The Wishstone and the Wonderworkers
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The Wishstone and the Wonderworkers
The Wishstone and the Wonderworkers Sechste Chronik eines Dunklen Zeitalters Original: The Wishstone and the Wonderworkers, von Hugh Cook Erschien in Großbritannien 1990 als Corgi Book 0 552 13536 4 Herausgeber: Colin Smythe Limited ISBN 0-552-13536-4 Deutsche Übersetzung: Copyright © Harald Popp 2012 Mit freundlicher Genehmigung durch Colin Smythe Limited Diese PDF-Datei ist urheberrechtlich geschützt und nur für den persönlichen Gebrauch derjenigen Person bestimmt, die diese Datei unmittelbar von der Webseite www.age-ofdarkness.de heruntergeladen hat. Diese Datei darf an keine andere Person weitergegeben oder für andere Personen vervielfältigt werden. Seite 1 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Vorwort Gewaltig sind die Mühen der Redakteure von Odrum, und unerbittlich ist ihre Gewissenhaftigkeit. Als der folgende Text in den Verliesen von Odrum seine redaktionelle Überarbeitung hatte ertragen müssen, war er mit wenigstens zwei Millionen Worten der Erläuterung und Interpolation belastet worden. Im Interesse der Zweckmäßigkeit, Lesbarkeit und Vernunft ist das meiste dieser Überwucherungen weggeschnitten worden. Das ungeheure Ausmaß der von Odrum für diesen Text aufgewandten Mühen übersteigt jede Vorstellungskraft. Auf den Grundfesten des historischen Berichts war ein furchterregendes redaktionelles Monument errichtet worden, mitsamt eines ausgeklügelten Apparats von Fußnoten, endloser Romane etymologischer Mutmaßungen und Hundertausender Worte zur Textanalyse. Nur wenige (sehr wenige) Kommentare einiger bekannterer Redakteure sind im Text belassen worden, um eine schwache Andeutung der Stimmung des Textes in seiner redaktionell überarbeiteten Fassung wiederzugeben. Der Rest von Odrums Beifügungen ist stillschweigend elidiert worden. Was nur gerecht ist, da Odrums Gelehrte ähnlich schonungslos bei der Kürzung der Schriften des Urhebers vorgegangen waren. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass der Leser keine redaktionelle Unterstützung benötigt, um eine geradlinige historische Abhandlung wie die vorliegende zu verstehen. Dennoch sind ein paar Worte zur Erläuterung des Einsiedlerkrebses angebracht. Drax Lira, der Chefredakteur von Odrum, hatte dieses Wesen offensichtlich verkannt und ganz gewaltig unterschätzt. Der Urheber des Textes hatte das Wesen besser verstanden, aber dennoch niemals etwas über den Ursprung des Krebses erfahren. Tatsächlich hatte der Urheber nicht einmal den Namen des Einsiedlerkrebses gekannt. Wie es manchmal so geht, hatte der Einsiedlerkrebs seinen Ursprung im Feuer des hiesigen Sterns gehabt. Er gehörte zu einer Rasse von Geschöpfen, die nicht aus Fleisch geformt waren, so wie wir das verstehen, sondern die stattdessen als dynamische, örtlich äußerst begrenzte Modulationen der Wahrscheinlichkeit existierten. Als Ergebnis eines theologischen Streitgesprächs war der Einsiedlerkrebs gezwungen worden, vor seinen Kollegen zu fliehen. Weil zu bleiben zu sterben bedeutet hätte, hatte er sich von dem Inferno abgesondert, das ihm für mehr als die Hälfte von siebzig Millionen Jahren als Heimat gedient hatte, und war in die unaussprechlich kalte Ödnis des Weltalls geflohen. Schließlich hatte er die Oberfläche eines Planeten erreicht. Als er an der Küste von Jod auf Land traf, war er krank und verletzt, und er hatte deshalb keine Zeit für fünfzigtausend Jahre sorgfältigen Nachdenkens und gründlicher Analyse, die unter den gegeben Umständen ratsam gewesen wären. Stattdessen hatte er das dringende Bedürfnis, dem, was von seinen Lebensprozessen noch übrig war, eine konkrete materielle Gestalt zu geben, damit diese Prozesse nicht vollständig erlöschen würden. Sie müssen begreifen, dass dem Einsiedlerkrebs jedwede Göttlichkeit vollkommen abging beziehungsweise abgeht. Genau wie wir war und ist er sterblich. In seiner ursprünglichen Gestalt hatte er sich nur für ein Dasein in den Ozeanen einer Sonne geeignet. Deshalb hatte er die Küste von Jod für völlig lebensfeindlich gehalten und war damit gezwungen gewesen, sich mit äußerster Schnelligkeit weiterzuentwickeln, um zu überleben. Da er weder ein Gott noch ein Teufel oder Dämon war, fehlte dem Einsiedlerkrebs die Fähigkeit, biologische Formen und Prozesse ex nihilo zu erschaffen, und er passte sich stattdessen an das an, was er in seiner Nähe vorfand. Der erste lebende Organismus, dem er begegnet war, war ein Krebs von jener Sorte gewesen, die nach dem Klassifizierungsschlüssel von Hindrix-Prodorgotz als Thorbakrodomon Rantharchardaliz bezeichnet wird. Deshalb passte sich der Einsiedlerkrebs an die Biologie dieses Tieres für seine eigenen Bedürfnisse an und lebte danach auf diese Weise an der Küste von Jod. Jahrtausende gingen vorüber. Während dieser Jahrtausende veränderte sich der Einsiedlerkrebs allmählich und nahm dabei diejenige Gestalt an, die er erlernt hatte. In der Natur erreicht Thorbakrodomon Rantharchardaliz keine besonders eindrucksvolle Größe. Ein typisches Exemplar verfügt bei Geschlechtsreife über einen Panzer, der kaum eine Fingerspanne misst. Der Einsiedlerkrebs fand es jedoch lästig, es bei dieser Größe zu belassen, da er häufig von Möwen attackiert wurde. Er radierte diese zwar aus, dank jener Kräfte, die Wahrscheinlichkeit zu modulieren, die er sich von seiner früheren Daseinsform bewahrt hatte. Möwen blieben jedoch eine ständige Bedrohung, weil selbst der Einsiedlerkrebs manchmal schlafen musste (beziehungsweise muss). Seite 2 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Die mit einem weichen Hinterleib ausgestatteten Gehäusekrebse, die in ausrangierten Muschelschalen wohnen, dürfen es niemals riskieren, über die Größe der zur Verfügung stehenden Rüstung hinauszuwachsen. Der Einsiedlerkrebs jedoch litt unter keiner derartigen Einschränkung, denn er war ein echter Krebs mit einem eigenen Exoskelett, das er absichtlich abstoßen konnte, wann immer er den Wunsch verspürte, seine Gestalt zu vergrößern. Deshalb war er in der Lage, seine Größe solange zu erhöhen, bis die räuberischen Angriffe der Möwen keine Gefahr mehr darstellten. Durch seine gesteigerte Größe wurden jedoch die Menschen auf ihn aufmerksam, die sich als größere Störenfriede erwiesen, als es die Möwen je gewesen waren. Viele Tragödien ereigneten sich in den langen Jahren, ehe es dem Einsiedlerkrebs gelungen war, die hiesigen Sprachen zu erlernen und seine Anatomie so zu modifizieren, dass er seine schlichten und verständlichen Wünsche (nach Ruhe und Frieden und einer anständigen Verpflegung) in Worte fassen konnte. Anschließend verlief das Leben reibungsloser. Und der Einsiedlerkrebs hatte die Muße, über weitere Veränderungen seiner biologischen Struktur nachzusinnen. Jede beliebige Gestalt wäre für den Einsiedlerkrebs eine Last gewesen, denn in seiner früheren Daseinsform hatte er sich Freiheiten erfreut, die wir kaum nachvollziehen können. Stellen Sie sich vor, Sie wären als Pflasterstein wiedergeboren worden und müssten es in einer solche Falle etliche Jahrtausende aushalten. Das sollte Ihnen eine Ahnung von dem vermitteln, was der Einsiedlerkrebs aushalten musste. Obwohl zwangsläufig jede Art von Gestalt hart zu ertragen gewesen wäre, erkannte der Einsiedlerkrebs, dass sich seine Frustration zumindest verringern würde, wenn er menschliche Gestalt annehmen würde. Das würde ihm Bewegungsfreiheit und gesellschaftlichen Umgang verschaffen, was beides unmöglich für ihn war, solange er im Panzer eines Krebses eingesperrt war. Unglücklicherweise scheiterten sämtliche Versuche des Einsiedlerkrebses, seine Struktur weiter zu modifizieren. Erste Gestalten sind wie erste Sprachen: einmal erlernt, ist es nahezu unmöglich, sie wieder zu verlernen. Am Ende erkannte der Einsiedlerkrebs, dass er keine zweite Gestalt erlernen konnte, ohne sich vorher von der ersten zu befreien. Er müsste sich einen Schritt von seinem Fleisch entfernen und einmal mehr (zumindest für kurze Zeit) als körperlose Modulation der Wahrscheinlichkeit in einer Umgebung existieren, die für eine solche Daseinsform völlig ungeeignet war. Das war theoretisch durchaus möglich; wenn er beschließen würde, zugunsten des Menschseins auf Krebsfleisch zu verzichten, dann hatte er eine Chance von mindestens 3 Prozent auf Erfolg. Und eine Chance von 97 Prozent, einen schnellen und schmerzhaften Tod zu sterben. Solche Erfolgsaussichten gefielen dem nahezu unsterblichem Einsiedlerkrebs überhaupt nicht, der deshalb an seiner zuerst gefundenen Gestalt festhielt. Und litt. Daher sein etwas brummiges Gemüt, seine philosophischen leidenschaftslosen Betrachtungen und seine eremitische Lebensweise. Das ist alles, was der Leser wirklich über den Einsiedlerkrebs wissen muss. Sein Name spielt streng genommen keine Rolle. Für das Protokoll sollten wir jedoch festhalten, dass einst der Zauberer Paklish auf Untunchilamon verweilt und sich lange Zeit mit dem Einsiedlerkrebs unterhalten hatte. (Wir meinen natürlich Hablos Paklish, den Philosophen, und nicht den brillianten, aber vom Pech verfolgten, Alkibiades Paklish, den MöchtegernZähmer von Drachen.) Der Philosoph Paklish war es gewesen, der dem Einsiedlerkrebs seinen Namen verliehen hatte, Codlugarthia, der im Janjuladoola von Süd-Yestron „Sohn des Donners“ bedeutete. Dieser Name war jedoch, wie Sie dem folgenden Text entnehmen können, im Jahr 4312 der Allianz ziemlich aus der Mode gekommen. Seite 3 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Eine redaktionelle Bemerkung zum Auftakt Dieser Text erweckt den Anschein, eine wahrheitsgemäße und korrekte Darstellung gewisser Ereignisse auf Untunchilamon zu sein. Da sich eine vollständige Überprüfung seiner Richtigkeit als unmöglich erwiesen hat, sind Studenten gut beraten, ihn mit Zurückhaltung zu behandeln. Ihn als vollkommene Wahrheit (oder gar als nichts als die Wahrheit) anzuerkennen, wäre überstürzt, gelinde gesagt. Ich bin in früheren Tagen höchstpersönlich in Untunchilamon und in Injiltaprajura unterwegs gewesen, nämlich während der Regierungszeit des verstorbenen Wazir Sin. Ich bin damals einigen derer begegnet, die in diesem Text mitwirken, insbesondere Justina Thrug (der späteren Kaiserin Justina), Aquitaine Varazchavardan (damals leitender Berater von Wazir Sin), und Nixorjapretzel Rat (damals ein eifriger junger Student, der sich ein paar Kupferstücke damit verdient hat, mir als Dolmetscher und Reiseführer zu Diensten zu sein). Ich habe auch die magischen Quellen für Dickel und Schlack gesehen, die auf der Insel Jod entspringen, auf der mir Ivan Pokrov die Analytische Maschine gezeigt hat. Seine Erläuterungen dieser Maschine sind äußerst dürftig gewesen; ich bleibe davon überzeugt, dass dieses Sammelsurium aus Titan-Zahnrädern keine kognitiven Fähigkeiten besitzt, und dass Pokrov ein Betrüger ist. Den Einsiedlerkrebs habe ich ebenfalls besucht, aber der hat nur gesagt: „Hau ab.“ Da ich einen Papagei mit einem weitaus umfangreicheren Vokabular besitze, bin ich davon unbeeindruckt geblieben. Aber ich schwöre bei meinen Fingernägeln, dass ich niemals irgendeine Erwähnung dieses Labyrinths aus Abwasserkanälen gehört habe, das angeblich Drunten existieren soll, oder dieses Dorgis und dieses Schäbbels, oder dieses mythischen „Goldenen Gulag“, den sich der Urheber dieses Textes ausgedacht hat. Solcherlei gehört mit Sicherheit ins Reich der Fantasie. In dieser Übersetzung haben wir nicht danach gestrebt, dem Fantastischen Würde zu verleihen mit Hilfe der Wissenschaft, die sowieso nur sagen könnte, dass das Geheimnisvolle geheimnisvoll ist; deshalb bleiben die Erwähnungen derartiger semantischer Gebilde wie beispielsweise „Zulzer“, „ionisierende Strahlung“, „Transponder“, „stimmliche Identität“ und „spektrale Analyse“ ohne kommentierende Fußnoten. Es wäre die Sache des Urhebers, uns mitzuteilen, welche wahre Bedeutung diese semantischen Gebilde haben (wenn sie denn überhaupt eine Bedeutung haben). Aus Gründen, die keine nähere Erläuterung benötigen (wir haben es hier nicht gerade mit antiker Geschichte zu tun, nicht wahr?), steht der Urheber höchstwahrscheinlich nicht für eine Vernehmung zur Verfügung. Vermutlich niemals. Mit tiefster Überzeugung wiederhole ich hier die ursprünglichen Schlussfolgerungen des Berichts, den ich dem Schlachtenrat nach der Rückkehr von meiner Erkundung Untunchilamons geliefert habe: es gibt auf dieser sonnenverbrannten Insel nichts und niemanden, das oder der in der Lage sein würde, uns wesentlich bei der Eroberung zu unterstützen. Eigenhändig verfasst an eben diesem Morgen des zwölften Tags des fünften Monats des 15436794. Jahres des Bürgerlichen Krawalls. Drax Lira. Chefredakteur Seite 4 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 1 Untunchilamon ist eine von roten Korallenriffen umgebene äquatoriale Insel, eine Insel voller Magie und Geheimnisse, die inmitten des Ozeans zwischen den Kontinenten von Argan und Yestron liegt. Wenn das unser Schauplatz ist, wie lautet dann unsere Geschichte? Sie werden schon viel über Untunchilamon gehört haben, in Sagen, Liedern, Chroniken oder Legenden, und Sie werden zweifellos erwarten, dass sich diese Erzählung mit dem Schicksal der berühmten Barden-Gemme dieser Insel beschäftigt. Aber das tut sie nicht. Die kostbare Barden-Gemme von Untunchilamon war einige Jahre vor dem Zeitpunkt gestohlen worden, an dem unsere Geschichte beginnt, weil sich damals nämlich eine Bande rücksichtsloser Seeräuber nach Injiltaprajura gewagt und die Schatzkammer geplündert hatte. Danach hatte das Schicksal die Barden-Gemme an einen anderen Ort verschlagen. In den Westen, genau genommen. Nach Argan. Aber diese Chronik wird Argan nicht berühren. Dieser Bericht beschäftigt sich stattdessen mit dem Wunschstein, also mit dem legendären Klunker, der das Zepter der Kaiserin Justina geschmückt hat, die in Injiltaprajura an die Macht gekommen ist, nachdem Lonstantine Thrug verrückt geworden ist (wieder ein guter Mann, den die Syphilis zerstört hat!) und man ihn in der Dromdanjerie eingekerkert hatte. Unsere Chronik beginnt im Jahr Justina 5. Um genau zu sein, beginnt sie in der Jahreszeit des Fistavlir, in der Zeit der Langen Dürre, wenn sich Windstille über Untunchilamon gelegt hat. Dann gibt es Wind entweder gar nicht oder nur zufällig, und die Niederschläge sind gleich Null. Nicht, dass dies das gute Volk von Injiltaprajura bekümmert, denn die Quellen, die Drunten entspringen, versorgen es mit all dem Wasser, das man sich nur wünschen kann, ja, mit mehr als das. Justina 5. Was für ein Jahr ist das? Nach der kosmischen Uhr des Bürgerlichen Krawalls ist es das Jahr 15436789. Nach dem heiligen Kalender des Goldenen Grabs ist es Jintharth 424. Die Anbeter des Winds bezeichnen es dagegen als das Jahr der getönten Wachtel, wohingegen es die Jünger des Goldenen Affen als Fen 4 von Asio 5699 kennen. Diejenigen, die sich in der Geschichte Yestrons auskennen, sollten beachten, dass Justina 5 das siebte Jahr des Talonsklavara ist, jenes verhängnisvollen Bürgerkriegs, der von Aldarch dem Dritten angestiftet worden ist. In Argan, weit entfernt im Westen Untunchilamons, halten Geschichtsforscher Justina 5 für das Jahr 4312 der Allianz, wohingegen es im nördlichen Kontinent von Tameran Khmar 5 heißt, was bedeuten soll, dass es das fünfte Jahr der Herrschaft des Roten Kaisers ist. Was dagegen die Ngati Moana, das Volk des Großen Ozeans, angeht – naja, nach deren Berechnungen ist es das Jahr des Fliegenden Fischs im 376. Zyklus der Generationen. Die Zeit ist also Justina 5. Der Ort ist Untunchilamon. Nachdem das also entschieden ist, wollen wir etwas mehr… Handlung in die ganze Sache bekommen. Wir wollen uns einmal die Stadt bei Nacht anschauen. Die Stadt? Injiltaprajura, natürlich. Es gibt auf Untunchilamon keine andere Stadt. Lernen Sie also diese Stadt kennen, Injiltaprajura, die Perle des Laitemata-Hafens – die man nicht mit jenem riesigen knöchernen Klotz, der seinerseits als Perle bezeichnet wird, verwechseln darf. Injiltaprajura, hell erleuchtet von Kerzen, Sternlaternen und dem blaugrünen Schimmer der mit Mondlack verzierten Mauern. Injiltaprajura ist eine Metropole von etwa 30000 Einwohnern. Die Stadt wird von dem Palast aus regiert, der auf den Höhen am landeinwärts gelegenen Ende der Lak-Straße steht, und dieses eindrucksvolle Gebäude aus rosa Marmor ist gegenwärtig das Heim der Kaiserin Justina. Der rosa Palast befindet sich an der höchsten Erhebung des Pokra-Kamms, jenes Halbkreises aus Felsgestein, der Injiltaprajuras urbanisierte Hafenseite von der Seite 5 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 nördlich gelegenen Wüstenseite trennt, wo man Baracken, Steinbrüche, Gräberfelder und zahlreiche Marktgärten vorfindet, wobei letztere hier dank der endlosen Wasservorräte gedeihen, die von Drunten geliefert werden. Wir wollen Injiltaprajuras Wüstenseite vorerst ignorieren, da die Hafenseite das virtuelle Monopol auf Leben und Handlung besitzt. Wir wollen an den Stufen des rosa Palastes beginnen, dann der Lak-Straße folgen, wie sie sich ihren Weg bergab windet, vorbei an den Häusern der Reichen und Mächtigen, vorbei an dem geheimnisvollen schiffsgroßen knöchernen Klotz, den die Einheimischen als Perle bezeichnen, und dann vorbei am Kabalenhaus der Wunderwirker von Untunchilamon. Wenn wir möchten, könnten wir an dieser Stelle einen Umweg machen. Wir könnten die Lak-Straße verlassen und uns auf den steil abwärts führenden Skindik-Weg wagen. Möchten wir das? Natürlich möchten wir das nicht! Denn würden wir es auf diese Weise wagen, uns hinein ins Elendsviertel zu begeben, würden wir unvermeidlich auf die Irrenanstalt stoßen, dann auf die gewaltige verfaulende Absteige, die man Ganthorgruk nennt, und dann schließlich auf das städtische Schlachthaus. Und jenseits davon? Noch schlimmere Sachen! Das Durcheinander aus Bruchbuden und Krabbelgängen, das Lubos heißt, was ohne Zweifel das übelste Stadtviertel ist. Dort würden wir so zwielichtige Leute wie den Leichenmeister Uckermark finden, schlafend inmitten des strengen Geruchs verwesenden Fleisches. Wir wollen uns daher nicht den Skindik-Weg hinab begeben. Stattdessen wollen wir damit weitermachen, unseren Weg die Lak-Straße hinab zu nehmen. Am Kabalenhaus vorbei. Aus dem Lärm und Licht herausdringt – ein Knall, dann ein Feuerwerk roter Funken. Was befindet sich darin? Ein Drache, vielleicht? Nein, nur die Wunderwirker selbst, die sich mit der Ausübung von Magie beschäftigen. Dieses Feuerwerk aus Funken ist, so hofft man, nichts als eine harmlose Begleiterscheinung ihrer Bemühungen. Was für Bemühungen, so fragen Sie, sind das eigentlich? Was genau machen die wirklich im Kabalenhaus? Nun ja, jedenfalls nichts wirklich Originelles. Die Wunderwirker von Injiltaprajura – das heißt, die in der Stadt ansässigen Hexer – beschäftigen sich mit dem Versuch, Blei in Gold zu verwandeln, was ein Kunststück darstellt, das theoretisch im Bereich ihrer Möglichkeiten liegt, aber in der Praxis schier unmöglich ist. Bisher haben die Experimente des heutigen Abends dazu geführt, dass die Wunderwirker Blei in Spaghetti verwandelt haben, oder in Spreu, Pfauenfedern, schwarzen Marmor, Moschus, den Kieferknochen eines Schakals, das mumifizierte Fleisch eines seit tausend Jahren verstorbenen Bogenschützen, Bimsstein, Salzwasser, Wachs und eine großen dicken Haufen von Teppichflusen. Gestern hatten sie es geschafft, die gleiche Substanz in Käse, Pyridin, Basalt und Sägemehl umzuwandeln. Und morgen – wer weiß? Die Wahrheit ist, dass die Kräfte der Hexer von Yestron im Vergleich zu denen der Zauberer von Argan nur drittklassig sind. Yestrons Wunderwirker sind zu eindrucksvollen Effekten fähig, aber ihnen fehlen die feinen Abstufungen zur Kontrolle ihrer Kräfte, zu denen die Zauberer in der Lage sind. Außerdem können Hexer (anders als Zauberer) keine Objekte erschaffen, die für sich selbst magische Kräfte oder verblüffende Eigenschaften besitzen. Obwohl ein Hexer einem Zauberer im Zweikampf ebenbürtig sein könnte (könnte!), können Hexer niemals die magischen Ringe herstellen, oder die verzauberten Tore, verhexten Flaschen, Zaubertränke, Elixire, Metzelschwerter, Flugstöcke und Feuergräben, die die Zauberer des Bunds in Argan erschaffen können. Ignorieren Sie also das Kabalenhaus der Wunderwirker und beobachten Sie stattdessen die Lak-Straße. Irgendetwas bewegt sich auf dieser Durchgangsstraße. Was ist es bloß? Was genau ist es, das unsere Aufmerksamkeit gewonnen hat? Es ist nicht die schräggestreifte Schlange, die soeben aus einem Abflussloch gleitet. Es ist auch nicht der winzige Jadeknopf, der neben diesem Abflussloch liegt, ein Knopf, der an Troldot Seite 6 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Turbothots Paradeuniform befestigt gewesen war, ehe ihn ein Möchtegern-Taschendieb bei einer kurzen Rempelei abgetrennt hatte. Unsere Aufmerksamkeit hat sich auch nicht auf den toten Hund (derzeit noch nicht von Kadaverfressern verspeist) gerichtet, der die Aasschlange ins Freie gelockt hat. Nein, der Gegenstand unseres Interesses ist Prinzessin Sabitha. Unterwegs in der Nacht, unterwegs in der Stadt, unterwegs auf der Suche nach Beute. In der Hoffnung (Erwartung!), verführt, gepackt und unterworfen zu werden, um – na schön, wir wollen die Sache mit der Unterwerfung lieber unserer Vorstellungskraft überlassen. Zumindest vorübergehend. Und während unsere Vorstellung trotzdem ihre Arbeit verrichtet, wollen wir Prinzessin Sabitha zusehen, die beschwingt ausschreitet, obwohl die Nacht heiß genug dafür ist, Moskitos in ihrem eigenen Schweiß zu ertränken. [Ich habe mich persönlich der Mühe unterzogen, fünfzig Moskitos zu erwerben, die ich in eine versiegelte Retorte gegeben habe. Der Versuch, diese vampirischen Reptilien einem steigenden Grad von Hitze zu unterwerfen, um ihnen einen Ausbruch von Schweiß zu entlocken, sorgte am Ende nur für deren völlige Austrocknung mit Todesfolge, schaffte es aber nicht, irgendeinen sichtbaren Ertrag von Feuchtigkeit hervorzubringen. Die notwendige Schlussfolgerung lautet demzufolge, dass die Selbstzerstörung der Moskitos durch den im Text angedeuteten Mechanismus unmöglich ist, was darauf schließen lässt, dass der Urheber sich hier im Irrtum befindet, beziehungsweise, dass er absichtlich die Unwahrheit sagt. Oris Baumgage, niederrangiger Faktenprüfer.] Was wissen wir über Prinzessin Sabitha, diese vergnügte junge Aristokratin? Folgendes wissen wir: sie war nicht auf der Insel von Untunchilamon geboren worden. Nein, sie war weit im Osten, in Yestron, geboren worden. Um genau zu sein: sie war in Ang geboren worden. Bei noch größerer Genauigkeit können wir ihre Herkunft der Stadt Obooloo zuordnen, mitten im Herzen des Izdimir-Reichs. Ihr voller Name lautete Sabitha Winolathon Taskinjathura. Sie war eine Nachfahrin des berühmten Ousompton Ling Ordway, dessen Abstammungslinie in allergrößter Ausführlichkeit in Lady Jades Buch der Höheren Aristokratie beschrieben worden ist, und sie konnte auf diese Weise ihre Ahnen mindestens dreitausend Jahre oder so zurückverfolgen. Das Walten des Schicksals hatte Sabitha zu gegebener Zeit nach Untunchilamon gebracht. Wie es ihrem königlichen Stand gebürte, war sie im Palast der Kaiserin Justina beheimatet. Dank der schludrigen Weise, in der der Palast organisiert war, hatte unglücklicherweise niemand die notwendigen Anordnungen getroffen, um für ihre angemessene Unterhaltung zu sorgen. Tatsächlich kümmert man sich weitaus mehr um Justinas viel zu sehr verhätschelten Albino-Affen Vazzy. Während all der Zeit, in der die Prinzessin schon im rosa Palast wohnhaft gewesen ist, hat es niemand für angebracht gehalten, diese Situation zu bereinigen. Ihr steht es deswegen frei, zu kommen und zu gehen, wie es ihr gefällt, ohne eine einzige Aufpasserin. Folglich ist sie in der Nacht, in der unsere Chronik beginnt, ganz allein in den Straßen von Injiltaprajura unterwegs. Bei Tageslicht schaut sie durch und durch wie eine junge Königin aus, die sich für ihre Bewunderer herausputzt, die sich auf vornehme Weise an frischem Fisch oder an Weinschaum gütlich tut, und die jedwede Komplimente und Aufmerksamkeiten (die ihr von Rechts wegen sowieso zustehen) so entgegennimmt, wie sie ihr über den Weg laufen. Aber jetzt ist es Nacht, und sie ist unterwegs, um etwas zu erleben. Sie ist heiß, heiß, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Sie hat den wiegenden Gang einer Dirne, und ihre gelblichen Augen brennen vor gleißender Lust, als sie die Lak-Straße verlässt, um sich den Skindik-Weg hinabzuwagen. Rasch erreicht sie die verwahrlosten Tiefen von Lubos. Sie zögert dort keinen Augenblick, sondern taucht unbekümmert hinein ins Rotlichtviertel. Man erwartet solche Dinge nicht von der Aristokratie. Aber so ist es nun einmal. Man soll bei der Wahrheit bleiben, und die unauslöschliche Wahrheit ist die, dass sie ohne die geringste Spur von Scham auf der Suche nach sexueller Befriedigung ist, wobei sie auf der Straße ungeniert zeigt, was sie zu bieten hat, bereit (mehr als bereit!) für das erste männliche Wesen, das genügend Energie besäße, sie zu nehmen. Sie ist noch nicht weit im Morast des in Hafennähe gelegenen Elendsviertels vorangekommen, als sie dort auf einen mannhaften jungen Seemann trifft. Er ist ein frisch mit einem Schiff angekommener Matrose, ein räudiger Straßenkämpfer, der nur noch ein Ohr hat. Er heißt Hunk, und er ist über die Gewässer des Großen Ozeans von Yam bis Manamalargo gesegelt. Er hat die grausamen Klippen von Odrum gesehen, die Dschungel von Quilth, die sturmgepeitschten Küsten von Wen Endex und das durchsichtige Wasser im Hafen von Parengarenga. Seite 7 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Er hat schon die exotischen Vergnügungen von tausend Häfen gekostet, und doch ist er bereit für mehr. Außerdem genügt schon der faszinierende Zauber seines Pimmels, um Prinzessin Sabitha zu überzeugen, dass er der Richtige ist. Denn wenn der Appetit das Fleisch ausreichend aufstachelt, werden Fragen der Klasse, des Anstands und der Vorsicht einfach aus dem Fenster geworfen. So trifft Hunk also auf Sabitha, und in der Art aller idiothermischen1 Tiere voll heißer Wollust beschließen sie ohne Vorbereitung oder Vorrede, sich jener interessanten Tätigkeit hinzugeben, mit der sich der gelehrte Arwin in erschöpfender Ausführlichkeit in seinem fünfbändigen Meisterwerk Über die Erzeugung der Gattungen beschäftigt. Doch ehe noch genetische Daten (oder biologische Sekrete mit ihren begleitenden Krankheiten) von einem zum anderen übertragen werden können, wird das Möchtegern-Liebespaar durch die Ankunft einer Erscheinung mit wahrlich eindrucksvollem Aussehen gestört. Es ist ein Ding, das in nachtfinsterer Höhe neben dem Giebel der nächstgelegenen Spelunke schwebt. Ein kugelförmiges Ding in der Größe einer Faust. Es knistert vor lauter elektrischen Feldern in geschwürblauen und lieblich leichengelben Farben. Dann spricht es zu ihnen mit einer Stimme, die sich anhört wie eine Mischung aus Blechblas- und Schlaginstrumenten, und zwar mit den Worten: „Ich bin der Dämonen-Gott Lorzunduk. Sehet mich an! Und erkennet euer Verderben!“ Woraufhin die Prinzessin Sabitha maunzend entflieht. Hank weicht nicht von der Stelle. Sein Rücken wölbt sich, seine Haare stehen ihm zu Berge, und er zischt und faucht wie ein Wilder, während die Erscheinung allmählich nach unten sinkt. Dann versagen seine Nerven, und er flieht ebenfalls. Was freilich auch in Ordung ist. Wäre das Liebespaar nicht auf diese Weise vor dem Vollzug seiner Leidenschaft getrennt worden, hätte diese Chronik auf irgendeine Weise besagten Vollzug ansprechen müssen. Was bedauernswert gewesen wäre. Denn dieses Werk richtet sich an den gebildeten Leser, und gebildete Leser sind per Definition mehr am Leben des Intellekts als am Leben des Organismus interessiert, wobei das Leben des besagten Organismus sich im Wesentlichen ständig wiederholt (stimmt’s etwa nicht?) und deshalb langweilig ist. Wir sollten deshalb froh sein, dass wir nicht gezwungen sind, unsere Zeit damit zu verschwenden, uns Gedanken über einen wenig originellen Akt zu machen, bei dem Frösche, Jungvermählte und Schmeißfliegen gleichermaßen kompetent sind. Wir wollen froh sein, dass wir hier keine Schilderung einfügen müssen (die zweifellos von jenen überblättert oder ungeduldig übersprungen würde, die auf der Suche nach größeren Offenbarungen wären), über den vibrierenden Schrei des Vergnügens, mit dem Prinzessin Sabitha den fest zustoßenden Hunk in ihrem Körper aufnimmt, über die Kraft seines Stoßes, der ihn tief eindringen lässt in den feuchten Samt ihrer festen und doch zarten… Naja, Sie kennen ja den Rest. Jedenfalls kehren wir nun wieder zu unserer Chronik zurück. Beide Katzen sind vor Schreck geflohen. Doch die leuchtende Kugel schwebt dort immer noch in der Luft. Kichernd. Diejenigen von Ihnen, die selbst schon in Untunchilamon gewesen sind oder die diesen Ort vom Hörensagen kennen, haben vermutlich bereits erraten, dass die leuchtende Kugel niemand anderes als Schäbbel ist. Schäbbel? Jawohl, Schäbbel. 1 engl. idiothermous, warmblütig Seite 8 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Schäbbel! Schäbbel!“ kreischen die Kinder aus Gewohnheit, während sie sich gegenseitig auf der Straße jagen. „Schäbbel, los, spiel’ mit uns! Schäbbel, Schäbbiful, Jäbbiful, Schäbbajäbbalantiful.“ Und manchmal macht das Schäbbel sogar. Oder, falls er einmal nicht in der Stimmung ist, Katzen zu scheuchen, dann mag sich Schäbbel auch dazu herablassen, seinem Schäbbel-Selbst mit einem Kätzchen zur Freude eben dieses Kätzchens Vergnügen zu bereiten. (Schäbbel-Selbst? Es selbst. Er selbst. Sie selbst. Suchen Sie sich willkürlich oder zufällig einen Ausdruck aus – und Sie werden mindestens ebensoviel über Schäbbels seelische Verfassung wissen wie die sogenannten Fachleute.) Schäbbel, also. Dem Aussehen nach eine Miniatursonne, obwohl seine Färbung dazu neigt, wechselhaft und eigenwillig zu sein. In der Stimme exzentrisch, wobei er willkürlich in jedem Dialekt sprechen kann, den man jemals auf Untunchilamon gehört hat, selbst in jenem unbestimmbaren fremdländischen Dialekt, dem sonst nur der Beschwörer Odolo seine Stimme verleiht. Unverantwortlich in seinem Verhalten, denn Schäbbel nimmt kaum Rücksicht auf irgendwelche Konsequenzen. Das ist Schäbbel. Während Schäbbel dort immer noch in der Luft schwebt, ereignet sich ein bedauerlicher Vorfall. Es gibt einen massiven Abfluss von Energie, der sich in ganz Injiltaprajura auswirkt. Lichter verdunkeln sich. Feuer gehen aus. Kerzen verlöschen. Dann spürt Schäbbel, zu Schäbbels Entsetzen, dass Etwas versucht, Besitz von Schäbbels eigener Energie zu ergreifen. Schäbbel quiekt vor Angst und flieht hinab ins nächstgelegene Abflussrohr. Das Abflussrohr führt (naturgemäß) nach Drunten. Drunten! Dort unten lauern entsetzliche Schrecken, und Schäbbel fürchtet sich schrecklich vor ihnen. Doch die Alternative heißt Tod. Und deshalb flieht Schäbbel. Wir in unserem sterblichen Fleisch, die niemals mehr als eine Haut vom Schmerz entfernt leben, neigen freilich dazu, Schäbbel für einen leichtsinnigen Unsterblichen zu halten. Aber obwohl es feststeht, dass Schäbbel länger und ungefährdeter als jeder von uns lebt (denn Schäbbels Körper ist eine Sonne natürlicher Größe, die sich in ihrem eigenständigen Universum befindet und mit dem hiesigen Kosmos nur mittels eines raffinierten Transponders verknüpft ist, der äußerlich wie die Miniaturausgabe einer Sonne aussieht), doch selbst Schäbbel kann verletzt werden und ist auch schon verletzt worden. Es ist schwierig, Schäbbel zu verletzen, aber die Therapeuten des Goldenen Gulag haben gewusst, wie man das macht. Oh ja! Sie haben gewusst, wie man das macht, und gelegentlich haben sie ihre Theorie auch praktisch erprobt. Die Therapeuten? Der Goldene Gulag? Beide werden auf ihre eigenen Chroniken warten müssen. Denn dies ist bloß eine bescheidene Erzählung, die sich nur mit ein paar wenigen Tagen im Leben Untunchilamons befasst, nämlich mit dem Kampf um den Wunschstein und mit dem Schicksal einiger Wunderwirker (und anderer), die in diesen Kampf verwickelt worden sind. Dies ist also nicht das Omnium2, das der literarische Theoretiker Sinja Larthelme ersonnen hat, also der Mann, bei dem diejenigen, die sich selbst für klug halten, so tun müssen, als ob sie ihn in hohen Ehren halten würden. In diesem Bericht werden viele Dinge kurz gestreift, die „Du selbst höchstpersönlich auf gelehrte Weise weiter erforschen musst, wenn Du mehr darüber zu wissen wünschst,“ wie Eric der Weise der Legende nach zu dem übertrieben tapferen Uri gesagt hatte, anlässlich ihres berühmten Streitgesprächs außerhalb der berüchtigten Stinkhöhlen von Logthok Norgos (in die sich der fröhlich lächelnde Uri schließlich ganz allein hineingewagt hatte und dort vielleicht noch immer herumirrt, nach allem, was wir darüber wissen). 2 das „Große Ganze“, hier vielleicht sinngemäß: eine alles umfassende Darstellung Seite 9 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 [Der Goldene Gulag, den der Urheber hier erwähnt, scheint seine eigene Erfindung zu sein. Trotz seiner oben gemachten Aussage verfeinert der Urheber später diese Erfindung auf ausführliche Weise, wobei er im Verlauf dieser detailierten Darstellung behauptet, die Wahrheit zu enthüllen, die sich hinter den Schleiern aus den Tagen des Zorns verbirgt. Eine gründliche Durchsuchung der Archive bezüglich einer Übereinstimmung mit diesen Geschichten über den Gulag enthüllt keinerlei Angaben, die hierzu passen würden. In Wahrheit weiß die gesamte Wissenschaft praktisch nichts über die Existenzweise der Menschheit vor den Kriegen in den Tagen des Zorns. Dieser Einschub erfolgt auf Anweisung des Ober-Archivars Indorjed.] [Auch ein Leichtgläubiger sollte bemerkt haben, dass es selbst die unablässigen Bemühungen der weltbesten Gelehrten nicht geschafft haben, zumindest ein bestimmtes Datum für die Tage des Zorns festzulegen, geschweige denn mehr. Man nimmt üblicherweise an, dass sie sich zwischen 9000 und 20000 Jahren vor unserer Gegenwart ereignet haben; man ist sich üblicherweise darin einig, dass keine genauere zeitliche Bestimmung möglich ist. Die luftige Genauigkeit des Urhebers sollte man vor diesem Hintergrund bewerten. Dieser Einschub erfolgt auf Anweisung des Ober-Chronologen Than.] [Hier sind siebzehn fadenscheinige Einschübe verschiedener Verfasser gelöscht worden. Man könnte fast meinen, dass einige Leute solche Einschübe um ihrer selbst willen schätzen. Dass einige Leute beruflichen Erfolg an der Erzeugung von Quantität statt Qualität festmachen wollen. Die übertrieben ehrgeizige jüngere Generation muss lernen, dass, sowohl in der Wissenschaft als auch in anderen Bereichen, Kontinenz eine Tugend darstellt. Auf Anweisung des Ober-Zuchtmeisters Jonquiri O.] Also gut. Sie haben den Beginn unserer Chronik gesehen. Eine nicht näher bezeichnete unheilvolle Macht – höchstwahrscheinlich ein grauenhafter Dämon, der gerade dabei ist, von der Welt des Jenseits aus in unsere arglose und ahnungslose Welt einzudringen – hat Injiltaprajura einem massiven Abfluss von Energie unterworfen. Schäbbel, dieser hellstimmige Sonnenimitator, ist gezwungen gewesen, nach Drunten zu fliehen, damit dieser Abfluss von Energie Schäbbels Leben nicht vollständig beenden würde. Was nun? Naja, jetzt beginnt die Erzählung vom Wunschstein und von den Wunderwirkern, die von nun an bis zum Ende vonstattengeht. Sie kennen die Kulisse und den Handlungsspielraum. Wenn Sie demnach unsere Chronik Ihrer Aufmerksamkeit würdig erachten, so lesen Sie weiter. Falls nicht, dann soll Sie der Pesthauch von einer Million toter Skorpione umfangen, dann soll das Sumpffieber die nächsten fünftausend Jahre Ihre Knochen quälen, dann sollen mastixfarbene Würmer aus Ihren Ohren quellen, und dann soll Ihr Fleisch verfaulen, bis es weich wie eine Mango wird, die sich einen Monat lang in einem Komposthaufen verirrt hat. Und dann sollen Sie auf ewig im Haus ihrer Schwiegermutter wohnen. Seite 10 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 2 Chegory Guy war ein Messerkämpfer. Vielleicht ist das nicht völlig richtig. Wenn man bei der vollen Wahrheit bleiben soll, dann hat er sich in seinem ganzen Leben noch nie an einem Messerkampf beteiligt. Dennoch ist es überhaupt nicht irreführend, ihn als Messerkämpfer zu bezeichnen, weil er eine Anzahl von Klingen besaß und darin ausgebildet worden war, jemanden damit umzubringen. Außerdem trainierte er täglich mit seinen Waffen, um sich darin zu üben, Finten vorzutäuschen, seine Stellung zu wechseln, aufzuschlitzen und in Scheiben zu schneiden, zuzustechen und abzuhacken. Sobald Sie das erst einmal wissen, werden Sie nicht überrascht sein, wenn Sie hören, dass er von den Ebrellen stammt. Diese Leute sind freilich berüchtigt für ihre Gewaltbereitschaft. Derartige Verallgemeinerungen sind, sagen zumindest die Ashdan-Liberalen, widerlich, unwahr und irreführend; dennoch wäre es schwer, ohne sie der Welt einen Sinn geben zu wollen, und im Fall von Chegory Guy sind sie sogar äußerst sinnvoll. Dieser gefährliche junge Mann lebte in der schönen Stadt Injiltaprajura (oder sollen wir sagen: in der in den Farben des Blutsteins3 getönten Stadt Injiltaprajura?). Genau genommen hatte er seinen Wohnsitz in der Dromdanjerie. Die Dromdanjerie. Was und wo? Was ist einfach. Die Dromdanjerie ist die Irrenanstalt von Injiltaprajura. Sie ist ein riesiges Gebäude, das man mit dem hiesigen Blutstein von Untunchilamon erbaut hat. Sie besitzt 2 Küchen, 27 Duschen, 44 Stinklöcher, 6 Hochsicherheitszellen und 19 Schlafsäle. Man hat eine der vielen Quellen, die Drunten entspringen, direkt mit dem Rohrsystem des Hauses verbunden. Das sorgt für unbegrenzt frisches (trinkbares!) Wasser in den Duschen mit ihren Böden aus glänzenden grünen Fliesen, in den Waschräumen, in den Küchen mit ihren farbenprächtigen Darstellungen von Blumen im Sonnenschein, und zum Schrubben jener verdreckten Schlafsäle, die so trostlos in den Anstaltsfarben Braun und Grau gestrichen sind. Also die Dromdanjerie. Was ist damit? Erscheint Ihnen meine Vertrautheit mit diesem Ort zu intim? Wenn das der Fall ist, dann sollten Sie Folgendes zur Kenntnis nehmen: die Brin halten mich für ausreichend normal. Aber was ist schon „normal“ für jemanden, der Silizium metabolisiert, so wie es die Brin tun? Aber egal. Genug davon. Wir wollen nicht wieder darauf zurückkommen. Wir wollen lieber zu Chegory Guy zurückkommen. Und zur Handlung: Während Schäbbel ein Abflussrohr hinabgeglitten war, um dem gewaltigen Abfluss von Energie zu entkommen, der Schäbbel-Selbst in dessen bloßer Existenz bedrohte, erwachte gerade die Dromdanjerie. Alle Lichter waren erloschen, was viele aufweckte, die nicht im Dunkeln schlafen konnten. Sie brüllten, als ob sie Säure verschluckt hätten. Sie tobten, als wären sie soeben aus der Hölle zurückgekehrt. Das brachte die meisten anderen dazu, ebenfalls mitzumachen. Die Hunde im Tempel der Hundeanbeter auf der Rückseite der Dromdanjerie begannen zu bellen und zu jaulen. Bei diesem Lärm, der sich zu einer unerträglichen Lautstärke aufschwang, erwachte die Belegschaft der Dromdanjerie. Chegory Guy gehörte nicht zur Belegschaft (er war in Wahrheit ein Steingärtner, der auf der Insel Jod arbeitete), aber da er sich im Quartier des Dienstpersonals aufhielt, wurde er von dem Getöse ebenfalls geweckt. Er fachte das Feuer an, half dann, die Laternen dutzendweise anzuzünden (beziehungsweise neu zu entzünden). Jon Qasaba nahm das erste Dutzend und trug sie auf einem Bablobrokmadorni-Stock mit großen Schritten hinein in die Tiefe des Tollhauses. Guy belud einen zweiten Bablobrokmadorni-Stock für Qosabas Tochter. Olivia. Olivia Qosaba. Die Frau mit den ungewissen Launen, in einem Augenblick noch ein verspieltes junges Mädchen, doch gleich darauf eine erfahrene eiskalte Dame, so unnahbar und distanziert wie die Sterne. Ein 3 Hämatit Seite 11 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 weibliches Geschöpf, das unter jener Verwirrung des Blutes litt, die ein Mädchen überkommt, das dabei ist, eine Frau zu werden. Für diese Verwirrung gibt es verschiedene Anzeichen, wobei zu den deutlichsten der Hang zählt, Türen zuzuschlagen, sowie die Neigung, bei jedem Anlass in Tränen auszubrechen, auch wenn jener eigentlich nicht mehr als (allerhöchstens) einen kurzen finsteren Blick hervorrufen sollte. Chegory Guy war zumindest teilweise für ihre gefühlsbedingte wechselhafte Wetterlage verantwortlich. Was hatte er verbrochen? Er war einfach da! Das reichte schon völlig. Manchmal wünschte sich Olivia, wie ein Junge, der mit einem Gleichaltrigen spielt, mit ihm herumzutollen, um so ganz einfach der Lebensfreude und der natürlichen Überschwänglichkeit der Jugend Ausdruck zu verleihen. Bei anderen Gelegenheiten stellte sie sich ihn als glühenden Verehrer vor, in dessen Armen sie in einen verzückten Wachtraum der Leidenschaft fallen könnte. So oder so enttäuschte Chegory sie, denn er wurde täglich abweisender. Warum? Weil er ein feines Gespür für seine eigene Sicherheit hatte. Er ahnte ihre Verwirrung. (Er ahnte sie nur – aber die meisten anderen Leute in Qasabas Haushalt hatten überhaupt keine Ahnungen für diese Verwirrung nötig, da sie in allen Tätigkeiten des Mädchens sowieso deutlich zu erkennen war.) Er hatte Angst, dass, falls er sie zu nahe an sich heranlassen würde, sie eines Tages weiter gehen würde, als sie eigentlich bereit dafür war, und dann herumkreischen würde, sie wäre vergewaltigt worden. Oder aber, dass sie sich praktisch überhaupt nicht auf ihn zubewegen würde, so dass er schließlich selbst der Versuchung nachgeben und sie tatsächlich vergewaltigen würde. Wieso nahm dieser junge Mann diese Sache mit der Vergewaltigung so wichtig? Er war keiner jener ernsten jungen Philosophen, die im Alter von achtzehn Jahren eine Phase gewissenhafter Askese durchmachen. Nein – es war sein Überlebensinstinkt, der sein Fleisch beherrschte. Chegory Guy war, wie wir schon gesagt haben, ein Ebrellianer. Zumindest von seiner Erziehung her, obgleich nicht von seiner Geburt. Jawohl, denn obwohl Chegory Guy auf Untunchilamon geboren worden war, stammten beide seiner Eltern von den Ebrellen. Nun sind die Ebrellianer ja eine Rasse von Säufern, Messerkämpfern und Hurenböcken, die mit einer vererblichen Neigung zu liederlichen Ausschweifungen gestraft ist. Sie zweifeln daran? Sind Sie vielleicht einer dieser Ashdan-Liberalen, die die Meinung vertreten, dass vererbliche Merkmale nichts als Illusion seien, und die daran glauben (oder die zumindest behaupten, das zu glauben), dass alle Dinge für alle Leute möglich seien? Lesen Sie weiter! Und Sie werden erleuchtet werden. Die Ebrellianer waren lange Zeit eine lästige Minderheit auf Untunchilamon gewesen. Sie waren schon immer größtenteils arbeitslos gewesen. Glücksspiel, Drogenmissbrauch, Gewalttätigkeiten und Geschlechtskrankheiten grassierten unter ihnen. Üblicherweise waren sie an Schmuggeleien beteiligt, an Diebstählen, Prostitution, Erpressungen und organisierten Verbrechen. Sie waren wie ein krebsartiges Geschwür der Zivilisation. Als Chegory Guy erst neun Jahre alt gewesen war, hatte der weise und edelmütige Wazir Sin deshalb ein Pogrom gegen diese Ebbies durchführen lassen. Das Gemetzel war äußerst gründlich gewesen, und nur ein paar wenige dieser Untermenschen hatten in die Wildnis fliehen können. Unter diesen wenigen befanden sich der neunjährige Chegory Guy, sein Vater, sein Onkel Dunash Labrat und sein Cousin Ham. Seltsamerweise war es mit dem Abschlachten der Ebrellianer nicht gelungen, Arbeitslosigkeit, Verbrechen und Prostitution in Injiltaprajura zu beenden. Wazir Sin war verärgert. Er kam zu der Erkenntnis, dass er noch nicht weit genug gegangen war. Also entwarf er ein Säuberungsprogramm. Zuerst wollte er ausnahmslos jeden Ebbie zur Strecke bringen, der in die Wüste geflohen war. Dann wollte er die wenigen Überlebenden vom Volk der Dagrin (den Ureinwohnern von Untunchilamon) abschlachten. Dann wollte er die Krüppel töten, die Geisteskranken, die Mutanten, und jeden im Alter über Siebzig. Dann wollte er… Aber es ist zwecklos, weitere Einzelheiten dieses edlen Experiments zu schildern, denn es sollte nichts daraus werden. Bevor der fromme Wazir Sin sein visionäres Programm in Kraft setzen konnte, warfen die Gräuel des Talonsklavara das Izdimir-Reich über den Haufen. Der Yudonische Ritter Lonstantine Thrug machte sich diese Verwirrung zunutze, stürzte den arglosen Sin und ließ jenen aufrechten Reichsdiener anschließend ermorden. Zwei Jahre später wurde Thrug selbst in der Dromdanjerie eingesperrt, weil seine zunehmende Geisteskrankheit einen Punkt erreicht hatte, an dem sie nicht mehr zu leugnen gewesen war. Seine Tochter Justina setzte sich selbst auf den Thron in dem mit einem Glockenturm versehenen Palast am oberen Ende der Lak-Straße und ließ eine derart umfassende Begnadigung verkünden, dass sich deren Bestimmungen selbst auf die paar wenigen übriggebliebenen Ebrellianer erstreckten. Seite 12 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Einige der Ebrellianer, die bisher in der Wildnis überlebt hatten, kehrten nach Injiltaprajura zurück. Dunash Labrat kehrte heim, um sein Anwesen wieder in Besitz zu nehmen, das während seiner Abwesenheit von seiner Ehefrau verwaltet worden war. Obwohl Chegory Guys Vater im Kerngebiet der Skorpionswüste geblieben war, war Chegory selbst zusammen mit seinem Onkel (dem zuvor erwähnten Dunash Labrat) nach Injiltaprajura zurückgekehrt und hatte eine Ausbildung als Imker begonnen. Diese wurde abgebrochen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass der junge Chegory auf die Stiche der Bienen allergisch reagierte. Danach nahm er verschiedene Formen unregelmäßiger Beschäftigung an, bis es ihm schließlich gelang, eine feste Anstellung auf der Insel Jod an Land zu ziehen. Auf Jod lernte Chegory Ivan Pokrov kennen, und folglich begegnete er auch Pokrovs Freund Jon Qasaba. Einem Ashdan. Einem Ashdan-Liberalen, genau genommen. Jon Qasaba und seine Schwägerin Artemis Ingalawa hielten die Zivilisierung von Chegory Guy für ein Vorhaben, das ihrem hoffnungslos optimistischen liberalen Geschmack entsprach. Bei diesem Experiment der Zivilisierung arbeiteten sie mit Ivan Pokrov zusammen, indem sie Chegorys Arbeitstag so regelten, dass er bereits mittags zu Ende war, damit er den ganzen Nachmittag hindurch studieren konnte, obwohl er weiterhin seinen Lohn von Jods Analytischem Institut bezog. Bald darauf zog Chegory zu Jon Qasaba ins Quartier des Dienstpersonals in der Dromdanjerie und wurde so zu täglichen Begegnungen mit der mannbaren Olivia gezwungen. Ist es überhaupt notwendig, die Gründe für Chegorys Vorsicht noch näher auszuarbeiten? Er war das Mitglied einer verachteten Minderheit, die unlängst auf Untunchilamon beinahe bis zur völligen Ausrottung verfolgt worden war. Wegen seiner Rasse würden die Leute von ihm erwarten, dass er vergewaltigen, töten, betrügen, stehlen und lügen und sich außerdem den schlimmsten Formen von Drogenmissbrauch hingeben würde. Deshalb benahm er sich immer nur mit allergrößter Vorsicht, vermied kompromittierende Situationen und zeigte Olivia seine Krallen. Dieses köstliche junge Fräulein, das zumindest auf Freundschaft aus war (und manchmal glaubte, dass es vielleicht auf mehr aus war), fand seine Distanziertheit nur schwer erträglich. Mittlerweile fragen Sie sich vielleicht: Wie werden solche Dinge bekannt? Wie ist diese Dynamik in Chegorys Beziehung zu Olivia entdeckt worden? Wie können wir sicher sein, dass es genau so stattgefunden hat, wie es hier steht? Naja, natürlich deshalb, weil es so etwas wie Klatsch und Tratsch gibt. Sie müssen sich klarmachen, dass Anstalten (Gefängnisse, Kasernen und Irrenhäuser) ausgezeichnete Orte für Klatsch und Tratsch sind, weil es dort innige Vertrautheit gibt, vertrautes Beisammensein, freie Rede der Geschwätzigen vor derart vertrauten Leuten, dass diese unsichtbar geworden sind, und weil dort Zeit dafür ist. Zeit, um über kleine Hinweise nachzudenken, um sich auf bruchstückhafte Informationen seinen Reim zu machen. Und selbst wenn die meisten Zeugen dieser Ereignisse auch wahnsinnig wären, was wäre schon dabei? Die intellektuellen Kräfte der Geisteskranken sind nicht schwächer als die jener Leute, die närrisch genug sind, sich mit ihrer jetzigen Lage abzufinden. Sie bezweifeln das vielleicht. Aber denken Sie doch einmal nach! Angenommen, eine Person hat etwas Abscheuliches getan. Angenommen, eine Person hat den Bruder einer anderen Person vergewaltigt, einen Tempel niedergebrannt, eine halbe Million Drachen veruntreut oder endlich die Rechnung mit ihrer Schwiegermutter beglichen. Was ist klüger? Sich der Gnade des Gerichts zu unterwerfen und dafür hingerichtet zu werden? Oder zu entdecken, dass man in Wahrheit geisteskrank und nur deshalb straffällig geworden ist, weil man beispielsweise in früher Jugend von einem Goldfisch erschreckt worden ist? Glauben Sie mir, solange jemand nicht wirklich verrückt ist, erfordert es eine Menge planerischer intellektueller Disziplin, um den Wahnsinn angesichts der unerbittlichen Untersuchungen jenes gelehrtesten aller Therapeuten, Jon Qasaba, aufrechtzuerhalten. Angenommen, eine Person ist wieder einmal in das Sprechzimmer der Dromdanjerie gerufen worden, um sich dort dem respekteinflößenden Qasaba zum zehnten Gespräch in ebensovielen Tagen zu stellen. Der ständig auf neue Ideen kommende Ashdan glaubt, dass er endlich einen Anhaltspunkt gefunden hat, der das Verhalten dieser Person erklären wird. Er tritt ein. Er setzt sich hin. Er durchblättert einen großen Stapel von Notizen, Beobachtungen und mühsam ausgearbeiteten Vermutungen. Dann schaut er einem in die Augen (er weiß immer noch nicht, dass mein Volk einen solchen Auge-in-Auge-Kontakt für äußerst unhöflich hält), und dann sagt er: „Warum hast du eine Axt verwendet, um deine Schwiegermutter umzubringen?“ Seite 13 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Weil ich sie töten wollte.“ „Ja, ja, das weiß ich schon. Aber warum eine Axt? Warum ausgerechnet dieses Werkzeug und nicht ein anderes?“ Was soll man angesichts einer solchen Frage tun? Die natürliche Reaktion darauf wäre es, einfach zu lachen. Oder einen der Scherze auszusprechen, die einem so schnell auf der Zunge liegen: „Was hätte ich denn sonst nehmen sollen? Einen Zahnstocher vielleicht?“ Aber man kann weder das eine noch das andere tun, wenn man wohlbehalten bleiben will. Von Verrückten erwartet man, dass sie ernsthaft und frei von Witz sind. Und deshalb: wird die Wahrheit genügen? Nein. Denn die Wahrheit ist zu schlicht. Es ist ein Vergnügen, ein pures Vergnügen gewesen, die Schlampe zerstückelt zu sehen, ihren Schädel wie eine verfaulte Kantalupe4 platzen zu sehen, die großen Blutklumpen zu sehen, die… [Hier ist ein Passus mit einer übermäßig langwierigen Schilderung herausgeschnitten worden. Auf Anweisung des Chefredakteurs Drax Lira.] Jeder kann das verstehen. Oder sollte es können. Jon Qasaba ist jedoch so besessen von seiner Jagd nach arkanem Wissen, dass er vollkommen den Bezug zum Offensichtlichsten verloren hat. Also denkt man lange und sorgfältig nach, bevor man dann antwortet: „Gewicht.“ „Gewicht?“ „Ja, es… die Axt, sie… ich meine, sie ist schwer gewesen. Erdrückend. Es ist… da gibt es eine Erinnerung. Ich meine, was ich damit sagen will, das ist, dass es all diese Dinge gibt… diese…“ „Mach’ weiter.“ „Es reicht zurück bis… als ich noch klein gewesen bin, da ist’s passiert, als das Gewicht, das Gewicht, der Druck, es erstmals… oder vielleicht ist das schon vorher gewesen?“ Man beobachtet Jon Qasaba beim Schreiben. Man entziffert seinen eifrigen Vermerk: Geburtstrauma?! Sobald Qasaba aufblickt, starrt man ins Nichts. Langsam sagt man: „Blut ebenso. Das kommt noch dazu. Irgendwie, ist das… da ist auch Blut damit vermischt. In den Erinnerungen, meine ich.“ Haben Sie es kapiert? Das ist die Art von intellektueller Anstrengung, der es bedarf, um angemessen verrückt zu bleiben, solange man seinen Wohnsitz in der Dromdanjerie hat. Schreiben Sie also die Geisteskranken nicht ab. Auch wenn sie nicht zwangsläufig immer vollkommen präzise mit ihren Beobachtungen sind, aber wer ist das schon? Würden Sie Qasaba zutrauen, diese Chronik zu verfassen? Qasaba, der wirklich daran glaubt, dass Rye Phobos das getan hat, was er getan hat, weil ihn seine Mutter der Zweiten Demütigung unterworfen hat, als er im Alter von drei Jahren gewesen ist? Nein, Qasaba… [Hier verunglimpft der Urheber ausführlich Qasaba, und dann behauptet er, dass der gegenwärtige Stand der Dinge nicht zwangsläufig gesund sein muss. Demzufolge (so sagt er) sei jene Mehrheit, die sich außerhalb der Irrenanstalt aufhält, möglicherweise diejenige Gruppe, die wahrhaft verrückt sei. Mit Sicherheit (so sage ich) ist eine solche Behauptung einfach lächerlich. Im Sinne der Logik und des Gesetzes sind Irre per Definition diejenigen, die in Irrenanstalten eingekerkert sind. Muss man wirklich noch mehr dazu sagen? Drax Lira, Chefredakteur.] Kehren wir also zur Frage nach dem Ursprung unserer Fakten zurück. 4 Melone Seite 14 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Glauben Sie mir, das alles ist wohlbekannt. Oder das meiste davon. Nur äußerst wenig basiert auf Vermutungen, und die Logik solcher Vermutungen ist unabwendbar. Wahrlich, Olivia Qasaba hatte das Alter der Veränderung, der Reife, der heißen Säfte und der eindringlichen Träume erreicht, jenes Alter, in dem neun von zehn Gedanken wegen ihrer Unschicklichkeit unaussprechlich sind. In den Tagen ihrer Jugend und ihrer Lebenskraft wohnte sie zusammen mit Chegory Guy in einem engen Quartier, und sie hatte keine andere für sexuelle Angelegenheiten geeignete Zielperson vor Augen. Folglich war sie betört von ihm. Oder sie zog zumindest fortwährend den jungen Chegory als möglichen Sexualpartner in Betracht (vielleicht lehnte sie ihn dabei ebenso fortwährend ab, aber in Betracht zog sie ihn auf jeden Fall!). Denn das liegt nun einmal in der Natur des Blutes. Das liegt nun einmal in der Natur unseres Organismus. Und wer kann schon abstreiten, dass der Organismus gelegentlich, wie sollen wir es ausdrücken, eine gewisse Priorität besitzt? Wenn ihr Fleisch vor dem Platzen steht und sie das Verlangen überkommt, dann müssen selbst die Weisesten… [Hier ist auf Anweisung des Chefredakteurs eine überflüssige Geschmacklosigkeit von beträchtlicher Obszonität herausgeschnitten worden. Außerdem eine unverzeihliche detaillierte Ausarbeitung dieser Geschmacklosigkeit, zusammen mit dem völlig unbegründeten Versuch, den würdevolleren Verantwortlichen der Weltgeschichte bedauernswerte persönliche Praktiken zuzuschreiben.] Wir wollen also eine Gleichung in der Art des berühmten Literaturtheoretikers Sinja Larthelme aufstellen. Junge plus Mädchen resultiert für gewisssenhafte Betrachter in der Notwendigkeit, ständig die möglichen Folgen ihrer körperlichen Nähe in Betracht zu ziehen. Ist das zufriedenstellend? Die Anhänger von Sinja Larthelme würden sicherlich mit Nein antworten. Diese Gleichung ist zu einfach. Zu wahr. Zu nahe am Leben, wie es gelebt wird. Zu nahe am gesunden Menschenverstand. Sie wünschen sich andere Gleichungen, ausgeklügelte Ausdrücke mit Kurven und Schnittmengen, Geschwindigkeiten und Beschleunigungen, Teilmengen und Matrizen. Sie tun so, als ob sie im Besitz einer allgemein gültigen Mathematik des Daseins seien, die (das ist ihre selbstgefällige Meinung) das menschliche Durcheinander (Chaos, Koinzidenz, Kollision) in Form einer methodischen Betrachtung abhandelt, die von einer Logik durchdrungen ist, die ebenso schlüssig ist wie jene, die man verwendet, um den Tanz der Sterne abzuklären. Was völliger Blödsinn ist. Denn… [Um Schreiber wie Leser und ebenso die überlasteten Regale der Bibliothek zu schonen, sind hier auf Anweisung des Chefredakteurs etwa siebzigtausend Worte erregter Exegese herausgeschnitten worden.] Na schön, wo sind wir gewesen? Wir sind bei der Stelle gewesen, als Chegory Guy gerade einen Bablobrokmadorni-Stock für Olivia mit Laternen beladen hat. Sobald der Stock beladen war, folgte sie ihrem Vater hinein in die Tiefe der Dromdanjerie, um ihm zu helfen, die Insassen zu beruhigen. Sie ging mit festen, sicheren Schritten. Sie kannte die Verrückten mit ihren Namen und war es gewöhnt, mit deren Launen und panischen Ängsten umzugehen. Dennoch ist es beachtenswert, dass sie in ihrer Gesäßtasche einen bleibeschwerten Totschläger bei sich hatte. Die Tochter eines Ashdan-Liberalen, und trotzdem hatte sie einen Totschläger dabei? Naja, so ist es eben. Das Leben in der Dromdanjerie führt dazu, einen gewissen Grad an Realismus in das tägliche Verhalten einfließen zu lassen, egal, welche ideologischen Ansichten man auch hat. Chegory Guy folgte ihr nicht. Nicht, weil er Angst hatte, sondern weil ihm Jon Qasaba oftmals ausdrücklich verboten hatte, sich in die Schlafsäle zu begeben. Stattdessen entzündete er weitere Laternen und hockte dann schweigend da. Wartend. Während er wartete, hörte er, wie alle Hunde Injiltaprajuras zu bellen und jaulen begannen. Seite 15 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 An was dachte er, während er dort so herumhockte? Wir können es nur vermuten. Vielleicht dachte er an Olivia, an ihre Hitze, ihre Brustwarzen, die flaumige Behaarung, den sanften Dufthauch, der ihrem Geheimnis entströmt. Er war jung, nicht wahr? An was sollte er denn sonst denken? Und Olivia war es wert, dass man an sie dachte, oh ja, das war sie wirklich, äußerst wert sogar. Aber ich habe sie niemals angefasst, das schwöre ich. Seite 16 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 3 Während sich Schäbbel damit beschäftigte, Drunten zu erkunden, und Chegory Guy gerade Laternen entzündete, fanden andere Ereignisse anderswo in Injiltaprajura statt. In die Schatzkammer, die tief unterhalb des rosa Palastes untergebracht war, war eine Räuberbande vorgedrungen. Diese Banditen waren Marodeure vom Volk der Malud, nämlich Al-ran Lars, Arnaut und Tolon. Wie waren sie dort hineingekommen? Wie waren sie an den Wächtern, Gittern, Türen und Mauern vorbeigekommen? Naja, indem sie natürlich einen Geheimgang benutzt hatten. Al-ran Lars hatte nämlich schon vorher mitgeholfen, diese Schatzkammer zu plündern. Er hatte schon Jahre zuvor Injiltaprajura besucht gehabt, auf einem verrufenen Schiff, das unter dem Namen Krake bekannt und damals von dem berüchtigten Log Jaris als Kapitän geführt worden war. Bei jenem Raubzug hatten sich Al-ran Lars und seine Gefährten die Barden-Gemme5 von Untunchilamon unter den Nagel gerissen. Jetzt war Al-ran Lars zurück, um sich einen Nachschlag holen. Manche werden seine Absichten unmoralisch nennen, aber das ist sicherlich ungerechtfertigt. Welchen Nutzen hat die Welt von Schätzen, die nichts anderes tun, als Jahr für Jahr unverändert in der Dunkelheit zu ruhen? Derart zurückgehaltene Schätze sind langweiliges Zeug, sind kein Fortschritt, sondern nur noch leere Gestalt. Erst, wenn sie wieder in die Welt entlassen werden, nehmen sie an jenem unendlich faszinierenden Wechselspiel der Energien teil, das wir als Wirtschaft bezeichnen. Dieses Wechselspiel ist es, um das sich alles dreht. Das? Das Leben, das Kämpfen, das Dasein! Demzufolge sagt auch Da Thee, ein Korugatu-Philosoph, der in seiner Schlichtheit nahezu einzigartig ist, ganz einfach, dass das Leben pure Energie ist. Denken Sie daran, dass, solange die Schätze von Injiltaprajura unberührt in unheilvoll düsterem Schweigen dalagen, deren Existenz (in der Praxis) rein theoretisch war. In der Praxis machte es keinen Unterschied, ob die Schatzkammer mit Gold oder mit Schatten gefüllt war. Wir sollten deshalb die Marodeure vom Volk der Malud nicht dadurch beleidigen, dass wir sie einfältige Verbrecher nennen. Wir sollten sie im Licht der Philosophie betrachten und sie als die Macher des Lebens begreifen, als die Befreier der Energie, als die Schöpfer neuer Möglichkeiten für das Dasein dieser Welt. „Wo ist er?“ sagte Arnaut, der jüngste von ihnen, und deshalb auch derjenige, der am meisten aufgeregt war. Er sprach natürlich auf Malud, weil das nun einmal die Sprache der Leute von der Insel Asral ist. So heißt übrigens nicht nur ihre Sprache – so nennen sie sich auch selbst. Obwohl sie, was ihr Erscheinungsbild betrifft, äußerlich identisch mit den Ashdans sind. „Sei still,“ sagte Al-ran Lars, während er seine Laterne hob. In ihrem Lichtschein funkelten durchsichtige Diamanten, Kaskaden aus Münzen, goldgewirkte Wandteppiche und viele andere unbeschreibliche Kostbarkeiten. Perlen, so groß wie Birnen. Almandine6, die rot wie Rosen schimmerten. Karfunkel7, die mit einem eigenen inneren Feuer zu leuchten schienen. Der Glanz des Ultramarins. Kugeln aus Bernstein. Das düstere ockerfarbige Schimmern eines einzelnen Feuersteins, das Werk der Zauberer von Arl, den Meistern des Leuchtens und Strahlens. „Dort,“ sagte Tolon, der Große, der Kraftprotz. 5 siehe The Walrus And The Warwolf und The Wicked and The Witless Eisentongranat (Schmuckstein) 7 engl. carbuncles (veralteter Ausdruck für rote Edelsteine, z.B. Granate, Rubine. Spinelle) 6 Seite 17 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Er deutete mit seinem Finger. „Das ist er,“ sagte Al-ran Lars und schlüpfte mit seinen Händen in ein Paar gepanzerte Stulpenhandschuhe. Nachdem er auf diese Weise seine Hände mit einer Rüstung geschützt hatte, ergriff er das Zepter der Kaiserin Justina. Dieser Ziergegenstand hatte an einem Ende ein glitzerndes kugelförmiges Objekt, ein grimmigglühendes Lodern in allen Farben des Regenbogens, ein leise summendes Triakisoktaeder8. Al-ran Lars hob es an seine Lippen. Küsste es. „Keine Schlangen,“ sagte Arnaut. „Hab’ ich bemerkt,“ sagte Al-ran Lars trocken. Als er Jahre zuvor das erste Mal hierher gekommen war, waren die größten Wunder der Schatzkammer von Schlangen und Schlimmerem bewacht worden. Aber die Sicherheitsvorkehrungen waren im Lauf der Zeit immer nachlässiger gehandhabt worden. Was keine Überraschung ist, da es ziemlich viel harter Arbeit und Unternehmungsgeist bedarf (ganz abgesehen von echter Tapferkeit), eine ansehnliche Kolonie giftiger Reptilien in einer unterirdischen Schatzkammer bei guter Gesundheit zu halten. Al-ran Lars reichte das Zepter an Tolon weiter, der keinerlei Probleme mit dessen Gewicht hatte. Tolon bog die Kupferklammern zurück, die den Triakisoktaeder an das Zepter gebunden hatten, befreite jene legendäre Kugel und ließ dann das entblößte Zepter fallen. Klirrend fiel es auf die Steinplatten. „Ich will ihn ausprobieren,“ sagte Arnaut, der dabei voller Eifer Tolon den Wunschstein abnahm. Der Triakisoktaeder fühlte sich warm an. Er vibrierte unaufhörlich, als ob das kein Edelstein war, den er da in der Hand hielt, sondern ein riesiges Insekt, dessen Flügel ständig versuchten, seine Körpermasse in die Luft zu heben. Arnaut hob den Wunschstein mit beiden Händen hoch und sagte: „Ich wünsche ich möchte ich wünsche ich könnte einen… einen Laib Brot haben heute Nacht.“ Nichts passierte. Al-ran Lars lachte. „Ich hab’s dir ja gesagt,“ sagte er. „Einen Versuch war’s wert,“ sagte Arnaut niedergeschlagen. „Los,“ sagte Al-ran Lars. „Wir verschwinden lieber.“ Dann ging er vor ihnen her zu der Tür, durch die sie hereingekommen waren. Sie schloss sich hinter ihnen mit einem schweren dumpfen Schlunk, und die Schatzkammer lag wieder in Finsternis. Bevor sie sich auf den Rückweg durch die Tunnel von Drunten machten, durchsuchte Al-ran Lars zuerst Tolon und danach seinen Neffen. Aber keiner hatte irgendwelche Schmuckstücke mitgenommen, die sie verraten könnten. „Gut,“ sagte Al-ran Lars, erfreut über ihre Disziplin. Aber diese Disziplin war auch zu erwarten gewesen. Dieser Raubzug war seit zwei Jahren geplant und einstudiert worden. Er war raffiniert, professionell und gerissen. Oh, und wie gerissen er war! Sobald man den Verlust des Wunschsteins entdecken würde, würden die mit der Suche nach den Dieben beauftragten Soldaten Injiltaprajura auf den Kopf stellen. Jeder Ausländer, der erst kürzlich in der Stadt angekommen war, würde selbstverständlich unter Verdacht stehen. Das war der Grund, warum Al-ran Lars den Taniwha9 kurz vor dem Beginn der Langen Dürre nach Untunchilamon gelenkt hatte. Viele lange, langweilige Tage windstillen Wetters hindurch war ihre Brigg vor Anker gelegen, während sich Al-ran Lars auf den Märkten von Injiltaprajura mit dem Einkauf und Verkauf von Waren beschäftigt hatte. Mittlerweile war sein Schiff der ganzen Stadt so vertraut, dass es nur noch ein Teil der Kulisse war. 8 9 konvexes Polyeder, das sich aus 24 gleichschenkligen Dreiecken zusammensetzt māorischer (mythischer) Riesenhai Seite 18 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Sobald die Jahreszeit des Fistavlir beendet wäre und die Passatwinde erneut wehen würden, würde der Taniwha aus Injiltaprajura fortsegeln, und an Bord würde der Wunschstein sein. Selbst seine Mannschaft würde keine Ahnung von dieser speziellen Ladung haben, denn die Kenntnis von ihr würde sich auf Al-ran Lars, auf seinen Neffen Arnaut, und auf seinen Blutsbruder Tolon beschränken. Al-ran Lars war sich sicher, dass der Reichtum, den der Wunschstein ihnen einbringen würde, alle Anstrengungen und Gefahren wert gewesen wäre, die damit verbunden waren. Die zwei Jahre der Planungen. Die lange gefahrvolle Reise von Asral nach Osten. Die Tage der Prüfung und Anspannung, die noch vor ihnen lagen. Der Reichtum würde sie für alles entschädigen. So glaubte er jedenfalls. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, welche Gräuel sie noch erwarten würden! Welche furchtbaren Gefahren! Welches nahezu unvermeidliche Verderben! Aber er sollte das noch erfahren. Oh ja, er sollte das schon ziemlich bald erfahren. Die Marodeure vom Volk der Malud hetzten durch die unterirdischen Korridore des Drunten, bis sie zu einer Treppe kamen. Sie rannten sie hinauf. Al-ran Lars löschte seine Laterne aus und öffnete danach das Ausfallstor am oberen Treppenabsatz. Dann stürmten er und seine Gefährten durch dieses Tor nach draußen. Sie waren wieder unter freiem Himmel. Um genau zu sein, sie waren in Thlutter, also in der steilen, vom Dschungel überwucherten Schlucht ein wenig östlich von Perle. Injiltaprajuras Hafenseite zieht sich vom Pokra-Kamm aus steil hinab bis zum Hafenviertel. Schluchten, die noch steiler sind, zerspalten diesen Abhang. Zum größten Teil meiden Straßen und Häuser diese Schluchten, die von der wild wuchernden Pflanzenwelt nahezu erstickt werden, und in denen unverwüstliche schwarze Schweine hausen, Schlangen, Spinnen, Skorpione, Hundertfüßer, die so lang wie Ihr Arm sind, Waldhunde10, zahlreiche Katzen und Millionen von Moskitos. Viele dieser Moskitos begannen die drei Piraten (denn das waren die Marodeure vom Volk der Malud mit Sicherheit, obwohl sie sich als ehrliche Kaufleute getarnt hatten) zu beißen, sobald sie in die Nachtluft hinausgetreten waren. In die schwüle Nachtluft hinaus, eine Luft, die erfüllt war vom Plitschern und Plätschern von mindestens einem Dutzend Quellen, und von den Gerüchen feuchter Erde, fauliger Kokosnüsse, überreifer Bananen, vermoderter Mangos und von Wachsblumen11. „Hunde!“ sagte Tolon. „Ich bin doch nicht taub,“ sagte Al-ran Lars. Es bellten gerade Hunderte von Hunden. Im Norden, Süden, Osten und Westen. Es klang so, als ob jeder Hund in Injiltaprajura in Alarmbereitschaft versetzt worden wäre. „Los,“ sagte Arnaut. „Lass uns hier verschwinden.“ „Warte!“ sagte Al-ran Lars. Im nächsten Moment begannen die Glocken des rosa Palastes zu läuten. Es war das Mitternachtsgeläut, das das Ende von Undokondra (jenes Viertel des Tages, das vom Anbruch der Abenddämmerung bis Mitternacht dauert) und den Beginn von Bardardornootha bezeichnete. Die Glocken waren noch kaum verklungen, als am Himmel Regenbögen aufblühten. Ihre pfauengefiederte Farbenglut erhellte Thlutter. Erhellte die breitblättrigen Bananenstauden, die herabhängenden Skorpionlianen und die Gesichter der Marodeure vom Volk der Malud. Gesichter, die deutlich ihre Bestürzung offenbarten. Dann war Schluss mit dem Licht der Regenbögen. Es war verschwunden! Fort! Die drei Malud blinzelten blind in die Finsternis. „Der Wunschstein!“ sagte Arnaut. „Der Wunschstein, der Stein, der hat das gemacht!“ „Unsinn,“ sagte Al-ran Lars, der die Augen schloss, um seine Nachtsicht wiederherzustellen. „Vielleicht sind es die Wunderwirker,“ sagte Tolon. „Die uns warnen wollen. Die uns verfolgen werden.“ 10 11 engl. bush dog, speothos venaticus, ein südamerikanischer Wildhund engl. frangipani, genus plumeria Seite 19 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Quatsch!“ sagte Al-ran Lars. „Sie können überhaupt nichts wissen. Noch nicht.“ Aber er machte sich Sorgen. Die Regenbögen am Himmel hatten das Innenleben des Wunschsteins wiederholt. Die Verwandtschaft zwischen Himmel und Stein war vielleicht nur nebensächlich, versehentlich, zufällig. Dennoch war diese Himmelsaufhellung bestimmt ein Zeichen für die besorgniserregende Ausübung von Magie. Al-ran Lars gelangte zu einem schnellen Entschluss. „Wir werden zurückgehen,“ sagte er. „Zurück nach Drunten.“ „Du willst wirklich davonlaufen?“ sagte Tolon. „Das ist mir lieber, als mich Straße für Straße durch Injiltaprajura hindurchzukämpfen.“ „Es ist nicht weit,“ wandte Tolon ein. „Wir könnten schon bald zurück an Bord sein.“ „Bei all diesen aufgescheuchten Hunden?“ sagte Al-ran Lars. „Bei diesem Himmel, an dem die Farben Amok laufen? Inzwischen wird die ganze Stadt erwacht sein.“ Arnaut sagte: „Ich denke…“ „Denken kannst du später!“ sagte Al-ran Lars. „Denken können wir dann, wenn wir unter der Erde in Sicherheit sind.“ Mit diesen Worten führte er seine Gefährten zurück nach Drunten. Dort unten trieb sich natürlich noch immer Schäbbel frei herum. Was genau hatte all diese Hunde aus dem Schlaf gerissen, hatte all diese Regenbögen am Himmel aufblühen lassen? Im Nachhinein können wir freilich ohne jeden Zweifel feststellen, dass jene Erscheinungen mit der Ankunft eines Dämons in Injiltaprajura verbunden waren. Jawohl, ein scheußliches Ding war aus der Welt des Jenseits in unsere Welt hereingebrochen, das zu gegebener Zeit der Würde etlicher hochgestellter Bürger der Stadt entsetzlichen Schaden zufügen sollte. Das war aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt, und daher wurde der Schrecken, die Angst und Verwirrung, die die Marodeure vom Volk der Malud verspürten, von anderen Bewohnern der Stadt mit ihnen geteilt. Priester erhoben sich aus ihren Betten, begannen zu ihren Göttern zu beten und jene Opfer darzubringen, die ihnen ihr Glauben abverlangte. Wachposten, die Wache gehalten hatten, weckten ihre vorgesetzten Offiziere und bekamen als Dank für ihre Anstrengungen nur Flüche zu hören. Fischer in ihren Kanus, die nachts den Laitemata und die Lagune bearbeiteten, löschten ihre Lampen aus, verstauten ihre Ausrüstung und begannen zur Küste zu rudern, aus Angst, dass das Meer selbst als nächstes an der Reihe sein würde, eine unerwartete Störung zutage treten zu lassen – vielleicht sogar eine, die ihre zerbrechlichen Wasserfahrzeuge dem Untergang weihen würde. Wir sehen also, dass viele ehrenwerte Bürger von Injiltaprajura über die zu jener Zeit unerklärlichen Erscheinungen beunruhigt waren. Einer von denjenigen, die als Folge der „Phänomene unbekannten Ursprungs“ unter einem gewissen Maß von Angst litten, war Justinas Meister der Rechte, Aquitaine Varazchavardan. Der Name erinnert Sie an jemanden? Das würde mich nicht wundern. Varazchavardan ist eine respekteinflößende Gestalt, die inzwischen sicherlich ihren Weg in viele Chroniken gefunden hat, so dass es sehr gut möglich ist, dass Sie ihm bereits bei Ihrer Lektüre begegnet sind. Wir wollen ihn allerdings trotzdem ausführlich beschreiben. Aquitaine Varazchavardan, dessen Fingrnägel ebenso lang wie seine Finger selbst waren, bewohnte eine Villa in der Hojostraße. Varazchavardan, der sowohl Hexer als auch Staatsdiener war, liebte seinen Schlaf. Er war jedoch hellwach, obwohl Bardardornootha gerade erst begonnen hatte. Dafür gab es freilich eine einfache Erklärung. Ihm ging eine dringende Frage durch den Sinn: Was zur Hölle geht hier vor? Seite 20 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Früher am Abend war der dürre Albino von dem massiven Abfluss von Energie, der jede Lichtquelle in der Stadt zum Verlöschen gebracht hatte, geweckt worden. Ihm war sofort klar gewesen, dass das nichts mit den Wunderwirkern zu tun hatte, die in der Geborgenheit des Kabalenhauses mit der Umwandlung von Metallen herumstümperten. Nein. Irgendwer oder Irgendetwas hatte sich an den Grundfesten zu schaffen gemacht. Wer? Oder was? Könnte es sein, dass man den Einsiedlerkrebs ermuntert hatte, zur Tat zu schreiten? Die Götter sollen uns hüten! Kurz nach dem Abfluss der Energie hatte irgendetwas jeden Hund in Injiltaprajura zum Bellen veranlasst. Varazchavardan hatte sofort ein Erdbeben in Verdacht gehabt. Doch die Erde war stabil geblieben. Es war dagegen der Himmel gewesen, der als nächstes Zeichen der Störung gezeigt hatte. Regenbögen hatten kurzzeitig die gesamte Himmelskuppel von einem Horizont zum anderen erleuchtet. Und was würde als nächstes passieren? Varazchavardan schnitt eine Grimasse, passte auf und wartete ab. Er stand auf dem Balkon im obersten Stockwerk seiner Villa. Er schaute die Hojostraße auf und ab und sah Laternen in Bewegung, weil nervöse Gottesdiener anfingen, in ihre Tempel zu strömen. Die Hojostraße ist die begehrenswerteste Adresse in ganz Injiltaprajura und zieht demzufolge vollkommen astronomische Grundsteuern nach sich. Die tatsächlich so astronomisch sind, dass die meisten Gebäude an der Hojostraße Einrichtungen gehören, die steuerfrei existieren dürfen – vor allem solche des Glaubens. Aquitaine Varazchavardan spreizte seine Krallen und schaute über den Laitemata-Hafen hinweg zur Insel Jod, auf der der Einsiedlerkrebs hauste. Ist es der Einsiedlerkrebs? Er erinnerte sich an seine erste (und letzte) Unterhaltung mit diesem unheimlichen Weisen. Er hatte einen geringfügigen Zauber gewagt, um den Eremiten dieser Insel zu prüfen, und dabei wäre beinahe sein Innerstes nach außen gestülpt worden. Jene kurze Begegnung hatte ihm genügt, um ihn davon zu überzeugen, dass der Krebs alles machen konnte, was er wollte. Aber warum würde er Energie verzehren heraufbeschwören? Das ergibt keinen Sinn. wollen, Hunde aufwecken, wundersame Regenbögen Die nächtlichen Erscheinungen sahen mehr nach der Art eines Experiments aus. Aber wer außer den Wunderwirkern beschäftigte sich mit Experimenten? Ivan Pokrov natürlich! Der Mann spielte ständig mit geheimnisvollen Objekten herum, die man Drunten geborgen oder in den Netzen der Fischer vom Meeresboden ans Tageslicht heraufgeholt hatte. Bei den Klauen des Dämons! Was hat Pokrov diesmal vor? So dachte Aquitaine Varazchavardan. Nach diesen Gedanken schwor er sich, schon bald Pokrov zu besuchen, um genau festzustellen, was auf Jod im Gang vor. Wenn es Pokrov ist, können wir ihn wieder an die Leine legen. Und wenn nicht? Von allen Leuten sollte wenigstens Varazchavardan in der Lage gewesen sein, aus den vorhandenen Hinweisen die Schlussfolgerung zu ziehen, dass Untunchilamon vermutlich den Willen von Irgendetwas aus dem Jenseits gespürt hatte. Irgendeine Art von Macht. Die eines Dämons. Eines niederrangigen Gottes. Oder (die hohen Götter sollen uns behüten!) eines höherrangigen Gottes. Varazchavardan hatte das erforderliche Wissen, die Erfahrung und die Intelligenz. Aber alles, was er sich dachte, das war: Kommt Zeit, kommt Rat. Seite 21 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Obwohl diese plötzlichen Erscheinungen Varazchavardan alarmiert hatten, hatte er in Wahrheit eine Menge anderer Sachen im Sinn, die ihm weitaus mehr Sorge bereiteten. Politische Sachen. Da er das vergebliche Absuchen des Nachthimmels nun aufgegeben hatte, öffnete Varazchavardan die Moskitogitter und ging zurück nach drinnen. Er goss sich etwas Sorbet in ein Glas, öffnete eine Amphore und krallte sich ein Stück Eis heraus, das er sein Getränk fallen ließ. Eis, das von Drunten stammte, war in Injiltaprajura spottbillig. Andernfalls hätte Varazchavardan das Leben in den Tropen kaum für erträglich gehalten. Er hasste die Hitze. Das war jetzt sein fünfzehntes Jahr auf Untunchilamon. Der größere Teil dieser Zeit war leidlich unterhaltsam gewesen – die acht Jahre, die er leitender Berater von Wazir Sin verbracht hatte. Zu Beginn des Talonsklavara hatte er in Erwägung gezogen, nach Yestron zu gehen, um sich dem Kampf um die Herrschaft über das IzdimirReich anzuschließen, aber er hatte diesen Gedanken wieder verworfen, weil der voraussichtliche Ausgang des kontinentalen Bürgerkriegs zu jener Zeit unklar gewesen war. Kurz darauf war Varazchavardans alter Freund Sin von Lonstantine Thrug ermordet worden. Dann war das Leben schwierig geworden. Immerhin hatte es Varazchavardan dank geschickter politischer Manöver geschafft, nahe am Herzen der Macht zu bleiben. Ihm hatte die Tatsache geholfen, dass er der Leiter des Kabalenhauses der Wunderwirker war. Lonstantine Thrug hatte nicht die Absicht gehabt, mit Injiltaprajuras Hexern einen Streit vom Zaun zu brechen, und seine Tochter Justina hatte sich ähnlich vorsichtig verhalten und Varazchavardan erlaubt, seine Stellung als Meister der Rechte beizubehalten. Alles in allem war das Leben gut gewesen. Insbesondere deshalb, weil Varazchavardan gewisse nebenberufliche Unternehmungen hatte, die ihm ausreichend Vermögen eingebracht hatten, um sowohl die Villa in der Hojostraße als auch die damit verbundenen Steuern zu bezahlen. Aber die guten Zeiten waren vorbei. Talonsklavara war fast zu Ende, und es schien sicher zu sein, dass Aldarch der Dritte, der gefürchtete Schlächter von Yestron, beim Kampf um die Herrschaft über das Izdimir-Reich siegreich sein würde. Sobald sich Aldarch III zum Meister von Yestron gemacht hätte, würde er bestimmt Schritte unternehmen, um Untunchilamon wieder in sein Reich einzugliedern. Dann würde Varazchavardan fliehen müssen – es sei denn, er würde mit dem Schlächter Frieden schließen. Aber wie? Varazchavardan durfte kaum darauf hoffen, die Tatsache verschweigen zu können, dass er Injiltaprajuras illegalem Regime während der letzten sieben Jahre treu gedient hatte, indem er zuerst für den Mörder des rechtmäßigen Statthalters, des berühmten Wazir Sin, gearbeitet hatte, und dann für die Tochter dieses Mörders. Es war unwahrscheinlich, dass Aldarch der Dritte solche Tätigkeiten mit Wohlwollen betrachten würde. Sollte es Varazchavardan allerdings gelingen, im Namen von Aldarch III die Macht auf Untunchilamon zu erringen, könnte er vielleicht das Vertrauen jenes überragenden Eroberers gewinnen. Wenn er aber zur Tat schreiten wollte, dann müsste er wirklich schnell zur Tat schreiten. Nach allem, was er wusste, war Talonsklavara vielleicht bereits zu Ende gegangen. In der Jahreszeit des Fistavlir konnten keinerlei Nachrichten über Yestrons Bürgerkrieg Untunchilamon erreichen, weil die Windstille den Handelsverkehr mit fernen Küsten nahezu unmöglich machte. Natürlich fuhren die Kanus der Ngati Moana noch immer über die Meere. Aber in dieser Jahreszeit kamen sie nur aus dem Westen, wobei sie den Korallenstrom nutzten, um den leichten Hauch zu ergänzen, den das Wetter in vereinzelten Atemstößen austeilte. Dies waren die politischen Fragen, die Varazchavardan durch den Kopf gingen und ihn von einer Analyse der unerwarteten paranormalen Phänomene ablenkten. In dieser Nacht, als er in seinem prachtvollen Haus in der Hojostraße saß und dabei friedlich an seinem Sorbet nippte, kam er endlich zu einer Entscheidung. Er würde einen Putsch inszenieren. Er würde die Kaiserin Justina stürzen und sie den Flammentod sterben lassen. Er würde ihren verrückten Vater aus dem Schutz der Dromdanjerie reißen und ihn dann abschlachten. Dann würde er ein Denkmal zum Gedenken an Wazir Sin errichten und sich jede erdenkliche Mühe geben, das großartige Werk zu vollenden, das Sin begonnen hatte. Er würde die verbliebenen Ebbies niedermetzeln. Dann Seite 22 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 mit den Ureinwohnern weitermachen, mit den Geistesgestörten, mit den Mutanten und mit den Altersschwachen. Solch ein entschlossenes Handeln würde ihn bestimmt Aldarch III empfehlen. „Ich werd’s machen!