dass in Warschau gegen den SS-General vorlag. Sie reihten ihn schließlich unter die „Entlasteten" ein. So durfte Reinefarth, den man in Polen allgemein „den Schlächter von Warschau" nennt, Bürgermeister eines Nordsee-Luxusbads werden und, wie der „Spiegel" vom 7. 1. 59 es ausdrückte, „heute als Abgeordneter ... am bundesrepublikanischen Aufbau mitarbeiten". Die Wunden, die der deutsche Imperialismus durch solche Werkzeuge unseren Nachbarn schlug, sind noch nicht vernarbt. Sie heilen nicht, solange man in Westdeutschland nach Grenzrevision oder gar Revanche ruft. Das polnische Volk war das erste Opfer der faschistischen Aggression, es hat am längsten aufs Entsetzlichste gelitten. Die Zerstörung der Landeshauptstadt, die Austreibung der Einwohnerschaft war eine Katastrophe, die anderen schwer heimgesuchten Völkern erspart geblieben und in der neueren Geschichte überhaupt ohne Beispiel ist Wir achten den Mut, den es erforderte, eine derartige Trümmerstätte wieder aufzubauen. Am 17. Januar 1941 hatte die polnische 1. Armee, im Verband der 1. Belorussischen Front operierend, Warschau befreit. Während sie, fünf Divisionen stark, über Kolberg und Küstrin auf Berlin vordrang, und während die polnische 2. Armee half, Posen und Breslau dem Faschismus zu entreißen, begann an der Weichsel das entbehrungsreiche Ringen mit Millionen Kubikmetern Schutt. Inzwischen ist Warschau als Hauptstadt eines neuen Staates wiedererstanden. Denn das, wofür Polens Patrioten sechs bittere Jahre hindurch kämpften, ist Wirklichkeit geworden. Ihr einst rückständiges, ausgesaugtes Land wurde ein junger Industriestaat. Und das beweist die Lebenskraft einer Nation, die ihre sozialen Fesseln gesprengt hat. Wolfgang Schreyer Wolfgang Schreyer, geboren 1927 in Magdeburg. Oberschule, Flakhelfer, Soldat, US-Kriegsgefangenschaft bis 1946. Debütierte mit dem Kriminalroman "Großgarage Südwest" (1952), seitdem freischaffend, lebt in Ahrenshoop. 1956 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis für den Kriegsroman "Unternehmen Thunderstorm". Schreyer zählt zu den produktivsten und erfolgreichsten Autoren spannender Unterhaltungsliteratur in der DDR, schrieb Sachbücher, Szenarien für Funk und mehr als zwanzig Romane mit einer Gesamtauflage von 6 Millionen Exemplaren. Bibliographie: Großgarage Südwest, Das Neue Berlin, Berlin 1952 Mit Kräuterschnaps und Gottvertrauen, Das Neue Berlin, Berlin 1953 Unternehmen „Thunderstorm“, Das Neue Berlin, Berlin 1954 Die Banknote, Das Neue Berlin, Berlin 1955 Schüsse über der Ostsee, Verlag Neues Leben, Berlin 1956 Der Traum des Hauptmann Loy, Das Neue Berlin, Berlin 1956 Das Attentat, Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin 1957 Der Spion von Akrotiri, Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin 1957 Alaskafüchse, Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin 1959 (verfilmt: DEFA 1964, Regie: Werner W. Wallroth) Das grüne Ungeheuer, Das Neue Berlin, Berlin 1959 (verfilmt: DFF 1961/62, Regie: Rudi Kurz) Entscheidung an der Weichsel, Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin 1960 Tempel des Satans, Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin 1960 Die Piratenchronik, Kongress-Verlag, Berlin 1961 Vampire, Tyrannen, Rebellen, Deutscher Militärverlag, Berlin 1963 (zusammen mit Günter Schumacher) Preludio 11, Militärverlag der DDR, Berlin 1964 (verfilmt: DEFA 1963, Regie: Kurt Maetzig) Fremder im Paradies, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) Augen am Himmel, Deutscher Militärverlag, Berlin 1967 Aufstand des Sisyphos, Deutscher Militärverlag, Berlin 1969 (zusammen mit