“ So sprach Varazchavardan und trank den Rest seines Sorbets aus. „Was werden Sie machen?“ sagte Nixorjapretzel Rat, der das Zimmer betreten hatte, ohne dass ihn Varazchavardan bemerkt hatte. „Was führt dich hierher?“ sagte der aus seinen Träumereien gerissene Varazchavardan. „Ich bin hergekommen, um Sie zu wecken,“ sagte Rat, der junge Hexer, der bis vor kurzem Varazchavardans Lehrling gewesen war. „In der Stadt sind merkwürdige Dinge im Gang.“ „Was für Dinge?“ sagte Varazchavardan. „Krokodile? Trolle? Herumlaufende Felsbrocken?“ „Nichts dergleichen,“ sagte Rat. „Etwas Unsichtbares, das das Licht der Lampen isst und die Flammen von Tausenden von Kerzen verschluckt. Etwas Unsichtbares, das außerdem Hunderte von Hunden aus dem Schlaf gerissen hat. Etwas, das den Himmel mit Regenbögen erleuchtet.“ „Glaubst du wohl, dass ich das nicht längst schon weiß?“ sagte Varazchavardan. „Glaubst du wohl, ich hätte keine Augen? Oder Ohren? Hör auf, meine Zeit zu verschwenden! Scher dich hinaus!“ Dann fischte er einen Eisklumpen aus seinem Glas und schleuderte ihn nach dem schnell zurückweichenden Rat. Also dann. Wir haben jetzt Varazchavardan und dessen Gedanken, Motive und Pläne ziemlich ausführlich beschrieben. Woher stammt unsere Berechtigung für eine derartige Beschreibung? Wenn Sie mit Aquitaine Varazchavardan persönlich bekannt gewesen sind, dann werden Sie sicherlich wissen, dass der angesehene Meister der Rechte in seinem Leben keine Freunde, Liebhaber oder Mitwisser gehabt hat. Doch wer sonst könnte, ohne die Bekundung solcher Personen, jemals die Gedanken hinter jenem undurchschaubaren madenweißen Antlitz erraten haben? Niemand. Sie werden bemerkt haben, dass der junge Rat nicht in Varazchavardans Vertrauen gezogen wurde, sondern dass er floh, ohne mit seinem Meister irgendein bedeutungsvolles Gespräch geführt zu haben. Wer hat also Varazchavardan an diese Chronik verraten? Die Antwort ist einfach. Varazchavardan hat sich selbst verraten. Nehmen Sie also zur Kenntnis, dass später der Zeitpunkt gekommen war, an dem sich Aquitaine Varazchavardan in den Kerkern von Obooloo eine Pritsche mit einem von wissenschaftlichem Eifer geprägten Intellektuellen teilte. Zu jenem Zeitpunkt waren beide zum Tode verurteilt worden, und die von einem solchen Urteil ausgehende nervliche Belastung kann vieles verändern. Mit Sicherheit hatte sie Varazchavardan verändert, und so hatte er seinem gelehrten Gefährten sein Lied wie einer Geliebten vorgesungen. Infolgedessen wurde sein persönliches und privates Wissen an eine andere Person weitergegeben, und damit fand es zu gegebener Zeit auch seinen Weg in diese Chronik. Sie möchten mehr darüber wissen? Man könnte mehr darüber erzählen. Aber das ist eine grausame Geschichte, eine Erzählung, die so grauenvoll wie die Axt des Henkers ist, eine vom Blut dunkel gefärbte Chronik, ein Bericht über Schmerz und Hass, über hämische Schinderei und obszöne Todesfälle, über die Angst inmitten der Schatten. Es bereitet schon Schmerzen, nur damit anzufangen, sich an jene Tage des Schreckens zu erinnern. Wenn Sie also Appetit auf derlei Geschichten haben, dann müssen Sie diesen Appetit anderswo stillen. Im Augenblick wollen wir uns damit zufriedengeben, Aquitaine Varazchavardan dabei zuzusehen, wie er ein weiteres Stück Eis aus seiner gut gefüllten Amphore fischt. Es schmilzt in seiner Hand. Wassertropfen gleiten Seite 23 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 auf den Kokosläufer, der den Boden bedeckt. Er steckt sich das Eis zwischen die Zähne. Er zermalmt es knirschend. Kühl, ach so kühl! Er schließt die Augen und denkt an: Obooloo im Winter. An Eis und Schnee. Jetzt ist dieser Augenblick vorbei. Wir wollen nun durch Zeit und Raum fliehen, denn unsere Chronik gebietet uns nach anderswo. Seite 24 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 4 Sehr nah in Raum und Zeit versteckte sich Schäbbel noch immer im Drunten. Schäbbel hasste es, dort unten zu sein, denn dort unten waren viel zu viel Dinge des Goldenen Gulag am Leben geblieben. Böse böse böse! Böse ist dieser Gulag gewesen, und sein Name ist verflucht. Es ist gar nicht notwendig, sich zu tief in die Einzelheiten zu versenken. Es gibt schon genügend Tod, Furcht und Schrecken auf der Welt, so dass wir nicht noch den Kummer vergangener Tage ausgraben müssen. Es ist außerdem sicherlich falsch, jenen allzu weitverbreiteten Appetit zufriedenzustellen, der sich ergötzt an Schmerzen um ihrer selbst willen, am Tod um seiner selbst willen, an Furcht um ihrer selbst willen. Wir wollen deshalb nichts über die Abwassergruben sagen, in denen politisch Andersdenkende viele Tage lang in Käfigen pausenlos hüfthoch im Schmutzwasser der Großstadt stehen mussten. Wir wollen nicht die gewerblichen Krankenstationen erwähnen, wo diejenigen, die zu krank waren, um noch lange weiterzuleben, von Forschern bei deren Suche nach besser verträglichen Kosmetika verstümmelt und geblendet wurden. Wir wollen über die Prüfgelände schweigen, auf denen Waffen jeglicher Art an menschlichen Zielpersonen ausprobiert wurden. Wir wollen das Thema der Volksfeste übergehen, die nur deshalb veranstaltet wurden, um den übersättigten Geschmack zügelloser Hedonisten zu befriedigen. Wir wollen einfach nur feststellen, dass der Gulag ein Handelsimperium gewesen war, das sich der Therapie verschrieben hatte (eines der Fachgebiete war die Behandlung Rückfälliger gewesen), und Schäbbel, der einstmals das Opfer einiger dieser Therapien gewesen war, bekam heute noch Albträume davon. (Schäbbel schläft? Selbst Haie schlafen, mein Schatz.) Folglich hatte Drunten ganz sicherlich äußerst schmerzliche Erinnerungen in Schäbbel geweckt, die wir (aus den obengenannten Gründen) nicht im Einzelnen aufführen wollen. Die Marodeure vom Volk der Malud, die sich Drunten versteckt hielten, wussten zwar nichts vom Goldenen Gulag, aber Al-ran Lars glaubte, dass er alles wusste, was er über die Gefahren jener Tiefen wissen musste. Er hatte Arnaut und Tolon genau über diese Gefahren informiert, wobei er ihnen freilich versichert hatte, dass Injiltaprajuras Unterseite grundsätzlich sicher wäre. Deshalb waren die Malud völlig überrascht, als sie ohne Vorwarnung von einer Stimme aus den Schatten heraus zur Rede gestellt wurden: „HALT!“ schrie diese verhängnisvoll-düstere Stimme. „HALT! WERFT EURE WAFFEN WEG UND ERGEBT EUCH!“ Da sie nun einmal so waren, wie sie waren und wo sie waren, zückten die Marodeure vom Volk der Malud stattdessen ihre Waffen und griffen an, wobei sie bei ihrem Sturmlauf die Stimmen zu einem hellen Schlachtruf erhoben. Plötzlich loderte weißglühende Energie auf. Ihre Waffen verbogen sich in ihren Händen und schmolzen dahin. Flüssiges Metall platschte auf den Boden, um dort Pfützen zu bilden und sich dann allmählich abzukühlen. Eine helle, helle, sonnenhelle Sonnenkugel schwebte in der Luft. Heißglühend. Heißglühend. Heißglühend. Dann sagte sie: „Ich bin der Dämonen-Gott Lorzunduk. Und ihr habt mich beleidigt.“ Wären die Marodeure vom Volk der Malud Einwohner von Untunchilamon gewesen, dann hätten sie geantwortet: „Schäbbel! Sei nicht albern! Wir haben jetzt keine Zeit zum Spielen! Schau nur, was du mit unseren schönen Schwertern gemacht hast! Du solltest dich wirklich schämen!“ Doch nachdem die ausländischen Piraten jeglicher Mut verlassen hatte, nachdem sie so eindrucksvoll entwaffnet worden waren, warfen sie sich untertänigst zu Boden. Bald, sehr bald darauf, waren sie nur noch damit beschäftigt, Schäbbel anzuflehen oder ihm zu huldigen, und jedenfalls alles zu gestehen. Seite 25 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Somit lassen wir die Marodeure vom Volk der Malud, Al-ran Lars, Arnaut und Tolon, als Gefangene des unverantwortlichen Schäbbels zurück, während wir unsere Position im Raum (aber nicht in der Zeit) verlagern, um Injiltaprajuras Unterwelt zu verlassen, und zwar zu Gunsten der Korridore von Ganthorgruk, jener knarzenden Absteige, die am Skindik-Weg oberhalb von Lubos dumpf vor sich hinbrütet. Ach so. Bisher hat sich hier noch nichts Interessantes ereignet. Also wollen wir nun doch unsere Position auch in der Zeit verlagern und uns bis zur Mitte von Bardardornootha vorwärtsbewegen. An diesem Schnittpunkt von Raum und Zeit treffen wir den Beschwörer Odolo an, der gerade unter schlechten Träumen leidet. Es ist heiß in seinem Zimmer. Ein Gecko schmiegt sich an die Wand. Ein Moskito kreist um sein Ohr. Ein Kamikaze-Käfer summt geräuschvoll von Wand zu Wand. Aber Odolo träumt nicht von Geckos, Moskitos oder Kamikaze-Käfern. Nein. Selbst, als sich der Moskito auf seine Wange setzte und zustach, um sein Blut zu trinken, träumte Odolo nicht von ihm, sondern von… Seltsamen Dingen. Er träumte von einem widerlichen Yale12, einem lusus naturae13, das ihn durch einen Wald voller Dornen jagte. Er träumte von Ameisen, die aus Honig gemacht waren, von schnell herabbrennenden Kerzen und leuchtenden Regenbögen. Aber nie träumte er in seinen düstersten, tiefsten, mörderischsten Albträumen davon, dass man den Wunschstein gestohlen hatte. Hätte er von dessen Diebstahl gewusst, hätte er wahrhaftig Albträume gehabt, egal, ob er gerade schlafen oder wach sein würde. Denn in den letzten paar Jahren hatte sich die Kaiserin Justina huldvoll gegenüber Odolo gezeigt und ihm ein paar geringbezahlte Ämter gewährt. Unter anderem war er der Offizielle Hüter des Kaiserlichen Zepters, und das bedeutete, dass der Wunschstein, der jenes Zepter schmückte, zu seinem Verantwortungsbereich gehörte. Ihm bot der vor ihm liegende Tag alle nur erdenklichen Katastrophen an. Wir sollten lieber unsere Position verändern. Nicht im Raum, sondern in der Zeit. Bis zur Morgendämmerung. Die Sonnenstrahlen haben die glitzernde Kuppel des kaiserliches Palastes berührt. Das Morgenläuten erschallt vom rosa Palast, um das Ende von Bardardornootha und den Beginn des strahlend hellen Istarlats zu verkünden. Schon ist die Luft erfüllt von den Düften nach Curry und Maniok, nach safrangewürztem Reis, nach geschmorten fliegenden Fischen und Röstbananen. Das Frühstück wird zubereitet! Ach ja! Morgendämmerung auf Untunchilamon! Erinnerungen, Erinnerungen! Die Morgensonne scheint heiß auf die monolithische Masse namens Perle herab und entfacht die Farben im Blutstein von Injiltaprajura. Das Meer lodert weißglühend. In der Ferne bricht sich die Brandung am Außenriff. Innerhalb der Lagune plätschern unbedeutende Wellen friedlich gegen blutrote Strände, deren Sand aus einer Mischung von roten Korallen und Blutstein besteht. Selbst in der Morgendämmerung ist es noch warm. Sogar heiß. Denn Injiltaprajura kühlt sich in der Nacht nur wenig ab. Die herrliche Sonne lässt Fliegen und Schmetterlinge zum Leben erwachen. Die Farben und Chöre von Abermillionen Insekten entfalten sich inmitten der Schluchten Injiltaprajuras. Dort stellen sich stark duftende Blumen zur Schau, inmitten des Dschungels, der hier kräftig gedeiht dank der drängenden Sonne und dem sprudelnden Frischwasser aus immerwährenden Quellen, die von Drunten gespeist werden. Dort kreischen und krächzen Papageien, dort zanken Affen miteinander, und dort streiten sich wilde Hunde mit noch wilderen Katzen. 12 engl. yale – auch eale oder centicore: ein pferdeähnliches schwarzes Fabelwesen mit dem Schwanz eines Elefanten und dem Gebiss eines Ebers, das auf dem Kopf zwei lange bewegliche Hörner besitzt 13 Der lateinische Ausdruck lusus naturae bezeichnet in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Naturforschung ein „Wunder der Natur“, ein „Naturspiel“ oder eine „Laune der Natur“. Seite 26 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Dies ist also die Morgendämmerung auf Untunchilamon. Dies ist die Situation, in der Obolo erwachte. Oder vielmehr (um nostalgische Vorstellungen zugunsten der historischen Wahrheit aufzugeben) erwachte er in einem heißen, schwülen, mit geschlossenen Fensterläden verdunkelten Zimmer mit durchhängender Decke. Er griff nach dem Krug an seinem Bett, goss etwas Wasser in einen aus einer Kokosnuss-Schale gefertigten Napf, und trank daraus. Eine Flüssigkeit, die dicker als Wasser war, glitt ihm die Kehle hinab. Er würgte und spuckte aus. Blut spritzte über den Boden. Voller Grauen umklammerte er seinen Hals, räusperte sich, würgte erneut, spuckte dann noch etwas mehr aus. Er bildete sich ein, eine riesige blutende Wunde in seinem Mund zu haben, zerrissene Arterien in seinem Hals, ein geplatztes Blutgefäß in seiner Lunge, ein tödliches Geschwür in seinem Magen. Er beugte sich über die Bettkante, um das Blut besser aus seinem Schlund zu beseitigen. Stieß dabei den Krug um. Und sah, wie ein kleiner Sturzbach aus Blut aus dessen Hals lief und in alle Richtungen über den Boden dahinglitt. „Falamantatha!“ sagte er höchst verwundert. Dann tauschte die Verwunderung den Platz mit dem Ärger. Wer hatte ihm diesen widerlichen und gemeinen Streich gespielt? Sofort hatte er seinen nichtsnutzigen Burschen im Verdacht. Aber seine Schlafzimmertür war noch immer von innen verriegelt. Der Junge hatte nicht eintreten können, solange Odolo geschlafen hatte. Niemand hätte in der Nacht hereinkommen können. „Irgendein Werk der Wunderwirker also!“ sagte Odolo. „So muss das gewesen sein!“ Aber welcher Hexer von Untunchilamon würde so etwas wohl getan haben? Und warum? War das eine Drohung? Eine Botschaft? Eine Warnung? Hatte er einen der Magiekundigen dieser Insel mit seinen kunstfertigen Beschwörungen und seinen fröhlichen Scherzen über Magie und deren Anwender vielleicht beleidigt? Falls ja, wen genau hatte er dann beleidigt? Und wie könnte er das wiedergutmachen? „Varazchavardan,“ sagte Odolo langsam. „Der ist es vielleicht gewesen.“ Odolo war mit unverbesserlichem Leichtsinn gestraft, wofür er in der Vergangenheit schon viele Male Ärger bekommen hatte. Vielleicht hatten ihn seine Witze wieder einmal „kopfüber in kochende Scheiße“ gestürzt, wie es die heimische Redensart so nett umschrieb. Vielleicht hatte er am Ende einen Albinoscherz zuviel gemacht? „Na schön,“ sagte Odolo. „Varazchavardan wird das wieder vergessen. Kaiserin Justina mag mich wirklich sehr.“ Dieser Gedanke schenkte ihm Zuversicht, doch diese Zuversicht war fehl am Platz. Denn das Blut war nur ein Vorbote größerer Gräuel, die sich noch ereignen sollten, und die Kaiserin sollte sich als machtlos erweisen, ihn vor jenen Gräueln zu bewahren. Wenig später stieg Odolo hinab in Ganthorgruks Speisesaal. Er knallte einen Pfiffer auf die Theke des Kochs, und man brachte ihm sein Frühstück. Es war eine braune und graue Schmiere, in der Brocken aus einem wackeligen Material herausragten. „Bei allen Göttern!“ sagte Odolo, während er in seiner Schüssel herumrührte. „Gibt es einen Arzt im Haus?“ „Schluss mit deinen billigen Späßen,“ sagte Jarry, der Koch, der einen Brummschädel hatte. „Wenn du’s nicht magst, dann kauf’s halt nicht.“ „Billig?“ sagte Odolo. „Kein Scherz ist billig, wenn der drohende Verlust des Lebens für dessen Eingebung sorgen muss. Es sei denn, das fragliche Leben wäre deines, lieber Jarry. Wenn jenes der Preis dafür sein sollte, wäre ein solcher Scherz ein echtes Schnäppchen.“ Jarry räusperte sich und spuckte aus, wobei er Odolo um Fingerbreite verfehlte. Der Beschwörer zog sich zurück, um sein Frühstück zu einem Tisch außerhalb der Spuckreichweite zu tragen. Dann fing er zu essen an. Seite 27 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Normalerweise bestand ein Teil von Odolos Tagesablauf darin, zum Vergnügen aller in Hörweite Anwesenden mit seinem Frühstück Tier – Gemüse – Mineral zu spielen. Doch an diesem Morgen schlabberte er das Essen kommentarlos in sich hinein, fast ohne es zu schmecken. Er dachte noch immer über den Krug voll Blut nach. Er beendete sein Frühstück, schob die Schüssel von sich weg und zahlte einen weiteren Pfiffer, um sich eine Tasse Kaffee mit Zimtaroma zu kaufen, mit der er zu seinem Lieblingsfenster ging. Von hier konnte er über die Dächer von Lubos zum Wasser des Laitemata schauen, zur Insel Jod, zur noch weiter südlich gelegenen Säbelinsel, zur Lagune jenseits der Säbelinsel, zum Außenriff und zur funkelnden Unermesslichkeit des offenen Meeres dahinter. Odolo liebte diese Aussicht. Während er an seinem Kaffe nippte, dachte er über all die Dinge nach, die er an diesem Tag zu erledigen hatte. Eigentlich sollte er zu der Vidal-Villa gehen, um sich in aller Form für den Scherz zu entschuldigen, den er beim Begräbnis des Alten Rotbeins gemacht hatte. Er musste seinen Bankdirektor beschwichtigen und dabei versuchen, das alte Ungeheuer davon zu überzeugen, dass die Überziehung längst nicht so groß war, wie das angeblich der Fall war. Weil es am folgenden Tag eine Versammlung der Bittsteller geben würde, sollte er dann lieber bei der Schatzkammer vorbeischauen, um das kaiserliche Zepter zu säubern. Dafür würde er nur wenige Augenblicke brauchen. Danach müsste er ein paar Kunststücke proben, für seinen Auftritt bei dem Bankett, das nach der Versammlung der Bittsteller stattfinden würde. In Ordnung. Und was sonst noch? Das Zimmer natürlich! Muss jemanden finden, der dieses blutige Zimmer saubermacht. Während sich Odolo noch diese Gedanken machte, schrie plötzlich das mit dem Aufräumen beschäftigte Dienstmädchen auf. Wenige Augenblicke später wusste er, warum. Miniatur-Regenbögen tanzten über der Frühstücksschüssel, die er vor kurzem geleert hatte, und in der Schüssel selbst wimmelte es nur so vor gereizten blauen Skorpionen. Seite 28 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 5 Die Insel Jod. Was und Wo? „Was“ ist ziemlich einfach. Die Insel war das Heim des Einsiedlerkrebses ebenso wie der Standort des prachtvollen Gebäudes aus importiertem weißem Marmor, in dem das Analytische Institut untergebracht war. „Wo“ ist genauso einfach. Die Insel Jod lag – und liegt dort noch immer, sollte man meinen – inmitten des Laitemata-Hafens. Im Norden das Festland von Untunchilamon und die Stadt Injiltaprajura. Im Süden die kleine Säbelinsel, danach die Außenlagune, die letzten Felsen des Riffs und dahinter das endlose blaue Meer. Was und Wo sind also erledigt. Wie wäre es mit dem Warum? Zur Hölle mit dem Warum! Das ist ein Buch der Chronik, keine Abhandlung über Philosophie. Sollte es für die Insel Jod, im weitesten Sinn, tatsächlich ein „Warum“ geben, so ist es jedenfalls nicht unsere Aufgabe, das zu untersuchen. Dann also: Wer. Eine Frage, die zu stellen sich schon eher lohnt. Es wohnten viele Leute auf Jod. Es gab beispielsweise Ivan Pokrov, den Leiter des Analytischen Instituts. Dann gab es da die Algorithmiker, Mechaniker, Küchenhilfen und andere. Aber wir wollen ganz unten beginnen. Wir wollen mit dem Niedrigsten der Niedrigen beginnen, was natürlich bedeuten muss, dass wir uns dabei ertappen, dass wir mit einem Ebrellianer beginnen. Um genau zu sein, mit dem jungen Chegory Guy. Wann sollen wir mit ihm beginnen? Am Morgen. Nicht am frühen Morgen, an dem wir den Beschwörer Odolo verlassen haben, wie er gerade fassungslos eine Schüssel voller Skorpione anstarrt. Auch nicht am frühen Vormittag, denn den haben wir stillschweigend verstreichen lassen. Nein, wir beginnen mit Chegory Guy am späten Vormittag, gegen Ende von Istarlat. Es war später Vormittag auf der Insel Jod, und Chegory Guy war wie immer in den Steingärten tätig. Er war stolz auf seine Arbeit und auf seinen Ruf als guter, zuverlässiger Arbeiter, der keine Aufsicht nötig hatte. Dummer Ebbie! Sein Stolz war äußerst fehl am Platz. Trotz all seiner Bemühungen hatte sich kein einziger der von ihm betreuten Steine auch nur um einen Fingerbreit vergrößert. Seine Steine waren unfruchtbar und vermehrten sich einfach nicht. Nutzlos waren seine Anstrengungen, und bitter ihre Früchte. [Es ist zu bezweifeln, dass dies eine ernsthaft gemeinte Kritik ist. Obwohl der Urheber zweifellos Ebbies hasst und verachtet (und wer will ihm das schon verdenken?), scheint er hier einen unüberlegten Versuch zu unternehmen, dem Humor zu frönen. Im Gegensatz zu Gemüsegärtnern wird von Steingärtnern weder verlangt noch erwartet, dass sie die Erde fruchtbar machen. Habble Skim macht geltend, dass man Kristallblumen kennt, die in den Tiefen der Wüste wachsen, und dass die Steine von Untunchilamon vielleicht eine ähnliche Fähigkeit zur Vergrößerung besitzen könnten. Das tun sie nicht. Ich spreche hier aus persönlicher Kenntnis. Eine anderslautende Theorie ist von Gin Anvil vorgebracht worden, der behauptet, dass hier offenkundig Wahnsinn am Werk sei. Aber ist er das wirklich? Obwohl das freilich eine Möglichkeit ist, fällt es schwer, einen anderen Abschnitt auszumachen, bei dem der Urheber auch nur leicht von der anerkannten Lehrmeinung bezüglich der Beschaffenheit und der Fähigkeiten des materiellen Universums abweicht. Obwohl ich nicht behaupte, dass ich den Reiz von „Humor“ begreife (und jegliche Unterstellung, dass ich ein „Humorist“ sei, als verleumderisch betrachten würde), glaube ich trotzdem, dass sämtliche Hinweise und Recherchen meine Auffassung unterstützen, dass wir es hier mit einem Scherz zu tun haben. Drax Lira, Chefredakteur.] Trotzdem war Chegory glücklich über seine Arbeit, selbst wenn sein Stolz auf seine Bemühungen töricht war. Er würde bei dieser Anstellung jedoch kaum reich werden, weil ihm sein Job nur fünf Pfiffer pro Tag einbrachte. Untunchilamon verwendete noch die amtliche Währung des Izdimir-Reichs, in der vierzig Pfiffer einen Dalmond ergeben, und zehn Dalmond einen Drachen, wobei jeder Drache im vorgeschriebenen Perlengewicht Seite 29 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Gold in Basiliskengüte enthält. Beachten Sie, dass man den hier erwähnten Dalmond nicht verwechseln darf mit der Münze gleichen Namens, die in Dalar ken Halvar ausschließlich für den Erwerb abgetriebener Föten verwendet wird. Beachten Sie auch, dass im Malud der Asral mit „Dalmond“ keine Währung bezeichnet wird, sondern ein Boot mit Gaffeltakelung. Die Dinge haben sich seit meiner Abreise von Injiltaprajura wohl kaum geändert, so dass es einem Reisenden, der gerade einen Besuch Untunchilamons plant, möglich sein sollte, sich auf die Reichswährung zu verlassen. Falls man jedoch von Obooloo aus aufbrechen will, sollte man beachten, dass die Türkis-Schnüre, die auf den Märkten von Ang so häufig als Tauschmittel Verwendung finden, in Untunchilamon nur weit unter Wert akzeptiert werden, wo einem die Geldwechsler höchstens zehn Prozent des Gebrauchswert geben wollen. Diese Geldwechsler sind auch höchst misstrauisch, wenn es um die Spings, Fleuten, Emmen und Zills geht, die von Obooloos Sklavengilde ausgegeben werden. Saladin-Ringe werden hingegen wie Bargeld behandelt, also genauso wie im Kernland des Reichs, und sie besitzen eine ähnliche Kaufkraft. Nach diesem Hinweis wollen wir zu Chegory Guy zurückkehren, der noch immer als Steingärtner auf Jod tätig ist, und der noch immer nicht mehr als fünf Pfiffer am Tag verdient. In Injiltaprajura bekommt man für einen Pfiffer genausowenig wie in Obooloo, und für fünf Pfiffer kann man sich kaum einen Kuss kaufen, geschweige denn eines der größeren Vergnügen. Wir kommen folglich zu der Erkenntnis, dass Chegory zweifellos arm war. Er hatte jedoch nur wenig Bedürfnisse. Sein Mittagessen bekam er umsonst, und er bezahlte nicht mehr als fünfzig Pfiffer pro Monat für seine Übernachtung in der Dromdanjerie. Deshalb kam er damit zurecht. Einige Zeit später arbeitete Chegory noch immer, als die Mittagsglocken läuteten. Ihre metallenen Stimmen klangen deutlich vernehmbar über das sonnengehämmerte Wasser des Laitemata herüber. Der junge Chegory beendete seine Arbeit und brachte das Mittagessen zum Einsiedlerkrebs. Er leerte das Mittagessen (zwei Eimer Hackfleisch) in den Trog vor der Höhle des Krebses. Dann trödelte er noch etwas herum, weil er sich fragte, ob er es wagen sollte, den Einsiedlerkrebs zu fragen, was in der vergangenen Nacht geschehen war. Was hatte dafür gesorgt, dass alle Lichter ausgegangen, sämtliche Hunde in der Stadt erwacht und plötzlich überall am Himmel Regenbögen erschienen waren? Der Krebs sollte es wissen, denn der Krebs war (zumindest vom Hörensagen her) allwissend. Chegory war neugierig; er wollte es wissen, nur um des Wissens selbst willen. Wenn er eine Antwort von Jods bedeutendstem Bewohner erringen könnte, würde ihm das darüber hinaus das notwendige Selbstvertrauen schenken, ihn auch bei schwerwiegenderen Angelegenheiten um Hilfe zu bitten. Was Chegory wirklich tun wollte, dass war, seine Rasse zu ändern. Seine Haut machte ihn als das kenntlich, was er war. Dank seines genetischen Erbes könnte er niemals dem schonungslosen Schubladendenken einer Gesellschaft entkommen, die ihm (zumindest) mit Geringschätzung begegnete. Infolgedessen hatte sich Chegory zwei verschiedene Geschichten für seine Tagträume ausgedacht, wobei die eine pessimistisch, die andere optimistisch war, aber beide gewisse Anziehungspunkte boten, die ihm in der Wirklichkeit nicht zur Verfügung standen. Bisweilen stellte er sich vor, dass er sich in einen Stein verwandelt hätte. In ein massives untätiges Objekt, das vollständig unbeachtet von der Öffentlichkeit blieb, die auf ihm herumtrampelte. Für einige Leute wäre das der Stoff für einen Albtraum gewesen, doch Chegory hatte Gefallen an so einer nicht gerade verheißungsvollen Träumerei, denn als Stein war er vor Gespött sicher, immun gegen Schmerzen, eine ganze Welt weit von Verletzungen entfernt. In seinen optimistischeren Tagträumen verwandelte er sich nicht in einen Stein, sondern in – in etwas völlig anderes. Es spielte keine Rolle, in was, solange dieses Etwas nicht wieder ein Ebbie war. Er sehnte sich danach, seine Seele mit dem Fleisch eines Ashdan zu bekleiden, oder seinem Geist ein Gewand im Rauchgrau des Volks der Janjuladoola aus dem Kernland des Reichs zu geben. Selbst die Blässe der Leute aus Wen Endex hätte ihm gefallen, obwohl diese Blässe weltweit von den Ästheten verachtet wird. Da Chegory in nächster Nähe zum Einsiedlerkrebs arbeitete und diesem Wesen täglich das Mittagessen brachte, war ihm ständig bewusst, dass man aus dem Stoff der Vorstellung den Stoff des Fleisches machen konnte, oder, anders gesagt, dass man aus seinem rothäutigen Fleisch etwas machen konnte, das eher der Vorstellung dieser Welt entsprechen würde. Aber er war ihm bisher noch nie gelungen, den Mut aufzubringen, den Krebs um Unterstützung zu bitten. „Auf was,“ sagte der Einsiedlerkrebs, „wartest du noch?“ Chegory wagte es nicht, seine Gedanken auszusprechen. Er bat ihn nicht um ein Wunder. Stattdessen fragte er nur kleinlaut: „Gibt es sonst noch etwas, das ich für Sie tun kann?““ Seite 30 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Worauf der Einsiedlerkrebs antwortete: „Geh’ mir aus der Sonne.“ Chegory trug die Essenseimer zurück zum Essenseimer-Stand, wo sie bleiben würden, bis sie der Metzgerjunge, der die täglichen Mahlzeiten des Krebses nach Jod brachte, am nächsten Tag wieder auffüllen würde. Dann wusch sich Chegory in einer munter fließenden Quelle die Hände. Dann zog er sich zum Mittagessen um. Für die Arbeit in der prallen Sonne trug Chegory einen Lendenschurz und Stiefel. Eine ungewöhnliche Kombination, aber sie war angemessen für seinen Job, denn er brachte oft seine Zehen in Gefahr, wenn er Steine mit dem Vorschlaghammer bearbeitete. Zum Mittagessen zog er eine leichte knielange Robe über seinen Lendenschurz. Später am Tag, wenn es Zeit würde, Jod zu verlassen, würde er seine Abendkleidung anziehen, die aus einer langen leichten Leinenhose und einem leichten langärmligen Hemd bestand, die beide vor allem zur Abwehr der nächtlichen Moskitos getragen wurden. Diese Chronik hat gewichtigere Anliegen, als sich mit Mode zu beschäftigen, aber jene, die ein Interesse an solchen Dingen haben, werden bemerken, dass dies die einigermaßen übliche Bekleidung für Männer der unteren Schichten auf Untunchilamon war, abgesehen davon, dass die meisten lieber barfuß gehen oder Sandalen tragen würden, als sich mit Stiefeln zu belasten. Frauen der unteren Schichten würden jedoch unabhängig von der Tageszeit ausschließlich Hose und Hemd tragen. Leute höheren Rangs, wie zum Beispiel Ivan Pokrov oder Artemis Ingalawa, würden dazu neigen, die ganze Zeit knöchellange Roben zu tragen, während Hexer niemals, tot oder lebendig, in etwas anderes zu sehen waren als in langen fließenden und äußerst prächtig bestickten Seidenroben. Soviel also zur Kleidung. Als Chegory seine Hände gewaschen und sich für das Mittagessen umgezogen hatte, betrat er das weiße Marmorgebäude, in dem das Analytische Institut untergebracht war. Dort sangen die Windspiele: Kling klong Schting Schtong… Es war die Jahreszeit des Fistavlir, der Langen Dürre. Doch es gab trotzdem gerade soviel Wind, um den Windspielen etwas träge Musik zu entlocken. Unterdessen, zurück auf dem Festland – aber das haben Sie sich schon gedacht. Natürlich. Der Beschwörer Odolo, der Offizielle Hüter des Kaiserlichen Zepters, war in der Schatzkammer. Und hatte das kaiserliche Zepter auf dem Boden liegend vorgefunden, wo es die Hand eines Diebs fallen gelassen hatte. Und Odolos Herz hämmerte wie wild, denn der Wunschstein, die unvergleichliche Zierde jenes Zepters, war verschwunden! Zu dem Zeitpunkt, an dem Chegory Guy bereit war, Platz zu nehmen für sein eigenes Mittagessen auf der Insel Jod, hatte Odolo bereits Alarm ausgelöst, und die Truppen hatten bereits mit der Suche nach den Schuldigen – oder nach passenden Sündenböcken – begonnen. Aber davon wusste Chegory nichts, und deshalb blieb sein Appetit auf das Mittagessen vollkommen unverdorben. Er fühlte sich hungrig, entspannt und ziemlich zufrieden, während er in das vornehme Speisezimmer schritt. Die übliche Gesellschaft war bereits dort und wartete höflich darauf, dass Chegory eintreten würde, ehe sie sich selbst hinsetzte. Anwesend war der olivgrüne Hautfarbe besitzende Ivan Pokrov, der Leiter des Analytischen Instituts und der Meister der Analytischen Maschine. Und die Mathematikerin Artemis Ingalawa vom Volk der Ashdan, die wie immer daran gearbeitet hatte, Algorithmen zur Nutzung der zuvor erwähnten Maschine zu entwickeln. Olivia Qasaba, die den ganzen Morgen in der Dromdanjerie gearbeitet hatte, bevor sie sich auf den Weg nach Jod gemacht hatte. Zu guter Letzt Chegorys Altersgenosse Ox No Zan, der ausländische Student, der den ganzen Weg von Babrika gekommen war, um unter Ivan Pokrovs Leitung zu studieren. Heute sah der junge No ausgesprochen elend aus, denn er hatte an diesem Nachmittag eine Verabredung mit Doktor Tod, dem Zahnarzt. Als Chegory das Zimmer betrat, entstand ein Stühlerutschen, weil all diese üblichen Essensteilnehmer ihren Platz einnahmen. Alle bis auf Ingalawa, die eine Sache erledigen musste, bevor sie sich entspannen konnte. „Was gibt’s zum Essen?“ sagte Chegory. „Meeresschnecken,“ sagte Olivia. Seite 31 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Oh, gut,“ sagte Chegory mit leicht durchschaubarer Begeisterung. „Und fliegenden Fisch,“ sagte Olivia. „Noch besser!“ sagte Chegory und zog sich einen Stuhl heran, um sich hinzusetzen. „Die Hände!“ sagte Ingalawa. Dieser Händetest war die einzige Pflicht, die sie davon abhielt, sich zu entspannen. Sie nahm ihn wirklich äußerst ernst. Widerwillig streckte Chegory seine Pfoten aus. „Ich hab’ sie gewaschen,“ sagte er. „Sofort, nachdem ich den Einsiedlerkrebs gefüttert hab’. Ich hab’ sie gründlich gewaschen.“ „Sie sind dreckig!“ sagte Ingalawa. „Schau! Schwarze Schmiere unter den Nägeln!“ Chegory errötete so heftig, dass sein Erröten sichtbar wurde, obwohl er ja schon von Anfang an rote Hautfarbe besaß. „Naja, was erwarten Sie denn,“ sagte er. „So ist das nun mal beim Steingärtnern.“ „Du hast Rechen, Schaufeln, und weiß Gott was. Warum musst du bloß mit deinen Händen herumgraben?“ „Darum eben,“ sagte Chegory. „Das ist ein fachliches Detail.“ „Was für fachliche Details soll es schon bei Steinen geben?“ sagte Ingalawa. „Wenn Sie es unbedingt wissen wollen,“ sagte Chegory. „Ich hab’ gerade den Fettabscheider gesäubert, wissen Sie, wo das ganze Küchenwasser…“ „Warum in aller Welt hast du denn das gemacht?“ Chegory fing an, sich aufzuregen. Sich sogar zu ärgern. „Na schön, es ist wegen der Steine gewesen, in Ordnung, meine Steine sind dort hineingeraten, ich meine, ich hab’ sie nicht dort hineingetan, es sind wahrscheinlich diese Kinder gewesen, wissen Sie, dieses Marthandorthan-Pack, die kommen abends über die Hafenbrücke, die toben hier einfach herum. In Ordnung, also sind dort die ganzen Steine drin, und jede Menge Dreck und Schmiere und so. Also was soll ich da wohl tun, soll ich vielleicht einen großen Wirbel deswegen machen? Ich meine, wen außer mir würde das interessieren?“ „Du hättest trotzdem…“ „Ach, lass’ doch den Jungen in Ruhe,“ sagte Pokrov. „Wir wollen essen.“ „Bevor er seine Hände gewaschen hat?“ sagte Ingalawa. „Er wird schon nicht das Zeug unter seinen Nägeln herausschlecken, oder? Setzt euch beide jetzt hin. Esst, esst!“ Widerstrebend gab Ingalawa die Zivilisierung von Chegory Guy vorübergehend auf und setzte sich. Chegory, der noch unter Ingalawas Tadel litt, nahm seinen Platz ein. Olivia grinste ihn von der gegenüberliegenden Seite des Tisches an. Sie hatte bereits einen fliegenden Fisch auf ihrem Teller und spielte mit ihren Fingern an seinen Flügeln herum, um sie zu öffnen und zu schließen und dabei so zu tun, als ob er noch herumfliegen würde. Ihr Grinsen spornte Chegory an, es ihr nachzutun. Er befand sich in größter Versuchung – doch ein Blick auf Ingalawa zeigte ihm, dass ihn die gelehrte Ashdan-Frau immer noch wie ein Drache bewachte. Seite 32 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Einen Augenblick später sah sie, was Olivia gerade tat. „Olivia!“ Dieses Wort wurde von einer Hand begleitet, die fest auf den Tisch schlug. „Chegory ist schuld daran,“ sagte Olivia, wobei sie die Flügel des fliegenden Fisches fallen ließ. „Er hat mich dazu angestiftet.“ Chegory trat unter dem Tisch nach ihr. Olivia trat nach ihm zurück, und zwar fest. Er packte ihren Knöchel. Presste seinen Daumen auf einen Druckpunkt zwischen der Sehne der Ferse und dem dazugehörigen Knochen. Olivia riss ihr Bein zurück. Ihre Reaktion war so heftig, dass ihr Knie mit einem dröhnenden Schlag gegen die Unterseite des Tisches rammte, wodurch das Currypulver umkippte und die Soße für die fliegenden Fische verschüttet wurde. „Jetzt reicht’s aber!“ rief Ingalawa. Olivia blickte Chegory an. Chegory blickte zurück. Er zwinkerte ihr zu. Olivia presste sich die Hände vor ihr Gesicht, als ob sie sich übergeben müsste. In Wirklichkeit versuchte sie einen Kicheranfall zu unterdrücken. Es gelang ihr nur unvollständig. „Ich meine es ernst,“ sagte Ingalawa in ihrem Ihr-Seid-Jetzt-Erwachsene-Und-Keine-Kinder-Mehr-Und-IchErwarte-Dass-Ihr-Euch-Entsprechend-Benehmt Ton. „Noch irgendein Unsinn von einem von euch, und ihr könnt beide den Tisch verlassen, rausgehen und in der Küche essen.“ „Au ja, dürfen wir?“ sagte Olivia eifrig. „Nein!“ sagte Ingalawa. „Möchte jemand etwas Eiswasser haben?“ sagte Ox No Zan. Er war zutiefst bekümmert über die Zurschaustellung schlechter Manieren, die die Mahlzeit gestört hatte. In seiner Heimatstadt Babrika wäre eine solche Auseinandersetzung undenkbar gewesen. Jede junge Person, die so unhöflich gewesen wäre, sich vor einer älteren Person derart daneben zu benehmen, wäre… naja, das Wenigste wäre gewesen, bei lebendigem Leib gehäutet zu werden. „Vielen Dank,“ sagte Ingalawa, die Nos Unbehagen bemerkt hatte und ihm folglich aus reiner Liebenswürdigkeit erlaubte, seinen Versuch, hier diplomatisch einzugreifen, erfolgreich zu Ende zu bringen und diese Szene damit zu beschließen. Etwas später, als die Mahlzeit richtig im Gang war, überbrachte Artemis Ingalawa Ivan Pokrov die Nachricht. Er war eingeladen worden, am kommenden Abend im Haushalt der Qasaba zu speisen. Er sagte, er würde es sich überlegen. Warum solches Zögern? Weil Jon Qasaba die Angewohnheit hatte, Pokrov auszuhorchen. Der es bevorzugte, die Wahrheit über sein Alter, seine Herkunft und seine Vergangenheit geheimzuhalten. Ivan Pokrov war ein ehemaliger Angehöriger des Goldenen Gulag, und obgleich der Gulag vor zwanzigtausend Jahren in einem Krieg zusammengebrochen war, ließen sich alte Gewohnheiten nur schwer überwinden. Pokrov war bezüglich seiner wahren Identität deshalb so zugeknöpft, weil er ein Verbrecher auf der Flucht war. Er hatte gegen die Unterlassungsverfügung AA709/4383200/1408 in der Version 7C des zugelassenen Strafgesetzbuches des Goldenen Gulag verstoßen. Fürwahr ein abscheuliches Verbrechen! Und außerdem ein Seite 33 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 bis zum heutigen Tag ungesühntes Verbrechen, denn bisher war Ivan Pokrov dem ausgedehnten schmerzbetonten Nachhilfeunterricht entkommen, den er so hoch verdient hatte. „Du musst kommen,“ beharrte Ingalawa. „Jon sagt immer wieder, dass wir uns deiner Gesellschaft lange nicht erfreut haben… naja, er sagt, es fühlt sich an, als wären inzwischen Jahrtausende vergangen.“ Ivan Pokrov, der bereits wegen der Hitze des Tages schwitzte, begann noch mehr zu schwitzen. Wollte Ingalawa damit andeuten, dass bereits alles bekannt war? Ehe sich Pokrov darüber weitere Sorgen machen konnte, trat ein Diener ein, um ihm mitzuteilen, dass ihn ein Besucher zu sprechen wünschte. „Wir sind mitten beim Essen,“ sagte Pokrov. „Der Besucher,“ sagte der Diener, „ist der Meister der Rechte, Aquitaine Varazchavardan.“ „Oh,“ sagte Pokrov. „Das ist natürlich etwas anderes! Bitte ihn sofort herein.“ Kurz darauf wurde Aquitaine Varazchavardan eingeladen, an der Tafel Platz zu nehmen. Chegory Guy war es sehr peinlich, sich in der Gegenwart eines Mitglieds des kaiserlichen Hofs zu befinden. Dem Gebot der Höflichkeit folgend, erhob er sich und zeigte seine Ehrerbietung in der Art der Janjuladoola: mit zusammengepressten Handflächen leicht die Knie beugend, um die Körpergröße zu verringern, während der Kopf eine kurze Verbeugung in Richtung der Fingerspitzen vollführt. Varazchavardan gab sich keine Mühe, diese Huldigung zu würdigen. Er schien gar nicht zu bemerken, dass es Chegory überhaupt gab, während er sich Pokrov mit den Worten zuwandte: „Pokrov! Haben Sie mir irgendetwas mitzuteilen?“ Varazchavardan benutzte bei seinen Opfern häufig diese offene Frage in dem Bemühen, sie einzuschüchtern und so zu erschrecken, dass sie ihm hemmungslos Geständnisse lieferten. Aber auf den Meister des Analytischen Instituts hatte sie keine solche Wirkung, denn er sagte: „Naja, freilich. Willkommen, willkommen! Möchten Sie sich nicht setzen? Bitte sehr. Heute gibt es bei uns Meeresschnecken. Schauen Sie doch. Grün und saftig. Haben Sie jemals irgendetwas Schöneres gesehen?“ Pokrov kannte seinen Mann. Varazchavardan war weder ein Vielfraß noch ein Feinschmecker, aber er hatte eine bekannte Schwäche für Meeresschnecken. Er nahm die Einladung an. Allerdings gestattete er sich nicht, sich lange zu verköstigen, ehe er zur Sache kam. „Pokrov,“ sagte er, „hat Ihre Analytische Maschine zufällig irgendetwas mit den Ereignissen der letzten Nacht zu tun?“ „Nein,“ sagte Ivan Pokrov. „Was letzte Nacht passiert ist, lässt vermuten, dass jemand an der Wahrscheinlichkeit selbst herumhantiert hat. Meiner Maschine fehlt die Kraft, so etwas zu tun, denn sie besteht nur aus einem Sammelsurium von Metallteilchen.“ „Aber dennoch,“ sagte Varazchavardan, „denkt sie.“ „Sie denkt nicht,“ sagte Pokrov. „Sie trifft nur gewisse Schlussfolgerungen. So, wie sich die Fingerfertigkeit eines Beschwörers zur Magie eines echten Hexers verhält, so verhält es sich auch mit den Schlussfolgerungen, die sich die Maschine zu meinem Vergnügen gönnt, im Vergleich zu der Freiheit meiner und Ihrer Gedanken.“ Trotz Pokrovs ablehnender Worte bestand Varazchavardan darauf, die Analytische Maschine nach dem Mittagessen zu inspizieren. Mittlerweile hatte Chegory bemerkt, dass Olivia die ganze Zeit kleine begehrliche Blicke in Richtung des Wunderwirkers warf. Er merkte, dass ihn eine schreckliche Eifersucht erfasst hatte. Was konnte ein alter Mann wie Varazchavardan schon haben, das Chegory Guy nicht hatte? Man könnte zahlreiche Antworten postulieren, denn Varazchavardan war immerhin ein Mitglied des kaiserlichen Hofs, wohingegen der junge Chegory nur ein drachenloser Steingärtner war. Aber wir wollen die Wahrheit enthüllen. Das süße Ashdan-Mädchen war nicht Seite 34 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 von Begierde nach dem Wunderwirker selbst erfasst worden, sondern nach seiner Robe, einer seidenen Festrobe, die auf wunderbarste Weise bestickt waren mit verschlungenen Drachen, die in vielen Farben glänzten und funkelten, golden und silbern, smaragdgrün und zinnoberrot, fleischfarben und ultramarinblau. Chegory, der das nicht wusste, war erleichtert, als das Mittagessen dem Ende zuging. Als das Mittagessen beendet war, entfernte sich Ox No Zan, damit er seine Verabredung mit Doktor Tod einhalten konnte. Artemis Ingalawa kehrte zu ihren algorithmischen Arbeiten zurück. Pokrov forderte Chegory und Olivia auf, sich mit ihren mathematischen Übungen zu beschäftigen, die (wie immer) ihren gesamten Nachmittag ausfüllen würden, und dann geleitete er Varazchavardan zum Zählhaus, in dem die Analytische Maschine bei der Arbeit war. Pokrov lieferte seine übliche Erklärung zur Funktionsweise der Maschine und schloss mit folgenden Worten: „Folglich ist das, was wir hier sehen, nicht mehr als eine mechanische Manipulation von Mustern. Die Person, die sich die Vorschriften ausdenkt, nach denen diese Muster manipuliert werden sollen, übt Intelligenz aus. Das macht auch diejenige Person, die die tatsächlichen Mechanismen entwirft, die es den Daten ermöglichen, von solchen Algorithmen verarbeitet zu werden. In der Maschine selbst gibt es jedoch keinen Dämon. Sie weiß überhaupt nichts, ihr fehlt jegliches eigenes Bewusstsein, und sie wird von den gleichen mechanischen Gesetzmäßigkeiten beherrscht, die einen Stein beherrschen, der hilflos einen Abhang hinabrollt. Mit anderen Worten, sie kann nicht denken, sie denkt nicht, und sie wird niemals denken können.“ Aber trotz Pokrovs Erklärung fand der Meister der Rechte die Analytische Maschine nicht durchschaubarer als zuvor. Die kolossale Anlage (auch bekannt als die Mühlen von Jod) entzog sich noch immer seinem Verständnis. Sie war noch immer nicht mehr als ein Gewirr aus Messing und Stahl, aus miteinander verzahnten Rädchen aus Titan (die einzige Quelle dafür sind Feuerklappen, die man Drachenkadavern entnimmt), aus Hebeln und Drähten und Ratschen-Vorrichtungen. „Was macht sie gerade?“ sagte der Meister der Rechte. „Eine statistische Analyse der jüngsten Volkszählung,“ sagte Ivan Pokrov. „Die Steuereintreiber wollen wissen, wie sie am besten mehr Geld aus der Bevölkerung pressen können. Wir werden ihnen die Antwort liefern. Zur rechten Zeit! Die Mühlen von Jod mahlen langsam, aber sie mahlen außerordentlich fein.“ Der albinotische Hexer hatte ein Gespür für Andeutungen. Er begriff, was ihm Pokrov gerade mitteilen wollte. Nämlich, dass das Analytische Institut Freunde höheren Orts besaß. Es arbeitete für niemand Geringeren als die Steuereintreiber. Na gut! Selbst Varazchavardan schreckte, zumindest vorläufig, davor zurück, etwas gegen die Behörde der Steuereintreiber zu unternehmen. Sobald er aber die Macht auf Jod ergreifen sollte, würde er großen Wert darauf legen, die Maschine zu zertrümmern und Pokrov bei lebendigem Leib zu verbrennen. Schon aus Prinzip. Aus welchem Prinzip? Aus einem sehr einfachen Prinzip: nämlich, dass alles Unbegreifliche gefährlich ist. Varazchavardans hauptsächlicher Einwand gegen die Existenz der Analytischen Maschine war, dass er sie beim besten Willen nicht verstehen konnte. Oh, er konnte freilich den muskulösen Maschinisten zusehen, die in den Tretmühlen ihren Schweiß vergossen. Er konnte begreifen, wie das Übertragungssystem funktionierte, das die Energie der von Menschenkraft angetriebenen Zylinder einspeiste, um die Metallteilchen zum Wirbeln zu bringen. Er sah die Kupferkarten mit ihren rätselhaften Feldern aus gestanzten Löchern. Er sah anderen Maschinisten zu, wie sie diese Karten in die schmalen Fugen der Maschine steckten. Er sah, wie sich Nadeln auf diese Karten herabsenkten – und vor seinem geistigen Auge ersetzte er die gefühllosen Karten mit Ivan Pokrovs Fleisch, um ihn auf diese Weise zu foltern. All das sah er. Aber – wie konnte irgendeine dieser sinnlosen insektenmäßigen Tätigkeiten der Maschine erlauben, zu denken? Denn denken, das tat sie wirklich, das musste sie einfach, ihr blieb gar keine andere Wahl! Wie sonst könnte sie selbst die vernunftbegabtesten Analytiker unter den Steuereintreibern übertreffen? Pokrov log. Musste einfach Seite 35 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 lügen. Dieses Sammelsurium von Metallteilchen war nur die lächerliche Fassade. Hier verbarg sich echte Magie. Irgendwo. Hier gab es Macht. Und Varazchavardan schwor sich, ihr Geheimnis Pokrovs versengtem und blutigem Körper zu entreißen, bevor er diesen Körper endgültig zu einer Leiche machen würde. Nach beendeter Inspektion verabschiedete sich Varazchavardan an der Tür des Analytischen Instituts von Ivan Pokrov und begann, zum Strand hinabzulaufen. Er war schon fast dort angekommen, als Flüssigkeiten aus den Schatzquellen, mit denen der Abhang unterhalb des Zählhauses übersät war, aufzusteigen begannen. „Oh nein!“ sagte Ivan Pokrov. Oh ja! Es passierte soeben! Nichts konnte es aufhalten! Während Pokrov hilflos zusah, erfüllte sich die Luft mit den gewohnten stechenden Geruch, während die Chemikalien aus den Schatzquellen herausströmten. Ihre Flut umspielte zunächst nur die Knöchel von Aquitaine Varazchavardan, stieg dann aber schnell mit erstaunlicher Geschwindigkeit an. Der albonitische Hexer befand sich plötzlich hüfttief in einem wahren Sturzbach aus gallengrünem Dickel und schmutziggrauer Schlack. Er verlor den Halt und wurde ins Meer hinweggespült. „Hoffentlich ersäuft er,“ murmelte Pokrov. Verstehen Sie das jetzt nicht falsch. Pokrov war ein sehr freundlicher Mann. Aber er wusste, dass das Analytische Institut und alle, die damit zu tun hatten, zehntausendmal sicherer sein würden, wenn Varazchavardan ein schlimmes Ende finden würde. Aquitaine Varazchavardan schwamm jedoch mit bemerkenswerter Leichtigkeit zur Hafenbrücke und zog sich dort hinauf. Dann richtete er sich auf. Der Meister der Rechte gab sich keinem theatralischen Getue hin, und deshalb drehte er sich nicht um, um drohend seine Faust zu schwenken. Während er sich auf den Weg zum Strand von Injiltaprajura machte, lag trotzdem etwas in seinen zielstrebigen Schritten, das seine Laune ganz eindeutig verriet. Seite 36 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 6 Man würde gern annehmen, dass sich Chegory Guy und Olivia Qasaba während der ganzen Zeit fleißig mit ihren mathematischen Übungen beschäftigt hatten. Aber das hatten sie nicht. Olivia hatte ein beachtliches Geschick für Zahlen, konnte Zahlen aber nicht leiden. Ihrem rothäutigen Gefährten mangelte es dagegen vollständig sowohl am Geschick als auch an der Neigung. Man muss allerdings zugeben, dass der junge Chegory trotz solchen Mangels durchaus beachtliche Fortschritte beim Studium der Zahlen gemacht hatte, ob sie nun rational oder irrational waren, positiv oder negativ, ganz oder gebrochen, teilerfremd oder partiell, imaginär oder obszön, und die Aufstellung elementarer Rechenvorschriften war ihm mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen. Er war auch vertraut mit der Mathematik der Potentiale und Nicht-Potentiale, der Punkte und Unendlichkeiten, der Singularitäten und der Leerstellen. Obwohl Chegory die intellektuelle Finesse Olivias fehlte, hatte er dennoch die elementare Spieltheorie verdaut und deren gesellschaftspolitische Schlussfolgerungen verstanden. In den folgenden Disziplinen hatte er ebenfalls einen gewissen Grad an Können erreicht: bei der schlüpfrigen kontextbezogenen Arithmetik des Hyperraums, bei der Berechnung von Wahrscheinlichkeitskurven im n-dimensionalen Realraum, und bei der Bestimmung der Struktur fundamentaler topografischer Oberwellen im polydimensionalen Nicht-Raum. Vollständig gescheitert war er jedoch an der Thaldonischen Mathematik, die unerlässlich ist für ein korrektes Verständnis von allem, von der Natur der Wirklichkeit bis hin zur Beschaffenheit transkosmischer Übergänge, denn dieser Zweig der Theorie ist dafür entwickelt worden, die Beschreibung jener Klasse von Ereignissen zu unterstützen, die verknüpft sind mit dem Auftreten von Klayta, oder, wie sie Habada Kolebhavn so elegant bezeichnet hat, von „dynamischen Objekten zeitweiliger Existenz und unbestimmter Wahrscheinlichkeit“. Salopp gesagt, ist das die Mathematik der Spannungen, die zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Unwahrscheinlichen existieren, ohne die ein Verständnis der echten Fortschrittlichen Theorie unmöglich ist. Ich kann Chegorys Probleme verstehen, weil ich selbst dreißig Jahre lang unter Ivan Pokrov studiert habe, aber gleichermaßen an der Thaldonischen Mathematik gescheitert bin. Trotzdem zeigt Chegorys Unvermögen, seine Studien in Abwesenheit seines Lehrers fortzusetzen, den Ebrellianer in ihm, der sich hier ohne jeden Zweifel offenbart. [Die eigene Meinung über den Urheber wird sehr geschmälert, wenn man feststellt, dass der Urheber sein eigenes Talent mit dem eines Ebrellianers vergleicht, wenn auch auf einem sehr unbedeutenden Gebiet seiner Bemühungen. Man hat auch das Gefühl, dass sich der Urheber hier einer Ausdrucksweise bedient, die unnötig hochtrabend ist, mit der Folge, dass hier vieles erwähnt wird, das sich nur schwer erklären lässt. So bezieht sich beispielsweise „Spieltheorie“ vermutlich auf das Verfolgen der Spielstände bei sogenannten Belustigungen, zum Beispiel bei der ritualisierten Auseinandersetzung, die auf den Ebrellen als „Ruck“ bekannt ist, aber vom Text selbst lässt sich das nicht herleiten. Man bedauert das Fehlen jeglicher Fußnote, um den kurz zitierten Habada Kolebhavn zu identifizieren, der bei unseren eigenen Forschern unbekannt ist. (Es gibt in Obooloo einen unbedeutenden Dichter namens Handana Kodendarden, aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass er die betreffende Person ist.) Der Ausdruck „Klayta“ ist bei unseren eigenen Lexikografen unbekannt. Der Zusammenhang lässt vermuten, dass er sich auf Träume bezieht, oder möglicherweise auch auf Erinnerungen, auf Schatten oder auf Lügen. Aber wie könnte man eine Mathematik der Träume besitzen? Oder der Schatten? Hier lohnt es sich, zu wiederholen, dass eine gewissenhafte Befragung aller Fachleute bestätigt hat, dass nur vier mathematische Rechenvorgänge möglich sind, nämlich Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Manche unserer Leser haben darauf hingewiesen, dass der obige Text das Gegenteil andeutet. Wenn dem so ist, dann liegt der Text falsch. Ein kurzer Gebrauch des gesunden Menschenverstands wird einem schnell zeigen, warum das der Fall ist. Dieser Kommentar wurde eingefügt auf Anweisung des Obersten Faktenprüfers Jan Borgentasko Ronkowski.] Normalerweise gab sich Chegory große Mühe, seine Faulheit zu verbergen, aber dieses Mal wurde er erwischt, denn als Ivan Pokrov ins Arbeitszimmer zurückkehrte, traf er Olivia und Chegory dabei an, wie sie gerade Papier-Stein-Schere spielten. „Warum arbeitet ihr nicht?“ sagte Pokrov. „Bei diesem Gestank?“ sagte Olivia. „Wie sollen wir denn arbeiten, wenn wir kaum schnaufen können?“ Seite 37 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Man muss zugeben, dass der Gestank von soviel Dickel und Schlack nur schwer zu ertragen war. Trotzdem weigerte sich Pokrov, sein Mitgefühl zuzugeben. „Wir wollen arbeiten,“ sagte er. „Beginnen werden wir mit einem Überblick über die grundlegende Topologie fester Körper. Und zwar in Form einer mündlichen Prüfung.“ Mit diesen Worten öffnete er einen staubigen, seit vielen Monaten unberührten Schrank, nahm eine Kiste voller Formen heraus und fing an. „Was ist das?“ sagte er, wobei er ein stabil gebautes Holzmodell hochhielt, das einem Oktaeder ähnelte, auf dessen acht Flächen dreiflächige Pyramiden aufgesetzt waren. „Das,“ sagte Chegory Guy, „ist ein Triakisoktaeder.“ Diese gelangweilte Antwort bestürzte Pokrov. Er hatte gehofft, in seinen Schülern etwas Leidenschaft anzufachen, und deshalb hatte er sie absichtlich beleidigen wollen, in dem er ihre Aufmerksamkeit auf solchen Kindergarten-Kram gerichtet hatte. Aber offenkundig war zumindest der Ebrellianer nicht fähig, intellektuell erregt zu werden, jedenfalls heute nicht. In Wahrheit war es Chegory völlig egal, ob sie sich mit den grundlegendsten Grundlagen oder mit den Höheren Arkana beschäftigten. Ihm missfiel das Studium der Unmenschlichkeiten ganz und gar. Selbst der Anwesenheit von Olivia Qasaba gelang es nicht, Freude in die Unterrichtsstunden zu bringen. Fast wünschte er sich, er wäre bei Ox Zan, um Doktor Tods zärtliches Erbarmen zu erdulden. Die Lektionen zogen sich immer länger dahin, bis sie endlich eine Pause für den Nachmittagstee einlegten, bei der sich Artemis Ingalawa zu ihnen gesellte. Nachmittagstee! Ah ja! Eine der größten Errungenschaften des Izdimir-Reichs ist es, diesen Brauch allgemein verbreitet zu haben. Wie wohltuend ist es doch, im Freien zu sitzen, um grünen Tee zu trinken und dabei wohl begründete Vermutungen über die Herkunft desselbigen anzustellen, während man den Wolken dabei zusieht, wie sie sich immer wieder neu formen. Bloß gab es keine Wolken auf Jod während der Jahreszeit des Fistavlir. Es gab nur den schmerzhaft blauen Himmel. Und den Gestank von Dickel und Schlack, die aus den Schatzquellen herausströmten. Und es lag kein Geheimnis in der Herkunft des Tees. Er kam natürlich aus Chay, also von jener hafenlosen hochaufragenden Insel, die sich südöstlich von Untunchilamon befindet, inmitten des Ozeans zwischen Injiltaprajura und der Küste von Yestron. Chay ist freilich der maßgebliche Lieferant für Tee, Kaffee und Gewürze aller Art für die Region… [Hier ist eine ausführliche Erdkunde-Lektion herausgeschnitten worden. Auf Anweisung des niederrangigen Redakteurs Eder Digest. Es gibt keinen, der nervtötender ist als der Urheber dieses Textes, wenn besagter Urheber seinem schulmeisterlichen Drang nachgibt.] Sie saßen also da, tranken Tee, und sahen dabei für die ganze Welt so aus, als ob sie Aristokraten aus Ang wären. Während sie sich auf diese Weise selbst vergnügten, kam eine kleine sonnenhelle Kugel durch die Luft gehüpft. „Schäbbel!“ sagte Ivan Pokrov scharf. „Du bist zu hell.“ Der Imitator der Macht blendete das Licht zu einem matten Glühen ab. Dann begann er mit großer Erregung eine wilde Geschichte zu erzählen, über seine Abenteuer im Drunten, über Gefahren, auf die er gestoßen war, und über Gefangene, die er verhaftet hatte. Chegory, Olivia, Ingalawa und Ivan Pokrov hörten zu, bis Schäbbel fertig war. „Du hast also ein paar Piraten verhaftet,“ sagte Pokrov, der diese Geschichte nur zur Hälfte glaubte. „Was hast du dann mit ihnen angestellt? Hast du sie aufgegessen?“ „Ich bin eingeschlafen,“ sagte Schäbbel schlicht. „Als ich aufgewacht bin, sind sie fort gewesen.“ Dann, in sehr verletztem Ton: „Aber sie haben gesagt, das würden sie nicht tun! Sie haben es versprochen! Ich hab’ sie dazu gezwungen! Sie haben gesagt, sie würden ganz brav sein, sie würden nirgendwo hingehen, sie würden nicht davonlaufen. Aber genau das haben sie getan, sie haben’s getan, sie haben’s getan! Allein, ich bin ganz allein gewesen, ganz allein Drunten, ich bin aufgewacht und sie sind fort gewesen, fort, sie haben mich verlassen, oh, oh, oh!“ Seite 38 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Schon gut!“ sagte Pokrov in seinem gütigsten Ton. „Jetzt bist du nicht mehr allein. Du bist bei uns.“ „Jawohl, das bin ich!“ sagte Schäbbel und erhellte sich sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinn. „Wir wollen losziehen und sie jagen, gell? Ich mag Drunten zwar nicht, aber das geht schon in Ordnung, wenn ihr mich begleitet. Vielleicht können wir sie fangen. Wir würden berühmt werden. Sie haben den Wunschstein dabei, also würden wir Helden sein, wenn wir sie finden würden.“ „Den Wunschstein?“ sagte Pokrov. „Von dem hast du uns aber nichts erzählt!“ „Oh, sie haben ihn aus der Schatzkammer gestohlen,“ sagte Schäbbel. Pokrov hielt das für höchstwahrscheinlich unwahr, denn die Schatzkammer von Injiltaprajura wurde schwer bewacht. Hätten sich Piraten über Nacht den Zugang zu ihr erkämpft, hätte mittlerweile die ganze Stadt davon gehört. „Ich glaube, du flunkerst,“ sagte Pokrov. „Tu ich nicht!“ sagte Schäbbel, der sich zurecht verletzt fühlte. „Na schön, es spielt sowieso keine Rolle,“ sagte Pokrov. „Ich werde nicht nach Drunten gehen. Wir könnten dort einen Dorgi treffen.“ Sofort wünschte sich Pokrov, er hätte den Mund gehalten. Er hatte von Dorgis gesprochen! Im Beisein Ingalawas! Wenn er nicht besser aufpassen würde, würde er sich demnächst dabei ertappen, sein Wissen über den Goldenen Gulag zu gestehen. „Sämtliche Dorgis sind tot,“ sagte Schäbbel. „Sie sind vor hunderttausend Jahren gestorben.“ „Was,“ sagte Chegory, „ist ein Dorgi?“ „Ein Art von Hund,“ sagte Pokrov, der sich wie wild etwas ausdachte, um seinen Patzer zu überspielen. Er hatte vorgehabt, zu lügen, aber zufällig erzählte er unbeabsichtigterweise die Wahrheit. Denn es gibt eine Rasse von Hunden, die man als Dorgis bezeichnet. Es sind bösartige Killer, die man in Dalar ken Halvar züchtet, indem man Jagdhunde der Lashund-Gattung mit der schwergewichtigen Hundesorte kreuzt, die man unter dem Namen Höllenschweine kennt. „Eine Art von Hund?“ sagte Ingalawa. „Ich hab’ noch nie etwas von Hunden im Drunten gehört.“ „Das sind keine Hunde!“ sagte Schäbbel in großer Erregung. „Das sind Killer, Killer, das sind sie durch und durch. Der Goldene Gulag hatte Tausende davon.“ „Gulag?“ sagte Olivia. „Was ist ein Gulag?“ „Etwas aus Schäbbels Fantasiewelt,“ sagte Pokrov. „Ganz und gar nicht,“ sagte Schäbbel. „Es ist ein Reich, genau das ist es.Ein riesiges Reich mit sieben Planeten und fünfzigtausend Millionen Leuten, oh, und die Sonnenschiffe, die sind das Beste daran gewesen, ich hab’ einmal zur Sonne mitfahren dürfen, das ist das Allerbeste daran gewesen. Ich bin ja selbst eine Sonne, ehrlich, aber ich kann mich nicht selbst sehen. Aber ich hab’ die Sonne gesehen, zu der wir gereist sind. Und es hat Musik gegeben, Musik, im ganzen Gulag hat es Musik gegeben, so eine Musik wie diese hat man heute gar nicht mehr.“ „Sehr schön,“ sagte Artemis Ingalawa mit ihrer Von-Einem-Erwachsenem-Zu-Einem-Kind Stimme. „Jetzt sag’ schon, lieber Schäbbel. Hast du irgendeine Ahnung, was in der Nacht die Lichter so seltsam verändert hat?“ Schäbbel tat unwissend. Hatte aber unangenehme Erinnerungen an die Tage des Zorns, als Waffen wie zum Beispiel der psionische Drehmomentschlüssel allgemein gebräuchlich waren. Waffen, um die Wahrscheinlichkeit auseinanderzubrechen. Jener Krieg war eine schreckliche Angelegenheit gewesen, weil Schäbbel verletzt worden war, und schlimm verletzt noch dazu, und beinahe gestorben wäre. Schlimmer noch – Seite 39 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 die meisten von Schäbbels Freunden waren tatsächlich gestorben. Schäbbel weigerte sich, irgendwelche weiteren Fragen zu beantworten. „Du weißt es!“ sagte Ingalawa. „Du musst es uns erzählen!“ Als Antwort begann Schäbbel in der monotonen Klang-Klong-Nachahmung einer Glocke zu singen. „Hör auf damit!“ sagte Ingalawa. Das tat Schäbbel auch und imitierte stattdessen Kantor und Chor, die sich in der Art des Tempels der Oberen Wasser in Lobpreisungen ergingen. Wenn sich Schäbbel in einer solchen Stimmung befand, konnte man den einsamen Einen den ganzen Tag ohne die geringste Wirkung verfluchen oder ihm jede erdenkliche Art von Gewalt androhen. Ingalawa, die mit ihrer Geduld am Ende war, stopfte Schäbbel in eine Teekanne und stolzierte davon, um wieder ihre algorithmischen Arbeiten aufzunehmen. „Na los,“ sagte Pokrov zu Chegory und Olivia, „wir sollten wieder zu unserem Unterricht zurückkehren.“ Den ganzen Nachmittag hindurch widmeten sie sich ihren Studien, wobei, trotz heldenhafter Bemühungen von Pokrovs Seite her, die beiden Studenten immer müder wurden. Während sie so studierten, strömten fortlaufend Dickel und Schlack aus den Schatzquellen und verschmutzten das Wasser des Laitemata. Dickel und Schlack. Was für seltsame Substanzen sind das eigentlich? Sie sind natürlich zwei der wichtigsten Exportgüter Untunchilamons, und zu der Zeit, mit der sich diese Chronik hier beschäftigt, waren sie auch die Haupteinnahmequelle für das Analytische Institut. Schlack ist überall bei den besten Metallbearbeitern begehrt, denn sie ist die ideale Schmiere, um Metallteile jeglicher Art vor Korrosion zu schützen, insbesondere bei länger dauernder Lagerung. Genau dafür wurde Schlack in den Tagen des Goldenen Gulag verwendet. Sie ist dickflüssig, haltbar, widerlich stinkend und langweilig, abgesehen von dem Moment, in dem sie ihr eintöniges Grau mit dem Gallengrün des Dickels vermengt, um daraufhin eine dünnflüssige, in den Farben des Regenbogens schillernde Flüssigkeit zu bilden. Dickel ist dagegen schon an und für sich weitaus interessanter, denn er ist eine thixotrope Substanz, die unvermittelt vom festen in den flüssigen Zustand übergeht, wenn sie dazu von Hitze oder Schwingungen in geeigneter Weise angeregt wird. Wenn sie sich von einer leicht nachgiebigen festen Masse in eine freifließende Flüssigkeit verwandelt, bildet sie einen Saft, der das Aussehen und die Beschaffenheit von Olivenöl besitzt. Die Bauern ölen die Achsen ihrer Karren damit. Man sagt, dass die Schwertschmiede sie verwenden, um die Temperatur zu bestimmen, denn Dickel wechselt beim Schmelzpunkt der Metalle vom festen in den flüssigen Zustand. Es ist auch bekannt, dass die Huren des Fleischtempels von… [Herausgeschnitten! Auf Anweisung des Chefredakteurs Drax Lira.] …und steigern daher die Erregung ihrer Kunden zu Gipfeln des Vergnügens, von denen man anderswo weder gehört noch geträumt hat. Aber in den Tagen des Goldenen Gulag wurde Dickel ausschließlich als Hochtemperatur-Schmierstoff in den Sonnenschiffen der System-Polizei eingesetzt. Jetzt wissen Sie es also. Während der ganzen Zeit, in der Chegory und Olivia ihre Studien betrieben, waren im Küstenbereich Diener des Analytischen Instituts damit beschäftigt, ihre Amphoren mit diesen wertvollen Substanzen zu füllen. Unterdessen sang der musikbesessene Schäbbel, der noch immer in einer Teekanne schwebte, immer weiter und weiter und weiter. Natürlich hatte Schäbbel die Wahrheit erzählt, was die Verhaftung einiger Piraten (der Marodeure Al-ran Lars, Arnaut und Tolon, vom Volk der Malud) in den Tiefen von Drunten betraf. Außerdem war Schäbbel tatsächlich von diesen rücksichtslosen Halsabschneidern angelogen worden, da diese ihre feierlichsten Versprechen gebrochen hatten und entschlüpft waren, als der ahnungslose Eine endlich eingeschlafen war. Der unbekümmerte Eine hatte auch die Wahrheit über den Wunschstein erzählt. Er war wirklich gestohlen worden. Gerade eben fanden auf dem Festland durchaus nennenswerte Ereignisse statt. Unerwünschte Elemente (beispielsweise Ebrellianer) wurden zusammengetrieben, um wegen des verschwundenen Wunschsteins verhört Seite 40 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 zu werden. Viele wurden zusammengeschlagen, während man sie zusammentrieb. Es war außerdem höchst unwahrscheinlich, dass der Ärger zu dem Zeitpunkt, an dem Chegory Guy zum Festland zurückkehren musste, vorüber sein würde. Seite 41 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 7 Am späten Nachmittag wurde Ivan Pokrov ins Zählhaus gerufen. Das war der offizielle Name für denjenigen Raum im Analytischen Institut, in dem die Analytische Maschine selbst untergebracht war. Eine Kardanwelle war zerbrochen, hatte die Tätigkeiten der Maschine knirschend zum Stillstand gebracht, und man brauchte ihn, um die Reparaturen zu beaufsichtigen. Er ließ Chegory und Olivia eine Menge Arbeit zurück, die sie noch zu erledigen hatten, und zunächst arbeiteten die beiden auch fleißig weiter, oder taten zumindest so, als ob sie daran arbeiteten. Aber es war ein heißer Tag, und bald schon ersetzte Chegory seine wissenschaftliche Ausbildung durch Träumereien. Wilde Träumereien! Fantasien, in denen ihm der wohltätige Einsiedlerkrebs tausendfach Schenkel, Brustwarzen, Brüste, Gesäßbacken und Wassermelonen gewährte. Dann packte Olivia ihren Freund von den Ebrellen und rüttelte ihn wach. „Pokrov ist im Anmarsch!“ sagte sie. Dank dieser Warnung war Chegory das perfekte Ebenbild fleißiger wissenschaftlicher Ausbildung, als Ivan Pokrov in Begleitung von Ingalawa zu ihnen zurückkehrte. „Wie weit seid ihr gekommen?“ sagte Pokrov. „Nicht besonders weit,“ gab Chegory zu. „Morgen ist auch noch ein Tag,“ sagte Pokrov. „Jetzt wird’s Zeit, nach Hause zu gehen. Ich werde euch begleiten. Ich hab’ beschlossen, die Einladung des verehrten Doktors anzunehmen. Heute Abend werde ich mein Abendessen im Haushalt der Qasaba einnehmen.“ Als die westwärts ziehende Sonne im Westen versank, packten sie zusammen. Chegory wechselte in seine Abendkleidung (Hose und Hemd) und ließ seinen Lendenschurz auf der Insel für den nächsten Morgen zurück. Sie waren bereit, zurück auf das Festland zu reisen. Natürlich waren sie dabei zu viert (Chegory, Olivia, Ingalawa und Pokrov), aber unglücklicherweise waren nur noch zwei Paar Stelzen in dem Ständer am Haupteingang des Analytischen Instituts übrig geblieben. Der Strom von Dickel und Schlack aus den Schatzquellen hatte nachgelassen, war aber immer noch mehr als knöcheltief. „Wir sollten die Stelzen Olivia und Artemis überlassen,“ sagte Pokrov. „Wir Männer können auch waten.“ „Nicht nötig,“ sagte Chegory. „In der Werkstatt gibt’s noch mehr. Sie sind gestern repariert worden. Der Leim sollte mittlerweile getrocknet sein. Ich mach’ mich auf den Weg und bring’ sie her.“ Nach diesen Worten trottete er los. Ah, wie angenehm es doch ist, Diener zu haben! Einen gehorsamen Ebrellianer, der bereitwillig wegen der Stelzen losläuft, sogar ohne dass man ihn vorher darum gebeten hat! Jedoch… der Schein trügt. Diese Tiere kann man nicht wirklich domestizieren. Wie Sie selbst gleich sehen werden. Während Chegory wegen dieser Besorgung unterwegs war, hockten die anderen weder herum, noch zogen sie sich in den Schatten zurück. Pokrov war in Gedanken versunken (das kam bei ihm häufig vor) und beachtete deshalb weder Hitze noch Unbequemlichkeit. Und was die beiden Frauen betraf, nun ja, die wollten nicht die ersten sein, eine Schwäche des Fleisches einzugestehen. Sie waren beide vom Volk der Ashdan, und der Stolz dieser Rasse ist von den vielen Kommentatoren, die sich schon darüber geäußert haben, nicht übertrieben worden. „Schau,“ sagte Olivia und deutete dabei nach Südwesten. „Ein Kanu.“ Tatsächlich wurde gerade ein mit doppeltem Rumpf ausgestattetes Kanu durch den Rajavakoram-Kanal zwischen der Säbelinsel und dem Festland gepaddelt. Sie erkannten es sofort als eines der seetüchtigen Kanus der Ngati Moana, denn es war viel größer als die zerbrechlichen Auslegerkanus, die in der heimischen Lagune auf Fischfang unterwegs waren. Seite 42 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Sie werden Neuigkeiten mitbringen,“ sagte Olivia. „Nur aus dem Westen,“ sagte Ivan Pokrov. In der Jahreszeit des Fistavlir waren die einzigen Kanus, die Untunchilamon erreichen konnten, nur diejenigen, die aus dem Westen kamen. In solchen Fahrzeugen trotzten die Ngati Moana den Untiefen der Grünen See, wobei ihnen der Korallenstrom dabei half. Ein in dieser Strömung treibendes Kanu wird von einem Sonnenaufgang bis zum nächsten mindestens dreißig Meilen weit nach Osten getragen. Dieses Kanu würde aller Voraussicht nach von der Insel Yam kommen, die genau im Süden von Asral und Ashmolea liegt. Seine Mannschaft hätte es bei seinem Dahintreiben nach Osten unterstützt, indem sie jeden Windhauch nutzte, der in ihre Richtung unterwegs war, oder indem sie paddelte, wobei sie sich ihre Kraft bewahrte, indem sie sich von Haien oder Schildkröten ernährte, die sie frisch aus dem Meer fing. „Auf so einem könnten wir uns davonmachen,“ sagte Pokrov leise. Artemis Ingalawa legte eine Hand auf seine Schulter und sagte: „Es ist noch zu früh, an so etwas zu denken.“ Sie hatte keine Eile, von Untunchilamon zu fliehen. Es lebte sich gut hier. Jeder würde das bestätigen, der nur einmal anschauen müsste, welche Kleider sie gerade trug: keine schlichte Robe, die für jemand ihres Ranges angemessen gewesen wäre, sondern einen Hosenanzug aus gelber Seide und einen seidenen alizarinroten Umhang mit goldenen und zinnoberroten Fransen. In der Vergangenheit hatte sie bereits Armut kennengelernt und bevorzugte ihren gegenwärtigen finanziellen Status weitaus mehr. Darüberhinaus stand es ihr auf Untunchilamon frei, sich ihrer mathematischen Leidenschaft uneingeschränkt hinzugeben, und zwar weit entfernt von jeglichem Konkurrenzdruck, der manchmal das Leben in ihrer Heimat wirklich sehr schwer gemacht hatte. Artemis Ingalawa hatte ihr ideales Betätigungsfeld gefunden und war entschlossen, sich daran bis zu dessen Ende zu erfreuen. Außerdem gab es immer noch die Chance, dass Aldarch III den Krieg um die Herrschaft über Yestron verlieren könnte. Falls er aber gewinnen und dann seine Krallen nach Untunchilamon ausstrecken würde, gäbe es bestimmt viele brave Bürger von Injiltaprajura, die bereit sein würden, eine ganze Menge für den Platz auf einem der Kanus der Ngati Moana zu bezahlen. Normalerweise nahmen die Sternen-Navigatoren keine Passagiere mit an Bord, denn die Reisen, die sie in ihren offenen Kanus zurücklegten, waren lang und hart, sogar für diejenigen, die an ein solches Leben gewöhnt waren. Was veranlasst diese Leute, sich dorthin zu wagen, wo niemand anders hingehen mag? Ganz offenkundig der Tauschhandel. Diese unnachahmlichen Navigatoren handeln mit Perlen, Elfenbein, Drachenzähnen, Schwämmen und Gewürzen. Doch mehr als alles andere ist es ihre Gier nach Pounamu14, die sie vorantreibt. Diesen spröden grünen Stein lieben sie ebensosehr wie die Ästheten von Ang, und um ihn zu erwerben, segeln sie kreuz und quer über den Großen Ozean, wobei sie derart weit auseinanderliegende Küsten streifen, dass die eine für die andere kaum mehr als eine Legende bedeutet. Während Pokrov und die Ashdans immer noch dem Kanu zusahen, kehrte Chegory mit den zusätzlichen Stelzen zurück. Aber Schäbbel war auch bei ihm. Chegory hatte den verantwortungslosen Einen aus der Teekanne befreit. Der lebendige Edelstein tanzte neben seiner Schulter auf und ab und summte dabei immer noch leise vor sich hin. Verstehen Sie nun? Sie würden nicht wirklich einen Ebrellianer als Diener haben wollen. Er macht sich für die denkbar einfachste Besorgung auf den Weg: ein paar Stelzen zu beschaffen. Doch zurück kommt er mit dem albernsten Missetäter von ganz Untunchilamon. „Chegory,“ sagte Ingalawa, um ihn zu tadeln. „Ich hätte gehofft, heute Abend auf Schäbbels Gesellschaft verzichten zu können.“ „Schäbbel liebt aber festliche Abendesssen,“ sagte Chegory. „Schäbbel liebt sie nur allzusehr,“ sagte Ingalawa. 14 Pounamu ist ein Sammelbegriff der Māori für mehrere Arten von harter, beständiger Nephrit-Jade und Bowenit, die in Neuseeland vorkommen. Seite 43 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Schäbbel war für ein feierliches Abendessen in der Dromdanjerie dasselbe, was Kaiserin Justinas albinotischer Affe Vazzy für ein Bankett im rosa Palast war. Muss man noch mehr dazu sagen? „Mach’ dir wegen Schäbbel keine Sorgen,“ sagte Ivan Pokrov. „Ich werde unseren kugelrunden Freund schon im Zaum halten.“ „Hoffentlich kann ich mich darauf verlassen,“ sagte Ingalawa. „Du weißt, was letztes Mal passiert ist.“ „Ja,“ sagte Pokrov mit einem Seufzer. „Ich erinnere mich.“ Schäbbel liebt Tratsch. Schäbbel liebt Gesang. Schäbbel liebt es, mit heimtückischer Absicht Stimmen nachzuahmen, und er ist der geschickteste Bauchredner, den man sich vorstellen kann. Schäbbel ist eine echte Plage (zumindest in gesellschaftlicher Hinsicht). Aber Schäbbel tat nichts anderes, als leise zu summen, während die vier Menschen auf Stelzen durch den chemischen Erguss zur Hafenbrücke liefen. Dort stiegen sie ab, stellten ihre Beinverlängerer in den Stelzenständer und begannen dann, zum Festland zu laufen. Langsam liefen sie, langsam, denn die Hitze war unerträglich, und die Luftfeuchtigkeit schien einen zu ersticken. Der Tag war schon fast zu Ende, und in seinem Todeskampf setzte die blutige Sonne das ölige Gewässer des Laitemata mit unheilvollem Feuerschein in Brand. Zu Tausenden trieben die Fische mit den Bäuchen nach oben in diesem vergifteten Wasser. Leblos ihr Silber, schnell verblassend ihr Orange und Grün. Ein Oktopus suchte mit seinen Tentakeln ein letztes Mal nach einem Weg, um zu überleben, erschlaffte dann und starb. Wenn der Strom aus den Schatzquellen nicht abklingen würde, würde im Laitemata am nächsten Tag nichts mehr am Leben sein. Dann würden sich Dickel und Schlack in die Lagune hinaus ergießen. Ein Ausfluss über mehrere Tage würde reichen, um in Injiltaprajura den Preis für Fische zu verdoppeln. Aber wer wollte sich darüber beklagen? Die Produktion derartiger Gifte war eine der Hauptsäulen von Untunchilamons Wirtschaft, und es gab keine Möglichkeit, diese Produktion anzuhalten, selbst wenn sich die Leute das wünschen würden. Chegory blieb stehen, um einen anderen erkrankten Oktopus zu beobachten, der im Wasser herumzappelte. Das sterbende Tier war mit den Riesenkraken verwandt, die in der Tiefe weit im Norden von hier lebten. Solche Ungeheuer mieden die Untiefen und würden sich nie in Gewässer wagen, die seicht genug waren, um von menschlichen Tauchern ergründet zu werden. Deshalb war Injiltaprajura sicher davor, von diesen Ungeheuern verwüstet zu werden, denn man konnte sich dem Laitemata-Hafen nur über Durchgänge in der Lagune erreichen, die kaum tief genug waren, um ein Schiff darüber hinweg fahren zu lassen. „Komm schon, Chegory!“ sagte Olivia, und er beeilte sich, zu den anderen aufzuschließen. Die Hafenbrücke schwankte unter den dahintrampelnden Füßen der Menschen, denn ihr fehlte jegliches Fundament, weil sie nur auf schwimmenden Pontons errichtet war. Ihre Bretter aus unlackiertem Kokosholz knarzten unter den Füßen, so wie die Knochen eines wiederbelebten Skeletts knarzen, das gerade mühsam den Deckel von seinem Sarg entfernen will. Als Chegory Olivia einholte, ließ sie sich zurückfallen. Er blieb sofort stehen, da er wusste, dass sie vorhatte, ihm ein Bein zu stellen, um ihn zu Fall zu bringen. Er legte eine Pause ein, als ob er die Aussicht bewundern würde. Das Durcheinander aus Marktständen und Läden, das sich am ganzen Ufer entlang ausbreitete, von der Hafenbrücke bis zum fernen Ende von Marthandorthan. Direkt geradeaus der dichtgedrängte Wirrwarr des Elendsviertels von Lubos. Weiter bergauf die Ruine von Ganthorgruk, mit der Dromdanjerie – seinem Zuhause – direkt darüber. Noch weiter oben die geheimnisvolle Masse namens Perle. Dahinter, auf den Höhen des PokraKamms reitend, der rosa Palast selbst sowie die Tempel und Villen an der Hojo-Straße. „Komm schon, Chegory,“ sagte Olivia und hüpfte dabei an ihm vorbei. „Komm schon, sonst kommst du noch zu spät zum Abendessen.“ Er folgte ihr. Sie hatten erst den halben Weg bis zum Ufer zurückgelegt, als plötzlich am sonnenblutenden Himmel Regenbögen aufleuchteten. Ihre prächtigen Farben krümmten sich hin und her wie die Federn von einer Million Seite 44 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Pfauen, die auf einem Ozean aus kochendem rotem Öl dahintrieben. Dann wölbte sich das Wasser des Laitemata nach oben und spritzte wie wild um sich, ehe es dann zum Himmel emporschoss, während eine riesige Gestalt aus dem sonnengeflammten Meer hervorbrach. Hoch aus dem Wasser stieg sie empor. Riesig, ausladend, abscheulich, gewaltig. Ein Krake! Seine prallen violettbraunen Tentakel vergossen beim Umherschlagen das Wasser gleich eimerweise. Der Krake war nahe, sehr nahe, nahe genug, um sie zu packen. Seine Augen waren genauso blutig wie die Sonne, waren aufgequollen vor Wut, waren angeschwollen vor lauter menschenfresserischer Gier. In dem Bewusstsein, dass sie selbst es waren, die jene Augen im Visier hatten, versuchten die Menschen zu fliehen. Der Krake grapschte sich die Hafenbrücke. Schüttelte diese Brücke. Die Stoßwellen kegelten die davontrippelnden Menschen einfach um. Olivia schrie vor Angst. Taumelnd erhob sie sich, strauchelte und fiel wieder hin. Chegory packte eines der Seile, die als Handlauf dienten, und zog sich daran hoch. Pokrov blieb unten und umklammerte ein Knie unter qualvollen Schmerzen. Ingalawa stand auf. Der Krake schüttelte die Brücke erneut. Doch diesmal verlor Ingalawa nicht ihren Halt. Sie glitt in die Kampfstellung des Wirbelwinds mit einem derart herausgeschmetterten Kampfschrei, dass man ihn noch eine halbe Meile weit entfernt hören konnte. Höchstes Lob für ihren Mut! Aber was könnte ihr so ein tollkühner Widerstand schon bringen? Der Krake schleppte bereits seine gewaltige übelriechende Körpermasse auf seine Beute zu. Könnte ihn Ingalawa bezwingen? Welcher Narr erwartet eine Antwort auf so eine Frage? Selbst Schäbbel schien nicht darauf vorbereitet zu sein, sich mit diesem widerlichen Ding aus der Tiefe anzulegen, denn der Imitator der Sonnen glitt gerade hinauf in den Himmel, wobei er sang, lieblich sang, sanft vor sich hin trällerte in musikalischer Verzückung. Schäbbels Helligkeit sprang dem Kraken ins Auge. Der daraufhin gemächlich einen freien Tentakel entrollte und dessen fürchterliche Kraft ins Rennen schickte, um Injiltaprajuras ältesten kindischen Missetäter näher zu erforschen. Der Tentakel fing den beständig in die Höhe steigenden Schäbbel ein und legte sich fest um die Oberfläche des strahlenden Einen. Es gab einen grellen Lichtblitz. Einen Ausbruch sengender Hitze. Eine Zuckung, weil sich der Krake vor Schmerzen krümmte, weil die Überbleibsel seines schäbbelumklammernden Tentakels von unbändigen krampfartigen Qualen gepeinigt wurden. Hell leuchtete Schäbbel, obwohl seine Helligkeit ein wenig getrübt wurde von den Dämpfen des eingeäscherten Tentakels, der immer noch am strahlenden Einen hing. „Schäbbel!“ kreischte Chegory. „Mach’ ihn tot, mach’ ihn tot, mach’ ihn tot!“ Der Krake erholte sich wieder. Grapschte nach den Menschen. „Wenn du uns gern hast, musst du ihn totmachen!“ schrie Chegory. Ein praller violettbrauner Tentakel wickelte sich um Olivias Knöchel. Wutentbrannt stürzte sich Chegory darauf. Mit der Raserei eines Berserkers rang er mit dem Ungeheuer. Aber sein Ringen war nutzlos, denn die erbarmungslose Kraft des Ungeheuers begann das Ashdan-Mädchen in Richtung seines wartenden Schlunds zu zerren. Voller Panik versuchte Chegory in den Tentakel zu beißen. Dessen zähe Substanz widerstand aber dem Angriff seiner Schneidezähne. Olivia brüllte zusammenhangloses Zeug, während sie von der Hafenbrücke fortgerissen wurde. Chegory packte ihre Hand. Mit angstgeweiteten Augen hielt sie sich an ihm fest. Der Tentakel zog sie nach oben. Chegory, der sie nach wie vor festhielt, wurde ebenfalls in die Höhe gezogen. Dann handelte Schäbbel… Schäbbel spie Feuer. Seite 45 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Der Krake krümmte sich krampfhaft zuckend in Todesqualen. Er schleuderte Olivia fort. Sie stürzte hinab. Und landete schwer auf Chegory Guy. Der Krake schrie. Hoch und schrill war sein Schrei. Schäbbel ließ es jetzt richtig krachen mit einem Feuerstrahl, der das Ungeheuer sauber in zwei Hälften zerriss. Riesige Dampfwolken stiegen aus dem Meer auf; an ihnen hafteten der Gestank nach verbranntem Ungeheuer und die Ausdünstungen, die durch die Überhitzung von Dickel und Schlack freigesetzt wurden. Das Ungeheuer war tot. Tot, tot, tot und vernichtet, während sie selbst sich noch an ihr Leben klammerten. Olivia schluchzte, schluchzte, schluchzte, während sie sich fest an Chegory klammerte und fest umklammert wurde. Artemis Ingalawa gab allmählich ihre Kampfstellung auf. Da der Schmerz in seinem Knie nachließ, richtete sich Ivan Pokrov wieder auf. Er war scharf darauf, den Kadaver des Ungeheuers aus nächster Nähe zu betrachten, bevor er im Wasser des Laitemata versank. Man konnte ihn murmeln hören: „Das ist ja interessant. Das ist ja sehr interessant.“ Schäbbel, der die ganze Zeit leise vor sich hin gesungen hatte, schwebte leicht wie eine Feder vom Himmel herab. „Liebster Chegory,“ sagte Schäbbel, „es gibt mehr als nur den einen.“ Der Ebrellianer löste sich aus Olivias Umklammerung und schaute umher. Schäbbel hatte recht! In unmittelbarer Sichtweite befand sich mindestens ein halbes Dutzend dieser Ungeheuer, die wie verrückt im Hafengewässer herumpeitschten. Das näheste war nur eine Meile weit entfernt. „Mach’ sie tot!“ sagte er knapp. „Oh, ich will eigentlich gar nichts mehr totmachen, liebster Chegory,“ sagte Schäbbel. „Kümmert euch nicht um die anderen Ungeheuer,“ sagte Pokrov. „Ehe die irgendwelchen Schaden anrichten können, werden sie an einer Überdosis aus Dickel und Schlack sterben. Komm’ mal her und schau dir dieses Ungeheuer an, Chegory. Ist es nicht faszinierend?“ „Es ist widerlich, es ist scheußlich,“ schluchzte Olivia. „Ich hasse es, ich hasse es, ich will fort von hier, ich will nach Hause gehen.“ „Dann komm’ doch mit, mein Schatz,“ sagte Chegory. Dann führte er sie die Hafenbrücke entlang Richtung Küste, wobei er sich nach besten Kräften bemühte, sie zu beruhigen. In der Hitze des Augenblicks bemerkte er nicht, dass er sie seinen Schatz genannt hatte. Und falls Olivia ihrerseits seine Anmaßung registriert hatte, so zog sie es dennoch vor, darüber keine Bemerkung zu machen. Der Beschwörer Odolo, der Offizielle Hüter des Kaiserlichen Zepters, hatte an diesem Tag bereits alle Arten von Schrecken durchleiden müssen. Sobald man den Verlust des Wunschsteins entdeckt hatte, war er verhaftet worden. Man hatte ihn geschlagen, verhört und mit Folter bedroht. Nur das persönliche Eingreifen der Kaiserin Justina hatte ihm den Verlust seiner Zehen- und Fingernägel erspart. Am späten Nachmittag hatte Justina Obolo auf freien Fuß gesetzt. Aber diese Geste kaiserlicher Großzügigkeit bedeutete an sich nur wenig. Zweifellos stand er weiterhin unter Verdacht. Er hatte die Mahlzeit abgelehnt, die sie ihm angeboten hatte (seine Verhörspezialisten hatten ihn aus Prinzip hungern lassen), und war geflohen. Seite 46 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Als Odolo schließlich in Ganthorgruk ankam, war er körperlich und geistig völlig erschöpft. Es war zu spät für das Mittagessen und zu früh für die Abendmahlzeit gewesen, aber er hatte den Koch überredet, ihm schnell eine Suppe zu machen. Dann hatte er sich in sein Bett verzogen, wo er zusammengebrochen war. Um grimmige Träume von verschiedensten Ungeheuern zu träumen. Der letzte und lebendigste seiner Träume war einer, in dem sich Kraken aus dem Wasser des Laitemata erhoben. Diesem Traum fehlte die schludrige Zusammenhangslosigkeit der Bilder und Geschichten, die die meisten der Truggebilde unseres Schlafes kennzeichnet. Schlimmer noch, er blieb Odolo hell und scharf in Erinnerung, als er erwachte. Warum sollte ihm das Sorgen bereiten? Weil er sich an den Morgen erinnerte, und an die Skorpione, die in seiner Frühstücksschüssel schwarmweise ins Leben getreten waren. Ganz schön echte Skorpione, wohlgemerkt! Am Ende war es notwendig geworden, sie mit einem Nudelholz zu zerquetschen. Odolo eilte zum nächsten Fenster, das ihm einen Blick über den Laitemata erlaubte. Was er von dort erblickte, erhöhte seine Sorgen tausendfach. Seite 47 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 8 Olivia zitterte und schlotterte immer noch, als sie die Küste erreichten, wo die Hafenbrücke an dem Strand aus zerstoßenen roten Korallen und zerschlagenem Blutstein endete, der entlang der gesamten Küstenlinie von Injiltaprajura verlief. Sie waren kaum von der Brücke herabgestiegen, als sie Ox No Zan begrüßte. „Ich hab’ auf euch gewartet!“ sagte er. „Soviel hätten wir auch selbst erraten können,“ sagte Pokrov. „Hast du dieses Schauspiel gesehen?“ „Oh ja, oh ja!“ sagte Ox Zan. „Schäbbel ist phantastisch gewesen!“ Schäbbel vollführte drei schnelle Pirouetten und quietschte vor ungetrübtem Vergnügen. Injiltaprajuras Meister der Verantwortungslosigkeit war niemals abgeneigt, Komplimente entgegenzunehmen. „Chegory ist es, dem wir danken müssen,“ sagte Ingalawa. „Er ist derjenige gewesen, der Schäbbel mitgenommen hat.“ Das ist das Schlimmste an diesen Ashdan-Liberalen. Immerzu sind sie schnell bereit, von den Leuten das Beste zu halten. Zweifellos hätte der Krake Ingalawa und ihre Gefährten vernascht, wenn Schäbbel nicht verfügbar gewesen wäre. Aber hatte Chegory Guy das im Sinn gehabt, als er Schäbbel aus der Teekanne geholt hatte? Wohl kaum. „Jawohl, Chegory!“ sagte Ox Zan. „Seinetwegen bin ich hier! Du musst zurückgehen, jetzt, sofort, geradewegs zurück nach Jod.“ „Warum?“ sagte Chegory. „Weil, weil,“ sagte Ox Zan höchst erregt, „weil der Wunschstein verschwunden ist.“ „Schäbbel hat also die Wahrheit gesagt!“ sagte Chegory. „Man hat den Wunschstein gestohlen!“ „Wenn Schäbbel davon weiß,“ sagte Ox Zan, der erst noch Schäbbels Geschichte über seine Begegnung mit Piraten im Drunten hören musste, „dann kann Schäbbel vielleicht helfen, ihn zurückzubringen. Inzwischen rennst du lieber davon, Chegory. Die Soldaten sind in den Straßen auf der Jagd nach – wie heißt es doch? – unerwünschten Elementen, genau das sind ihre Worte. Sie schlagen jeden zusammen, den sie schnappen, damit er ihnen etwas über den Wunschstein erzählt.“ „Chegory,“ sagte Artemis streng, „ist kein unerwünschtes Element.“ „Naja, Sie wissen das und ich ebenfalls,“ sagte Ox Zan, „aber die Soldaten…“ „Oh, wir alle wissen Bescheid über die Soldaten,“ sagte Chegory. „Ich bin schon weg.“ Er wandte sich um, als ob er nach Jod zurückkehren wollte. Aber Pokrov packte ihn am Ärmel. „Lass’ dir Zeit,“ sagte Pokrov. „Das verstehen Sie nicht,“ sagte Chegory bereits voller Panik. „Sie werden mich töten!“ Das war der Stoff für einen Albtraum. Soldaten auf den Straßen. Auf der Jagd. Auf der Jagd nach ihm! „Blödsinn!“ sagte Ingalawa. „Du bist unschuldig.“ „Was hat denn das damit zu tun?“ sagte Chegory. „Ich bin ein Ebrellianer, nicht wahr? Pogrom! Sagt Ihnen das vielleicht nichts?“ „Hör auf damit, so melodramatisch zu sein,“ sagte Ingalawa. „Die Pogrome sind zusammen mit Wazir Sin zu Ende gegangen. Du bist ein freier Bürger. Du solltest dich dementsprechend verhalten.“ Seite 48 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Was?“ sagte Chegory, der kaum seinen Ohren traute. „Soll ich mich zusammenschlagen lassen?“ „Man wird dich nicht zusammenschlagen,“ sagte Ingalawa in ihrem belehrenden Tonfall. „Untunchilamon ist ein Rechtsstaat. Leute werden nicht grundlos in den Straßen angegriffen.“ „Oh, Sie vielleicht nicht,“ sagte Chegory. „Aber ich bin…“ „Du bist bei uns,“ sagte Ingalawa nachdrücklich. „Du stehst unter unserem Schutz.“ „Danke, ich verzichte,“ sagte Chegory. „Ich werde nach Jod zurückkehren.“ „Oh Chegory!“ sagte Ingalawa. „Du kannst doch nicht einfach so davonlaufen. Du entäuschst mich. Haben wir nicht immer das Beste für dich getan? Begreifst du es denn nicht? Wenn du dich immer wie ein Fußabtreter verhältst, wird man auch immer auf dir herumtrampeln. Du musst dich für deine Rechte einsetzen.“ Chegory war klar, dass sie Unsinn verzapfte, aber ihm war auch klar, dass er ihren Stolz zutiefst verletzen würde, wenn er ihr genau das sagen würde. Stolz ist das vorherrschende Laster der Ashdans, und Ingalawa hatte davon mehr als nur ihren gerechten Anteil daran abbekommen. Außerdem wollte er sie nicht enttäuschen, wenn er das irgendwie vermeiden konnte. „Du gehst mit uns mit,“ sagte Ivan Pokrov. „Wenn wir auf irgendwelche Soldaten stoßen, werden wir uns für dich verbürgen.“ „Jawohl, Chegory,“ sagte Schäbbel. „Und wenn sie dir weh tun, werd’ ich sie niederbrennen.“ „Schäbbel!“ sagte Pokrov scharf. „Du wirst niemanden niederbrennen! Hast du mich gehört?“ Als Antwort ertönte sanft anschwellende Orchestermusik. „Ich mein’ es ernst!“ sagte Pokrov. „Wenn du auch nur einen einzigen Soldaten einäscherst, wird das strenge Folgen haben! Ich spreche hier von einer Therapie!“ Die Musik riss schlagartig ab. „Wirklich?“ sagte Schäbbel. „Ganz ohne Zweifel,“ sagte Pokrov. „Oh,“ sagte Schäbbel in seinem geknicktesten Ton. Dann, aufsässig: „Aber warum sollte ich es eigentlich nicht tun? Bumm! Ich könnte sie problemlos niederbrennen. Alle wegmachen. Wäre echt lustig!“ „Wenn du herumgehst und solche Sachen machst,“ sagte Pokrov, „dann will bald niemand mehr mit dir spielen, niemals wieder. Sie werden alle vielzuviel Angst haben. Sie werden davonlaufen. Das mein’ ich ernst! Und zwar alle! Man wird dich völlig allein lassen. Jetzt und in alle Ewigkeit.“ „Wirklich und wahrhaftig?“ sagte Schäbbel. „Er macht keine Witze,“ sagte Chegory. „Aber wenn du dir Freunde machen willst, wie wäre es, wenn du den Wunschstein finden würdest? Du könntest das schaffen!“ „Ich weiß schon, wo er ist,“ sagte sein orchestral veranlagter Gefährte. „Wo ist er denn?“ sagte Chegory. „Östlich der Sonne und westlich des Monds,“ sang Schäbbel. „Schlürft seine Suppe mit der Großmutter der Skorpione.“ „Schäbbel würde es uns verraten, wenn es Schäbbel wüsste,“ sagte Ivan Pokrov, „weil Schäbbel ein Plappermaul ist und sein Schäbbel-Selbst nicht ändern kann. Ob wir den Wunschstein zurückholen können, weiß ich nicht – na schön, mit Schäbbels Hilfe gelingt uns das vielleicht wirklich. Dann schauen wir weiter.“ Mit dieser optimistischen Bemerkung machte sich Pokrov als Erster auf den Weg. Ox No Zan murmelte etwas von einer ärztlichen Vorschrift, an die er sich halten müsste – dann machte er sich in die entgegengesetzte Seite 49 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Richtung auf. Wenn Ingalawa das auch bestritt, so war No völlig klar, dass in einer solchen Situation die Anwesenheit eines Ebrellianers Ärger bedeutete, und Ärger war das Letzte, was No wollte. Pokrovs Gruppe setzte ihren Weg fort, ohne weitere Mitglieder zu verlieren, obwohl sich Chegory noch immer fürchterliche Sorgen machte. Andernorts, im Speisesaal von Ganthorgruk, nippte ein anderer fürchterlich besorgter Mann an einer frischen Tasse Kaffee. Es war der Beschwörer Odolo, der an einem offenen Fenster stand, von dem man über den gesamten Laitemata-Hafen hinwegschauen konnte, der sich gegen Abend wie Tintenfischtinte verdüsterte. Sämtliche Kraken, die sich aus dem Wasser erhoben hatten, waren bereits tot, waren von Dickel und Schlack vergiftet worden. Die Ngati Moana in ihrem frisch eingetroffenen Kanu hatten bei einem der aufgedunsenen Kadaver Halt gemacht. An anderen Stellen brachen ein paar Ruderboote auf, um die anderen Leichen zu untersuchen. Plötzlich wurde Odolos Aufmerksamkeit von etwas in seiner Kaffeetasse angezogen. Er schaute genauer hin. In seinem Kaffee bildete sich gerade ein Strudel. Irgendetwas nahm in dem Strudel Gestalt an, war ein… Unvermittelt schleuderte Odolo seinen Kaffee zum Fenster hinaus. An seinen Fingerspitzen funkelten kurzzeitig Miniatur-Regenbögen auf. Er hörte einen johlenden Schrei aus der benachbarten Dromdanjerie, und ihm schauderte bei dem Gedanken, ob er sich in Kürze zu den Irren dazugesellen würde, die dort untergebracht waren. Bestimmt war er gerade dabei, verrückt zu werden. Oder etwa nicht? Könnte es sein, dass er an etwas noch Schlimmerem leiden würde? Vielleicht an der unerbittlichen Verfolgung durch einen überaus talentierten Hexer? Oder… Oder was? Er hatte keine Ahnung. Wenn wir die missliche Lage dieser beiden Leute vergleichen, werden wir augenblicklich zum Schluss kommen, dass der Beschwörer Odolo Probleme hatte, die drohten, sich auf lange Sicht als weitaus ernster herauszustellen. Er war dabei, verrückt zu werden; oder aber er hatte in sich selbst enorme unbeherrschbare magische Kräfte geweckt, die durch seine Träume ausgelöst wurden; oder aber ein Wunderwirker war gerade dabei, seine geistige Gesundheit zu zerrütten; oder aber, und das war die furchterregendste Aussicht, er stand gerade im Begriff, von einer nicht näher bezeichneten Macht in Besitz genommen zu werden. Dennoch steht zu vermuten, dass Chegory Guy bereitwillig mit dem Beschwörer den Platz getauscht hätte, wenn sich ihm die Gelegenheit dazu geboten hätte. Denn Odolo befand sich (vermutlich) in keiner ernsthaften unmittelbaren Gefahr, wohingegen sich für Chegory die Sache jederzeit äußerst übel entwickeln konnte. Dafür war nichts weiter nötig, als dass er auf ein paar Soldaten stoßen würde, denen sein Gesicht nicht gefiel. Zunächst ging jedoch alles gut. Hinter Pokrov, der weiterhin an der Spitze blieb, schritten sie über die knarrenden Bohlenwege des Elendsviertels Lubos und erreichten den steil ansteigenden Skindik-Weg, wo auf der Straße die blutigen Strahlen der untergehenden Sonne von den Bodenplatten aus Blutstein zurückgeworfen wurden. Sie kamen am Schlachthaus vorbei, und dann vorbei an der düster aufragenden Ruine von Ganthorgruk. Sie waren bei der Dromdanjerie! „Sicher und daheim,“ sagte Olivia Qasaba. Aber das Ashdan-Mädchen hatte zu früh gesprochen. Denn einen Moment später wurde eine Tür aufgestoßen, und etliche Soldaten strömten aus der Dromdanjerie heraus. „Ein Ebbie!“ schrie einer. Sie schnappten sich Chegory, stießen ihn gegen die nächste Mauer und fingen an, ihn nach Waffen zu durchsuchen. Diese fanden sie auch. Ein professionelles Messer in einer Stiefelscheide, kein Spielzeug, sondern Seite 50 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 schwergewichtiger Stahl, der geschärft war, um damit einen Mord zu verüben. Ein Spießstecher15 in einem Halfter neben seinem anderen Stiefel. Ein stachelbewehrter Schlagring16, der in einer Gesäßtasche verstaut war. „Hast du dafür eine Lizenz?“ fauchte ein Soldat. „Ja, ja,“ sagte Chegory. „In der Dromdanjerie, in meinem Zimmer, dort drin, alles bezahlt, alles legal.“ Die Waffenlizenzen kosteten jeweils zehn Pfiffer, also einen stolzen Preis hinsichtlich Chegorys Entlohnung, aber er hatte solche Angst, in Schwierigkeiten zu geraten, dass er sie trotzdem erworben hatte. Die andere Möglichkeit, nämlich die, völlig ohne irgendeine Waffe herumzulaufen, war nicht durchführbar für jemanden, der täglich auf dem Weg von und zu seiner Arbeit durch Lubos spazieren musste. „Er ist legal!“ sagte Ingalawa. „Kapiert ihr das? Völlig legal. Ihr könnt ihn nicht verhaften. Lasst ihn gehen! Mich ebenso!“ „Soll ich sie niederbrennen?“ sagte Schäbbel eifrig. „Du hältst dich da raus,“ sagte Pokrov. „Wir werden das schon in Ordnung bringen.“ Genau das machte Ingalawa bereits (oder versuchte es zumindest). „Hört auf damit!“ rief sie und grapschte nach einem der Soldaten, der Chegory Guy festhielt. „Verzieh’ dich,“ sagte der Soldat und schob sie weg. „Das ist Chegory Guy, den ihr euch da geschnappt habt!“ sagte Ingalawa. „Ein freier Bürger von Injiltaprajura, der den vollen Schutz des Gesetzes genießt.“ Chegory stöhnte innerlich. Nur eine Ashdan-Liberale würde eine solche Rede zu einem solchen Zeitpunkt schwingen. Schlimmer noch, sie hatte ihn beim Namen genannt! Sie waren verrückt, diese Ashdan-Liberalen. Völlig abgehoben von der Wirklichkeit. Wie er es erwartet hatte, erwies sich Ingalawas Eingreifen als völlig zwecklos. Trotzdem blieb sie hartnäckig. „Wir können uns für ihn verbürgen,“ sagte sie. „Das kann auch Qasaba, Jon Qasaba, Qasaba. Er wohnt hier gleich nebenan, hier in der Dromdanjerie.“ „Oho!“ schrie ein Soldat. „Dann ist das also ein Irrer, den wir uns da geschnappt haben! Ein entflohener Verrückter!“ „Macht euch doch nicht lächerlich,“ schnauzte sie Pokrov an. „Das ist ein ehrbarer Steingärtner, den ihr euch da geschnappt habt.“ „Wer bist du eigentlich?“ sagte einer der Soldaten. „Ich bin Ivan Pokrov, der Meister der Analytischen Maschine,“ sagte Pokrov äußerst würdevoll. „Wer hat hier eigentlich das Kommando?“ „Ich,“ sagte ein strammer Krieger. „Coleslaw Styx, zu Ihren Diensten.“ „Welchen Dienstgrad haben Sie eigentlich, Styx?“ sagte Pokrov, und seine Stimme klang dabei eher nach kaum unterdrückter Wut als nach höflichem Umgangston. „Ich bin ein Marschall der Wache im Dienst Ihrer kaiserlichen Majestät Justina,“ sagte Styx. „Prima!“ sagte Pokrov. „Bringen Sie dieses Schlamassel wieder in Ordnung, Marschall Styx!“ 15 engl. skewer-shiv – shiv (von dem Romani-Wort chiv) ist der Slang-Ausdruck für ein scharfes oder spitzes Werkzeug, das man als improvisierte messerähnliche Waffe verwenden kann 16 engl. knuckle-lance Seite 51 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Oh, das ist schnell erledigt,“ sagte Styx. „Hiermit seid ihr alle verhaftet!“ Woraufhin die Soldaten Chegory und seine Freunde unsanft den Skindik-Weg hoch zur Lak-Straße trieben, über die Lak-Straße hinüber und dann die Goldhammer-Steige hinab. Schäbbel hüpfte ihnen in einem Zustand größter Besorgnis hinterher, und Schäbbels Licht war es, das der Gruppe leuchtete, als sie die schnell einsetzende Düsternis der äquatorialen Nacht einholte. „Wo bringt ihr uns hin?“ sagte Ingalawa. „Zum Foltertempel,“ sagte Styx und löste damit die Katastrophe aus. Ganz Injiltaprajura wusste, dass der Foltertempel seine eigentliche Tätigkeit eingestellt hatte, als sein Schutzheiliger Wazir Sin sein klebriges Ende gefunden hatte. Ingalawa vermutete (richtig), dass Justinas Soldaten das leerstehende Gebäude an der Goldhammer-Steige übernommen hatten, um es als Gefangenenlager zu verwenden. Aber Schäbbel stellte keine solchen vernunftgesteuerten Vermutungen an. Stattdessen geriet der Fürst allen Geschwätzes in Panik. Seine Freunde standen kurz davor, verletzt, verstümmelt, gefoltert, getötet zu werden! Man schleppte sie gerade zum scheußlichen Foltertempel! Um dort Unaussprechliches, Unerwähnbares, Undenkbares zu erleiden! Schäbbel handelte, ohne weiter nachzudenken. Wenige Augenblicke später torkelte ein Dutzend verbrannter und vorübergehend halberblindeter Soldaten auf der Straße herum. „Tötet sie!“ brüllte Styx. „Schnappt sie euch und tötet sie!“ Also rannten Chegory, Ingalawa u.a. um ihr Leben. Ohne sich umzuschauen, rannten sie durch die Nacht und riskierten Leib und Leben, während sie die Goldhammer-Steige hinunterprasselten. Sie blieben erst stehen, als sie Marthandorthan, das Hafenviertel, erreicht hatten. Dort gesellte sich Schäbbel zu ihnen und warf einen Lichtkegel um sie herum. „Schäbbel Schäbbel Schäbbel!“ sagte Ivan Pokrov, der Verzweiflung nahe. „Was hast du getan?“ „Nichts,“ sagte Schäbbel abwehrend. „Du verrückter Popel!“ sagte Chegory, außer sich vor Wut. „Du hast ein Dutzend Soldaten halb zu Tode verbrannt!“ „Hab’ ich nicht,“ sagte Schäbbel hitzig. „Ich hab’ sie nur ein wenig versengt, mehr nicht.“ Schäbbel sagte die Wahrheit. Keiner der Soldaten unter dem Kommando von Coleslaw Styx war ernsthaft verwundet worden. Aber das machte keinen Unterschied. Plötzlich waren Chegory und seine Begleiter flüchtige Verbrecher, nach denen man suchen würde. Genau das sagte er auch. „Aber Schäbbel ist doch der Schuldige!“ sagte Olivia. „Chegory hat recht,“ sagte Pokrov. „Gesetz ist nun einmal Gesetz. Jeder wird bestraft, der mit Schäbbel zusammen ist, wenn Schäbbel Amok läuft.“ So lautete tatsächlich das Gesetz, oder zumindest ein Teil davon. Und ein gutes Gesetz war es noch dazu. Unter gewissen Umständen konnte Schäbbel nämlich zum Meister der Brandstiftung, Spionage und öffentlichen Unruhe werden, und deshalb war es das Beste, vorab die strengstmöglichen Auflagen festgelegt zu haben, um die Leute davon abzuhalten, Schäbbels charakterliche Schwäche auszunutzen. „Was – was werden sie mit uns machen?“ sagte Olivia. „Wenn sie uns geschnappt haben, meine ich.“ „Ganz ruhig,“ sagte Ingalawa, die ihre Nicht fest umarmt hielt. „Ruhig, ganz ruhig.“ Die Weigerung, ihr genauere Angaben zu machen, verriet Olivia, dass die Aussichten wirklich äußerst übel waren. Sie begann zu weinen. Seite 52 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Wir, ähm, von der Straße weg,“ sagte Chegory, der begriffen hatte, dass es für sie dringend notwendig geworden war, ein sofortiges Fluchtmanöver einzuleiten. „In Deckung, wir müssen in Deckung gehen, und zwar so schnell wie möglich.“ „Du hast mir mal was über deinen Cousin Firfat Labrat erzählt,“ sagte Ingalawa. „Nein!“ sagte Chegory erschrocken. „Er nicht! Zu ihm können wir nicht gehen!“ „Aber dort wären wir doch in Sicherheit,“ beharrte Ingalawa. „Oder etwa nicht?“ „Wir brauchen nichts weiter als einen Zufluchtsort, bloß für den heutigen Abend,“ sagte Ivan Pokrov. „Am nächsten Morgen können wir uns einen guten Anwalt besorgen und diese Sache in Ordnung bringen lassen.“ Von dieser Idee war Chegory überhaupt nicht begeistert. Aber was hätte er denn sonst tun sollen? Wäre er auf sich allein gestellt gewesen, hätte er sich einen der Zugänge in die Tiefe des Drunten gesucht und sein Glück in jenen gefährlichen Gefilden auf die Probe gestellt. Aber er wagte es nicht, Olivia an einen solchen Ort zu führen. Widerstrebend erklärte er sich einverstanden. Er würde sie zum Schlupfwinkel Firfat Labrats führen. Aber wo war der nur? Obwohl sich Chegory in allen Vierteln Injiltaprajuras sehr gut auskannte, war er so mitgenommen von der plötzlichen Wende, die die Ereignisse genommen hatten, dass ihm zunächst jegliche Orientierung fehlte. Schäbbel wurde heller, um ihre Umgebung vollständig zu enthüllen, doch der junge Chegory musste trotzdem feststellen, dass ihm die Straßen von Marthandorthan genauso unbekannt vorkamen wie die Straßen einer völlig fremden Stadt. Dann riss er sich zusammen, fand sich wieder zurecht und begann, sie auf den Weg in die Sicherheit zu führen. Seite 53 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 9 Firfat Labrat war ein Drogenhändler. Die fragliche Droge war der gefürchtete Alkohol, ein fürchterlich krebserregender Stoff, der die Brüste der Frauen schrumpfen und die Brüste der Männer anschwellen lässt, der die Leber zerfrisst und den Verstand verwirrt. Er lässt die Ungeborenen vermodern, während sie noch im Mutterleib liegen. Er vernichtet die Ehen der Jungen und der Alten und verwandelt gute Arbeiter in schmutzige, verwahrloste Faulenzer. Von solcherlei Art ist die dämonische Anziehungskraft dieser Droge, dass die hilflosen Süchtigen, die ihr verfallen sind, auf ihrem Kurs der Selbstzerstörung beharren, trotz Erbrechen, Impotenz, Sodbrennen und unkontrollierbarer Ausbrüche unberechenbarer Gewalt oder schamloser Geständnisse. Im Endstadium ihres Zerfalls können sie ohne dieses höllische Gebräu, dem ihre Körper rettungslos verfallen sind, überhaupt nicht mehr leben. Ihre Gliedmaßen zittern fortwährend in Fieberkrämpfen; die Wände um sie herum scheinen sich in ihren albtraumhaften Wahnvorstellungen im Schneckentempo zu bewegen; sie erwartet nichts weiter als der gnadenlose Abstieg in den Wahnsinn und den Tod. Welche verkommene Person würde mit einem derart widerlichen Stoff Handel treiben? Welcher stinkende aussätzige Ghul würde danach streben, aus so etwas Gewinn zu schlagen? Na freilich, ein Ebrellianer natürlich! Solch einer war Firfat Labrat. Und im Elendsviertel von Injiltaprajura, wo die armutsbedingten Nöte am schlimmsten waren, fand er jede Menge Leute, die bereit waren, für ihn zu arbeiten. Jawohl: es ist wirklich bemerkenswert, was Leute zu tun bereit sind, um dem Hungertod zu entgehen. Wazir Sin hätte dem Ganzen selbstverständlich ein Ende bereitet, denn ehe ihn Lonstantine Thrug gestürzt hatte, hatte er sich ja darauf vorbereitet gehabt, alle Bedürftigen auszumerzen. Seither gedieh das Geschäft von Männern wie Labrat. Tatsächlich sah es in Abwesenheit willensstarker Utopisten wie Sin so aus, als ob die Armen auf immer in Injiltaprajura verweilen würden, und ihre Nöte ebenfalls. Als Chegory seine Freunde zu Labrats Schlupfwinkel (einem verrottenden Lagerhaus in einem äußerst ungesunden Teil von Marthandorthan) gebracht hatte, stießen sie dort auf einige Schwierigkeiten, Einlass zu erhalten, weil die Suche nach dem Wunschstein den sowieso vorhandenen Verfolgungswahn, der alle Tätigkeiten des verruchten Labrat begleitete, noch gesteigert hatte. Chegory war jedoch bei Labrats Männern kein völlig Unbekannter, denn er hatte sich gelegentlich etwas Mangogeld damit verdient, in der Tiefe von Bardardornootha geheimnisvolle Ladungen von einem Ort zum anderen zu schaffen. Verstehen Sie nun? Er war durch und durch ein Ebrellianer. Bereits verdorben durch seine bereitwillige Beteiligung an dem Handel mit Krankheit, Wahnsinn und Tod. Folglich waren Chegorys Verhandlungen vor der Tür zu Labrats Schlupfwinkel nach einiger Zeit von Erfolg gekrönt, und er wurde zusammen mit seinen Begleitern hineingelassen. Sie waren also in der Höhle des Drogenhändlers, während die Soldaten auf der Suche nach ihnen zweifelsohne auf den Straßen umherstreiften. „Wartet hier,“ sagte ein Untergebener. „Ich hole Freund Firfat.“ Und fort war der Untergebene. Chegory und seine Begleiter machten es sich auf Fässern bequem und stellten sich auf eine längere Warterei ein. Olivia blickte sich mit weitestmöglich aufgerissenen Augen um. Noch nie zuvor war sie an einem Ort wie diesem gewesen. Schäbbel ergänzte die Bemühungen einiger kraftloser Öl-Laternen, eine geräumige Halle auszuleuchten, die mit vielen Türen ausgestattet war, die zu Schreibstuben und Lagerräumen führten, und in der die Luft erfüllt war vom schweren Duft der Räucherstäbchen, die hier abgebrannt wurden, um den Geruch der Droge zu überdecken, die in diesem Haus des Bösen gelagert wurde. „Wie sollen wir nur aus diesem Schlamassel wieder herauskommen?“ sagte Chegory. „Schäbbel? Du hast uns da hineingeritten. Hast du ’ne tolle Idee?“ „Verbrennen, verbrennen, verbrennen,“ skandierte Schäbbel mit hoher trällernder Stimme. „Ganz Injiltaprajura könnte ich niederbrennen, Chegory. Alle miteinander! Nichts würde übrigbleiben! Alles weg! Dann kein Problem mehr! Jetzt sofort, genau das werd’ ich gleich tun, ich werde alles auf der Stelle niederbrennen.“ „So etwas wirst du nicht machen!“ sagte Pokrov. Seite 54 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Warum denn nicht?“ sagte Schäbbel. „Weil ich,“ sagte Pokrov, „sonst sehr verärgert sein würde. Ich könnte dich vielleicht sogar zum Therapeuten schicken!“ Schäbbel quiekte vor Angst und stieg zur Decke empor. „Könnte Schäbbel wirklich Injiltaprajura einäschern?“ sagte Chegory ziemlich entsetzt. „Nein, natürlich nicht!“ sagte Pokrov schnell. „Oder jedenfalls nicht auf einen Streich. Unser quirliger kleiner Freund würde vermutlich mehrere Tage brauchen, um die gesamte Stadt zu rösten.“ „Du weißt eine Menge über Schäbbel,“ sagte Ingalawa. „Ja, ja,“ sagte Pokrov, Ungeduld vortäuschend. „Wir unterhalten uns nämlich, weißt du. Schäbbel erzählt mir allerlei Sachen. Naja, es ist ja auch Schäbbel gewesen, der meinem Großvater geholfen hat, die Analytische Maschine zu entwerfen.“ Pokrov log. Es war nicht Pokrovs Großvater gewesen, dem Schäbbel geholfen hatte. Es war Pokrov persönlich gewesen. „Ich hab’ ein Portrait deines Großvaters gesehen,“ sagte Ingalawa. „Er schaut dir bemerkenswert ähnlich.“ „Was soll an der Ähnlichkeit von Verwandten schon so bemerkenswert sein?“ sagte Pokrov. Fuhr dann, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: „Hör mal, wir sollten jetzt Schluss machen mit diesem unnützen Geschwätz. Wir müssen ernsthaft nachdenken. Schäbbel hat uns in dieses Schlamassel gestürzt. Was sollen wir nun machen?“ „Justina,“ sagte Olivia. „Die Kaiserin.“ „Wir wissen, wer die Kaiserin ist, mein Kind,“ sagte Pokrov. „Ja,“ sagte Olivia, „aber, ich meine, wir könnten ihr ein Bittgesuch vorlegen, verstehen Sie? Die Leute tun das die ganze Zeit. Droben im rosa Palast, meine ich.“ „Oh, wir wissen alles über das Verfahren der Bittgesuche,“ sagte Pokrov. „Sie hat da nicht völlig unrecht,“ sagte Ingalawa. „Das könnte vielleicht der schnellste Weg sein, um aus unseren Schwierigkeiten herauszukommen.“ „Nun ja, ich will jedenfalls nicht in irgendein Bittgesuch verwickelt werden,“ sagte Chegory. „Warum denn nicht, um Himmels Willen?“ sagte Ingalawa. „Die Kaiserin ist sehr nett. Sie ist freundlich, verständnisvoll und barmherzig. Nur sehr wenige Bittgesuche werden abgewiesen, weißt du. Wenn sie einigermaßen vernünftig sind, gewährt sie die Bitten. Sie wird verstehen, dass Schäbbel außer Kontrolle geraten ist.“ „Ich will trotzdem niemandem ein Bittgesuch vorlegen,“ sagte Chegory. „Weder Justina, noch jemand anderem.“ „Wo liegt das Problem?“ sagte Ingalawa. „Das ist doch ein vollkommen logischer Schritt.“ Chegory schwieg. Diese Frau kapierte einfach überhaupt nichts! Ein Bittgesuch an die Kaiserin war die öffentlichste Angelegenheit, die man sich nur vorstellen konnte. Was wäre, wenn sein Onkel davon erfahren würde? Wenn Dunash Labrat erfahren würde, dass Chegory mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, müsste sich Chegory zu sehr schämen, um sich jemals wieder auf dem Kleinbauernhof des biederen Imkers blicken zu lassen. Ingalawa, Qasaba und Pokrov begannen, Chegory zu drangsalieren. Er müsste aufhören, fortzulaufen; er müsste sich für seine Rechte einsetzen; er müsste wie ein Bürger handeln, nicht wie ein heimlichtuerischer Verbrecher. Seite 55 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Unterdessen stieg der ruchlose Ober-Beleuchter von Injiltaprajura aus der Höhe herab, um sich der Debatte anzuschließen. „Ja, ja,“ sagte Schäbbel. „Tu es, Chegory! Tu es!“ Angesichts dieses vereinten Ansturms begann der Wille des Ebrellianers zu bröckeln. Aber er hatte weiterhin Angst vor der Öffentlichkeit, vor der Bloßstellung, vor der traurigen Berühmtheit, die ihn erwarten würde. Er glaubte, dass es weit weniger gefährlich sein würde, fortzulaufen, sich zu verstecken, sich zu verflüchtigen, vom Antlitz der Erde zu verschwinden. Als er schließlich nicht mehr in der Lage war, sich noch länger direkt zu wehren, bat er um Erlaubnis, sich die Sache über Nacht durch den Kopf gehen zu lassen. „Mach’ keine solchen Ausflüchte,“ sagte Ingalawa. „Zeig’ wenigstens einmal etwas Entschlossenheit. Triff eine Entscheidung!“ Glücklicherweise wurde Chegory durch die Ankunft Firfat Labrats und seines Spießgesellen Hooch Neesberry gerettet. Labrat war unpassend mit einem grünen ärmellosen Unterhemd, einem weißen Dhoti und rosaroten Pantoffeln bekleidet. Er war ein großer Mann mit der roten Hautfarbe der Ebrellianer, dessen Körper größtenteils von üppig wuchernden roten Haaren bedeckt war, die auf seinen Wangen, seinem Kinn, seinen Schultern und seinen Handrücken sprossen; er war tatsächlich so mit einem Pelz besetzt, dass er bei passender Beleuchtung eher wie eine seltene Art von Affe als wie ein Mensch aussah. Das war also Firfat Labrat, der Sohn Vermonts, des Bruders der Mutter von Chegory Guy und demzufolge Chegorys Cousin, und ebenso ein Cousin von Dunash Labrats Sohn Ham. Er begrüßte Chegory herzlich und lachte, als ihm Chegory die Probleme schilderte, die sie nach Marthandorthan geführt hatten. „Dieser Schäbbel!“ sagte Firfat kopfschüttelnd. „Jederzeit bereit für irgendeinen Unfug!“ „Jawohl,“ sagte Chegory, „aber eigentlich ist das alles meine Schuld. Ich hätte auf Jod bleiben sollen. Aber diese – diese Leute hier haben mich anderweitig überredet. Tut mir leid, dass wir hier sind, denn das bringt dich bestimmt in Gefahr.“ „Gefahr ist mein Geschäft,“ sagte Firfat und klopfte ihm dabei auf die Schulter. „Mehr noch, sie ist mein Leben.“ Dann lachte er erneut. Dann, ernst werdend, wandte er sich an einen von Chegorys Begleitern. „Sie sind Ivan Pokrov, stimmt’s? Der Mann vom Analytischen Institut, richtig?“ „So ist es,“ bestätigte Pokrov. „Dann können Sie mir vielleicht behilflich sein,“ sagte Firfat. „Das gibt es eine gewisse Kleinigkeit, die ich für die Steuereintreiber in Ordnung bringen muss.“ „Wenn es sich um Fragen der Buchführung handelt,“ sagte Pokrov, „dann kann Schäbbel uns dabei helfen. Wir können das auf der Stelle erledigen.“ Schäbbel begann sofort davonzuschweben. Schäbbel war der beste Buchhalter auf Untunchilamon und kannte die Feinheiten des Steuersystems in- und auswendig, aber er hasste trotzdem jegliches Zahlenwerk. „Komm her,“ sagte Pokrov. „Oder muss ich dich erst zum Therapeuten schicken, um dich zur Mitarbeit zu bewegen?“ „Ich hab’ heute Urlaub,“ sagte Schäbbel rebellisch. „Ich hab’ seit fünftausend Jahren keinen einzigen Tag Urlaub gehabt. Heute nehm’ ich mir einen Tag frei. Basta!“ Aber Pokrov blieb hartnäckig, und schließlich folgte ihm Schäbbel mit dem größten Widerwillen in Labrats Schreibstube. Diese Schäbbel! Faul, träge, boshaft, eigensinnig, übermütig, verantwortungslos! Der Zusammenbruch des Goldenen Gulag ist mit Sicherheit kein Geheimnis mehr für uns, sobald wir erkannt haben, dass sich der Gulag weitgehend auf Schäbbels wegen ihrer breitgefächerten Fachkenntnisse verlassen hatte. Laut einer häufigen Bemerkung in Injiltaprajura ist Schäbbel für praktische Aufgaben kaum einen Pfiffer wert, weil man dieses Geschöpf fortlaufend beaufsichtigen und unaufhörlich bedrängen muss, um es zur Mitarbeit zu bewegen. Seite 56 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Trotzdem bleibt die Erfindung der Schäbbels die krönende Errungenschaft des Gulag. Die klügsten Gehirne des Gulag hatten sich fünfzigtausend Jahre lang damit abgemüht, intelligentes Leben herzustellen, das den menschlichen Geist übertreffen würde – und mit den Schäbbels war ihnen das schließlich gelungen. „Steuern!“ sagte Neesberry, sobald Labrat zusammen mit Pokrov und Schäbbel in seine Schreibstube entschwunden war. „In Zolabrik waren die Dinge einfacher, gell?“ Und dabei klopfte er Chegory auf den Rücken. „Erinnerst du dich daran?“ „Ja,“ sagte Chegory säuerlich. „Obwohl ich da noch jung gewesen bin.“ „Klar bist du das gewesen! Damals noch ein Junge, aber heute ein Mann. Na los, du Mannskerl, lass uns mit den Männern trinken. Kommt ihr Ashdans mit?“ „Wir trinken nicht,“ sagte Ingalawa streng. „Aber ihr kommt trotzdem mit,“ sagte Neesberry. Ingalawa protestierte. Neesberry bestand darauf. Ingalawa kapitulierte, und so begleiteten sie und Olivia die beiden Männer zu Firfat Labrats privaten Salon. Dort stellte man sie den wenigen auserwählten Gästen vor, die sich Labrats Gastfreundschaft erfreuten. Zu diesen Gästen gehörte der Hafenmeister, zwei Bankkaufleute, drei Priester, ein Paar Steuereintreiber und ein Richter. „Gib unseren Freunden ein bisschen was von Nummer Eins,“ sagte Hooth Neesberry. Der Mann an der Bar entsprach seinem Wunsch, indem er ihnen kleine Schlückchen von Nummer Eins in weißen Porzellanbechern servierte. Chegory Guy betrachtete die Flüssigkeit mit Abneigung. Das war Schnaps. Er kannte nur allzu gut die Folgen seines Genusses. Trunkenheit. Sucht. Dann der langsame Abstieg in den Zerfall und in den Wahnsinn, bei dem sich der Süchtige im wachen Zustand durch Albträume hindurchschwitzt, bei denen ihm Hände und Körper zittern, als ob imaginäre Spinnen aus dem Kamin strömen oder totes Fleisch im Tageslicht herumspazieren würde. „Trinkt aus!“ sagte Neesberry. „Wir sind seine Gäste,“ sagte Ingalawa, um Chegory behutsam an die Gebote anständigen Benehmens zu erinnern. Also biss Chegory die Zähne zusammen und nahm einen Schluck von Nummer Eins. Die scheußliche Flüssigkeit versengte seine Kehle. Tränen traten ihm aus den Augen. In seinem Kopf drehte es sich, und seine Knie wurden ihm weich. Er taumelte, konnte aber das Gleichgewicht halten. Er konnte spüren, wie das bauchzerfressende alkoholische Getränk brannte, brannte, brannte, während es in seinen Magen hinabrann. Er atmete tief und langsam ein. Dann noch einmal. Beruhigte sich. Kam zur Ruhe. Wie fühlte er sich jetzt? Nun… eigentlich gar nicht so übel. Tatsächlich fühlte er sich sogar gut. Er fühlte sich prima. Ihm wurde klar, dass der anfängliche Schrecken mehr mit seiner eigenen Angst als mit den Inhaltsstoffen des alkoholischen Getränks zu tun gehabt hatte. Er erinnerte sich daran, dass er schließlich ein Ebrellianer war. Seit Generationen war jeder, der auf den Ebrellen geboren war, in seiner Jugend zugrunde gegangen, wenn ihm die Fähigkeit gefehlt hatte, mit Schnaps fertig zu werden. Jahrhunderte der selektiven Züchtung hatten Chegory einen deutlichen genetischen Vorteil verschafft, wenn es darum ging, mit starken Getränken fertig zu werden. Heute nacht werd’ ich nicht sterben. Jedenfalls dann nicht, wenn ich vorsichtig bin. So dachte Chegory Guy. Aber trotzdem warnte er sich selbst, sich äußerst vorsichtig zu verhalten. Er nippte nur an seinem Getränk, und er nippte noch immer daran, als ein Soldaten-Duo den Salon betrat. „Ganz ruhig,“ sagte Hooth Neesberry, der Chegorys Erschrecken gesehen hatte. „Das sind regelmäßige Kunden von uns.“ Seite 57 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Dann – zweifellos, um ihm einen bösen Streich zu spielen – stellte er Chegory den Neuankömmlingen vor. „Also,“ sagte der eine Soldat, „also du bist der berüchtigte Chegory Guy! Schäbbels verbrecherischer Mittäter, stimmt’s? Oho, du steckst echt in Schwierigkeiten! Es gibt da einige schlimm verbrannte Männer, die sich geschworen haben, dich bei lebendigem Leib zu rösten.“ „Ich bin unschuldig!“ protestierte Chegory. „Du bist doch ein Ebbie, nicht wahr?“ sagte der andere Soldat. „Wie kannst du dann unschuldig sein?“ Diese geistreiche Bemerkung löste bei beiden Soldaten einen Lachanfall aus. Chegorys Finger hatten sich bereits zu Fäusten geballt. Ein plötzlicher Wutanfall verhärtete seine Miene. Er war nur noch einen einzigen Witz von einer Schlägerei entfernt. „Na los, meine Freunde,“ sagte Neesberry, der begriffen hatte, dass eine Schlägerei kurz bevorstand. „Macht Schluss mit euren Getränken und folgt mir. Ich will euch etwas zeigen.“ Dann führte er Chegory und seine beiden Ashdan-Begleiterinnen aus dem Salon und zu ein paar ruhigen Hinterzimmern, wo ein paar Pritschen herumstanden. „Hier schlafen wir in Zeiten wie diesen, wenn es am besten ist, sich versteckt zu halten,“ sagte Neesberry. „Wahrscheinlich seid ihr müde. Ihr könnt euch ruhig hinlegen und ein wenig ausruhen.“ Chegory sagte, er wäre überglücklich, genau das tun zu dürfen. Er war wirklich müde. Es war ein sehr langer Tag gewesen. In der vorherigen Nacht war sein Schlaf von den Unruhen in der Dromdanjerie unterbrochen worden; er hatte den ganzen Vormittag hindurch körperlich und den ganzen Nachmittag hindurch geistig hart gearbeitet; er war von der Begegnung mit einem Kraken erschüttert und dann durch seine plötzliche Verhaftung und Schäbbels törichten Angriff auf die ihn verhaftenden Soldaten weiter traumatisiert worden. Er war erschöpft. „Dann schlaf’ halt,“ sagte Ingalawa. „Ich möchte mich lieber noch kurz mit Ivan und Freund Firfat unterhalten.“ Und weg war sie, und mit ihr ging auch Neesberry fort. Aber Olivia hatte sich entschieden, hier zu bleiben. Seltsamerweise musste Chegory feststellen, dass seine Müdigkeit auf wundersame Art wie weggeblasen war, sobald er sich auf diese Weise allein mit dem jungen Ashdan-Mädchen in einem Zimmer befand, das gut ausgestattet war mit Schatten, Betten und Ungestörtheit. Wie lange müssen wir wohl Vermutungen anstellen, bis wir die Gedanken erraten, die sich unausweichlich seinem Geist aufdrängen mussten? „Kostbar ist der Tag, und kostbar ist das Fleisch, das uns diesen Tag ermöglicht.“ So sagen die Bekenner, die uns auch Folgendes erzählen: „Großartig ist die Gabe des Lebens, und geheiligt ist die Bewahrung desselben.“ Doch in unserem alltäglichen Leben betäubt die Gewohnheit unsere Wertschätzung des Daseins, unser Bewusstsein dessen, was das Leben zu bieten hat, und unser Wissen über unsere eigene Sterblichkeit. Da Chegory Guy schon lange Zeit durch Gewohnheit, Routine und den Verzicht auf Leidenschaft Sicherheit gesucht hatte, hatte er sich auch lange Zeit betäubter als die meisten anderen verhalten. In seiner Kindheit hatte er die Schrecken des Pogroms erdulden müssen, die das Leben seiner Mutter, seiner Bruders und seiner Schwester gefordert hatten. Danach war es sein größter Wunsch gewesen, zu einem Stein zu werden, zu etwas zutiefst Unbedeutendem und Friedfertigem, zu etwas, das die Welt niemals der Mühe der Zerstörung für wert halten würde. Chegory hatte schon sehr lange Zeit rein mechanisch vor sich hin gelebt. (Hier betrachten wir die Zeit natürlich in dem Sinn, wie man in der Jugend dieses Mysterium bemisst, denn im Alter würde man sich denken, dass der junge Chegory gerade eben erst geboren worden war.) Bis zum heutigen Tag, an dem sowohl große wie auch kleine Ereignisse den gleichmäßigen Gang seiner geliebten Alltags-Routine unterbrochen hatten, hatte er rein mechanisch gelebt. Seine Begegnung mit dem Tod und sein Zusammenstoß mit dem Gesetz hatten ihm auf erschreckende Weise die Augen für seine eigene Sterblichkeit geöffnet. Außerdem fühlte er sich sehr empfänglich für die Welt des Fleisches. Seite 58 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Für die Welt der Schönheit. Olivia Qasaba! Lange hatte er die Wollust geleugnet, die ihn dazu drängte, endlich von ihr Besitz zu ergreifen. Doch im Hier und Jetzt war es schwer, sein Verlangen zu leugnen. Weich waren ihre Rundungen, und hell war der Schimmer ihrer Haut. In ihren Augen lag ein lebendiges Leuchten, und er erlaubte sich, vorzustellen, dass sie sich an seinen Heldenmut erinnerte, mit dem er sich auf der Hafenbrücke gegen den Kraken zur Wehr gesetzt hatte. Die Zurückhaltung, die seine Beziehung zu Olivia in der Dromdanjerie bestimmt hatte, hatte ihren tiefsten Stand erreicht. Etwas hatte von ihm Besitz ergriffen, das dem Wagemut ähnelte, der einem in Zeiten des Kriegs das Herz höher schlagen lässt und sämtliche Gelüste zum Brodeln bringt. Er stellte sich vor, dass ihm Olivia einen Kuss gewährte. Er war sich des Glanzes ihrer Haare und eines gewissen Wohlgeruchs bewusst, der sie umgab. Er stellte sich vor … Aber wir alle wissen doch ganz genau, was er sich vorstellte. Man braucht das gar nicht weiter auszuführen. Es reicht schon, wenn man sagt, dass er die junge Frau aufmerksam musterte, während er so tat, als ob er seine Fingerkuppen unter die Lupe nehmen würde. Olivia, das Mädchen mit den wechselhaften Launen! Woran dachte sie wohl gerade? Was dachte sie wohl? Was nur? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Sie zu fragen! „Olivia,“ sagte Chegory. Er wollte ihren Namen wie ein Gedicht erklingen lassen. Trotz seiner Begeisterung dafür, jeden Augenblick seines Lebens voll auszukosten, war er wirklich richtig müde. Seine Stimme lallte ihren Namen nur, verdickte ihn, machte sie auf diese Weise zu einer reizlosen Frau mittleren Alters, kränkte sie auf unverzeihliche Weise. Glaubte Chegory jedenfalls. Doch Olivia antwortete ihm: „Ja?“ Ja. Sie hat Ja gesagt. Aber zu was? Momentan noch zu nichts. Aber eines Tages würde sie bestimmt Ja zu allem sagen. Zu ihm, zu seiner Kraft, zu seinem Verlangen, zu seinem Drängen. Chegory merkte, dass er zitterte. Dann brach plötzlich ein Tumult aus, der diese reizende Tändelei abrupt beendete. Die beiden jungen Leute sprangen verängstigt auf die Beine, während im ganzen Gebäude Rufe widerhallten, Schreie, das dumpfe Pochen herumstampfender Stiefel und das dröhnende Krachen von Vorschlaghämmern, mit denen gerade Türen zerschmettert wurden. „Bei allen Göttern!“ sagte Olivia. „Was ist das?“ „Wir sind das Opfer einer Razzia,“ sagte Chegory. „Na los! Wir sollten lieber von hier verschwinden!“ Aber ihre Fluchtversuche blieben zwecklos. Chegory und Olivia hatten das Schlafzimmer noch kaum verlassen, als sich plötzlich schattenhafte Gestalten auf sie stürzten. Chegory wurde gepackt. Gegen eine Wand gestoßen. Wurde von mindestens einem halben Dutzend Soldaten umringt. „Hilfe!“ schrie voller Panik jemand in seiner Nähe. Aus seiner eigenen Kehle drang der Ruf: „Olivia!“ Dann wurde er erneut gestoßen, geschlagen, geboxt, verdroschen. Ihm blieb keine Luft mehr zum Sprechen unter den Hieben von zwanzig, dreißig Fingerknöcheln. Ein Ellbogen fest gegen sein Gesicht, dann etwas Spitzes, Spitzes, eine Schwertspitze, die sich wie eine spitze Nadel in seine Kehle bohrte. Seite 59 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Keine Bewegung, Ebbie!“ sagte ein Knurren. „Oder du bist tot!“ „Du bist verhaftet,“ sagte eine Autoritätsperson. Chegory spürte, wie ihm die Knie weich wurden. „Keine Bewegung, hab’ ich gesagt!“ Aber er ging trotzdem zu Boden, machtlos, sich davor zu bewahren, während die Welt um ihn herum bei seinem Hinfallen zusammenstürzte. Er wurde solange getreten, bis er wieder auf die Beine gekommen war. „Du bist verhaftet,“ sagte jemand triumphierend. „Das hab’ ich ihm schon gesagt,“ sagte eine Autoritätsperson, die er nur wenige Augenblicke zuvor schon gehört hatte. Dann eine andere Stimme: „Die Anklage lautet auf Einnahme von Drogen.“ „Wa…“ Das war seine Kehle, die eine einzige bedeutungslose Silbe von sich gab. Seine Beine kraftlos. Man schleppte ihn bereits kurzerhand davon, ohne dabei mehr Kraft als unbedingt notwendig zu verschwenden. Seine Beine strampelten hinter ihm her. Schrie dabei herum. Jemand schrie herum. Olivia, Olivia! Aber Chegory hatte keine Möglichkeit, sie zu schützen. Man hatte sämtlichen Kampfgeist, sämtliche Gefühle, sämtliche Gedanken aus ihm herausgeprügelt. Wie ein Kadaver wurde er getragen, fortgeschleppt, befördert, weitergestoßen. Er hatte den Überblick darüber verloren, wo er sich gerade befand, wohin sie ihn bringen wollten, wie weit sie schon gekommen waren. Dann erhellte ein strahlendes, ein blendendes Licht seine Umgebung. Er befand sich in der Haupthalle des Lagerhauses. Artemis Ingalawa zappelte herum, um gegen vier Soldaten zu kämpfen, die pro Person je eine ihrer Gliedmaßen festhielten. Firfat Labrat und Ivan Pokrov wurden soeben unter lautstarkem Protest mit vorgehaltener Klinge aus einer Schreibstube gedrängt. Und droben… Licht Licht Licht! Schäbbel, freilich. „Chegory!“ schrie Schäbbel. „Liebster Chegory!“ Da fand Chegory Guy in höchster Not seine Stimme wieder. „Mach’ bitte überhaupt nichts!“ kreischte Chegory. Falls Schäbbel loslegen und ein paar Soldaten braten würde, dann würde man ganz bestimmt Chegory die Schuld daran geben. Dann würde die Armee vielleicht in Eigenregie ein Pogrom gegen alle in Injiltaprajura überlebenden Ebrellianer in Gang setzen, unabhängig davon, was die Kaiserin dazu sagen mochte. „Verbrennen,“ skandierte Schäbbel. „Verbrennen verbrennen verbrennen.“ Da erhob sich Pokrovs Stimme über den Tumult zu einem Ruf, dessen Lautstärke von seiner Verzweiflung geprägt war. „Schäbbel! Komm her! Und zwar sofort! Oder ich werde dich auf der Stelle zu einem Therapeuten schicken!“ Seite 60 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Zu Chegorys großer Erleichterung gehorchte der Fürst des Chaos, und von dieser Quelle wurden keine weiteren Drohungen des Einäscherns geäußert, während Chegory und seine Mitgefangenen in die Nacht hinausgetrieben wurden. Seite 61 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 10 Kurz nach der Razzia in Firfat Labrats Geschäftsräumen im Hafenviertel von Marthandorthan wurden einige Häftlinge in die Goldhammer-Steige vor die Pforte des Foltertempels gebracht. Firfat selbst war keiner dieser Häftlinge. Just in diesem Augenblick war er zurück in seinem Lagerhaus, um jene Soldaten zu entlohnen, die ihm gerade einen Gefallen erwiesen hatten, indem sie ihm die offenkundige Unzulänglichkeit seiner Sicherheitsvorkehrungen aufgezeigt hatten. Dagegen war Chegory nicht in der Lage, sich von dem ganzen Ärger freizukaufen. Zunächst einmal hatte er kein Geld. Und anders als Firfat hatte er auch keine Freunde, die bereit waren, ihm bei den Kaufverhandlungen zu helfen. Dagegen hatte Firfat einen Richter, drei Priester, ein paar Bankkaufleute und Injiltaprajuras Hafenmeister, die ihm allesamt zur Seite standen. Hätte Firfat den jungen Chegory Guy retten können? Vielleicht. Wenn er sich wirklich angestrengt hätte. Andererseits vielleicht auch nicht. Die Soldaten hatten schließlich ihr Soll zu erfüllen und waren deshalb froh, dass es ihnen gelungen war, Chegory Guy, Olivia Qasaba, Artemis Ingalawa und Ivan Pokrov im Gefangenenlager abzuliefern. Schäbbel war zwar genau genommen gar nicht verhaftet worden, aber er hüpfte trotzdem mit ihnen mit, wobei er jedes Mal in die Höhe und damit außer Reichweite schnellte, wenn ein verärgerter Soldat versuchte, dem leuchtfeuerhellen Beschwörer sämtlicher nachtaktiver Insekten einen Hieb zu versetzen. An der Tempelpforte wurde für die Häftlinge eine Empfangsbestätigung ausgestellt, als ob sie eine Ladung Maniokknollen oder die entsprechende Anzahl von Säcken mit Kokosnüssen wären. Dann wurden sie in den Hof des Tempels geschafft, der bereits mit Gefangenen jeglichen Alters, jeglicher Rasse und beiderlei Geschlechts überfüllt war, wobei viele bereits in den Schlaf gesunken waren, trotz gewisser Hindernisse für einen friedlichen Schlummer in Form schreiender Babies und zankender Schwiegereltern. „Naja,“ sagte Chegory, „so schlecht schaut das hier doch gar nicht aus. Lasst uns eine ruhige Ecke suchen, damit wir uns dort niederlassen können.“ Zu Chegorys Entsetzen hatten Ingalawa und Pokrov überhaupt nicht die Absicht, sich ruhig niederzulassen. Sie begannen stattdessen, lange und lautstark zu protestieren, wobei sie Anwälte, Bürgschaften, Freilassung und Entschuldigung verlangten. Chegory hatte Angst, dass man sie alle verprügeln würde. Er war bereits steif und wund von den Hieben, die er in Firfats Lagerhaus eingesteckt hatte, und er verspürte nicht den leisesten Wunsch, seinen Verletzungen neue hinzuzufügen. Zu seiner Erleichterung ließen Ingalawas Proteste nach, nachdem ihr ein Mitgefangener erklärt hatte, dass sie keinen Anwalt erreichen könnten, weil man den Ausnahmezustand verhängt hatte. „Oh,“ sagte sie. „Das erklärt die Sache natürlich. Okay, dann werden wir halt das Beste daraus machen. Aber ich möchte ein paar Moskitonetze haben.“ Diese Ashdan-Liberalen! Verschroben ist ein viel zu schwaches Wort, um ihr Verhalten zu beschreiben! Ingalawa verkörperte die Geisteshaltung ihrer Rasse in ausgeprägter Weise. Sie hatte heftig protestiert, und zwar nur deshalb, weil man sie ihrer gesetzmäßig zustehenden Rechte beraubt hatte. Rein aus Prinzip, mit anderen Worten. Dafür hatte sie sogar riskiert, verprügelt zu werden. Aber sobald sie erfahren hatte, dass ihre Festnahme rechtmäßig gewesen war, verstummten alle ihre Beschwerden. Das Eingesperrtsein selbst machte ihre keine Sorgen – nein, denn sie war zäh, sie war bei Freunden, sie konnte das auf die Reihe kriegen. Kein Problem! Chegory, dem sein nacktes Überleben viel mehr Sorgen bereitete als die Ausübung seiner Rechte, hielt Ingalawas Verhalten für, gelinde gesagt, völlig absonderlich. Er war bei weitem nicht so zuversichtlich. Ehrlich gesagt, war er völlig außer sich vor Angst. Man hatte ihn wegen Drogenmissbrauchs verhaftet. Hätte ihm überhaupt etwas noch Schlimmeres passieren können? „Schäbbel!“ sagte Pokrov. „Blende dein Licht ab! Du ziehst weit und breit sämtliche Insekten an, die es gibt!“ Aber Schäbbel gab keine Antwort. Stattdessen sang der Imitator der Sonnen liebliche Madrigale, war völlig versunken in einer musikalischen Fuge. Folglich ignorierten die Menschen den Fürsten des Chaos, versuchten auch (mit deutlich geringerem Erfolg) die Insektenschwärme zu ignorieren, die vom Licht des Sängers angelockt wurden, und bemühten sich, Ruhe zu finden, um einschlafen zu können. Seite 62 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Olivia holte einen Kamm aus Elfenbein hervor und begann mit ihm durch ihre langen, seidenweichen schwarzen Haare zu streichen. Chegory sah ihr dabei aus den Augenwinkeln zu. Schon bald musste er seine Gliedmaßen sorgfältig zurechtrücken, damit kein Zeichen seiner steigenden Leidenschaft sichtbar werden konnte. Dafür schämte er sich übrigens kein bisschen; es war für ihn ein derart übliches Ereignis, dass er die notwendigen Manöver ausführte, ohne darüber nachzudenken. „Wollen wir uns unsere Träume erzählen?“ sagte Ingalawa. Das Erzählen der Träume ist ein Ashdan-Brauch, den man in Süd-Ashmolea ebenso pflegt wie in NordAshmolea. Man erzählt nicht die Träume, die man schon erlebt hat; stattdessen erzählt man die Träume, die man gern erleben möchte. „Sie zuerst,“ sagte Olivia. „Ich möchte davon träumen, dass ich… in meiner gewohnten Umgebung wohne,“ sagte Ingalawa. „Keine Alarmrufe auf den Straßen, keine Gefängnismauern, keine Soldaten. Stattdessen die Dromdanjerie wie gewohnt. Mein eigenes Zimmer, mein eigenes Bett, Friede innerhalb meines eigenen Moskitonetzes.“ Ingalawa war eine geübte Träumerin, die viele Jahre der Ausbildung und Erfahrung hinter sich hatte. Weil dies der von ihr gewählte Traum war, war dies bestimmt auch der Traum, der in dieser Nacht ihren Schlaf versüßen würde. „Ich möchte,“ sagte Olivia, die dabei immer noch mit ihrem Kamm sanft durch das frei fließende Traumgebilde ihrer Haare strich, „ich möchte… ich möchte dasselbe.“ Aber die Art und Weise, mit der sie das sagte, deutete auf unausgesprochene Dinge hin, auf vollkommen andere Traumbilder, auf gewollte Träume, die nur noch nicht spruchreif waren. „Jetzt du,“ sagte sie und blickte dabei Chegory an. Blickte dann weg. Zu schnell, zu lässig. Sein Traum? Er sah, wie ihn Pokrov beobachtete, sah das Lächeln auf Pokrovs Lippen. Wusste, dass es Pokrov wusste. Aber er stritt alles ab und sagte stur: „Ich möchte ein Stein sein. Das ist alles. Das werde ich heute Nacht auch sein. Ein Stein, nichts weiter.“ „Oh, Chegory!“ sagte Ingalawa. „Was soll nur aus dir werden, wenn du dir nicht mehr als das erträumen kannst?“ „Das sind ja doch nur Träume,“ sagte Chegory. „Aber Träume formen das Leben,“ antwortete Ingalawa. Die Vernunft war auf ihrer Seite. Die Formulierung von Sehnsüchten ist keine Sache, die man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Ein Teilaspekt dieses Ashdan-Brauchs des Träume-Erzählens ist genau diese Formulierung. Ein anderer Aspekt ist gemeinsame Beteiligung, die tatsächlich eine zutiefst wirkungsvolle Methode der Sozialisierung darstellt. Mit seiner Aussage, dass er ein Stein sein möchte, wies Chegory alle Sehnsüchte von sich, die ihm Ingalawa so gerne unterjubeln wollte; er schloss sich damit aus von der elitären intellektuellen Gesellschaft, der er sich nach ihrem Wunsch anschließen sollte; er erklärte sein Leben für hoffnungslos, obwohl er doch ihr erklärtes Lieblingsprojekt war. Mit anderen Worten, er war einfach widerlich. „Sie formen nämlich wirklich das Leben, weißt du?“ beharrte Ingalawa. „Chegory, Chegory, was soll bloß aus dir werden, wenn du dir gar keine Mühe gibst?“ „Naja, keine Ahnung,“ sagte Chegory mit kaum hörbarem Murmeln. Für so etwas war er einfach zu müde. Diskussion, Rhetorik, Ideologie – darauf hatte Ingalawa Appetit ohne Ende. Aber Chegory war erschöpft und sehnte sich nach Schlaf. Um weiteren Streit zu vermeiden, sagte er: „Ich muss mich mal für einen Augenblick entschuldigen.“ Seite 63 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Dann stapfte er davon, um die Toilette zu suchen, die er auf der Rückseite des Tempels ausfindig machte. Sie war nichts Besonderes. Nur ein Schacht, den man wie immer schnurstracks senkrecht in den Boden gebohrt hatte, bis er in einem der Tunnel im Drunten herausgetreten war. In diesem Fall wurde der fragliche Tunnel von einem unheimlichen grünen Licht erhellt, das aus dem Klo-Loch heraufschimmerte. Dank dieser Beleuchtung sah Chegory auf halbem Weg nach unten ein massives Metallgitter, auf dem sich der Dreck auftürmte, und das jeden davon abhielt, durch diesen Behelfsabfluss zu fliehen, das aber auch jeden verborgenen Schrecken daran hinderte, von Drunten hinauf in den Tempel zu kriechen. Bei der Toilette befand sich die übliche Schüssel Wasser, aber allein schon der Geruch verriet Chegory, dass das Wasser mit dem Schmutz von Dutzenden von Leuten verunreinigt war. Er ekelte sich davor und stellte fest, dass er dadurch sofort Verstopfung bekam. Trotzdem pinkelte er, bevor er zu seinen Gefährten zurückschlenderte und voller Hoffnung war, sie bei ernsthaften Versuchen anzutreffen, Schlaf zu finden. Aber stattdessen traf er sie dabei an, wie sie sich mit einigen Soldaten herumstritten. Als Chegory schließlich die Gefahr bemerkte, in der er sich befand, hatte man ihn schon erspäht. „Sapperlot!“ schrie einer. „Das ist er!“ Er wandte sich zur Flucht, aber sie waren zu schnell für ihn. Brandflecken auf ihren Uniformen, versengte Haare, böse Sonnenbrände und Stellen voller Blasen verrieten ihm, wer sie waren. Das waren die Soldaten, die Schäbbel angebrannt hatte. Sie waren außerordentlich sauer, äußerst wütend und hatten eindeutig Lust auf einen Mord. „Ebbie!“ sagte einer und verpasste ihm dabei einen Fausthieb. „Hört auf damit!“ rief Ingalawa und packte den Raufbold. „Du hältst dich da raus,“ sagte der Soldat und schüttelte sie ab. Dann begannen die Soldaten Chegory herumzuschubsen, wobei sie ihm solche Stöße versetzten, dass er von einem zum anderen torkelte. „Was nun?“ kreischte einer. „Ziehen wir ihm doch die Haut bei lebendigem Leib ab,“ knurrte ein Veteran, der die Narben von Drachenbissen trug. „Verspeisen wir ihn lieber lebend,“ rief ein anderer. „Nein, nein. Wir sollten ihn auf einen Pflock in der Lak-Straße spießen, damit ihn die Ratten auffressen.“ „Oh, das macht’s ihm zu leicht, viel zu leicht. Die Lagune, Jungs. Morgen. Blut ins Wasser. Haie.“ Währenddessen stolperte Chegory hilflos von einem Stoß zum nächsten, wobei ihm klar war, dass man ihn zu Brei zerstampfen würde, falls er versuchen sollte, sich zu wehren. Rasch bildete sich ein Konsens heraus. Die Soldaten wollten ihre eigene Männlichkeit und die Unterlegenheit der Mitglieder minderwertiger Rassen dadurch unter Beweis stellen, dass sie den Ebrellianer kastrierten. „Das dürft ihr nicht!“ schrie Olivia. „Ebbie-Freundin!“ sagte ein Soldat, wobei er ihr zusammen mit dieser Beledigung eine Ohrfeige verabreichte. Daraufhin machten Qasaba, Ingalawa und Pokrov großen Lärm mit ihrem Geschrei nach Anwälten und Gerichtsverfahren. Währenddessen hüpfte Schäbbel in der Luft herum und machte Musik, die allmählich immer lauter wurde. Die Soldaten ignorierten diese Musik, bis der Folterer der Harmonien anfing, ein Skavamarin17 zu imitieren. [Skavamarin: Trotz der Hinweise, die der Urheber weiter unten macht, und zwar dahingehend, dass es sich dabei angeblich um eine Art von mechanischem Gerät handelt, ist es in Wahrheit eine Gattung von Dämonen, die in 17 siehe Kapitel 59 in The Wicked and The Witless Seite 64 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 den Ländern westlich des Großen Ozeans ihr Unwesen treiben sollen. In jenen umnachteten Ländern besänftigt die verängstigte Bevölkerung diese Dämonen mit Menschenopfern, um ihr Stillschweigen zu erlangen, denn es bereitet Höllenqualen, die durch nichts zu lindern sind, das Wimmern eines Skavamarins zu ertragen. Ritha, niederrangiger Kommentator.] [Rithas Bemerkung über das Skavamarin ist falsch. Der erhabene Lexikograf Zero Twink hat über jeden Hauch des Zweifels hinaus nachgewiesen, dass das Wort „Skavamarin“ eine tollwütige Wildkatze bezeichnet. Sot Dawbler, Kommentar-Schule.] Zum Skavamarin fügte der wahnsinnige Schäbbel dann Ghul-Trommeln hinzu, sowie einen Zweiton-Gong, einen Satz Plauderzangen18, das Geräusch eines Drachen, der unter wirklich schlimmen Blähungen litt, den Schrei eines Hähnchens und das Gewieher eines Esels. Die Soldaten nahmen Anstoß an Schäbbels musikalischem Geschmack, umso mehr, als der Schutzgeist von Injiltaprajura seinem provisorischen Orchester ein zweites Skavamarin hinzufügte. Mittlerweile werden Sie sich die naheliegende Frage stellen. Was, so fragen Sie sich, ist überhaupt ein Skavamarin? Fragen Sie sich lieber nicht! Dieses Ding soll hier nicht beschrieben werden, damit kein leichtsinniges Gemüt in Versuchung kommt, ein solches Gerät gemäß einer solchen Beschreibung herzustellen. Unwissenheit ist hier ein Segen! Lassen Sie uns hier lediglich festhalten, dass die Soldaten wahrhaftig im Recht waren, Schäbbel mit Schaufeln zu attackieren. Das taten sie nämlich, und sie droschen auf wirklich fürchterliche Art und Weise auf den Imitator von Sonnen ein. Es ist aber fast unmöglich (jedoch nicht vollkommen unmöglich – die Therapeuten des Goldenen Gulag haben gewusst, wie wie man das macht!), Schäbbel zu verletzen oder zu töten, genau so, wie es unmöglich ist, einen Regenbogen zu beschädigen. Derart gewaltig war die Raserei dieser bewaffneten Männer, dass sie Chegory Guy völlig außer Acht ließen, während sie über Schäbbel herfielen. Chegory brach unverzüglich zusammen. Ihm war übel und schwindlig, und er war völlig verstört. Olivia und Ingalawa trösteten ihn, so gut sie konnten, während sich Ivan Pokrov im Schäbbel-Licht Notizen (über gewisse Mitglieder von Justinas brutalem und zügellosem Militär) für die kommende Gerichtsverhandlung machte, die gewiss das Ergebnis dieser Nacht der Gräueltaten sein würde. Der Lärm steigerte sich weiter, weil nicht nur Schäbbel lautstärkemäßig im Wettstreit mit den fluchenden Soldaten stand, sondern sich auch noch das unaufhörliche Geschrei verschiedener Babies hinzugesellte, sowie das Gestöhne, Gejammere und wüste Geschimpfe unbeteiligter Parteien, die einfach nur schlafen wollten. Dieses Geschehen wurde vom Erscheinen eines höheren Offiziers unterbrochen, dessen schallende Stimme beinahe die Trommelfelle zum Platzen brachte, als er brüllte: „Was zur Hölle ist denn hier los?“ Dieser Offizier war der Kommandant des Gefangenenlagers, ein schlanker Ashdan, bei dem jedes Wort und jede Geste verrieten, dass er daran gewöhnt war, Befehle zu erteilen. Trotzdem brachte ihm weder sein eindrucksvolles Auftreten noch seine donnerkrachende Anfrage irgendeine Antwort ein. Seine Männer befanden sich so sehr im Rausch des Kampfes, dass mindestens ein Eimer kalten Wassers nötig war, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Schnell hatte der Kommandant einen solchen Eimer gefunden und schüttete ihn über Schäbbels Angreifern aus, die mit erstaunlicher Schnelligkeit wieder nüchtern wurden. „Sperrt dieses Ding in den Scheißetopf!“ sagte der Kommandant. Die Männer huschten davon, um ihm zu gehorchen. Der musikalisch vielseitig bewanderte Schäbbel war von seinen melodischen Ausbrüchen zu sehr berauscht, um sich dieser Demütigung zu widersetzen. Folglich wurde der Einäscherer der Soldaten in den Scheißetopf gestopft. Man legte den Deckel darauf, wodurch die Kakofonie, die aus seinem Inneren herausströmte, deutlich gedämpft wurde. Man brachte etwas Schnur herbei und verwendete sie, um den Deckel festzubinden. 18 engl. set of babble-tongs [vielleicht eine Art Maultrommel?] Seite 65 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Werft ihn in den Brunnen!“ sagte der Offizier. Erneut gehorchte man ihm. Der Scheißetopf purzelte hinab in die Dunkelheit und schlug drunten mit einem dumpfen Platschen auf dem Wasser auf. Einstweilen war der Störenfried außer Sicht- und Hörweite, und es trat beinahe Stille ein. Selbstverständlich würde Schäbbel sein Schäbbel-Selbst freibrennen, sobald der musikalische Anfall vorüber war, aber im Augenblick hatte der Erfinderische keine Gedanken für etwas anderes als kreative Ekstase. Dann befahl der Offizier einem seiner Untergebenen, alle unbeschäftigten Soldaten wegtreten zu lassen und ihnen eine Arbeit zu verschaffen. „Warten Sie einen Augenblick,“ sagte Ivan Pokrov. „Ich möchte die Namen dieser Personen. Ich will ihnen ihre gerechte Strafe zukommen lassen.“ „Führ’ sie weg,“ sagte der Kommandant. Sein Untergebener ließ die Soldaten wegtreten. Einige warfen Chegory Guy verdrießliche Blicke zu, während sie an seinem daliegenden Körper vorbeimarschierten, und ein oder zwei murmelten unverhüllte Drohungen gegen seine Person. Sobald sie fort waren, überließ Ingalawa Chegory der alleinigen Fürsorge Olivias und stand auf, um dem Kommandanten gegenüberzutreten. „Wer sind Sie?“ sagte Ingalawa. „Das sollte meine Frage gewesen sein,“ sagte der Kommandant, beinahe mit einem spöttischen Lächeln. „Aber ich weiß genug über dich, auch ohne deinen Namen.“ Warum wurde das von einem spöttischen Lächeln begleitet? Weil er das Wort an eine Frau richtete, die noch dazu ein Kind der verweichlichten Kultur von Süd-Ashmolea war. Der Kommandant kam aus dem Norden, wo man grimmige Krieger aufzieht, die körperliche Überlegenheit für das Wichtigste halten. Ingalawa konnte seine Einstellung überhaupt nicht leiden. Er behandelte sie so abweisend, als ob sie gar keine Rolle spielen würde, was einfach unverschämt von ihm war. Ingalawa entstammte einer der wenigen Kämpfersippen aus dem Süden Ashmoleas, und wenn man ihren Zorn erregt hatte, dann wurde die liberale Ashdan-Intellektuelle schnell zu einer gemeingefährlichen Berserkerin. Sie sagte deshalb: „Haben Sie auch einen Namen?“ In Ashmolea ist das eine Kampfansage, die einen immer zu einer Antwort verpflichtet. Denn darauf zu schweigen, bedeutet, Schande für sich selbst und seine Familie auf sich zu nehmen. „Einen Namen? Shanvil Angarus May! Reicht dir dieser Name? May aus Rest Acular! Genügen dir diese Angaben zu meiner Abstammung?“ „Mehr brauchen wir nicht, um Sie zu verklagen,“ sagte Ivan Pokrov. „Wir werden eine Vorladung anfertigen lassen, sobald wir hier verschwunden sind.“ „Du bist verrückt,“ sagte Shanvil May, der zu Pokrov mit einer Geringschätzung sprach, die derjenigen ähnelte, die er gezeigt hatte, als er das Wort an Ingalawa gerichtet hatte. „Das glaub’ ich nicht,“ sagte Pokrov. „Unser lieber Freund Chegory Guy ist von Ihren Soldaten fast zu Tode geprügelt worden. Dafür mach’ ich Sie verantwortlich. Zweifellos wird das Gericht zu einer ähnlichen Einschätzung Ihrer Strafwürdigkeit kommen. Entweder Sie haben das befohlen, oder Sie haben grob fahrlässig versagt, das zu verhindern.“ „Ihr seid hier diejenigen, die Probleme haben, nicht ich,“ sagte Shanvil May, der von dieser pfiffigen kleinen Ansprache völlig unbeeindruckt geblieben war. „Ihr seid aufgrund äußerst schwerwiegender Vorwürfe verhaftet worden.“ Seite 66 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Alles nur Scheinvorwürfe!“ protestierte Pokrov. „Das mag schon sein,“ sagte May, „aber Gesetz ist nun mal Gesetz, und dem Gesetz wird gehorcht, weil es das Gesetz ist. Ihr werdet in Haft bleiben, bis ihr euch zu diesen Vorwürfen geäußert habt.“ „Was wirft man uns denn vor?“ sagte Ingalawa. „Zunächst mal den Umgang mit Drogenhändlern,“ sagte Shanvil May. „Bestreitet ihr das?“ „Diese Frage werde ich vor Gericht beantworten,“ sagte Ingalawa. So sprach sie, obwohl sie noch immer vorhatte, ihre Schwierigkeiten durch ein Bittgesuch an Kaiserin Justina loszuwerden. Wenn sie diese Angelegenheit vor Gericht ausfechten müsste, würde sie zwangsläufig verlieren müssen, denn sie war freilich durch und durch schuldig, weil sie sich ja wirklich mit Drogenhändlern eingelassen hatte. Sie hatte sogar von dem gefürchteten Alkohol getrunken, und der Geruch dieser Droge lag noch immer in ihrem Atem. „Mir wird es Spaß machen,“ sagte Shanvil May, „dir zuzuschauen, wie du versuchst, dich vor einem ordentlichen Gericht aus dieser Sache herauszuwinden.“ Nach diesen Worten drehte er sich um, um fortzugehen. „Sie können doch nicht einfach so davonspazieren!“ sagte Ingalawa. „Wir brauchen Schutz. Ihre Soldaten haben bereits versucht, uns umzubringen. Ich werd’ Sie dafür zur Rechenschaft ziehen, wenn einer von uns ermordet wird. Schauen Sie doch – dieser Junge von den Ebrellen ist so schwer verprügelt worden, dass er nicht mal mehr stehen kann.“ „Kein Problem,“ sagte Shanvil May barsch. „Ich werd’ deinen Ebbie-Freund zum Palast schicken, damit er dort den Test absolviert.“ „Test?“ sagte Olivia. „Wer soll ihn denn testen?“ „Der Quieker in der Schatzkammer natürlich,“ sagte May. „Wer sonst?“ Woraufhin sich Chegory, der bei weitem nicht so schwer verletzt war, wie Ingalawa getan hatte, dachte: Danke, Ingalawa! Diesmal hast du es wirklich gründlich vermasselt! Er wollte nicht zum Palast gehen. Er wollte überhaupt nichts mit irgendeinem Test zu tun haben. Außerdem wollte er nicht von Olivia getrennt werden, die sich so herzallerliebst um seine Prellungen kümmerte. „Wieso wird ihm das helfen, wenn man ihn in den Palast bringt?“ sagte Olivia. „Danach wird man ihn ja trotzdem wieder verprügeln.“ „Nein, nein,“ sagte Shanvil May in einem Tonfall, in dem sich zwei Teile wohltuenden Trostes mit neun Teilen vornehmer Herablassung vermengten. „Der Test des Quiekers wird die ganze Nacht beanspruchen. Wenn dein Freund hierher zurückkommt, werden diese Soldaten, die wie die Haifische hinter ihm her sind, bereits ihre Schicht beendet haben. Es wird schon ein neuer Tag sein.“ „Sie irren sich,“ sagte Pokrov mit Nachdruck. „Ich weiß alles über dieses Ding, das Sie einen Quieker nennen. Es fällt sein Urteil in weniger als einem Herzschlag. Wie soll denn das die ganze Nacht dauern?“ „Es wird dort eine Warteschlange geben,“ sagte May. Machte sich dann daran, Chegorys Abreise zu organisieren. So geschah es also, dass Chegory Guy schon bald darauf aus dem Foltertempel hinausmarschieren musste, die Goldhammer-Steige hinauf, und dann die Lak-Straße hinauf. Durch die Nacht liefen Chegory und die ihn begleitenden Soldaten, und sie schwitzten, während sie sich durch die sargschwüle Hitze der tropischen Nacht Seite 67 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 quälten. Am schiffsgroßen knöchernen Klotz, den man Perle nennt, liefen sie vorbei. Er sah richtig kühl aus, aber die Nacht war trotzdem stickig. Vorbei an den prachtvollen Häusern, die in der blaugrünen Farbe des Mondlacks schimmerten. Auch sie sahen kühl aus, aber noch immer entströmte die Hitze den sonnengepeinigten Platten aus Blutstein, über die Chegory und seine Begleiter schritten. Dann endlich ragte er vor ihnen auf, der rosa Palast der Kaiserin Justina, das Juwel Injiltaprajuras. [Hier ist eine Zweideutigkeit. Soll nun der Palast dieses Juwel sein, oder die Kaiserin? Auf welche Weise man diese Zweideutigkeit auch klären mag, so muss man doch in jedem Fall den Urheber des schlechten Geschmacks für schuldig befinden, denn die Kaiserin war eine Pandornabriloothoprata, wie sie so artig auf Janjuladoola sagen, wohingegen der Palast selbst ein Monument des Kitsches der schlimmstmöglichen Art war. Oris Baumgage, niederrangiger Faktenprüfer.] Chegory musste die Stufen zur Säulenhalle hinaufmarschieren. Zwischen den gewaltigen behauenen Pfeilern führte man ihn hindurch. In die Empfangshalle brachte man ihn. Dort wurde er den Palastwachen übergeben. „Noch einer für den Quieker,“ sagte ein Soldat. „Soll ins Gefangenenlager zurückkehren, wenn ihr mit ihm fertig seid.