Jürgen Hell) Der gelbe Hai, Das Neue Berlin, Berlin 1969 Bananengangster, Militärverlag der DDR, Berlin 1970 Der Adjutant (Die dominikanische Tragödie 1. Band), Mitteldeutscher Verlag, Halle (S.) 1971 Der Resident (Die dominikanische Tragödie 2. Band), Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1973 Tod des Chefs oder Die Liebe zur Opposition, Eulenspiegel-Verlag, Berlin 1975 Schwarzer Dezember, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1977 Die Entführung, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1979 Der Reporter (Die dominikanische Tragödie 3. Band), Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1980 Die Suche oder Die Abenteuer des Uwe Reuss, Das Neue Berlin, Berlin 1981 Eiskalt im Paradies, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1982 Die fünf Leben des Dr. Gundlach, Militärverlag der DDR, Berlin 1982 Der Fund oder Die Abenteuer des Uwe Reuss, Das Neue Berlin, Berlin 1987 Der Mann auf den Klippen, Militärverlag der DDR, Berlin 1987 Der sechste Sinn, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1987 Unabwendbar, Das Neue Berlin, Berlin 1988 Die Beute, Hinstorff Verlag, Rostock 1989 Endzeit der Sieger, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1989 Alpträume, Verlag Harry Ziethen, Oschersleben 1991 Nebel, Eulenspiegel Das Neue Berlin, Berlin 1991 Das Quartett, Eulenspiegel Das Neue Berlin, Berlin 1994 Der zweite Mann, Das Neue Berlin, Berlin 2000 Der Verlust oder Die Abenteuer des Uwe Reuss, BS-Verlag, Rostock 2001 Das Kurhaus, BS-Verlag, Rostock 2002 Die Legende, Das Neue Berlin, Berlin 2006 (zusammen mit Paul Schreyer) Ahrenshooper Begegnungen, BS-Verlag, Rostock 2008 Der Leuchtturm, Scheunen-Verlag, Kückenshagen 2009 Die Verführung (Erzählungen), Das Neue Berlin, Berlin 2010 Der Feind im Haus, Das Neue Berlin, Berlin 2011 E-Books von Wolfgang Schreyer Großgarage Südwest ISBN: 978-3-86394-081-2 Mit Kräuterschnaps und Gottvertrauen ISBN: 978-3-86394-082-9 Unternehmen "Thunderstorm" ISBN: 978-3-86394-083-6 Die Banknote ISBN: 978-3-86394-084-3 Schüsse über der Ostsee ISBN: 978-3-86394-085-0 Der Traum des Hauptmann Loy ISBN: 978-3-86394-086-7 Das Attentat ISBN: 978-3-86394-087-4 Der Spion von Akrotiri ISBN: 978-3-86394-088-1 Alaskafüchse ISBN: 978-3-86394-089-8 Das grüne Ungeheuer (Der grüne Papst) ISBN: 978-3-86394-090-4 Entscheidung an der Weichsel ISBN: 978-3-86394-091-1 Tempel des Satans ISBN: 978-3-86394-092-8 Die Piratenchronik ISBN: 978-3-86394-093-5 Vampire, Tyrannen, Rebellen ISBN: 978-3-86394-094-2 Preludio 11 ISBN: 978-3-86394-095-9 Fremder im Paradies ISBN: 978-3-86394-096-6 Augen am Himmel ISBN: 978-3-86394-097-3 Aufstand des Sisyphos ISBN: 978-3-86394-098-0 Der gelbe Hai ISBN: 978-3-86394-099-7 Bananengangster ISBN: 978-3-86394-100-0 Der Adjutant ISBN: 978-3-86394-101-7 Tod des Chefs oder Die Liebe zur Opposition ISBN: 978-3-86394-102-4 Der Resident ISBN: 978-3-86394-103-1 Schwarzer Dezember ISBN: 978-3-86394-104-8 Die Entführung ISBN: 978-3-86394-105-5 Der Reporter ISBN: 978-3-86394-106-2 Die Suche oder Die Abenteuer des Uwe Reuss ISBN: 978-3-86394-107-9 Eiskalt im Paradies ISBN: 978-3-86394-108-6 Die fünf Leben des Dr. Gundlach ISBN: 978-3-86394-109-3 Der Fund oder Die Abenteuer des Uwe Reuss ISBN: 978-3-86394-110-9 Der Mann auf den Klippen ISBN: 978-3-86394-111-6 Der sechste Sinn ISBN: 978-3-86394-112-3 Unabwendbar ISBN: 978-3-86394-113-0 Die Beute ISBN: 978-3-86394-114-7 Endzeit der Sieger ISBN: 978-3-86394-115-4 Alpträume ISBN: 978-3-86394-816-0 Nebel ISBN: 978-3-86394-817-7 Das Quartett ISBN: 978-3-86394-818-4 Der zweite Mann ISBN: 978-3-86394-819-1