“ Nachdem man Chegorys Papiere auf Vordermann gebracht hatte, schaffte man ihn hinab in die tief vergrabenen Hohlräume der unteren Stockwerke des Palastes, damit er dort auf den Test warten konnte. Shanvil May hatte recht gehabt mit seiner Annahme, dass der Test nicht in aller Eile stattfinden würde. In dem Korridor, der zur Schatzkammer führte, gab es eine äußerst lange Warteschlange von Ebrellianern und ähnlich unerwünschten Personen, die alle darauf warteten, von dem Quieker getestet zu werden. Man ließ die Verdächtigen einzeln nacheinander die Schatzkammer betreten. Der Quieker (ein antikes Gerät unbestimmten Ursprungs) würde lang und laut aufheulen, wenn einer der Vorgeführten in den letzten zehn Jahren in seiner Nähe gewesen war. Chegory war insofern nicht beunruhigt, als er wusste, dass er unschuldig war. Zumindest konnte ihm hier im Palast kein neues Unglück widerfahren. Hier gab es niemanden, der ihn umbringen wollte; Ingalawa war weit weg und deshalb nicht in der Lage, ihn noch länger zu schikanieren; im Augenblick musste er sich auch keine Sorgen machen über Bittgesuche, über sein Bekanntwerden in aller Öffentlichkeit und über die grässlichen Strafen, die man mit Sicherheit über ihn verhängen würde, als zwangsläufige Konsequenz seines Verbrechens, ein Ebrellianer zu sein. Die Warteschlange bewegte sich nur langsam vorwärts. Die Verdächtigen, die aus der Schatzkammer herauskamen, nachdem sie die Prüfung des Quiekers bestanden hatten, besaßen blutige Nasen oder Schlimmeres, was daraufhindeutete, dass sich die Wächter im Inneren auf Kosten der Gefangenen amüsierten. Chegory ließ das weitgehend kalt. Er war in eine fatalistische Stimmung versunken. Eine Tracht Prügel? Was bedeutete schon eine Tracht Prügel angesichts der vollständigen Katastrophe, die über ihn hereingebrochen war? Er begann darüber nachzudenken, was an seiner misslichen Lage eigentlich das Schlimmste war. Was ihm die größten Sorgen machte, das waren die Aussicht auf die qualvolle Peinlichkeit der öffentlichen Zurschaustellung, das Schamgefühl, unter dem er leiden würde, wenn er seinem aufrechten Onkel Dunash Labrat gegenübertreten müsste, und die Aussicht auf seine Verbannung. Davon abgesehen, glaubte er nicht, dass ihm irgendetwas allzu Schreckliches widerfahren würde, solange er sich der mordlüsternen Selbstjustiz der Soldaten, die Schäbbel angebrannt hatte, entziehen konnte. Die im IzdimirReich üblichen Bestrafungen waren größtenteils außer Gebrauch geraten, nachdem man Wazir Sin gestürzt hatte. Große Verbrechen, wie beispielsweise Verrat, zogen nach wie vor schwere Strafen nach sich, aber kleinere Übeltäter wurden nicht mehr in eine Grube voller Vampirratten geworfen. Und sie wurden auch nicht… [Hier wurde eine liebevolle Aufzählung der siebenhundert im Izdimir-Reich üblichen Bestrafungen gelöscht, um eine unnötige Zerstückelung des Zusammenhangs zu vermeiden. Die an den Einzelheiten Interessierten werden sie in bewunderungswürdiger Weise in einem enzyklopädischen Werk von Boz Reebok geschildert bekommen, das den Titel Das allervollständigste Handbuch der Gnade trägt. Drax Lira, Chefredakteur.] Seite 68 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Folglich konnte sich Chegory auf den bleibenden Besitz seiner Gliedmaßen, seiner Sinne und seiner geistigen Gesundheit verlassen. Dagegen lag seine Verbannung tatsächlich im Bereich des Möglichen. Injiltaprajura würde sich selbst beglückwünschen, einen Ebrellianer losgeworden zu sein, der sich auf der Straße gerauft, Umgang mit Drogenhändlern gehabt und sich dem gefürchteten Alkohol hingegeben hatte. Verbannung nach Zazazolzodanzarzakazolabrik! Für viele wäre eine solche Aussicht ein Albtraum gewesen, denn jene Wüstengebiete im Norden Injiltaprajuras waren wirklich fürchterlich. Eine Ödnis verwitterter Felsen, die von meerwassergefluteten Tunneln unterhöhlt waren, in denen riesige Seeskorpione und Seetausendfüßer hausten. Antike Ruinen, in denen böse Metallwesen spukten, die Jagd auf Menschen machten und sie töteten. Die Lagerplätze der Ureinwohner von Untunchilamon, einer verfolgten Rasse, die von denjenigen, die in der Stadt lebten, zugleich gefürchtet und verachtet wurde. In Zazazolzodanzarzakazolabrik war es leicht zu sterben und schwer zu überleben. Das behauptete man zumindest in Injiltaprajura. Bei Chegory verhielt sich die Sache etwas anders. Wazir Sin hatte sein Pogrom gegen die Ebrellianer in Gang gesetzt, als Chegory noch ein Kind gewesen war, was dazu geführt hatte, dass die junge Rothaut viele Jahre in der Wüste verbracht hatte. Er wusste, wie man dort ohne fremde Hilfe überleben konnte. Außerdem lebte dort noch immer sein Vater als Brennmeister des Kriegsherrn Jal Japone, weshalb auf Chegory ein Willkommen warten würde, sollte er aus Injiltaprajura fliehen müssen. Chegory gefiel die Vorstellung einer Verbannung überhaupt nicht. Das Leben in Zazazolzodanzarzakazolabrik war hart, schwierig und eintönig. Jal Japone war ein unbarmherziger Zuchtmeister, der seine Männer mit äußerster Strenge antrieb. Diese Männer waren gefährliche Totschläger, und allesamt waren sie geübte Messerkämpfer. In so einer Gesellschaft an so einem Ort konnte einen der Tod wie beiläufig ereilen. Dagegen war Injiltaprajura ein Ort des Luxus. Unbegrenztes Süßwasser! Preiswerte grüne Kokosnüsse, Maniok, Mangos, Brotfrüchte und Zuckerrohr aus den städtischen Marktgärten wurden hier das ganze Jahr hindurch frisch verkauft. Reichtümer, von denen man in der Wüste nicht einmal zu träumen wagte. Aber… Er würde am Leben bleiben. In Japones Hofstaat würde es Männer geben, die ihn wiedererkennen würden, die sich an ihn von seiner Kindheit her erinnern würden, und die sich freuen würden, ihm als Mann erneut zu begegnen. Man könnte erwarten, dass Chegory sanft in den Schlaf hinübergleiten würde, sobald er sich vergewissert hatte, dass sein Überleben so gut wie sicher war. Aber das tat er nicht. Der ungemütliche Steinboden war es nicht, der ihn wachhielt. Er war müde genug, um auf einem Nagelbett einschlafen zu können. Aber er fing allmählich an, sich wegen des Alkohols Sorgen zu machen, den er in Firfats Lagerhaus getrunken hatte. Das hätte er lieber nicht tun sollen. Er hätte sich lieber nicht von Ingalawa zwingen lassen sollen, Alkohol zu trinken. Was würde jetzt mit ihm geschehen? Würde er zu einem Süchtigen werden? Würde er sich selbst frühmorgens dabei ertappen, wie er nach einem Drink lechzend durch die Straßen kroch? Chegory besaß Injiltaprajuras gesammeltes Wissen über die Übel des Alkohols. Darüberhinaus hatte ihn schon im zarten Alter der eiserne Standpunkt Jal Japones tief beeindruckt. Der Kriegsherr verdiente sich zwar in der Ödnis seinen Lebensunterhalt mit dem Brauen und Brennen minderwertiger alkoholischer Rachenputzer, hatte dieses Zeug aber, soweit es um seine eigenen Männer ging, mit einem absoluten Verbot belegt. Chegorys Vater hatte Japones Bann oftmals dadurch bekräftigt, dass er seinem Sohn von den fürchterlichen Schäden erzählt hatte, die der Alkohol über die Ebrellen gebracht hatte. Geschichten von Männern, die ihre Schiffe verloren hatten, als sie bis zur völligen Handlungsunfähigkeit betrunken gewesen waren. Von Familien, in denen es wegen des dämonischen Rums zu Streitigkeiten gekommen war. Von den verderbten Schrecken der betrunkenen Zeremonien im Tempel des bösen Orgiengotts der Ebrellen. Von… Seite 69 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 [Hier ein weiterer dieser Kataloge, denen der Urheber dieses Textes rettungslos verfallen ist. Gelöscht auf Anweisung des Chefredakteurs Drax Lira.] Infolgedessen blieb Chegory lange Zeit wach, doch schließlich schlummerte er ein. Keiner bemühte sich, ihn aufzuwecken, als sich die Warteschlange weiterbewegte. Es standen bereits fünzig Leute hinter ihm in der Schlange, von denen keiner allzu unglücklich darüber war, den Schlafenden überspringen zu können, denn sie waren alle unschuldig (zumindest, was den Diebstahl aus der Schatzkammer anging), und die meisten warteten ungeduldig darauf, vom Quieker überprüft zu werden und dann wieder verschwinden zu können. Die Wächter kamen zu keinem Zeitpunkt auf den Gedanken, den Schläfer aufzuwecken, weil es für sie keinen Unterschied machte, wer zuerst und wer zuletzt an die Reihe kam. Sie hatten sich mittlerweile sowieso hingesetzt, um sich im Schein der Sternlaternen mit Würfel- und Kartenspielen zu beschäftigen. Chegory träumte von Zazazolzodanzarzakazolabrik, jener trostlosen Gegend, die auch die Namen „Ödnis“, „Skorpionswüste“ oder kurz „Zolabrik“ trug. Er träumte von roten Felsen im roten Sonnenuntergang. Von seinem grauhaarigen gnomenmäßigen Vater, der leise vor sich hin murmelte, während er in seiner Brennerei herumwirtschaftete. Dann wachte Chegory auf. Und dann wurde er wirklich wach! Denn gerade war um ihn herum die Hölle ausgebrochen. Die Wächter lagen am Boden, ein Tumult war ausgebrochen, es herrschte Aufruhr, und die Gefangenen drängten sich scharenweise in die Schatzkammer. Chegory wurde von ihnen mitgerissen. Außerstande, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Ihm war bereits klar, dass dieser Aufstand der reine Wahnsinn war. Niemals könnten sie sich hier aus dem Staub machen. Die Palastwachen würden alle Ausgänge versiegeln und sie bis zu ihrer Unterwerfung aushungern. Dann würde es tatsächlich zu Gerichtsverhandlungen kommen und zu entsetzlichen Bestrafungen ohne geringste mildernde Umstände. Vor lauter Wut über diese enttäuschenden Aussichten brüllte er aus Leibeskräften, brüllte dann aber nicht weiter, weil er seine ganze Kraft brauchte, um in dem Gerangel der Meute auf den Beinen zu bleiben. Er wurde durch den Eingang hindurchgerissen, hinein in die Schatzkammer. Dort türmten sich verschiedenste Reichtümer übereinander, und dort beleuchteten Laternen und andere Lichtquellen eine Szene vollkommener Anarchie. Zu Dutzenden wühlten die Gefangenen nach Schätzen aller Art herum oder schleppten sie fort durch ein Loch in der Wand, das in gähnende Dunkelheit führte. Auf den ersten Blick wusste Chegory bereits, dass diese Bresche in die unterirdischen Gänge des Drunten münden würde. Einer nach dem anderen wagten sich die Männer in die Finsternis, wobei sie Armladungen von Gold und Silber, von Opal, Japonica19, Coelestin und Karneol und von Bernstein und Pounamu davontrugen. Zwei Männer droschen gegenseitig auf sich ein, weil sie sich um eine Kleinigkeit stritten, die das Gefallen beider erregt hatte – um eine grüne Steinkugel, die nicht größer als eine Faust war, in der die Seelen von Glühwürmchen schimmerten wie zu Eis erstarrte winzige Punkte aus der Essenz von Regenbogen. Während die Streithähne noch miteinander rangen, schnappte sich ein anderer Mann die Kugel und lief damit fort. „Ihr durchgeknallten Blödmänner!“ brüllte Chegory. Niemand schenkte ihm die geringste Aufmerksamkeit. Dann hörte man panische Schreie aus dem Korridor, in dem die Gefangenen noch vor kurzem in der Warteschlange gestanden hatten, während sie auf eine Audienz beim Quieker gewartet hatten. Wenige Augenblicke später warnten Alarmrufe jedermann, dass Verstärkungen der Palastwache sich soeben ihren Weg zu der Schatzkammer bahnten. Panische Flucht war die Folge. Eine unwiderstehliche Flutwelle aus menschlichen Körpern fegte den jungen Chegory Guy durch das Loch in der Mauer der Schatzkammer und hinein in die gähnende Dunkelheit dahinter. 19 engl. japonica [unbekannter Name für ein Mineral?] Seite 70 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Sie rannten Tunnel hinab, stolperten durch sinnverwirrende Dunkelheit, wobei Ellbogen gegen Unterkiefer und Stiefel gegen Schienbeine rempelten. Sie schubsten sich dröhnende Steingänge hinunter, schlickerten knöcheltief durch jaucheverpestete Korridore, erklommen Treppen, die nach oben führten, nur um dann festzustellen, dass dieselben Treppen auch wieder nach unten führten, und dabei waren sie ständig auf der Suche nach Licht, Licht, Licht, nach einem Schimmer von Licht, der sie von den Schrecken der Finsternis befreien würde, die sie noch immer bedrückte, obwohl sie doch eigentlich so zahlreich waren. Es gab viele Kreuzungen, und jede ließ die Meute schrumpfen. Genauso, wie die Kreuzungen die Dichte der Menschenmenge verringerten, verringerte sich auch ihr Tempo und ihre Eile. Die Menge war nicht länger ein hirnloser Strom plärrender Leiber, sondern zerteilte sich in kleine, unterschiedlich große Gruppen von Einzelpersonen, die anfingen, nachzudenken, sich zu unterhalten und miteinander zu streiten. Geplapper kam auf. „Geh’ nordwärts.“ „Nordwärts, sagt er. Wo ist denn Norden?“ „Zweifelst du an meinem Richtungssinn?“ „Ich zweifle an all deinen Sinnen, Mann. Hier gibt’s kein Entrinnen!“ „Freilich gibt’s das. Muss es einfach.“ „Nein. Seit Jahren spazieren hier die Knochen herum. Werden dabei zu Staub. Gibt keine Hoffnung für sie, keine Hoffnung für uns, wir sind verloren, einfach verloren.“ „Wir sind tot. Wir sind tot, und das hier ist die Hölle.“ „Wenn du nicht bei uns wärst, würde ich das nicht glauben.“ „Oh! Bist du das, Thagomovich?“ „Niemand sonst. Typisch für mich, ausgerechnet bei dir zu landen. Jetzt aber – wer ist denn das? Nenn’ deinen Namen!“ „Datkinson Rowen. Schneider von Beruf. In Wen Endex geboren. Was willst du denn noch wissen?“ „Wie man hier herauskommt, du Depp! Und du – wer bist denn du eigentlich?“ Mit diesen Worten packte eine Stimme Chegory am Ellbogen. Er riss sich los, denn er hatte keine Lust, sich zu erkennen zu geben. Zwei Schritte machte er bloß, und das war alles. Dann stand er still, völlig still, in der Dunkelheit. „Ein Wächter, rein zufällig vielleicht?“ sagte die Stimme. „Vielleicht ist er das ja. Schnappt ihn euch, Jungs!“ Aber offensichtlich war niemand wirklich scharf auf Verfolgungsspielchen und Schlägereien in der alles erdrückenden Dunkelheit. Stattdessen machten sich die streitenden Stimmen wieder auf den Weg. Sie liefen dreißig Schritte weiter, blieben dann an einer Kreuzung stehen. „Hier stinkt’s!“ sagte einer. „Dickel,“ sagte ein anderer. „Dort können wir nicht hinablaufen,“ sagte Datkinson Rowen, der Schneider aus Wen Endex. „Das Zeug ist giftig. Geht durch die Haut. Macht dich alle.“ „Aber das Zeug ist fest.“ Geräusche von jemandem, der aufstampfte. Dreimal. Tong Tong Platsch! Seite 71 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Na bitte! Es wird flüssig, versteht ihr? Wird fest, wenn es ausreichend kalt ist, wird aber flüssig, wenn man darauf herumspaziert.“ „Thixotrop,“ sagte ein Gebildeter. „Thixotrop! So heißt das bei dir? Verdammt pervers, so heißt das bei mir! Stinken tut’s sowieso, wie man als Mann sagt.“ „Aber dort ist Licht am Ende.“ „Ach was, an jedem Tunnel ist irgendwann mal Licht am Ende. Na los. Schließlich wird uns jede Richtung mal wieder ans Licht bringen.“ „Oh nein. Stimmt nicht. Hier unten gibt’s Geister. Geister und Beißer. Haifische, die in der dünnen Luft daherschweben.“ „Oh ja! Das werd’ ich erst glauben, wenn Schweine Silber scheißen, wenn die Sonne blau lodert, wenn meine Schwiegermutter freundlich wird…“ Und damit setzten die Stimmen wieder ihren Weg fort, wobei sie andere Gänge als den wählten, der einen von Dickel überfluteten Tunnel hinabführte. Auf Zehenspitzen schlich Chegory durch die Dunkelheit zu diesem Gang. An dessen hinterem Ende gab es tatsächlich einen Lichtschein, ungefähr vier- oder fünfhundert Schritte entfernt, wenn er sich nicht allzusehr täuschen sollte. Es war ein kalter blauer Lichtschein, der da auf dem Dickel schimmerte. Chegory fürchtete sich nicht vor dem Dickel, denn er wusste, dass er nicht giftig war. Außerdem war es so, dass er lieber früher als später etwas Licht erreichen sollte, wenn er allein weiterlaufen wollte. Die Vampirratten mieden den Lichtschein, weshalb er für solche Ungeheuer eine leichte Beute sein würde, wenn er weiterhin auf eigene Faust durch die Dunkelheit wandern würde. Er zögerte. Den anderen hinterherlaufen? Oder zum Licht streben? Die anderen waren Teil der Meute, die in den Tiefen des rosa Palastes um Schätze gerungen hatte. Derartige verbrecherische Handlungen hatten Chegorys Sorgen bereits über alle Maßen hinaus vervielfacht. Zuvor hatte er sich nur mit Anklagepunkten konfrontiert gesehen, die ihm Raufereien, Umgang mit Drogenschmugglern und (möglicherweise) die Anstiftung Schäbbels zu Gewalttaten zur Last gelegt hatten. Jetzt aber war er auf der Flucht, ein gejagter Mann, der in einen Aufruhr, in Plünderungen und öffentliche Unruhen verwickelt war, der sich schuldig gemacht hatte, aus gesetzmäßigem Gewahrsam geflohen zu sein (obwohl er dafür gar nichts konnte!), und Umgang mit entlaufenen Sträflingen gehabt zu haben (ein ebenso schwerwiegendes Verbrechen). Chegory erinnerte sich an den gestrengen Ratschlag, den ihm sein Vater vor seiner Rückkehr nach Injiltaprajura gegeben hatte. „Sei ehrlich. Gehorche dem Gesetz. Unterstütze Recht und Ordnung. Such’ dir deine Gesellschaft mit Bedacht aus. Halt’ dich von Verbrechern fern. Bring’ keine Schande über dich, deine Familie oder deine Rasse.“ Das gab für ihn den Ausschlag. Er machte sich auf den Weg zum Licht, entschied sich lieber für die Gefahren der Einsamkeit als für die zweifelhafte Gesellschaft der Gesetzlosen. Ach, was war er nur für ein braver kleiner Junge! Tapfer kämpfte er sich trotz des Gestanks durch den Tunnel voran. Seine Schritte sorgten dafür, dass der Dickel teilweise flüssig wurde, aber insgesamt blieb er fest. Das Zeug sickerte in seine durch die Sonne porös gewordenen Stiefel. Aber seine Stimmung verbesserte sich trotzdem, denn vor ihm lag ein breiter freundlicher Korridor, der in glänzendblauem Licht erstrahlte. Er erreichte diesen Korridor. Und wurde prompt von glänzenden Klingen bedroht, die von einer vierköpfigen Bande von Männern gehalten wurden, die mehr als bereit aussahen, sie auch einsetzen zu wollen. Seite 72 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 11 Das Quartett, das Chegory gefangen genommen hatte, stellte sich ihm zwar nicht vor, doch die Namen dieser Vier wurden im Lauf der Zeit sehr bekannt in der Weltgeschichte und bei denjenigen, die sie niederschrieben. Keiner von ihnen war auf Untunchilamon einheimisch; stattdessen kamen alle aus weit entfernten Ländern. [Eine Tautologie, und zwar, wie ich zu meinem Bedauern hinzufügen muss, eine von vielen. Wenn man jemanden als „nicht auf Untunchilamon einheimisch“ bezeichnet, dann ist es zwangsläufig eine doppelte Aussage, dessen Herkunft „weit entfernt“ zu nennen, da uns selbst die oberflächlichste Kenntnis der Geographie lehrt, dass sich Untunchilamon in der Nähe keines anderen Landes befindet. Im Norden liegt Tameran, im Süden Parengarenga, im Osten Yestron und im Westen Argan, und alle sind eine beschwerliche Seereise weit entfernt. Verschiedene Inseln liegen etwas mehr in der Nähe, aber keine von ihnen kann man zurecht als „in der Nachbarschaft befindlich“ bezeichnen. Diese Kritik wurde eingefügt von Ventantakorum aus Odrum, Textkritiker siebten Grades.] Den furchterregendsten Anblick bot ein stämmiger, in Leder gekleideter Barbar. Dieser Mann mit dem hässlichen Gesicht und den großen Henkelohren gehörte zum Stamm der Yarglat und hieß Guest Gulkan20. Er war angeblich der rechtmäßige Herrscher von Tameran, das gegenwärtig von Khmar, dem Lord-Kaiser, regiert wurde. Er war es, der als Erster das Wort ergriff. „Wer bist du?“ sagte der Barbar. Er sprach den jungen Chegory im Toxteth von Wen Endex an, also in einer Sprache, die man bestenfalls schroff und grob nennen konnte. Zum Glück konnte Chegory Toxteth sprechen (und Dub, Janjuladoola und Ashmarlan ebenso). Verstehen Sie mich bloß nicht falsch! Sie werden hier keine Rechtfertigung für die Ebrellianer im Stil der Ashdan-Liberalen finden, keine Behauptungen, dass diese Leute zu intellektuellen Anstrengungen in der Lage sind, oder gar zu wissenschaftlichen Leistungen (jawohl, die Ashdans haben selbst davon schon geträumt!). Chegory war nur das, als was er hier beschrieben worden ist: ein unkultivierter und ungebildeter Steingärtner mit den eingeschränktesten Fähigkeiten, die man sich nur vorstellen konnte. Die jugendliche Rothaut war gewiss kein Linguist. Man kann das nachweisen, indem man auf die klassische Definition von „eine Sprache kennen“ verweist, die vor so langer Zeit von dem Gelehrten Iskordan formuliert worden war. Sie besagt (aus Mitleid mit den Ungebildeten muss man solche Dinge häufig in allen Einzelheiten erklären, wie lächerlich den Gebildeten ein solches Vorgehen auch erscheinen mag!), dass man die Befähigung besitzen muss, sich in dieser Sprache vor einem ordentlichen Gericht zu verteidigen, dass man im gleichen Jargon Gedichte verfassen kann, und dass man schließlich in dieser Ausdrucksweise einen Witz formulieren kann, mit dem es gelingt, einen Muttersprachler zum Lachen zu bringen. [Richtig richtig richtig. Doch man möchte diese Definition gern dadurch ergänzen, dass man, um eine Sprache wirklich zu „kennen“, die nachweisliche Bestätigung der eigenen Befähigung haben sollte, sich in dieser Sprache im Rahmen einer gebildeten Abhandlung auszudrücken. Die Vorstellung, dass die Angehörigen des vielsprachigen Gesindels, das in den Straßen von Städten wie Injiltaprajura herumwimmelt, tatsächlich die Sprachen „kennen“, in denen sie herumstammeln, ist ein abstoßender Gedanke, der zutiefst die zugrundeliegende Auffassung zersetzt, die die Ideologie des Höheren Lernens unterstützt, und eine solche Vorstellung muss deshalb missbilligt werden, wann immer es möglich ist. Drax Lira, Chefredakteur.] Da Chegory nicht in der Lage gewesen wäre, irgendwelche Gedichte zu verfassen, um sein Leben zu retten, war er auch nicht imstande (um Iskordans fachliche Kriterien anzuwenden), tatsächlich irgendeine Sprache richtig zu „kennen“. Er war deshalb ein lebendes Klischee, ein Beweis für die Richtigkeit und Gültigkeit der Vorurteile in dieser Welt. Das heißt, er war ein wenig wortgewandtes Geschöpf, das in einer Welt lebte, in der der lebenswichtigste Informationsaustausch durch die Anwendung roher Kraft und sinnloser Gewalt erfolgte. Trotzdem konnte der junge Chegory etwa vier verschiedene Sprachen mehr schlecht als recht „sprechen“. Dub war die Muttersprache seiner Heimat; er hatte sie mit der Muttermilch eingesaugt. Die Weitschichtigkeiten des Janjuladoola hatte er am Hof von Jal Japone bewältigt, denn das war die vorherrschende Sprache im Reich dieses Kriegsherrn gewesen. Seit Chegorys Rückkehr war Toxteth die vorherrschende Sprache in Injiltaprajura 20 siehe Kapitel 35 in The Walrus And The Warwolf Seite 73 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 gewesen, was ihn dazu gezwungen hatte, darin ein gewisses Können zu entwickeln. Was Ashmarlan betraf, nun ja, das war natürlich die Sprache der Wahl im Haushalt der Qasaba, und es war auch die Sprache, die Ivan Pokrov in seinem täglichen Umgang mit dem jungen Chegory gebrauchte. Und nun – wo waren wir eigentlich stehengeblieben? Ach ja! Beim zuvor genannten jungen Chegory in einem von bläulichem Licht erhellten Korridor im Drunten, der es gerade mit einer Bande von Schwertkämpfern zu tun bekommen hat, zu denen der Yarglat-Barbar Guest Gulkan aus dem fernen Tameran zählte, der ihn soeben (auf Toxteth) gefragt hatte, wer er denn wäre. Obwohl Chegory Toxteth recht ordentlich verstand (zumindest nach den im Elendsviertel Lubos geltenden Maßstäben), fiel es ihm trotzdem schwer, dieses einfache Ersuchen zu verstehen, weil der grauenhafte Dialekt des Barbaren dessen Worte weitgehend verstümmelte. Die Angst schärfte allerdings die Fähigkeiten der jungen Rothaut, und obwohl sich der Sinn in der Rede des Barbaren am äußersten Rand der Verständlichkeit aufhielt, erfasste er diesen Sinn trotzdem und formulierte demzufolge seine Antwort. „Das ist meine Frage!“ sagte Chegory mit mehr Mut als Verstand. Seine Antwort war fast identisch mit der, die der Ashdan-Kommandant Shanvil Angarus May verwendet hatte, um eine Dreistigkeit zu erwidern, die sich Artemis Ingalawa erlaubt hatte. (Obwohl May, wenn man spitzfindig sein will, in Ashmarlan gesprochen hatte, wohingegen Chegory Toxteth verwendete.) Merken Sie es? Sobald man diese Ebrellianer einmal nicht unter eiserner Kontrolle behält, fangen sie sofort damit an, die höhergestellten Leute nachzuäffen und Allüren und Manieren an den Tag zu legen, die für minderwertige Rassen von Rechts wegen verboten sein sollten. „Okay, DasistmeineFrage,“ sagte Guest Gulkan, der Mann mit den Henkelohren, „und was machst du hier?“ „Ich rede mit Ihnen,“ sagte Chegory Guy, der damit ein wirklich erstaunliches Maß an waghalsiger Sturheit zur Schau stellte. Er war am Ende mit seiner Geduld. Ständig wurde sein langer Tag immer noch länger. Zuerst der Weckruf in der Dromdanjerie, dann Arbeiten, dann Lernen, dann der Angriff eines Kraken, dann die Verhaftung, dann das Besäufnis in Marthandorthan, eine Razzia, Gefangenschaft, eine Züchtigung, Streitereien, sein Abtransport zum rosa Palast, Aufruhr, Plünderungen und jede Menge Durcheinander im Drunten. Und jetzt das! „Riskier’ doch nicht deinen Hals für nichts und wieder nichts,“ sagte ein edel gekleideter Graubart fließend auf Toxteth in der Art eines Muttersprachlers. „Das wäre Irrsinn!“ „Und wer sind Sie?“ sagte Chegory Guy. „Jemand, der älter und klüger ist als du, junger Mann,“ sagte der Graubart knapp. „Denk’ mal nach, Junge! Können deine geistreichen Scherze über unsere Waffen triumphieren? Wir sind zu viert, doch du bist allein.“ Mittlerweile war Chegorys Anfall von schlechter Laune dabei, abzuklingen, und er dachte nochmals über sein Risiko nach. Diejenigen, die ihn gefangen genommen hatten, waren in der Lage, ihn nach Belieben aufzuspießen und seine Leiche hier liegen zu lassen, damit sie mit der Zeit zu völligem Nichts verwesen würde. Überdies sahen sie absolut bereit aus, genau das auch wirklich zu tun. Er vermutete, dass sie nichts Gutes im Schilde führten. Das mussten bestimmt irgendwelche Verbrecher sein. Deshalb begann er, die Wahrheit über seine eigene jüngste Vergangenheit zu erzählen, in der Annahme, dass ihm ein Bericht seiner eigenen Schurkereien helfen würde, sich bei diesen im Ausland geborenen Gangstern einzuschmeicheln. Jawohl, denn obwohl Chegory erst noch die Namen derjenigen, die ihn gefangen genommen hatten, hören musste, hatte er doch richtig erraten, dass alle Vier aus Teilen der Welt stammten, die von Untunchilamon weit entfernt waren. Während er sich durch die Erzählung seiner zurückliegenden Erlebnisse stammelte, grübelte er darüber nach, wer diese Vier wohl sein könnten. Chegory vermutete, dass Guest Gulkan so etwas wie ein Soldat war. Eine recht verständliche Mutmaßung, und noch dazu eine, die tatsächlich zutraf. Den in eine prachtvolle Robe gekleideten Graubart hielt er für einen Wunderwirker, für einen dieser Hexer aus Yestron. Dicht dran! Der scharfzüngige Greis kam tatsächlich aus Yestron, denn er war in Wen Endex geboren worden. Er war jedoch kein Wunderwirker. Er war vielmehr ein Seite 74 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Zauberer. In Wahrheit war er Hostaja Sken-Pitilkin, der berüchtigte Zauberer von Drum, ein Abtrünniger, dessen Tod schon seit langem von Argans Bund der Zauberer gefordert wurde. Dann war da dieser große glattrasierte Mann mittleren Alters, der ein merkwürdiges, eng am Körper anliegendes Gewand trug, das wie Fischschuppen in der Sonne glitzerte. So groß war er, so fürstlich war seine Haltung, so hell schimmerte seine Rüstung, dass Chegeory nur annehmen konnte, dass er ein Fürst der Elfen war, der geradewegs den Legenden entstiegen war. Blau waren seine Augen, blau und durchdringend, und sein Schwert drohte, noch viel durchdringender zu sein. Wer war diese Persönlichkeit? Nun ja, das war Pelagius Zozimus, in Wahrheit ein Zauberer vom Orden von Xluzu, eines der acht Orden des Bunds der Zauberer. Zozimus war ein Cousin von Hostaja Sken-Pitilkin, was wirklich bemerkenswert war, weil es (sämtlichen Experten zufolge) sehr selten war, dass es zwei Zauberer gab, die auch nur weit entfernt miteinander blutsverwandt waren. Ein Paar von Zauberern aus der gleichen Generation der gleichen Familie ist deshalb ein Vorfall, der an ein Wunder grenzt. Wäre dies ein Text, der danach streben würde, Wirklichkeitsnähe auf Kosten der Wahrheit zu erzielen, würde man dieses Verwandtschaftsverhältnis nicht erwähnen; weil dies jedoch eine nüchterne Chronik ist, muss sie sich notgedrungen mit dem wahren Sachverhalt beschäftigen, selbst wenn viele die hier beschriebenen Tatsachen für unvorstellbar halten würden. [Oberflächlich betrachtet erscheinen derartige Familienverhältnisse in der Tat unvorstellbar. Sämtliche Experten sind sich einig, dass das für die Ausübung der Zauberei erforderliche angeborene Talent außerordentlich selten ist; außerdem überlebt nur einer von hundert Lehrlingen die Prüfungen, die die bösen Zauberer des Bunds ihren Schülern auferlegen. Nichtsdestotrotz hat eine gewissenhafte Untersuchung der aus Wen Endex stammenden genealogischen Aufzeichnungen die Existenz zweier Cousins aufgezeigt, die diese besagten Namen wirklich tragen. Für sich allein beweist diese bloße Tatsache noch gar nichts, aber die Tatsache, dass man keinem der beiden Heirat oder Nachkommenschaft bescheinigt hat, könnte bedeutsam sein. Die an dieser Angelegenheit näher Interessierten werden die benötigten Angaben im Absatz 2201 der 4368. Auflage des 941. Bands der Genealogischen Übersicht finden. Oris Baumgage, niederrangiger Faktenprüfer.] Das waren also die Leute, mit denen es Chegory Guy zu tun bekommen hatte. Guest Gulkan, der in der Verbannung lebende Imperator von Tameran. Hostaja Sken-Pitilkin, Zauberer. Pelagius Zozimus, ebenfalls Zauberer. Oh, und ein Vierter – Thayer Levant, ein Mordgeselle aus Chi’ash-lan. Ein übler, durchtriebener, gefährlicher Kerl, wie er im Buche steht. Sein Gesicht glich einer Ratte, bis auf die Augen, die an einen Geier erinnerten. Er trug einen verschlissenen Lumpenmantel, der so zusammengenäht war, dass man für eine Messerstecherei schnell aus ihm herausschlüpfen konnte, und der listigerweise so mit Blei gefüttert war, dass man ihn bei einem solchen Kampf als Waffe einsetzen konnte. Weil Levant mit Chegory Guy keine einzige Sprache gemein hatte, konnte er nur schweigend dastehen, während der Ebrellianer seine Geschichte vortrug. Chegory erzählte die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit, und doch hatten Gulkan, SkenPitilkin und Zozimus schwerwiegende Vorbehalte bezüglich der Geschichte, die sie da hörten. Das ist nur allzu verständlich. Immerhin war der junge Chegory ein Ebrellianer, und diese Leute mit der feuerroten Haut sind bekanntermaßen lügnerisch veranlagt. Sie sind von Geburt entartet, mit einer angeborenen genetischen Veranlagung für Drogenkonsum, für den Mord an Walen, und für jenes gewalttätige und obszöne Spiel, das als Ruck bezeichnet wird. In den meisten Fällen trinken sich die Inhaber eines Körpers dieses verdorbenen verseuchten Volkes im Alter von vierzig Jahren selbst zu Tode (sofern sie nicht vorher an Geschlechtskrankheiten gestorben sind), und alle Welt ist froh, sie losgeworden zu sein. Sobald Chegory seine Geschichte beendet hatte, gab sie Zozimus in Kurzform auf Galisch an Thayer Levant weiter, und dann berieten sich alle vier Schwertkämpfer schnell über Chegorys Zukunft, wobei sie ihren Gedanken in derselben Sprache Ausdruck verliehen, weil sie sich sicher waren, dass sie der Ebrellianer auf diese Weise nicht verstehen würde. Tatsächlich hatte der junge Chegory Guy keine Ahnung von Galisch, was einen kaum überraschen kann, denn man müsste lange herumsuchen, um auf Untunchilamon auch nur einen einzigen Einheimischen zu finden, der sich in dieser Sprache unterhalten könnte, die die Handelssprache auf Argans Salzstraße war und deswegen zu einer vollkommen anderen Welt gehörte. „Ich bin dafür, ihn umzubringen!“ sagte Thayer Levant. Seite 75 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Du würdest das wirklich machen,“ sagte Pelagius Zozimus missbilligend. „Der Junge könnte uns vielleicht behilflich sein,“ sagte Guest Gulkan. „Uns behilflich sein?“ sagte Levant. „Wie denn?“ „Vielleicht kann er uns einen Weg zeigen, auf dem wir uns den Wunschstein doch noch schnappen können,“ sagte Hostaja Sken-Pitilkin. Den Wunschstein? Jawohl! Auf welchem Weg Guest Gulkan und seine Kameraden nach Untunchilamon gekommen waren, bleibt ein Geheimnis, das womöglich niemand jemals lüften wird, denn die Art und Weise ihrer Fortbewegung haben sie keinem sachkundigen Informanten jemals anvertraut. Ohne jeden Zweifel ist aber sicher, dass sie nur deswegen nach Injiltaprajura gekommen waren, um den Wunschstein zu suchen. Diese vierköpfige Bande von Abenteurern war es nämlich, die für das klaffende Loch in der Schatzkammer verantwortlich war, durch das sich Chegory Guy erst vor kurzem gewagt hatte. Dreißig Nächte früher hatte sich dieses Quartett auf den Weg nach Drunten begeben, in der Absicht, den Weg zur Schatzkammer zu finden, um dort ein Loch in die Wand zu sprengen, sich den Wunschstein zu schnappen und damit zu verschwinden. Unglücklicherweise waren sie dabei auf Probleme gestoßen. Genauer gesagt, sie hatten sich verlaufen und waren dann einem Therapeuten begegnet, der aus der Zeit des Goldenen Gulag übrig geblieben war. Es hatte die vereinte Stärke und das gemeinsame Können aller Vier erfordert, bis es ihnen (mit knapper Not) geglückt war, den Fängen des Therapeuten zu entrinnen. Nach diesem Trauma – starke Männer sind schon wegen Geringerem ums Leben gekommen! – hatten sie nach einiger Zeit endlich die Schatzkammer angesteuert. Dann hatten die beiden Zauberer Hostaja Sken-Pitilkin und Pelagius Zozimus den allerletzten Rest ihrer momentan verfügbaren Macht dazu verwendet, einen Teil der Mauer zu zerstören. (Wie Sie merken, hatten die Vier keine Ahnung von der Existenz der Geheimtür, die die Marodeure vom Volk der Malud vorher benutzt hatten.) Die Abenteurer hatten erwartet, die Schatzkammer mitten in der Nacht dunkel und verlassen vorzufinden. Stattdessen fanden sie sie hellerleuchtet und voll munterem Treiben vor. Sie hatten die Flucht ergriffen und deshalb nicht dem Aufruhr zugesehen, den ihr Angriff auf die Schatzkammer ausgelöst hatte. „Du glaubst, er könnte uns zum Wunschstein verhelfen?“ sagte Levant. „Okay! Frag’ ihn! Ich wette, du wirst von dem so gut wie keine Hilfe bekommen.“ „Warum nicht?“ sagte Zozimus. „Er ist doch ein Ebrellianer, stimmt’s? Das sind ausgezeichnete Diebe, wie jedermann weiß.“ Levant wusste das nicht, und er hatte auch von den Ebrellen selbst so gut wie nie etwas gehört. Er zuckte mit den Achseln und sagte: „Wie ihr wollt.“ Also richtete Pelagius Zozimus das Wort an Chegory Guy und sagte: „Wir wollen ehrlich sein. Wir sind hier wegen des Wunschsteins. Kannst du uns helfen, ihn zu besorgen?“ „Wollen Sie damit sagen,“ sagte Chegory, „dass Sie Jagd auf die Diebe machen, die ihn gestohlen haben?“ „Was faselst du da herum, mein Junge?“ sagte Hostaja Sken-Pitilkin. „Wir suchen keine Diebe. Wir sind selbst Diebe. In die Schatzkammer von Injiltaprajura einzubrechen und uns mit dem Wunschstein aus dem Staub zu machen, das sind unsere Absichten. Bis zum Einbruch sind wir schon gekommen, aber drinnen sind wir auf Soldaten gestoßen. Kannst du uns verraten, wieso?“ „Das hab’ ich Ihnen doch schon alles erzählt,“ sagte Chegory. „Der Wunschstein ist bereits gestohlen worden.“ Seite 76 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Und wer hat ihn jetzt?“ sagte Guest Gulkan. „Oh, das hat keinen Sinn, ihn so was zu fragen,“ sagte Zozimus, der dabei immer noch seine Muttersprache Toxteth gebrauchte. „Das kann er doch gar nicht wissen.“ „Aber ich weiß es, ich weiß es,“ sagte Chegory, eifrig darum bemüht, sie bei Laune zu halten, weil er sich dachte, dass es ihm wahrscheinlich das Leben verlängern würde, wenn sie bei guter Laune blieben. „Piraten sind’s, die ihn jetzt haben. Drei Piraten vom Stamm der Ashdan, wobei sie allerdings nicht aus Ashmolea gekommen sind, nein, sondern aus Asral. Das heißt also, dass sie zu den Malud gehören, und Malud sprechen sie auch, obwohl sie die Hautfarbe der Ashdan besitzen, doch Schäbbel beherrscht Malud ebenso gut wie Ashmarlan, Schäbbel ist ein Experte für Sprachen, und abgesehen davon konnte einer von denen sowieso Ashmarlan sprechen.“ So sprudelte es aus ihm heraus. Angst, Müdigkeit und ein heftiges Ungestüm vereinten sich in ihm, um miteinander völlige Unverständlichkeit zu bewirken. „Mach’ mal ein bisschen langsamer, mein Junge!“ sagte Sken-Pitilkin. „Du stehst hier in keinem Wettbewerb mit einem Drachen, weißt du? Sag’s uns scheibchenweise. Erstes Scheibchen. Du bist ein Pirat, richtig? Willst du uns das zu verstehen geben?“ „Oh nein, oh nein,“ sagte Chegory. „Ich bin ein Ebrellianer.“ „Das,“ sagte Hostaja Sken-Pitilkin trocken, „schließt aber Piraterie noch längst nicht aus.“ Dann führte er das Verhör von Chegory Guy solange durch, bis er ihm die Wahrheit, oder zumindest Chegorys Version davon, aus der Nase gezogen hatte. Es folgten viele nebensächliche Fragen, bis Chegorys strauchelnde Zunge anfing, soviele Worte durcheinander zu bringen, dass man ihn kaum noch verstehen konnte. „Also,“ sagte Pelagius Zozimus zusammenfassend, „schaut es so aus, als ob diese Piraten im Augenblick den Wunschstein besitzen könnten.“ Chegory brummte zustimmend. „Na schön,“ sagte Zozimus knapp, „zu gegebener Zeit werden wir deine Piraten mit Sicherheit eingeholt haben. In der Zwischenzeit müssen wir hier wieder herauskommen. In dem ganzen Durcheinander bei unserer Flucht aus der Schatzkammer ist es uns wohl passiert, dass wir an einen falschen Ort geraten sind. Kennst du dich gut aus in diesem Labyrinth?“ „Ja, jawohl,“ sagte Chegory. Obwohl er nahezu betäubt vor Müdigkeit war, war sein Gespür für Gefahr noch soweit vorhanden, um zu erkennen, dass ihn diese Leute sehr wohl kurzerhand töten könnten, wenn sie erstmal den Eindruck gewonnen hätten, dass er ihnen nichts mehr nützen würde. „Gut!“ sagte Zozimus. „Endlich ein Führer! Geh’ voraus, du Küken, geh’ voraus!“ Also machte sich Chegory auf den Weg durch die unterirdischen Gänge, wobei er die jeweilige Richtung nach Gutdünken wählte, über die selbstlosen Steine am Boden aber auf eine äußerst zuversichtliche Weise schritt, um damit anzudeuten, dass er ganz genau wüsste, wohin er gehen würde. [Anmerkung des Übersetzers: Eine vorläufige Überprüfung dieser Übersetzung hat zu zahlreichen Anfragen geführt, wobei sich eine davon mit der Existenz der „selbstlosen Steine“ beschäftigt. Seien Sie versichert, dass dieser Text mit äußerster Sorgfalt übersetzt worden ist. Der Fehler liegt, wenn überhaupt, beim Urheber, der anscheinend bestenfalls nur ein wackliges Verständnis von der anerkannten Bedeutung des Worts „selbstlos“ gehabt hat.] Das war die Nacht, in der Chegory Guy erfuhr, was es hieß, beim Gehen einzuschlafen. Häufig taumelte er durch Träume hindurch, während er endlos, endlos durch gewundene Tunnel wanderte. Er blinzelte sich wach, um festzustellen, dass er über Steine spazierte, die von blutrotem Licht erhellt wurden. Über schwarzes Gras, das Seite 77 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 weich und still unter Wällen warmen grauen Lichts wuchs. Über zerstoßenes Eis, das nichts anderes war als Schüttgut, das aus Kammern quoll, in denen eine Eismaschine riesige Blöcke gefrorenen Wassers zu Pyramiden zerschmetterter Kristalle, zersplitterten Lichts, auftürmte. Erst als das Eis weit hinter ihm lag und völlig aus seinem Blick verschwunden war, merkte Chegory, dass er vielleicht lieber ein paar Brocken davon mitgenonmmen hätte, um seinen wachsenden Durst zu stillen. Zu spät, zu spät! Durch Träume spazierte er, und dann durch Albträume. Wo? „Wo sind wir?“ sagte ein Gewalttätiger und rüttelte ihn dabei wach. Er erwachte. Der Fürst in der Elfenrüstung hatte ihn am Arm gepackt. Blaue Augen, der hatte blaue Augen. Von Rauch verschleiert, von Rauch, der den jungen Chegory zum Husten brachte. Seine Augen brannten. Vom Rauch verätzt. Er schüttelte den Kopf, schloss seine tränenden Augen. Finsternis umhüllte seine Augen und langsam, langsam ließ das Brennen nach. „Ein Tempel,“ sagte der Graubart. Sprach das deutlich vernehmbar auf Toxteth aus. „Soviel ist mir auch klar,“ sagte der fürstlich Gerüstete. „Aber warum hat er uns hierher geführt? Na?“ Erneutes Rütteln, das Chegory aus seinen Träumen schüttelte. Er quetschte Tränen aus seinen rauchverätzten Augen. Riss sie dann auf. Nur so weit, dass er etwas sehen konnte. Aus riesigen, vom Alter schorfig gewordenen Amphoren stieg Rauch in die Höhe. An Schnüren aufgereihte Zähne erstreckten sich vom Boden bis zur Decke. Ein Maul, ein riesiges Maul, ein klaffendes Maul, dessen Zähne mit frischem Blut beschmiert waren. Ein totes Maul, aber erfüllt von machtvollen Gräueln. „Raus,“ sagte Chegory, der dieses Wort mit der Dringlichkeit eines Mannes ausstieß, der gerade einen Pfropfen geronnenen Bluts erbricht. „Raus, geht raus, geht raus, sofort raus, raus, oder wir sind alle tot.“ Er war noch nie an einem solchen Ort gewesen. Aber er wusste ganz genau, was das hier war. Das war ein Tempel des Elasmokarcharos, des Haigotts der Dagrin, der Ureinwohner von Untunchilamon. Und das Zeug, das da auf dem Altar verbrannt wurde, war Zen, Zen, das war Zen, er hatte es eingeatmet, hatte – „Raus!“ Sprach Chegory. Voller Panik. Aber: „Hier ist doch niemand,“ sagte der lederbekleidete Barbar, mit gezücktem Schwert, mit einsatzbereitem Schwert. „Musik,“ murmelte der Graubart. Währenddessen begann der Elfenfürst bereits zu tanzen, wiegte sich hin und her, hob seine Füße, lief dann mit gleichmäßigen Schritten bedächtiger Würde im Kreis herum, langsam und bedächtig; währenddessen hatte sich der durchtriebene Mann mit dem zerschlissenen Lumpenmantel auf den Boden gekniet; währenddessen – Das Maul! Frei durch die Luft schwebend kam das Maul des Hais auf ihn zu. Frisches Blut auf seinen Zähnen. Knirschend schloss es sich, knirschend öffnete es sich. Seite 78 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Nicht real,“ murmelte Chegory. Dann stürzte sich das Maul auf ihn, es schloss sich, schloss sich um seinen ausgestreckten Arm, biss ihn ab, und sein Arm war fort, und der Schmerz war real, real, real, und er schrie und schrie und schrie. Schreiend ergriff er die Flucht. Taumelte durch schwindligmachenden Rauch, bis es keinen Rauch mehr gab, keinen Rauch, kein Licht, nur Dunkelheit, eine düstere Dunkelheit, durch die er sich hindurchweinte, unter Höllenqualen, sein Arm war die reine Höllenqual, dann gab es plötzlich Licht, Licht, Licht, eine helle Phosphoreszenz, zu der er hinlief, nur um dort festzustellen, dass das Licht voller Wolken aus Blut war. „Mein Arm.“ Er berührte seinen Arm. Linke Hand zum rechten Arm. Spürte den Stumpf, den blutigen Stumpf, der war sein, der war sein, es war sein Blut, das den zinnoberroten Nebel speiste, der die Luft erfüllte. Das Maul des Hais war real gewesen, es hatte sich geschlossen, hatte ihn zerfetzt, hatte ihm den Arm abgerissen, hatte ihn als Krüppel zurückgelassen, verblutend, im Todeskampf, sterbend, sterbend, sterbend. Er schluchzte, bekam vor Entsetzen kaum noch Luft. Seine Beine knickten ein, entglitten seiner Kontrolle, während er der Dunkelheit entgegenstürzte, der Dunkelheit entgegen, der Dunkelheit. Dunkelheit ringsumher. Seite 79 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 12 „Joma dok notora koopeniti.“ Sprach eine Stimme. „Joma, joma!“ Hartnäckig. Drängend. „Schlafen du?“ Das war zumindestens verständlich. In Ashmarlan, mit fremdländischer Aussprache. „Schlafen?“ Ein Stiefel. Fest. Chegory lag still da und tat so, als ob er tot wäre. Dann packte eine Hand seine Haare. Eine ganze Handvoll davon. Zog ruckartig daran. Und zwar fest. Er konnte sich nicht länger verstellen, erhob sich deshalb taumelnd vom Boden. Sofort wurde er gepackt. Und sogleich drehte man ihm den Arm auf den Rücken. Den Arm? Seinen rechten Arm! Aber der war ja fort, fort, fort, zerfetzt und verschwunden, war von einem Hai grausam zerfleischt worden, von dem nackten und leeren Maul eines Hais, das frei durch die Luft geschwommen war. Stimmte das etwa gar nicht? Nein. Das war nur eine Halluzination gewesen. Er hatte Zen eingeatmet, nicht wahr? Das hatte er. Zumindest daran konnte er sich noch erinnern. Ah ja, jetzt fiel es ihm wieder ein. Der Tempel des Haigotts Elasmokarcharos. Auf eine Weise eingerichtet, die ihm Männer schon oft beschrieben hatten, die dort gewesen waren, die sich umgesehen hatten, die sich getraut hatten. Antike Amphoren, aus denen ein beißender Rauch aufgestiegen war. Der Rauch des Zen, eines Krauts, das die Wirklichkeit auseinanderriss. „Hören du mir zu?“ Eine strenge Stimme, die von einer Ohrfeige begleitet wurde. „Ich bin taub,“ sagte Chegory, der wegen seines wiedererlangten Arms viel zu erleichtert gewesen war, um den schlanken ältlichen Ashdan zu beachten, der ihn in verstümmeltem Ashmarlan angesprochen hatte. „Aber du mich hören jetzt? Richtig?“ Schütteln. „Ich höre Sie,“ sagte Chegory. Sein Arm wurde losgelassen. Wie zur Belohnung. Dann begann das Verhör. „Sehr schön! Wer sein du?“ Chegory musterte seinen Fragesteller. Ashdan. Alt. Sein Blick streng, grimmig, müde, ungeduldig, verzweifelt. Ein junger Mann an seiner Seite, ebenfalls Ashdan. Oh, und noch ein Dritter. Ein stämmiger Mann, nicht außergewöhnlich groß, aber breit wie ein Fass. Seite 80 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Diese Drei kannte er aus Schäbbels Schilderungen von dessen Abenteuern im Drunten. Dies mussten die Piraten sein, die den Wunschstein aus der Schatzkammer gestohlen hatten! Schäbbel hatte den größten Teil einer Nacht hindurch mit ihnen herumgespielt, hatte sie durch die Gänge des unterirdischen Labyrinths hin und her getrieben. Dann waren sie ihrem Aufpasser entkommen, als der törichte Imitator von Sonnen geschlafen hatte, weil er ihnen vertraut hatte, dass sie sich nicht vom Fleck rühren würden. Piraten also. Piraten vom Volk der Malud, aus Asral, wo das Leben hart und oftmals kurz ist. Er durfte nicht vergessen, dass sie sich selbst für Malud hielten und schwer beleidigt sein würden, wenn man sie Ashdans nennen würde, obwohl diese beiden Völker rein äußerlich völlig identisch waren. Was wusste er sonst noch über Asral? Ingalawa war dort gewesen und hatte behauptet, dass – „Ich sagen,“ sagte der alte Mann, wobei er seine Worte mit großer Sorgfalt wählte. „Ich sagen, wer sein du?“ Der Art, wie er sprach, entnahm Chegory, dass sich sein eigenes Leben als äußerst kurz erweisen könnte, wenn er keine zufriedenstellende Antwort geben würde, und zwar rasch. „Ich heiße Chegory Guy,“ sagte er, in einem weit besseren Ashmarlan als das seines Fragestellers. „Ich arbeite für Jon Qasaba in der Dromdanjerie. Das ist unsere Irrenanstalt, falls Sie das nicht wissen. Ich bin hier unten auf der Suche nach Orge Arat. Er ist ein Verrückter. Er ist uns davongelaufen. Er läuft hier mit einer Axt frei herum. Er ist so gefährlich wie sieben Höllen auf einmal oder wie siebzig gefräßige Drachen.“ „So gefährlich wie was?“ sagte der alte Mann, der die letzte Verworrenheit nicht verstanden hatte. „Er ist äußerst gefährlich!“ sagte Chegory, der einen Hauch von Verzweiflung in seine Stimme zwängte. „Wir sollten lieber von hier verschwinden, hier schnell weg sein, er hat schon Qasaba getötet, wir sind zu fünft gewesen, jetzt gibt’s nur noch einen, mich ganz allein, den einzigen Überlebenden, der Mann mit der Axt hat die anderen erledigt, hat ihnen die Arme abgehackt, die Köpfe, die Beine.“ „Soboro mo?“ fragte der junge Ashdan. „Dab an narito,“ antwortete der alte Mann. „Para-para. Al-ran Lars,“ sagte der stämmige Mann. „Tolon! Skimara!“ Das kam vom alten Mann. Während sie sich auf diese Weise miteinander unterhielten, nahm Chegory seine Umgebung unter die Lupe. Er befand sich in einem stark gekrümmten Gang. Unter seinen Füßen war ein üppiger Bewuchs schwarzen Grases, das raschelte, wenn man darauf herumtrat. Oben warmes graues Licht. Die Piraten setzten das Zwiegespräch in ihrem unverständlichen Jargon fort, vermutlich in Malud, das alle Unterhaltungen im weit entfernten Asral beherrschte. Chegory lauschte. Angestrengt. Über und unter dem belanglosen Piratengeschwätz hörte er ein dünnes hohes Heulen. Leise, leise und weit entfernt. Irgendetwas rumpelte. Tief, unheilvoll. Gedämpftes Donnergrollen. Rumpelte hierhin. Rumpelte dorthin. Machte Pause. Rumpelte dann wieder weiter. Ein tief im Bauch spürbares Brummen entsprang irgendwo in den Wänden. War dort irgendein Tier? Oder Wasser oder irgendeine andere Flüssigkeit, die sich durch ein Knäuel von Röhren hindurchzwängte? „Du mich hören?“ Sprach der ältliche Pirat. Begleitete seine Frage mit einer Ohrfeige. „Taub!“ sagte Chegory, mit einem Hauch echter Panik in der Stimme. „Taub, ich bin taub!“ „Dandark! Aber jetzt du mich hören!“ Seite 81 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Ja ja ja, das haben wir doch schon hinter uns. Okay. Was wollen Sie? Wollen Sie, dass ich Sie alle hier herausbringe? Ich kenne den Weg, ich kann Sie hinaufbringen, hinaus, wo immer Sie auch hingehen möchten.“ „Gut,“ sagte der Pirat. „Das es sein, was ich will wissen. Sehr schön. Da du kennen den Weg, gehen voraus.“ Also machte sich Chegory wieder einmal auf den Weg und bemühte sich nach Kräften, die Täuschung aufrechtzuerhalten, dass er vollständige Kenntnisse über das Labyrinth besitzen würde, durch das er die Piraten führte, die den Wunschstein gestohlen und die ihn (bestimmt) noch in ihrem Besitz hatten. Könnte er ihnen den Stein entwenden? Er begann zu überlegen, zu hoffen, zu planen, zu mutmaßen. Wenn er ihnen dieses Beutestück abluchsen könnte, würde er in ganz Injiltaprajura der Held sein. Man würde ihn in den höchsten Tönen lobpreisen! Chegory der Große! Jubelt dem Helden zu! „Du sicher du wissen wohin gehen wir?“ sagte der ältliche Pirat, weil Chegory an einer Kreuzung kurz gezögert hatte. „Hier entlang, hier entlang,“ sagte Chegory hastig. Nach diesen Worten führte er sie weiter durch Helligkeit, durch Dunkelheit, und in der Ferne dann wieder durch Helligkeit. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. War es noch Undokondra? Oder Bardardornootha? Oder hatten bereits die Sonnenglocken geläutet, um den Beginn Istarlats zu verkünden? Er hatte keine Ahnung, genauso wie er keine Ahnung hatte, wie weit er bereits durch dieses von Schatten und Albträumen beherrschte Gebiet gewandert war. Aber was er wusste, das war, dass er Hunger und Durst hatte, dass ihm seine Muskeln weh taten, und dass sein Verstand nahezu vollständig von Müdigkeit überwältigt war. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal Abwasser gesehen oder gerochen hatte. Die Abwesenheit von menschengemachtem Abfall deutete darauf hin, dass sie sich äußerst tief im Untergrund befanden, sehr weit unter der Erdoberfläche von Injiltaprajura. Oder vielleicht irgendwo unter dem LaitemataHafen? Es gab auch keine Anzeichen von Vampirratten in diesen geruchlosen Gängen, was ebenfalls darauf hindeutete, dass sie sich wirklich sehr weit in der Tiefe befanden. Eine Treppe. So was brauch’ ich jetzt. Eine Treppe nach oben. Dann war das Glück dem jungen Chegory hold, indem es ihn tatsächlich einen Treppenaufgang finden ließ, der nach oben führte. Er entschied sich für diesen Weg. Sie stiegen nach oben. Nicht mehr als dreißig Schritte brachten sie zu einem Absatz, wo sie die Wahl hatten, einem engen, wenig verheißungsvollen Seitentunnel zu folgen, in dem ein düsteres violettes Licht schimmerte. Chegory schenkte ihm nicht mehr als einen flüchtigen Blick und ging dann weiter hinauf. Ein weiterer Absatz, ein weiterer Seitentunnel. Noch immer dasselbe violette Licht darin. Genauso beim dritten Absatz. Beim vierten. Beim fünften. Beim sechsten. Mittlerweile musste Chegory keuchen und schwitzen, und sein Herz hämmerte wie wild in seiner Brust. Er war zutiefst über die Feststellung besorgt, dass er so schnell müde wurde. Das zeigte ihm, dass seine körperlichen Reserven durch Hunger, Wasserentzug, Anstrengung und Schlafmangel nahezu vollständig erschöpft waren. Sie stiegen hinauf zum siebten Treppenabsatz. Dort brach das Unglück über den jungen Chegory und seine Gefährten herein, denn ein Trupp von Soldaten stürzte sich aus dem hier mündenden Seitentunnel auf sie. Die Soldaten waren gut gerüstet und mit Speeren bewaffnet, weswegen die Piraten keine andere Wahl hatten, als ihre Waffen abzulegen und sich zu ergeben. Dann wurden knappe Befehle erteilt, und ein äußerst widerwilliger Chegory Guy wurde in Begleitung seiner von Asral stammenden Begleiter die Treppe hinaufgeleitet. Er wusste, dass es Soldaten aus Justinas Palastwache waren, die sie gefangen genommen hatten. Ihre Uniformen und das sie verzierende Beiwerk ließen keinen Zweifel für ihn übrig. Sie hatten bestimmt die Tiefen des Drunten in dem Bestreben durchstreift, wenigstens ein paar der Plünderer festzunehmen, die Injiltaprajuras Schatzkammer ausgeraubt hatten. Das bedeutet Hinrichtung! Wenn nicht Schlimmeres! Seite 82 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Das glaubte Chegory. Dann erreichten sie den obersten Treppenabsatz und wurden dort mit vorgehaltenen Speeren in einen ausgedehnten Kellerbereich gebracht, der aus großer Höhe von kaltem Licht beleuchtet wurde, das grell und hell auf eine Szene geschäftigen Treibens herabschien. Die wenigen Schatten, die noch übrig geblieben waren, suchten Schutz unter großen schweren Fässern. Arbeiter füllten gerade den Inhalt dieser Behälter um in Krüge, Kessel, Amphoren und Flaschen. In der Luft lag ein Geruch, der, das wusste Chegory, der Geruch von Alkohol sein musste. Justinas Wachen waren überall deutlich zu sehen. Chegory gelang es nicht, wirklich völlig zu verstehen, was hier los war. Offensichtlich war dies ein geheimes Lagerhaus zur Verteilung von Drogen, das unterirdische Gegenstück zum Lagerhaus von Firfat Labrat in Marthandorthan. Aber was machten diese Wachen hier eigentlich? War das eine Razzia? Falls ja, warum gingen dann alle Arbeiten weiter wie gewohnt? Und wer war dieser große weißhäutige Mann, der sich ihnen gerade näherte? War das etwa…? Konnte das vielleicht…? Jawohl, so war es! Der jetzt bereits nahe Neuankömmling mit den rosaroten Augen und der Alabasterhaut war niemand anders als der Wunderwirker Aquitaine Varazchavardan, der Meister der Rechte im Dienst der Kaiserin Justina von Untunchilamon, der Würdenträger, dem Chegory zuletzt begegnet war, als der Hexer nach Jod gekommen war, um Ivan Pokrovs Mittagessen mit Fragen über die Analytische Maschine zu stören. Varazchavardan trug noch immer dieselbe seidene Festrobe voller ultramarinblauer und fleischfarbener Drachen. Während der Hexer auf sie zutrat, erwies ihm Chegory seine Ehrerbietung auf Janjuladoola-Art. „Aha,“ sagte Varazchavardan, „das sind also…“ Die Piraten wurden aktiv. Ein Handzeichen ihres Ältesten setzte sie in Bewegung. Der Muskelprotz packte Chegory Guy, schleuderte ihn gegen die Wache stehenden Speerträger, die dadurch umgekegelt wurden. Der ältliche Pirat zückte blitzschnell eine verborgene Klinge, umklammerte Varazchavardan mit einem Arm und presste seinen Stahl an dessen Luftröhre. „Zurück!“ kreischte Varazchavardan. „Haltet euch zurück, sonst wird er mich töten!“ Aber die umgekegelten Wächter rappelten sich schon wieder auf, suchten gerade ihre Waffen zusammen, die sie losgelassen hatten. Der Muskelprotz hob ein Fässchen voll Alkohol hoch und schleuderte es nach ihnen. Warf dann noch eins hinterher, das beim Aufprall zerplatzte. Chegory rollte einem dritten aus dem Weg, erhob sich und duckte sich unter einem vierten hinweg. Schnell zerrte der halsgefährdende Pirat seine Geisel Varazchavardan zum obersten Treppenabsatz. Chegory humpelte den sich schnell zurückziehenden Piraten hinterher, wobei er unterwegs durch den verschütteten Schnaps platschte. Welche Alternativen hatte er schon? Zu bleiben und verhaftet zu werden. Oder kurzerhand getötet zu werden! Die Soldaten liefen vorsichtig hinterher. Der Greis, der Varazchavardan umklammert hatte, lockte mit seinem Messer ein wenig Blut aus der Haut des Albinos. Der Hexer brüllte seinen Männern zu: „Wollt ihr mich sterben lassen? Verzieht euch, ihr Deppen! Verzieht euch!“ Als Antwort schleuderte ein Optimist ein Messer in der Annahme, er könnte den Piraten aufspießen, der den Meister der Rechte in seinen Fängen hatte. Das Messer flog vorbei. Varazchavardan fluchte. Hier waren verzweifelte Maßnahmen gefragt! „Richardia rincus rident!“ keuchte er. Seite 83 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Ein violetter Flammenstoß zuckte aus seinem Körper. Er sprengte den halsgefährdenden Piraten davon. Varazchavardan war frei! Aber dieselben Flammen entzündeten einen See verschütteten Alkohols. Heulend entfloh Varazchavardan, wobei er auf die Flammen einschlug, die, als das Feuer an seiner Seidenrobe hochkletterte, rasant von seinen bestickten Drachen aufloderten. Der muskulöse Pirat hatte bereits seinen ältlichen Gefährten hochgehoben und spurtete jetzt zur Treppe. Der jüngste der Marodeure vom Volk der Malud war ihm dicht auf den Fersen, und Chegory Guy war nicht weit dahinter. Als sie endlich die Treppe erreicht hatten, war das höhlenartige Lagerhaus zu einem grellen Schauspiel drachenzüngelnder Brände geworden. Sie donnerten die Treppe hinunter, um dem Inferno zu entkommen. Erster Absatz. Zweiter. Dritter. Vierter. Fünfter. Donner brüllte hinter ihnen her, weil in dem ganzen Hexenkessel die Fässer mit Schnaps zu explodieren begannen. Sie rannten noch immer die Treppe hinunter. „Omora sora!“ keuchte Chegory, der auf dem sechsten Treppenabsatz eine Pause einlegte, um nach Luft zu schnappen. Dieser Ausdruck soll nicht übersetzt werden, denn er wurde in seiner Muttersprache Dub ausgesprochen und war schon deshalb grundsätzlich obszön, weil es unmöglich ist, irgendetwas in dieser Sprache auszudrücken, das nicht wenigstens drei unanständige Anspielungen enthält. Während also Chegory eine Pause machte und vor sich hin keuchte, donnerten die Piraten immer noch weiter die Treppe hinunter. Chegory war klar, dass er sich beeilen müsste, wenn er nicht abgehängt werden wollte. Aber – war das überhaupt das, was er wirklich wollte? Natürlich nicht! Er hatte überhaupt kein Verlangen danach, die Gesellschaft dieser zum Äußersten entschlossenen Mörder einen Moment länger als unbedingt nötig zu ertragen. Seine Entscheidung erfolgte unverzüglich. Er duckte sich in den engen Seitentunnel und begann ihn mit großen Schritten entlangzulaufen, und zwar so schnell er konnte, um den größtmöglichen Abstand zwischen sich und seine etwaigen Verfolger zu bringen. Durch den von violettem Licht erhellten Tunnel lief also Chegory Guy. Er bog nach links ab, dann nach rechts. Der Tunnel wurde breiter. Das Licht veränderte sich von violett zu zitronengelb. Alles war still, still, still. Dann begann er ein rhythmisches Klopfen, Zerschmettern, Stampfen zu hören, das von vorne kam. Er lief weiter, denn er glaubte zu wissen, was das war. Er hatte recht. Der Lärm wurde von einer weiteren Eismaschine erzeugt, die große Eisblöcke in Kammern fallen ließ, die bereits mit solchen Eisblöcken übersät waren. Eisweiße Helligkeit umspielte die roten, grünen und blauen Lichtquellen, die von oben herabschienen. Kalt, es war kalt, der wohltuende Schock einer solchen Kälte versetzte ihn in höchste Wachsamkeit, machte seinen Kopf frei, ließ ihn schlauer, kräftiger und flinker werden. Sein Durst verlangte nach sofortiger Linderung, aber wenn es überhaupt Schmelzwasser geben sollte, dann floss es durch Gitter im Boden ab, so dass ihn hier keine Pfützen mit Trinkwasser erwarteten. Stattdessen musste Chegory deshalb das äußerst kalte Eis mit den Zähnen zermalmen und dann den zerstoßenen Schlicker hinunterschlucken. Die steigende Füllung seines Bauchs mit zertrümmerten Eisstückchen begann ihm schon bald Beschwerden zu verursachen. Er traute sich nicht, noch mehr davon zu verspeisen, um sich nicht zu überfressen und dadurch Krämpfe oder Magenverstimmung zu bekommen. Die Müdigkeit gewann wieder die Oberhand. Seine anfängliche Begeisterung über die Entdeckung des Eises (und demzufolge über seine Errettung vor dem Tod durch Verdursten) ließ allmählich nach. Er zog sich ein Stück von dem Eis zurück und ließ sich in einem eisgekühlten Gang nieder, in der Absicht, sich vor dem Weiterweg ein wenig auszuruhen. Stattdessen schlief er aber ein, denn er war viel zu müde, um vom Lärm der herabstürzenden Eismassen wachgehalten zu werden. Die Kälte war es schließlich, die ihn weckte. Er stellte fest, dass er zitterte. Gänsehaut am ganzen Körper. Er umarmte sich selbst, patschte sich auf Arme und Schenkel, kehrte dann zu den großen Haufen von Eisblöcken zurück, um noch mehr gefrorenes Wasser abzunagen, weil er es für das Beste hielt, sich einen Vorrat zuzulegen, bevor er seinen Marsch wiederaufnahm. Seite 84 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Kalt, es war kalt, bitterkalt, so kalt war ihm nicht mehr gewesen seit… ja, seit der Expedition zu den fliegenden Fischen im letzten Jahr. Er war nachts im Kanu eines einheimischen Fischers hinausgefahren. Ox No Zan war bei ihm gewesen, und Olivia Qasaba, und ein Dutzend anderer Leute, von denen die meisten Fischer waren. Nacht, und Mondschein auf den sich kräuselnden Wellen. Flackernde Fackeln. Olivia, die vor Aufregung kreischte. Fliegende Fische, die auf dem Boden des Kanus im knöcheltiefen Wasser herumzappelten. Dann die lange Fahrt zurück, ein schlanker Wind, der das Segel füllte und ihnen die Wärme aus den erschöpften Körpern zog. Ihm war wirklich sehr kalt gewesen, als sie die Küste erreicht hatten, und hatte daran noch lange denken müssen, weil Kühle jeglicher Art auf Untunchilamon so selten war. Nachdem er das Eis verzehrt hatte, war Chegory abmarschbereit. Und er zog los, wobei er die ganze Sache schön langsam angehen ließ. Dann blieb er stehen. Was war das, dieses in der Mitte des Tunnels liegende Ding? Ein scheußliches, grässliches Stück verschrumpelter Schwärze. Eine Bananenschale! Freilich eine seit langem tote Bananenschale, aber trotz alledem ein Zeichen menschlichen Lebens, sofern man nicht annehmen wollte, dass einer von Injiltaprajuras Affen mit einem Stück dieser Frucht in seiner Pfote so weit in die Tiefe hinabgewandert war. „Gerettet,“ murmelte Chegoroy, denn er war sicher, dass er sich einem Ausgang nähern würde. Angesichts seiner Erregung wich die Müdigkeit von ihm, so wie sie das bei seiner Entdeckung des Eises getan hatte, das ihm vor kurzem das Leben gerettet hatte (so schätzte er das zumindest ein, obwohl er die Situation zweifellos ein wenig überdramatisierte). Seine Schritte wurden länger, während er rasch weiterlief, schon gespannt darauf, was wohl vor ihm liegen würde. Der Tunnel, den er entlangschritt, war zu seiner Linken und Rechten mit ovalen Türöffnungen durchlöchert, die zu leeren Kammern führten. Chegory blickte in jede davon, während er an ihr vorüberkam, und wurde dafür belohnt, als er weitere Spuren menschlichen Lebens in der zehnten Kammer rechts erspähte. Müll Müll Müll! Oh, das war der willkommenste Anblick, den er sich vorstellen konnte! In dem Gemenge wertlosen Abfalls lagen ein paar zerbrochene Stückchen von Kokosnuss-Schalen. Die Rückenpanzer einiger Landkrabben. Abseits davon ein kleiner Haufen Scheiße. Der Teil eines verdorrten Bananenblatts, das man vielleicht als Verpackung für eine Handvoll Reis oder eine ähnliche Verpflegung verwendet hatte. Ein paar Brocken Holzkohle, die von einem Feuer übrig geblieben waren. „Hier haben Leute kampiert,“ sagte Chegory. „Oder zumindest Rast gemacht. Vielleicht Eis-Mineure?“ Die Müllmenge deutete darauf hin, dass hier häufig Leute gewesen waren, und das tat auch der Zustand der Wände, auf denen frühere Besucher Holzkohle-Graffitis mit wollüstigen Körperstellungen skizziert hatten – die fließenden Kohlestriche besagter Skizzen deuteten auf jene unbeschwerte Kunstfertigkeit hin, die auf langer und fleißiger praktischer Übung beruhte. Dort erblickte der junge Chegory auch, unter einer Schicht von Namen und Sprüchen, ein paar wenige hingekritzelte Gleichungen. Diese waren ihm tatsächlich vertraut, denn sie waren in der unergründlichen Eleganz der Thaldonischen Mathematik abgefasst. War hier etwa Ivan Pokrov vorbeigekommen? Gut möglich. Chegory würde ihm aber wohl kaum an der nächsten Ecke begegnen, insbesondere deshalb, weil sich diese Holzkohle-Zeichnungen dort genauso gut erst einen Tag oder fünfzigtausend Jahre oder mehr befinden konnten. Chegory hob ein Stückchen dieser Kokosnuss-Schalen auf. Ein paar kleine verdörrte Brocken des trockenen Fruchtfleisches hafteten noch immer an der braunschwarzen Rinde. Er kratzte sie mit dem Daumennagel ab, der noch immer schwarz von seiner Arbeit als Steingärtner war. Schleckte ihn ab. Essen Essen Essen! Bei dem Gedanken an sein letztes Mittagessen lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Meeresschnecken und fliegender Fisch. Im Augenblick hätte er für eine solche Mahlzeit bedenkenlos jemanden umbringen können. Oder für jede Art von Speise. „Je schneller draußen, desto schneller satt,“ murmelte Chegory. Er warf die Kokosnuss-Schale hinter sich. Sie fiel mit leisem Scheppern auf den Metallboden. Chegory durchwühlte die restlichen Abfälle. Nichts da. Zumindest nichts Essbares. Er hob ein Stück Holzkohle auf und begann damit auf die Wand zu kritzeln. Er schrieb in Ashmarlan, denn das war die einzige Sprache, die er lesen und schreiben konnte, weil sich niemand die Mühe gemacht hatte, ihm Seite 85 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Buchstaben beizubringen, bevor er begonnen hatte, für Jon Qasaba in der Dromdanjerie tätig zu werden, und anschließend war die Sprache seines Unterrichts natürlich die seiner Ashdan-Lehrer gewesen. [Hier ist eine Anomalie. Ashmoleas Sprache der Wissenschaft ist nicht das volkstümliche Ashmarlan, sondern das elegante Slandolin, die Sprache der formalen Literatur und der hohen Künste, und deshalb hätten ihn Guys Lehrer sicherlich in Slandolin unterrichtet. Täuscht sich hier der Urheber des Textes aus Unwissenheit? Oder ist dies nur ein gedankenloser Flüchtlingsfehler? Oder muss man annehmen, dass der Ebrellianer Guy von seinen Lehrern für unfähig befunden worden war, die Beherrschung des Slandolin zu erlangen? Gut möglich, denn der Urheber stellt ja selbst fest, dass Guy im eigentlichen Sinn gar keine Sprache wirklich kannte. Studenten sollten auf Mehrdeutigkeiten wie die hier vorliegende achten, wann immer sie auf einen Abschnitt stoßen, in dem der Urheber hinreichend Anmaßung besitzt, den Anspruch auf Allwissenheit zu erheben. Sot Dawbler, KommentarSchule.] Und das schrieb Chegory: THALDONISCHE MATHEMATIK IST SCHEISSE ROT REGIERT, KAPIERT? AQUITAINE VARAZCHAVARDAN BUMST SCHWEINE OLIVIA OLIVIA OLIVIA DER TAPFERE URI WAR HIER JUSTINA LIEBT VAZZY THEODORA LIEBT UND LIEBT UND LIEBT Hier ist erstens der schlüssige Beweis, dass Chegory Guy zumindest eine gewisse Ahnung davon hatte, was in Justinas rosa Palast wirklich los war. Er wusste Bescheid über den Albino-Affen Vazzy, den die Kaiserin äußerst schätzte, und er hatte zumindest das ein oder andere Gerücht über die Skandale gehört, die das Leben von Justinas Zwillingsschwester, der berühmten Theodora, umgaben. Was hier zweitens gezeigt wird, das ist im Grunde die Bankrotterklärung bezüglich der Vorstellung, einen Ebrellianer unterrichten zu können. Als Chegory endlich Lesen und Schreiben gelernt hatte, benahm er sich von da an etwa wie ein gebildeter Mensch? Begann er etwa, sich mit Fragen der Politik oder des Rechts auseinanderzusetzen, oder – [Hier ist eine langatmige Tirade gegen Ebrellianer und über die Dummheit jeglichen Versuchs, sie zu unterrichten, aus Gründen der Redundanz gelöscht worden. Ein schlüssiger Beweis der moralischen Verkommenheit und intellektuellen Unzulänglichkeit dieser Rasse von Untermenschen ist schon vorher in diesem Text aufgetaucht. Es besteht kein Bedarf, weitere Kommentare des Urhebers zu diesem Thema wiederzugeben, insbesondere auch deshalb, weil einen der Verdacht beschleicht, dass einige dieser Kommentare nicht mit der Absicht verfasst worden sind, das Allgemeinwissen zu mehren und die gesammelten Erkenntnisse über diese Welt zu vertiefen, sondern nur deshalb, um dem Urheber eine Arena zu ermöglichen, in der er sein intellektuelles Talent zur Schau stellen kann, beziehungsweise seinen fehlgeleiteten „Witz“, den der Urheber mit jenem Talent gleichsetzt. Drax Lira, Chefredakteur.] Nachdem er die Arbeit an seinem literarischen Werk vollendet hatte, stopfte sich Chegory Guy ein paar übrige Holzkohlebrocken in die Tasche, nur für den Fall, dass ihn erneut eine Eingebung überkommen würde, und setzte dann seinen Weg fort, worauf er schon bald einen riesigen Saal mit gewölbter Decke erreicht hatte, dessen Wände mit Kacheln ausgekleidet waren, die mit Hilfe von drei Dutzend verschiedener Muster ein gewaltiges Mosaik bildeten. Blau und grün waren diese Kacheln, und sie bestanden aus Metall. Ihr einheitliches Bild wurde von einem halben Tausend durchsichtiger Röhren durchbrochen, die vom Boden bis zur Decke aufstiegen. In diesen Röhren flossen Flüssigkeiten. In einigen Röhren war die Flüssigkeit farblos, war also bestimmt Wasser, das die Quellen speiste, die Injiltaprajura so großzügig mit Wasser versorgten. In anderen Röhren waren bunt gefärbte Flüssigkeiten. Ein paar davon konnte der junge Chegory erkennen – das Grau der Schlack und das Gallengrün des Dickels. Aber was war dieses dickflüssige vergorene Schwarz? Dieses Blau, das wie dazu geschaffen schien, dem Himmel selbst Konkurrenz zu machen? Dieses unheilvolle Rot, das noch dunkler war als Blutstein? Dieses leuchtende Gelb, das die gleiche Farbe wie der todbringende Sonnenskorpion von Zolabrik hatte? Seite 86 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Das ist mir ein Rätsel,“ sagte Chegory. Nachdem er auf diese Weise jeglichen Recherchen eine Absage erteilt hatte, setzte er seinen Weg fort, ohne sich um eine Lösung dieses Rätsels zu kümmern. Er war ja nur, vergessen Sie das nicht, ein unwissender Ebrellianer, dem es nur um sein nacktes Überleben ging, und kein philosophischer Gelehrter, dem der Sinn nach Erkenntnis und Erforschung stand. Bestimmt wäre jeder anständige Enzyklopädist (zum Beispiel Sie, verehrter Leser) unter den gegebenen Umständen dort geblieben, um die Röhren zu untersuchen, um sich Gedanken über ihren Ursprung und ihre Mündung zu machen, und um sich Notizen zu machen, um später einen Bericht anfertigen zu können. Aber Chegory tat nichts dergleichen. Stattdessen machte er sich auf die Suche nach einem Fluchtweg. [Obwohl man die wissenschaftliche Neugier keinesfalls missbilligen sollte, muss hier dennoch festgestellt werden, dass eine Bewertung intellektueller Forschungen, zu der der Urheber einen Beitrag in Form eines selbstformulierten Kommentars zum oben genannten geophysiopsychischen Szenario geliefert hat, einen umfassenden Gebrauch objektivierter Begriffe erfordert, der die mutmaßlichen Extrapolationen im Verhältnis zu den Überlebenschancen berücksichtigt, die sich die Zielperson dieses Szenarios bei einer wenigstens teilweisen Beurteilung der normativen Folgen psychobiologischen Stresses (beispielsweise in der Form einer Fehlmenge hinsichtlich des bioökologischen Substanzaustauschs beim Einspeisevorgang, oder, ebenso wichtig, in der Form eines Entzugs der erforderlichen Regenerations-Therapie in der Gestalt subjektiver Erfahrung nicht-bewussten Gehirnverhaltens) und der Auswirkungen dieser Folgen hinsichtlich globaler Leistungsfaktoren erhofft hätte. Obwohl eine präzise mediometrische Quantifizierung auf Basis einer reinen Textanalyse unmöglich ist, ist die offenkundige Einschätzung des Urhebers, dass spekulative Forschung und Datenerfassung absolute Güter darstellen, die man in jedem Fall über das Streben nach sozioindividueller Integration und die Bewahrung biologischer Integrität stellen sollte, ein Hinweis auf sein Unvermögen, sich die Spannung zwischen einer rein subjektiven supramundanen gedanklichen Freiheit und den statistisch wahrscheinlichen biosoziopolitischen Auswirkungen zu vergegenwärtigen, zu Gunsten einer normativen Anpassung an die objektivierte Wirklichkeit. Obwohl man weder genetische Mängel noch exobiopsychisch bedingte transmundane Manipulationen mit Bestimmtheit als für dieses Syndrom ursächliche Elemente verwerfen kann, unterstreicht das Gewicht der mit Echtzeiterfahrungen, die aus umfassender praktischer Arbeit im Kontext des Patienten-Therapeuten-Geflechts gewonnen wurden, verknüpften Theorie die Schlussfolgerung, dass unzureichende Elternschaft die ultimative Ursache der psychischen Beeinträchtigung ist, die zur Zurschaustellung des soziomedikolegalistischen maladaptiven Verhaltens führt, das zur Folge hatte, dass der Urheber in einer Anstalt für nicht-normgerechte Individuen einer unfreiwilligen therapeutischen Behandlung unterzogen wurde. Um dies alles allgemeinverständlich zum Ausdruck zu bringen, ist meine Schlussfolgerung also die, dass die psychosoziale Fehlanpassung, die dazu geführt hatte, dass man den Urheber in einer Irrenanstalt eingekerkert hatte, auf dem soziopathologischen Verlust jeglichen Augenmaßes beruht, und dass ich dafür die Eltern verantwortlich mache. Eshambultung Yafun-groid, Chef-Phrenologe der Untersuchungsbehörde, außerordentlicher Psychometriker und Leiter des Normierungskomitees.] [Mag schon sein. Aber wen kümmert das? Oris Baumgage, niederrangiger Faktenprüfer.] [Eine unentschuldbare Frivolität! Hiermit vermerkt; sie wird zu gegebener Zeit bestraft werden. OberZuchtmeister Jonquiri O.] [Obwohl man Yafungroid nicht leichtfertig abtun darf, sollten Studenten dennoch zur Kenntnis nehmen, dass der angesehene Phrenologe kurz nach der Fertigstellung seiner umfangreichen Anmerkungen zu diesem Text an einer übergroßen Portion Lampreten21 gestorben ist, denen Opiumextrakt beigemengt war, dem er bekanntlich verfallen war. Sot Dawbler, Kommentar-Schule.] [Sot Dawbler deutet an, dass Yafungroid an geistiger Zerrüttung als Folge des übermässigen Genusses des Seelentrösters litt. Aber was wäre schon dabei? Sollten wir uns Sorgen machen, ob Yafungroid hirngeschädigt war? Sein Betätigungsfeld war das Studium der Verrückten. Man braucht einen Dieb, um einen Dieb zu fangen, und einen Verrückten, um einen Verrückten zu fangen! Ich akzeptiere Yafungroids Schlussfolgerungen voll und ganz und wünschte mir nur, ich könnte die magistrale Prächtigkeit seines Stils übernehmen. Drax Lira, Chefredakteur.] Als sich Chegory auf die Suche nach einem Fluchtweg machte, hatte er vielfältige Wahlmöglichkeiten. Aus diesem Saal führten insgesamt siebenundvierzig Türöffnungen hinaus. Der junge Chegory hatte sie nicht 21 Neunaugen Seite 87 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 gezählt, aber ich weiß, dass es so ist, denn ich bin selbst während meiner eigenen Forschungsarbeiten im Drunten an genau demselben Ort gewesen. Sie dürfen nämlich nicht vergessen, dass diese Chronik zu jedem Zeitpunkt unterstützt und bereichert wird von meiner eigenen detaillierten und langjährigen Kenntnis der Mitwirkenden und des Schauplatzes der Handlung. Folglich kann ich Ihnen mit Sicherheit versprechen, dass die einzige Türöffnung, die zu einer Treppe führte, eine Armspanne breit und das Dreifache davon hoch war; dass die Treppe selbst aus einem unzerstörbaren Metall bestand, das unzählige Male von einer Unmenge an Löchern durchsetzt war, wobei jedes der Löcher den Durchmesser eines Fingers hatte; dass man insgesamt 170 Stufen hochsteigen musste, um in eine große kreisförmige Kammer zu kommen, die aus ebenfalls unzerstörbarem Plax gefertigt war; und weiterhin, dass aus dieser Kammer siebzehn Gänge speichenförmig nach außen führten. Chegory fand diese Treppe, stieg sie empor und erreichte die Kammer mit ihrer siebzehnfachen Wahlmöglichkeit. Wohin jetzt? Er wählte aufs Geradewohl einen Gang und machte sich auf den Weg in diesen Tunnel, wobei er ab und zu mit der Holzkohle Zeichen an den Wänden anbrachte, damit er in der Lage sein würde, den Rückweg zu finden, wenn er in eine Sackgasse oder in Gefahr geraten würde. Während des Laufens begann er sich Sorgen zu machen. Hatte ihn Aquitaine Varazchavardan erkannt? Er zweifelte, dass ihn Varazchavardan mit Namen kannte. Trotzdem könnte sich Justinas Meister der Rechte daran erinnern, dass er den jungen Chegory auf Jod gesehen hatte, in welchem Fall er wissen würde, wohin er sich auf der Suche nach einem Namen als erstes wenden müsste. Bei allen Göttern, was für ein Chaos! „Trotzdem,“ sagte Chegory, „ist es wirklich ziemlich lustig gewesen.“ Es war überhaupt nicht lustig gewesen. Es war eine absolute Katastrophe gewesen. Dennoch erlaubte sich Chegory ein kleines schäbbelartiges Kichern, als er sich ins Gedächtnis rief, wie Varazchavardan auf seine brennende Robe patschte. So ein Depp von einem Hexer! Durch Ausübung von Magie seinen eigenen Schnaps in Brand zu stecken! Seinen eigenen Schnaps? Chegory korrigierte seinen gedanklichen Patzer. Das war nicht Varazchavardans Schnaps gewesen. Das war das Eigentum irgendeines schändlichen skrupellosen Drogenhändlers gewesen. Und Varazchavardan, nun ja, der musste wohl eine Razzia dieser Stätte geleitet haben. „Prima,“ sagte Chegory mit trockener Ironie. „Ich bin ein gesuchter Mann. Ein Verbrenner von Soldaten. Ein Gefährte von Drogenhändlern. Ein entlaufener Häftling. Ein Plünderer. Ein Aufständischer. Und jetzt hab’ ich obendrein Feinde höheren Orts. Könnte mir noch etwas Schlimmeres widerfahren?“ Eine ganze Menge, wie er herausfand, nachdem er kaum drei Schritte weitergegangen war. Das Licht wurde dunkler, das Licht ging aus, und dann erhoben sich violette Schatten rings um ihn herum, torkelten umher, drehten und wandten sich, gewannen schärfere Konturen, wurden zu Ungeheuern mit blaugrünen Augen und zirkonroten Zähnen. Ein Blick auf ihre sabbernden Mäuler verriet ihm, dass sie als Fleischfresser veranlagt waren. Ihm blieb keine Zeit mehr, um zu schreien, bevor sie über ihn herfielen. Rasiermesserscharfe Zähne rissen ihm das rohe Fleisch heraus, brachen seine Knochen entzwei, schlitzten ihm den Bauch auf, zerschnetzelten seine Hoden auf eine derartig schmerzhafte Weise, dass er in Ohnmacht fiel. Eine Zeitlang wusste er von gar nichts. Dann begann er Stück für Stück Gedanken und Gefühle wiederzuerlangen. Er lief so vor sich hin. Seine Augen waren spaltbreit geöffnet. Graues Licht ließ Wände erahnen, den Boden, eine Tür, an der er vorüberschritt. „Hör auf, weiterzulaufen,“ sprach er zu sich. Seite 88 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Aber seine Beine schritten auch ohne ihn weiter. Das waren kräftige Beine, abgehärtet, um mühselige Arbeiten in den Steinfeldern von Jod auszuführen. Seine Arme unbeweglich an der Seite. Kraft hatte er ja in diesen Armen, die gewaltige Kraft, die vom Zerkleinern von Steinen mit dem Vorschlaghammer und von den in seiner Freizeit schonungslos durchgeführten praktischen Übungen mit einem scharfen Schwert stammte. Aber er war machtlos, diese Kraft zu beherrschen. Ich bin eine Maschine. So dachte er bei sich, wobei er sich mit Ivan Pokrovs Analytischer Maschine verglich, die erbarmungslos von verschlüsselten Algorithmen angetrieben wurde, die Tätigkeiten mit äußerst komplizierten Genauigkeitsanforderungen ausführen musste, ohne auch nur das kleinste Quentchen freien Willens zu besitzen. Durch äußersten Einsatz solchen Willens gelang es ihm schließlich, seine Augen zu schließen. Jetzt will ich… Jetzt würde er gar nichts wollen. Wille und Bewusstsein stolperten ihm gemeinsam davon. Seine Augen öffneten sich wieder ein wenig. Ein Teil von Chegorys Gehirn, den man eigentlich kaum Chegory selbst zuordnen konnte, verlangte nach Sicht, damit er den Lauf der Leiche durch die Unterwelt unterhalb Injiltaprajuras steuern konnte. Es ist wohl kaum übertrieben, sich Chegory just in diesem Moment als Leiche vorzustellen, denn obwohl sein Körper atmete, lief und sowohl Blut als auch einen Herzschlag besaß, wohnte kein Wille in seinem Fleisch. Kein Wille, kein Gedanke, keine Empfindung. Als Empfindung, Wille und Bewusstsein schließlich zurückkehrten, war Chegorys automatenhafter Zustand längst vergangen. Er stellte fest, dass er in der Dunkelheit am Boden lag. Vampirratten! Im Drunten war Dunkelheit gleichbedeutend mit Ratten. Gab es hier welche? Er lauschte angestrengt nach Gekrabbel oder Gequieke. Hörte aber nichts. Trotzdem schlug sein Herz wie rasend. Er hatte geschlafen, er hatte geschlafen, er war wehrlos gewesen, er war bewusstlos der Gnade sämtlicher vierbeiniger Marodeure ausgeliefert gewesen. In der Dunkelheit des Drunten hätte das Selbstmord sein können. Er stand auf und zuckte dabei zusammen, weil irgendetwas in seinem Rückgrat grik! gemacht hatte. Vorsichtig streckte er seinen Rücken. Er war in Ordnung. Er schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Suchte nach einer Lichtquelle, sah aber nicht den allerkleinsten Schimmer. Stattdessen nur vollkommene Dunkelheit, ein undurchdringlicher schwarzer Samt, der alles vertuschte. War er vielleicht blind geworden? Er schnippte mit den Fingern. Die Art des Echos ließ ihn vermuten, dass er sich in einem unterirdischen Raum befand. In einem ziemlich großen Raum. Er war überrascht. Dank der Dunkelheit hatte er den Eindruck gehabt, dass er an einem Ort nicht größer als ein Sarg eingesperrt war. Er tastete umher. Fässer. Ein Geruch nach – Alkohol? Bei allen Göttern! Hier… ein Tisch. Etwas… etwas Weiches. Es war zerreibbar. Zu klebrig, als dass es Scheiße sein konnte. Er hob es auf. Geruch. Käse. Nicht der Ziegenkäse aus den Bottichen von Beldysobros, dem einzigen einheimischen Erzeuger. Nein, das hier war importiertes Zeug. Und sehr lecker. Genau das, was er brauchte. Noch mehr? Nein, bloß Metall. Autsch! Scharf. Messer. Gut. Chegory prüfte die Schärfe seines frisch erworbenen Messers und ließ es dann in die größere seiner beiden Stiefelscheiden gleiten. Er würde es brauchen, sollte er auf Vampirratten stoßen. Oder auf Marodeure vom Volk der Malud. Oder auf verrückte Elfenfürsten mit merkwürdigen ausländischen Gefährten. Er überlegte kurz, was wohl aus seiner heißgeliebten Kampfklinge, seinem Spießstecher und seinem Schlagring geworden waren, die er verloren hatte, als ihm die Soldaten seines Schutzes beraubt hatten, als sie ihn außerhalb der Dromdanjerie verhaftet hatten. Okay. Zeit für Erklärungen. Wie war er hierhergekommen? Seite 89 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Als Schlafwandler. Als Schlafwandler? Wohl kaum! Zen. Das war sein nächster Gedanke. Ein Flashback! Beim dritten Mal erraten! Chegory war jetzt in der Tat vollkommen klar, was geschehen war. Er hatte Zen eingeatmet, das man in den Amphoren im Tempel von Elasmokarcharos, des Haigotts der Dagrin, verbrannt hatte. Das halluzinogene Kraut hatte dafür gesorgt, dass er sich eingebildet hatte, dass das Maul eines Hais durch die Luft geschwebt war, um ihm seinen Arm abzureißen. Später hatte er sich vorübergehend erholt. Einige Zeit später war er jedoch von dem als Flashback bekannten Phänomen überwältigt worden. Zen ist eine seltsame Droge, denn anders als Alkohol oder Opium nimmt ihre Wirkung nicht in direktem Verhältnis zur Zeit ab. Sobald man diese Droge eingenommen hat, besteht stattdessen die Möglichkeit für ein plötzliches, meistens ungelegen kommendes Wiederauftreten der ursprünglichen Drogenwirkung. Halluzinationen können das Sensorium teilweise oder ganz überfluten. Schlimmer noch, die Droge kann Handlungen aufgrund bekannter oder unbekannter Sehnsüchte auslösen, kann zu Mord oder zu Vergewaltigung führen, zu Inzest oder zu Brandstiftung, zum Bad mit Haien oder zu Selbstmord. In Chegorys Fall war seine einzige alles beherrschende Sehnsucht gewesen, so schnell wie möglich aus dem labyrinthischen Drunten herauszukommen, und das war die Sehnsucht, die die Droge aktiviert und ihn damit zu einem gedankenlosen Zombie gemacht hatte. Okay. Was jetzt? Er war immer noch müde. Äußerst müde. Sonst hätte das Wissen um seine Anfälligkeit für entsetzliche Flashbacks dafür gesorgt, dass er vor Angst schreiend im Kreis herumgerannt wäre. So aber war er so kaputt, dass er nicht mehr tat, als seine Anfälligkeit als letztes Extra zur Kenntnis zu nehmen, das ihm an diesem Tag der Katastrophen noch gefehlt hatte. Seine Müdigkeit empfahl ihm, zu schlafen. Was sollte er denn sonst tun? Hätte er irgendeinen Vorteil, wenn er sich schneller aus seiner Gefangenschaft im Drunten lösen könnte? Nein. Da soviele Gefangene mit soviel Beute aus der Schatzkammer geflohen waren, würden in diesem Moment bestimmt Dutzende von Soldaten durch die Gänge des unterirdischen Labyrinths streifen, und deshalb gab es für Chegory kaum einen Grund, in den rosa Palast zu eilen, um der Obrigkeit mitzuteilen, dass die Piraten, die den Wunschstein gestohlen hatten, immer noch unter Deck waren. Wenn eine Suche zur Festnahme dieser Marodeure vom Volk der Malud führen könnte, dann würde sie das auch. Man würde niemanden, den man in einer Zeit wie dieser im Drunten festnehmen würde, für unschuldig halten, also gab es für Chegory keinen Grund, sein Leben aufs Spiel zu setzen und sich bloß deshalb in den Sonnenschein hinaus zu wagen, um die unberechenbaren Fremden zu beschuldigen. In der Zwischenzeit war er hier am besten in Sicherheit. In Sicherheit vor den herumschnüffelnden Soldaten? Vermutlich schon, weil er ja in irgendeinen Lagerraum für Schnaps gestolpert war. Solche Orte wurden von Experten so ausgewählt, dass sie bei einer normalen Suche praktisch unauffindbar waren. Seite 90 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Was aber, wenn mich besagte Experten schlafend vorfinden? Dafür bestand ein gewisses Risiko, das war richtig. Aber sein Leben war so gefährlich geworden, so voller Risiken, so angespannt und unvorhersehbar, dass Chegory dieses kleine zusätzliche Wagnis als so gut wie nichts betrachtete. Er setzte sich hin, lehnte sich gegen ein Schnapsfass, schloss die Augen und fiel sofort in Schlaf. Anderswo, im Foltertempel an der Goldhammer-Steige, der als Gefangenenlager diente, brannte sich Schäbbel aus einem Tontopf am Grund eines Brunnens frei. Dampf stieg aus dem Brunnen auf, während Schäbbel grell leuchtend und noch greller singend emporschwebte. Es war Nacht. Bald würde die Sonne aufgehen, und die Sonnenglocken würden von den Türmen an den vier Ecken des rosa Palastes herabschallen, um das Ende von Bardardornootha und den Beginn von Istarlat anzukündigen. Aber im Augenblick herrschte noch Dunkelheit, und Schäbbels örtlich begrenzte Anstrengungen, diese legitime Herrschaft zu unterwandern, sorgten für Proteste von den Anhängern des herrschenden Systems. „Blas’ dein Licht aus, du Kasper!“ schrie ein zorniges Fischweib. „Da gibt’s nichts auszublasen,“ sagte Schäbbel. „Ich bin doch keine Kerze.“ Eine Sintflut von Beschimpfungen war die Folge, als ob Fistavlir vorbei wäre und die langersehnten Passatwinde Niederschläge voller Flüche statt voller Wasser gebracht hätten. Völlig unbeeindruckt von diesen Attacken huschte Schäbbel um den Tempel herum, auf der Suche nach seinen Freunden. „Oh, da seid ihr ja, da seid ihr ja,“ sagte Schäbbel und schien mit sonnenhellem Licht herab auf den wie im Koma liegenden Ivan Pokrov. Der Leiter des Analytischen Instituts erwachte. Starrte Schäbbel an. Nuschelte wirres Zeug. Dann sagte Artemis Ingalawa in einem äußerst wachen Tonfall: „Schäbbel! Verschwinde von hier! Hau ab!“ Die-der-man-gehorchen-muss wurde gehorcht. Schäbbels Licht verdunkelte sich fast zu einem Nichts herab, und der Dämonische schoss hinauf, hinauf, hinauf in den nächtlichen Himmel. Die schwüle Dunkelheit über Injiltaprajura und dem verschmutzten Laitemata wich unter ihm zurück. Ganz Untunchilamon kam in Sicht, eine dunkle Masse in der Dunkelheit, die sich Meile für Meile von Justinas Hauptstadt bis zur Ödnis des Nordens erstreckte. Höher und immer noch höher flog Schäbbel, der sich in nur wenigen Herzschlägen über imaginäre Gebirge hinaus in die Lüfte erhob. Voll jauchzender Freude über seine Geschwindigkeit flog Schäbbel dahin. Dieselbe Freude empfindet der Delfin, wenn er in schillernder Wonne aus dem Wasser aufsteigt. So ergeht es dem Drachen, wenn er erst mit voller Kraft den Luftraum für sich beansprucht, bevor er sich dann plötzlich fallen lässt, hinabtaucht mit einem Schrei, mit brutaler Stärke, mit überlegen beherrschter Geschwindigkeit und mit absoluter Präzision, und wenn er dann bei seinem Sturzflug Schrecken und Schönheit gleichermaßen austeilt. Mit einem solchen Triumphgefühl stieg Schäbbel empor, bis man die Krümmung der Planetenoberfläche ganz genau erkennen konnte, und die Sonne ebenso, die Sonne des neuen Tages. Da sang Schäbbel, da sang Schäbbel, lauter und dann nochmals lauter, strömte Musik aus, die in den letzten zwanzigtausend Jahren ungehört geblieben war, schwelgte in der Sinfonie der Sonne, schwelgte in einem Freudenlied, um all jene zu loben und zu preisen, die sich mit ihrer Sterblichkeit herumschlugen, schwelgte in einem Lobgesang auf den Willen, etwas zu sein und etwas zu werden, auf den grenzenlosen Ehrgeiz, auf den überschäumenden Wagemut und auf den Triumph des Augenblicks. Schäbbel stieg noch höher empor. Singend singend singend für die aufgehende Sonne, für den hiesigen Stern, für den Stern, der sich selbst daran erfreute, ein Lied zu singen, das wilder und kühner war als alle Lieder, die die Geschöpfe des Fleisches jemals gehört hatten, und seine Freude war ein Ausbruch entfesselter Energie, explodierendes Licht, das in luftleere Ödnis hinausloderte, die hundert Millionen Luzak entfernt war. Seite 91 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Ein Hoch auf das Leben! Ein Hoch auf uns und unser Werden! Und auch auf die Sonne, ein Hoch! Und auch auf die aufgehende Sonne, ein Hoch! Soweit also Schäbbel, der sang, als ob er der Sonne selbst Konkurrenz machen wollte. Non servium22. 22 lat. eigentlich „non serviam“ – angeblich Luzifers Worte („ich werde nicht dienen“), um seine Abneigung gegenüber dem Dienen unter Gottes Führung auszudrücken [hier vermutlich im Sinn von: Keine Chance!] Seite 92 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 13 “Was ist denn das?” sagte Log Jaris und hob dabei eine Laterne in die Höhe. Von Chegory kam keine Antwort, weil er tief im Traum versunken war. Just in diesem Moment verwandelten sich seine unbewussten Fantasien von Schreckensbildern (bis zum Überdruss) in völligen Unsinn. Er träumte von einem stachligen Kohl mit thaumaturgischen Neigungen, der zur lapidarischen23 Freude einer zittrigen Großmutter Onyx und Zirkon vervielfältigte. „Ist Kohl noch etwas anderes als nur ein Nahrungsmittel?“ sagte Chegory, der sich (in seinem Traum) einbildete, dass er Kohl, von Holztafeldrucken fremdländischen Ursprungs einmal abgesehen, noch nie gesehen hatte, obwohl er ihn in Wirklichkeit freilich recht gut kannte, denn Kohl wuchs (wenn auch nur dürftig) in den Marktgärten Injiltaprajuras. „Kohl ist Gott,“ sagte der Kohl. Der Kohl übte bereits auf feindselige Weise seinen granitartigen Willen aus, um ihn zu zerquetschen, jegliches Wohlwollen war verschwunden, nur noch Übelwollen war übriggeblieben, seine Blätter waren voller Zyanid, und er stank nach Kot. Zerquetscht stürzte er zu Boden. Durcheinanderschnatternde Ameisen machten sich über seinen nutzlosen Heldenmut lustig, über seine lächerliche Tapferkeit, über seinen falsch verstandenen Stolz, über seine unverkennbar mit dem Rot der Ebrellen gefärbte Haut. „Junge, wach auf,“ sagte Log Jaris außerhalb seiner Träume. „Ich bin wach,“ sagte Chegory (oder stellte sich vor, dass er das sagte) in den Gefilden seines Traums. Dort, wo sein Einhorn sie aufspießte, wo sie seine Mangos sanft mit ihren Händen umfasst hatte, ihre streichelnden Finger, seine spritzende Banane, seine Ameisen, die sich in der Sprache der Meeresschnecken und Karotten miteinander unterhielten, während sie über ihre Brustwarzen krabbelten, ihre Haare, die über seine Wangen strichen, während Varazchavardan in dem blaugesprenkelten Toppsegel einer Kokospalme einen Affen nachäffte. „Muss ich dich erst noch wachtreten?“ sagte Log Jaris. Darauf kam keine Antwort. Also trat er zu. Nicht allzu fest, aber fest genug. Der junge Chegory Guy schnaufte, rang nach Luft, wurde ruckartig wach, erinnerte sich an sein Messer und griff danach, nur dass es der falsche Stiefel war, an den er gegriffen hatte. „Eine Klinge?“ sagte Log Jaris, der im Schein seiner Lampe die leere Stiefelscheide bemerkt hatte. „Keine Klinge da, mein Junge! Wer bist du?“ Langsam erhob sich Chegory auf die Beine. Blickte Log Jaris direkt ins Gesicht. Drehte sich dann um. „Dreh’ mir bloß nicht den Rücken zu, mein Junge!“ sagte Log Jaris, der ihn dabei an den Schultern packte und herumwirbelte. „So hässlich bin ich nun auch wieder nicht.“ „Du bist eine Halluzination,“ sagte Chegory gefasst. Eine unter den gegebenen Umständen recht vernünftige Annahme. Denn Log Jaris war ein Ungeheuer mit dem Körper eines Menschen, aber mit dem Kopf und den Hörnern eines Stiers24. „Was?“ sagte Log Jaris verwundert. „Ich bin eine was?“ 23 24 engl. lapidarian – ein Kunstwort zwecks Wortspiel (lapidary bedeutet auch Edelsteinschleifer) siehe Kapitel 24 in The Walrus And The Warwolf Seite 93 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Eine Halluzination. Ich glaub’ nicht an dich.“ „Du glaubst nicht an mich?“ sagte Log Jaris, wobei er seine Hand schwer auf Chegorys Schulter legte. Mit dieser schweren Hand griff er fest zu und schüttelte dann den Jungen. Nicht stark – aber ausreichend. „Du glaubst nicht an mich? Wie wär’s damit? Glaubst du an das?“ Log Jaris packte Chegorys Schlüsselbein mit Daumen und Zeigefinger. Er erhöhte den Druck. „Tut weh, stimmt’s? Du bist wach, richtig? Ein Träumer bist du nicht! Aber vielleicht betrunken. Bist du betrunken, mein Junge?“ „Ich hab’ Zen eingenommen,“ sagte Chegory. „Was hast du?“ „Dieser Tempel. Der Tempel von Elasmokarcharos. Dort hat es Zen gegeben, Zen, das verbrannt wurde, riesige Amphoren, weißt du, diese Droge wirkt im Rauch, in den Wolken, ganze Wolken davon hat es dort gegeben. Und… ich muss mich gar nicht mit dir herumstreiten. Du bist ein Flashback. Dich gibt es gar nicht.“ „Wäre schön, wenn das so wäre!“ sagte Log Jaris. „Würde mein Leben um Vieles leichter machen. Also schön, mein Junge, komm mit! Sei ein bisschen nett zu einer alten Halluzination und sorg’ mit deiner Geschichte dafür, dass sie dir Gesellschaft leistet, bis sie die ganze Wahrheit aus dir herausbekommen hat.“ Chegory starrte Log Jaris intensiv an. Er war vollkommen scharf sichtbar. Das gelbe Kerzenlicht, das durch das Fenster der Laterne schien, flackerte ab und zu ein bisschen, aber die von Schatten umgebene Körpermasse des Stiermanns tat das nicht. Zaghaft streckte Chegory seine Fingerspitzen aus. Der Stiermann grunzte vor Unbehagen, als Chegory die schwarzen Stierhaare befingerte. Chegory legte seine Hand flach auf die borstigen Haare. Spürte die Wärme des lebenden Körpers darunter. Drückte dagegen. Stieß auf unnachgiebige Masse, Massigkeit, Gewicht, Trägheit. Der Stiermann war riesig. Eine riesige unnachgiebige Masse, die nach Stierschweiß roch. Heißer Atem wurde über Chegorys Gesicht hinweggeprustet, als er seine Hand vom Fell des Stiermanns zurückzog. Gold schimmerte hell in der zitternden Feuchte der Nüstern des Stiermanns. Die aufgestellten Ohren, die ein wenig wie schwarze Haar-Röhren aussahen, deren Enden man diagonal abgeschnitten hatte, zuckten, weil der Stiermann irgendein entferntes Geräusch bemerkt hatte. Chegory richtete den Blick nach oben zu den großen, hoch erhobenen Hörnern aus Elfenbein. Für eine Halluzination war dieses Ding eindrucksvoll detailgetreu und ungewöhnlich stabil. „Bist du endlich fertig?“ sagte der Stiermann. „Meine Geduld ist groß, aber nicht unendlich.“ „Du schaust echt aus,“ sagte Chegory langsam. „Ich meine, du flackerst nicht an deinen Rändern, oder so. Du fühlst dich echt an. Du riechst echt. Du redest, als ob du echt wärst. Aber wenn du echt bist – wie erklärst du dann deine Existenz?“ Der Stiermann schnaubte. „Du bist hier derjenige, der seine Existenz erklären muss,“ sagte das Ungeheuer. „Das ist immerhin mein Keller. Ich schlage deshalb vor, dass du gleich jetzt damit loslegst, weil ich sonst deinen widerlichen Kadaver ohne weiteres Getue obtrunkieren25 werde.“ Chegory wollte auf keinen Fall obtrunkiert werden, was immer das auch bedeuten mochte, denn es klang so, als ob es recht schmerzhaft sein könnte. Er hatte bereits erfahren müssen, dass der von Halluzinationen verursachte Schmerz einem körperlich existierenden Schmerz mindestens ebenbürtig war. Er musste das Ungeheuer also auf jeden Fall besänftigen, ob es nun ein selbständiges Geschöpf freien Willens oder bloß eine Projektion seiner eigenen Psyche war. „Ich, naja, ich bin hier, weil ich mich praktisch verirrt habe,“ sagte Chegory. „Im Untergrund verirrt.“ 25 engl. obtruncate: den Kopf abtrennen Seite 94 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Wie das?“ „Das ist eine lange Geschichte.“ „Na sicher,“ sagte der Stiermann. „Eine Geschichte, die du mir in meiner Folterkammer erzählen wirst. Vorwärts!“ Mit diesen Worten wälzte der Stiermann ein Fass herum und begann es aus demjenigen Raum zu rollen, in dem er Chegory im Schlaf überrumpelt hatte. Der junge Ebrellianer war bitter enttäuscht, als ihm allmählich klar wurde, dass es ihm nicht gelungen war, einer weiteren schmerzhaften Tortur aus dem Weg zu gehen, aber er lief trotzdem hinterher, ohne zu protestieren. Folter, Folter! Hilflos sagte er diese Worte in Gedanken immer wieder auf, heulte in lautloser Verzweiflung, während er dem massigen muskelbepackten Mann folgte, der ihn gefangen genommen hatte. Bumm-drumm rollte das Echo in die vor ihnen liegende Dunkelheit, während der Stiermann das Fass erst über Steinplatten und Pflastersteine stieß, und dann eine Reihe von Rampen hinauf. Dann blieb der Stiermann stehen. „Hier,“ sagte er und reichte Chegory dabei die Laterne. „Halt’ mal.“ Chegory hielt sie. Das war seine Chance! Die Laterne zertrümmern, den Stiermann auf die Schnauze hauen, und dann in die Dunkelheit davonflitzen. Aber diese Chance ergriff er nicht. Er sah sich letztendlich mit einer Herausforderung zuviel konfrontiert. Sein Vorrat an Mut, Initiative und Risikobereitschaft war vollständig erschöpft. Natürlich sollte er es lieber riskiert haben. Er hätte es versuchen sollen. Er hätte angreifen sollen – und dann die Flucht ergreifen. Weil die Alternative darin bestand, ungeheuerliche Schrecken in der Folterkammer des Stiermanns zu erdulden, konnte er aus der Zusammenarbeit mit diesem grässlichen Ding nichts gewinnen. Und trotzdem arbeitete er mit ihm zusammen, hielt die Laterne, während der Stiermann das schwere Fass durch ein Mannloch nach oben stemmte und dabei stiermäßig grunzte. Dann zog er sich selbst durch das gleiche Loch hinauf, reichte nach der Laterne hinab und hob sie empor. Lauf’ weg! So sprach Chegorys letzter Rest von Risikobereitschaft. Aber schon reichte der Stiermann erneut hinunter, und Chegory, der ihm keinen Widerstand leisten konnte, stellte fest, dass er dem Ungeheuer seine eigene Hand entgegenstreckte. Der Stiermann zog Chegory in den von dunklen Schatten erfüllten darüberliegenden Raum, verschloss dann das Mannloch mit einer schweren Falltür und verriegelte sie. Chegory saß in der Falle. Ein Gefangener im Bau des Stiermanns! „Hier durch,“ sagte der Stiermann, wobei er eine Tür öffnete, die ein kleines Zimmer zum Vorschein brachte, das von hellem und heiterem Licht beleuchtet wurde, das durch Oberlichter hereinströmte. Blauer Himmel! Blauer Himmel! Ein eindrucksvolles Schauspiel an reinen und hellen Farben. So wunderschön, dass Chegory fast weinen musste, als er es sah. „Welchen Tag haben wir?“ sagte er. „Heute,“ antwortete der Stiermann. Wahr, aber nicht hilfreich. Dann: „Los,“ sagte der Stiermann, „hier hindurch.“ Mit diesen Worten öffnete er eine weitere Tür und rollte das Fass in einen viel größeren Raum. Im Licht, das durch ein Dutzend vergitterter Fenster hereinströmte (mehr Himmel, der Anblick eines Hofs, eine Mauer, keine Hoffnung auf Flucht, jedenfalls noch nicht, nicht auf diese Weise), sah Chegory alles. Einen riesigen Herd am nahen Ende des Raums, und eine Frau, die an diesem Herd mit Kochen beschäftigt war. Ein Dutzend Tischplatten, die auf Böcken lagen, und überall Bänke, die davor aufgestellt waren. Zwei Dutzend unterschiedlicher Fischer und dergleichen hockten auf diesen Bänken, und sämtliche Fischer waren damit beschäftigt, sich zu unterhalten, zu essen und aus Zinnkrügen zu trinken. Zweifellos befand sich in diesen Seite 95 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Zinnkrügen Schnaps, denn das hier war mit Sicherheit eine Spelunke, ein Haus der Schande, das man erbaut hatte, um die verkommenen Gelüste der hilflosen Drogensüchtigen zu bedienen, wobei die fraglichen Süchtigen die Fischer waren, die bei ihrem Frühstück miteinander schwatzten und lachten. „Du wirst zum Frühstück hierbleiben,“ sagte der Stiermann. „Oh, natürlich,“ sagte Chegory in der Hoffnung, dass nicht er selbst einer der Gänge dieses Frühstücks werden würde. Dann stieg ihm der Geruch eines gut gewürzten Cassoulet26 in die Nase und er merkte, dass er hungrig war, sehr hungrig, ausgehungert, verhungert, heißhungrig, eine Katze unter Mäusen, ein Hund unter Katzen, ein Drache inmitten von Lämmern, ein Feuer in einem Stapel Papier, so unterernährt, dass es ein Wunder war, dass er kein Zwerg geblieben war, sein Skelett war umhüllt von einem Geist und von einem Menschen, der tüchtig Nahrung brauchte für seinen Körper, Wärme, Gewicht, Blut, Nerven, Sehnen, Knochen, Nieren, Leber, Herz und Lunge. Er war bereit, zuzugreifen, zuzuschnappen, zu essen, zu beißen, zu saugen, zu kauen und zu schlucken, war hungrig genug, um sich mit den Räubern des Meeres haifischmässig um einen Eimer voller Fleischabfälle zu streiten, war so von Hunger besessen, dass er nach den Brüsten seiner Schwiegermutter betteln, sich aber auch aus ihrer Möse verköstigen würde, wie es im Sprichwort heißt, oder dass er einen Stein bis aufs Blut ausquetschen oder den Stein selbst erst schälen, dann kochen und verspeisen könnte. „Hier,“ sagte der Stiermann. Mit diesen Worten sorgte das Ungeheuer dafür, dass sich vor ihm ein Wunder in Form einer Schüssel voll heißen, dampfenden Cassoulet offenbarte. Bohnen! Fleisch! Maniokstücke! Nebenbei noch etwas gebackene Banane! „Nun denn, mein Junge,“ sagte das Ungeheuer. „Glotz’ das nicht bloß an. Setz’ dich. Lass’ es dir schmecken!“ Wenige Augenblicke später saß der junge Chegory am Tisch und schlug sich den Bauch mit Cassoulet voll. „Langsam, kleiner Chegory,“ sagte einer der Fischer, der an demselben Tisch saß. „Langsam, sonst wird dir das nicht bekommen.“ „Oho!“ sagte der Stiermann. „Du kennst also diesen Knaben?“ „Kein Knabe, Log Jaris. Das ist ein Mann in der Blüte seiner Jugend. Stimmt’s, Chegory? Hast du dich schon an die süße Olivia ’rangeklemmt?“ „Ich arbeite dran,“ sagte Chegory. „Oh, darauf könnte ich wetten! An der ist mehr Fleisch dran als an einem Hühnchen, gell?“ „Lassen wir mal die Frage des Olivia-Hühnchens beiseite,“ sagte der Stiermann Log Jaris. „Wie lautet denn dein restlicher Name, Chegory?“ „Chegory Guy,“ sagte Chegory Guy. “Oho! Doch nicht etwa der Sohn von Impala Guy?“ sagte der Stiermann. „Du bist nicht zufällig der Sohn des alten Impala, Japones heißgeliebten Brennmeisters?“ „Derselbe,“ sagte Chegory. Bei diesen Worten brachte er ein schiefes Lächeln zustande. Ein schiefes Lächeln? Wir sollten hier genauer sein. Chegory verspürte zwar ein gewisses Maß an Unbehagen, aber es wäre ihm ein Gräuel gewesen, wenn das bekannt werden sollte; deshalb versuchte er dafür zu sorgen (wenn auch nicht vollständig erfolgreich), dass eher Gefallen als Missfallen in seiner Miene zum Ausdruck kam. 26 Cassoulet ist ein Eintopf aus dem Südwesten Frankreichs, der aus weißen Bohnen, Speck, Schweinefleisch und Würstchen besteht. Seite 96 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Dem üblichen Brauch folgend sagen wir deshalb, dass er ein schiefes Lächeln lächelte, obwohl er das in buchstäblicher Wirklichkeit gar nicht tat. Manche Leute, die sich perfekter Gesundheit erfreuen (und manche, die das nicht tun, wie zum Beispiel diejenigen, die Schlaganfälle mit unterschiedlich deutlicher Ausprägung erlitten haben, oder die man verstümmelt hat, oder die unter dem Einfluss gewisser sittenwidriger Drogen stehen), drücken sich gewohnheitsmäßig mit Hilfe eines Lächelns aus, das sich nicht über die volle Breite ihres Mundes erstreckt, und das man deshalb treffend und wörtlich als „schief“ bezeichnen kann. Manchen Leuten gelingt das mit Leichtigkeit, gerade so, wie manche Leute mit den Ohren wackeln können. Chegory hätte nicht mit den Ohren wackeln könnne, um sein Leben zu retten (von der Notlösung abgesehen, besagte Ohren mit seinen Händen zu packen und sie durch Ausübung manuellen Drucks in Bewegung zu setzen). Ihm fehlte jegliches angeborene Talent zum Ohrenwackeln, genauso, wie er auch ohne dichterisches Potenzial auf die Welt gekommen war. Da er aber die willkürliche Muskulatur seiner Lippen ganz ordentlich beherrschte, hätte er sicherlich trotzdem ein schiefes Lächeln zustande bringen können, wenn sein Leben auf dem Spiel gestanden hätte. Das machte er jedoch nicht. Tatsächlich machte er selten (falls überhaupt) etwas, das so unnatürlich war wie ein schiefes Lächeln. Trotz sorgfältigster Recherchen hat es sich als unmöglich herausgestellt, auch nur einen einzigen Zeugen zu finden... [Es hat den Anschein, als ob der Urheber hier einem Anfall dessen unterlegen ist, was Kerkransolifski Bodo so treffend als „jene schmerzliche Genauigkeit, die jede Wahrheit unmöglich macht“ bezeichnet hat. Um die Vermittelbarkeit dessen zu bewahren, was dem Urheber an anderer Stelle gelungen ist, in Worte zu fassen, und um ein geringeres Auftreten des RSI-Syndroms27 bei unseren Schreibern zu erreichen, ist hier ein Werk der Pedanterie, das sich über nicht weniger als zehntausend Worte erstreckt, gelöscht worden. Auf Anweisung, Sptyx Rhataporo, Sachverständiger des Büros der Übersicht.] [Was, bitte schön, ist denn verkehrt an Pedanterie? Ich nehme den Ausbruch von Genauigkeit, den der Urheber hier hatte, mit Beifall zur Kenntnis, und muss Rhataporos ungerechtfertigte Entfernung desselben aufs Strengste missbilligen. Brude, Sonderpedant.] Nachdem Chegory seine wahre Identität gestanden hatte, führte Log Jaris ein sanftes Verhör durch, das ihm bald alles offenbart hatte, was er über seinen jungen Besucher wissen wollte. Dann stellte der Stiermann eine Amphore auf den Tisch und goß daraus eine schäumende braune Flüssigkeit in Krüge, und zwar für sich selbst, für den Fischer, und für Chegory. „Was ist das?“ sagte Chegory und blickte mit äußerstem Misstrauen in den Krug. „Etwas gegen den Schmerz,“ sagte Log Jaris. „Den Schmerz?“ sagte Chegory. „Zu existieren heißt zu leiden,“ sagte der Stiermann. „Das hatten gelehrte Philosophen bereits vor langer Zeit in der Dämmerung der Menschheitsgeschichte herausgefunden, woraufhin sich die größten Genies der damaligen Zeit versammelt haben, um sich ein Heilmittel einfallen zu lassen. Dieses Heilmittel steht jetzt vor dir. Trink! Denn indem wir trinken, erweisen wir uns als wahre Studenten der höheren Philosophie.“ Chegory hatte noch nie jemanden eine solche Lehrmeinung vertreten hören, obwohl feststeht, dass ein solches Dogma nicht die ursprüngliche Erfindung des Stiermanns war; tatsächlich lautet das Gerücht, dass die KorugatuPhilosophen aus dem weit entfernten Chi’ash-lan vor über tausend Jahren eine ähnliche Theorie entwickelt hatten und sich seither mächtig ins Zeug legen in dem Versuch, sie durch praktische Forschungsarbeiten zu vertiefen. „Das ist eine Droge, stimmt’s?“ sagte Chegory. „Sollte das dich etwa bekümmern?“ sagte Log Jaris mit sichtlicher Belustigung. „Jemand wie du, ein durchgeknallter Abenteurer, der täglich Leib und Leben im Drunten riskiert für den einzigen Zweck, sein Verlangen nach Zen zu stillen? Wird etwa das, was in diesem Krug ist, dein Innerstes nach außen kehren oder dir den Schädel spalten, um dir dein Hirn auf die Füße zu spritzen?“ 27 engl. repetitve strain injury („Mausarm“, „Sekretärinnenkrankheit“) Seite 97 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Nein, aber –“ Aber da war bestimmt Alkohol drin. „Triff eine Entscheidung,“ sagte Log Jaris mit deutlich geringerer Belustigung als zuvor. „Bist du mein Freund oder mein Feind? Mein Gast oder mein Gefangener? Na los, mein Junge, das ist kein Schampus, das ist bloß Bier.“ Da nahm Chegory seinen ganzen Mut zusammen und tat, was er wohl tun musste, um am Leben zu bleiben. Er hob den Krug voller Bier an seine Lippen. Er trank daraus. Was wäre seine Alternative gewesen? Sicherlich die, von dem Stiermann zu Tode getrampelt zu werden. Zerstampft und durchbohrt, zermalmt und zerstört zu werden. Nichtsdestotrotz – wäre das für ihn nicht der bessere Weg gewesen? Denn ist Trinksucht nicht ein Schicksal, das weitaus schlimmer ist als der Tod? Und war der junge Chegory nicht auf dem besten Weg in ein solches Schicksal? Denn er hatte sich erst am gestrigen Tag im Schlupfwinkel Firfat Labrats besoffen, und jetzt betrank er sich hier schon wieder in großem Stil in einer heruntergekommenen Spelunke in der denkbar schlimmsten Gesellschaft der untersten Schicht. Aber Chegory fehlte der Mut, einfach zu sterben. Er wollte leben, aus diesem Ort des Bösen fliehen, weg aus diesem Höllenloch mit seinen mit flüssigem Tod gefüllten Amphoren, fort von diesen allzusehr vergnügten Fischern, die bereits der verführerischen Heimtücke unheiliger chemischer Verbindungen erlegen waren. Er wollte wieder unter offenem Himmel herumspazieren. Wieder im Sonnenschein herumspazieren. Rein sein, und gesetzestreu, und im Frieden mit sich und der Welt. Also trank er eben. Vergessen Sie nicht, dass er nur ein armer unwissender Ebrellianer war, dessen philosophische Ausbildung man völlig vernachlässigt hatte. Er würde erst noch lernen müssen, dass der Zweck nur selten die Mittel heiligte, und merkte infolgedessen auch nicht, dass seine Hoffnung, in ein Leben der Reinheit und des Friedens zu entfliehen, bereits zum Scheitern verurteilt war, als er, um sein Überleben zu sichern, Maßnahmen ergriffen hatte, die verdorben waren, unsauber, ungesetzlich, zerstörerisch, schmutzig und unredlich, und böse, unmoralisch, sittenwidrig und unmäßig, und widerwärtig, dreckig und abscheulich obendrein. Trotzdem muss man zugeben, dass er dadurch, dass er gemeinsam mit dem Stiermann Bier trank, seine kurzfristigen Chancen verbesserte, zu überleben und aus der Spelunke unversehrt an Leib und Leben zu fliehen. „Du schaust unglücklich drein,“ sagte Log Jaris. „Was stimmt denn nicht? Ist irgendetwas mit dem Bier nicht in Ordnung?“ „Kapierst du das denn nicht?“ sagte Chegory mit einem Anflug von Verzweiflung. „Ich meine, das, was ich gesagt hab’ – Schäbbel, die Soldaten, Varazchavardan, die ganze Sache – hältst du das bloß für einen Scherz?“ „Oho, was haben wir hier nur für einen unglücklichen kleinen Burschen!“ sagte Log Jaris. „Ja klar, so wie der daherredet, könnte man fast glauben, dass er schon bis zum Hals in Haien steckt. Aber das Schlimmste hat er ja bereits überstanden. Was ist wohl schlimmer als Zen? Jedenfalls nichts, das ich kennen würde. Der Rest ist nichts weiter als Ärger mit Kleinigkeiten. Mach’ dir doch deshalb keine Sorgen! Das alles wird schon bald vorüber sein.“ „Das kann es nicht und wird es nicht, und ich bin erledigt, denn ich kann mich nirgendwo verstecken.“ Soweit Chegory, beinahe heulend. „Kann-es-nicht!“ sagte Log Jaris. „Du bist sehr freigiebig mit deinen kann-es-nicht und wird-es-nicht. Wie kommt’s, dass man von einem kräftigen Mann wie dir soviele kann-es-nicht und wird-es-nicht hört? Hast du wohl keine Beine, mit denen du laufen kannst? Wenn alle Stricke reißen, können dich doch bestimmt deine Beine tragen. Jal Japone wird dich sicherlich willkommen heißen. Immerhin bist du der Sohn von Impala Guy.“ Der scherzhafte Klang in der Stimme des Stiermanns reizte Chegory zur Weißglut. Am liebsten hätte er seinem Protest in einem Strom zusammenhangloser Wutausbrüche Luft gemacht. Stattdessen zügelte und beherrschte er sich. Er sagte einfach nur: Seite 98 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Nicht Zolabrik. Niemals wieder. Ich werde nicht weglaufen.“ „Oho!“ sagte Log Jaris. „Ein echter Held! Und trotzdem möchte er überleben. Na prima! Eine Änderung des Gesichts sollte reichen. Tu das, was ich getan hab’, mein rothäutiger Freund. Verbirg’ dein Gesicht auf immer und ewig mit Hilfe der Transmogrifikation.“ „Mit was für einer Hilfe?“ sagte Chegory. „Willst du damit sagen, du bist nicht schon immer – du hast dich entschieden – du – du…“ Log Jaris lachte. „Ich bin nicht so geboren worden,“ sagte er. „In Wahrheit bin ich ein Mensch, der aus Ashdan kommt. Mein Heimatort ist Pondros Yermento gewesen, das …“ „Ich weiß, ich weiß,“ sagte Chegory, der ihm das Wort abschnitt. „Ich hab’ schon lange genug mit Ashdans zusammengelebt, weißt du, und die reden unaufhörlich über Ashmolea.“ „Na schön, wenn du’s weißt, dann weißt du’s,“ sagte Log Jaris, von Chegorys Unterbrechung mehr als nur ein bisschen beleidigt. „Er ist doch noch ein Junge“, sagte ein Fischer. „Sei nicht so streng mit ihm.“ „Ich bin gar nicht streng mit ihm!“ sagte Log Jaris. „Ich schlage ihm nur einen Ausweg vor. Anonymität auf ewig! Das Geheimnis der Transmogrifikation.“ „Ich will mich lieber selbst um meine Probleme kümmern,“ sagte Chegory. Auf diese Weise missglückte es ihm, etwas über die Transmogrifikationsmaschine im Drunten zu erfahren, die, falls er es gewagt hätte, sie zu benutzen, ihn in einen Drachenmann oder in einen Hund, in einen Zentauren oder in einen Wassermann, in einen Satyr oder in ein Einhorn28, in einen Riesen oder in einen Zwerg hätte verwandeln können. Oder – noch besser – er hätte seine angeborenen Proportionen behalten, aber die rote Haut der Ebrellianer ablegen können. Er wäre vielleicht schwarz herausgekommen, wie die Ashdans, oder weiß wie der leukodermische Varazchavardan. Er hätte auch in dem eleganten grauen Farbton der Janjuladoola von Ang heraustreten können, oder in dem Rosa – ins Bleiche spielend – der Ureinwohner von Wen Endex. Oder in dem Rindenbraun vieler Völker Argans, oder in dem Würgeblau der Gelehrten von Odrum. Sollte er andernfalls das Glück der Sterne gehabt haben, dann hätte der junge Ebrellianer vielleicht ein Aussehen wie mein eigenes gewinnen können, was ihm eine grüne Haut, grüne Haare und zwei Daumen an jeder Hand eingebracht hätte. [Was soll man davon halten? Glaubt der Urheber denn wirklich, dass die Gelehrten von Odrum blaugetönte Haut haben? Wir wissen ja über uns, dass wir wahrlich eine vielschichtige Auswahl der besten Gehirne der siebenundzwanzig überlegenen Rassen darstellen. Täuscht sich der Urheber also aus Versehen oder mit böswilliger Absicht? Und was soll man ferner von der Selbstbeschreibung des Urhebers halten? Falls er verrückt ist, wie Dozent Zeb behauptet hat, dann glaubt er womöglich wirklich, dass er in einem Körper haust, der so gestaltet ist, wie er das beschrieben hat, obwohl nichts, was auf diese Beschreibung zutrifft, in unserer Bibliothek verzeichnet ist, es sei denn, wir nehmen in die gesammelte Masse unseres Wissens gewisse wilde Gerüchte hinsichtlich der undurchdringlichen Dschungel im Inneren der Insel Quilth auf. Dieser Angelegenheit muss sich die Wissenschaft aufmerksam widmen, bis sie sich im Lauf der Zeit vollständig geklärt hat. Auf Anweisung eingefügt. Jon Jangelis, literarischer Kommissar.] So verpasste Chegory die Gelegenheit, die Hilfe des Respekt einflößenden Log Jaris in Anspruch zu nehmen und die Transmogrifikationsmaschine kennenzulernen. Aber da er ja nur ein rückständiger Ebrellianer war, war ihm gar nicht klar, dass er überhaupt etwas verpasst hatte. Stattdessen beschäftigte er sich mit dem Versuch, sich einen schlauen Weg auszudenken, sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. „Na schön,“ sagte Log Jaris, „da du meine Hilfe nicht haben willst, kann ich mir schon denken, wohin du als nächstes gehen wirst.“ 28 engl. rundicorn [ein dem Übersetzer unbekanntes Wort] Seite 99 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Wohin wäre das?“ sagte Chegory. „Zum rosa Palast. Die nächste Sitzung zur Beratung der Bittgesuche beginnt heute Mittag.“ Nach diesen Worten komplimentierte Log Jaris den jungen Chegory auf die Straße hinaus, entließ ihn mit einem leicht angedeuteten Schubs und schloss die Tür hinter ihm. Der junge Chegory Guy war so überrascht, sich wieder draußen im Sonnenschein zu befinden (er hatte noch immer zumindest teilweise mit Gefangenschaft, Folter und plötzlichem Tod gerechnet), dass es ihm zunächst überhaupt nicht gelang, die schmale Gasse wiederzuerkennen. Als er sich dann aber orientiert hatte, stellte er fest, dass er sich in einem der Seitenwege Marthandorthans befand, nicht weit enfernt von dem Lagerhaus, wo sein hässlicher Cousin Firfat Labrat einen schwunghaften Handel mit unerlaubten Drogen leitete. Seite 100 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 14 Da es Chegory Guy an jeglicher eigener Inspiration mangelte, war sein erster Gedanke, sich der Gnade Firfat Labrats anzuvertrauen. Er begab sich deshalb zu dessen Lagerhaus, musste dort aber feststellen, dass es verbarrikadiert war. Ohne Chegorys Wissen war Firfat für die Dauer des noch immer in Kraft befindlichen Ausnahmezustands untergetaucht. Während der Nacht hatte Firfat seine gesamten Schnapsvorräte massenweise und mit großen Verlusten an kühnere Männer wie beispielsweise Log Jaris verkauft und sich dann zusammen mit seinen Anhängern in ein geheimes Versteck am Rande Injiltaprajuras, inmitten der Marktgärten jenseits des Pokra-Kamms, begeben. Wohin jetzt? In die Hafengegend, zum Heim seines gesetzestreuen Onkels, Dunash Labrat? Nein! Der strenge und ernste Bienenzüchter würde es gar nicht begrüßen, in einen Skandal verwickelt zu werden. Tatsächlich würde er vermutlich den jungen Chegory, ungeachtet der Familienbande, als entlaufenen Verbrecher ausliefern. Dann also zur Dromdanjerie? Oder nach Jod? Abermals nein. An beiden Orten würden die Soldaten nach ihm Ausschau halten, wenn sie ernsthaft an seiner Wiederverhaftung interessiert wären, was sicherlich der Fall war. Wohin also dann? Während Chegory noch darüber nachdachte, kam ein Trupp Soldaten die Straße herabmarschiert. Seine Gedanken stieben auseinander, als wären sie nur ein Haufen klipper-klappernder Runenstäbchen29, und er schlenderte so beiläufig, wie er nur konnte, um die nächste Ecke, um dann wie wahnsinnig vor Angst die Flucht zu ergreifen. Trotz seiner Panik wurde Chegory bald schon langsamer, um heftig in der Morgenhitze schwitzend nach Luft schnappen zu können. Als er die Küste erreicht hatte, lief er nur noch im Schritttempo und suchte sich einen Weg über den Strand aus zerstoßenen Korallen und zerschlagenem Blutstein, der den Laitemata säumte. Er schritt an Freiluft-Cafés vorbei, die diejenigen Fischer bewirteten, die sich nichts aus Spelunken machten; vorbei an Marktständen, die riesige Büschel unterschiedlich grüner und gelber Bananen verkauften; vorbei an Straßenhändlern mit Auslagekästen, die mit gewürztem Reis gefüllt waren, mit Curry-Eidechsen, mit eingelegten Schaben, mit Sonnenblumenkörnern, und mit empfängnisverhütenden Amuletten, die sieben verschiedenen Religionen geweiht waren; vorbei an Fischläden, die von Fliegen erfüllt waren, die wie wild über Muscheln herumschwirrten, über Krabben, Haifleisch, Zackenbarschen, Muränen, Meeresschnecken, Schildkröten, Tintenfischen, Thunfischen und silbrig-hellen Seegeistern30. Doktor Tod, der in seiner zahnärztlichen Freiluft-Werkstatt tätig war, richtete sich auf und nickte freundlich. Der auf Tods Operationsstuhl liegende Patient gab ein leises Stöhnen von sich. Tod hatte eine blutige Zange in der Hand. Ein kleiner Haufen blutverschmierter Backenzähne lag auf einem weißen Porzellantellerchen auf einem Tisch in seiner Nähe. Chegory schauderte es, und er eilte weiter. Er kam an einer Apotheke vorbei, in der ein Chemiker viele Dinge stolz zur Schau gestellt hatte: Gefäße voll öligem Pyrethrin und ähnlicher Moskito-Killer, eingewickelte Päckchen gemahlener Einhorn-Hörner und anderer Aphrodisiaka gleichen Rufs, Bündel von Ginseng und Cannabis, kleine Phiolen mit Haschischöl und noch kleinere Phiolen mit Opium, Krüge voll Honig, empfängnisverhütende Zeittafeln; den Ehrenplatz nahmen schließlich Keramikflaschen ein, in denen sich Met oder andere Arten medizinischen Alkohols (nur auf Rezept erhältlich) befanden. Er hörte, wie die Verkäufer ebenso wie die Käufer auf Janjuladoola herumbrabbelten, oder auf Ashmarlan, Toxteth oder Dub, auf Malud und Frangoni, oder in anderen, noch viel seltsameren fremdländischen Dialekten. Er sah einen Mann, der Drachenzähne verkaufte, eine Frau, die sich selbst zum Verkauf anbot, und einen 29 30 engl. scatter-stick engl. sea ghost Seite 101 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Wertpapiermakler, der Anteile an der Narapatorpabarta-Bank und am Imtharbodanoptima-Bordell versteigerte. Er schlenderte an Geldwechslern vorbei, deren Auslagen von angeheuerten Säbelträgern bewacht wurden, wo der Glanz der im Sonnenschein funkelnden Emmen mit dem Schimmer der grasgrünen Saladin-Ringe wetteiferte, und mit dem Schillern der Zills, dem Glitzern der Drachen, dem Zauber der Perlen, und mit derem Gegenwert in Pfiffer oder Dalmond. Chegory überraschte die Feststellung, dass all diese Leute ihren Geschäften wie immer nachgingen, als ob der Ausnahmezustand gar nichts für sie bedeuten würde. Hier war er nun, jemand, der bereits einen Wahnsinn durchlebt hatte, der mit allem vergleichbar war, was man vorher nur in Legenden gehört hatte, und doch bummelte die ganze Welt weiterhin so friedlich wie immer durch ihr gewohntes Programm. Der junge Chegory hatte eine Menge ertragen müssen: den Angriff eines Kraken, seine Verhaftung durch Soldaten, Prügel, Aufruhr, zuerst seine Gefangennahme durch einen Elfenfürsten, gefolgt von einer weiteren Gefangennahme durch wahnsinnige Marodeure vom Volk der Malud, Folterdrohungen eines transmogrifizierten Stiermannes, und vieles mehr – all das in kaum mehr als einem Tag und einer Nacht! Und doch beschäftigte sich die ganze Welt noch wie immer mit Kaufen, Verkaufen, Handeln und Schummeln, als ob sich überhaupt nichts Ungewöhnliches ereignet hätte. Durch den heißen Sonnenschein lief er dahin, vorbei an Wahrsagern und Sterndeutern, Ablasshändlern und Steuerberatern, vorbei an Briefeschreibern und Geschichtenerzählern, Schlangenbeschwörern und Kerzenmachern, Reisevermittlern und Sklavenhändlern; vorbei an Obst- und Gemüsehändlern, die den Vorsitz über Ladentheken führten, die mit Taro, Maniok, Mangos, Ananas, Papayas, Kumara, Blaukartoffeln und Brotfrüchten beladen waren; vorbei an einem nach Blut stinkenden Metzgerladen, wo Unmengen weiterer Fliegen um einen freien Platz auf den gehäuteten Körpern geschlachteter Hunde, Ratten, Katzen, Ziegen, Hühner und Schweine wetteiferten; und dann vorbei an den Juwelierläden, die im Glanz ihrer Schmuckwaren erstrahlten, der Paua31, deren Schönheit der eines Regenbogens gleichkam, des äußerst kostbaren Pounamu, des hell wie der Mondschein gehämmerten Silbers, und der Tränen aus Gold, die sich der Bewunderung des Sonnenscheins erfreuten. Auf diese Weise lief Chegory dahin, bis er schließlich die Hafenbrücke erreicht hatte, wo er sich nach links wandte und durch das stinkende Elendsviertel Lubos lief, bis er zum Skindik-Weg gekommen war. Dort lief er bergauf, am Schlachthaus vorbei, wo die Männer einen der Kraken, der am gestrigen Tag im Laitemata verendet war, in riesige Stücke zerkleinerten. Er ging nicht zur Dromdanjerie, sondern zum Ganthorgruk, also zu der gewaltigen verfaulenden Absteige, die hinsichtlich ihrer Größe Justinas rosa Palast Konkurrenz machte. Er stieg die knarzende Treppe bis ins oberste (und deshalb billigste) Stockwerk hinauf, wo er an eine Tür klopfte. Sie wurde nicht geöffnet. „So eine Hühnerkacke!“ rief Chegory. Er trat gegen die Tür. Daraufhin wurde sie geöffnet, und Ox No Zan stand da, der etwas verschlafen aussah, weil er sich eine ordentliche Dosis des Opiums verabreicht hatte, das ihm Doktor Tod wegen der Zahnschmerzen verschrieben hatte – oder, genauer, wegen der Schmerzen an jenen Stellen, an denen der Zahnarzt ein paar halbverfaulte Eckzähne aus dem Kiefer des bedauernswerten Ox gerissen hatte. „Oh,“ sagte Ox. „Go,“ sagte Chegory. [Ein schwacher Witz. Das Ashmarlarn-Alphabet beinhaltet die Folge Oh Go Ro To Po. Oris Baumgage, niederrangiger Faktenprüfer.] „Go?“ sagte Ox. „Vergiss es,“ sagte Chegory. 31 Seeohren (Haliotis), eine Meeresschnecke Seite 102 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 [Die Schlussfolgerung ist die, dass No entweder der Sinn für Humor oder das zuverlässige Verständnis des Ashmarlan abging. Man würde gern wissen, in welcher Sprache diese Unterhaltung geführt worden war. An anderer Stelle wird zwar angedeutet, dass No auch Ashmarlan verstanden hat, aber man neigt hier doch zu der Annahme, dass sich Guy mit seinem Freund auf Janjuladoola unterhalten hat. Oris Baumgage, niederrangiger Faktenprüfer.] „Was soll ich vergessen?“ sagte Ox. „Vergiss einfach alles,“ sagte Chegory. „Kann ich reinkommen?“ „Nein,“ sagte Ox. „Ich bin krank.“ „Sei nicht so schlapp,“ sagte Chegory. „Ich brauch’ Hilfe.“ „Du verstehst mich nicht,“ sagte Ox. „Oh, ich versteh’ dich nur allzu gut. Du willst da nicht hineingezogen werden.“ „Jetzt bist du aber unfair. Ich hab’ dich gewarnt! Stimmt’s? Ich bin doch dort gewesen, als du – nach dem Kraken, meine ich, erinnerst du dich, du bist von der Hafenbrücke heruntergekommen, ich bin dort gewesen, und ich…“ „Okay, okay,“ sagte Chegory, „du hast also…“ „Ich hab’ meine Pflicht erfüllt. In Ordnung? Und das muss reichen!“ „Hör mal,“ sagte Chegory, „wir sind doch miteinander befreundet, oder etwa nicht?“ „Doch, das stimmt schon,“ sagte Ox mit einem Hauch von Verzweiflung. „Aber was machst du bloß hier? Du bist in jede Menge Ärger verwickelt, oh weh, du hast mit Soldaten gekämpft, du hast Leute verbrannt, du hast irgendeine Art von Verrat begangen, du bist im Palast an einem Putsch oder so beteiligt gewesen, du hast…“ „Was faselst du da herum?“ sagte Chegory. „Naja, bist du etwa nicht dabei gewesen? Oben im Palast? Letzte Nacht? Als sie die Revolution gemacht haben?“ „Revolution? Ox, du bist..“ „Aber es ist wahr! Sie haben dort gekämpft, sie haben den Wächtern die Waffen entrissen, sie…“ „Oh, das ist doch bloß ein Krawall gewesen,“ sagte Chegory, „bloß ein wenig…“ „Bloß? Schon für weniger als das kann man dich bei lebendigem Leib verbrennen lassen! Du kannst, naja, die Haie bekommen, weißt du, oder die Messer, du hast ja keine Ahnung, du…“ „Ich hab’ jede Ahnung,“ sagte Chegory. „Ich hab’ Ärger, jede Menge Ärger, ich brauch’ Hilfe, keine…“ „In Ordnung,“ unterbrach ihn Ox. „In Ordnung, lass uns in den Speisesaal hinunter gehen, wir holen uns erstmal etwas Suppe und sprechen dann darüber.“ „Ich hab’ schon gefrühstückt.“ „Dann behalt’ deine Drachen!“ sagte Ox. „Aber ich hab’ noch nichts gehabt. Na los, geh’ schon aus meiner Tür, wie soll ich denn hier herauskommen, wenn du dastehst wie ein, wie ein, naja…“ Chegory seufzte und trat zur Seite. Seite 103 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Woraufhin Ox einen schnellen Schritt rückwärts machte und die Tür zuschlug. Der geistesgegenwärtige Ox hatte die Tür sogar bereits verriegelt, ehe sich Chegory mit seinem ganzen Gewicht gegen die Balken werfen konnte. „Mach’ auf!“ brüllte Chegory, wobei er gegen die Tür trat und hämmerte. Von Ox kam keine Antwort. Chegory trat und hämmerte noch ein wenig weiter. Er machte einen solchen Lärm, dass schließlich etwa drei Zimmer weiter hinten im Korridor ein Mann eine Tür aufriss, um ihm Einhalt zu gebieten. „Was zur Hölle glaubst du eigentlich, was du hier treibst?“ sagte der Mann in einem ausgesprochen fremdländischen Dialekt. „Na?“ Das war ein Ausländer. Irgendein Bursche mit olivgrüner Hautfarbe und kurzgeschnittenen braunen Haaren. Keiner, den Chegory kannte. „Gar nichts,“ sagte Chegory. „Ich verschwinde einfach.“ „Lass ihn bloß nicht abhauen!“ rief Ox, dessen Worte trotz der dämpfenden Balken deutlich hörbar waren. „Aufruhr, Verrat, Mord, Vergewaltigung!“ „Verräter,“ sagte Chegory. Trat dann wie wild gegen die Tür. Schritt dann den Korridor entlang auf den Fremden zu, in der Absicht, sich seinen Weg freizukänpfen, falls der Mann versuchen sollte, ihn aufzuhalten. „Bleib’ doch mal stehen, Junge,“ sagte der Fremde, wobei er aus seinem Zimmer trat. Chegorys Finger zuckten zu seiner Stiefelscheide. Leer! Die andere, die andere, seine Klinge war in der anderen Stiefelscheide. Seine linke Hand huschte nach unten. Die Finger fanden das Heft seines Messers. Zogen das Metall heraus, um zu töten. Seine Messerhand war locker und gesenkt, war bereit, nach oben zuzustechen, um den Bauch aufzuschlitzen oder zwischen den Rippen hindurchzustechen, um Herzblut austreten zu lassen. „Geh’ mir aus dem Weg,“ sagte Chegory. „Ganz ruhig, mein Junge,“ sagte der Fremde. „Nimm das Messer weg, sonst wird sich noch jemand wehtun.“ Es lag keine Angst in der Stimme des Fremden, keine Angst in seiner Körperhaltung, und er machte auch keinerlei Anstalten, ihm aus dem Weg zu gehen. Was für ein Mensch war das also? Irgendein Experte für waffenlosen Nahkampf? Vielleicht. Aber selbst unter eintausend solcher Fachleute gab es höchstens einen, der in der Lage wäre, einen geübten Messerkämpfer zu entwaffnen. „Verpiss dich,“ sagte Chegory. Dann verließ ihn die Sprache, weil sich sein Geist freimachte für Wirkung und Gegenwirkung, weil sich seine Sinne schärften, während sein Herzschlag hämmerte, während seine Schritte Schatten über den Boden warfen, während seine Füße anmutig und schnell dahintrippelten, als er blitzschnell näher glitt, während er seine Klinge von der Linken in die Rechte schleuderte, wo sie sogleich von einer Finte zur nächsten flimmerte, während er auf eine Blöße lauerte, auf die Gelegenheit für einen tödlichen Hieb. Der Fremde mit der olivgrünen Hautfarbe erfasste seine Annäherung mit einem Blick, sah, mit wem er es hier gleich zu tun bekommen würde, und wich dann zurück in sein Zimmer. Schlug seine Tür zu. Chegory wirbelte daran vorbei, drehte sich um, wechselte sein Messer von der Rechten in die Linke, während er in die Hocke ging, weil er damit rechnete, dass der Fremde herausflitzen würde, um zu versuchen, ihn von hinten zu packen. Stattdessen öffnete sich die Tür nicht mehr als einen Spalt. Der Fremde schaute heraus, musterte den Ebrellianer, der sich keuchend in den Korridor gekauert hatte, mit dem Gedanken an Mord in seiner Miene. Seite 104 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Wo hast du den Messerkampf erlernt, mein Junge?“ sagte der mit der olivgrünen Haut. Keine Antwort. „Bist du vielleicht so etwas wie ein Killer?“ „Hör mal,“ sagte Chegory, der den Gebrauch der Sprache wiedererlangt hatte, weil sich sein Herzschlag verlangsamt hatte, „ich will nicht noch mehr Schwierigkeiten, ich will nur von hier verschwinden. Lauf’ mir nicht hinterher, dann werd’ ich dir auch nicht wehtun. Okay? Verstanden?“ „Versuchst du etwa, meinem jungen Freund No Geld abzuknöpfen? Geht es darum? Wieviel schuldet er dir?“ „Hör mal,“ sagte Chegory, „du willst doch bestimmt keine Schwierigkeiten, richtig?“ Gelächter von dem mit der olivgrünen Haut. „Das ist kein blöder Witz!“ sagte Chegory mit Nachdruck. „Ich steck’ tief in der Scheiße, ist mir egal, ob ich, ob ich… dich aufschlitze, das macht mir gar nichts aus, ein toter Mann mehr, zur Hölle, es hat sich alles in Scheiße verwandelt, mein ganzes Leben, hör bloß auf zu lachen, du Blödmann, ich werd’ dir die Fresse zerdeppern, ich werd’ dich zerschmettern, kaputtschlagen, aufschlitzen, töten, zerschnetzeln, zerschmettern…“ Mittlerweile war er am Schreien. Machte all seinem unterdrückten Zorn, Hass und Frust Luft. Und machte der scheußlichen Mordlust Luft, die in den Busen der Ebrellianer heranwächst, die man gezwungen hat, in zivilisierten Städten zu wohnen, wo sie doch für eine solche Lebensweise völlig ungeeignet sind. All die unausgesprochenen Dinge kamen ihm hoch, bis er schließlich unerschöpflichen Hass und unverzeihliche Widerlichkeiten ausspie. Dann war er fertig damit. Er stand schnaufend da. Ein wenig schockiert über sich selbst. Aber der Fremde lachte nur. „Schwierigkeiten!“ sagte der mit der olivgrünen Haut. „Du glaubst also, du bist’s, der hier in Schwierigkeiten steckt?“ Er machte seine Tür etwas weiter auf. Chegory war noch immer auf der Hut, aber nicht mehr kurz davor, einen Mord zu begehen. Statttdessen musterte er den Fremden eingehend und ausführlich. Viel gab es da nicht zu sehen. Ein knochiger Körper mit schmalen Schultern. Braune Haare und olivgrüne Haut, wie bereits vermerkt. Ein merkwürdiges Gesicht, fremdländisch, fremdartig, genauso sonderbar wie sein Dialekt. Ein langes schmales Gesicht, dessen Länge durch die hohen, schräg nach unten verlaufenden Wangenknochen und das spitz zulaufende Kinn noch betont wurde. Schmale Lippen, Hakennase. „Was für ein Problem hast du denn?“ sagte Chegory. Seine Neugier war verständlich. Immerhin lachen nur wenige Leute, wenn sie einem Killer Auge in Auge gegenüberstehen. Ebenso reagieren nur wenige auf gewalttätige Anzüglichkeiten mit einer derartigen Unbekümmertheit, zumindest nicht in Injiltaprajura, wo Pöbeleien üblicherweise dazu führen, schwere Vergehen auszulösen. „Mein Problem?“ sagte der Fremde. „Wenn ich nur ein einziges hätte, könnte ich darüber lachen!“ „Du lachst doch sowieso,“ sagte Chegory. „Was bleibt einem im äußersten Notfall auch anderes übrig? Mir wird man den Verlust des Wunschsteins zur Last legen – und dabei ist das noch das Wenigste.“ „Des Wunschsteins?“ sagte Chegory. „Wie das?“ Seite 105 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Weil ich der Offizielle Hüter des Kaiserlichen Zepters bin, oder etwa nicht?“ „Na schön, wenn du es sagst. Wie heißt du?“ „Du siehst in der Tat den Offiziellen Hüter vor dir. Odolo von Ganthorgruk, zu deinen Diensten. Beschwörer und Sinekurist32. Günstling der Kaiserin Justina, deswegen noch immer am Leben, wenn auch nur knapp. Und was ist mit dir? Mit wem hab’ ich es eigentlich zu tun?“ „Das geht dich überhaupt nichts an,“ sagte Chegory. „Na, komm’ schon! Sei doch nicht so! Wenn du schon in Schwierigkeiten bist, warum willst du sie mir dann nicht anvertrauen? Das kann die Sache wohl kaum schlimmer machen, stimmt’s?“ Chegory zögerte. „Was hältst du davon, wenn wir in den Speisesaal gehen? Na? Um darüber zu reden? Du kannst mir alles erzählen, bei einer Tasse Kaffe oder so. Ich werde zahlen. Geld ist das geringste meiner Probleme, jedenfalls im Augenblick. Zumindest glaub’ ich das selbst – mein Bankdirektor wäre zweifellos anderer Ansicht.“ Chegory zögerte noch immer. „Was hast du eigentlich zu verlieren?“ sagte Odolo. „Wenn ich dich zu meinem Gefangenen machen wollte, könnte ich mit einem Schrei aus meinem Fenster das ganze Schlachthaus dort drüben aufscheuchen. Du würdest hier niemals wegkommen. Na los. Ich will nicht sagen, dass ich dein Freund bin, aber das macht mich ja wohl kaum zu deinem Feind, nicht wahr? Was hast du schon zu verlieren?“ „Okay,“ sagte Chegory, wobei er tief Luft holte, während er den Griff um sein Messer lockerte. „Also gut. Lass uns reden.“ Dann gingen die beiden hinunter in den Speisesaal. Der war praktisch leer, denn die meisten Bewohner von Ganthorgruk, die einer regelmäßigen Beschäftigung nachgingen, waren fort, um zu arbeiten, während sich diejenigen, die alkoholabhängig waren, bereits in die Kneipen davongemacht hatten, es sei denn, sie mussten sich noch im Schlaf von ihren Ausschweifungen des letzten Tages (und der letzten Nacht) erholen. „Gefällt dir der Ausblick?“ sagte Odolo, wobei er zu einem Fenster deutete, von dem aus man ganz Lubos, den Laitemata, Jod, die Säbelinsel, das Außenriff, und den Anblick des blauen und grünen Meeres dahinter sehen konnte. „Ist ganz okay,“ sagte Chegory ohne Begeisterung. Und setzte sich an einen Tisch, während Odolo Kaffee holen ging. Dann begann die beiden miteinander zu reden. Beide waren bis dahin einsame Individuen gewesen, die in ihren individuellen Zwickmühlen isoliert und (zumindest im Augenblick) faktisch jedes Freundes oder Vertrauten beraubt gewesen waren. Beide verspürten eine tiefe Erleichterung, sich gegenseitig ihre Notlage zu gestehen. Der junge Chegory erzählte von seiner Verhaftung, von Schäbbels unerwünschtem Eingreifen, und von seiner anschließenden Flucht, von seiner Wiederverhaftung, von seinem Abtransport in den rosa Palast, um sich dort einem Quieker in der Schatzkammer zu stellen, von dem Aufruhr, von seiner unbeabsichtigten Flucht durch ein Loch in der Wand der Schatzkammer, von seinen langen Wanderungen im Drunten, und von all den Dingen, die in diesem unterirdischen Reich stattgefunden hatten. Seinerseits erzählte Odolo von seinen merkwürdigen Träumen, von denen einige auf Transformationen in der richtigen Welt hingedeutet (oder sie verursacht?) hatten. Er erzählte davon, wie er von dem Kraken im Laitemata geträumt (oder wie er ihn erschaffen) hatte. Von seiner Frühstücksschüssel, die mit einem Gewimmel blauer Skorpione zum Leben erwacht war. Von anderen Transformationen, Transfigurationen und 32 Sinekure bezeichnet ein Amt, mit dem Einkünfte, aber keine Amtspflichten verbunden sind. Seite 106 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Transsubstantionen, die sich seitdem ereignet hatten. Von einer Brotfrucht, die sich plötzlich in eine kurzlebige Kugel roter Ameisen verwandelt hatte. Von einem Schreibpinsel, der Flügel bekommen hatte und dann fortgeflogen war. Von einem Haschkeks, der sich in eine Kirsche verwandelt hatte. „In eine Kirsche?“ sagte Chegory. „Das ist eine Steinfrucht. Von Bäumen, von einer besonderen Art von Bäumen. Schmeckte angenehm. Ich hätte den Kern selbst gern eingepflanzt, wenn ich nicht bezweifeln würde, dass er in diesem Klima überhaupt gedeihen würde. Das ist außerdem noch nicht alles, um das es hier geht. Da sind diese Worte, Worte, mein ganzer Kopf schnappt noch über wegen all dieser Worte, sobald ich mal nicht angestrengt nachdenke, laufen sie einfach Amok, alle möglichen Worte krabbeln mir dann durch den Kopf.“ „Naja,“ sagte Chegory, „vielleicht bist du einfach… naja, du weißt schon, was ich meine. Oder vielleicht hat dir jemand Zen ins Essen getan? Du weißt schon, ich hab’ dir doch alles darüber erzählt. Verschiedenen Leuten soll es, naja, ich will mich hier nicht als Fachmann aufspielen, oder so, aber es hat mit manchen Leuten schon sonderbare Dinge angestellt. Oder aber, was wäre, wenn du ein Wunderwirker wärst? Und würdest das einfach noch nicht wissen? Oder was ist mit dem Wunschstein, übt der denn keine Magie aus? Könntest du dir nicht einfach etwas Magie von ihm aufgegabelt haben? Weil du dich, weil du dich schon so lange um ihn gekümmert hast?“ „An diesem Wunschstein gibt es überhaupt nichts Magisches,“ sagte Odolo. „Er ist, er ist wunderschön, jawohl. Er ist von einer Art leisen Musik umgeben, und sein Inneres ist von Regenbögen erfüllt, die niemals stillstehen, sondern immer in Bewegung sind, eine erstaunliche Helligkeit, wenn du ihn in der Dunkelheit in die Hand nimmst. Aber keine Magie. Was hätte er andernfalls in der Schatzkammer verloren? Die Herrscher Injiltaprajuras würden ihn von früh bis spät einsetzen, um sich die Wünsche ihrer Herrschaft zu erfüllen.“ „Du hast ihn ausprobiert!“ „Ich…“ „Das hast du getan!“ „Ja,“ gestand Odolo, der unerklärlicherweise verlegen wirkte. „Aber meine Wünsche haben sich niemals erfüllt. Das hab’ ich gleich gewusst. Dieses Ding ist ein – naja, ich will mal so sagen, es ist ein altes Ding. Ein sehr altes. Die Leute hier, sie, es ist deshalb, weil es einzigartig ist, dass sie es weggesperrt haben, ich meine, weggesperrt hatten. Ein Spielzeug. Eine Spielerei. Nichts anderes ist es, zumindest für sie. Ein Juwel unter Juwelen.“ „Du sprichst recht leichtfertig über diese äußerst kostbaren Dinge!“ „Du versteht das nicht,“ sagte Odolo. „Was ist das alles schon – dieses Gold, Geschmeide, das ganze Gerümpel? Was macht es eigentlich? Es liegt dort bloß herum, das ist alles. Das ist alles, was es tun kann. Das ist der Grund, warum dein Volk niemals irgendetwas erreichen wird, ihr seid betört vom Anhäufen, von den Dingen, vom Materiellen. Was ihr nicht versteht, das ist, dass es nur der Prozess ist, der zählt. Energie! Die Wechselwirkung von Energien!“ Dabei starrte er Chegory nicht an, sondern durch ihn hindurch. Erblickte irgendetwas. Ein Traumbild vielleicht? Ein in Raum und Zeit weit entferntes Traumbild. „Ich weiß nicht, ob ich verstehe, was du da sagst,“ sagte Chegory, „aber ich merke es, wenn man mich beleidigt hat.“ „Tut mir leid,“ sagte Odolo. Dann schauderte ihm. Als ob ein Geist über sein Grab spaziert wäre. „Was ist denn?“ sagte Chegory. „Ein Flashback?“ „Was ist denn das?“ sagte Odolo. „Wenn du Zen genommen hast,“ sagte Chegory, „dann wirst du diese Flashbacks bekommen, so wie ich in der Dunkelheit, verstehst du. Das sind plötzliche Traumbilder, nichts weiter.“ Seite 107 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Oh,“ sagte Odolo, „ich glaub’ nicht, dass ich Zen genommen hab’. Ich weiß nicht – ich weiß nicht, was ich glauben soll.“ Es kostete ihnen den größten Teil des restlichen Vormittags, sich über solche unbekannten Dinge Gedanken zu machen. Ihre Unterhaltung vertiefte sich dabei mehr und mehr, während sie sich einen Weg durch verschiedene Speisen und Getränke hindurch bahnten, nämlich (um hier ihren gemeinsamen Verzehr statt einer individuellen Aufstellung wiederzugeben) sieben Tassen Kaffee mit Zimtaroma, vier Tassen Tee, drei Teller mit Papadam33, zwei Schüsseln Ziegenfleischbrühe, eine Schüssel Garnelen, und danach (es war zwar noch nicht Mittag, aber sie hatten schon Appetit auf ein Mittagessen) zwei Schüsseln Maniok und ein paar Teller mit frikassierten Möwen, begleitet von weiterem Kaffee. Sie waren gerade mit der letzten Möwe und dem letzten Kaffee fertig geworden, als die Mittagsglocken erklangen, um das Ende von Istarlat und den Beginn von Salahanthara zu verkünden. „Also gut,“ sagte Odolo, schob dabei seinen Stuhl zurück und erhob sich vom Tisch, „wir sollten uns jetzt mal auf die Socken machen.“ „Wohin denn?“ sagte Chegory überrascht. „Zum rosa Palast, natürlich. Die Sitzung zur Beratung der Bittgesuche beginnt in Kürze.“ „Ich werde nicht dorthin gehen!“ „Natürlich wirst du das. Wohin kannst du denn sonst hingehen? Dir sind keine Freunde mehr geblieben, an die du dich noch wenden könntest. Du könntest weglaufen, nach Zolabrik fliehen, dort wieder bei Jal Japone in die Arbeit gehen. Aber du hast mir schon erzählt, dass du das nicht tun willst. Also bleibt dir nur eines übrig. Ein Bittgesuch an die Kaiserin.“ „Aber man würde mich verhaften, wenn ich…“ „Man kann dich nicht verhaften, wenn du…“ „Oh, wenn du ein Bittsteller bist, stimmt, normalerweise, aber es herrscht Ausnahmezustand, da gibt es…“ „Entspann’ dich, entspann’ dich,“ sagte Odolo. „Ich bin überall im Palast als kaiserlicher Günstling bekannt. Du wirst keine Schwierigkeiten bekommen, solange du bei mir bist. Du wirst dir selbst etwas Gutes tun, und mir wirst du auch etwas Gutes tun. Du wirst von der Kaiserin einen Straferlass bekommen, das schwöre ich dir. Besser noch, wenn du ihr von den Piraten mit dem Wunschstein erzählt hast, dann können sich ihre Soldaten endlich auf eine ernsthafte Suche begeben.“ „Naja,“ sagte Chegory, „vielleicht, vielleicht…“ „Ganz bestimmt!“ sagte Odolo. Dann schob der Beschwörer den jungen Chegory aus Ganthorgruk hinaus und in die mittägliche Hitze hinein, in der sie den Skindik-Weg hochliefen, in einem der Hitze angemessenen Tempo, und dann die Lak-Straße hinauf zu dem rosa Palast, der in seiner ganzen Pracht hoch droben auf dem Pokra-Kamm stand. 33 Fladen aus Linsenmehl Seite 108 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 15 „Falls das nicht funktioniert,“ sagte Chegory, während sie sich schwitzend die Lak-Straße hinaufmühten, „dann bin ich erledigt.“ „Entspann’ dich,“ sagte Odolo. „Welche Fehler sie sonst auch haben mag, barmherzig ist Justina jedenfalls, soviel muss ich ihr zugestehen. Du wirst deinen Straferlass bekommen.“ „Sicherlich. Oder man wird mir auf der Stelle den Kopf abhacken. Vielleicht ist das doch keine so gute Idee.“ „Willst du dich also auf den Weg nach Zolabrik machen?“ „Das ist meine andere Option, stimmt’s?“ „Es gibt eine dritte.“ „Ach ja?“ sagte Chegory. „Erzähl mir mehr davon!“ „Du arbeitest doch auf Jod, stimmt’s? Also kennst du den Beherrscher dieser Insel. Warum versuchst du nicht von ihm Hilfe zu bekommen?“ „Es hat keinen Sinn, dorthin zu gehen,“ sagte Chegory. „Ivan Pokrov ist im Gefängnis, das hab’ ich dir doch erzählt.“ „Aber an ihn hab’ ich dabei nicht gedacht,“ sagte Odolo. „An wen dann?“ „Natürlich an den Einsiedlerkrebs!“ Chegory schauderte es. „Du,“ sagte er, „musst verrückt geworden sein. Hast du dieses Scheusal jemals gesehen?“ „Nein, aber..“ „Es ist, wie soll ich sagen, es ist angsteinjagend, das ist das richtige Wort. Wenn du weißt, was es schon angestellt hat, dann ist es nicht bloß angsteinjagend, sondern durch und durch furchterregend. Ich muss diesem Ding Fleisch und anderes Zeug geben. Oh Scheiße! Und das hab’ ich nicht getan! Es hat sein Mittagessen verpasst, das ist, das ist, bei allen Göttern, vielleicht stülpt es gerade in diesem Moment den Leuten das Innerste nach außen.“ Chegory drehte sich um. Ein herrlicher Weitblick! Aber er verschwendete keine Zeit damit, ihn zu bewundern, denn seine Augen galten nur Jod. Es war noch immer vorhanden. Das war immerhin etwas! Die Marmorgebäude des Analytischen Instituts waren immer noch da, und das galt auch für die Hafenbrücke. Aber wie lange würde es noch dauern, bis der Einsiedlerkrebs seiner aufgestauten Wut Luft machen und die Insel vollständig auf den Kopf stellen würde, bis er sie in unzählige winzige Steinsplitter zerschmettern würde? „Mach’ dir keine Sorgen,“ sagte Odolo. „Jemand anders wird schon deinen netten kleinen Freund mit Essen versorgen. Oder ist er etwa heilig? Gibt es vielleicht ein heiliges Ritual, bei dem du der Priester bist?“ „Priester?“ sagte Chegory verwundert. „Ich? Nein, und das ist er nicht, er ist nicht heilig, aber hier geht’s um – um – hier geht’s um Vertrauen, darum geht’s hier, Tausende von Leuten, ganz Injiltaprajura, sie alle haben mir diese Aufgabe anvertraut, und deshalb, ja, deshalb ist diese Sache heilig, darum geht es, um heiliges Vertrauen, und ich hab’s vermasselt, der Krebs ist in diesem Moment dabei, zu verhungern, er ist…“ „Aber jemand anders wird doch…“ „Das werden die nicht! Das sind alles Sklaven, so schaut’s nämlich aus, die haben nicht mehr Grips als eine Kokosnuss, oder das sind verrückte Algorithmiker, bloß Zahnräder und Rollen und Binärlogik, an was anderes Seite 109 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 können die nicht denken, nein, die denken nicht daran, wie sie ihre zwei Arme und zwei Beine behalten können, wie sie es verhindern können, dass ihr Innerstes nach außen gestülpt wird, an solche Sachen, an solche wichtigen Sachen denken die nicht. Ich sollte lieber…“ „Du solltest lieber mit hineinkommen,“ sagte Odolo, der auf onkelhafte Weise versuchte, seinen angespannten jungen Begleiter zu beruhigen. „Wenn du dich mit heiligem Eifer deiner Aufgabe, der Verpflegung unseres ortsansässigen Krustentiers, widmen willst, dann solltest du dich am besten zunächst um dich selbst kümmern.“ Mit solchen Worten überredete der kaiserliche Günstling den jungen Chegory, die Stufen zu erklimmen und zwischen den Portalen des rosa Palastes hindurchzutreten. „Um was geht’s?“ sagte ein Wächter, einer von sieben, die in der Eingangshalle ihren Dienst verrichteten. „Bittgesuche,“ sagte Odolo und nickte freundlich, und er führte Chegory weiter. Einer der Wächter hatte ein blaues Auge und einen kräftigen Bluterguss an einer Wange, was darauf hindeutete, dass er einer der Bedauernswerten gewesen war, die während des Aufruhrs in der Schatzkammer in der kaum vergangenen letzten Nacht überwältigt worden waren. Chegory rechnete damit, dass sich der Mann auf ihn stürzen und ihn verhaften würde, aber nichts dergleichen geschah. „Hier hinauf,“ sagte Odolo. „Die Treppe hinauf.“ Sie liefen die Treppe hinauf zum Großen Saal, in dem die Sitzung zur Beratung der Bittgesuche bereits begonnen hatte. Einen Augenblick lang flackerte die ganze Welt, und Chegory bildete sich ein, er würde ein zahnreiches Ungeheuer erblicken, das auf ihn zukam, um seinen Durst am Fleisch des Ebrellianers zu stillen. In diesem Augenblick wackelte die Wirklichkeit. Selbst während sie das tat, wusste er, was er gerade durchmachte: einen Flashback als Folge seines nächtlichen Genusses von Zen. Dann verfestigten sich die Umrisse dieser Welt wieder zum Alltäglichen, Gewöhnlichen, Erwarteten, Wahrscheinlichen. Zum Großen Saal mit unangezündeten Lüstern, die von seiner hohen Decke herabhingen. Darin ein unbändiges Gedränge von Bittstellern, die von Wächtern mit gezückten Krummsäbeln im Zaum gehalten wurden. Kaiserin Justina, die erhöht auf einem Thron aus Ebenholz saß. Ihr weißer Affe Vazzy, der gerade im Moment weggeschafft wurde, nachdem er ein paar (vorübergehend) unverzeihliche Missetaten begangen hatte. Ausdruckslose Sklaven standen zu beiden Seiten des Throns und betätigten mit ihrer Muskelkraft riesige gefiederte Fächer, um die Herrscherin Injiltaprajuras zu kühlen. So sehet also Justina! Voll ihre Lippen, und groß ihre Nase, hoch ihre Stirn, und füllig ihre Wangen. Kolossal sind ihre Brüste, deren Gewicht die karminrote Seide gefährdet, in der sie eingebunden sind. Stramm sind ihre Schenkel, und dick ihre Handgelenke. Sie ist gewiss die Tochter eines mächtigen Vaters! Hinter Justinas Ebenholz-Thron stand ein großer Käfig mit Gittern aus schwarzem Eisen. Selbst Chegory Guy wusste, dass das ein Hungerkäfig war. Er war schon seit langer Zeit nicht mehr in Gebrauch, da sich Justina treu an die Traditionen ihrer Vorfahren hielt, und die Yudonischen Ritter bevorzugten nun einmal disziplinarische Lösungen, die zu scharfen und blutigen Todesfällen führten, statt zu den auserlesenen Formen langsam fortschreitender Todesqualen, die die Fachkundigen des Izdimir-Reichs zu einer solchen Perfektion gebracht hatten. Trotzdem glitzerte das Schloss an der Tür zu jenem Käfig mit einem öligen Schimmer, der von einer liebevollen Instandhaltung kündete. „Hier entlang,“ sagte der Beschwörer Odolo. Chegory ließ sich führen. Ihm stand der Mund weit offen. Er starrte auf die Kriegsschilde an den Wänden. Die Schilde waren Objekte puren Zorns, die mit den blutigen Wappen der Yudonischen Ritter von Wen Endex verziert waren. Ein Durcheinander aus grässlichen Kiefern, Schädeln, Knochen, allerlei Enthauptungen, Zerstückelungen und Amputationen, triefendem Blut und Schlimmerem. Odolo, der sich den Vorteil seiner Stellung als kaiserlicher Günstling zunutze machte, führte den jungen Chegory schon bald sehr viel näher zum Stuhl der Gnade, als er andernfalls im Verlauf des gesamten Nachmittags gekommen wäre. Die Sitzung zur Beratung der Bittgesuche hatte nämlich diesmal eine ungewöhnlich hohe Zahl an Bittstellern angelockt, weil die Suchaktionen, Ergreifungen, Razzien, Verhaftungen, Ermittlungen und Verhöre in den letzten fünf Tagesvierteln eine außergewöhnliche Anzahl von Verbrechern, Seite 110 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Sündern, Gesetzesbrechern, Steuerhinterziehern, Deserteuren, Verrätern, Drogenhändlern, Missetätern, Vandalen, Straftätern, Ausreißern, Müßiggängern, Betrügern, Eidbrechern und Veruntreuern aus ihren Höhlen, Abwasserkanälen, Kellern, Schlupfwinkeln, Löchern, Mansarden, Verstecken und Hausbooten gespült hatten. Unter denjenigen, die sich in der Nähe der Krummsäbel dicht zusammendrängten, fiel ein großer Mann auf, der völlig mit Brandnarben übersät war. Wo ihm seine Haut geblieben war, konnte man die Übrigbleibsel einstmals prächtiger Tätowierungen von Drachen, Seeschlangen und Ähnlichem sehen. „Wer ist das?“ sagte Chegory und deutete dabei auf den Mann. „Uckermark, der Leichenmeister. Ein regelmäßiger Besucher.“ „Warum?“ „Er verstößt ständig gegen die ein oder andere Religion.“ „Ist er ein – ein Gotteslästerer?“ „Nein, das liegt bloß an seinem Beruf. Das…“ Chegory sollte niemals eine Erklärung der theologischen Streitfragen erhalten, die den reibungslosen Arbeitsfluss eines Leichenmeisters beeinträchtigen (gewisse Behandlungen der Toten, die für manche Religionen unerlässlich sind, sind anderen ein Gräuel, und Injiltaprajura ist in der Tat reich an unterschiedlichen Religionen), weil er ihn mit den Worten unterbrach: „Bei allen Göttern!“ „Was gibt’s?“ „Nur jemand, den ich kenne.“ „Wen?“ „Oh, niemand, niemand, mach’ dir deshalb keine Gedanken.“ Der Jemand, der Niemand war, war in Wirklichkeit Chegorys Onkel Dunash Labrat, rechtschaffener Bienenzüchter und pflichtbewusster Steuerzahler, der sich in Begleitung seines Sohnes Ham einen Weg durch die Menge bahnte. Sie hatten Teile ihrer Imkerausrüstung dabei, denn im rosa Palast schwärmten Bienen herum, und man hatte die beiden herbestellt, um sie zu entfernen. Chegory tat sein Bestes, sich unauffällig zu verhalten. Das war genauso, wie er es befürchtet hatte! Öffentliche Aufmerksamkeit! Die Schwierigkeit, in vollem Blickfeld seines Onkels der Kaiserin Justina seine Lage zu schildern sowie die Umstände, die dazu geführt hatten! Ein Albtraum war wahr geworden! Doch dann waren die Labrats fort, weil sie sich im Geleit eines Wächters befunden hatten, der sie tiefer in den Palast hineingeführt hatte, und Chegory konnte wieder viel leichter atmen. „Na schön,“ sagte er, voller Eifer, sein Martyrium schleunigst hinter sich zu bringen, jetzt, wo man ihn unwiderruflich auf den Pfad der Bittsteller geschubst hatte, „was sollen wir also tun? Sollen wir uns vor diese Leute dort hindrängeln?“ „Nein,“ sagte Odolo. „Wir warten einfach ab. Die Kaiserin legt regelmäßige Pausen ein. Dann werden wir uns an einem ungestörteren Ort mit ihr treffen und ihr deinen Fall vorbringen, ohne dass sich der Pöbel mit seiner ungebetenen Meinung einmischen kann.“ Mehr Glück als Verstand! Das war weitaus mehr, als Chegory je zu hoffen gewagt hätte! Eine Privataudienz bei Justina, oh ja, das war der richtige Weg. Er könnte alles sagen, ihr alles beichten, in der Gewissheit, dass es nicht im Handumdrehen auf den Straßen in aller Munde sein würde. Unter solchen Seite 111 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Umständen wollte er es als Vergnügen und zugleich als Vorrecht betrachten, seine Seele vor seiner Kaiserin zu entblößen. Justina, die Barmherzige! Justina, die Gute! Heiligste aller Herrscherinnen, Gesegnetste aller Gesetzgeber! Man muss sich nicht auf eine ausgedehnte Suche begeben, um die Quelle für eine solch außergewöhnliche Königsliebe zu finden. Es war immerhin die Familie Thrug gewesen, die Wazir Sin gestürzt hatte, jenen leidenschaftlichen Pogromisten, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, zuerst die Ebbies auszumerzen, und danach andere Volksgruppen. Hätte Lonstantine Thrug hier nicht eingegriffen, und hätte Justina im Anschluss daran nicht an der Politik ihres Vaters festgehalten, dann würde Chegory Guy immer noch das Leben eines gejagten Tieres in der Ödnis von Zolabrik führen. Deshalb war Chegory ein Patriot, ein Royalist, und ein getreuer Untertan der kaiserlichen Herrschaft. Chegory wartete ungeduldig, während die Kaiserin sich um einen Bittsteller nach dem anderen kümmerte. Überrascht erblickte er dann jemanden, den er wiedererkannte, als der vortrat, um seine Sache vorzutragen. Er war überrascht? Warum, so fragen Sie, war er denn überrascht? Er war immerhin ein Ebrellianer, und deshalb waren Drogenhändler und Gesetzesbrecher aller Art seine üblichen Gefährten. Sicherlich hätte er damit rechnen können, an einem derart geschäftigen Tag viele der Bittgesuche stellenden Missetäter wiederzuerkennen. Wenn Sie den jungen Chegory bereits vorschnell verurteilt haben, dann ist ihr vorschnelles Urteil keineswegs fehl am Platz, denn Chegory war, wie diese Chronik bereits aufzeigt hat, ein typischer Vertreter seiner Art. Trotzdem war seine Überraschung vollkommen gerechtfertigt, denn der Mann, der in diesem Augenblick vor Kaiserin Justina treten wollte, war kein gewöhnlicher Bittsteller. Nein, das war nämlich der Elfenfürst, dem Chegory in der gerade vergangenen Nacht im Drunten begegnet war. Oder das war vielmehr die Person, die Chegory fälschlicherweise als Elfenfürst identifziert hatte, aufgrund der glitzernden Fischschuppen-Rüstung, die er im Untergrund getragen hatte. Der fragliche Mann war in Wahrheit Pelagius Zozimus, ein Zauberer vom Orden von Xluzu und der Questen-Gefährte von Guest Gulkan (dem angeblich rechtmäßigen Herrscher von Tameran), Hostaja Sken-Pitilkin (einem Zaubererkollegen) und Thayer Levant (einem Mordgesellen aus Chi’ash-lan). Für die Sitzung zur Beratung der Bittgesuche hatte Pelagius Zozimus auf seine wundervolle FischschuppenRüstung zugunsten einer schlichten hellgrünen knöchellangen Robe verzichtet. Ein Sprachgelehrter hatte bereits ermittelt, wie gut er Toxteth verstehen und sich darin ausdrücken konnte, und eben in diesem Moment verwendete ein Wächter diese Sprache, um Chegorys „Elfenfürsten“ die übliche Frage zu stellen: „Befinden sich in Ihrem freiwilligen oder unfreiwilligen Besitz irgendwelche Messer, Ahlen, Stricknadeln, Drachenhaken, Schwerter, Speere, Bögen, Katapulte, Arbalesten, Kampfstäbe, Rammböcke, Schlangen, Skorpione, Basilisken, Giftphiolen oder andere Waffen des Todes oder des Schreckens oder der Gewaltausübung?“ Woraufhin Zozimus diese Frage verneinte und einer raschen, aber fachkundig ausgeführten Durchsuchung unterzogen wurde, wonach man ihm erlaubte, der Kaiserin einen Schritt näher (aber nicht zu nahe!) zu treten. Mit ihm zusammen schritt der kaiserliche Sprachgelehrte voran. Elfenfürst und Sprachgelehrter verbeugten sich. „Toxteth,“ sagte der Sprachgelehrte, verbeugte sich dann erneut und zog sich zurück. Chegory war entsetzt, als er sah, dass sich der Elfenfürst kaum eine Hiebweite entfernt von Kaiserin Justina befand. Allein und ohne Begleitung. Was hatte dieser fremdartige Ausländer mit seiner geliebten Kaiserin vor? Welcher Verrat war hier gerade in Gang? Der Elfenfürst verbeugte sich erneut. „Sprechet,“ sagte Justina, dann das war ihre Art, sich auszudrücken. „Holder Stern Injiltaprajuras,“ sagte er, „gnädigste aller Töchter von Wen Endex, überaus…“ Seite 112 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Ja, ja,“ sagte Justina ungeduldig, „das hab’ ich alles schon mal gehört. Erzählet mir etwas, dass ich noch nicht weiß. Komm’ zur Sache, Mann!“ „Ich flehe Euch um Eure Vergebung an, für gewaltige Sünden, für nahezu unverzeihliche Verbrechen,“ sagte der Elfenfürst. Chegory entspannte sich. Also hatte der Missetäter vor, alles zu beichten. Er würde der Kaiserin gestehen, dass er nach Injiltaprajura gekommen war, um zu versuchen, den Wunschstein zu entwenden. Chegory wusste, dass das die wesentliche Absicht des Elfenfürsten und seiner Gefährten gewesen war, denn sie hatten ihm genau das erzählt, als sie ihn im Drunten gefangengenommen hatten. „Flehet weiter,“ sagte die Kaiserin. „Ich heiße Pelagius Zozimus,“ sagte der Elfenfürst. „Lange Zeit habe ich in der Ödnis der Skorpionswüste gelebt. Dort habe ich zu meinem Bedauern dem bösen Kriegsherrn Jal Japone gedient. Dieser Beschäftigung bin ich nun entflohen, um hierher zu kommen und Euch um Vergebung anzuflehen.“ „Wie hast du Japone gedient?“ sagte die Kaiserin. „Ich bin sein Chefkoch gewesen,“ sagte Pelagius Zozimus, „denn darin liegt nun einmal mein Talent. Ich bin ein Meisterkoch, der unübertroffene Fürst von siebenundzwanzig Arten von Tafelfreuden. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Eure Majestät für so jemanden eine freie Stelle hat.“ „Aber ja, das tun wir,“ sagte die Kaiserin, deren Entzücken sich klar und deutlich in ihrem Gesicht abzeichnete. „Begnadigt und angestellt! Mein Hausverwalter soll dir zeigen, wo…“ „Obacht!“ rief ein Wächter. „Ein Ebbie!“ Denn Chegory Guy wühlte sich soeben durch das Getümmel auf den Thron zu. Mordlust stand deutlich in seiner Miene geschrieben. Seine Absicht war es, noch in demselben Tagesviertel für den Tod von Zozimus zu sorgen. Den arglistigen Dieb öffentlich anzuprangern, der mit atemraubender Dreistigkeit seinen Weg in den Schoß des kaiserlichen Haushalts erschwindelt hatte. Zu beschwören, dass Zozimus kein Diener von Jal Japone war, sondern ein habgieriger Plünderer von jenseits des Meeres, ein Verschwörer im Verein mit noch gefährlicherem Gesindel. Dergestalt war Chegorys Absicht. Doch bevor der junge Ebrellianer überhaupt nennenswert in die Nähe des Throns gelangen konnte, gingen die Wächter auf ihn los, er wurde geschnappt, zur Umkehr gezwungen, geboxt, mit Füßen getreten, geschlagen und seiner einzigen Waffe entledigt – des Messers, das er Drunten gefunden und in einer Stiefelscheide versteckt hatte. „Eine Klinge!“ rief ein Soldat und fuchtelte dabei mit der Waffe herum, damit sie alle sehen konnten. Bei ihrem Anblick erzwang sich der Leichenmeister Uckermark einen Weg nach vorne. „Haltet ihn, haltet ihn!“ schrie ein mit Krummsäbel bewaffneter Krieger. Chegory wurde festgehalten. Seine Arme und Beine wurden in vier verschiedene Richtungen gezerrt. Er trat um sich, wand sich hin und her, zappelte und zuckte. Alles vergebens. Irgendwer hatte ihn bei den Haaren gepackt und zog fest daran, in der Hoffnung, ihm zwecks einfacherer Enthauptung den Hals zu strecken. „Passt auf, dass eure Hände nicht im Weg sind!“ rief der Krummsäbler. „Wartet!“ sagte der Leichenmeister Uckermark. Aber niemand schenkte diesem stark vernarbten und stark tätowierten Mann auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Jedenfalls solange nicht, bis er den bereits nach unten hackenden Krummsäbler gepackt und zur Seite gestoßen hatte. Im nächsten Moment waren ein Dutzend Klingen blank. Seite 113 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Hört auf damit!“ rief die Kaiserin Justina. Auch ihr schenkte niemand Aufmerksamkeit. Deshalb sprang sie auf, schnappte sich den nächststehenden Sklaven und stürzte sich ins Getümmel, wobei sie mit dieser praktischen Waffe nach links und rechts Hiebe austeilte, bis sie triumphierend allein auf dem Schlachtfeld stand, mit benommenen Kämpfern in liegenden Stellungen zu ihrer Linken wie zu ihrer Rechten. [Man kann berechtigte Zweifel haben, dass die oben beschriebene Schlacht tatsächlich so stattgefunden hat. Erstens pflegt man an Höfen kaiserlicher Macht die leisesten Worte des Herrschers augenblicklich zu befolgen, selbst wenn dieser Herrscher eine Frau ist. Zweitens ist das Justina hier zugeschriebene Verhalten nicht in Übereinstimmung mit ihrem Geschlecht. Ebenso aufschlussreich ist dieser Gebrauch eines menschlichen Körpers als Waffe, der schon einmal beschrieben worden ist (der Kraftprotz Tolon soll angeblich Chegory in dieser Weise gebraucht haben, als er gegen die Soldaten im Drunten gekämpft hat), und später wird noch eine dritte Partei beschrieben (und zwar mit nahezu den gleichen Worten), die auf ähnliche Weise von einer Waffe Gebrauch machen wird. Man wird zu der Annahme verleitet, dass die fraglichen Konflikte mit viel weniger Melodrama beigelegt worden sind, als einen der Text glauben machen möchte, und dass der Gebrauch menschlicher Körper als Waffen in einer Schlacht bloß eine Ausgeburt der gewalttätigen Fantasien des Urhebers ist. Sot Dawbler, Kommentar-Schule.] „Wenn ich sage, hört auf damit,“ sagte Justina, „dann meine ich auch, hört auf damit! Will das vielleicht irgendwer bestreiten?“ Da niemand irgendeinen Wunsch erkennen ließ, sich auf einen weiteren dialektischen Diskurs einzulassen, ließ Justina ihren Sklaven fallen, der daraufhin völlig erschöpft fortkrabbelte. „In Ordnung!“ sagte Justina, die dabei ihre Brüste in die Umhüllung aus karminroter Seide zurückstopfte, aus der sie während ihrer strapaziösen Bemühungen geschlüpft waren. „Wir wollen jetzt ein paar Erklärungen hören!“ [Das ist eine amüsante kleine Anekdote, obwohl ihr eine ähnliche Heiterkeit wie in der Erzählung des Urhebers über Theodora und ihren Gebrauch von Küken abgeht. Auch wenn diese Anekdote amüsant ist, so kann sie dennoch kaum den Tatsachen entsprechen. Einmal mehr müssen wir feststellen, dass die Fantasie des Urhebers die historische Wahrheit verzerrt, die dem Text zugrunde liegt. Eine Frau, ob nun Kaiserin oder etwas anderes, ist niemals so gleichgültig über die öffentliche Zurschaustellung ihres Körperbaus. Wird ihre Scham entblößt, reagiert sie darauf mit panischen Zuckungen, mit Erröten und entzückendem sorgenvollem Kreischen. Ich selbst habe das bei zahlreichen Gelegenheiten beobachten können. Wir dürfen annehmen, dass, falls Kaiserin Justina in der beschriebenen Weise bloßgestellt worden wäre, sie gezwungen gewesen wäre, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, um ihr Schamgefühl zu bewältigen und ihre Fassung wiederzugewinnen. Sot Dawbler, Kommentar-Schule.] [Man ist schockiert, wenn man feststellen muss, dass so ein Ehrwürdiger wie Sot Dawbler die Anstößigkeiten, die er im Text unmittelbar oberhalb dieser Stelle entdeckt hat, für amüsant hält. Oder ebenso die Erzählung über Theodora und ihre Küken, die, weil sie die abscheuliche und widerwärtige Erfindung eines offensichtlich Geisteskranken ist, aus diesem Text auf meine Anweisung hin vollständig beseitigt worden ist. Drax Lira, Chefredakteur.] Der Leichenmeister Uckermark war der erste, der sich wieder soweit erholt hatte, dass er reden konnte. „Dieser Junge,“ sagte er, „dieser Junge ist mein Lehrling. Er hat, er hat Anfälle völliger Ahnungslosigkeit, aber er ist ein guter Junge, Eure Hoheit, und das Messer, das er bei sich gehabt hat, ist nur ein Teil seines Handwerkszeugs. Wenn wir hier verschwinden dürfen, werde ich ihn tüchtig züchtigen, sobald wir zurück im Leichenladen sind. Ich bitte Euch nur um eins – dieses Messer, meine Herrin. Es ist der Arbeit an Leichen geweiht, und deshalb heilig, und deshalb können wir es bitte zurückhaben?“ Justina dachte darüber nach. Chegorys Schicksal hing in der Schwebe. Glücklicherweise war der Leichenmeister Uckermark ein Bekannter Justinas. Ein guter Bekannter. Ein äußerst guter Bekannter. In Wahrheit übertraf der Grad der Bekanntschaft, die zwischen der Kaiserin und dem Seite 114 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Leichenmeister herrschte, bei weitem jene Grenzen behutsamer Schicklichkeit, die eigentlich die Beziehungen zwischen weiblichen Personen kaiserlichen Standes und männlichen Personen unterer Schichten bestimmen sollte. Folglich war Justina geneigt, ihrem treuen Untertan Uckermark diesen Wunsch zu erfüllen. Und sich nebenbei auch selbst etwas zu gönnen. Aber zunächst hatte sie ein paar Fragen. „Dieser Junge,“ sagte sie, „ist er denn auch ein keuscher junger Mann?“ „Oh, er ist sehr keusch,“ sagte Uckermark. „Ein echte Jungfrau.“ „Ist er fit?“ sagte Justina. „Ist er gesund?“ „Garantiert ist er zu den kraftraubendsten Anstrengungen in der Lage,“ sagte Uckermark. „Hat er Tischmanieren gelernt?“ sagte Justina. „Das hat er,“ sagte Uckermark. „Solltet Ihr den Wunsch verspüren, ihn als Gast bei einem Bankett bei Euch zu haben, werde ich persönlich für eine gründliche Überprüfung dieser Manieren sorgen.“ „Du hast meine Gedanken ganz genau erraten!“ sagte Justina und klatschte dabei entzückt in die Hände. „Dann soll der Junge heute Abend mit mir tafeln. Und du sollst ihn zu diesem Bankett begleiten.“ Dann nahm die Kaiserin wieder auf gesittete Weise Platz auf ihrem Thron, ihre Sklaven nahmen wieder die Arbeit an den Fächern auf, und Uckermark erhielt das Messer zurück, das man unlängst dem jungen Chegory Guy abgenommen hatte, und schob seinen völlig verdatterten Gefangenen mit sich hinaus. Chegory warf dem Beschwörer Odolo einen flehenden Blick zu, aber der kaiserliche Günstling spreizte nur seine Hände in einer Geste, die seine ratlose Verwunderung ausdrücken sollte. Seite 115 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 16 Chegory war von der Tatsache, dass das Schicksal all seine Erwartungen ins Gegenteil verkehrt hatte, und von der reinen Geschwindigkeit der Ereignisse, die sein alltägliches Leben über den Haufen geworfen hatten, so sehr am Boden zerstört, dass er keine einzige Frage stellte, während ihn Uckermark aus dem rosa Palast hinausmarschieren ließ, und dann die Lak-Straße hinab bis zum Kabalenhaus der Wunderwirker von Injiltaprajura, den Skindik-Weg hinab und dann durch die engen Gassen von Lubos bis zum Leichenladen. „Das ist mein Haus,“ sagte Uckermark, als sie dort angekommen waren. „Nicht mehr lang,“ sagte Chegory. „Es steht ja in Flammen!“ Die Tür stand einen Spaltbreit offen – und aus dem Inneren drang schwarzer Rauch heraus. Doch Uckermark lachte nur und zog die Tür weit auf. Chegory trat zurück, weil Wolken dichter beißender Dämpfe nach außen quollen. „Komm rein, komm rein,“ sagte Uckermark. „Sie sind verrückt!“ sagte Chegory, hustend und würgend. Als dann der Rauch ein wenig dünner wurde, sah er, dass die Dämpfe aus großen doppelhenkligen Töpfen herausströmten, die man gleich im Inneren aufgestellt hatte. „Rein,“ sagte Uckermark. „Aber – aber der – aber warum der ganze Rauch?“ „Weil Fliegen nun mal Fleisch mögen,“ sagte Uckermark. „Rein, damit ich die Tür schließen kann.“ Chegory ging hinein. Uckermark legte Deckel auf die Rauchtöpfe und schloss die Tür dann vollständig. Als Chegory sein Husten und Weinen beendet hatte (der Rauch reizte die Augen auf teuflische Weise), begann er sich umzuschauen, um sich zurechtzufinden. Überall, wo er hinschaute, war der Tod. Chegory hatte in seinem Leben schon ein paar tote Körper gesehen, aber der Leichenladen war etwas völlig anderes, denn er war mit verwahrlosten Toten überfüllt. Zu Tausenden schwirrten Fliegen, wie wahnsinnig vor ungestilltem Verlangen, an der Außenseite der Gaze, die die Fenster vor ihrem Eindringen versiegelten. Überall waren Gliedmaßen, Knochen, Eimer voller Blut, gut sortierte Organe, die aus Säcken herausquollen, Köpfe, die ihres Anschlusses beraubt waren, nicht identifizierbare Rümpfe, und Schlimmeres. Vor allem der Geruch! Der Schlacht-Gestank war schlimmer als der Brechreiz verursachende Geruch, der von den hilflosen Dementen aufstieg, die in der Dromdanjerie im Kriechkeller Sieben eingeschlossen waren. Chegory wurde übel davon. Uckermark ließ kein Unbehagen erkennen, was verständlich war; dem Leichenmeister fehlte jeglicher Geruchssinn, weil ihm dieser Sinn restlos zerstört worden war, als das Feuer sein Gesicht verwüstet hatte. „Setz dich!“ sagte Uckermark knapp und deutete dabei auf einen Hocker. Chegory setzte sich, versuchte dabei, nicht auf den Haufen unbeschreiblicher Übrigbleibsel in der Schale neben seinen Füßen zu blicken. „Vielen Dank… vielen Dank, dass Sie mich gerettet haben,“ sagte Chegory verlegen. „Ich hab’ dich nicht gerettet,“ sagte Uckermark. „Ich hab’ das hier gerettet.“ Er meinte das Messer. Ein hübsches Teil: azurblaues Heft, seladongrüne Klinge. „Das,“ fuhr er fort, „darf keine unerwünschte Aufmerksamkeit erregen, sonst muss sich der Kalligraphenbund nach einem neuen Erkennungszeichen umsehen.“ „Der… der Kalligraphenbund?“ sagte Chegory. Seite 116 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Du kennst ihn gar nicht?“ sagte Uckermark bestürzt. „Wen soll ich kennen?“ sagte Chegory. „Also kennst du ihn nicht! Bei allen Göttern, ich wünschte, ich hätte – Scheiße! Das Bankett. Ich muss dich zum Bankett bringen.“ „Warum ist das so schrecklich?“ sagte Chegory. „Weil das bedeutet, dass ich dir nicht einfach deinen diebischen Hals aufschlitzen und deine Leiche in einen Abwasserkanal werfen kann!“ sagte Uckermark. „Ich bin kein Dieb!“ protestierte Chegory. „Wie hast du dann dieses Messer bekommen?“ „Ich hab’s gefunden, was sonst?“ „Gefunden!“ „Das ist wahr! Was ist überhaupt so besonders an diesem Messer? Dieses – wie war das, etwas für diesen Bund, Kalligraphie, da geht’s um Schönschrift, stimmt’s? Für so etwas gibt’s einen Bund? Hören Sie, ich bin da keine Konkurrenz, ich selbst kann kaum schreiben, abgesehen von Ashmarlan, aber wer verwendet schon Ashmarlan, ich meine, ein paar Ashdans schon, aber, aber…“ „Sei still!“ sagte Ushermark. „Hör auf mit diesem Gelaber! Beantworte einfach meine Fragen. Du wirst zu gegebener Zeit alles begreifen – wenn du am Leben bleibst. Wenn du am Leben bleiben willst, dann verrate mir bitte, wie du an dieses Messer gekommen bist.“ „Oh, das ist eine lange Geschichte, eine lange Geschichte,“ sagte Chegory. „Eine schreckliche Geschichte, Sie würden mir nicht glauben, aber sie ist wahr, ich werde Ihnen die volle Wahrheit sagen. Dort drunten sind Haimäuler gewesen, verstehen Sie? Die sind dagewesen, nachdem ich den Marodeuren vom Volk der Malud begegnet bin, oder ist das, nein, ich bin zuerst dem Elfen begegnet, er ist im Augenblick ein Chefkoch oder tut zumindest so, aber Drunten hat er eine komplette Rüstung getragen, die ihm hübsch wie eine Fischhaut gepasst hat, er hat wie ein Elfenfürst aus den Legenden ausgesehen. Verstehen Sie…“ So begann Chegory in aller Eile sämtliche Geheimnisse seines Lebens auszuspucken. Uckermark hob eine Hand, um sein unkontrolliertes Geplapper anzuhalten. „Wir sollten uns das lieber häppchenweise vornehmen,“ sagte Uckermark. „Wo hast du das Messer zum ersten Mal in die Hand bekommen?“ „Im Dunkeln,“ sagte Chegory. Was die Wahrheit war, aber nicht besonders aufschlussreich. „Red’ keinen Unsinn!“ sagte Uckermark. „Das versuch’ ich ja, das versuch’ ich ja! Aber Sie – Sie – dieser Gestank, diese Fliegen, die – was glauben Sie denn, was ich…“ Uckermark seufzte. „Beruhig’ dich,“ sagte der Leichenmeister. „Ganz locker, jetzt! Wir werden eine kleine Medizin ausprobieren, vielleicht wird die dich entspannen.“ Mit diesen Worten ergriff der Leichenmeister eine kleine Tasse aus Eierschalen-Porzellan, füllte sie mit einer klaren Flüssigkeit und reichte sie dann Chegory. Der sie sorglos austrank. Er hustete und prustete. Es fühlte sich an, als ob flüssiges Feuer seine Kehle hinabgeronnen war. Er schaute die halbvolle Tasse voller Entsetzen an. Seite 117 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Das war Alkohol! Ein rechtschaffener, gesetzestreuer junger Mann hätte dem Leichenmeister das dreckige Zeug ins Gesicht geschleudert. Aber Chegory Guy war ein Ebrellianer. Nach einer Pause, um wieder Luft zu bekommen, stürzte er deshalb den Rest des Fusels mit einem einzigen Schluck hinunter. Woraufhin er anfing, sich… besser zu fühlen. „Gute Medizin, hab’ ich recht?“ sagte Uckermark mit leisem Glucksen. „Sie erfüllt ihren Zweck,“ gestand Chegory, der feststellen musste, dass seine Nerven jetzt viel ruhiger waren. „Dann mal ganz langsam,“ sagte Uckermark. „Wir wollen diese Fragen langsam durchgehen. Du hast dieses Messer im Dunkeln gefunden, stimmt’s? Erzähl’ doch bitte – wo hast du diese spezielle Dunkelheit angetroffen?“ Bald darauf kannte Uckermark den wesentlichen Kern von Chegorys Abenteuern im Drunten. „Ich werde Log Jaris kommen lassen,“ sagte der Leichenmeister. „Log Jaris?“ „Den Stiermann.“ „Wird er… ist er… ist das sein Messer?“ „Zerbrich dir mal darüber nicht den Kopf,“ sagte Uckermark. Dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus: „Yilda!“ Von droben kam eine von den Schicksalsschlägen des Lebens abgehärtete Frau herab, die irgendwo zwischen vierzig und sechzig Jahren alt war. „Chegory,“ brüllte Uckermark, wobei er auf Chegory deutete. Sie nickte. „Hol’ Log Jaris her!“ brüllte Uckermark. Yilda nickte erneut, entfernte sich dann. „Ist sie taub?“ sagte Chegory. „Und stumm,“ sagte Uckermark. „Die Taubheit ist ein Problem, aber ihre Stummheit – ah, viele Männer würden jemanden dafür umbringen, einen solchen Vorzug genießen zu dürfen.“ Dann lachte er glucksend. An dieser Stelle sollten wir freilich festhalten, dass er damit nur einen frauenfeindlichen Witz machte. Yilda war taub (wobei der genaue Grad ihrer Taubheit unbekannt geblieben ist, da sie zu jenen Leuten gehörte, die sich oft dafür entscheiden, das Gesagte zu überhören, wenn es ihnen nicht in den Kram passt), aber sie war keinesfalls stumm. Weil der Leichenmeister offenbar wieder gute Laune hatte (zumindest vorübergehend), riskierte es Chegory, sich erneut über Log Jaris zu erkundigen, aber seine Bemühungen, Uckermark weitere Informationen herauszulocken, wurden von jenem zurückgewiesen. Der wahre Kern dieser Sache war, dass sowohl Uckermark als auch Log Jaris Mitglieder des Kalligraphenbunds waren, einer Geheimgesellschaft, die sich auf Untunchilamon während der Regierungszeit von Wazir Sin gebildet hatte, dessen strenger Vollzug der Gesetze des Izdimir-Reichs jenen Leuten das Leben sehr schwer gemacht hatte, die ihre Existenz nicht mit ordentlichen Papieren belegen konnten. Deshalb hatte sich der Seite 118 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Kalligraphenbund auf die Kunst der Fälschung spezialisiert. Faktisch war der Bund ein Nothilfe-Verein für Leute, deren Gesetzestreue bestenfalls grenzwertig war. Das Erkennungszeichen des Bunds war ein Messer mit azurblauem Heft und seladongrüner Klinge. Als Uckermark beobachtet hatte, wie die Soldaten im rosa Palast Chegory eine solche Waffe abgenommen hatten, hatte der Leichenmeister irrtümlich geglaubt, dass Chegory ein Mitglied des Bundes wäre, oder zumindest im Besitz der Geheimnisse des Bundes. Dieser falsche Eindruck war es gewesen, der den Leichenmeister zu seinem heldenhaften Einsatz im Kampf vor dem Thron von Kaiserin Justina veranlasst hatte. „Darf ich… haben Sie vielleicht irgendwo…“ „Einen Abort?“ sagte Uckermark. „Der befindet sich im Hof. Draußen auf der Rückseite des Hauses. Lass keine Fliegen hinein! Dort sind drei Gittertüren, meine persönliche Erfindung, eine Fliegenschleuse. Komm’ zurück und sag’ Bescheid, wenn du damit nicht klarkommst.“ „Ja, aber, ähm… was ich eigentlich möchte… wenn ich es nur könnte…“ „Raus damit, mein Junge!“ „Naja, ehrlich gesagt, wenn Sie vielleicht irgendwo ein Plätzchen hätten, wo ich schlafen könnte, dann wäre es mir sehr recht, wenn ich mich aufs Ohr legen könnte.“ „Oh, schlafen,“ sagte Uckermark. „Droben, wenn du das wirklich tun möchtest. Aber die Fenster sind vergittert, also glaub’ bloß nicht, dass du weglaufen kannst oder irgendwas in der Art.“ „Sie halten mich also gefangen?“ „Was soll ich denn sonst tun? Die Kaiserin verlangt nach dir! Ich muss dich sicher verwahren, zumindest bis zum Bankett.“ „Bankett?“ sagte Chegory verständnislos. „Die Kaiserin Justina hat dich eingeladen, mit ihr zu speisen.“ „Aber das – das ist doch nur ein Witz gewesen. Mit Sicherheit!“ „Die Kaiserin,“ sagte Uckermark mit Nachdruck, „macht keine Witze. Schon gar nicht über Angelegenheiten, die ihr so sehr am Herzen liegen.“ „Ich liege ihr nicht am Herzen!“ „Aber das wirst du,“ sagte Uckermark. „An ihrem Herzen, ihrer Leber, ihren Nieren, ihrer Milz. Und an etwas gleichermaßen Feuchtem wie Warmem.“ Dabei zwinkerte er ihm auf eine wirklich unanständige und vielsagende Weise zu. Meinte er etwa…? Nein, bestimmt nicht! „Sind Sie sicher… sind Sie sicher, dass sie keinen Witz gemacht hat?“ „Absolut!“ sagte Uckermark. „Justina ist ganz die Tochter ihres Vaters. Sie weiß, was sie will. Oh, sie ist garantiert scharf auf dich geworden, als sie dich erblickt hat. Also genieß’ deinen Schlaf, solange du noch Gelegenheit dazu hast!“ Chegory hoffte, er würde die Anspielungen in Uckermarks Bemerkungen missverstehen. Gleichwohl konnte der junge Ebrellianer, ob es Uckermark nun ernst oder scherzhaft gemeint hatte, sicherlich jeden Schlaf gebrauchen, den er bekommen konnte. Nach einem kurzen Abstecher in den Hof begab er sich deshalb nach droben und legte sich auf das Bett, das er dort vorfand, und fiel fast augenblicklich in den Schlaf. Seite 119 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Der junge Chegory Guy lag noch immer im Schlaf, als Log Jaris im Leichenladen eintraf. Der Stiermann und der Leichenmeister berieten sich lange Zeit miteinander, und die Angelegenheiten, die sie besprachen, waren sehr ernst. Einige Mitglieder des Kalligraphenbunds waren verhaftet worden, als die Truppen bei der Suche nach dem Wunschstein die Stadt kreuz und quer durchstöbert hatten. Die Lösung lag auf der Hand. Der Kalligraphenbund müsste selbst die Diebe fangen, die den Wunschstein gestohlen hatten. Bevor die Dinge aus dem Ruder liefen. Dank der Informationen, die Uckermark von Chegory Guy erhalten hatte, wussten sie, dass der Wunschstein im Drunten bei drei Marodeuren aus dem Volk der Malud war. Log Jaris und Uckermark kannten sich beide sehr gut in den Tiefen aus. Eine ihre rechtmäßigen Nebenbeschäftigungen war die Kopfgeldjagd, und sie hatten sich in der Vergangenheit oftmals nach Drunten gewagt, um entlaufene Sklaven, Frauenschänder, Mörder und durchgebrannte junge Liebespärchen zur Strecke zu bringen. „Wieviele Männer können wir aufbringen?“ sagte Uckermark. „Kurzfristig zwanzig, langfristig mehr,“ sagte Log Jaris. „Wie steht’s mit Hunden?“ „Ein Dutzend Jagdhunde, kein Problem. Wir werden den Weg von meinem Keller aus zurückverfolgen. Wir folgen der Spur des Jungen, bis die Hunde eine andere Witterung aufnehmen.“ „Wird das funktionieren? Wird die Fährte noch ausreichend frisch sein?“ „Mehr als probieren können wir es nicht,“ sagte Log Jaris. „Wenn das nichts bringt, werden wir die Unterwelt in Sektoren aufteilen. Jeder Geruchsspur folgen, die wir finden. Könnte uns ein paar Tage kosten, aber sie können sich nicht ewig verstecken. Hast du die Karte?“ Uckermark zog eine Karte hervor, eine Kopie eines der vielen Pläne der Unterwelt, die der Kalligraphenbund im Lauf der Jahre zusammengetragen hatte. Dann begannen sich die beiden über die taktischen Einzelheiten zu unterhalten. „Was sollen wir machen, wenn wir sie schnappen?“ sagte Log Jaris. „Wollen wir sie selbst verhören, oder was?“ „Nein, geradewegs zum Palast,“ sagte Uckermark. „Je schneller dieser Ausnahmezustand zu Ende geht, desto besser.“ „Was ist mit diesem Dieb im Palast? Mit diesem Mann, den der Junge für einen Elfen hält?“ „Dieser Kerl namens Zozimus?“ sagte Uckermark. „Überlass’ ihn mir. Er kann uns nicht schaden, richtig? Dort könnte Erpressungsgeld für uns drin sein. Ich werde gut auf den Jungen aufpassen, denn er ist unser Zeuge gegen Zozimus.“ „Und wenn Zozimus den Jungen bei dem Bankett erblickt?“ „Wenn er das tut? Ich werd’ ja bei ihm sein, nicht wahr? Nein, mach’ dir deshalb keine Sorgen. Stell’ lieber die Hunde bereit, und die Männer.“ „Bloß eine Sache noch,“ sagte Log Jaris. „Was, wenn unser Jagdwild dort untergetaucht ist?“ Bei diesen Worten deutete er auf den Plan der Unterwelt. In dem Bereich, auf den er hinwies, beruhte die skizzierte Karte vor allem auf Mutmaßungen. Es war ein Gebiet des Verderbens. Der abscheulichsten Dinge, vor denen selbst Albträume geflohen wären. „Die Hunde von der Leine lassen, das würde ich machen,“ sagte Uckermark. „Lass die Hunde dann ungehindert Jagd machen. Vielleicht scheuchen sie dort etwas heraus. Wenn die Hunde aber versagen – dann vergiss es. Mich brächtest du nicht dort hinein!“ „Okay,“ sagte Log Jaris. Seite 120 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Dazu hattest du dich bereits sowieso entschlossen, stimmt’s?“ sagte Uckermark. „So ein Narr bist du nicht, dass du Jagd auf diese Schrecken machen willst!“ „Jawohl,“ sagte Log Jaris, „aber ich wollte hören, ob du der gleichen Ansicht bist.“ Da lachten der Stiermann und der Leichenmeister und machten es sich bequem, um ein oder drei Getränke gemeinsam zu genießen, ehe Log Jaris aufbrach, um in der Unterwelt eine Jagd zu organisieren, die Jagd nach dem Wunschstein und nach den Marodeuren vom Volk der Malud aus dem weit entfernten Asral, die ihn gestohlen hatten. Seite 121 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 17 Der junge Chegory verschlief den größten Teil von Salahanthara, bis ihn Uckermark weckte und bergauf zum rosa Palast geleitete. „Wann ist eigentlich das Bankett?“ sagte Chegory. „Jetzt noch nicht, jetzt noch nicht,“ sagte Uckermark. „Hab’s bloß nicht so eilig! Du wirst Ihrer Majestät noch früh genug sehr nahe kommen.“ „Oh, brender menoth,“ sagte Chegory, der schlecht gelaunt war, weil er nicht lange genug geschlafen hatte. [Brender menoth: Halt’ die Klappe. Ein Ausdruck in Toxteth. Damit ist hier gemeint, dass sich der Angesprochene des unerbetenen Gebrauchs eines Witzes schuldig gemacht, der zu plump ist, um amüsant zu wirken. Oris Baumgage, niederrangiger Faktenprüfer.] Sie wanderten schon die Lak-Straße hinauf, bis Chegory endlich eine Frage durch den Kopf schoss, die eine Frau schon längst gestellt hätte. „Was sollen wir anziehen?“ sagte er. „Anziehen?“ sagte Uckermark. „Ja, hören Sie mal, wenn wir zu einem, wie hieß es noch, zu einem Bankett gehen sollen, okay, dann kann ich dort wohl kaum so erscheinen, nicht wahr? Ich meine, schauen Sie mich doch nur mal an!“ Chegory trug noch immer die gleichen Sachen (Hose, Hemd und Stiefel), mit denen er bekleidet gewesen war, als er am späten Nachmittag des gestrigen Tags die Insel Jod verlassen hatte. Seither hatte er gegen einen Kraken gekämpft und sich mit Soldaten herumgeprügelt, hatte bei verschiedenen Gelegenheiten in seinen Kleidern geschlafen und allerlei Abenteuer an einer Vielzahl unhygienischer Orte erlebt. „Oh, mach’ dir keine Sorgen wegen deiner Klamotten,“ sagte Uckermark. „Die Kaiserin wird dich einfach so lieben, wie du bist.“ „Damit ist wohl alles klar!“ sagte Chegory. „Wir gehen gar nicht zu einem Bankett, stimmt’s? Wohin gehen wir also? Wo bringen Sie mich hin?“ „Das wirst du schon noch merken,“ sagte Uckermark, dessen Stimme dabei streng und unerbittlich wurde. „Oh, das wirst du mit der Zeit schon noch merken, mein kleiner Chegory! Nein – versuch’ nur ja nicht zu fliehen. Du kannst sowieso nicht weglaufen. Du kannst nicht entkommen! Du bist dem Tod geweiht!“ Aber Chegory unternahm trotzdem einen Fluchtversuch. Uckermark schnappte ihn sich wieder, bevor er auch nur drei Schritte getan hatte, und nach einem kurzen Gerangel wurde der Ebrellianer gebändigt und dann gezwungen, weiter zum Palast hinauf zu marschieren. „Was haben wir denn da?“ sagte ein Wächter, als Uckermark und Chegory die Eingangshalle des Palastes betraten. „Fleisch für die Küche,“ sagte Uckermark. „Menschenfleisch. Soll in der Küche zubereitet werden.“ „Oh, Fleisch!“ sagte der Soldat fröhlich. „Für die Kaiserin, stimmt’s?“ „Jawohl,“ sagte Uckermark. „Ihr Chefkoch Zozimus will es auf ganz besondere Weise zubereiten.“ „Oh, famos, famos!“ sagte der Wächter. „Frisches Fleisch, jawohl, das ist eine tolle Sache. Wenn ich mich richtig erinnere, hat sie Stücke von drei Leuten gegessen, als sie das letzte Bankett gegeben hat. Das Herz eines Fischerjungen, die Leber eines jungen Schmieds, und die Nieren eines – was ist der gleich wieder gewesen?“ „Das ist ein zarter junger Sänger aus dem weit entfernten Ashmolea gewesen,“ sagte Uckermark. Seite 122 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Oh, der Sängerknabe, jawohl, der ist es gewesen!“ sagte der Wächter. „Na schön, mein Junge, aber freust du dich auch über diese besondere Ehre?“ „Das könnt ihr mir doch nicht antun!“ jammerte Chegory voller Angst. Das war es also, um was es hier in Wirklichkeit ging! Er war von der ungeheuerlichen Verschwörung erschüttert, die sich ihm erst jetzt offenbart hatte. Das war es also, was Justina damit gemeint hatte, ihn bei einem Bankett dabei haben zu wollen! Jetzt verstand er Uckermarks Scherz, dass Chegory dem kaiserlichen Bauch sehr nahe kommen würde. Er versuchte zu fliehen – aber Uckermark und der Soldat hielten ihn fest. Diesmal wehrte er sich mit solcher Kraft, dass es die Stärke beider erforderte, ihn unter Kontrolle zu halten. Während das Paar noch den glücklosen Ebrellianer zu Boden rang, eilte ein erschöpft wirkender Bediensteter auf sie zu. Es war Justinas Hausverwalter. „Was soll das, was soll das?“ sagte der Hausverwalter. „Was soll denn diese ganze Rauferei? Hört sofort auf damit!“ „Das,“ sagte Uckermark, gleichzeitig keuchend und lachend, „ist Fleisch für die kaiserliche Küche. Das ist der junge Chegory Guy. Kaiserin Justina wünscht, dass er für ihr Bankett heute Abend geschlachtet wird.“ „Guy!“ sagte der Hausverwalter. „Wir haben schon auf ihn gewartet! Ihr seid spät dran, ihr seid spät dran, oh, wir werden ihn niemals mehr rechtzeitig fertig kriegen.“ „Es dauert bloß einen Moment, ihn aufzuschlitzen und auszunehmen,“ sagte Uckermark. „Dann kann ihn der Koch schnell in wenigen Augenblicken anbraten.“ Aber der Hausverwalter fand das gar nicht lustig. „Lasst den Jungen los,“ sagte er. „Steh’ auf, mein Junge. Seht nur! Er zittert am ganzen Körper! Schlimmer noch, ihr habt ihm Nasenbluten verursacht! Ganz ruhig, mein Junge! Niemand will dich hier verspeisen.“ „Sie meinen, die haben – die – die – einen Witz, die haben nur einen Witz gemacht?“ „Junge, hältst du Justina etwa wirklich für eine Kannibalin? Bei allen Göttern! Nur ein – ach, was soll’s. Komm’ hier entlang! Wir haben kaum noch Zeit für die erforderlichen Vorbereitungen.“ „Vorbereitungen?“ sagte Chegory. „Komm’! Komm’ schon! Hör mal, niemand will dich verspeisen, ehrlich, sei nicht so kindisch. Hier entlang, schnell, schnell.“ Damit führte der Hausverwalter Chegory aus der Eingangshalle des Palastes, und bald hatten sie das Gelächter von Uckermark und seinem Freund weit, weit hinter sich gelassen. „Aber,“ sagte Chegory, verängstigt und verwirrt angesichts der unheilschwangeren Geheimnisse des Palastes und der Tatsache, dass er die Kontrolle über sein eigenes Leben vollständig verloren hatte, „aber was hat es mit diesen Vorbereitungen auf sich?“ „Komm’ hier entlang, hier entlang,“ sagte der Hausverwalter und schob ihn dabei vorwärts. „Je schneller wir damit anfangen, umso schneller haben wir es auch hinter uns.“ „Was ist mit Uckermark, Uckermark, Sie wissen schon, der Leichenmeister, wo ist er, was macht er…“ „Zerbrich dir seinetwegen nicht den Kopf,“ sagte der Hausverwalter. „Du wirst ihn vor dem Bankett wiedersehen. Bei allen Göttern! So ein blöder Witz! Der und dieser Soldat! Ich würde beide verprügeln lassen, wenn dabei die Chance auch nur eins zu zehn wäre, wenigstens einem der beiden etwas Vernunft beizubringen.“ Damit geleitete der Hausverwalter Chegory in ein imposantes Badezimmer, wo bereits ein halbes Dutzend wohlriechender junger Frauen auf ihn warteten. Sofort fielen sie über ihn her und fingen kichernd und kreischend an, ihm die Kleider herunterzureißen. Seite 123 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Hilfe!“ jammerte Chegory. „Hilfe! Hört auf damit, haltet sie auf, irgendwer, Hilfe, nein, das ist, bei allen Göttern…“ Aber sein ganzer Protest war vergebens. Die kaiserlichen Zofen entkleideten ihn vollständig, stießen ihn in eine riesige Badewanne und sprangen dann hinterher. Dann wurde er erbarmungslos gewaschen, mit Schwämmen abgerieben und geschruppt. Zu seiner höchstgradigen Verlegenheit (vor lauter Qual glaubte er schon, ohnmächtig zu werden) musste er feststellen, dass die jungen Frauen bei ihrer Queste nach Reinlichkeit wirklich überhaupt nichts ausließen. An entsprechenden Szenen hatte er sich schon oft in seiner Fantasie ergötzt (an den ungehemmten Aufmerksamkeiten mannbarer Sylphen34, an zu entjungfernden Schönheiten, die ein ganzes Zimmer füllten), aber nun stellte sich heraus, dass solche Ereignisse in Wirklichkeit eher schrumpfend als erregend wirkten. Und was… War das ein Mund an seinem…?! Obwohl Chegory einen gewissen Moment lang fürchtete, er würde von diesen kichernden weiblichen Berserkern vergewaltigt werden, war er noch immer im Besitz seiner Unschuld, als man ihn aus der Badewanne zerrte, um ihn trocken zu reiben und zu kämmen, bevor man ihn in Windeseile auf einen Tisch legte, wo er von einem Masseur, den man vermutlich in einer der eher energiegeladenen Schulen im Ganzkörper-Ringkampf ausgebildet hatte, durchgeknetet und zerklopft wurde. Anschließend hetzte man ihn zur Amtsstube von Koskini Reni, dem Leibarzt Ihrer Majestät. „Meine Kleider!“ jammerte Chegory. „Keine Bange,“ sagte jemand. „Du wirst sie zurückbekommen.“ Dann befand er sich in Renis Amtsstube, wo der Arzt eine Untersuchung an ihm vornahm. Der ihn prüfte, stupste, knuffte, klopfte und befragte. Huren, mein Junge? Hast du mit Huren geschlafen? Nein? Mit was dann? Hast du jemals ein Schwein gehabt? Nein? Du weißt gar nicht, was dir da entgangen ist! Frambösie35, mein Junge, hast du Frambösie gehabt? Sehr schön. Leprakranke, mein Junge. Bist du schon mal welchen begegnet? Hast du…? In einem fort, bis Chegory der Kopf rauchte. Endlich brachte Reni seine Ermittlungen zum Abschluss, drückte einen Pickel in Chegorys Nacken aus, erklärte ihn dann für grundsätzlich fit und gesund. „Allerdings,“ sagte der Arzt Reni, „bist du ein bisschen blutarm. Deswegen verschreibe ich dir ein wenig Met.“ „Met?“ sagte Chegory. „Ich dachte, das wäre nur eine Medizin gegen Hysterie?“ Er hatte etwas in dieser Art gehört, als er sich einmal mit seinem Onkel Dunash Labrat, der eine Lizenz hatte, diesen Stoff zusammenzubrauen, über Met unterhalten hatte. „Hysterie, Blutarmut, Demenz, Depressionen, Psychosen und Erkältungen,“ sagte der Arzt ernst. „Met ist die beste Medizin, die man gegen all jene und noch andere Erkrankungen kennt, obwohl in Wahrheit alle Arten von Alkohol solche Eigenschaften besitzen.“ „Aber,“ sagte Chegory bestürzt, „Alkohol ist doch ein Gift.“ „Und Salz ist das wohl nicht?“ sagte Reni. „Ich könnte allein in meiner Faust schon ausreichend Salz halten, um dich zum Erbrechen zu bringen, um bei dir Krämpfe auszulösen, und um dich schließlich umzubringen. Ohne Salz würdest du jedoch auf alle Fälle krank werden und sterben müssen.“ „Wir müssen Salz haben, denn unser Blut kommt aus dem Meer,“ sagte Chegory. 34 35 mythologische Naturgeister, die dem Element Luft zugeordnet sind eine in tropischen Regionen auftretende Infektionskrankheit Seite 124 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Aha!“ sagte Reni mit dem listigsten Grinsen, das man sich nur vorstellen konnte. „Also bist du ein Anhänger der Irrlehre von der Evolution, stimmt’s?“ „Kaiserin Justina hat auf Untunchilamon Religionsfreiheit verkündet,“ sagte Chegory beherzt. „Selbst dann,“ sagte Reni, „bist du nichts weiter als ein Narr, wenn du ketzerischen Aberglauben in ein Gespräch über medizinisches Wissen einbringen willst. Unser Wissen, junger Mann, hat über jeden Zweifel hinaus gezeigt, dass sich jedes Gift für medizinische Anwendungen eignet.“ „Ich nehm’ keine Drogen,“ sagte Chegory rundheraus. Mittlerweile hatte der Rothäutige ein tiefes Misstrauen gegen den kaiserlichen Arzt entwickelt. Bestimmt würde kein wahrer Fachmann der Heilkunde einem Patienten Gift verabreichen! „Du nimmst Haschisch, stimmt’s?“ sagte Reni. „Haschisch ist keine Droge,“ sagte Chegory. „Drogen sind giftige Sachen, die einen umbringen. Noch nie ist jemand gestorben, weil er ein Haschischplätzchen gegessen oder ein bisschen gekifft hat. Sie sind doch ein Doktor! Und dennoch verleumden Sie das Kraut der Heilung, indem sie es auf eine Stufe mit dem Getränk des Todes stellen, das sich in einer einzigen Nacht (oder schneller) tödlich auswirken kann.“ „Ach ja?“ sagte Reni. „Er ist zwar nur ein Ebrellianer, hält sich aber für den vollkommenen Apotheker. Er ist zwar nur ein Ebrellianer, will seinem Doktor aber Vorträge halten. Er ist zwar nur ein Ebrellianer, also ein Ding, das nicht lesen, schreiben oder rechnen kann, will aber einem Philosophen, der die Abschlüsse von drei EliteUniversitäten des Izdimir-Reichs besitzt, Vorträge halten.“ „Alkohol tötet,“ beharrte Chegory starrsinnig, ohne sich Mühe zu geben, seine Belesenheit oder seine Rechenkenntnisse zu beteuern. „Man braucht höchstens drei Tassen reinen Alkohols, um einen Mann in der Blüte seiner Gesundheit und Kraft umzubringen.“ Das war wahr, oder zutreffend genug, um als wahr zu gelten, reichte aber nicht aus, um diesen Streit zu gewinnen, denn Reni beharrte: „Du trinkst doch Tee, oder?“ „Tee,“ sagte Chegory steif, „ist nicht giftig.“ „Im Gegenteil,“ sagte Koskini Reni, „Tee ist ein tödliches Gift, wenn man ihn falsch verwendet. Ein paar Quäntchen Teeblätter, die man achtlos verzehrt, töten die Schwachen und jagen die Herzen der Gesunden in eine Raserei, die äußerst gefährlich für die körperliche Verfassung ist.“ Chegory wusste, dass Sklaven manchmal Tee auf diese Weise missbrauchten, wenn sie sich krank melden wollten, um sich ihrem Tageswerk zu entziehen. Doch er blieb weiterhin skeptisch. „Keine normale Person isst Tee,“ sagte er. „Genauso trinkt keine Person deine theoretischen drei Tassen reinen Alkohols,“ sagte Reni. „Vergiss nicht, alle Dinge, die man übermäßig zu sich nimmt, können tödlich sein. Naja, es gibt sogar Fälle von Leuten, die an einer Überdosis Wasser gestorben sind.“ „Also geben Sie zu, dass eine Gefahr vorhanden ist!“ sagte Chegory. „Zweifellos,“ sagte Reni. „Aus diesem Grund ist Alkohol nur auf Rezept erhältlich. Dieses unübertreffliche Heilmittel für Gebrechen aller Art ist aufs Äußerste zerstörerisch, sobald es sich erstmal der Kontrolle durch Fachleute entzogen hat. Hier innerhalb des rosa Palastes wenden wir Alkohol jedoch gefahrlos an, denn er wird in strikter Übereinstimmung mit medizinischer Ethik kontrolliert und verschrieben.“ Dann erlaubte sich Reni ein herablassendes Lächeln und sagte: „Verstehst du jetzt, mein Junge? Hier gibt es nichts, das dich bekümmern müsste.“ Seite 125 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Trotzdem steckte er Chegorys Rezept für Met in eine schmale Aktenmappe, was den jungen Ebrellianer zu der Annahme verleitete, dass er diese Debatte gewonnen hätte, selbst wenn sich der Arzt weigern würde, seine Niederlage einzugestehen. Auf alle Fälle hatte Chegory keine Zeit, sich darüber den Kopf weiter zu zerbrechen, weil andere Erfordernisse auf ihn warteten. Er wurde (immer noch nackt) einen Gang hinab in ein Zimmer gewirbelt, in dem es einen vor Wohlgerüchen und Farben fast schwindlig werden konnte. Dort wurde er mit Olibanum36 und einem süß duftenden Balsam auf Ambra-Basis gesalbt. Dann kleidete ein übereifriger Mann (mit Ringen an seinen Fingern und Perlen an seinem Hals) den jungen Chegory in prachtvolle Seidengewänder in aufsehenerregend gelben und seedrachengrünen Farbtönen. „Kleider!“ protestierte Chegory. „Kleider, ich hab’ meine eigenen Kleider gehabt, die, die haben gesagt, ich würde sie zurückbekommen, wenn ich, naja, nach dem Bad und all den Sachen, wo sind meine…“ „Du bekommst deine Lumpen schon noch zurück, mein Junge,“ sagte ein streng dreinblickender Grobian aus Wen Endex, der Chegory, sobald der fertig bekleidet gewesen war, gepackt und in ein fensterloses Zimmer gezerrt hatte. „Setz’ dich!“ „Aber was…“ „Setz dich!“ Das wurde mit einem derart heftigen Brüllen geäußert, dass sich der junge Chegory in allergrößter Eile hinsetzte. Sein Stuhl war aus Holz. Er war sehr unbequem. „Du weißt, wer ich bin?“ sagte der Vernehmungsoffizier. „Ein – ein – Sie sind aus – Sie sind…“ Chegory wollte eigentlich damit sagen, dass sein Gesprächspartner zweifelsohne ein Yudonischer Ritter aus Wen Endex war, und dass er (Chegory) den allergrößten nur vorstellbaren Respekt für solche Männer hätte. Das hatte er eigentlich aussprechen wollen, aber die benötigten Worte hatten sich zu kommen geweigert. „Bei allen Göttern!“ sagte der Vernehmungsoffizier. „Was wird sie wohl als nächstes anschleppen? Junge, ich bin Juliet Idaho. Der Hauptmann der Leibwache. Ich hab’ dir Folgendes mitzuteilen. Halt’ uns nicht zum Narren, mein Junge. Wir wissen, wer du bist, und was. Was mich betrifft, so bin ich der Mann, der dich töten wird. Eine falsche Bewegung, mehr wird nicht nötig sein. Ein einziger Fehler, und du bist tot.“ „Ich, naja, ich, hören Sie, ich bin hier wegen eines, ich weiß nicht, was man Ihnen erzählt hat, aber ich bin hier wegen eines Banketts, okay, Justina, sie – es gibt ein Bankett, ich bin eingeladen worden, naja, das hat man mir wenigstens erzählt, okay?“ „Ein Bankett,“ sagte der grimmig dreinblickende Idaho. „Genau darüber wollte ich mit dir sprechen. Tischmanieren. Verstehst du?“ Chegory hatte eine plötzliche Eingebung. Eine Erinnerung! Er selbst und Olivia beim Essen im Analytischen Institut. Tritte, die unter dem Tisch ausgetauscht wurden. Das Verschütten des Currypulvers. Die Soße für die fliegenden Fische, die in alle Richtungen übergeschwappt war. Wann? Gestern erst! Aber es fühlte sich an, als ob es vor einer Million Jahren passiert wäre. Wie etwas aus einem anderen Leben. „Ja, ja, sicherlich, Manieren, okay, was glauben Sie denn, wer ich bin, vielleicht jemand, der Leute unter dem Tisch tritt oder so, Sie glauben doch selbst nicht, dass ich bei einem Bankett auf diese Weise herumkaspern würde, oder sind Sie etwa verrückt?“ „Was ist das?“ sagte Juliet Idaho, der ein fieses Stück angespitzten Metalls hervorgeholt hatte. „Das, das ist ein – ein…“ 36 Weihrauchöl (besitzt einen balsamisch-würzigen, leicht zitronigen Duft mit leicht koniferigen und kienigen Untertönen) Seite 126 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Ein Spieß, stimmt’s? Aber du isst mit deinen Fingern. Kapiert?“ „Mit meinen Fingern,“ sagte Chegory. „Okay, sicher, Finger, das ist kein Problem. Was immer Sie sagen.“ „Ich sage Finger. Bei jedem Teller sind auch Spieße. Das zeugt von guten Manieren seitens unserer Majestät. Sie zeigt damit, dass sie ihren Gästen kalten Stahl anvertraut. Falls du aber tatsächlich einen dieser Spieße berührst…“ „Was dann?“ sagte Chegory. „Muss ich es dir wirklich buchstabieren?“ „Ich glaube, das sollten Sie lieber!“ sagte Chegory. „In Ordnung, Ebbie. Pass auf! Das ganze Bankett hindurch befindet sich ein Wächter direkt hinter dir. Berührst du diesen Spieß, dann… zack! Und ab ist dein Kopf!“ „Aber warum?“ sagte Chegory. „Um dich davon abzuhalten, Justina zu töten.“ „Aber warum sollte ich das tun wollen?“ sagte Chegory. „Uns kannst du nichts vormachen! Wir wissen, warum du hergekommen bist!“ „Warum?“ sagte Chegory verblüfft. „Du bist ein Meuchelmörder, stimmt’s? Ein ausgebildeter Totschläger! Wir kennen dich! Du hast dieses Messer gehabt, nicht wahr? Oh, die Kaiserin hast du ja prima getäuscht, aber mich täuschst du nicht. Meine Männer haben ihre Befehle. Legst du auch nur einen einzigen Finger auf ein Stück kalten Stahls, dann – wwwhst! Und ab ist dein Kopf!“ „Der Kaiserin, der, der wird das vielleicht nicht gefallen,“ wagte Chegory zu sagen. „Weshalb denn?“ sagte Juliet Idaho. „Weil wir anschließend das Tischtuch waschen müssen? Verlass’ dich nicht auf so etwas, Ebbie! Sie ist nicht weich in der Birne. Vielleicht bin aber ich das, sonst würde ich dich hier wohl nicht lebend rauslassen. Okay. Ich werde dich am Leben lassen. Im Augenblick zumindest. Aber denk’ dran – ein Fehler, ein Finger, der aus der Reihe tanzt, und es ist alles vorbei. Keine Anklage, kein Prozess, keine Verhandlung. Bloß wwwhst!“ „Wwwhst!“ wiederholte Chegory. „Das ist richtig, Ebbie. Wwwhst – zack! Okay, auf geht’s, wir sind ohnehin schon spät dran.“ Dann führte Juliet Idaho den jungen Chegory Guy von der Verhörkammer zu den Gemächern von Justinas Hausverwalter. Dort wartete schon Uckermark auf ihn. Wie Chegory war auch der Leichenmeister gebadet, massiert, parfümiert und in Seide gehüllt worden. „Da bist du ja endlich!“ sagte Uckermark. „Ich hab’ mich schon gewundert, wo du bleibst. Dann mal los. Hier entlang, hier entlang!“ Kurz darauf geleitete Uckermark Chegory auf die lange Galerie, die die gesamte Südseite des rosa Palastes entlang lief. Dort nippten eine ganze Reihe eleganter Leute in Seide und Satin an Sorbets, die von unterwürfigen Sklaven gereicht wurden. Sorbet wurde auch Chegory angeboten. Er nahm ihn. Ihm wurde klar, dass er ein Kristallglas in der Hand hielt, das vermutlich einen höheren Wert besaß als das, was er in einem ganzen Jahr als Steingärtner verdienen konnte. Er nippte an dem Sorbet. Seite 127 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Probeweise. War das alles echt? War er wirklich hier? Er wurde von dem beinahe unerschütterlichen Gefühl der Unwirklichkeit erfüllt. Er konnte einfach nicht glauben, dass er, ein gewöhnlicher Steingärtner mit ebrellianischer Abstammung, in Kürze bei einem Bankett der Gast von Kaiserin Justina sein würde. Oder dass er dazu verdammt wäre, niedergemetzelt zu werden, falls man eine einzige Bewegung, die er machen würde, falsch verstehen könnte. Dann klopfte ihm jemand auf die Schulter. Er drehte sich um und befand sich Auge in Auge mit der Kaiserin höchstpersönlich. Er bückte sich, in der Absicht, vor ihr im Staub zu kriechen, aber sie packte ihn und hielt ihn davon ab. Der Sorbet lief ihm über die Hände. „Ich bin eine andere, als du glaubst,“ sagte sie. „Ihr seid Justina,“ sagte Chegory. Er zitterte bereits vor Angst, dass eine der Bewegungen, die er gemacht hatte, schon falsch verstanden worden wäre, dass Juliet Idaho brüllend hinter ihm auftauchen würde, um ihm den Kopf abzuhacken. „Ich bin Theodora37, ihre Schwester.“ „Oh,“ sagte Chegory, „oh, ich – ich…“ Jetzt konnte auch er das sehen. Diese Frau war plumper in ihrem Körperbau und in ihren Gesichtszügen, ihre Haut war gröber, die Zeichen des legendären Missbrauchs ihres Fleisches waren schon deutlich in ihrem Erscheinungsbild zu lesen. „Und du?“ sagte Theodora. „Du, mein köstlich junger Ritter? Wer bist du?“ „Dies, meine Dame,“ sagte Uckermark, der mit einer höfischen Gewandtheit dazwischenfuhr, die man einem einfachen Leichenmeister gar nicht zugetraut hätte, „ist Chegory Guy, der Ehrengast des Banketts am heutigen Abend.“ „Ach so,“ sagte Theodora. „Ach so. Meine Schwester hat sich also schon entschieden, nicht wahr? Falls sie sich anders entscheiden sollte, dann…“ Sie schaute dabei Uckermark an, und mit nicht mehr als einem einzigen Blick wurden viele Dinge zwischen dem Leichenmeister und der kaiserlichen Schwester ausgetauscht. Dann zog Theodora weiter, auf ihrer Jagd nach Wild, das noch nicht in festen Händen war, und ein gewissenhafter Sklave putzte mit einem dünnen Leintuch den verschütteten Sorbet von Chegorys Fingern. Chegorys ausgeschüttetes Glas war bereits verschwunden, war ihm so geschickt von einem Diener aus der Hand gezupft worden, der dabei so gewandt bei seinem Auftauchen und Verschwinden vorgegangen war, dass er geradezu unsichtbar geblieben war. Ehe Chegory daran denken konnte, um einen Ersatz zu bitten, war dieser bereits in seinen Händen, und der Sklave, der eben diese Hände gesäubert hatte, hatte sich woandershin fortgezaubert. „Komm’,“ sagte Uckermark. „Komm’, lass uns die Aussicht bewundern. Passiert nicht oft, dass du Injiltaprajura aus diesem Blickwinkel zu sehen bekommst, stimmt’s?“ „Nein,“ sagte Chegory. „Nein, das passiert nicht oft.“ Chegory erlaubte dann Uckermark, ihn zum Rand der Galerie zu führen, angeblich deshalb, damit sie die Aussicht bewundern konnten. War es reiner Zufall, der dazu geführt hatte, dass der Leichenmeister dabei in Hörweite Theodoras Stellung bezog, die sich inzwischen schon in die Unterhaltung mit einem kleinen, entschlossen wirkenden Mann vertieft hatte, der die Statur eines Ringkämpfers besaß? Oder hatte er sich von 37 siehe Kapitel 15 in The Wicked and The Witless Seite 128 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 seiner Stellung als Gelegenheits-Liebhaber der Kaiserin Justina in eine dauerhaftere Position hochgearbeitet? War er ihr Spion, Spitzel, Privatdetektiv? Oder was? Diese Fragen müssen für immer unbeantwortet bleiben, denn der Leichenmeister war bekanntermaßen verschwiegen, was seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anging. Aber die Unterhaltung zwischen Theodora und dem Ringkämpfer kann man mit absoluter Genauigkeit zitieren, denn es gab damals viele Zuhörer, und der spätere Skandal bot allen die Gelegenheit, sich das Wechselspiel zwischen Justinas Zwillingsschwester und dem Fleisch ihrer Begierde in Erinnerung zu rufen. „Ich heiße Troldot Turbothot,“ sagte er. „Oh,“ sagte Theodora. „Und woher stammen Sie?“ „Von der Insel Hexagon im Zentralozean,“ sagte Turbothot. „Mein Fürst, Baron Farouk von Hexagon, hat mich dazu bestimmt, der erste Held zu sein, der die ganze Welt umrundet.“ „Das müssen Sie mir erzählen,“ sagte Theodora mit einem wunderbaren kleinen Säuseln in ihrer Stimme. Woraufhin Turbothot eine Pose einnahm, die sich eher für die Bühne als für die Unterhaltung bei einem Cocktail eignete. Dann trug er Folgendes feierlich vor: „Vor sieben Jahren bin ich in Hexagon aufgebrochen. Ich bin durch Stürme und Hurrikane westwärts gesegelt. Auf den Inseln von Kannibalen bin ich an Land gegangen, wo die Männer jeweils zwei Köpfe haben und ihre Frauen wie Pferde reiten. Dort haben öde Städte meinen Augen ihre Geheimnisse verraten. Riesige Türme hat man dort aus Metall errichtet, aus Metall, in dessen Innerem sich nichts außer Echos befunden hat. Durch Riffe aus ebensolchem Metall bin ich mit meinem Schiff gefahren, während Skorbut, Durst und Blutseuche meine Mannschaft dreimal täglich ausgedünnt haben. Wir haben unsere Toten gegessen und ihre Knochen mit Holz vermahlen, um unser Brot herzustellen. Dann haben wir unsere Lederwaren eingeweicht und diese verzehrt, dann haben wir das Segeltuch verspeist und die Takelage unseres Schiffs noch dazu. Aber am Ende ist das alles in Ordnung gewesen, denn, begünstigt vom Wetter und von den Göttern, wagten wir uns mit den nachlassenden Passatwinden zu den Küsten Untunchilamons. Dort verweilten wir lange Zeit im Laitemata, unausweichlich dazu verdammt, uns die Tage mit Tauschhandel und kaufmännischen Beschäftigungen zu vertreiben. Das Schicksal wollte es dann, dass sich meine Seele zum Palast hingezogen fühlte, wo mich ein günstiges Geschick Angesicht zu Angesicht mit jener holden Maid unübertrefflicher Bezauberung brachte, die ich gegenwärtig hierselbst mit meinen Augen erblicken darf. Das Traumbild ihrer Schönheit muss fürderhin mein Herz trösten, wenn ich aufs neue mit meinem Schiff in See stechen werde. Über Moana muss ich mich wagen, fürwahr, hin zu Ashmoleas Küste, dann ungeachtet der Schrecken nach Süden fahren, um mich mit meinem Schiff um die südlichste Spitze Argans herumzuwagen. All das muss ich unternehmen, bevor ich mein Fahrzeug nach Hause steuern darf.“ So sprach also Troldot Turbothot, der solches und anderes Zeug mühelos in wahren Sturzbächen heraussprudeln konnte. Später erfuhr man in ganz Injiltaprajura (als das zunehmende Interesse zu Fragen führte, die einige von Turbothots Mannschaft beantworteten), dass Baron Farouk von Hexagon Turbothot in die Verbannung geschickt hatte, weil er schlechte Verse geschrieben hatte, weil er diese in Theaterstücke umgesetzt hatte, und schlimmer noch, weil er Mitglieder der Familie Farouk dazu verführt hatte, seine Bühnenarbeit zu bewundern. Farouk hatte die Verbannung im Sinne einer unmöglichen Queste formuliert, aber Turbothot war ein solcher Idiot, dass er nicht gemerkt hatte, dass die vorgeschlagene Queste nichts weiter als die höfliche Aufforderung für ihn gewesen war, seine Person aus Hexagon zu entfernen, ehe ihm der Baron seinen Kopf von den Schultern entfernte. Stattdessen war der Verse schmiedende Kasper aufgebrochen, um in den sicheren Tod zu segeln, zusammen mit einer äußerst unwilligen Mannschaft, die freilich per Eid dazu verpflichtet worden war, ihn bei diesem Abenteuer zu begleiten. Doch nun, nach sieben Jahren, waren einige immer noch am Leben, in verwunderlicher und erstaunlicher Missachtung der statistischen Wahrscheinlichkeit. Ihre Geschichte – [Hier erliegt der Urheber des Textes der Versuchung und gibt einen Abriss von Turbothots Seereise um diese planetarische Kugel, auf der wir, wie bedeutende Philosophen jedenfalls behaupten, durch luftleere Wüsten mit einer Geschwindigkeit reisen, die unermesslich und zugleich doch unmerklich ist (dergestalt sind die Paradoxe dieser grotesken Theorie!). Obwohl die gegebene Zusammenfassung des Urhebers nicht mehr als ungefähr Seite 129 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 dreihunderttausend Worte umfasst, ist es als das Beste betrachtet worden, sie hier zu löschen, mit der Begründung, dass sie größtenteils aus einem Gespinst offenkundiger Lügen besteht. Turbothot behauptet zum Beispiel, dass er dem Strauß begegnet wäre, also jenem nur in Sagen vorkommenden Vogel, von dem man sich ausmalt, er hätte die Körpergröße eines Menschen, das Verhalten eines Huhns, und eine genügend hohe Geschwindigkeit (und zwar auf dem Boden, wohlgemerkt, denn die Märchen bestreiten diesem Geschöpf die Kraft des Fluges), um einen galoppierenden Hengst zu überholen. Drax Lira, Chefredakteur.] – erreichten auf diese Weise Untunchilamon, um dort dank der Abwesenheit des Windes in der wohligen Langeweile des Fistavlir festzusitzen. Wo sind wir gleich wieder gewesen? Ah, ja! Bevor es mich überkommen hat, von Turbothot und seinen Seefahrten zu berichten, sind wir auf der Galerie von Justinas rosa Palast in Injiltaprajura gewesen. Dort befand sich Theodora im Gespräch mit dem großen Helden von Hexagon. Vielleicht hörte sie an eben diesem Tag aus dessen eigenem Mund noch weitere Einzelheiten seiner faszinierenden Abenteuer. Wer weiß? Was aber sicher ist, das ist, dass die gute Theodora kurz darauf mit diesem Turbothot-Kerl verschwand und danach so mit ihm beschäftigt war, dass sie es überhaupt nicht mehr schaffte, sich beim abendlichen Bankett blicken zu lassen. Auf diese Weise hatte Chegory Guy, den Theodora am liebsten gehabt hätte, seine beste Chance auf eine nähere Bekanntschaft mit Justinas Schwester und auf jene intimen Freuden, die sie schon Tausenden so freigiebig gewährt hatte, verpasst. Sein Trostpreis war der Genuss der Aussicht, die ihm Uckermark gezeigt hatte. Das war eine wirklich herrliche Aussicht, denn er konnte über die Dächer der Stadt geradewegs bis zum Laitemata-Hafen blicken, wo drei Schiffe vor Anker lagen. Von den Stufen des Palastes führt die Lak-Straße stetig bergabwärts, während sie sich hinab zur Küste erstreckte. Chegory konnte jemanden auf den Zinnen des Kabalenhaus der Wunderwirker stehen sehen, an der Kreuzung der Lak-Straße mit der Goldhammer-Steige und dem Skindik-Weg. Wäsche hing auf den Dächern der Dromdanjerie und Ganthorgruks zum Trocknen im Freien. Ganz Lubos lag ausgebreitet da, so dass es Chegory mit einem einzigen Blick erforschen konnte. Er versuchte herauszufinden, welches Gebäude Uckermarks Leichenladen war, scheiterte aber auf der ganzen Linie. Dort drängten sich so viele, viele Baracken, Bruchbuden und Blockhäuser zusammen, dass es einen ganzen Tag erfordert hätte, die räumliche Anordnung dieses Viertels zu enträtseln. Marthandorthan war leichter zu durchschauen, da es reichlich mit Wahrzeichen in Form großer Lagerhäuser ausgestattet war, die Chegory alle wohlvertraut waren. Es fiel ihm nicht schwer, den Schlupfwinkel seines abgefeimten Cousins Firfat zu finden, oder den Weg vom Hafenviertel die Goldhammer-Steige hinauf zum Kabalenhaus zu verfolgen, und von dort die Lak-Straße hinauf zu den Stufen des Palastes, auf die er von hier aus direkt hinabsehen konnte. Auf den Stufen befand sich eine Truppe von Bettlern, die gerade die Menge der eintreffenden Nachzügler bearbeiteten, die sich beeilten, noch rechtzeitig bei Justinas Bankett zu erscheinen, das beginnen sollte, kurz nachdem die Fledermausglocken geläutet hatten, um das Ende von Salahanthara und den Beginn von Undokondra zu verkünden. Chegory hob seinen Blick. Er schaute erneut die gesamte Länge der Lak-Straße hinab und über das sonnenfeurige Gewässer des Laitemata hinüber zu den niedrigen Buckeln der Hügel von Jod, wo selbst der glänzende Marmor des Analytischen Instituts eine rosa Tönung in der Abendsonne angenommen hatte. Noch weiter im Süden befand sich der Blutsand der Säbelinsel, wo gerade, während Chegory noch hinschaute, die Palmen zu schwarzen Silhouetten wurden, während die Sonne im Westen versank. Jenseits davon befand sich das Gewässer der Lagune. Dahinter war das Außenriff, wo die trägen Abendwogen für eine gemächliche Brandung sorgten. Immer und immer wieder erhoben sie sich aus der Unendlichkeit des Meeres, das sich in allen Ewigkeiten bis dorthin erstreckte, wo am dunkler werdenden Himmel allmählich die Sterne aufgingen. Da wusste Chegory: Ich liebe diesen Ort. Seite 130 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Er hatte das intensive Gefühl, hier zu sein, gerade jetzt, am richtigen Ort, konzentriert, ausgeglichen, voll da. Dann donnerten die Fledermausglocken los, ließen ihr ohrenbetäubendes Lied von den Türmen erschallen, und Uckermark legte eine feste Hand auf seine Schulter und steuerte ihn nach drinnen. Das Bankett sollte nun beginnen. Seite 131 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 18 Justinas Palast war groß, aber nicht unendlich. Obwohl er eine Schatzkammer beherbergte, Kerker, Folterkammern (unbenutzt seit der Zeit von Wazir Sin), Küchen, Schlafzimmer, einen Dach-Swimmingpool, und so weiter und so fort, so besaß er doch nur zwei große Säle. Einer davon war die Sternenkammer, Schauplatz von gerichtlichen Verhandlungen jeglicher Art. Der andere war der Große Saal, in dem am Nachmittag die Sitzung zur Beratung der Bittgesuche stattgefunden hatte. Der Große Saal war es auch, der der Schauplatz des abendlichen Banketts sein sollte. Als Chegory und Uckermark den Großen Saal betraten, hatte noch niemand Platz genommen. Die langen Tische, die drei Seiten eines Quadrats bildeten, warteten noch auf diesen Moment. Man hatte Justinas EbenholzThron entfernt, um Platz für die Ehrentafel zu schaffen, die derjenige Tisch war, an den sich die beiden „Tafeln der Geringeren“ anschlossen. Aber niemand hatte den Hungerkäfig entfernt. Die Schilde aus Wen Endex schmückten ebenfalls weiterhin die Wände. Die Zecher würden sich an diesen ständig in Blickweite befindlichen Bildern des Todes und der Zerstörung ergötzen können. „Wo sollen wir uns hinsetzen?“ sagte Chegory. „Irgendwohin? Oder auf spezielle Plätze?“ Obwohl ihn die Kaiserin persönlich zu ihrem Bankett eingeladen hatte, konnte er sich keinen Augenblick lang vorstellen, dass er in ihrer Nähe sitzen würde. Schließlich hatten Ivan Pokrov und Artemis Ingalawa bei früheren Gelegenheiten an Banketten im rosa Palast teilgenommen, und aus dem Wenigen, das sie davon erzählt hatten, wusste Chegory, dass sich beide nicht einmal annähernd im Umkreis der kaiserlichen Person befunden hatten. „Niemand setzt sich, solange die Kaiserin nicht hereingekommen ist,“ sagte Uckermark. „Mach’ dir keine Gedanken. Man wird es dir schon sagen. Schau’ dich nur um, schau’ dich nur um.“ Mit dieser verschwommenen Anweisung löste sich Uckermark von seinem jungen Begleiter, ließ Chegory einfach im Stich, zugunsten einer Unterhaltung mit einer der einflussreichen Kontaktpersonen, die er seit seiner ersten Bekanntschaft mit Justina innerhalb des Palastes kennengelernt hatte. Chegory spazierte um die Tische herum, nicht ahnend, dass ihn jeder im Raum unaufdringlich musterte. Justinas Neuester! Wie lange würde der wohl durchhalten? Eine Nacht? Eine Woche? Würde es mehr als eine Woche sein, wäre er ein echter Wundertäter, denn Justina hatte sich bisher bei ihrer Queste nach Neuheiten als sehr beharrlich erwiesen. Das war sie schon immer gewesen, seit sie das Alter von Sechzehn erlangt hatte. Damals, als sie noch in Galsh Ebrek aufgewachsen war, hatte sie die Intensität ihrer Gelüste dadurch unter Beweis gestellt, dass sie… [Hier ist ein langer und ermüdender Katalog gelöscht worden, mit der Begründung, dass dieser Katalog, zusammen mit den dazugehörigen gynäkologischen Einzelheiten, durch und durch langweilig ist. Auf Anweisung, Ostik Vo, Magister der Philosophie.] Chegory dachte nicht an die Torturen, die ihn zur Schlafenszeit erwarten würden, nicht an den Moment, wenn ihn Justina an ihr Fleisch pressen würde, wenn er seine Männlichkeit unter Beweis stellen oder allerhöchstes kaiserliches Missfallen erdulden müsste. Nein. Er dachte nicht daran, weil er, wie alle Menschen, die kolossale Fähigkeit besaß, die Wirklichkeit zu verdrängen. Trotz Uckermarks Anspielungen und unverblümten Ankündigungen, und trotz der naheliegenden Schlussfolgerungen aus allem, was ihm seit seiner Ankunft im Palast widerfahren war, glaubte der junge Chegory noch immer, dass er aus dem Palast mit unversehrter Unschuld entkommen würde. Deshalb dachte unser Ebrellianer nicht ans Bett, sondern machte sich stattdessen Sorgen wegen des Banketts. Wie sollte er mit den Verzwicktheiten des bombastischen Protokolls zurechtkommen, das ein solches Ereignis mit Sicherheit verlangen würde? Schon die Tische selbst schüchterten ihn ein. Glitzerndes Kristall und ähnlich glänzende Spieße. Leinzeug, weiß wie der Schnee, der hier in den Bergen des Mondes den Boden bedeckt – freilich wäre Chegory dieser Vergleich mit Schnee nicht in den Sinn gekommen, da er so eine Substanz noch nie gesehen hatte. „Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen könnten, mein Herr?“ Das kam von einem Kellner, der damit beschäftigt war, Pergamentbögen auszuteilen. Einen Bogen an jeden Platz, um sich dort zu den kleinen Schüsseln voller Ananas-Stückchen und Kokosnuss-Trümmern zu gesellen, Seite 132 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 und zu den duftenden Moskitospiralen, die leise vor sich hin qualmten. Chegory trat einen Schritt vom Tisch zurück. „Vielen Dank, mein Herr,“ sagte der Kellner, der dabei ein weiteres Pergament ablegte. Das war Chegorys erste Begegnung mit einem richtigen Kellner, und dessen fürstliches Auftreten hatte den jungen Ebrellianer derart aus der Fassung gebracht, dass er ihn zumindest für einen hochrangigen Staatsdiener hielt. Trotzdem fasste er sich immerhin soweit ein Herz, dass er zu fragen wagte: „Was ist das?“ „Das, mein Herr, sind Moskitospiralen.“ „Ich meine die – diese Dokumentsachen, die Sie da verteilen.“ Chegory fragte, weil er die Toxteth-Schrift nicht lesen konnte, mit der die Pergamente verziert waren. Da er nur Ashmarlan lesen und schreiben konnte, war er praktisch ein Analphabet, was das praktische Leben auf Untunchilamon anging. „Das, mein Herr, sind Rezepte,“ sagte der Kellner. „Rezepte?“ sagte Chegory. „In der Tat. Denn wie sollten wir ohne Rezept Wein zu uns nehmen? Und wie könnten wir überdies ein Bankett ohne Wein veranstalten?“ „Rezepte,“ sagte Chegory, der noch immer daran herumrätselte. „Sie meinen – Sie meinen, all diese Leute sind krank?“ „Das sind sie, in der Tat,“ sagte der Kellner. „Eine Tragödie, junger Herr! In Untunchilamons herrschender Klasse gibt es ein niederschmetterndes Ausmaß an Krankheiten, verstehen Sie? Nun ja, das hier wurde beispielsweise Lord Idaho verschrieben. Zwei Bier gegen seine schlechte Verdauung, fünf Gläser Wein gegen den Schmerz seiner Kriegsverletzungen, und ein doppelter Brandy, um ihm gegen seine Senkfüße zu helfen.“ „Senkfüße?“ sagte Chegory. „Sie können Senkfüße mit Brandy heilen?“ „Ich, junger Herr?“ sagte der Kellner, während er in Windeseile weitere Rezepte an ihren Bestimmungsort legte. „Ich bin nur ein Kellner, deshalb kann ich auch nichts heilen. Aber die Ärzte, junger Herr – ah, deren Künste wären selbst für einen Wundertäter eine Zierde!“ „Meinen Sie damit,“ sagte Chegory, der dem flinken Kellner hinterherlief, „dass man mit Alkohol tatsächlich Senkfüße heilen kann?“ „Heilen?“ sagte der Kellner. „Ein starkes Wort, fürwahr! Denn es vermittelt bis zu einem gewissen Grad den Eindruck einer dauerhaften Lösung, die, wie Ihnen selbst der tapferste Philosoph erläutern wird, in einer Welt voller Risiken praktisch unmöglich ist. Nein, junger Herr. Ihr bester Arzt kann zwar oft Wunder vollbringen, aber selbst der braucht keine völlig unmögliche Großtaten in Angriff zu nehmen. Sprechen Sie also nicht von Heilung. Sprechen Sie lieber von Behandlung.“ „Behandlung?“ bohrte Chegory nach. „Gewiss! Trost, Linderung, Behaglichkeit. Genau deshalb ist Alkohol die beste Medizin der Welt. Deswegen haben wir hier jede Menge Behandlungen, gegen Schüttelfrost und Schüttellähmung, gegen Kropf und Leistenbruch, gegen die Vervielfältigung des Kinns und die Dehnung des Bauchs, gegen den Verlust der Zeugungskraft oder gegen ein Übermaß davon, gegen Schlangenbisse, alte Wunden und Krampfadern, gegen Anfälle von Jubelstimmung und gegen düsterste Verzweiflung.“ Inzwischen war der Kellner so weit vorangekommen, dass er beinahe die Mitte der Ehrentafel erreicht hatte. Seite 133 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Hier sitzt Uckermark,“ sagte der Kellner, wobei er ein Pergament ablegte. „Der Leichenmeister. Ich kenne ihn gut. Er hat vor drei Jahren meine Großmutter ausgestopft. Sie schaut noch immer aus wie neu.“ Der Kellner bewegte sich um einen Platz näher zur Mitte hin. Er blieb stehen, mit dem Hungerkäfig direkt hinter ihm, und überflog das Pergament in seiner Hand. „Junger Herr,“ sagte er, „Sie sind nicht zufällig ein Opfer von Blutarmut?“ „So hat man mir das jedenfalls erzählt,“ sagte Chegory skeptisch. „Wenn es Ihnen ein Doktor erzählt hat, dann muss es wahr sein. Ein Ebrellianer, so steht es hier. Er soll Chegory Guy heißen. Ist das Ihr Name?“ „Das ist er,“ sagte Chegory. „Dann sitzen Sie hier,“ sagte der Kellner und legte mit einer schwungvollen Geste Chegorys Rezept auf den Platz zur Linken Uckermarks. „Und wessen Platz ist dann der hier?“ sagte Chegory, als der Kellner das nächste Pergament ablegte. „Der hier?“ sagte der Kellner. „Dieser Platz gehört einer holden Dame, die an… sagen wir mal, dass sie an Schlafstörungen leidet. Das ist die vornehme Ausdrucksweise dafür, nicht wahr?“ Dann zwinkerte er Chegory zu, was ziemlich unprofessionell von ihm war, und setzte seinen Weg fort. Chegory zog davon, um Uckermark zu suchen, hatte den Leichenmeister aber noch nicht ausfindig gemacht, als Trompeten erschallten, die das Geschnatter im Großen Saal zum Schweigen brachten. Wächter kamen mit gezückten Krummsäbeln herein. Dann betrat Kaiserin Justina das Gemach des Festmahls. Sie winkte fröhlich ihren Untertanen zu, während sie ihrem Platz zustrebte. Dieser Platz war… Dieser Platz war der mittlere Sitz an der Ehrentafel. Direkt neben dem, den man Chegory Guy zugewiesen hatte. Aber bestimmt, bestimmt… „Ein Fehler,“ sagte Chegory, als jemand seinen Arm packte. „Da ist ein Fehler passiert.“ „Mir brauchst du das nicht zu erzählen,“ sagte Juliet Idaho. „Na los! Lass die Kaiserin bloß nicht warten!“ Mit diesen Worten steuerte der Yudonische Ritter Chegory auf die Ehrentafel zu. Er drückte mit seinen Fingern fest auf den Bizeps des jungen Mannes. „Denk’ dran, was ich dir erzählt hab’!“ „Spieße,“ sagte Chegory. „Jawohl, jawohl, ich erinnere mich, nicht anfassen, keinen Stahl, nichts berühren. Mit den Fingern essen, alles, den Fisch, die Suppe, einfach alles.“ „Die Suppe isst du mit dem Löffel, du Depp!“ sagte Idaho. „Den Rest aber mit deinen Fingern, ganz recht. Eine Hand an einem Spieß, und das ist es gewesen! Wwhst! Ab ist dein Kopf! Siehst du die Wächter?“ „Ich seh’ sie,“ sagte Chegory. Er sah die Krummsäbler auf beiden Seiten des Hungerkäfigs stehen und wusste, dass das die Wächter waren, die Idaho gemeint hatte. Sie würden im Nu bei ihm sein. Um ihm den Kopf abzuschneiden! „Also pass gut auf dich auf!“ sagte Idaho, der seine Drohung nur leise äußerte, weil sie allein für Chegorys Ohren bestimmt war. Seite 134 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Dann gab er dem Ebrellianer einen Schubs, der ihn nach vorne taumeln ließ. Kaiserin Justina lächelte ihn an. An allen drei Tischen standen die Gäste neben ihren Stühlen. Warteten darauf, sich hinsetzen zu können. Chegory fühlte sich benommen. War von Panik erfüllt. Er sehnte sich danach, wegzulaufen, zu fliehen, aus dem rosa Palast zu spurten und sich auf ewig in den tiefsten Stellen der Unterwelt zu vergraben. Chegory erreichte den Tisch. Ein Diener zog seinen Stuhl zurück. Was nun? Vermutlich würde sich erst die Kaiserin hinsetzen, dann würden die Gäste ihre Plätze einnehmen. Chegory wartete. Schweißperlen rollten seine Stirn hinab. „Setz’ dich!“ zischte Uckermark, dessen Mund nur eine Fingerlänge von Chegorys Ohr entfernt war. Was war richtig? Sich zu setzen, oder sich nicht zu setzen? Sicherlich könnte er sich nicht… „Du bist der Ehrengast,“ flüsterte Uckermark erregt. „Du! Setz’ dich setz’ dich setz’ dich!“ Chegory setzte sich. Der Rest der Gäste folgte seinem Beispiel mit laut scharrenden Stühlen, und bald darauf folgte ein anschwellendes Gemurmel aus Bemerkungen, Widerworten und völligem Geschwätz. Die Kaiserin stand noch immer aufrecht da. War irgendetwas falsch? Chegory riskierte einen kurzen Blick über seine Schulter. Die Wächter auf beiden Seiten des Hungerkäfigs hatten sich nicht bewegt. Aber sie waren da. Bereit. In Wartestellung. Die Wächter, das waren zwei große Männer, die so mit Muskeln bepackt waren, dass sie mit bloßen Händen wohl selbst einen Ochsen zu Fall gebrächt hätten, die mit unbewegten Mienen dastanden und sich dabei leicht auf die Griffe der entblößten Klingen ihrer Krummsäbel stützten, deren Spitzen auf Korkblöcken ruhten, um ihre Schärfe zu bewahren. Noch immer, noch immer stand die Kaiserin da. Der Stuhl zu ihrer Linken war leer. Wartete sie vielleicht auf einen weiteren Gast? Rund um den Tisch entstand ein richtiggehendes klingelndes Geschepper. Was war da los? Die Leute streiften sich ihre Ringe, Broschen und andere Kinkerlitzchen ab. Warfen sie so von sich weg, dass sie inmitten der Kristallgläser, des polierten Silbers und des weißen Porzellans herumpurzelten. Chegory, der diesen Brauch nicht kannte, den Justinas Vater aus Galsh Ebrek mitgebracht hatte, war überhaupt nicht in der Lage, die Bedeutung dieser schlichten Zeremonie zu begreifen. Der letzte Ring wurde – vorübergehend – abgelegt. Dann, und erst dann, setzte sich Justina hin, wobei sie einen glücklichen Seufzer ausstieß, während sie es sich auf dem Stuhl direkt neben Chegory Guy bequem machte. Er stand sofort auf, als Zeichen seiner Hochachtung. „Setz’ dich!“ sagte die Kaiserin in gebieterischem Ton. Dann, nachdem er sich gefügt hatte, fuhr sie milder gestimmt fort: „Alberner Junge! Du glaubst doch nicht, dass du fortlaufen kannst, oder?“ Zu Chegorys Erstaunen sprach sie selbst auf dem Bankett in Toxteth. Nun sind sich alle einig, dass sich die Sprache von Wen Endex ausreichend gut für den Krieg eignet, bei dem die Yudonischen Ritter Experten sind. Sie ist jedoch vollkommen ungeeignet für den geselligen Umgang auf höchster Ebene, denn ihr fehlen die subtilen Höflichkeitsfloskeln und Verkleinerungsformen, mit denen das anspielungsreiche Janjuladoola bei jeder Äußerung den Geringeren erlaubt, den Höhergestellten Ehre zu erweisen, und den Höhergestellten, den Geringeren die Minderwertigkeit ihres Daseins begreiflich zu machen. „Eure Majestät,“ sagte Chegory, „ich existiere nur, um Euch zu dienen.“ Seite 135 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Das hatte er erst vor wenigen Augenblicken hastig einstudiert, und – besser noch – er hatte es in Janjuladoola einstudiert. Für „eure Majestät“ verwendete er auf Janjuladoola „thayalamantalajora“, was buchstäblich übersetzt „alles überragende Göttin“ lautet. Von den neun Formen des „ich“, die ihm zur Verfügung gestanden hatten, hatte er (korrekterweise) das Wort „varacasondundra“ gewählt, buchstäblich also „ich selbst ein Wurm“. Es kam perfekt aus ihm heraus. Selbst wenn der Ebrellianer das Universum damit überrascht hatte, dass er die angemessene Sprache und die korrekten Worte für diese nette kleine Darbietung gewählt hatte, muss man dennoch festhalten, dass das, was aus ihm herausgekommen war, schablonenhaft und überhaupt nicht originell gewesen war. Andererseits besaß Chegory Guy noch keine vorherigen Erfahrungen im Umgang mit kaiserlichen Machthabern und hatte notgedrungen auf abgedroschene Floskeln zurückgreifen müssen, die er geradewegs den Legenden über heldenhafte Prinzen und dergleichen entwendet hatte. Während sich Chegory gerade noch beglückwünschte, die erste seiner vielen Prüfungen in den Hallen des guten Benehmens erfolgreich überstanden zu haben, wurde Justinas Albino-Affe Vazzy an den Tisch gebracht und auf dem bisher leeren Stuhl zur Linken der Kaiserin platziert. Diesmal gehörte zu dieser Platzierung die Befestigung der Kreatur mittels lederner Fußfesseln an seinem speziell beschwerten Thron. Beim letzten Bankett hatte Vazzy seiner Leidenschaft, Tischwettkämpfe zu inszenieren, einmal zu oft gefrönt, und Justina war schließlich zu der Entscheidung gelangt, dass ein herumtobender Affe nicht die Zierde einer abendlichen Unterhaltung darstellte. Sobald er platziert war, betrachtete der kaiserliche Liebling Chegory nachdenklich, streckte dann seine Pfote aus. „Na, Chegory,“ sagte die Kaiserin. „Wo bleiben deine Manieren?“ Chegory suchte nach Worten, fand aber keine, starrte deshalb Kaiserin und Affe nur an und benahm sich um alles in der Welt so, als ob man seine Zunge in der Art der Folterknechte von Nieder-Sladvonia verknotet hätte. Angesichts seines Mangels an gesellschaftlicher Raffinesse war sein Anfall verbaler Verstopfung nur verständlich. Immerhin findet man in den Legenden über heldenhafte Prinzen, die ihn bis dahin mit einem Vorrat an Redewendungen versorgt hatten, keine Erwähnung der protokollarischen Feinheiten, die sich ergeben, wenn ein gewöhnlicher Steingärtner den geselligen Umgang mit einem kaiserlichen Affen pflegen will. „Na, mach’ schon!“ sagte Justina. „Gib ihm deine Hand!“ Chegory sollte – sollte was tun? Seine Hand abhacken und dem Affen als Zeichen seiner Lehenstreue überreichen? Er blickte entgeistert um sich. Die bedrohlich missbilligend dreinblickenden Wächter standen mit einsatzbereiten Krummsäbeln nur einen Schritt von ihm entfernt da. Vazzy erlöste Chegory aus seiner Unschlüssigkeit. Der rotäugige Affe machte einen Satz, packte Chegorys Hand und zog daran. Chegory zog in die Gegenrichtung. Schwitzend. Schnaufend. Auf seine Lippen beißend. Seine dicken Ebrellianer-Finger befanden sich jetzt direkt über Justinas Schoß. Sie waren nur eine Fingerlänge entfernt von – von – Bei allen Göttern! „Du alberner Junge!“ sagte Justina, mit einem Lachen, das wie ein Windspiel klang. „Schüttle seine Hand, dann wird er deine wieder loslassen!“ Seine Hand schütteln? Warum? Chegory hatte keine Ahnung, ruckelte aber trotzdem mehrmals an der Pfote des Affen. Zu seiner Erleichterung ließ ihn Vazzy danach wirklich los. Chegory riss sein Hand zurück, als ob man sie ihm verbrüht hätte. Er sackte auf seinem Sitz zusammen. Ein beflissener Bediensteter wischte ihm den Schweiß ab, der ihm jetzt von der Stirn herabströmte. Chegory ertrug diese Pflege ohne Protest, merkte dann aber, dass ihm ein Kellner eine Frage gestellt hatte. „Was?“ sagte er. Chegory erschrak über seine überlaute Stimme, über den Ton haifischmäßiger Grausamkeit in dieser einzelnen Vokabel. Einen Augenblick später merkte er (zu seinem Entsetzen!), dass er seine Frage in seiner Muttersprache Dub gestellt hatte, anstatt seine Erkundigung im duftigen Janjuladoola auszudrücken, oder im (gewiss zweitbesten – aber auch von der Kaiserin verwendeten) guten ehrlichen Toxteth. Seite 136 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Der Kellner wiederholte seine Frage, wobei er sich der allerhöflichsten in Janjulodoola denkbaren Ausdrucksformen bediente, es dabei aber dennoch schaffte, das gelangweilte Gefühl unendlicher Überlegenheit zu vermitteln: „Met, mein Herr? Oder Wein?“ „Ein – ein Arzt hat mir Met gegen meine Blutarmut verschrieben,“ sagte Chegory, der leicht ins Straucheln kam, während er diese schlichte Tatsache auf Janjuladoola wiedergab. Ihn hatte plötzlich Angst vor diesem Kellner erfasst, was recht natürlich war angesichts des gewaltigen Gefühls der Überlegenheit seitens des Kellners, und angesichts Chegorys wachsender Nervosität. „Diese Ärzte übertreiben gern mal mit ihren Rezepten!“ sagte Justina. „Gib ihm Wein, das ist viel ungefährlicher.“ „Ihre Majestät besitzt ein Diplom des medizinischen Kollegs,“ murmelte der Weinkellner, „man kann sich deshalb bedingungslos auf ihr Urteil verlassen.“ Die betreffende Auszeichnung war ein Ehrendiplom gewesen, aber das erwähnte der Kellner nicht, während er Chegory (dem Ehrengast) den Wein einschenkte, dann der Kaiserin, und dann Vazzy (weil sich der Affe in Besitz eines medizinischen Attests befand, das der kaiserliche Tierarzt unterzeichnet hatte). „Danke,“ sagte Chegory, der wirklich dankbar dafür war, dass die Kaiserin sozusagen von ihrem Sitz zwischen den Sternen zu ihm herabgestiegen war, um sich so zweckdienlich um den Kellner zu kümmern. Er beglückwünschte sich dafür, seinen Dank auf Janjuladoola abgestattet zu haben. Dann packte ihn das Entsetzen. Er hatte die vertrauliche Form benutzt! Er hatte efkarindorenskomiti gesagt, das Wort, mit dem sich ein Freund bei einem Freund bedankt, oder (weil das in der Tat eine sehr vertrauliche Form ist!) das ein Liebhaber gebraucht, um einen Kuss wenige Augenblicke nach einem Orgasmus zu begleiten. Das Wort, das er hätte verwenden sollen, um seinen Dank auszudrücken, wäre (natürlich) dundaynarbardinadorsklo gewesen, denn so und nur so sollte ein Sklave oder dergleichen einen kaiserlichen Machthaber ansprechen. Eine solche Verletzung der Anstandsregeln sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Am Hof von Aldarch dem Dritten (der, bei allem, was man gegen ihn vorbringen mag, sich ständig große Mühe gegeben hat, die Manieren seiner Leute zu verbessern) sind viele für weitaus weniger schwerwiegende protokollarische Verfehlungen auf der Stelle hingerichtet worden. Aber die Kaiserin Justina lachte bloß. Sie war entzückt! „Ich bin so froh, dass wir uns endlich besser kennenlernen können,“ sagte sie. Obwohl sie auf Toxteth sprach, deuteten ihre Worte an, dass sie alle Feinheiten in Chegorys Janjuladoola begriffen hatte. Was sollte er also darauf sagen? Dass er das so überhaupt nicht gemeint hatte? „Danke,“ sagte er hilflos. Diesmal sagte er es aber auf Toxteth, also in einer Sprache, die ihm viel weniger Gelegenheiten bot, gesellschaftliche Ausrutscher zu begehen, die nahezu unvermeidlich sind, wenn sich ein ungeschickter Fremdsprachler damit abmüht, sich mit den köstlichen Verzwicktheiten des Janjuladoola herumzuschlagen. Ehe Chegory die Gelegenheit bekam, sich noch weiter zu blamieren, begann Justinas weißer Affe vor lauter Vorfreude zu tröten. Eine weißgesichtige Gestalt, die sich mit einer prunkvollen, mit Muränen und Skorpionfischen bestickten Robe geschmückt hatte, näherte sich soeben der Kaiserin. Auf den Affen wartete jedoch eine Enttäuschung, denn Aquitaine Varazchavardan erinnerte sich daran, was beim letzten Bankett geschehen war, und blieb ein gutes Stück außerhalb der Reichweite des Affen stehen. „Hallöchen,“ gurrte Kaiserin Justina, mit einem verschlagenen Lächeln auf ihren Lippen. „Was können wir heute für dich tun, junger Mann?“ Varazchavardan war nicht jung, sonst wäre er vermutlich auf der Stelle aus der Haut gefahren. Stattdessen räusperte sich der Albino-Hexer und sagte, wie es die Benimmregeln des Banketts von ihm verlangten: Seite 137 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Höchstverehrte Majestät, als Meister der Rechte bitte ich Euch in meinem Namen, und in dem Eurer hier versammelten Gäste, dass uns das Ritual der Beichte erspart bleibt.“ „Ich weiß nicht,“ sagte Justina. „Was meinst du, Chegory? Sollen wir diesem Mann die Beichte ersparen?“ Diese Bemerkung sorgte selbstverständlich dafür, dass sich die Aufmerksamkeit des Meisters der Rechte auf den jungen Chegory Guy richtete, der Varazchavardan nur hilflos anstarren konnte. Der entsetzte Ebrellianer sah um alles in der Welt wie eine Haselmaus aus, die von einer Kobra überrascht worden war. Chegory konnte an nichts anderes denken als an die Szene im Drunten, wo sich der Hexer von den Marodeuren vom Volk der Malud losgerissen hatte, die ihn schon zu ihrem Gefangenen gemacht hatten. Varazchavardan hatte Flammen aus seinem Körper herausschießen lassen, mit zweifachen Folgen. Die erste war gewesen, dass der ältliche Pirat, der Varazchavardan ein Messer an die Kehle gehalten hatte, ihn losgehalten hatte. Die zweite war gewesen, dass der Schnaps, mit dem der Boden überschwemmt gewesen war, Feuer gefangen hatte, was dafür gesorgt hatte, dass den Hexer nahezu augenblicklich die Flammen verschlungen hatten. Offensichtlich hatte er überlebt. Genauso offensichtlich, nach dem Blick zu urteilen, den er dem jungen Chegory zuwarf, erinnerte er sich daran. „Na, Chegory?“ sagte Justina sanft. “Wollen wir ihm die Beichte ersparen oder nicht?” „Er – ersparen Sie’s mir,“ sagte der entsetzte Chegory. „Bitte!“ „Er erspart’s dir,“ sagte Justina zu Varazchavardan. „Ist das nicht lieb von ihm? Eines Tages dürfen wir es dir aber nicht mehr ersparen. Ich wäre höchst interessiert, mir deine Beichte anzuhören, mein Vazzy-Schätzchen. Höchst interessiert.“ Aquitaine Varazchavardan verbarg sein tiefes Missfallen über die beleidigende Verkleinerungsform, mit der ihn Kaisern Justina angesprochen hatte. Stattdessen verbeugte er sich sehr tief und sagte dann: „Die Weisheit Eurer Majestät wird nur von Eurer Anmut und Schönheit übertroffen.“ Dann verbeugte sich Varazchavardan noch tiefer, ehe er auf dem Absatz kehrtmachte. Als der Meister der Rechte anfing, fortzugehen, bot Justina ihrem Affen ein Stückchen Kokosnuss an. „Vazzy,“ sagte sie, wobei sie mit höherer Stimme sprach, um sich Gehör zu verschaffen. Varazchavardan drehte sich um, nur, um dann mitansehen zu müssen, wie Justinas Affe die dargebotene Delikatesse aus den kaiserlichen Fingern entgegennahm. Justina schenkte Varazchavardan ein süßes Lächeln. Er starrte zurück. Wenn Blicke töten könnten, wäre die Kaiserin Justina auf der Stelle bis auf die Knochen geröstet worden. Wenn Blicke töten könnten, hätte es auf Untunchilamon augenblicklich ein Massaker gegeben. Seeleute hätten laut aufgeschrien, während sie auf Schiffen weit draußen auf dem dahineilenden Meer ihr tödliches Ende gefunden hätten. Eine Schneise der Verwüstung hätte sich ihren Weg über ganze Kontinente gebahnt. Prinzen in weit entfernten Städten wären von ihren prächtigen Thronen gestürzt, während sie eimerweise Blut aus ihren Rachen gespien hätten. In tief im Inneren der Berge liegenden Höhlen hätten riesige Drachen voll heftiger Höllenqualen aufgebrüllt, hätten vor Schmerz und Wut um sich getreten, und wären dann gestorben. Von solcher Art war der Blick, den Varazchavardan Justina zuteil werden ließ. Die Kaiserin lächelte erneut, ganz genau so süß wie zuvor, und Varazchavardan drehte sich um und stolzierte davon. Woraufhin Justinas Affe eine Moskitospirale ergriff und sie dem sich entfernenden Meister der Rechte hinterherschleuderte. Sie traf Varazchavardan am Rücken, was bei einigen der weniger feinsinnigen Beobachter, die am Tisch saßen, ein leises Kichern hervorrief, aber der Wunderwirker ignorierte diesen Angriff und lief weiter, als ob nichts passiert wäre. „Aber, aber,“ sagte Justina im Tonfall eines milden Tadels. „Das ist sehr unartig von dir gewesen, Vazzy. So etwas darfst du nicht tun.“ Woraufhin Vazzy breit grinste, dreimal trötete, und dann anfing, gierig den kleinen mit Ananas-Stückchen gefüllten Napf leerzufressen, den ihm Justina hingeschoben hatte. Inzwischen promenierte ein unnahbarer Seite 138 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Kellner in den halboffenen Raum zwischen den drei langen Bankett-Tischen hinein, hob die noch immer qualmende Moskito-Spirale auf, und zog sich dann mit dem Gegenstand des Anstoßes wieder zurück. Man muss an dieser Stelle festhalten, dass Albino-Affen sehr selten und schwierig zu beschaffen sind, dass Aquitaine Varazchavardan schon lange in Justinas Dienst gestanden hatte, bevor sie ihr Haustier erworben hatte, und dass das Vorrecht, dem Tier einen Namen zu geben, ihr, und zwar nur ihr, zugestanden hatte. Chegory, der von alldem nichts wusste, und der genügend ahnungslos war, um das Durcheinander der Namen für reinen Zufall zu halten, hatte dennoch Varazchavardans Groll bemerkt. Er hatte tatsächlich (vermutlich psychosomatisch) einen Brustschmerz verspürt, als er Varazchavardans offenkundige Wut beobachtet hatte. In seiner Unwissenheit konnte Chegory nur zu der Annahme gelangen, dass es die Provokation seiner eigenen Anwesenheit gewesen war, die den Meister der Rechte so erzürnt hatte, dass er sich in diesem Moment bestimmt schon ein ganz besonders schreckliches Verderben für den unglückseligen Ebrellianer ausdenken würde, der seine Wut derart entfacht hatte. Er wandte sich zu Uckermark, in der Absicht, ihn um Rat zu fragen, aber der Leichenmeister konzentrierte sich auf die überparfümierte Frau zu seiner Rechten, auf ein knuspriges junges Ding, das so ungezwungen mit ihm plauderte, als ob er ihr echter Liebhaber wäre. „Chegory,“ sagte Justina. „Dein Wein. Du hast ihn noch überhaupt nicht gekostet.“ „Ich – ich…“ „Du wirst doch wohl nicht deine Medizin ablehnen, oder? Sei ein braver Junge. Trink’ sie aus. Davon ist wirklich jede Menge da.“ Das lief praktisch auf eine Einladung hinaus, sich sternhagelvoll zu betrinken. Nach dem Tempo zu urteilen, mit dem andere Gäste die ihnen verschriebene Medizin vernichteten, und dem Eifer, mit dem ihre leeren Gläser wieder aufgefüllt wurden, wäre ein solches Verhalten in der Tat durchgegangen, ohne aufzufallen. Trotzdem nippte Chegory nur äußerst behutsam am eigenen Glas. „Du schaust bekümmert drein, mein Liebling,“ sagte Justina. „Was ist los?“ „Nichts, nichts,“ sagte Chegory. „Es liegt doch hoffentlich nicht am Wein?“ „Nein, nein, der – der Wein ist herrlich.“ „Was dann… die Sachen auf dem Tisch vielleicht, Chegory? Du machst dir doch deswegen keine Sorgen, oder etwa doch? Zuerst wird es Suppe geben, dafür sind die Löffel da. Danach ein Fleischgericht. Dafür werden wir diese Spieße benutzen, und danach – ah, aber hier kommt schon die Suppe! Ich hoffe sehr, dass mit ihr alles in Ordnung ist. Sie ist nämlich eine besondere Kreation meines neuen Chefkochs. Pelagius Zozimus, so heißt er.“ „Zozimus!“ sagte Chegory händeringend, der diese Gelegenheit sogleich beim Schopf ergriff. „Da, da gibt’s etwas, das ich Euch über den verraten möchte. Der ist gar kein Chefkoch, der ist ein Elf, ein Elfenfürst, genau das ist er nämlich, Drunten, ich hab’ ihn im Drunten gesehen, zusammen mit Schwertkämpfern, er war vollständig in eine glänzende Rüstung gehüllt, wirklich, ehrlich, so glaubt mir doch!“ „Oh, Chegory!“ sagte Justina, die seine verzweifelten Worte mit einem perlenden Lachen zur Seite wischte. „Du machst mir Spaß! Ein Elf? Liebster Chegory, so etwas wie Elfen gibt es gar nicht. Ein Elfenfürst, mit einem gerüsteten Heer im Drunten? Eine köstliche Vorstellung, mein Schatz, aber heb’ sie noch ein bisschen für mein Vergnügen auf, bis ich etwas mehr getrunken habe.“ So war also Chegorys Gelegenheit, Zozimus bloßzustellen, gekommen, ergriffen worden und vergebens geblieben. Man setzte seine Suppe vor ihn hin, und er begann zu essen, wobei er jeden Löffel der nahrhaften Brühe mit der gleichen Vorsicht kostete, die er vorher an den Tag gelegt hatte, als er den Wein probiert hatte. „Wir haben natürlich Vorkoster, weißt du?“ sagte Justina, die sein Zögern beobachtet hatte. „Hier, gib mir das.“ Mit diesen Worten tauschte sie die beiden Näpfe aus. „Da, bitte! Traust du mir nun? Diese Suppe ist für die kaiserlichen Lippen bestimmt. Iss, mein Liebling! Du willst doch bei Kräften bleiben, nicht wahr?“ Seite 139 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Jawohl, Eure Majestät,“ sagte Chegory. Errötete dann derart heftig, dass seine Verlegenheit das angeborene Rot seiner Haut sichtbar übertrumpfte. Justina lachte wie wahnsinnig, trank dann von ihrem Wein, hustete dann, würgte und wäre fast gestorben, denn sie hatte beim Trinken noch immer lachen müssen. Chegory überstand die Suppe (sehr gute, mit Seeigelrogner angedickte Fliegende-Fische-Suppe). Dann wurden die Suppennäpfe flugs entfernt, und an ihrer Stelle materialisierten Teller mit verschiedenen Fleischsorten. Der Chefkoch hatte sich selbst übertroffen. Auf Chegorys Teller lagen Stücke von Katze, Hund, Affe, Ratte, Ziege, Bananenfrosch, Krähe, Geier, Zackenbarsch, Gecko und Eidechse. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Sein Hand griff automatisch nach dem Spieß. Aber kurz bevor sich seine Finger auf den tödlichen Stahl legten, fiel es ihm wieder ein – und er riss seine Hand weg, als ob er sie sich verbrannt hätte. Justinas Spieß war bereits im Einsatz. Er zuckte nach links und rechts, während sie auf der Jagd nach saftigen Brocken der fein gehackten Köstlichkeiten war. Sie steckte sich ihre erste aufgespießte Ladung in den Mund, lutschte sie herab, begann dann zu kauen. Sie schwitzte beim Essen, denn sie war eine sehr füllige Frau, und die Luft und das Fleisch waren heiß. Chegory schwitzte ebenfalls. Er musste seine Fleischbrocken aber erst noch anrühren. „Du hast wohl viele Freundinnen?“ sagte Justina, die beim Beladen ihres Spießes eine Pause eingelegt hatte. „Im Moment gar keine,“ sagte Chegory, weil er fürchtete, dass man Olivia Qasaba auf brutale Weise aus dem Weg räumen könnte, falls Justina von ihrem Vorhandensein erfahren würde. „Keine?“ sagte Justina. „Wie tragisch! Junge Frauen haben keinen Geschmack. Überhaupt keinen Geschmack. Oder ist es deine Arbeit, die sie abschreckt?“ „Arbeit?“ „Im Leichenladen.“ Erst jetzt erinnerte sich Chegory daran, dass Kaiserin Justina von ihm annahm, dass er bei dem Leichenmeister Uckermark in die Lehre ging. Sie glaubte, er würde den ganzen Tag mit Därmen und Hirnen arbeiten, mit dem Gestank unreiner Leichen, würde sie ausstopfen, einbalsamieren oder zerstückeln, ganz nach Bedarf. „Der, ähm, naja, der Job, das ist eben ein Job, okay, kein Job kein Geld kein Essen und all das, aber, ah, oh naja, ich meine, ich – ich wünschte, die Leute wären nicht so, so… naja, so tot.“ Zu schnell, zu schnell, er redete viel zu schnell, machte einen Idioten aus sich. Was sollte die Kaiserin nur von ihm denken? Er müsste langsamer werden, das Tempo drosseln, immer nur ein Wort nach dem anderen aussprechen. „Pah!“ sagte Justina. „Du magst die Toten nicht? Und was essen wir dann gerade? Naja, totes Fleisch! Tote Frösche, tote Fische, tote Vögel. Leichen. Kadaver. Sind wir denn keine Tiere? Mit dem Appetit von Tieren? Mit ihren Begierden? Mit ihren Gelüsten?“ „Manche schon,“ sagte Chegory bedächtig. „Du bist aber kein Kastrat, stimmt’s?“ Da dies von der Kaiserin kam, konnte es nur ein Scherz sein. Sie hatte Chegorys medizinische Akte bereits unter die Lupe genommen. Sie wusste ebensoviel über ihn wie eine Ehefrau nach zehn Jahren – oder mehr. Aber Chegory dachte, dass die Nachfrage ernst gemeint war. „Zufällig nicht,“ sagte Chegory, „also nein, ich bin kein… kein Kastrat.“ Er fühlte sich zusehends ungemütlicher. Einmal mehr wäre er am liebsten davongelaufen. Er war sich völlig im Klaren, dass ihn Justina gerade wie ein Drache musterte. Gerade so, als ob er ihre Beute wäre. „Dann vielleicht ein Vegetarier?“ sagte Justina, weil sich Chegory noch immer seines Essens enthalten hatte. Seite 140 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Nein, auch das nicht,“ sagte Chegory. Bemerkte dann seinen Fehler. Hätte er Vegetarismus vorgeschützt, hätte er eine Ausrede gehabt, das Fleischgericht nicht anrühren zu müssen, von dem er sich nun mit Sicherheit ernähren müsste, wenn er nicht Ärgernis erregen wollte. Er nahm sich ein Stückchen Bananenfrosch von seinem Teller. Mampfte es in sich hinein. „Nicht mit den Fingern, Chegory-Schätzchen,“ sagte Justina. „Nimm den Spieß. Dafür ist der doch da. Um das Fleisch zu essen.“ „Ihr müsst ihm verzeihen,“ sagte Uckermark, der seine Aufmerksamkeit einen Augenblick lang von der koketten Frau zu seiner Rechten abwandte. „Er kennt sich mit den Tischmanieren nicht besonders gut aus.“ „Ah, aber wir werden sie ihm beibringen,“ sagte Justina. „Wir werden ihm… alles beibringen!“ Leichenmeister und Kaiserin tauschten miteinander ein Lächeln aus. Dann beanspruchte die Kokette Uckermark erneut, und Chegory war wieder auf sich allein gestellt. „Der Spieß da,“ sagte Justina ungeduldig. „Nimm ihn in die Hand!“ Chegory zögerte noch immer. „Hier,“ sagte sie, nahm seinen Spieß und zwang ihn in seine widerstrebenden Finger. „Du hältst ihn so, siehst du? Jetzt steckst du ihn in das Fleisch. So! Das war doch ganz einfach, stimmt’s?“ „Ja,“ sagte Chegory. Stieß dieses Wort in kaum verständlichem Ton aus, nur einen Herzschlag entfernt von Tränen oder Panik. Er zog seinen Kopf ein, seine Schultern hoch, in dem verzweifelten Versuch, sich zu einem schwierigeren Ziel für den kopfabschlagenden Krummsäbel zu machen, mit dessen Hieb er jeden Moment rechnete. „Versuch’s nochmal,“ sagte Justina mit ihrer aufmunterndsten Stimme. Chegory gehorchte. „Gut, gut!“ sagte die Kaiserin. „Siehst du? Du kannst es schaffen, wenn du dich anstrengst. Sehr schön! Jetzt füttere mich!“ „Jetzt…?“ „Füttere mich! Du weißt schon! Spieß ins Fleisch, Fleisch in meinen Mund. Na los, Chegory-Schätzchen. Das ist lustig!“ „Ich… ich kann nicht. Ich darf nicht!“ „Natürlich kannst du! Natürlich darfst du! Das ist ein kaiserlicher Befehl, nicht wahr? Wir können an diesem Tisch doch keinen Hochverrat dulden, oder siehst du das anders? Na los, Chegory! Spieß ins Fleisch, Fleisch in meinen Mund! Wir wollen es schrittweise machen, in Ordnung? Schritt eins, Spieß ins Fleisch.“ Chegory versuchte zu gehorchen. Aber seine Hand weigerte sich, seinem Willen zu gehorchen. Also schloss Kaiserin Justina ihre eigenen heißen schweißnassen Finger um seine Hand und lenkte seinen Spieß in ein Stück Fleisch. Zog dann Chegorys spießhaltende Hand zu ihrem Mund. Sie lutschte das Fleisch ab. Grinste ihn an. „Einfach, stimmt’s? Jetzt machst du es.“ Zögernd gehorchte er. Er hob kalten Stahl an den Mund der Kaiserin. Sie öffnete ihre Lippen, enthüllte ein baumelndes Zäpfchen, eine Zunge, ein Dutzend schartiger brauner Zähne, eine glitzernde Höhle, wo Essensreste im Speichel herumtanzten. Ihre Lippen nahmen ein Stück Hundeleber von seinem Spieß. Seite 141 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Dann spießte Justina einen Leckerbissen von ihrem eigenen Teller auf und fütterte Chegory damit. Er erwiderte dieses Kompliment. Sie führten dieses gemeinsame Manöver erneut durch. Und dann noch einmal. „Meine Güte! Du hast aber weiße Zähne!“ sagte Justina. „Ich kaue Pandanus38,“ sagte Chegory. „Ah ja,“ sagte Justina. „Das ist die richtige Weise, um sie in Ordnung zu halten. Viel Pandanus – und halte dich bloß fern vom Zuckerrohr.“ „Jawohl, Eure Majestät,“ sagte Chegory. „Nenn’ mich Juzzy,“ sagte Justina. „Und ich werde dich… Cheggy nennen. Gefällt dir dieser Name?“ „Ich… ähm… jawohl, Eure Majestät. Cheggy genügt völlig.“ „Bestens!“ sagte Justina und öffnete ihren Mund, um einen weiteren Brocken Fleisch entgegen zu nehmen. Chegory fing an, Zuversicht zu gewinnen. Er blickte zu den Krummsäblern. Sie hatten sich nicht bewegt. Die Muskelprotze standen noch immer unbeweglich da, die Spitzen ihrer rasiermesserscharfen Waffen ruhten noch immer auf den Korkblöcken. „Das ist prima,“ sagte Justina, als sie Chegory erneut gefüttert hatte. „Allmählich bekommst du den Bogen heraus! Und jetzt schneller!“ „Schneller?“ „Ja, schneller! Du weißt schon. Tempo, Chegory, Tempo! Lustig!“ Chegory hielt das für überhaupt nicht lustig, beeilte sich aber trotzdem mit seinen Fingern. Als Antwort darauf beschleunigte Justina ihre eigene Hand. Vom Teller zum Mund flogen ihre Spieße. Hinein – hinaus! Hinein – hinaus! Schnell wie der Blitz zuckte ihr tanzender Stahl. Katzenfleisch! Froschfleisch! Geflügel! Hund! Zu den Lippen zum Mund zu den Lippen zum… Chegorys Stahl traf ins Schwarze! „Aagh!“ Kaiserin Justina riss den Kopf zurück. Chegory hatte sie in die Unterlippe gestochen. „Du hast mich geschnitten!“ sagte Justina. Chegory ließ seinen Spieß fallen. Der blutige Stahl fiel scheppernd auf seinen Teller. Kaiserin Justina hielt ihre Lippe umklammert. Chegory konnte weder atmen noch sprechen oder sich bewegen. Langsam zog die Kaiserin ihre blutbefleckte Hand zurück. Sie richtete ihre grausamen Augen auf den jungen Chegory Guy. Sie verkündete ihm sein Verderben: „Das musst du wieder gesund küssen.“ „Ich muss…?“ Im Saal des Banketts war es völlig still geworden. Selbst die Kellner sahen zu. Justina legte eine fleischige Hand um Chegorys Nacken und zog ihn zu sich her. Er konnte nicht widerstehen. Ein Beifallssturm brach aus den Gästen hervor, als Chegorys Lippen die der Kaiserin berührten. Sie zog ihn noch immer näher heran und hinein. Heiß und feucht war ihr Mund, heiß und feucht, und ihre Zunge bahnte sich mit Gewalt einen Weg in seine 38 Frucht des Schraubenbaums Seite 142 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 eigene Mundhöhle, während ihre Hand seinen Nacken in einem Rhythmus liebkoste, der größere Freuden versprach, die vielleicht noch kommen sollten. Dann ließ sie ihn barmherzigerweise los. „Ah!“ sagte sie. „Das reine Vergnügen, nicht wahr?“ „In der Tat, Eure Majestät,“ sagte Chegory, erhitzt und erschüttert, schwitzend und schlotternd, benommen und verblüfft. „Juzzy,“ sagte Kaiserin Justina. „Hast du das schon vergessen, Cheggy, mein Geliebter?“ „Es… es tut mir leid, äh, Juzzy.“ „Das ist schon besser! Vergiss es aber nicht wieder!“ Mit allergrößter Aufrichtigkeit versprach Chegory, dass er das nicht mehr vergessen würde – und das Bankett ging weiter. Seite 143 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 19 Als das Fleischgericht aufgegesssen war, erhob sich Chegory und zog sich in den Zufluchtsbereich der Latrinen zurück. Er hatte nicht mehr als ein Drittel Glas Wein getrunken, fühlte sich aber trotzdem ausgesprochen wacklig auf seinen Beinen. Sein Schweiß hatte das Duftöl übertrumpft, mit dem man ihn nach seinem Bad so großzügig eingesalbt hatte. Die Teilnahme an diesem Bankett war harte Arbeit! In den Latrinen fummelte er lange an dem Hosenlatz herum, den man in die ungewohnten Seidengewänder, in die er gekleidet war, eingesetzt hatte. Endlich hatte er sein Körperteil aus der Vielschichtigkeit seiner neuen Gewänder herausgeholt. Lehnte dann seinen Kopf gegen den kalten Marmor der Wand, während er in eine Abflussrinne aus Blutstein pisste. Uckermark gesellte sich zu ihm, als er damit gerade noch beschäftigt war. „Wie läuft’s?“ sagte der Leichenmeister, während er seinen Pimmel herauszog. „Diese Frau wird mir sicher noch Gewalt antun,“ stöhnte Chegory. „Nein!“ sagte der äußerst kräftig pissende Uckermark. „Das bildest du dir bloß ein. Die Kaiserin? Dir? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ Chegory blickte seitwärts zu Uckermark und sah, dass der Leichenmeister grinste. „Helfen Sie mir!“ sagte Chegory verzweifelt. „Du willst wirklich meine Hilfe?“ sagte Uckermark. „Was ist dir das wert?“ „Meine unvergängliche Dankbarkeit,“ sagte Chegory. „Also na gut,“ sagte Uckermark, der seinen Hosenlatz wieder zuknöpfte. „Ich will dir zwei Sachen verraten, die dir eine Menge helfen könnten.“ „Was denn?“ „Erstens erwartet man von dir, dass du es genießt. Was also auch geschehen mag, zeig’ ein wenig Begeisterung. In Ordnung? Gut!“ „Und zweitens…?“ „Sie mag es, wenn man sie leckt,“ sagte Uckermark, der dabei seine Hände in dem Wasserstrom wusch, den ein goldener Goldfisch ausspuckte. „Leckt?“ sagte Chegory. „Du verstehst mich schon, stimmt’s?“ „Ich bin ein blöder Ebbie,“ sagte Chegory. „Ich versteh’ überhaupt nichts.“ „Dann hör mir mal zu…“ sagte Uckermark. Seine Schilderung dreht sich im Kern um… [Hier ist eine zehntausend Worte umfassende Abhandlung über ein gewisses Thema auf Anweisung des ChefZensors gelöscht worden. Brauchen wir dafür etwa eine Begründung?] …und bringt auf diese Weise eine Frau zu einem Höhepunkt der Wonne, der mit anderen Methoden unerreichbar ist. „Na schön,“ sagte Chegory zweifelnd, sobald er diese ausführlichen Einsichten erhalten hatte. „Na schön, vielen Dank, sollte ich wohl sagen.“ Seite 144 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Entspann’ dich,“ sagte Uckermark und klopfte ihm dabei auf den Rücken. „Mit dir wird alles in Ordnung sein, sobald sie dich in ihr Bett geholt hat.“ „Aber – aber – es gibt doch, äh, ähm, es gibt doch Impotenz, ich könnte doch impotent sein, oder, ah, Schwangerschaft, was, wenn jemand schwanger wird, oder, oder, Sie wissen schon, Geschlechtskrankheiten, sie, sie hat…“ „Sie hat den Befehl über jeden Krummsäbel in der holden Stadt Injiltaprajura,“ sagte Uckermark gelassen. „Darüber solltest du dir Sorgen machen! Nicht darüber, ihr ein Ei in ihrer Gebärmutter einzupflanzen, oder irgendeine Krankheit aufzuschnappen, die dich vielleicht in fünf Jahren, von heute an gerechnet, töten könnte, vielleicht aber auch nicht. Los! Wir verspäten uns noch!“ Und damit drängte er Chegory zurück zum Festmahl. Der unglückliche Cheggy verharrte einen Augenblick beim unheilverkündenden Portal des Bankettsaals, tauchte dann, da er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, hinein in das Getöse der mittlerweile Betrunkenen und gesellte sich wieder an den Tisch zu seiner geliebten Juzzy. „Wein!“ befahl sie. „Trink! Sonst wirst du von allen anderen abgehängt!“ Chegory trank. Sein Glas wurde wieder aufgefüllt. Auf kaiserlichen Befehl musste er dann unbedingt erneut trinken. Speisen wurden aufgetragen und wieder abgetragen. Er aß von ihnen nur wenig, ohne das Geringste zu schmecken. Das fiebrige Tohuwabohu brauste auf unverständliche Weise in seinen Ohren, als ob es aus einem Albtraum stammen würde. Von Zeit zu Zeit gab ein mehr als übersättigter Gast drängende Handzeichen. Dann eilte ein Kellner mit einem tragbaren Kotzbecken herbei, in das sich der Gast übergeben konnte, um so wieder Platz für den nächsten Gang zu schaffen. Chegory war schockiert, als er das zum ersten Mal beobachtete, und war erst recht schockiert, als selbst die Kaiserin Gebrauch von dieser Notlösung machte. „Ah!“ sagte sie, wobei sie ihre Taille täschelte. „So fühl’ ich mich gleich besser!“ „Das glaub’ ich gern,“ murmelte Cheggy-Schätzchen. Ergriff dann sein Glas und leerte es mannhaft. Im nächsten Augenblick wurde bereits für eine Nachfüllung der ihm verschriebenen Medizin gesorgt. Sollte er wirklich an Blutarmut leiden, würde diese Erkrankung hundertprozentig geheilt (oder zumindest behandelt!) worden sein, bis das Bankett zu Ende war – falls er nicht zwischenzeitlich an seiner Medizin gestorben wäre. Als der letzte Gang aufgetragen wurde, fühlte sich der junge Chegory, als ob er auf den Wellen des Lärms schweben würde, die sich von den betrunkenen Edelleuten Injiltaprajuras erhoben. Der letzte Gang bestand aus Gefrorenem, aus einem Kunstwerk aus feingehobeltem Eis, das man mit Ziegenmilch und Kokosraspeln vermengt und erneut eingefroren hatte. Chegory versuchte das Eis in seinen Mund zu löffeln, aber seine Hand zitterte, und die unnachgiebige Substanz plumpste von seinem Besteck auf seinen Schoß. „Oh, Cheggy-Schätzchen!“ sagte Justina mit großer Besorgnis. „Du hast einen Krampf! Kellner! Mehr Wein für den Ehrengast!“ Auf Justinas Befehl wurde Chegorys Glas bis obenhin aufgefüllt, obwohl es von Anfang an schon nahezu voll gewesen war. „Ich glaube,“ sagte Chegory in einem äußerst bedächtigen Tonfall, „dass es mir reicht.“ „Aber denk’ doch bloß,“ sagte Justina, „an deinen Krampf! Und außerdem – ist deine Blutarmut etwa geheilt?“ Sie quetschte einen seiner Fingernägel, bis das Fleisch unter dem Nagel erbleichte. „Nein! Schau doch, du bist fast blutleer! Du kannst doch nicht aufhören, deine Medizin zu nehmen, solange du nicht geheilt bist, stimmt’s?“ Also trank Chegory noch mehr. Er verspürte nun ganz und gar die Nebenwirkungen seiner Medizin. Das Eis taumelte von seinem Löffel auf den Tisch, auf seinen Schoß, auf den Boden, oder es lief von seinem Kinn herab auf seine gelben und grünen Seite 145 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Seidengewänder. Er musste fliehen, ehe er eine komplette Überdosis einnehmen und dadurch ohnmächtig werden würde. Nur wie? Ihn packte die Erleuchtung des Betrunkenen. Er griff sich an die Brust. „Angina,“ keuchte er. Kaiserin Justina lachte lauthals und klopfte ihm auf den Rücken. „Da, bitteschön, mein kleiner Schelm!“ sagte sie. „Geht’s dir wieder besser?“ „Ich fürchte,“ sagte Chegory, der sein Bestes gab, das Keuchen eines sterbenden Menschen nachzuahmen, „dass das… nicht der Fall ist.“ „Oh, mein Cheggy-Liebling!“ sagte Justina erschrocken. „Geht’s dir wirklich schlecht?“ „Ja,“ sagte Chegory. „Ja, ja.“ „Dann muss es dir dein Juzzy-Liebling fortküssen,“ sagte Justina. Sie fing an, dies sogleich in die Tat umzusetzen, bis Chegory jeglichen Widerstand aufgab und sich für geheilt erklärte. Selbst dann gab ihm Justina noch einen letzten Kuss, um ihm Glück zu bringen. Die Gäste schenkten keiner dieser Aktivitäten die geringste Aufmerksamkeit, denn diejenigen, die noch zu einer Wahrnehmung fähig waren, konzentrierten sich auf eine Unruhe am Haupteingang des Saales. „Bewaffnete Männer!“ sagte Chegory. „Ja,“ sagte Justina sorglos. „Die kommen bestimmt, um dir den Kopf abzuhacken. Um die Suppe zuzubereiten, verstehst du? Suppe für das morgige Mittagessen.“ Chegory fuhr abrupt von seinem Stuhl hoch. Aber Justina packte ihn und zerrte ihn wieder auf seinen Sitz. „Setz dich, du alberner Junge! Das ist bloß ein Witz gewesen. Schau’ doch, sie bringen mir einen Gefangenen. Der Stiermann, stimmt’s? Nein, es ist…“ „So, wie es ausschaut,“ sagte der Leichenmeister Uckermark, „hat Log Jaris einige Gefangene gemacht. Ihr werdet das vermutlich äußerst interessant finden.“ Bald darauf hatte man drei Gefangene vom Volk der Ashdan (oder vom Volk der Malud, wie sie sich selbst bezeichnet hätten) in den freien Raum getrieben, der von den drei Festtafeln begrenzt wurde. Es handelte sich um Piraten aus Asral. „Was haben wir denn da?“ sagte Justina. Der Stiermann Log Jaris, der einen Lederbeutel an seiner Seite trug, trat näher, verbeugte sich sehr tief, richtete sich dann auf und sagte: „Eure holde Majestät, erlaubt mir, Euch drei Piraten aus Asral vorzustellen. Der Alte heißt Al-ran Lars, der Junge heißt Arnaut, und der wie ein Gewichtheber gebaute heißt Tolon. Aufgrund ihres eigenen Geständnisses sind sie die Diebe, die den Wunschstein aus der Schatzkammer entwendet haben.“ „Wo hast du sie gefunden?“ sagte Justina. „Drunten, Eure Majestät,“ sagte Log Jaris. „Was, zum Teufel, haben sie dort unten gemacht?“ sagte Justina. „Das Fehlen des Wunschsteins wurde am gestrigen Morgen bemerkt. Sie haben wenigstens fünf Tagesviertel Zeit gehabt, um anderswohin zu fliehen.“ „Sie haben zu fliehen versucht, Eure Majestät,“ sagte Log Jaris. „Sie sind jedoch von diesem Dämon von Jod geschnappt worden, von diesem allseits bekannten Schäbbel, der sie hierhin und dahin durch die Unterwelt gescheucht hat, bis sie rettungslos verloren gewesen sind. Dank einer List sind sie zwar Schäbbel entkommen, Seite 146 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 aber danach ist es ihnen nicht gelungen, ihren Weg hinaus zu finden. Ich hab’ sie persönlich festgenommen, nachdem ich mit ein paar Freunden und einem Rudel Hunde auf die Jagd nach ihnen gegangen bin.“ „Ausgezeichnete Arbeit!“ sagte Justina. „Hast du den Wunschstein bei dir?“ „Eure Majestät,“ sagte Log Jaris. Er griff in den Lederbeutel, der an seiner Seite hing, und holte den Wunschstein heraus. Die Glitzerkugel funkelte im Licht der Kronleuchter, als er sie Kaiserin Justina aushändigte. Sie nahm sie begierig entgegen. „Oh,“ sagte sie, wobei sie die Facetten des glitzernden Triakisoktaeder streichelte, „es ist so schön, ihn wiederzuhaben. Ich bin ja so verärgert gewesen, als ich gehört hatte, dass er verschwunden war. Danke, Log Jaris. Du sollst zu gegebener Zeit angemessen belohnt werden. In der Zwischenzeit musst du dich unserem Bankett anschließen. Kellner! Werft ein paar dieser Betrunkenen hinaus! Macht Platz für Log Jaris! Einen Stuhl für unseren Freund! Ich weiß – bringt meinen Thron herein! Der Stiermann soll auf meinem Thron Platz nehmen, als Zeichen meiner Wertschätzung für ihn.“ Das war sehr taktvoll von der Kaiserin. Viel taktvoller, als einfach zu sagen, dass sich kein gewöhnlicher Stuhl sicher sein durfte, das Gewicht des Stiermanns auszuhalten. „Was das Piratenvolk angeht,“ sagte Justina, „so steckt es einstweilen in den Hungerkäfig. Wir werden später entscheiden, was wir mit ihm anstellen wollen.“ Also trieb man die Marodeure vom Volk der Malud in den Hungerkäfig unmittelbar hinter der Kaiserin. Sie wurden dort eingesperrt, und der Schlüssel zu ihrem Käfig wurde, wie es das Gesetz und das Protokoll erforderten, der Kaiserin überreicht. Schwitzende Kellner, deren selbstsicheres Auftreten vorübergehend verschwunden war, zerrten Justinas Ebenholz-Thron in den Bankettsaal, und Log Jaris nahm Platz darauf. „Welch erfreuliche Wende der Ereignisse,“ sagte Justina, die dabei den Schlüssel und den vielgestreichelten Wunschstein auf den Tisch vor sich hinlegte. Wie sehr sich Chegory doch danach sehnte, den Wunschstein anzufassen! Nur für wenige Augenblicke! Obwohl ihm der Beschwörer Odolo erzählt hatte, dass diese Kugel keine Wünsche erfüllen würde, verzehrte er sich doch danach, ihre Kräfte auf die Probe zu stellen. „Du weißt, dass er nicht funktioniert, gell?“ sagte Justina, die seinen Blick gesehen und treffsicher gedeutet hatte. „Seid Ihr Euch da sicher?“ sagte Chegory. „Absolut,“ sagte Justina. „Ich hab’ ihn gerade eben wieder ausprobiert – und zwar nicht zum ersten Mal. Ich hab’ mir gewünscht, wieder sechzehn zu sein. Ich hab’ mir gewünscht, ein wenig Gewicht zu verlieren – gerade so viel, um etwa ein halbes Dutzend Kokosnüsse leichter zu werden. Ich hab’ mir gewünscht, dass sich Varazchavardan in einen Frosch verwandelt, und ich hab’ mir gewünscht, dass Log Jaris wieder seine menschliche Gestalt erhält. Ich weiß nämlich, dass er mit seinem Dasein unzufrieden ist.“ „Ihr kennt Log Jaris?“ sagte Chegory, der darüber aufrichtig erstaunt war. „Oh, ich kenne jeden, wirklich jeden,“ sagte Justina. „Naja, wir kennen uns jetzt doch auch, stimmt’s? Du und ich. Wir werden uns noch viel besser kennenlernen, mein Schatz, bevor diese Nacht vorbei ist. Willst du dir wirklich etwas wünschen, Cheggy-Schätzchen? Dann fass ihn an! Wünsch’ dir was! Denk’ dir was aus! Trau’ dich!“ Chegory streckte seine zitternden Hände aus und berührte den Wunschstein. Er war warm. Er vibrierte sanft unter seinen Fingerspitzen. In seinem Inneren loderten Regenbögen, lösten sich auf, bildeten sich erneut und loderten wieder. Chegory schloss die Augen. Er wünschte sich etwas. Seite 147 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Er wünschte sich, nicht mehr rot zu sein. Er wünschte sich, er könnte schwarz wie ein Ashdan sein, damit er Olivia heiraten und mit ihr nach Ashmolea fliehen könnte, um dort sein Studium der Mathematik an einer der großen Universitäten, beispielsweise an der in Fardrendoko, zu vollenden. [Fardrendoko: wörtlich (auf Slandolin) „Furt-des-Ochsen39“. Große Stadt in Ashmolea. Berühmt als die Heimstatt des Ashmolea-Museums, einer dieser bedeutenden kulturellen Einrichtungen, auf die das Volk von Süd-Ashmolea so stolz ist. Oris Baumgage, niederrangiger Faktenprüfer.] Dann wünschte er sich die Auferstehung seiner Mutter und die Rückgängigmachung des ganzen Sterbens und Leidens, das sein Volk während des Pogroms, das von Wazir Sin in Gang gesetzt worden war, hatte erdulden müssen. Die Vergewaltigungen, Folterungen, Verstümmelungen und Hinrichtungen ungeschehen zu machen. Auch die langen Jahre der Furcht und der Verbannung ungeschehen zu machen, in denen er sich jede Nacht ausgemalt hatte, wie ihm die Morgendämmerung Angreifer in überwältigender Zahl und Stärke bescheren würde, um seinen Tod zu besiegeln. Aber meine Mutter ganz besonders. Ganz besonders meine Mutter. Wieder lebendig… „Na sowas, Cheggy!“ sagte Justina besorgt. „Du weinst ja!“ „Ich bin bloß… ich bin bloß betrunken,“ sagte Chegory und zog dabei seine Hand vom Wunschstein zurück. Dann brach er völlig zusammen und weinte ohne Unterlass, bis sich Kaiserin Justina vom Tisch erhob und ihn wegführte, wobei sie den Wunschstein zurückließ, der sich auch allein um sich kümmern konnte. Sie gingen durch eine Hintertür hinaus. Dann begaben sie sich, mit bewaffneten Wächtern, die ihnen in einem diskreten Abstand folgten, mittels einer Abkürzung, der eine weitere folgte, auf direktem Weg zu Justinas Gemächern. Chegory bemerkte kaum, wo er sich befand. Nur am Rande nahm er die Pracht der Polstermöbel und der Wandbehänge wahr, das Gold und die Seide, das Leder und das Silber, die glitzernden Leuchter und die sagenhaft teuren hohen Spiegel. Justina nahm eine Amphore und goss ihm eine Schüssel voll kaltem Wasser ein. Sie forderte Chegory auf, sich sein Gesicht zu waschen. Das tat er, und seine Tränen ließen nach. „Was ist los?“ sagte Justina, die ihren Arm um ihn gelegt hatte. „Meine… meine Mutter.“ „Ist sie krank?“ „Sie ist… sie ist…“ Dann keine Worte mehr, nur Tränen. „Verstehe,“ sagte Justina, die ihn streichelte, die ihn streichelte, die ihm sanft, behutsam den Rücken tätschelte. „Ist das… ist das in den Tagen von Sin passiert?“ Chegory nickte wortlos. „Tut mir leid,“ sagte Justina. „Tut mir leid. Aber das ist jetzt vorbei. Hier bist du jetzt in Sicherheit.“ „Aber,“ sagte Chegory, dessen Worte von seinen Tränen getrübt wurden, „aber das wird wieder passieren, stimmt’s? Er ist dabei, zu gewinnen, stimmt’s? Er wird hierher kommen, stimmt’s? Dann wird alles wieder, es wird wieder, es wird…“ „Na, na,“ sagte Justina, die ihm erneut den Rücken tätschelte. „Na, na. Das mag vielleicht so sein, aber im Augenblick bist du in Sicherheit, dir kann hier überhaupt nichts passieren.“ 39 <eine Ähnlichkeit mit Oxford ist keinesfalls unbeabsichtigt> Seite 148 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Sie brauchte keine Erklärung von Chegorys Sorgen. Er hatte Angst vor Aldarch III, dem Schlächter von Yestron, der als Sieger aus dem Talonsklavara hervorzugehen drohte. Sobald dieser Kriegsherr den Bürgerkrieg in Yestron gewonnen und das Izdimir-Reich wiedervereint hätte, würde er seine Aufmerksamkeit bestimmt auf Untunchilamon richten. Dann würde der Zorn des Schlächters über jene hereinbrechen, die Wazir Sin gestürzt hatten, und er würde zweifellos einen neuen Wazir ernennen, um das Werk zu vollenden, das Sin begonnen hatte. Justina hatte völliges Verständnis für Chegorys Ängste, denn ihr erging es ebenso. Aldarch III würde zweifellos den Wunsch hegen, ihren eigenen Tod herbeizuführen, und besaß bestimmt die Macht, genau das auch zu tun. Sie hatte Albträume wegen seines bevorstehenden Eintreffens, so wie die meisten ihrer Untertanen. Deshalb gewährte sie Chegory alle Zeit, die er zu seiner Erholung brauchte, ehe sie den Vorschlag machte, dass sie wieder zu dem Bankett zurückkehren sollten. „Nur noch ein kleines Weilchen,“ sagte sie. „Ich möchte eigentlich gar nicht, aber die Etikette verlangt es nun mal von mir. Aber es wird wohl nicht mehr lange dauern. Wird das auch nicht zuviel Aufregung für dich sein?“ „Momentan geht’s mir gut,“ sagte Chegory. „Aber… ich will nichts mehr trinken. Noch ein Getränk schaff’ ich einfach nicht.“ „Natürlich nicht,“ sagte die Kaiserin. „Und davon mal abgesehen… gibt’s sonst noch etwas?“ „Sonst noch etwas?“ „Etwas, das du… das du nicht kannst. Oder nicht willst. Oder nicht tun möchtest.“ Chegory wusste, welches Angebot sie ihm da gerade machte. Die Chance, sich allen weiteren Forderungen zu entziehen, wenn das sein Wunsch wäre. Das war sein Wunsch! Aber sie war seine Kaiserin. Ihr Vater war es gewesen, der Wazir Sin gestürzt und damit dem Pogrom ein Ende bereitet hatte. Justina war es gewesen, die allen Ebrellianern die vollen Bürgerrechte gewährt hatte, die noch dazu von einem gerechten Zivilgesetz geregelt wurden, das für jedermann in gleicher Weise zur Anwendung gebracht wurde. Deshalb war Chegory ein Patriot. „Eure Majestät,“ sagte er, wobei er seine Zunge mit äußerster Anstrengung seinem Willen unterwarf, um den Wein, den Kummer und seine angeborene Neigung zu zusammenhangslosem Gestammel zu bezwingen. „Ihr seid meine Kaiserin, und ich bin Euer getreuer Untertan. Euer Wunsch ist mir Befehl.“ „Das ist süß von dir, mein lieber Cheggy,“ sagte Justina. „Das ist wirklich süß von dir.“ Dann geleitete sie ihn zurück zu dem Bankett, gefolgt von den bewaffneten Wächtern, die vor ihrer Tür gewartet hatten. Seite 149 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 20 Als Chegory Guy und Kaiserin Justina in den Bankettsaal zurückkehrten, stellten sie fest, dass die Feierlichkeiten in vollem Gang waren. Der Beschwörer Odolo machte gerade eine Vorführung. In dem Moment, als sie eintraten, zog er gerade auf neckische Weise eine scheinbar endlose Luftschlange aus buntem Papier aus seiner geschlossenen Faust. Uckermark hatte den ihm zugewiesenen Sitz verlassen und war in ein Gespräch mit Log Jaris vertieft. Noch ein paar Betrunkene mehr waren unter die Tische geglitten. Die gefangenen Piraten saßen niedergeschlagen im Hungerkäfig. Der Schlüssel zu dem Hungerkäfig lag nicht mehr dort auf dem Tisch, wo ihn Justina zurückgelassen hatte. Ihr Albino-Affe hatte Anspruch auf ihn erhoben und benutzte ihn jetzt, nachdem er zunächst das Tischtuch entzweigerissen hatte, um die Tischplatte mit Graffiti zu verzieren. Naja. Nichts passiert. Aber… „Der Wunschstein!“ sagte Chegory. „Er ist weg!“ „Nein, nein,“ sagte Justina. „Dort ist er doch, bei meinem lieben Freund Idaho. Juliet Idaho, siehst du ihn? Sie reichen ihn am Tisch herum, das ist schon in Ordnung. Dem Stein kann hier nichts geschehen, mit den vielen bewaffneten Wächtern an jeder Tür.“ Sie setzten sich. „Kellner!“ sagte Justina. „Gnädige Frau?“ „Trag’ den Wein des jungen Herrn ab. In Anbetracht der Nebenwirkungen will ich ihm stattdessen Sorbet verschreiben.“ „Sorbet. Gewiss, Eure Majestät.“ In einer Zeitspanne, die sich nicht länger als einen Wimpernschlag anfühlte, verflüchtigte sich Chegorys Wein, um durch Sorbet ersetzt zu werden. Aber es musste länger gedauert haben, denn Odolo war mit der Luftschlange fertig und ließ stattdessen Walnüsse aus seinen weit gespreizten Händen strömen. Vorübergehend glitzerten Regenbögen an den Rändern der herabfallenden Walnüsse. „Oh!“ sagte Justina. „Oh, siehst du, was er da macht? Das ist aber äußerst pfiffig! Ich hab’ noch nie zuvor gesehen, dass er so etwas tun kann!“ Dann fiel etwas Großes aus Odolos Händen. Das war keine Walnuss. Das war ein Skorpion. Ein leuchtend gelber Sonnenskorpion, so lang war der Unterarm eines Menschen. „Da schau her!“ sagte Justina. „Wie hat er denn den in seinem Ärmel verstecken können?“ Der Skorpion stand trotzig zwischen den verstreuten Walnüssen. Mit erhobenen Scheren. Mit gekrümmtem Schwanz. Obwohl seine Körperhaltung regungslos war, gelang es dem Geschöpf trotzdem, damit seinen rauschhaften Wahnsinn aus paranoidem Argwohn und mörderischem Zorn zum Ausdruck zu bringen. Schtlop! Ein großer Krug manifestierte sich in Odolos Händen. Und schon strömte eine hell lodernde Flüssigkeit aus dem Krug. Der Beschwörer machte einen Satz rückwärts – und ließ den Krug in der Luft schwebend zurück. Der seinerseits unbekümmert damit fortfuhr, die entflammte Flüssigkeit auszugießen. Schon barsten die ersten Walnüsse entzwei, als die Flüssigkeit über sie dahinglitt. Die Flut des Todes erreichte den Sonnenskorpion. Er krümmte sich in unerträglichen Todesqualen. Dann: Cher-lup! Der Sonnenskorpion explodierte. Seite 150 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Dann platzte der jetzt leere Krug auseinander und verging in einem Schauer aus Schmetterlingen, die aufwärts flatterten. Sie stiegen eine kurze Zeit empor, verwandelten sich in die Scherben eines Regenbogens – und dann waren sie fort. „Bravo!“ schrie die Kaiserin und klatschte dabei in die Hände. Während sich Chegory dem Beifall anschloss, bemerkte er eine neuerliche Unruhe am Haupteingang des Großen Saals. Was war es diesmal? Weitere Gefangene für die Kaiserin? Nein, es war ein Mann. Ein Wunderwirker, wenn man sich nach seiner Seidenrobe richten durfte. Er gab eine höchst außergewöhnliche Gestalt ab, denn seine Haut hatte eine sehr erstaunliche gelbe Farbe. „Schaut!“ sagte Chegory und deutete mit dem Finger. „Ein gelber Mann! Odolo muss ihn gemacht haben! Genau wie den Sonnenskorpion!“ „Sei nicht albern, Cheggy,“ sagte Justina, die seinen Zeigefinger mit einem Klaps nach unten wies, begleitet von einem köstlichen kleinen Lachen. „Das ist Dolglin Chin Xter, mein Inquisitor.“ „Aber – aber warum ist er gelb?“ „Was meinst du wohl, warum?“ sagte Justina. „Er hat natürlich Hepatitis.“ Das war einer der Gründe gewesen, warum man Dolglin zum Leiter von Justinas Untersuchung des Drogenhandels auf Untunchilamon gemacht hatte: seine Erkrankung verringerte drastisch die Verlockungen, denen er bei seiner Arbeit ständig ausgesetzt war. Hepatitis führt dazu, dass die Leute die Lust am Trinken verlieren; sollten sie trotzdem darauf bestehen, Alkohol zu sich zu nehmen, sind die Wirkungen eines solchen Genusses üblicherweise dramatisch und verheerend. „Hepatitis?“ sagte Chegory. Er war so davon überzeugt, dass Xter eine Schöpfung des Beschwörers war, dass es ihm schwerfiel, Justinas Erklärung zu glauben. „Hab’ ich das nicht gerade gesagt?“ sagte die Kaiserin. „Jawohl, Hepatitis. Der schlimmste Fall, den ich je gesehen habe. Es ist ein Wunder, dass er noch am Leben ist, geschweige denn auf seinen Füßen.“ Ein Wunder war das in der Tat; ein derartiges Wunder, dass sich einem der Verdacht aufdrängte, dass Xter seine Tätigkeiten durch die Ausübung von Magie unterstützte. „Hepatitis,“ sagte Chegory noch einmal, noch immer unschlüssig, ob er Justina glauben sollte. „Lieber Cheggy!“ sagte Justina. „Strebst du etwa eine Stelle als mein Papagei an?“ „Nein, nein,“ sagte Chegory, der zum Beschwörer Odolo blickte. „Es ist nur so, dass – oh, schaut doch zu Odolo!“ Der Beschwörer hielt seine Hände vor den Mund, als ob ihn das Entsetzen über etwas, das er gerade gesagt hatte, gepackt hätte. Aber er hatte gar nichts gesagt! „Ich glaube, ihm ist schlecht,“ sagte Chegory, beunruhigt und besorgt um die Gesundheit des Mannes, der sich an diesem Tag mit ihm angefreundet hatte. In der Zwischenzeit war Xter grimmig vorwärtsmarschiert. Warum? Wegen etwas, das Odolo getan hatte? Oder wieso? Aquitaine Varazchavardan erhob sich gerade von seinem Platz. Varazchavardan und Xter traten sich gegenüber, als ob es zur Schlacht kommen sollte. Dann schrie der Beschwörer Odolo wie eine Jungfrau, die gerade in ihrer Kammer von einem Incubus sexuell belästigt wurde. Seite 151 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Odolo!“ sagte Chegory aufgeregt, wobei er sich vom Tisch erhob, während er das sagte. „Ihm geht’s schlecht, er…“ „Ist schon in Ordnung,“ sagte Justina, die in aller Ruhe ihren eigenen Platz verließ. „Wir bringen ihn irgendwo hin, wo es still ist, und dann…“ Aber welchen Eingriff sie auch aus Mitleid im Sinn gehabt hatte, er führte zu nichts. Denn ehe sie noch ein weiteres Wort sagen konnte, geschah es. Gewaltige Klumpen aus Rauch und nicht minder gewaltige Flammen drangen aus Odolos Mund. Er verschwand hinter diesem brandstiftenden Durcheinander. „Du meine Güte!“ sagte Kaiserin Justina. „Ein Fall von Selbstentzündung! Der arme Mann hat Feuer gefangen! Nein, Cheggy! Bleib’ zurück! Du wirst dich bloß auch noch verbrennen!“ Chegory trat um sich und zappelte, aber seine Kaiserin hielt ihn mit eisernem Griff umklammert. Er konnte sich nicht lösen. „Er verbrennt, er verbrennt!“ schluchzte Chegory. „Das seh’ ich selbst,“ sagte Justina. „Aber was sollen wir tun? Uns zusammen mit ihm verbrennen lassen?“ Jede Person, die auch nur halbwegs nüchtern war, starrte auf die brandgefährliche Wolke, die an Stelle des Beschwörers getreten war. Selbst Xter und Varazchavardan waren von ihrem Anblick in den Bann geschlagen worden. Schon begannen sich riesige Rauchklumpen zusammenzuballen, um etwas Riesiges, etwas sich Windendes, zu formen. Dann brach etwas aus dem Rauch und aus den Flammen hervor. Das Etwas war ein Drache! Eine durchsichtige Bestie, so groß wie ein Ochse. Ein ätherisches Ungeheuer, um das sich noch immer die Rauchfetzen seiner Erschaffung kräuselten, mit durchscheinenden inneren Organen, mit transparenten Flügeln, auf denen Regenbögen schillerten. Der Drache flog himmelwärts, schmetterte in einen Kronleuchter, verlor seinen Halt in den Lüften und stürzte mit einem dumpfen Schlag zu Boden. Er kam wieder auf die Beine. Schüttelte sich. Beharkte den Boden mit zirkonharten Klauen, die sich schnell verfestigt hatten. „Aber hallo!“ sagte Justina, die mit Wein abgefüllt war. „Odolo ist ein Werdrache! Das ist mir ja völlig neu! Ich hab’ schon von Werwölfen und Werschweinen gehört (sogar von Wermäusen oder Werhamstern, wenn ich’s mir recht überlege), aber noch nie von einem Werdrachen!“ „Ähm, ähm,“ sagte Chegory, der verzweifelt auf der Jagd nach passenden Worten war, „ähm, ah, warum laufen wir eigentlich nicht davon?“ „Odolo wird uns nicht wehtun,“ sagte Justina seelenruhig. „Nicht mal als Drache. Dazu sind wir viel zu eng befreundet.“ Chegory war zu stolz, um zu betteln, und deshalb bettelte er nicht, sie sollte sich das lieber anders überlegen. Dachte aber bei sich, dass der sich schnell verwandelnde Drache für einen ausgesprochen ungesunden Aufenthalt in seiner näheren Umgebung sorgen könnte. Andere dachten ähnlich, denn der Große Saal war von Schreckensgeheul erfüllt, weil die Gäste ebenso wie die Kellner schreiend die Flucht ergriffen hatten. Selbst Aquitaine Varazchavardan zog sich mit der höchsten Geschwindigkeit zurück, die man gerade noch als ausreichend würdevoll betrachten konnte, wohingegen sich Dolglin Chin Xter nicht von der Stelle rührte. Der Drache gewann an Kraft. Verfestigte sich. Seine Regenbogen-Flügel panzerten sich mit Opal. Sein unwirklicher Körper gewann Fülle, Gewicht und Widerborstigkeit. Seine inneren Organe, die eben noch durchsichtig wie Wasser gewesen waren, pulsierten mit rotem Blut, nahmen darmblaue und nierenbraune Farbtöne an, und gerieten einen Moment später dann unter schützenden Muskeln außer Sichtweite, wobei die Muskeln ihrerseits einen Augenblick später verschwanden, weil sich die Transparenz der regelmäßig überlappten Schuppen eintrübte, was ihnen vorübergehend das Aussehen von Asche verlieh. Diese Asche verfestigte sich zu flammenden Farbtönen, die sich sanft kräuselten, als der Drache seine Muskeln spielen ließ, bevor er zu brüllen begann. Inzwischen befanden sich Chegory und Justina praktisch allein im Großen Saal. Justina gurrte vor staunender Bewunderung, während sie den Drachen angaffte. Er war ein prachtvolles Geschöpf, dessen Körper in hellem Seite 152 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Glanz schimmerte, in dessen blankpolierten Augen eine Mischung aus Flammen und Regenbögen loderten. Dann brüllte er. In einer außerordentlich brandstiftenden Darbietung entströmten seinem Maul kraftvolle Feuerstöße. Das ging nun wirklich zu weit. „Wachen!“ rief Chegory in der Absicht, Justinas Männern den Auftrag zu geben, in die Schlacht zu ziehen. Aber es waren keine Wachen mehr da. Sie waren allesamt geflohen, selbst diejenigen Krummsäbler waren fort, die dazu bestimmt gewesen waren, während des Mahls über die Kaiserin zu wachen. Ein paar achtlos weggeworfene Korkblöcke waren alles, was von ihrer Anwesenheit noch übrig geblieben war. „Oh mein Gott!“ sagte Justina unvermittelt, als endlich die Wirklichkeit ihre staunende Bewunderung verdrängt hatte. „Dort drüben ist Odolo!“ Dort drüben war er tatsächlich. Odolo kauerte dort unter einem Tisch auf dem Boden. Also war er überhaupt kein Werdrache! Stattdessen waren Beschwörer und Drache zwei eigenständige Wesen. „Du da!“ kreischte der älteste der Piraten in dem Hungerkäfig.. „Lass uns raus, lass uns raus!“ Es war nicht nötig, Chegory noch mehr zu drängen – denn ihn hatte eine Eingebung ergriffen. Er entriss dem kaiserlichen Affen den Schlüssel zu dem Hungerkäfig, rammte diesen Schlüssel in das Schloss, drehte ihn herum und riss die Tür auf. Die Piraten stürzten sofort davon. Der Drache schnaubte ihnen wütend hinterher, während sie davonrannten, aber seine flammenwerfenden Anstrengungen waren zu schwach. Inzwischen hatte Chegory Kaiserin Justina gepackt und mit sich in den Käfig gezerrt, worauf er hinter ihnen die Tür zuzog. Wir können daraus den Schluss ziehen, dass der junge Chegory Guy nicht dazu berufen war, gegen Drachen nach altehrwürdiger heldenhafter Tradition zu kämpfen, mit Blut bezahlten Ruhm zu erlangen oder einen Albtraum mit nichts als einem Schwert zu erschlagen. Nein, sein erster Gedanke war, Schutz zu suchen, damit er und seine Herrin nicht verspeist würden. Unglücklicherweise hatte ihm der übermäßige Genuss von Alkohol den Verstand vernebelt, und er würde erst noch zu der Erkenntnis gelangen müssen, dass ein Eisengitter nicht vor einer drohenden Einäscherung schützen konnte. „Vazzy!“ schrie Justina. „Er wird verspeist werden!“ Der kaiserliche Affe teilte zweifellos die Sorge seiner Gebieterin, denn das Tier versuchte sich von seinen Fesseln loszureißen. Sein speziell beschwerter Stuhl schwankte, während sich der Affe nach rechts und links warf. Dann zerbarsten seine ledernen Fußfesseln, und er war auf und davon, wobei er vor Wut und Zorn schrie, während er durch die nächstgelegene Tür entfloh. „Sei ganz ruhig,“ sagte Chegory zu seiner Kaiserin. „Sei – sei einfach ein Stein.“ Das war ein guter Rat. Trotzdem ist es sehr bedauerlich, dass sich der junge Chegory in seiner Panik einer Verletzung der Anstandsregeln schuldig gemacht hatte, da er seine Worte nicht in Janjuladoola oder wenigstens in Toxteth formuliert hatte, sondern in seiner Muttersprache Dub. Ob Kaiserin Justina verstanden – oder zumindest gehört – hatte, was er gesagt hatte, ist allerdings eine fragliche Sache. Denn seine Worte wurden von dem ohrenbetäubenden Brüllen eines wutentbrannten Drachen praktisch vollständig übertönt. Das fürchterliche Ungeheuer näherte sich Dolglin Chin Xter, dem Hexer aus Yestron, dem einzigen Anwesenden im Großen Saal, der sich geweigert hatte, vor der Gefahr davonzulaufen. Xter wich nicht von der Stelle. Er war zu sehr von seinen Fähigkeiten überzeugt und viel zu erfahren im Umgang mit Katastrophen, als dass ihn ein einzelnes Ungeheuer in Schrecken oder tatenloses Erstaunen versetzen konnte. Mit bombastischem Flügelschlagen kam der Feuerfabrikant auf den Wunderwirker zu. Sie prallten in einem Wirbel aus Rauch, in einem Feuerwerk aus Farben, aufeinander. Chegory rechnete damit, Chin Xter im nächsten Moment in qualmende Asche verwandelt zu sehen, oder in die blutgetränkten Klumpen eines zerstampften Fleischpuddings. Aber als sich Rauch und Farben verzogen hatten, stand der Wunderwirker triumphierend da, während sich der Drache tödlich verwundet zu seinen Füßen krümmte. Xters Triumph war nur von kurzer Dauer, denn wenige Augenblicke später schwankte der heldenhafte Drachentöter auf seinen Beinen und verlor dann ohne Fremdeinwirkung die Besinnung. Das im Sterben liegende Ungeheuer begann, sich zu dem bewusstlosen Wunderwirker zu schleppen. Chegory warf die Tür des Seite 153 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Hungerkäfigs auf und spurtete durch den Saal. Er stürzte sich auf Xter, packte den Hexer an den Haaren und zerrte ihn außer Reichweite des krabbelnden Feuerviehs. „Bravo!“ schrie Kaiserin Justina. Chegory lächelte triumphierend, schaute sich dann nach einer Waffe um, mit der er den Drachen endgültig erledigen könnte. Aber ein solches Werkzeug war nicht zur Hand. Egal. Jemand war bereits in den Großen Saal zurückgekommen. Wer? Der Leichenmeister Uckermark – der es wagte, dem Drachen sehr nahe zu kommen, obwohl aus dessem Maul indigoblaue Flammen strömten. Chegory – und nur Chegory – sah, wie der Leichenmeister dem Drachen etwas zu Fressen gab. Was war das gewesen? Chegory konnte es nicht feststellen, dann das Ding war in eine Serviette gehüllt gewesen. Aber was immer es auch gewesen war, der Drache schluckte es hinunter und hauchte dann in wenigen Augenblicken sein Leben aus, als ob diese letzte Kränkung seines Organismus für seinen Tod gesorgt hätte. Wachen kamen nun zurück in den Saal, und Varazchavardan war auch dabei. Der Meister der Rechte deutete mit einem knochigen Finger auf den Beschwörer Odolo, der sich noch immer unter einem Tisch befand, und sagte: „Verhaftet diesen Mann! Die Anklage lautet auf böswillige Ausübung von Magie! Auf Gefährdung menschlichen Lebens und geistiger Gesundheit aufgrund äußerst heimtückischer Hexerei! Auf Hochverrat, Revolution, Aufruhr, Ruhestörung!“ „Ich übe keine Magie aus!“ protestierte Odolo, der dabei unter dem Tisch hervorkroch. Er stand auf. „Eine Beschwörung, eine Beschwörung, mehr ist das nicht gewesen! Es sind alles nur Illusionen! Sind alle mit Spiegeln gemacht worden!“ Dann sagte Odolo nichts mehr, denn er wurde gepackt, man zog ihm eine Kapuze über sein Gesicht, und er wurde fortgeschafft, obwohl er sich dabei die ganze Zeit strampelnd zur Wehr setzte. „Vazzy!“ sagte Kaiserin Justina streng. „Ich werde dich für Odolos beste Gesundheit und Sicherheit verantwortlich machen.“ „Ihr glaubt doch nicht, dass er unschuldig ist, oder etwa doch?“ sagte Varazchavardan. „Was schwebt Euch denn vor? Eine Begnadigung? Für ihn? Nach alldem?“ „Mir schwebt ein fairer Prozess vor,“ sagte Justina. „Dafür will ihn in einem Stück haben. Verstehen wir beide uns?“ „Das tun wir,“ sagte Varazchavardan. Zumindest verstand er sie. Er war sich aber überhaupt nicht sicher, ob sie ihn auch verstand. Was aber ohne Frage genauso in Ordnung ging. „Du hast noch eine andere Aufgabe,“ sagte Justina. „Den Wunschstein zu finden! Wo ist er?“ „Naja, der war…“ „Ich weiß, wo er gewesen ist!“ sagte Justina. „Ich will wissen, wo er jetzt ist!“ Gleich darauf lag diese Frage auf jeder Zunge, was zu einem Getöse führte, das man sich besser vorstellen als beschreiben kann, denn jene Höchsten und Größten von ganz Untunchilamon ergingen sich in Aufschreien der Entrüstung, genauso wie ein Pöbel, der kurz vor der Revolte steht. Türen wurden versiegelt, Wachen an jedem Ausgang postiert, und jede einzelne Person wurde durchsucht, wobei man nicht einmal bei Varazchavardan eine Ausnahme machte. Sogar der junge Chegory Guy wurde durchsucht. Diese Suche war noch im Gang, als Undokondra zu Ende ging und die Geisterglocken erschallten, um den Beginn von Bardardornootha zu verkünden. Mittlerweile taumelte Chegory Guy vor Müdigkeit. Selbst Kaiserin Seite 154 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Justina war der Erschöpfung nahe. Sie hatte eine Konstitution, um die sie ein Wasserbüffel beneidet hätte, aber dennoch hatten die Lustbarkeiten und Aufregungen der Nacht ihr kaum noch Kräfte für etwas anderes als Schlaf übrig gelassen. Just in diesem Moment kam der Leichenmeister Uckermark auf sie zu. „Justina,“ sagte er. „Sprich,“ sagte sie. „Ich würde gern den Drachen zwecks Zerteilung fortschaffen. Er ist eine Menge wert, wenn man das macht, solange er noch frisch ist.“ Justina wusste, dass das stimmte. Viele wertvolle Substanzen kann man aus dem frischen Fleisch eines Drachen gewinnen. Nicht zuletzt solche wundersamen Farbstoffe, die ein wasserfestes Blau, Grün, Rot und Gelb ergeben. Doch eine Zerteilung, um Derartiges sicherzustellen, muss schnell ausgeführt werden, denn diese Substanzen sind empfindlich und zerfallen schnell. „Fünfzig Prozent vom Schatz,“ sagte sie und meinte damit, dass sie im Namen des Staates Anspruch auf diesen Anteil am Wert der Leiche erhob. „Fünfzig Prozent,“ erwiderte Uckermark. „Abgemacht!“ Es gab kein Geschacher, denn das waren die üblichen Konditionen eines Leichenmeisters für eine Drachenzerteilung. Dennoch riskierte es Uckermark, um etwas Zusätzliches zu bitten. „Eure Hoheit,“ sagte er, „die Arbeit könnte schneller erledigt werden, wenn ich die Hilfe meines Lehrlings in Anspruch nehmen dürfte.“ „Du brauchst den jungen Chegory?“ sagte Justina. „Na schön. Nimm ihn mit! Es gibt bestimmt noch eine andere Nacht für uns.“ In Wahrheit war Justina froh, den jungen Ebrellianer auf diese Weise loszuwerden, denn obwohl sie seine Gefühle nicht dadurch verletzen wollte, dass sie ihn zurückweisen würde, überwältigte ihr Verlangen nach Schlaf jetzt schnell alle anderen Gelüste. Ihre Schwester Theodora wäre nicht so schnell bereit gewesen, einen stattlichen jungen Mann ihren Fängen entkommen zu lassen. Andererseits war Theodora schon auf intime Weise beschäftigt, und das bereits für den größten Teil dieser Nacht. Bald darauf wurde der tote Drache auf einen Fischkarren gehievt. Einem Dutzend Sklaven gab man den Auftrag, diesen Karren nach Lubos zu bringen, und eine halbe Stiege40 Soldaten begleitete sie, um den Wagenzug vor menschlichen Marodeuren zu schützen, und vor den Verwüstungen durch Vampirratten (was während Bardardornootha viel wahrscheinlicher und viel gefährlicher war). Sie zogen die Lak-Straße hinab bis zum Kabalenhaus von Injiltaprajuras Wunderwirkern. Dann mussten sie sich, zum Entsetzen derjenigen, die die schwere Arbeit auszuführen hatten, den Skindik-Weg hinabbegeben. Die Abschüssigkeit dieser Straße und das Gewicht des toten Drachen waren derartig groß, dass Chegory und Uckermark die schwitzenden Sklaven mit aller Kraft unterstützen mussten, damit der Karren nicht ausbrechen konnte. Der Weg wurde flacher, als sie Lubos erreicht hatten. Dann hatten sie die schwierige Aufgabe, durch das Labyrinth des Elendsviertels einen Weg zu Uckermarks Leichenladen zu finden, denn viele Pfade, die sie ausprobierten, erwiesen sich als zu eng für den Karren. Selbst wenn der Weg breit genug war, knarrten die Bohlen unheilvoll unter dem überschweren Gewicht. Aber schließlich waren sie doch am Ziel. Der Drache wurde abgeladen. Dann zogen die Sklaven und die Soldaten mit dem leeren Karren davon. Sie zogen rasch davon – überfroh, dem luftabschnürenden Gestank des Leichenladens entronnen zu sein. Da Yilda ausgesprochen taub war, wurde sie trotz des Lärms nicht wach. Uckermark ließ seine Frau weiterschlafen. Er entzündete Laternen, um in der Zerteilungskammer die Helligkeit auf das Maximum zu 40 Stiege = 20 Stück Seite 155 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 steigern, und stellte dann mit Chegorys Hilfe Werkzeuge und Behälter zusammen, um sich darauf vorzubereiten, den Drachen zu sezieren. „Haben Sie schon viele Drachen zerlegt?“ sagte Chegory. „Oh, ziemlich viele,“ sagte Uckermark. „Damals, als Wazir Sin noch am Leben gewesen war, da hatte es eine Menge Drachen draußen bei den Marktgärten gegeben.“ „Was ist später mit ihnen passiert?“ „Nachdem Sin gestorben war, hatte es Plünderungen und dergleichen gegeben. Der Pöbel hatte die meisten Drachen wegen der Reichtümer getötet, die er in ihnen zu finden glaubte. Naja, Reichtümer gab es dort in der Tat, aber es ist eine verzwickte Aufgabe, sie aus den Drachen herauszuholen. Hier, gib mir mal diesen Meißel.“ „Was wollen Sie damit machen?“ „Ein paar von diesen Schuppen wegklopfen, damit ich dieser Kreatur zunächst einmal den Kopf abschneiden kann.“ „Aber wieso?“ „Weil, junger Mann, die erste Regel des Drachenzerteilens gleichzeitig die offenkundigste ist. Überzeuge dich zuerst äußerst gründlich, dass dein Drache auch tatsächlich tot ist!“ „Für meine Begriffe schaut er ausreichend tot aus,“ sagte Chegory. „Und für meine auch,“ sagte Uckermark. „Aber ich will mich trotzdem vergewissern.“ Mit diesen Worten begann er die Schuppen wegzumeißeln, die den Hals des Drachen schützten. Chegory räusperte sich. „Wo glauben… äh… wo glauben Sie, dass Sie ihn finden werden, äh, naja, den…“ „Also weißt du darüber Bescheid, stimmt’s?“ sagte Uckermark. „Ich, äh, naja, ich hab’s nicht genau gesehen…“ „Aber du hast genügend gesehen und danach dein Hirn angestrengt. Ich hab’s mir gedacht, dass du’s gesehen hast! Deshalb hab’ ich dich hierher gebracht.“ „Wieso?“ „Um dich mit eindrucksvollen Eiden zur Verschwiegenheit zu verpflichten. Oder, sollte sich herausstellen, dass du nicht willens bist, solche Eide zu schwören, um dich in aller Heimlichkeit abzuschlachten und deine Leiche fern jeder Entdeckung verschwinden zu lassen.“ „Ich will es schwören,“ sagte Chegory schnell. „Bei was willst du es schwören?“ sagte Uckermark. „Bei der Ehre meiner Mutter.“ „Und?“ „Bei… bei der Ehre der Kaiserin Justina.“ „Und? Bei was willst du es noch schwören?“ „Was gibt es denn überhaupt noch?“ sagte Chegory. Seite 156 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Das musst du dir ausdenken, nicht ich!“ „Äh, in Ordnung, ich schwöre es bei – bei meiner eigenen Ehre! Wie klingt das? Und, äh, beim Orgiengott. Bei der Gottheit der Ebrellen! Und bei, oh, ich werd’ mir noch was einfallen lassen.“ Chegory fielen tatsächlich noch viele andere Dinge ein, bei denen er seinen Schwur leisten könnte, während Uckermark die Schuppen wegmeißelte, den Kopf des Drachen abschnitt und den Wunschstein sicherstellte, ehe er mit peinlichster Sorgfalt den Rest der Zerteilung durchführte. Zur gleichen Zeit sann Uckermark angestrengt darüber nach, was er eigentlich getan hatte. Ehrlich gesagt hatte sich der Leichenmeister den Wunschstein im Eifer des Gefechts geschnappt, ohne sich das bereits irgendwie vorher überlegt zu haben. Er war von akuter Habgier beherrscht gewesen, von einer gedankenlosen zupackenden Lust auf Reichtum. Es war eine völlig schwachsinnige Tat gewesen. Dämlich, gefährlich und tollkühn. Sie brachte ihn in große Gefahr. Aber Uckermark war auch nur ein menschliches Wesen, und seine Fähigkeit zur Selbsttäuschung war genauso groß wie die des jungen Chegory. Deshalb hatte er mittlerweile ein ausgefeiltes Glaubensgerüst errichtet, um seine Handlung zu rechtfertigen – und er hatte sich selbst davon überzeugt, dass er sich die ganze Sache ausgedacht hatte, bevor er gehandelt hatte. Als der Kalligraphenbund und seine Mitglieder durch die allgemeinen Durchsuchungen und massenweisen Verhaftungen, die ganz Injiltaprajura auf den Kopf zu stellen drohten, in Bedrängnis geraten waren, war es Uckermarks erster Gedanke gewesen, die Verschwörer zur Strecke zu bringen, die den Wunschstein gestohlen hatten, und jene Diebe mitsamt der kostbaren Kugel der Kaiserin zu überbringen. Das hatte er auch getan. Oder, um diesem historischen Bericht jene peinliche Sorgfalt angedeihen zu lassen, die eine wahrheitsgemäße Wiedergabe der Fakten verlangt, Log Jaris hatte genau das nach einer ausführlichen Besprechung mit Uckermark getan. Dies hatte, in Verbindung mit den Ereignissen, die beim Bankett stattgefunden hatten, die folgenden Konsequenzen gehabt (zumindest reimte sich Uckermark das so zusammen): 1. Den Ordnungshütern und der Obrigkeit war bekannt, dass die ursprünglichen Diebe ausländische Piraten gewesen waren, nämlich Marodeure vom Volk der Malud namens Al-ran Lars, Arnaut und Tolon. 2. Die einzigen bezüglich des Verschwindens des Wunschsteins verdächtigen Personen waren diejenigen, die bei dem Bankett gewesen waren. 3. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass Uckermark und Chegory noch unter einem derartigen Verdacht standen, denn sie waren durchsucht und des Diebstahls für unschuldig befunden worden. Log Jaris, der gegenwärtig im Palast zusammen mit den meisten anderen Gästen des Banketts unter vorübergehendem Arrest stand, würde man gleichermaßen für unschuldig befinden. Unter diesen Umständen, so redete sich Uckermark ein, wäre es gefahrlos für ihn, im Besitz des Wunschsteins zu bleiben. Er hielt es für höchstwahrscheinlich, dass sich die Suchenden auf die Verfolgung der Marodeure vom Volk der Malud konzentrieren würden, die während des allgemeinen Durcheinanders aus dem Palast geflohen waren. Er versäumte es, sich klarzumachen, dass die Chancen sehr gut standen, dass irgendein Logiker mit klarem Verstand letztendlich das Verschwinden des Wunschsteins mit der Entfernung des Drachens aus dem rosa Palast in Verbindung bringen würde. Er redete sich ein, dass er richtig gehandelt hatte, den Wunschstein an sich zu nehmen, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Der Wunschstein war ein Vermögen wert, da sich Mittelsmänner in der von den Herrschern Parengarengas in Ashmolea unterhaltenen Botschaft in ständiger Bereitschaft befanden, ein solches Vermögen für seinen Ankauf zu bezahlen, ohne Fragen zu stellen. 2. Ihn hatte schon lange nach dem Besitz des Wunschsteins gelüstet, denn der Zauber jener Kugel war es gewesen, der ihn überhaupt nach Untunchilamon gelockt hatte. 3. Weil Aldarch III aller Voraussicht nach Yestron erobern und danach seine Aufmerksamkeit auf Untunchilamon richten würde, spielten alle vernünftigen Leute bereits mit dem Gedanken, die Insel zu verlassen, und es wäre töricht, mit leeren Händen fortzugehen. Seite 157 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Was Chegory betraf, so war der einfach nur froh, dass er dem Palast lebendig und mit unversehrter Unschuld entronnen war. Mittlerweile gab es soviele andere Dinge, wegen der er sich Sorgen machen musste, dass es ihm offen gesagt egal war, wer in den Besitz des Wunschsteins gelangen oder ihn behalten würde. Folglich legte er einen Eid auf seine Verschwiegenheit in dieser Angelegenheit ab, weil er der Ansicht war, dass seine Beteiligung an diesem Kriminalfall nur eine Lappalie wäre, im Vergleich zu ein paar anderen Sachen, in die er verwickelt war. Anderswo, an der Goldhammer-Steige im Foltertempel, der als Gefangenenlager diente, wurden gerade alle Gefangenen freigelassen. Kaiserin Justina hatte sich ihre Notlage in den Sinn gerufen und hatte, ehe sie sich ihren Schlaf gegönnt hatte, die Anweisung erteilt, dass sie unverzüglich auf freien Fuß gesetzt würden. Obwohl der Wunschstein erneut abhanden gekommen war, waren alle Gefangenen automatisch frei von jedem Verdacht, weil man die echten ursprünglichen Diebe bereits identifiziert hatte. So kam es, dass Artemis Ingalawa, ihre Nichte Olivia Qasaba und ihr Arbeitgeber Ivan Pokrov freigelassen wurden und sich durch die Dunkelheit von Bardardornootha auf ihren Weg zur Dromdanjerie machten. Dort hämmerten sie gegen die Tür, bis die drinnen Schlafenden aufwachten und sie hineingelassen wurden. Kurz darauf unterhielten sie sich mit dem verschlafen dreinblickenden Jon Qasaba. „Wo ist Chegory?“ sagte Olivia. „Ich hab’ nicht die kleinste Spur von ihm gesehen,“ sagte ihr Vater. „Ist er denn nicht bei dir gewesen?“ „Doch, doch, aber man hat ihn zum Palast gebracht.“ „Naja,“ sagte ihr Vater, „im Palast ist eine ganze Menge los gewesen. Krawalle, Aufruhr, Aufstand, der Versuch einer Revolution, und mehr. Aber es ist wohl niemand dabei getötet worden, oder zumindest hab’ ich nichts davon gehört. Aber man weiß das ja nie so genau.“ Injiltaprajura sah auch keine Spur von Schäbbel, während die Schatten Istarlats gegen Mittag immer kürzer wurden. Schäbbel blieb auch noch verschwunden, als die Schatten Salahantharas gegen Sonnenuntergang immer länger wurden. Doch diese ganze Zeit hindurch war der Dämon von Jod aufs Heftigste beschäftigt. Was er wohl tat, fragen Sie? Die Antwort ist einfach: Er sank herab. Vom Morgen bis zum Mittag sank Schäbbel herab, vom Mittag bis zum taufeuchten Abend – den ganzen Sommertag hindurch; und wie eine Sternschnuppe stürzte er mit der untergehenden Sonne vom Firmament herab. Das Wasser verdampfte in zischelnden Fetzen, als Schäbbel tief hinab ins Meer fuhr, fünf volle Klafter tief hinabstieg, hinabgezogen in die Tiefe, wo die Muränen wie große Kobras umherschlängeln, dann noch weitaus tiefer hinabgezogen, hinab in die vollkommene Finsternis, zu den kalten Schlickwürmern, umgeben von der Schwärze der Blindheit. Danach stieg Schäbbel empor und kam an die Oberfläche. Schwebte kurz unschlüssig auf der Stelle und war dann weg, auf dem Weg nach Injiltaprajura – und ließ die dunklen Meereswogen schwankend zurück, die unaufhörlich schwankend der Küste entgegenliefen. Seite 158 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 21 Am Tag von Schäbbels Sturz vom Himmel verbrachte der junge Chegory Guy den größten Teil des Vormittags schlafend in Uckermarks Anwesen. Nicht, dass er etwa besonders gut schlief: er wurde immer wieder wach wegen der strapaziösen Hitze. Erboste Fliegen stießen fortwährend gegen die frustrierende Gaze, unablässig darauf versessen, durch die Fenster einzudringen, um sich an dem dahinter befindlichen Fleisch zu laben. Der erdrückende Gestank der herausgetrennten Organe quälten Chegory in seinem Schlaf ebenso wie in seinen wachen Momenten. Zunächst hatte er das einzige Bett mit Uckermark und Yilda geteilt, aber als ihn die Mittagsglocken weckten, stellte er fest, dass beide fort waren. Er wälzte sich auf die andere Seite und gab sein Bestes, um wieder in den Schlaf zu sinken – als ob Schlaf in der Lage sein könnte, seine Probleme zu lösen. Schließlich ging die Sonne unter, die Fledermausglocken läuteten, um das Ende von Salahanthara und den Beginn von Undokondra zu verkünden, und Chegory erhob sich widerstrebend aus dem Bett. Er war noch am Leben. Das war immerhin etwas. Aber wie lange würde er wohl am Leben bleiben? Hatte Uckermark vielleicht vor, ihn umzubringen, oder so was in der Art? „Bei allen Göttern,“ murmelte Chegory. „Was für ein Chaos.“ Der vorgestrige Tag war nur noch ein ferner Traum. Damals hatte Chegory friedlich seine Arbeit auf der Insel Jod verrichtet, ohne irgendetwas von dem ihm bevorstehenden Unheil zu ahnen. Er hatte den Kies mit dem Rechen bearbeitet, hatte Felsbrocken behauen, hatte Steine aus dem Fettabscheider der Küche geholt, hatte dann am Nachmittag Mathematik studiert. Das schien nun mehr als ein ganzes Leben her zu sein. Kein Wunder, dass ihm schwindlig war, dass er völlig durcheinander war, einfach fix und fertig! Mit einer gewissen Abneigung begab sich Chegory nach unten und traf dort Yilda, die damit beschäftigt war, eine Mahlzeit zuzubereiten, und Uckermark, der in ein Gespräch mit einem Ngati Moana vertieft war, mit einem grimmig tätowierten Krieger, an dessen beiden Ohren Pounamu-Anhänger baumelten. Chegory vermutete sofort (und er lag mit dieser Vermutung richtig), dass Uckermark mit diesem Mann gerade wegen seiner Abreise aus Untunchilamon verhandelte. Der Leichenmeister beabsichtigte, auf einem der Kanus der Ngati Moana aus Justinas Reich zu entkommen. „Wer ist das?“ sagte der Krieger der Ngati Moana im flüssigen Janjuladoola eines begabten Sprachkundigen. „Ballast,“ sagte Uckermark. Mit diesem einen Wort teilte der Leichenmeister dem Krieger mit, dass Chegory eine bedeutungslose Person war, die man getrost abschreiben könnte, wenn das erforderlich wäre. Außerdem teilte er auf diese Weise Chegory mit, dass er sich dieser Flucht aus Untunchilamon per Kanu anschließen musste. Chegory stöhnte. Nicht innerlich, sondern laut. „An deiner Stelle würde ich die Sache mit anderen Augen betrachten, mein Junge,“ sagte Uckermark. „Die meisten Männer in meiner Lage hätten dich mittlerweile bereits umgebracht.“ „Wohin werden wir gehen?“ sagte Chegory. „Nach Yestron? Ashmolea? Yam?“ „Das spielt jetzt keine Rolle,“ sagte Uckermark. „Du wirst es schon noch früh genug erfahren.“ Der Leichenmeister war so, gelinde gesagt, schnippisch, weil ihm der Tag ausreichend Zeit geboten hatte, um sich über die Unbesonnenheit seiner eigenen Taten klar zu werden. Die Risiken waren fürchterlich hoch. Man könnte ihn zusammen mit dem Wunschstein in Injiltaprajura schnappen. Selbst wenn er auf dem Seeweg aus Untunchilamon fliehen könnte, würde die Reise auf dem Kanu nicht nur anstrengend, sondern auch gefährlich sein. Ehe dieses Spiel zu Ende gespielt war, könnte er im Meer ertrunken sein oder wäre von Haien zerfetzt, ermordet, verraten, verhaftet oder gefoltert worden. Im allerschlimmsten Fall würde ihn ein rachsüchtiger Wunderwirker vielleicht sogar in etwas Scheußliches und Unmenschliches verwandeln. „Ich will es aber jetzt wissen!“ beharrte Chegory. Seite 159 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Wenn du es wirklich so eilig hast mit deiner Weiterbildung,“ sagte Uckermark, „dann will ich dir gern beibringen, warum Ebrellianer so ein kurzes Leben leben!“ „Keinen Kampf!“ sagte Yilda. „Nicht, solange ich hier mit dem Kochen beschäftigt bin!“ Der Krieger der Ngati Moana schwieg während dieser Auseinandersetzung. Seine Miene war unergründlich, obwohl er höchstwahrscheinlich äußerst empört über eine solche Zurschaustellung schlechter Manieren war. Es war von Uckermark ein sehr schlechtes Verhalten, sich auf ein übellauniges Streitgespräch mit einem Jungen wie Chegory einzulassen und dadurch eine formelle Verhandlung zu stören. „Wo ist der Wunschstein?“ sagte Chegory. „Ich will kein weiteres Wort darüber hören,“ sagte Uckermark. „Hierher. Komm’ mit.“ „Wo gehen wir denn hin?“ „In den Hof hinaus. Zum Abort. Dorthin musst du doch bestimmt gehen.“ „Ich brauch’ keine Hilfe!“ sagte Chegory. „Nein,“ sagte Uckermark, „aber man muss auf dich aufpassen.“ Die Mauern seines Hofs waren doppelt so hoch wie ein Mensch, aber er war sich sicher, dass sie ein flinker junger Ebrellianer recht schnell überwinden könnte, insbesondere dann, wenn ihn die Angst beflügeln würde. Sobald der Ausflug zum Abort erfolgreich abgeschlossen war, kehrte Uckermark zu seiner Verhandlung mit dem Krieger der Ngati Moana zurück. Sie waren sich einig, dass jede schnelle Abreise mit Sicherheit Verdacht erregen würde. Wieso spielte das eine Rolle? Die mit einem doppelten Rumpf ausgestatteten Kanus der Ngati Moana waren die schnellsten Fahrzeuge auf See; sie konnten jedes Schiff abhängen, und zwar bei günstigem ebenso wie bei ungünstigem Wind. Da im Moment außerdem die Jahreszeit des Fistavlir war, waren alle Schiffe zu völligem Stillstand gezwungen, während die Kanus immer noch auf dem Korallenstrom durch die Untiefen der Grünen See fahren konnten. Die Flucht selbst war also nicht das Problem. Vielmehr stand die Fortdauer der Freiheit der Ngati Moana auf dem Spiel. Sollten Gerüchte über ihre Beteiligung am Diebstahl des Wunschsteins jemals die Ohren von Aldarch III erreichen, könnte der Schlächter vielleicht beschließen, ihre Wasserfahrzeuge von der gesamten Küste Yestrons zu verbannen. Uckermark konnte das völlig egal sein, aber er musste freilich Rücksicht auf die Ängste und Interessen seines Mitverschwörers nehmen. „Mit dem Wind am Ende von Fistavlir,“ sagte Uckermark. „Was hältst du davon, wenn wir zu diesem Zeitpunkt ablegen würden?“ „Mit dem Wind,“ stimmte ihm sein vielfach tätowierter Gesprächspartner zu. „Unter der Voraussetzung, dass wir bis dahin unsere Handelsgeschäfte erledigt haben.“ Nachdem er auf diese Weise seine Flucht vorbereitet hatte, fühlte sich Uckermark etwas sicherer. Er hatte ja keine Ahnung! Das Unheil stand unmittelbar bevor. Denn just in diesem Moment war Log Jaris auf dem Weg zum Leichenladen – und der nichtsahnende Stiermann wurde von drei Marodeuren vom Volk der Malud verfolgt. Als die Piraten im rosa Palast dem Hungerkäfig entronnen waren, waren sie ohne jeden Gedanken oder Plan geflohen. Das war völlig normal gewesen. Die Anwesenheit eines großen und wütenden Drachen war nicht förderlich für systematische Überlegungen oder ausgeklügelte Tricks gewesen. Die Piraten waren abwärts bis zur Höhe des Kabalenhauses der Wunderwirker geflüchtet, ehe sie Al-ran Lars zur Ordnung gerufen hatte. Dann hatte Al-ran Lars in aller Eile einen Kriegsrat mit seinen Kameraden Arnaut und Tolon abgehalten. Sich auf ihr Schiff zurückzuziehen, wäre gleichbedeutend mit einer Selbstaufgabe gewesen, denn das würde bestimmt der erste Ort sein, an dem Justinas Soldaten nach ihnen suchen würden. Sich nach Drunten Seite 160 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 zurückzuziehen, wäre gleichermaßen töricht gewesen, denn dieser Zufluchtsort hatte schon einmal versagt, ihnen Schutz vor den Jägern mit ihren Hunden zu bieten. Zazazolzodanzarzakazolabrik schien ihnen die einzige Chance zu bieten, sich in Sicherheit zu bringen. Wenn sie in die Ödnis des Nordens entkommen könnten, dürften sie zumindest hoffen, überleben zu können. Aber zuerst wollten sie ein wenig Rache. Um genau zu sein, sie wollten den grässlichen Stiermann töten, der ihre Gefangennahme im Drunten bewerkstelligt hatte. Nachdem sie das beschlossen hatten, waren die Marodeure vom Volk der Malud zur Tat geschritten. Sie hatten einen Betrunkenen gefangengenommen, um ihn zu verhören. Eine Reihe weiterer Gefangennahmen und Verhöre hatte es ihnen erlaubt, die Behausung von Log Jaris ausfindig zu machen – was sich recht einfach hatte erledigen lassen, weil es schwierig war, in einer Stadt, die so klein wie Injiltaprajura war, einen Stiermann zu verstecken. Dann hatten sie seine Spelunke von einem gegenüberliegenden Hausdach aus überwacht. Und dann hatten sie gewartet. Die Marodeure vom Volk der Malud hatten in der Nacht ihrer Flucht gewartet, und das hatten sie auch im Licht des folgenden Tages getan. Log Jaris war gegen Mittag in seine Spelunke zurückgekehrt, aber es waren Männer bei ihm gewesen – Genossen aus dem Kalligraphenbund, obwohl das die rachsüchtigen Piraten nicht wissen konnten. Endlich hatte Log Jaris am frühen Abend seine Behausung wieder verlassen. Aber nicht allein. Der Stiermann hatte drei Männer als Leibwächter mitgenommen, denn sein Weg führte ihn durch die Straßen von Lubos, und er hatte keine Lust gehabt, sich ganz allein deren Gefahren auszusetzen. Die Piraten waren ihnen gefolgt. Während Uckermark also gerade noch dabei war, sein Geschäft mit dem Krieger der Ngati Moana abzuschließen, näherte sich ihm bereits zielstrebig sein guter Freund Log Jaris, dem die Marodeure vom Volk der Malud heimlich auf leisen Sohlen folgten. Die Piraten waren nicht die einzige Gefahr, der der ahnungslose Leichenmeister in Kürze ins Auge sehen müsste. Die andere Gefahr war ein fremdländischer Zauberer vom Orden von Xluzu namens Pelagius Zozimus. Als Justinas Chefkoch hatte sich Pelagius Zozimus in einer guten Ausgangslage befunden, um die Einzelheiten über den Verlust des Wunschsteins, den Ausbruch der Häftlinge, die aus dem Hungerkäfig geflohen waren, und alle damit zusammenhängenden Ereignisse in Erfahrung zu bringen. Er hatte sämtliche Hinweise zusammengetragen und eine Liste von Thesen verfasst, die das Verschwinden des Wunschsteins vielleicht erklären konnten. Die fliehenden seeräuberischen Häftlinge könnten ihn mitgenommen haben, und in diesem Fall würde es nahezu unmöglich sein, seinen Aufenthaltsort zu bestimmen. Oder aber Kaiserin Justina könnte ihn höchstpersönlich gestohlen haben. Sie hatte zweifellos ihre eigenen Pläne, von Untunchilamon zu fliehen, ehe die Günstlinge von Aldarch III ankommen würden, um von der Insel Besitz zu ergreifen. Sollte ihr der Sinn danach stehen, den Inhalt der Schatzkammer mitzunehmen, könnten sie vielleicht die Wunderwirker Injiltaprajuras davon abhalten, aus Angst vor den Vergeltungsmaßnahmen, die Aldarch III beschließen würde, falls sie das nicht tun würden. Folglich würde Justina vielleicht den Wunsch hegen, dass alle miteinander glauben sollten, dass der Wunschstein weiterhin spurlos verschwunden war. Es gab auch die Möglichkeit, dass sich ein Wunderwirker heimlich mit dem Wunschstein aus dem Staub gemacht hatte. Aber da Zozimus nicht viel von der Willenskraft, dem Scharfsinn und dem Talent dieser Hexer hielt, neigte er dazu, diesen Gedanken zu verwerfen. Er war jedoch von der Nachricht fasziniert gewesen, dass der Leichenmeister Uckermark einen Drachen aus dem rosa Palast entfernt hatte. Zozimus hatte kombiniert, dass man in dem Kadaver sehr wohl den Wunschstein hätte verbergen können. Die Wahrscheinlichkeit war gering (eine Chance von eins zu fünfzig nach seiner Berechnung), aber er hielt die Sache für wert, näher untersucht zu werden. Folglich hatte Zozimus seine Komplizen zusammengetrommelt: den Zauberer Hostaja Sken-Pitilkin, den Yarglat-Abenteurer Guest Gulkan, und den Mordgesellen aus Chi’ash-lan, der unter dem Namen Thayer Levant bekannt war. Sie hatten Uckermarks Leichenladen ausfindig gemacht, hatten ihn unter Beobachtung gestellt, und Seite 161 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 als sie den Zutritt eines Kriegers der Ngati Moana bemerkt hatten, hatten sie die logischen Schlüsse gezogen. Diese Schlüsse lauteten: (i) Uckermark besaß tatsächlich den Wunschstein; (ii) Uckermark hatte vor, per Kanu aus Untunchilamon zu fliehen; (iii) falls man ihn festnehmen würde, könnte man den Leichenmeister zwingen, ihnen zu verraten, wo der Wunschstein versteckt war. So begab es sich also, dass Pelagius Zozimus und seine Gefährten sich gerade darauf vorbereiteten, den Leichenladen zu überfallen, dem sich auch Log Jaris soeben näherte, mit einem Trio mordlüsterner Marodeure vom Volk der Malud in seinem Schlepptau. Gleichzeitig kam Schäbbel über den Laitemata herangeschwebt. Schäbbel schaute weder in Ganthorgruk auf der Suche nach Odolo Schäbbelfreund vorbei, noch platzte der Dämon von Jod in das Analytische Institut hinein, um Ivan Pokrov zu einem abendlichen Gespräch zu ermuntern. Der strahlende Eine ignorierte die Verlockung der Dromdanjerie, wo viele der besten Plauderer Injiltaprajuras ihre Tage in Käfigen verlebten. Stattdessen flog Schäbbel geradewegs zu Uckermarks Leichenladen, denn der neugierige Sonnenimitator wollte herausfinden, warum man den Wunschstein dort aufbewahrt hatte. Man muss in diesem Zusammenhang erwähnen, dass der Wunschstein unter anderem auch ein Signalfeuer war. Fortlaufend verkündete er jenen seine Anwesenheit, deren Ohren auf seinen weitreichenden Ruf abgestimmt waren. Er strahlte eine bestimmte Art von verschlüsselter Energie ab, die einst von den Leuten des Goldenen Gulag verwendet worden war, um sich über Entfernungen hinweg zu unterhalten, die größer als die Rufweite waren. Eine derartige Energie wurde im unterirdischen Drunten unschwer durch die große Masse aus Stein, Metall und Plax gedämpft – aber von Uckermarks Leichenladen aus gab der Wunschstein laute und deutliche Signale von sich. Die Bühne war also bereit für eine gewaltige Auseinandersetzung. Log Jaris erreichte den Leichenladen, als sich Uckermark, Chegory und Yilda gerade hinsetzen wollten, um ihr Abendessen zu verspeisen. Die drei Leibwächter, die bis hierher den Stiermann beschützt hatten, zogen ab, weil sie sich anderen Aufgaben widmen mussten. Sie sollten andere Mitglieder des Kalligraphenbunds, die in der Nähe wohnten, aufscheuchen und für einen Kriegsrat in den Leichenladen bringen. Der Stiermann klopfte an die Tür. Uckermark ließ sich Zeit mit seiner Antwort, denn er rüstete sich inzwischen, seiner persönlichen Schuld nur allzu bewusst und deswegen eine Razzia durch Justinas Militär befürchtend, für den bewaffneten Nahkampf. Log Jaris klopfte erneut. Seine Leibwächter waren bereits außer Sichtweite. Die Marodeure vom Volk der Malud ergriffen ihre Chance und stürmten aus dem Schatten hervor. Sie schrien vor mordlüsterner Wut, während sie sich auf den Stiermann stürzten. Log Jaris wirbelte herum – und erkannte die Gefahr. „Haltet ein!“ brüllte Log Jaris. „Zurück mit euch – oder ihr werdet sterben!“ Uckermark hörte draußen seinen Freund und riss die Tür des Leichenladens weit auf. Log Jaris sprang herein. Uckermark knallte die Tür zu. Und der Kraftprotz Tolon warf sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Die Tür brach entzwei. Uckermark und Log Jaris wurden zu Boden geschleudert. Die drei Piraten stürmten herein. Yilda packte eine winzige Glasphiole, die mit einer funkelnden blauen Flüssigkeit gefüllt war. Sie warf sie auf den Boden. Das Fläschchen zerbrach. Beim Kontakt mit der Luft explodierte die Flüssigkeit. Drachenfeuer stieg brüllend empor. Die Seeräuber rissen die Arme hoch, um sich zu schützen. „Haut ab!“ sagte Yilda, die bereits eine weitere Phiole in der Hand hielt. „Fort mit euch! Oder ihr bekommt die nächste ins Gesicht!“ Seite 162 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Die Piraten zögerten. Schließlich war sie nur eine Frau. Was aber noch mehr zählte, das war, dass Uckermark und Log Jaris (die zerschmetterte Tür hatte ja beide zu Fall gebracht) durch jedes Feuer, das die Angreifer bedrohen würde, selbst gefährdet sein würden. Dieses Zögern kostete den Piraten ihre Beute. Uckermark und Log Jaris rappelten sich bereits wieder auf. Sie waren noch damit beschäftigt, als sich Yilda in Bewegung setzte. Sie schnappte sich einen Mopp, warf die Phiole in die Luft, schlug mit dem Mopp nach ihr. Die Phiole ging in Flammen auf. Mit der lodernden Spitze des Mopps stürzte sie laut schreiend auf die Piraten zu. Die Piraten flohen. Sie hetzten hinaus auf die Straße – und spießten sich beinahe an den Klingen von vier Schwertkämpfern auf, die dort gestanden hatten. Die Piraten duckten sich an den unerwarteten Neuankömmlingen vorbei und liefen davon. „Ihr Mistkerle!“ schrie Yilda. „Kommt zurück und kämpft wie Männer!“ Sie bedauerte die Flucht des Feindes bitterlich. Sie hatte in dieser Schlacht immerhin zwei Phiolen der besten Blauflammen verschwendet. Schon die Phiolen selbst waren fürchterlich kostspielig, da sie aus Glas gemacht waren. Und was die Blauflammen betraf – naja, man kann selbst der ergiebigsten Drachenleiche nur ein kleines bisschen davon entnehmen. Deswegen wünschte sich Yilda wenigstens ein paar Tote als Ergebnis dieses Zusammenstoßes. „Ho!“ sagte Log Jaris schnaufend, als er hinaus auf die Straße getreten war und vier schemenhafte Gestalten erblickt hatte, die dort in der Nacht herumstanden. „Welch glücklicher Zufall, meine Freunde! Steckt eure Schwerter weg – die Diebe sind geflohen!“ „Du täuschst dich in uns,“ sagte einer, wobei er sich in den Schein des Drachenfeuers von Yildas gleißendem Mopp bewegte und sich als niemand anderes als Pelagius Zozimus, Justinas Chefkoch, zu erkennen gab. „Du täuschst dich in uns, denn wir sind ebenfalls Diebe.“ Die sofort kampfbereite Yilda hieb mit ihrem lodernden Mopp nach ihm. Zozimus duckte sich. Sein Kamerad Guest Gulkan schwang geschickt seinen kühlen Stahl und hackte die Spitze des Mopps ab. „Ihr seid an den falschen Ort geraten,“ sagte Uckermark, der ein schweres Drachenbeil gepackt hatte. „Wir haben hier kein Geld. Wir sind weder eine Bank noch ein Bordell.“ „Nein,“ sagte Pelagius Zozimus. „Du bist der Leichenmeister Uckermark. Bei dir befindet sich der Wunschstein, und seinetwegen sind wir hier.“ „Ihr irrt euch in allen Punkten,“ sagte Uckermark. „Ich bin nicht Uckermark. Ich bin nur sein Sklave. Der besagte Herr spielt drinnen Karten mit sieben Kameraden. Meister! Hier draußen sind Diebe!“ Uckermarks Gröhlen hallte die Straße entlang. Aus dem Inneren des Ladens kam eine Antwort: „Ich komme! Ich komme!“ Es war Chegory Guy, der seiner Stimme einen tiefen Klang verliehen hatte, um den Tonfall eines erwachsenen Menschen nachzuahmen. Aber er konnte Zozimus und dessen drei Gefährten nicht damit beeindrucken. „Ich kenne dein Gesicht,“ sagte Zozimus. „Ich hab’ deinen Namen gehört, als du bei Justinas Versammlung der Bittsteller herumgegröhlt hast. Und besser noch, ich weiß, dass du da drinnen keine weiteren Kämpfer hast. Wir haben deine Wohnung den ganzen Tag beobachtet. Den Stein! Und zwar sofort! Oder ich werd’ dich aufschlitzen, um nach ihm zu suchen!“ Aus dem Inneren des Leichenladens trat in diesem Moment Chegory Guy, der in der Hand einen fiesen Leichenhaken hielt. Seite 163 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Uckermark wird gleich kommen,“ sagte er in einem Tonfall, der völlig anders als derjenige klang, den er vor wenigen Augenblicken für seinen Bluff verwendet hatte. „Du fängst an, mich zu langweilen,“ sagte Zozimus. „Ich warne dich! Wenn es etwas gibt, das ich nicht ertrage, dann ist das, gelangweilt zu werden.“ Uckermark knurrte und drängte sich nach vorn. Aber Log Jaris streckte eine Hand aus und hielt ihn zurück. „Wenn wir den Wunschstein haben sollten,“ sagte Log Jaris, „dann gib ihn denen.“ „Was soll das?“ sagte Uckermark empört. „Wir sind zu viert! Wir können sie erledigen!“ Die Chancen wären bei einem Kampf sicherlich ziemlich ausgeglichen gewesen. Guest Gulkan aus Tameran war ein erstklassiger Krieger – aber das war der Stiermann Log Jaris ebenfalls. Uckermark hätte vermutlich den Mordgesellen Thayer Levant töten können, obwohl dieser gewissenlose Nichtsnutz weitaus gefährlicher war, als sein Aussehen vermuten ließ. Was aber die beiden Zauberer anging, Pelagius Zozimus und Hostaja SkenPitilkin, nun ja, keiner der beiden war ein besonders guter Kämpfer, und beide verfügten im Augenblick über keinerlei Magie. Chegory und Yilda hätten sie wahrscheinlich wegputzen können. „Wir werden sie nicht erledigen,“ sagte Log Jaris, „weil es zu gefährlich ist, den Wunschstein zu behalten. Justina hat geschworen…“ „Okay, okay,“ sagte Uckermark verärgert. „Ich hab’s kapiert! In Ordnung, meine Herren. Wartet hier einen kurzen Augenblick. Mein geliebtes Weib soll eure Geisel sein, um für meine Rückkehr zu garantieren.“ Uckermark verschwand im Leichenladen und war beinahe sofort wieder mit einem Sack voller Fleischabfälle zurück. Er schleuderte ihn auf die Straße. Er zerplatzte. Blutige Organe in verschiedenen Stadien der Verwesung und des Zerfalls ergossen sich über die Straße. Der Wunschstein rollte heraus. Er war so dick mit schwarzem Blut bedeckt, dass sein Leuchten kaum wahrnehmbar war. Dennoch offenbarte ein regenbogenfarbiges Schimmern seine wahre Natur. Thayer Levant schnappte ihn sich, und Guest Gulkans Truppe begann, sich die Straße entlang zurückzuziehen. „Damit werdet ihr niemals davonkommen!“ kreischte Uckermark. „Ihr werdet Untunchilamon niemals lebend verlassen!“ „Verschwindet nach drinnen!“ sagte Pelagius Zozimus. „Hinein mit euch! Oder ich werde euch alle mit meinen Zauberkünsten vernichten!“ Er bluffte nur, und Uckermark war das auch klar. Trotzdem war der Leichenmeister froh, eine gesichtswahrende Ausrede zu haben, die ganze nervenaufreibende Episode zu einem Ende zu bringen. „Mein alter Freund!“ sagte Log Jaris, als sie nach innen gegangen waren. „Du überraschst mich! Da ist wohl die Gier mit dir durchgegangen, stimmt’s?“ „Eine einzigartige Gelegenheit,“ murmelte Uckermark und tat dabei so, als ob er bekümmert wäre. In Wahrheit war er froh, dass der Wunschstein fort war. Es war ein Fehler gewesen, ihn an sich zu nehmen. Das Ding war viel zu gefährlich, denn es gab auf ganz Untunchilamon kaum eine Person, die für seinen Besitz nicht frohen Herzens einen Mord begangen hätte. Uckermark hatte die allergrößten Zweifel, dass die Diebe, die den Stein soeben an sich gebracht hatten, lebend davonkommen würden. „Chegory,“ sagte Yilda. „Hilf mir mit der Tür.“ „Nein,“ sagte Uckermark. „Zur Hölle mit der Tür. Lass’ uns lieber essen. Um die Tür können wir uns später kümmern.“ Also aßen sie. Unterdessen hüpfte draußen in der Nacht Schäbbel den Dieben des Wunschsteins hinterher. Für Schäbbels Ohren war das Signalfeuer des Wunschsteins laut und deutlich vernehmbar. Schäbbel hätte sich auf der Stelle Seite 164 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 auf die Diebe stürzen können – um sie entwaffnen, um sie einzuschüchtern, um sie zu versengen oder um sie zu seinen Gefangenen zu machen. Aber das hätte dieses Spiel viel zu schnell beendet. Deshalb beschattete sie Schäbbel zunächst nur. Der Dämon von Jod gab kein Licht von sich. Nur ein gelegentliches begeistertes Quieken verriet die Anwesenheit des Sonnenimitators, und wenn die Diebe dieses Quieken gehört hätten, hätten sie es zweifellos irgendwelchen unsichtbaren Vampirratten zugeschrieben. Schäbbels Begeisterung steigerte sich noch, als sich plötzlich drei Marodeure vom Volk der Malud hinter den Dieben einreihten und jenen in einigem Abstand folgten. Oh, das würde ein nettes Schauspiel geben! Oh, welch ein Spaß! Dann nahmen die Diebe einen der Zugänge, die hinab ins Drunten führten. Einer nach dem anderen gingen sie dort hindurch. Pelagius Zozimus. Hostaja Sken-Pitilkin. Thayer Levant. Dann Guest Gulkan. Schäbbel zögerte. Dann kamen auf leisen Sohlen die Marodeure vom Volk der Malud durch die Nacht geschlichen, näherten sich dem Zugang in entschlossener Eile. Auch sie zögerten, berieten sich kurz im Flüsterton, schlüpften dann hinein. Schäbbel sah zu, wie Al-ran Lars, Arnaut und Tolon den Dieben des Wunschsteins ins Drunten folgten. Schäbbel verweilte noch einen Augenblick länger draußen. Dann überwand seine angeborene Schalkhaftigkeit die Furcht, und Schäbbel folgte ihnen. Oh, heute Nacht sollte es lustig zugehen in der Dunkelheit! Seite 165 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 22 Bedauerlicherweise muss man feststellen, dass es Schäbbels überentwickelter Sinn für Späße beinahe zugelassen hätte, dass ein unnötiger Todesfall stattgefunden hätte. Denn als sich schließlich die drei Marodeure vom Volk der Malud auf die vier Schwertkämpfer stürzten, denen sie gefolgt waren, fand Schäbbel das sich anschließende Kampfgetümmel derart spannend, dass ihm jeder Gedanke, in das Geschehen einzugreifen, gänzlich entschlüpft war. Schließlich überwältigte Schäbbels Erregung auch seinen Verstand. Der Dämon von Jod erstrahlte vor purer Begeisterung, nachdem Guest Gulkan einen besonders verwegenen Schwerthieb ausgeteilt hatte. Auf diese Weise verriet sich der Sonnenimitator den Gesetzlosen, die, noch unverletzt, ihren Kampf abbrachen und ihr ein-sonniges Publikum anstarrten. „Oh, hört nicht auf, hört bloß nicht auf!“ sagte Schäbbel. „Ihr macht das wirklich prima!“ „Das ist dieses Dämonending!“ kreischte der junge Arnaut auf Malud, also in seiner Muttersprache. Dann nahm er Reißaus und rannte davon. Aber Schäbbel schnitt ihm den Weg ab und trieb, nach allerlei ziemlich akrobatischen Flugmanövern und Flammenwerfereien, die sieben Verbrecher in einer Sackgasse zusammen. Drei davon waren Piraten: vom Volk der Malud die Marodeure Al-ran Lars, Arnaut und Tolon. Vier waren Abenteurer: Guest Gulkans Truppe, zu der der Yarglat-Barbar selbst, der Mordgeselle Thayer Levant und die Zauberer Pelagius Zozimus und Hostaja Sken-Pitilkin gehörten. „Was willst du von uns?“ sagte Zozimus. „Sei still!“ sagte Schäbbel gebieterisch. „Siehst du das?“ Schäbbel schoss eine Feuerkugel ab, die eine Wunde, groß wie fünf Fäuste, in das Plax des Tunnels schmolz. „Keiner von uns ist blind,“ sagte Zozimus und tat dabei so (was ihm aber nicht leicht fiel), als ob ihn das gar nicht beeindruckt hätte. „Das ist eine Warnung gewesen,“ sagte Schäbbel. „Rechts um! Los marsch! Wer fliehen will, der wird geröstet!“ An dieser Stelle hätte ein Bewohner Injiltaprajuras dem dämonischen Einen erwidert, er sollte aufhören, solche Spielchen zu spielen, und wäre einfach davonspaziert, weil er sich auf sein Wissen verlassen würde, dass es Schäbbel bekanntlich nicht ausstehen konnte, irgendjemand zu versengen, es sei denn, man hätte ihn wirklich außerordentlich provoziert. Doch den gesetzlosen Ausländern fehlte dieses Wissen, weshalb ihnen nichts anderes übrig blieb, als zu gehorchen. Lange Zeit trieb Schäbbel seine von Angst geknechteten Opfer vor sich her, wobei er sie hinab in die Tiefen des Verderbens zwang. Dort hielt er sie gefangen, während Schäbbel seinem Schäbbel-Selbst dadurch Vergnügen bereitete, dass er stolz seine Fähigkeiten zur Schau stellte. Indem er beispielsweise verschiedene Arien aus der Drachenoper sang, der langatmigsten Komposition aus dem gesamten Lebenswerk Ho Lungs. Wenn einer der unglückseligen Verbrecher zu fliehen versuchte, wurde der musikalische Eine sehr heiß und sehr hell, und der Möchtegern-Held musste wieder zurückweichen. Tolon probierte das häufiger als die anderen, denn er war stur und furchtlos. Als die Zeit verging, begann die Furcht der Gefangenen allmählich zu schwinden. Waren sie anfangs von der schnell herumkugelnden Sonne, die behauptet hatte, ein Dämonen-Gott zu sein, tief beeindruckt gewesen, so führten Schäbbels häufige Hinweise auf die kindische Veranlagung seines Schäbbel-Selbst dazu, dass Angst durch Argwohn ersetzt wurde. Die Gefangenen fingen damit an, auszuprobieren, ob sie einen Ausweg aus ihren Schwierigkeiten aushandeln könnten. „Wenn du uns gehen lässt,“ sagte Pelagius Zozimus, „will ich für deinen ewigen Reichtum sorgen. Ich werde dir höchstpersönlich deinen Lohn gewähren. Das schwöre ich dir bei den Regeln des geltenden Rechts.“ Aber Schäbbel konnte mit derartigen eidesstaatlichen Verpflichtungen nichts anfangen. Es ist schwer, Schäbbel zu bestechen, der mit Sex, Geld, Ruhm, Macht oder irgendwelchen anderen handelsüblichen Jajas nichts Seite 166 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 anfangen kann. Sollten Sie mit Schäbbel jemals eine Auseinandersetzung haben, so denken Sie daran, dass dieses Wesen Freundschaft mehr als alles andere schätzt. Unsterbliche führen ein einsames Leben, denn ihre besten Freunde leben kaum länger als eine Generation. Jahrtausende ziehen vorbei, und sie lassen einen zurück mit… ja, mit was nur? Mit Erinnerungen, bestenfalls. Abgesehen von Geselligkeit interessieren Schäbbel nur zwei Dinge. Aufregung: die Schäbbel mit Hilfe herzerfrischender Scherze zu erreichen versucht, die ein möglichst nicht zu knappes Durcheinander verursachen.. Und außerdem: gute Gespräche. Aber wo auf ganz Untunchilamon kann Schäbbel solche Gespräche führen? Bestimmt nicht mit diesem erbarmungslosen Personalbearbeiter Jon Qasaba, der soviel von einem professionellen Therapeuten in sich hat, dass seine Vorstellung von einem unterhaltsamen geselligen Umgang darin besteht, seinen Gesprächspartner zu sezieren. Qasaba! Dieser Mann hat einfach keine Manieren. Hat er nicht, hat er niemals gehabt, wird er auch niemals haben. Betrachtet er uns vielleicht als Menschen? Nein! Nur als Material. Als Ausgangsmaterial für seine wissenschaftlichen Experimente. Er hat schonungslos unsere Qualen erforscht, nur einem wohlformulierten Kapitel, dem Kern eines neuen Lehrsatzes, zuliebe. Er… [Hier ist eine Hetzrede auf Empfehlung unserer Rechtsabteilung herausgeschnitten worden. O Reno, Schreiber.] [Die rechtliche Empfehlung, auf die O Reno hingewiesen hat, schlägt vor, die Hetzrede mit der Begründung herauszuschneiden, dass der fragliche Qasaba dieselbe Person sein könnte, die zum Zeitpunkt dieser Niederschrift der Wegmeister von Obooloo ist. Doch das ist bestimmt ein Unding. Denn wie könnte ein unbedeutender Personalbearbeiter, der von den Ashdan abstammt, zum Beherrscher des Izdimir-Reichs werden? Wie könnte ein Student provinziellen Wahnsinns die messerstecherischen Machenschaften im Kernland des Izdimir-Reichs überlebt haben? Was hätte Aldarch, den Dritten, dazu gebracht, sich dem Willen eines Ausländers aus einem verräterischen Splitter an der Randzone des Reiches zu beugen? Hier haben wir wieder ein Beispiel für die lähmende Feigheit unserer Rechtsabteilung, die auf diese Weise die wissenschaftliche Forschung einengt. Siehe meinen Aktenvermerk 19/872816 bezüglich weiterer Einzelheiten. Srin Gold, Außerordentlicher Kommentator.] Aber damit genug von Qasaba. Wir wollen lieber zu unseren Gefangenen zurückkehren – oder, genauer gesagt, zu Schäbbels Gefangenen – und ihnen dabei zuschauen, wie sie wie im Traum einer mit Edelsteinen besetzten Maschine zuschauen, die gerade vorüber rollt. Im Schutz des Lärms ihrer rumpelpumpelnden Räder beraten sie sich kurz. Sie kommen überein, dass Schäbbel, wenn sie in verschiedene Richtungen davonliefen, nicht allen von ihnen hinterherjagen könne. Da sie sich also einig sind, nehmen sie etwas Abstand voneinander. „Ihr braucht nicht mal daran zu denken,“ sagt Schäbbel. Das tun sie auch nicht. Die Zeit zum Denken ist vorbei. Statt zu denken, rennen sie davon. Aber nur, um siebenundsiebzig Schäbbels zu begegnen, wo sich vor kurzem nur ein einziger befunden hat. Dann hundertsiebenundsiebzig. Tanzende, fauchende, dahingleitende Feuerkugeln. Die die Wände rösten, wenn sie dagegenprallen. Die Sieben werfen sich flach auf den Boden. Die Feuerkugeln verglimmen. Alle, bis auf eine. Die SchäbbelSelbst ist und sich triumphierend im Kreis dreht. „Ich bin der Dämonen-Gott Lorzunduk,“ sagt Schäbbel. „Ich existiere schon seit vorweltlicher Zeit. Ich werde noch in all meiner Pracht existieren, wenn längst sämtliche Welten zu Staub zerfallen sind.“ „Oh, was für ein ausgemachter Blödsinn!“ sagt Hostaja Sken-Pitilkin. Mittlerweile fingert Arnaut nach einem Messer. Der junge Mann aus Asral ist einer dieser freundlich wirkenden Leute, in denen eine Bestie mit dem Temperament eines Drachen lauert. Früher oder später will diese Bestie hinaus, wenn sich irgendein neuerliches von Schäbbel verursachtes Ärgernis als letzter Fisch erweist. Dann wird Arnaut Amok laufen und sich in einem regelrechten Sturmangriff auf Schäbbel stürzen. Was ihm sicherlich, so ist jedenfalls zu befürchten, das Leben kosten wird. Seite 167 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 [„Der letzte Fisch“. Sprichwörtlich. Der letzte Fisch, den der gefrässige Hai (entgegen des guten Rats des Delfins) verschlungen hat, ist derjenige gewesen, der seinen Bauch zum Platzen gebracht hat. Dieselbe Bedeutung heftet an den Worten „der siebte Knochen.“ Man darf das nicht mit dem, von außen betrachtet, mysteriösen Ausdruck „bis man sich den Kiefer ausrenkt“ verwechseln, dessen Bedeutung unserem sprichwörtlichen „wenn die Katze in der Hundshaut steckt“ ähnelt. Valther Nash, Beratender Übersetzer.] Früher oder später. Aber wann? Keine Bange. Wir haben jede Menge Zeit. Es ist noch sehr früh im Leben des Universums. Äußerst früh. Bislang hat sich unsere Erzählung mit nicht mehr als drei Tagen beschäftigt, und wir haben noch den ganzen Rest der Ewigkeit, um unsere Chronik zu Ende zu führen. [Eine Selbsttäuschung. Eine alberne Selbsttäuschung. Die angedeutete Behauptung des Urhebers, unsterblich zu sein, ist nur eine dichterische Selbsttäuschung, die in einem historischen Werk dieser Beschaffenheit völlig fehl am Platz ist. In Wahrheit ist der Urheber wie der Rest von uns an die Zeit gebunden, und er weiß das auch. Auf alle Fälle gibt es so etwas wie Ewigkeit überhaupt nicht: es gibt nur den Augenblick, wie alle Zeitforscher wissen. Brude, Sonderpedant.] Seite 168 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 23 In der Morgendämmerung entflammten die Strahlen der aufgehenden Sonne die Farben der glitzernden Kuppel auf der Spitze des rosa Palastes der Kaiserin Justina. Die Sonnenglocken läuteten. Bardardornootha war zu Ende gegangen; Istarlat hatte gerade begonnen. Doch obwohl es noch so früh am Tag war, war es trotzdem schon schwül, denn wenn die Luft auch über Nacht weniger heiß geworden war, so hatte sie sich doch nicht wirklich abgekühlt. Der Beschwörer Odolo, der Offizielle Hüter des Kaiserlichen Zepters, spürte die beklemmende und unerwünschte Wärme des Tages, als er in dem tiefen Schatten einer Zelle im Hochsicherheitsgefängnis Moremo erwachte. Er erwachte auf einer einzelnen kärglichen Decke, die grau vor Läusen war. Er setzte sich auf, hustete, streckte sich, kratzte sich, streckte sich erneut, um zu versuchen, die Schmerzen in seinen Gliedern zu lindern, und versuchte dann herauszufinden, wo zur Hölle er sich eigentlich befand. Odolo war bereits verunsichert, ratlos und verwirrt. Er versuchte sich zu konzentrieren, seine Lage nachzuvollziehen und darüber nachzudenken, aber das war ihm nahezu unmöglich, weil ihm wie verrückt Worte durch den Sinn stolperten. Worte? Worte auf Dub, Toxteth und Janjuladoola. Unanständiges, Tiefgründiges, Sinnloses und Ungereimtes. Das Banale und das Alltägliche Rücken an Rücken mit dem Phantastischen und dem Esoterischen. Die Worte schubsten sich gegenseitig ohne Sinn und Verstand in einem verrückten taumelnden Durcheinander, nämlich so: Süßkartoffel Säuferwampe in Aspik abfackeln schwarz Drache rot Bauer macht Mist wird Kunst sein Gummi blau Traumfisch geschniegelt geschmeidig ihre Innereien der Vorsehung gelenken der blaue Vorrat sagte der Regenbogen von Skorpionen sexbesessene Katzen sangen die Hexe Seherin braungrau Baklava flatter-flitter-flatternd stillte lechzend seinen Appetit, verwüstete seine Meere Bambus das Ebenholz, Maniok das Elfenbein Baumwolle Münze Kerzen hartnäckig in der Fürsorge schlangenhäutig der Sonnenschein vergießt Schmerzen Odolo presste seinen Kopf gegen den feuchtkalten unnachgiebigen Stein seiner Gefängniszelle. Wenigstens der Stein war kühl, obwohl die Luft mehr als warm war. Er schloss die Augen. Er konzentrierte sich. Auf Eis. Auf einen großen Eisblock. Blauweiß. Im Sonnenschein. Eine diamantene Pracht. Kühles Eis. Gefroren. Still. Gefroren… Langsam verstummten die Worte. Odolo nahm im Zentrum des Schattenbereichs seiner Zelle eine Stellung ein, die als Himmlischer Lotus bekannt war. Er hatte sich vollkommen in der Gewalt. Zumindest im Augenblick. Er begann mit einer Einschätzung seines persönlichen Zustands, gerade so, wie man ihm das beigebracht hatte, als er noch ein Laiendiener gewesen war, der auf der Insel Odrum bei Mantua Hull vom Zweikampf-Flügel in der Schule der Strategie studiert hatte. [Hier besteht offenkundig ein Irrtum. Eine Durchsicht unserer Aufzeichnungen zeigt uns, dass es seit Menschengedenken nirgendwo auf unserer Insel einen Studenten namens Odolo oder einen Ausbilder namens Mantua Hull gegeben hat. Der Urheber lügt, oder er hat es nicht geschafft, die Lügen zu durchschauen, die ihm sein ungenannter Informant (Odolo selbst?) aufgetischt hat. Hiermit bestätige ich diesen Irrtum ausdrücklich. Threndil Falcon, Hüter der Volkszählung.] Seite 169 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Die Einschätzung seines persönlichen Zustands führte zu einem beruhigenden Ergebnis. Für den Augenblick beruhigend, zumindest. Er war ausreichend mit Wasser versorgt. Nicht besonders hungrig. Hatte genügend Schlaf gehabt. War klar zum Gefecht. Gefühle und Reflexe alle unversehrt. Dann verschwand dieses beruhigende Gefühl vollständig, als Odolo in seiner Erinnerung kramte. Jetzt fiel es ihm wieder ein! Das Bankett natürlich. Diese erstaunlichen Walnüsse, die ihm aus seinen hilflosen Händen geronnen waren. Dann dieses Ding, das sich aus seinem Schlund hochgewürgt hatte. Seine fruchtlosen Bemühungen, dieses Etwas zu bändigen. Der plötzliche Ausstoß beißenden Rauchs. Dann – dann der Drache. Das Ungeheuer, das sich inmitten des Rauchs herausgebildet hatte. Mutter aller Schildkröten! Sie glauben, dass ich daran schuld bin! Sollten die Machthaber tatsächlich Odolo zur Last legen, dass er im Bankettsaal für das Erscheinen eines Drachen gesorgt hatte, dann war er in ernsten Schwierigkeiten, in schrecklichen Schwierigkeiten, in beschissenen und saumäßigen Schwierigkeiten. „Verfickte Scheiße!“ sagte Odolo. Als Antwort auf diese obszönen Worte raschelte und scharrte es im Schatten herum. Irgendetwas hauste in dieser Zelle. Er war nicht allein! Was war das? Klauen, Tentakel, Zähne? „Nichts!“ sagte Odolo trotzig. Wünschte sich dann, dass er nicht so laut gesprochen hätte. Bei ihm in der Zelle war ein Ungeheuer! Er war sich dessen sicher! Das glaubte Odolo – aber nur für einen kurzen Moment. Denn eine kurze Kontrolle der Schattenzone zeigte ihm schnell, dass sich dort vermutlich nichts von Bedeutung verstecken konnte. Er musste sich dieses seltsame Rascheln eingebildet haben. Er verbannte es aus seinem Sinn und richtete seine Gedanken auf ein wichtigeres Thema: Flucht. Konnte er fliehen? Wo war er überhaupt? Bestimmt war er im Hochsicherheitsgefängnis Moremo an der Nordflanke des PokraKamms. Okay. Konnte er von hier entkommen? Durch den Boden? Durch die Wände? Sie bestanden alle aus dem Blutstein von Untunchilamon. Aus einem Stein, der viel weicher als Granit war. Also könnte er sich bestimmt einen Tunnel aus seiner Zelle graben, wenn man ihm erlauben würde, sechs oder sieben Jahre lang ungestört daran zu arbeiten. Er rechnete jedoch fest damit, dass man über seinen Fall innerhalb von höchstens sechs oder sieben Tagen mit gutem oder bösem Ausgang (wobei der böse Ausgang Folter, Verstümmelung und Tod bedeuten würde) entscheiden würde. Das bedrückende Rot des Blutsteins begann bereits auf ihn zu wirken. Mit seinem an dickes Blut gemahnenden unheilschwangeren Aussehen war dieses Rot überhaupt nicht die Art von Farbe, die zu optimistischen Gedanken anregen würde. Sechs oder sieben Jahre also, um durch die Wände zu entkommen. Wie wäre es dann mit der Tür? Das massive Operculum41 der Zelle war bemalt worden, um einem Ungeheuer mit weit aufgerissenem Maul zu ähneln, mit einem sabbernden Rachen, der aufklaffte, um Odolo in seinen Schlund hinabzuziehen. Künstlerischer Scharfsinn hatte aus dem Guckloch des Gefängniswärters die Pupille im einzigen Auge des Ungeheuers gemacht. Odolo ignorierte das Kunstwerk. Er trat gegen die Tür. Sie war stabil. Niemand würde ohne Erlaubnis diesen Ausgang verwenden können. Odolo trat erneut gegen die Tür, weil er hoffte, dass ihm das Glück bringen würde. Blieb dann stocksteif stehen. Lauschend. Er konnte etwas hören! Seltsam raschelnde Geräusche. Jawohl, er konnte sie wirklich hören. Er bildete sie sich also nicht ein. Was war wohl schuld daran? Irgendein Tier? Vielleicht. Aber es gab in der Zelle keinen Ort, wo sich irgendetwas, egal welcher Größe, verbergen könnte. Sofern es nicht von der Decke herabhängen würde. 41 Deckel, normalerweise ein biologischer Begriff, der den Abschluss der Mündung eines Schneckengehäuses o.Ä. bezeichnet Seite 170 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Odolo schaute nach oben. Moremos Architekten hatten ein kleines Fenster in doppelter Mannhöhe über dem Boden angebracht. Der Schein der im Osten stehenden Sonne ließ erkennen, dass bis auf ein paar Spinnweben nichts von der Decke herabhing; dasselbe Sonnenlicht, das auf die dem Fenster gegenüberliegende Mauer schien, erweckte dort das Blut des Blutsteins zum Leben und warf die Schatten massiver Gitterstäbe an die Wand, die den Gefangenen ebenso wie räuberischen Tieren Ausgang und Zugang zugleich verwehrten. Nichts ist hier drin außer mir und nichts kann hereinkommen, um mich zu schnappen. So dachte ein erleichterter Odolo bei sich, erleichterte sich dann in die großmütige Dunkelheit des Drecklochs seiner Zelle hinein, wodurch er drunten in dieser Dunkelheit Krallen in siedende Raserei versetzte. Unheimliche schrille Schreie drangen aus der Tiefe herauf. Befand sich dort unten etwa ein gefangenes Skavamarin? Nein! Viel schlimmer! Vampirratten! Das Gitter, das das Dreckloch abschirmte, war nicht dazu da, Gefangene davon abzuhalten, ins Drunten zu klettern, denn das Abwasserrohr war viel zu eng, um eine Flucht zu ermöglichen. Das Gitter war da, um die Vampirratten davon abzuhalten, aus der Kanalisation herauszustürmen, um die Gefangenen bei lebendigem Leib zu verspeisen. Zu diesem Zeitpunkt hätte sich jemand, der in Injiltaprajura fremd war, vielleicht entspannt und über sein Glück gefreut, denn das Gitter war eine schwergewichtige Angelegenheit und garantiert rattensicher. Ein solcher Fremdling hätte sich vielleicht eingeredet, dass er sich in einer (im Vergleich zu anderen Gefängniszellen) relativ angenehmen und geräumigen Zelle befand. Er war ungestört. Er hatte Licht. Er hatte ein Bett. Er hatte eine Decke, und jede Menge Gesellschaft in Gestalt freundlicher Läuse, die den größtmöglichen Drang zu einem intimen Beisammensein mit ihm verspürten. Der pure Luxus! Der Beschwörer Odolo entspannte sich jedoch überhaupt nicht, denn er wusste nur allzu gut, dass dies eine Hinrichtungszelle war. Schlimmer noch, das war nicht irgendeine alte Todeszelle. Das war das Schreckenshaus, also der Ort, den man für diejenigen Missetäter reserviert hatte, die sich mit dem Verbrechen der Majestätsbeleidigung infiziert hatten. Wurden sie für schuldig befunden (und wen würde man wohl wegen so etwas Ernstem anklagen, wenn er nicht schuldig gewesen wäre?), dann mussten sie einen besonders schrecklichen Tod erleiden. Odolo kannte sein Schicksal. Nachdem man ihn überführt hätte, Verrat begangen zu haben, würden seine Henker jenes Gitter entfernen und ihn dann allein in der Zelle zurücklassen. Im Schoß der Nacht, in der Tiefe von Bardardornootha, würde man dann ein kicherndes Quieken vernehmen. Dann würden die Vampirratten in Scharen heraufkommen. Dann würde er auf abscheulichste Weise sterben, wobei er zunächst seine Finger verlieren würde, mit denen er seine Augen schützen wollte, und dann… Voller Panik überlegte Odolo, ob er vielleicht jetzt schon dem Tod geweiht war. Was wäre, wenn seine Verhandlung schon stattgefunden hätte, als er noch bewusstlos gewesen war? War sein Fall schon verhandelt und er also verurteilt? Verurteilt und dem Tod geweiht? Das war entsetzlicherweise sehr gut möglich! Aber – das Gitter war noch an Ort und Stelle. Also hätte er sicherlich noch eine Chance. Aldarch der Dritte! Die Chance seines Lebens! Seine winzige, einzige und eigentlich gar nicht vorhandene Chance. Er wäre nur dann gerettet, wenn Aldarch III rechtzeitig Untunchilamon erobern würde, um seine Hinrichtung zu stoppen. Gerettet? Er könnte sogar belohnt werden! Denn es würde in der Öffentlichkeit so aussehen, als ob Odolo mithilfe von Hexerei versucht hätte, Kaiserin Justina zu töten, die weibliche Ausgeburt des rebellischen Lonstantine Thrug und die geschworene Feindin von Aldarch III. Aber wir haben Fistavlir. In der Tat. Es war die Jahreszeit des Fistavlir, die Zeit der Langen Dürre, in der ganz Untunchilamon in der Flaute steckte. Kein Lüftchen regte sich. Deshalb gab es keine Schiffe. Kein Günstling von Aldarch III konnte sich Injiltaprajura nähern, ehe die nächste Jahreszeit des Winds gekommen war. Außerdem kann sich Talonsklavara noch Jahre hinziehen. Seite 171 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Richtig. Der Bürgerkrieg in Yestron, der sich in seinem siebten Jahr befand, bot noch jede Menge Möglichkeiten, Geschichte zu schreiben. Gerüchtehalber war Aldarch der Dritte dabei, diesen Krieg zu gewinnen, aber wie stark könnte sich Odolo wohl auf Gerüchte verlassen? Mein Leben muss ich schon selbst retten. Das Gitter war noch immer an seinem Platz. Bewachte noch immer das Dreckloch, um ihn vor den Vampirratten zu beschützen. Bis jetzt hatte er noch keine Verhandlung gehabt und war also auch nicht verurteilt worden. Im Augenblick befand er sich in Sicherheit. Sofern er es nicht zuließ, dass er aus lauter Hysterie zum Amokläufer wurde. Er musste sich davor in Acht nehmen, in Panik zu geraten. Musste sich ausruhen. Entspannen. Seine Kräfte schonen. Er schloss die Augen. Versuchte, sich auszuruhen, zu entspannen. Sich in den Schlaf zu schmiegen. Aber stattdessen stieß er… Er stieß auf erbarmungslos aufsteigende Bilder, die ihm in sein Bewusstsein quollen. Nicht die allzu vorhersehbaren albtraumhaften Bilder des Schmerzes, der Folter, der Not und des Todes, für die er in seiner Lage selbstverständlich besonders anfällig gewesen wäre. Nicht diese also, sondern davon völlig abgekoppelte Visionen. Die ihm durch den Schädel stampften. Ungeordnet wie eine feuchte Menge sich krümmender Fische, die aus einem Netz auf das Deck eines Boots geschleudert werden. Die Informationen strudelten aus den Tiefen seines Gedächtnisses herauf. Bruchstückhafte Blicke auf Leute, Orte, Ereignisse. Unterschiedliche Eindrücke bezüglich des Geschmacks, der Temperatur, des Geruch und des Tastgefühls. Bilder und Klänge. In unterschiedlich stark betonten und miteinander abgestimmten Abstufungen. Mangogelb. Maniokspritzer. Gedörrte Meersalz-Algen. Albatros-Schatten. Krabbe krabbeln höhlenkühl. Kokosnuss platzen. Klopfhohle Kokosnuss steinzerschmettert. Fingerschlecken von Feuchtigkeit. Finger? Digiti42. Verkümmerte Klauen. Gelenk. Seine Hand beschäftigte sich gerade von selbst. Stellte Experimente mit sich selbst an. Seine linke Hand. Die Finger schlossen sich zu einer Faust. Langsam. Öffneten sich wieder. Langsam. Der Daumen berührte den ersten Finger, den zweiten, den dritten. Odolo gab seiner pflichtvergessenen linken Hand einen Klaps mit seiner gehorsamen rechten. Die linke Hand hörte auf, herumzuzappeln. Aber noch immer wirbelten Erinnerungen hoch, erhoben sich in reißenden Fluten wie das Blut der Toten in der Legende von Pelikan Ova. Erinnerungen an köstliches Eis an heißen Tagen. An Nächte, in denen ihn die Moskitos gepeinigt hatten. An traumhafte Tauchgänge im Meer in der Nähe der Galeerentor-Tiefe. An grünen Tee, blauen Gin, Kaffee mit Sahne, Sorbet und andere köstliche Getränke. Er versuchte den Strom der Erinnerungen anzuhalten. Konnte das aber nicht. Er verlor allmählich die Oberhoheit über seinen eigenen Verstand. War mit einem Wort dabei, verrückt zu werden. Schlimmer noch – die Wand selbst bewegte sich! Odolo starrte die Wand an. Merkte dann, zu seiner Erleichterung, dass sie den Eindruck der Bewegung ihrem Überzug aus ständig den Platz wechselnden Kakerlaken zu verdanken hatte. Kostenlose Proteine! Er merkte, dass er hungrig war. Sollte sein Frühstück nicht bald eintreffen, würde er vielleicht ein paar dieser Sechsbeinigen umbringen, um seinem Bauch eine kleine Freude zu gönnen. Während er noch hinsah, beseitigte ein wandelnder Albtraum sowohl seine Erleichterung als auch seinen Hunger. Ein Schatten inmitten der Schatten formte sich zu einer Klaue. Sie beharkte die Wand. Stach mit ihren Krallen wie mit Messern auf die 42 engl. digits – hier mit dem medizinischen Fachbegriff übersetzt Seite 172 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Kakerlaken ein. Sie stürzten in einem prasselnden Regen herab, fielen rasselnd auf die Steinplatten des Bodens. Odolo verspürte zunächst luftabschnürende Angst, aber dann… Stille. Als ob er zu etwas Anderem geworden wäre… Zu was? Zu einem Teich klaren Wassers. Still. Bereit. Fertig. Wartend. Auf was? Während Odolo auf Erleuchtung wartete, krabbelten die Kakerlaken zurück an ihre Wand. Dann rutschte ein Pärchen aus der sich gegenseitig anrempelnden, den Schatten liebkosenden, Masse heraus. Weitere stürzten herab, da die aus Schatten geformte Klaue erneut die Wand beharkte. Die herabgestürzten Kakerlaken lungerten auf den Steinplatten herum. Dann wanderten sie auf Odolo zu, als ob sie von einer höheren Macht zu ihm hingezogen würden, marschierten so zielstrebig zu ihm hin, als ob sie dabei eine grässliche Absicht verfolgen würden. Wollten sie ihn vielleicht – auffressen? Er zog sich vor den näherkommenden Ungeheuern zurück. Dann hielt die führende Kakerlake inne. Schimmerte. Flackerte. Schmolz dahin. Löste sich auf. Verwandelte sich in einen Schmetterling. Der sich in die Luft erhob, um schattenweich und schattenstill nach oben in den Sonnenschein zu fliegen. Wo er in plötzlicher Pracht aufleuchtete, ehe er zwischen den Gitterstäben der Zelle hindurchflatterte. In die Freiheit hinausschlüpfte. Odolo blickte zurück auf die Armee der Kakerlaken. Sie war verschwunden. Etwas Kleines und Grünes war an die Stelle der Insekten getreten. Während er noch hinsah, erhob es sich in die Luft und begann knapp über seinem Kopf herumzukreisen. Kein weiterer Schmetterling, nein. Kein Schmetterling, sondern ein Drache. Ein winzigkleiner Drache, von der Nase bis zum Schwanz kaum einen Finger lang. Bei seinen Flugmanövern zirpte er fröhlich vor sich hin. Waren etwa sämtliche Kakerlaken verschwunden, um einen Miniaturdrachen zu bilden? Nein. Auf den Steinplatten zu Odolos Füßen befanden sich zwei mangogroße Tiere. Ein Löwe und ein Einhorn. Gerade, als er zu ihnen hinabschaute, begannen die beiden kleinen Kreaturen miteinander zu kämpfen. Sie schoben und zerrten sich gegenseitig bis zum Rand des Drecklochs. Rutschten aus. Stürzten dann hinab. Aus der Tiefe drang ein scheußliches Quieken herauf. Vampirratten! Von diesem Lärm angelockt, kam der Drache im Sturzflug herbei und tauchte hinab in das Dreckloch. Wenige Augenblicke später kam er wieder daraus hervor. Schmutzbedeckt. Er hockte sich auf die Steinplatten. Fauchend flatterte er wütend mit seinen Flügeln. Dreck spritzte von seinem Schuppenkleid davon. Immer noch fauchend erhob sich der Drache in die Luft. Er gewann an Höhe. Immer höher stieg er hinauf, kletterte in Kreisbahnen nach oben. Als er droben angekommen war, erwischte ihn der Sonnenschein, entfachte dabei auf seinen Flügeln ein Leuchtfeuer libellenartigen Schillerns. Der Drache schlüpfte zwischen den Gitterstäben hindurch, um im Sonnenschein zu verschwinden. Sicherlich war der Drache nur eine Illusion gewesen. Ein nutzloses Stückchen Träumerei, das im Tageslicht dahingetrieben war. Jedoch… noch immer taumelten Staubpartikel in den Luftwirbeln umher, die sein Flug verursacht hatte. Odolo schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Schaute erneut nach oben. Sah keine Spur von Luftwirbeln mehr. Sie hatten sich ins Nichts verflüchtigt. „Das hat sich nie ereignet,“ sagte er. Vielleicht nicht. Seite 173 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Aber soeben ereigneten sich andere Dinge. In der feuchtesten Ecke der Zelle bildete sich gerade eine Miniaturwolke. Eine winzige wichtigtuerische schwarze Wolke, die vor ungezügelter Energie funkelte. Während die Wolke knisternd Blitzfunken versprühte, begann sich in der Luft unmittelbar über ihr etwas zu bilden. Etwas Glattes, Ovales. Weißlich schimmernd. Ein Ei! Ein leuchtendes Ei! Das einen Moment lang über der Wolke schwebte. Dann fiel es zu Boden. Zerschellte auf den Steinplatten. Platsch! Der Dotter glühte golden in den schmachtenden Schatten der Zelle. Dann zerfiel die Wolke zu einem Platzregen aus Miniaturperlen. Dann begannen sich erneut die Worte im Kreis zu drehen, sich geschwind und blindwütig durcheinander zu würfeln, während sie durch den hilflosen Geist des glücklosen Odolo schwappten. Voll Panik schrie er: „Helft mir! Helft mir!“ Rammte dann vor lauter Verzweiflung seinen Kopf fest gegen die Tür seiner Zelle. Irgendetwas sprach im Inneren seines Kopfs: SEI RUHIG! Ohne nachzudenken, schlug sich Odolo mit der Faust auf seinen Kopf. Im Befehlston sagte die Stimme: HÖR AUF DAMIT! Odolo schlug sich erneut. Es tat weh. Dann aber tat ihm etwas noch viel mehr weh. Schmerz flutete durch seinen Körper. Schmerz? SCHMERZ! Dann sprach die Stimme in seinem Kopf erneut: Ich nicht du bin. Nicht dein Merkmal bin. DING bin. Hör mir zu, Odolo Ehrloser. „Hallo, Dingbin,“ murmelte Odolo. Ich bin ein DING. So das Ding, mit Würde und sich schnell verbessernder Beherrschung der Grammatik. Dann entgleiste ihm die Grammatik erneut, als das Ding – Ding? – DING! – sagte: Binchinminfin ist genannt mich. „Binchinminfin? So heißt du wohl?“ Ich heiße Binchinminfin. Das DING lernte wirklich schnell. Odolo lag so still da, als wäre er vollständig gelähmt. Träumte er das alles nur? Er stellte die Wirklichkeit auf die Probe. Er versuchte, eine nackte Maid auftauchen zu lassen. Er schaffte es nicht. Aber in seinen Träumen war es ihm bisher immer gelungen, nackte Maiden auftauchen zu lassen. Dabei hatte er sie freilich nicht nur einfach auftauchen lassen, sondern er hatte sie auch… [Hier wurde eine Löschung vorgenommen. Drax Lira, Chefredakteur.] Also träumte er nicht. Der nicht träumende Odolo lag schweißgebadet vor Entsetzen da. Ein DING! Ein DING in seinem Kopf! Was könnte er dagegen tun? Es mit einem Mangolöffel herausschälen? Er kicherte hysterisch. Bekam sich dann wieder in den Griff. Könnte er vielleicht mit dem DING verhandeln? Er könnte es ja versuchen. Laut sagte er: Seite 174 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Was willst du von mir?“ Die Stimme in seinem Kopf antwortete: STILLE. SEI RUHIG! HÖR AUF ZU DENKEN. So das DING. Aber wie könnte er zu denken aufhören? Während er noch darüber nachdachte, erwachte das Gemälde des Ungeheuers, das die Zellentür bedeckte, zum Leben. Sein einzelnes unheilvolles Auge zwinkerte ihm zu. Odolo schrie. „Was ist denn mit dir los?“ sagte eine mitleidslose Stimme. Das war bestimmt der Gefängniswärter, der da gesprochen hatte. Da künstlerischer Unfug das Guckloch der Zelle zur Pupille im Auge des Ungeheuers gemacht hatte, hatte die Öffnung desselben das scheußliche Türgemälde vorübergehend zum Leben erweckt. „Hilf mir!“ sagte Odolo. „Ich werde wahnsinnig!“ „Das ist vermutlich die Syphilis,“ sagte der Wärter, „stimmt’s? Syphilis ist schuld am Wahnsinn.“ Da fing Odolo vor lauter Höllenpein an, wie ein Skavamarin zu schreien. „Skeder erket mol,“ sagte der Wärter. Nachdem er einige weitere gleichermaßen unanständige wie mitleidslose Kommentare abgesondert hatte, ging der Wärter wieder weg und war dabei sehr zufrieden, dass sein Schützling in guter Verfassung war. Odolo wurde seinem Schicksal überlassen. Zerwürfelte Misstöne aus zufällig herausgepickten Worten wirbelten durch seinen Verstand. Er schrie erneut, schlug dann seinen Kopf gegen die Wand der Zelle. Aber die Worte drehten sich immer weiter im Kreis herum. Seite 175 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 24 Das Tagesviertel Istarlat vollendete seine Entfaltung wie eine Lotusknospe, wie man in der eleganten Ausdrucksweise des Janjuladoola sagen würde. Oder, um die knappe und brutale Redensart der Yudonischen Ritter zu gebrauchen: der Morgen starb. Oder im Jargon der Ebrellianer (Ah! Wie klingen die Worte doch viel süßer und sanfter in ihrer Übersetzung, verglichen mit den ungebremsten Obszönitäten des ursprünglichen Dub!): Die erste Hälfte des Tages war gefickt und im Arsch. Mittag kam also nach Injiltaprajura, und die Palastglocken läuteten und brachten so die Echos durcheinander, die in den Straßen des Hafengebiets hausten. Wandernde Echos erwachten zugleich auch auf der Wüstenseite der Stadt im Norden des Pokra-Kamms, wobei einige den Beschwörer Odolo erreichten, der in seiner Todeszelle im Hochsicherheitsgefängnis Moremo vor sich hin schwitzte. Innerhalb des rosa Palastes selbst donnerte der Krach der Mittagsglocken in ein mit Seide ausgekleidetes Gemach, in dem Kaiserin Justina gerade eine intime Unterredung mit Troldot „Starkfaust“ Turbothot, dem Fremdling aus dem weit entfernten Hexagon, hatte. Diese Unterredung stellte sich soeben als Enttäuschung heraus. Wieso? Weil sich Troldot Turbothot ohne Wissen Justinas an eben diesem Morgen bereits ausführlich mit Theodora unterhalten hatte. Die mittäglichen Bronzeglocken hörte man sogar auf der Insel Jod, wo Ivan Pokrov und Artemis Ingalawa gerade über den jungen Chegory Guy sprachen. Er hatte sie bitter enttäuscht. Lange Zeit hatten sie sich damit herumgeplagt, den Ebrellianer aus dem Morast, in dem er gezeugt worden war, emporzuheben. Lange Zeit hatten sie ihn unterrichtet, gefördert und beraten. Sie hatten ihm sogar Zugang zur feinen Gesellschaft verschafft. Doch er hatte sie im Stich gelassen. Gleich bei der ersten Gelegenheit hatte er sich in Schwierigkeiten mit dem Gesetz gebracht. Noch abstoßender war es aber, dass er sich mit der denkbar niedrigsten Gesellschaft eingelassen hatte – ausgerechnet mit einem Leichenmeister! Wie konnten Pokrov und Ingalawa das überhaupt wissen? Ganz einfach. Ein Mechaniker, der in Lubos wohnte, hatte an eben diesem Morgen den jungen Chegory gesehen, als der dem Leichenmeister Uckermark geholfen hatte, dessen Tür zu reparieren. Der Mechaniker hatte diese Nachricht übermittelt, als er im Analytischen Institut angekommen war, um seine Arbeit anzutreten. Auf diese Weise wussten Ingalawa und Pokrov also, wie tief die missratene Rothaut gefallen war. Schlimmer noch, Chegory war nicht zu ihnen gekommen, um sie um ihren Rat zu bitten. Egal, welche Probleme er auch haben mochte, man hätte sie sicherlich mit einer fachkundigen Beratung und der Hilfe eines guten Anwalts aus der Welt schaffen können. Aber der Ebrellianer lief ja lieber Amok in der Stadt, weil er vermutlich hoffte, seine gegenwärtigen Schwierigkeiten mit der Hilfe von Lügen, Ausflüchten, kriminellen Partnern und (zweifellos) Gewalt zu lösen. So musste es wohl sein. Denn sollte Chegory unschuldig sein, was seine Beteiligung an verbrecherischen Handlungen betraf, warum würde er dann um seine Arbeitsstätte ebenso wie um die Dromdanjerie einen Bogen machen? „So, wie ich es sehe,“ sagte Artemis Ingalawa finster entschlossen, „müssen wir zunächst genau herausfinden, in was er eigentlich verwickelt ist. Vielleicht hatte er sich dem Aufstand in der Schatzkammer angeschlossen. Vielleicht hat er sich mit einer Handvoll Diamanten davongemacht, oder sowas in der Art. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass man ihn solange schütteln muss, bis die Wahrheit aus ihm herauspurzelt.“ Pokrov war einverstanden. Da Pokrob gerade eine Allgemeine Ölung der Analytischen Maschine überwachte, hatte er keine Zeit, sich nach Injiltaprajura zu begeben, um die Wahrheit aus Chegory Guy herauszupressen. Aber Ingalawa hatte Zeit und machte sich sofort auf den Weg. Ingalawas Nichte Olivia fing sie an der Küste von Jod ab, erfuhr von ihrem Reiseziel und bestand darauf, sie auf ihrem Marsch über die Hafenbrücke zum Festland zu begleiten. In Untunchilamons Hauptstadt (und überhaupt in der einzigen Stadt dort), im Durcheinander aus Bruchbuden und Krabbelgängen, das Lubos hieß, im Leichenladen des verrufenen Uckermark, döste Chegory vor sich hin, trotz der stickigen Hitze, trotz des Gestanks nach madenwimmelndem Fleisch und verstopften Abwasserrohren, trotz der elenden Fliegen, die sich in schwarzen Wolken an die Gaze klammerten, die ihnen den Zutritt Seite 176 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 verwehrte, trotz des unermüdlichen Schnarchens des Leichenmeisters selbst und trotz des Stiergeruchs von Log Jaris. Die einzige im Leichenladen wache Person war Yilda. Sie war in der Küche, um Maden einzuwecken. Nicht um sie etwa selbst zu essen, sondern um sie zu verkaufen. Leichenmaden sind eine Delikatesse, die von denjenigen, die in Obooloo geboren und aufgewachsen sind, sehr geschätzt wird. Viele dieser Leute leben auf Untunchilamon, und deshalb waren Maden ein gewinnträchtiger Nebenerwerb für den Laden. Yilda hatte Freude an ihrer Kocherei, wurde aber schließlich durch ein Hämmern von draußen von ihrer Arbeit abgelenkt. Sie lief los, um die drei Schläfer zu wecken. Zuerst scheuchte sie Uckermark auf, wobei sie ihren Stiefel mit dem Schwung einer Expertin einsetzte. „Was ist denn los, mein süßes Schatzilein?“ sagte Uckermark, der sich aus Träumen von Zuckerrohr und Zahnschmerzen wachrüttelte. „Da sind welche an der Tür,“ sagte Yilda. Das waren sie in der Tat. Sie waren aber nicht nur an der Tür – sie trommelten auch dagegen. „Klingt nach Ausbesserungsarbeiten,“ sagte Uckermark, während der Klang ihrer Schläge durch seinen Leichenladen widerhallte. Dann brüllte er aus Leibeskräften: „Hört auf damit!“ Aber das unermüdliche AufHolz-Pochen ging weiter. „Das ist ja das Problem,“ murrte Uckermark. „Niemand respektiert die Würde der Toten.“ Dann weckte er Chegory und Log Jaris, und alle drei Männer rüsteten sich mit scharfen Waffen aus. Chegory hatte einen langstieligen Leichenhaken, Uckermark hatte ein Drachenbeil, und Log Jaris hatte eine massive Krakenkeule. [Krakenkeule: ein Küchenwerkzeug, das man auf Untunchilamon verwendet, um Kopffüßer weich zu klopfen. Trotz ihres Namens verwendet man sie nur selten bei ganzen oder zerstückelten Kraken, aber sie kommt häufig bei der Zubereitung von Kalmaren und Oktopussen zum Einsatz. Oris Baumgage, niederrangiger Faktenprüfer.] Die Männer bezogen im Schatten neben der Tür Stellung. Dann sagte Uckermark: „Mach’ sie auf.“ Während er noch sprach, nahm das Hämmern weiter an Stärke zu. „Verflixt und zugenäht!“ brüllte Yilda. „Ich komm’ ja schon, ich komm ja schon!“ Zugleich mit ihrem Geschrei schob sie einige Rauchtöpfe zur Tür. „Wartet noch einen Augenblick! Ich bin jeden Moment bei euch! Schlagt die Tür nicht kaputt!“ Sie zog die Riegel zurück und öffnete die Tür, um draußen einen Haufen bewaffneter Wachen vorzufinden. Also sagte sie: „Was wollt ihr?“ „Bei den Eiern eines Ochsen!“ sagte der Hauptmann der Soldaten, wobei er vor dem herauswirbelnden Rauch einen Schritt zurücktrat. „Steht dieser Ort etwa in Flammen?“ „Das sind bloß verdammte Rauchtöpfe,“ sagte Yilda. „Siehst du das nicht? Bist du vielleicht blind, oder so? Freilich bist du das! Zuviel Selbstbefriedigung, daher kommt das wohl! Macht dich obendrein auch noch taub. Hast du denn nicht gehört, was ich gesagt hab’? Ich hab’ gesagt: Was wollt ihr?“ „Dreimal darfst du raten,“ sagte der Hauptmann. „Komm’ mir bloß nicht mit so einer rohen Garnele!“ sagte Yilda. Da ihre Ausdrucksweise zweifellos unbegreiflich für jeden Zuhörer aus dem zivilisierten Teil dieser Welt war, sollte man besser bekanntgeben, dass sie ihm im Gossenjargon von Injiltaprajura mitteilte, gefälligst einen höflichen Ton anzuschlagen und sich nicht einzubilden, dass er in Yildas erlesenem Empfangszimmer willkommen wäre. Doch der Hauptmann war leider nicht imstande, einen Hinweis dieser Art auch zu befolgen. „Mach’ den Qualm weg, Schätzchen,“ sagte er. „Dann will ich dir mal so richtig einheizen.“ Seite 177 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Der Rauch ist da, um die verdammten Fliegen fernzuhalten, verstehst du?“ sagte Yilda. „Vor allem Schmeißfliegen. Verdammte Schmeißfliegen, ungefähr in deiner Größe.“ Weil Yilda so offensichtlich unfreundlich war, und weil sie einen Schürhaken mit ihrer Faust umklammerte, setzte der Hauptmann das fröhliche Geplänkel nicht weiter fort, sondern kam nun sofort zur Sache. „Wir sind auf der Suche nach dem Leichenschänder Uckermark und seinem Sexbuben Chegory Guy,“ sagte er. Das ist eine bereinigte Fassung dessen, was er wirklich sagte. Da jedoch selbst der beste Einsatz zensorischer Fachkenntnisse keine gesellschaftlich vertretbare Fassung dessen, was Yilda zur Antwort gab, hervorbringen könnte, ist es zweifellos besser, dass ihre Erwiderung hier vollständig weggelassen wird. Lassen Sie uns einfach feststellen, dass zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihren Teil gesagt hatte, Uckermark seine Waffe niedergelegt hatte und aus dem Schatten hervorgetreten war. Chegory hielt es für das Beste, seinem Beispiel zu folgen, und tat es auch. „Ich bin Uckermark,“ sagte Uckermark. „Ich bin Chegory,“ sagte Chegory. „Und wenn du einen von uns beiden haben willst,“ sagte Uckermark, „dann solltest du lieber eine Vollmacht vorweisen können.“ „Wir haben eine Vollmacht!“ sagte der Hauptmann. Eine Vollmacht für was? Für die Verhaftung von Chegory Guy? Oder für seine sofortige Hinrichtung? „Was für eine Vollmacht?“ sagte Uckermark. „So eine!“ sagte der Hauptmann. Drückte mit diesen Worten die Vollmacht Uckermark in die Hand, in der Annahme, der Leichenmeister wäre des Lesens unkundig und würde sich deshalb von diesem verschnörkelt bemalten Pergament einschüchtern lassen. Das war wirklich ein eindrucksvolles Dokument, das in kaleidoskopischen Farben grell und bunt bemalt war. In der Tat ein unheilvolles Zeichen! Denn im Izdimir-Reich werden nur die grimmigsten Anweisungen so geschmückt und verziert. Aber Uckermark nahm die Vollmacht, las sie flüchtig durch und gab sie dem Hauptmann dann mit einem höhnischen Grinsen zurück. „Das hier weist dich lediglich an, uns eine Vorladung auszuhändigen, die uns verpflichten soll, vor Gericht zu erscheinen. Gib sie uns! Und dann könnt’ ihr alle abhauen!“ Der Hauptmann war enttäuscht. Er hatte gehofft, einem leseunkundigen Deppen mittels aktenmäßiger Einschüchterung ein Bestechungsgeld abnötigen zu können, und hatte es nun im Gegenteil mit einer Art von Rechtsexperten zu tun. Widerstrebend händigte der Hauptmann die Vorladung aus, die nichts weiter als ein schmuddeliges Stück Reispapier war, das Chegory und Uckermark aufforderte, noch am selben Nachmittag zu einer eidlichen Zeugenvernehmung im Palast zu erscheinen. Der Beschwörer Odolo sollte vor Gericht gestellt werden, und die Obrigkeit hatte den Wunsch, dass die beiden eine Zeugenaussage zu seinen Ungunsten abgeben sollten. Der Hauptmann drehte sich um, um zu gehen. „Äh, ah, warten Sie doch einen Moment!“ sagte Chegory. „Wie haben Sie gewusst, dass Sie mich hier finden können?“ Der Hauptmann geruhte nicht, ihm zu antworten. Stattdessen ließ er einfach seine Soldaten abmarschieren. „Er weiß es, weil es der ganze Palast weiß, dass du hier bist,“ sagte Uckermark. „Das hab ich dir doch schon gesagt. Glaubst du es mir jetzt? Seitdem dich Justina mit Aufmerksamkeiten umschmeichelt hat, bist du berühmt, zumindest im Palast.“ „Oh,“ sagte Chegory. „Ich hab’ geglaubt, in Sicherheit zu sein. Vor den Soldaten. Vor Varazchavardan.“ Seite 178 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Entspann’ dich!“ sagte Uckermark. „Keine Sorge! Hätte Varazchavardan dich haben wollen, hätte er schon längst deinen Kopf gefordert.“ Da es so aussah, als ob Yilda gleich die Rauchtöpfe entfernen würde, sagte er dann zu ihr: „Lass die Töpfe stehen. Wir sollten die Tür ein wenig offenstehen lassen.“ „Wir leben in einer gefährlichen Zeit,“ sagte Log Jaris, der nun auch aus dem Schatten trat. „Heute ist kein Tag für offene Türen.“ „So, wie du redest, könnte man meinen, dass wir knietief im Schnee stecken,“ sagte Uckermark. „Spürst du nicht auch diese Hitze, oder was? Ich bin schon halbtot, unter diesen Umständen. Zur Hölle mit den Gefahren. Wir werden die Tür offen lassen. Sollten wir auch nur neun Zehntel eines Wunders kriegen, dann könnten wir sogar eine leichte Brise bekommen. Ein wenig Luftbewegung. Sonst sterbe ich!“ „Wenn du dir wegen deines Tods Sorgen machst, dann solltest du anfangen, dir wegen dieser eidlichen Zeugenvernehmung Sorgen zu machen,“ sagte Log Jaris. „Und zwar schnell! Das kann gefährlich werden!“ „Odolo weiß nichts über uns,“ sagte Uckermark, wobei er sich nach drinnen zurückzog und die Rauchtöpfe stehen ließ, um den offenen Türeingang vor den Fliegen zu schützen. „Er weiß nichts von dem Wunschstein und dessen Diebstahl, und er weiß auch nichts über den Kalligraphenbund und unseren Anteil an der Organisation desselben.“ „Bis jetzt, bis jetzt,“ sagte Log Jaris. „Aber seine Anwälte werden anfangen, schmutzige Sachen aufzuwühlen, sobald es bekannt wird, dass wir als Zeugen gegen ihn aussagen. Von einer derartigen Untersuchung haben wir viel zu befürchten.“ „Sollen wir fortlaufen?“ sagte Chegory. Aber schon als er das sagte, wusste er, dass Fortlaufen keine Antwort war. Wohin sollten sie schließlich auch gehen? Er hatte alle Optionen bereits viele Male durchdacht. Im Drunten verstecken? Oder aus der Stadt fliehen? Würden sie jetzt fliehen, könnten sie nicht über das Meer entkommen. Nicht während der Jahreszeit des Fistavlir. Also würden sie ins Landesinnere gehen müssen. Nach Zazazolzodanzarzakazolabrik. Zazazolzodanzarzakazolabrik, auch bekannt als Abkratz-Zone, Ödnis, Skorpionswüste – oder kurz Zolabrik. Eine tödliche Gegend, von der Sonne ausgedörrt und von tiefen Rissen zerfurcht, mit hoch aufragenden Felsnadeln und verwitterten Steinen, mit grauenvollen Ruinen, die von meerwassergefluteten Tunneln unterhöhlt waren, in denen riesige Seeskorpione, Seetausendfüßer und noch schlimmere Ungeheuer hausten. Für Chegory wäre es ein Albtraum, in diese Wildnis fliehen zu müssen, wo ihn der Kampf ums Überleben zwingen würde, Zuflucht bei Impala Guy, seinem Vater – Jal Japones Brennmeister – zu suchen. Mit Sicherheit wäre er dann dazu verdammt, ein weiterer trunksüchtiger Ebrellianer zu werden, der sein Leben als gejagter Verbrecher in äußerster Sittenlosigkeit verbringen musste. Das sagte er auch zu Uckermark. Der Leichenmeister lachte. „Du willst dein Leben also in aller Unschuld verbringen, stimmt’s? Dann hast du dir die falsche Welt für deine Geburt ausgesucht. Aber keine Bange. Ich hab’ nicht vor, in die Ödnis zu fliehen. Jawohl, eine eidliche Zeugenvernehmung bedeutet Gefahr – aber Fortlaufen bedeutet noch viel mehr Gefahr.“ Damit war die Diskussion beendet, obwohl Chegory noch tausend Zweifel und Fragen hatte, denn Uckermark war fest entschlossen, sich jetzt der Angelegenheit des Mittagessens zu widmen. Sie verköstigten sich mit fabelhaftem Fisch, einigen edlen Kokosnüssen, etwas zweckmäßigem Wasser und ein paar pragmatischen Nüssen. Mit Nahrung in seinem Bauch begann sich Chegory besser zu fühlen. Bis er, als er sich gerade in seinem Stuhl zurücklehnte, um ein Stück Zuckerrohr abzuschälen, einen der größeren Schocks seines Lebens erlitt. Was ihn verursacht hatte? Seite 179 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Die Ankunft eines Drachen! Chegory erspähte den Drachen zum ersten Mal, als der gerade oben auf einem öde grinsenden Schädel saß. Es handelte sich um einen winzigen Drachen. Nicht länger als sein Finger. Sicherlich eine Halluzination. Ein von Zen verursachter Flashback. Chegory nestelte an seinem Zuckerrohr herum, um es auf dem Tisch abzulegen, weil es seine vom Schweiß schlüpfrigen Finger nicht mehr festhalten konnten. „Was ist denn?“ sagte Yilda, die seine Besorgnis sah. „Es ist ein Drache,“ sagte Uckermark, der sah, wo Chegory hinblickte. Lässig warf der Leichenmeister eine Mango in hohem Bogen nach dem Miniatur-Ungeheuer. Die Mango ging daneben. Zerplatzte. Log Jaris hob ein Stückchen sauber geschabte Kokosnuss-Schale auf und schnippte es durch das Zimmer. Aber auch sein Geschoss ging daneben. Jetzt begannen die beiden Männer miteinander zu wetteifern, die Überreste des Mittagsmahls in einer Schnellfeuer-Salve loszuwerden. Der Drache vollführte Ausweichmanöver. Die beiden Ex-Piraten stellten sich dieser Herausforderung. So kam es, dass Artemis Ingalawa, als sie den Leichenladen betrat, auf ein wahrlich wahnsinniges Schauspiel stieß. Ein aufgebrachter, verärgerter Drache flutschte und witschte durch die Luft, während er versuchte, gleichzeitig seine Verfolger anzugreifen und einem Trommelfeuer aus Tellern, Töpfen, Schädeln und irgendwelchem Geschlabber auszuweichen. „Hört auf damit!“ sagte Ingalawa. Ihr schneidender Befehl unterdrückte den Aufruhr augenblicklich. Die letzten Geschosse schepperten gegen die Wand. Der Drache ergriff die Gelegenheit und schoss auf Log Jaris zu. Besann sich dann eines Besseren, drehte ab und landete auf Ingalawas Kopf. Gereizt scheuchte sie ihn mit der Hand weg. Der Drache erhob sich wieder in die Lüfte. Ingalawa richtete die volle Gewalt ihres Zorns auf Chegory Guy. „Chegory Guy!“ sagte sie. „Was treibst du hier?“ „Sie – Sie haben einen Drachen auf dem Kopf,“ sagte Chegory, denn der Drache hatte sich wieder auf der Ashdan-Mathematikerin niedergelassen. „Das ist keine Antwort auf meine Frage,“ sagte Ingalawa barsch, die den Drachen ignorierte, während sie versuchte, den pflichtvergessenen Chegory Guy einschüchternd anzustarren. Der auf ihrem Haar reitende Drache furzte, wobei er eine winzige Dampfwolke aus seinem hinteren Ende ausstieß. Chegory, der sich nicht anders zu helfen wusste, brach in hysterisches Gelächter aus. Ingalawa war wütend. Sie fegte den Drachen von seinem Sitz. Er taumelte in die Luft, bekam sich wieder unter Kontrolle und flog dann aus dem Leichenladen hinaus. Draußen auf der Straße schrie jemand. Es waren Olivias Schreie. Augenblicklich verebbte sein Gelächter. Er sprang auf und stürzte nach draußen, wobei er sich im Laufen einen Leichenhaken schnappte. Er stellte sich vor, dass der Drache, der sich durch Magie auf riesige Größe ausgedehnt hatte, gerade seine geliebte Olivia auf der Straße angriff. Aber als er durch die wabernden Schwaden aus den Rauchtöpfen hindurchgesprungen war und die Straße erreicht hatte, war kein Ungeheuer zu sehen. Nur Olivia selbst, die noch immer vor Schrecken zitterte. Beim Anblick des winzigen Drachens hatte sie vorübergehend geglaubt, sie wäre verrückt geworden. Schließlich gibt es keine derart kleinen Drachen, die fliegen können. Die legendären Landdrachen von Argan sind selbst dann viel größer, wenn sie frisch aus dem Ei geschlüpft sind. Und was die Reichsdrachen von Yestron angeht, so wachsen diese erst zur Größe von Hunden heran, ehe sie flugfähig werden, während die Seedrachen überhaupt nicht fliegen können. Wortlos fiel Olivia in Chegorys Arme. Bedenkt man die Länge der Zeit, die der Ebrellianer im Leichenladen verbracht hatte, war es in der Tat ein glücklicher Umstand, dass die Schwaden der Rauchtöpfe alle anderen Düfte unterdrückten. Chegory und seine wahre Liebe hielten sich gegenseitig umschlungen, bis Ingalawa hinter ihnen auftauchte. Seite 180 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Lasst euch los, Kinder!“ sagte sie. Der Klang ihrer Worte zeigte deutlich, dass sie noch immer verärgert war. „Okay,“ sagte Chegory und ließ dabei los. Dann zu Olivia, der noch immer Tränen in den Augen standen: „Komm’ rein. Komm’ rein, und dann bring’ ich dir einen Becher Wasser.“ Also gingen sie hinein. Aber sobald die beiden Ashdan-Frauen den Leichenladen betreten hatten, wusste Chegory, dass er einen fürchterlichen Fehler begangen hatte, denn Olivias weit aufgerissener Mund und ihre entsetzten Blicke verrieten ihren Schock und ihren Abscheu. Ihre Blicke sagten: Das ist der allerschlimmste Ort, an dem ich in meinem ganzen Leben jemals gewesen bin, eine echte Nervenhölle. Ihre Blicke sagten sehr beredt: Ist es mit meinem armen Chegory schon so weit gekommen? Wie hat er es nur geschafft, so schnell so tief zu sinken? Ihr Mund sagte: Mir wird gleich kotzübel werden. Schlimmer noch, als Chegory Olivia etwas Wasser reichte, konnte sie es nicht schlucken. Sie musste würgen. Der Becher entglitt ihrer Hand. Sie rannte davon. Chegory folgte ihr nach draußen, und tröstete sie immer noch, als Log Jaris auf die Straße stapfte, um sich zu ihnen in den Sonnenschein zu gesellen. Sein schwarzes Stierfell schimmerte sonnenglänzend. Das bleiche Elfenbein seiner Hörner strahlte im Licht des großartigen Leuchtkörper des Tages. Die zwei jungen Verliebten wohnten als Miniatur-Spiegelbilder in seinen Augen. Olivia schaute dieses widerliche Geschöpf, diese mutierte Abscheulichkeit an und verbarg dann ihr Gesicht an Chegorys Schulter. „Bist du abmarschbereit?“ sagte Log Jaris. Ein paar Fliegen ließen sich auf seinen Nüstern nieder. Er wedelte sie davon. Sie kreisten in die Höhe, und eine setzte sich auf sein backbordseitiges Horn. „Abmarsch?“ sagte Ingalawa wütend. „Wohin wollt ihr denn marschieren? Wohin willst du Chegory Guy bringen? Und warum? Kannst du mir das vielleicht mal verraten?“ „Ich will ihn nirgendwo hinbringen,“ sagte Log Jaris. „Uckermark ist derjenige, der ihn mitnehmen wird.“ „Wir müssen zum Palast gehen,“ sagte Chegory, der es ihr zu erklären versuchte. „Eine, äh, eidliche Zeugenvernehmung, darum geht es. Deshalb müssen wir dorthin gehen.“ „Eine eidliche Zeugenvernehmung!“ sagte Ingalawa. „Bist du schuldig? Hast du einen Anwalt? Was hast du getan?“ „Nichts hab’ ich getan!“ sagte Chegory. „Oh, das sagen doch alle!“ entgegnete Ingalawa. „Aber du bist in diesen Aufruhr verwickelt gewesen, stimmt’s? In diesen Aufruhr in der Schatzkammer? Und wo bist du den ganzen gestrigen Tag lang gewesen? Und die ganze letzte Nacht? Hier? Und was hast du da getan? Was es auch gewesen sein mag, warum hast du dich heute nicht in der Dromdanjerie blicken lassen? Oder auf Jod?“ „Hören Sie,“ sagte Chegory, „das ist ziemlich verzwickt, okay?“ „Verzwickt?“ sagte Ingalawa. „Was soll daran bloß verzwickt sein?“ „Praktisch alles,“ sagte Chegory. „Varazchavardan, dieser Hexer, Sie wissen schon, okay? Er hat – wir – wir haben sowas wie einen Zusammenstoß gehabt, und deshalb will ich ihm jetzt lieber aus dem Weg gehen, okay? Er könnte vielleicht in der Dromdanjerie nach mir Ausschau halten, okay, oder auf Jod, da wo ich eben wohne oder wo ich arbeite. Aber vom Leichenladen weiß er nichts, oder ich hab’ mir zumindest gedacht, dass er nichts davon weiß, obwohl er das ja vielleicht doch tut. Und dieses – diese – jene Soldaten, die Schäbbel versengt hat, sie könnten noch immer auf der Suche nach mir sein, aber ich wollte mich nicht finden lassen. Weil ich, okay, vielleicht streng genommen so eine Art entlaufener Gefangener bin, aber ich hab’ mich, äh…“ Seite 181 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Du hast dich in Schwierigkeiten gebracht,“ sagte Ingalawa. „Wenn du schon versuchst, dich vor den Soldaten oder vor Varazchavardan zu verstecken, wieso kommst du dann auf die Idee, zum Palast zu gehen? Dort werden sie dich mühelos schnappen!“ Chegory reagierte darauf sehr heftig. Und das umso mehr, weil das Unlogische seiner Situation bereits durch die Zustellung der Vorladung enthüllt worden war. Der Leichenladen war jedenfalls kein richtiges Versteck! „Na toll!“ sagte er. „Aber ich hab’s versucht, okay? Bin den ganzen gestrigen Tag, die ganze letzte Nacht nicht erwischt worden. Der letzte Tag meines Lebens, die letzte Nacht? Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Mir wird droben im Palast nichts geschehen, weil, äh, mich die Kaiserin mag, weil sie mir vertraut.“ „Junge, da machst du dir doch bloß etwas vor!“ sagte Ingalawa. „Wenn du das Vertrauen der Kaiserin hättest, würde man dich doch nicht vor Gericht stellen, ganz egal, was du auch getan hast.“ „Ich stehe nicht vor Gericht!“ sagte Chegory. „Aber du hast doch gerade selbst gesagt, das du das tust,“ sagte Ingalawa. Das war so unsinnig, dass Chegory in Versuchung geriet, sie zu schlagen. Dann kam Uckermark in den Sonnenschein hinaus und unterbrach Ingalawas zornerfüllten Redefluss, indem er sagte: „Unser junger Freund von den Ebrellen wird wegen gar nichts angeklagt. Bestimmt ist er an vielen Dingen schuld, aber bezüglich irgendwelcher Anklagen verbringt er sein Leben in aller Unschuld. Er soll lediglich einer eidlichen Zeugenvernehmung als Zeuge beiwohnen.“ „In welchem Rechtsfall?“ sagte Ingalawa. „In einem Rechtsfall des Hochverrats,“ sagte Uckermark. „Wie kann man sich nur in so eine Sache hineinziehen lassen!“ sagte Ingalawa in verächtlichem Ton. Damit gab sie Chegory das Gefühl, dass er irgendetwas Falsches getan hatte. Er rief sich ins Gedächtnis, dass er in Wirklichkeit durch all seine in jüngster Zeit durchlebten Schwierigkeiten hindurch unablässig rechtschaffen gewesen war. Das spielte keine Rolle. Ingalawa sorgte dennoch dafür, dass er sich schmutzig, verdorben, schuldig fühlte. Wie schaffte sie das bloß? Kinderleicht, kinderleicht. Sobald er in ihrer Nähe war, wirkte sich ihr Gehabe müheloser Überlegenheit automatisch zu seinem Nachteil aus. Kochend vor mordlüsternem Groll hätte Chegory beinahe gesagt, was er sich dachte, aber er beherrschte sich. Das erforderte heldenhafte Anstrengungen von ihm, denn er war trotz seines kürzlichen Schlafs müde wie die Fliege, die zum Mond geflogen war. Die Warterei im Leichenladen hatte ihm kaum geholfen, sich von seinen jüngsten seelischen Verletzungen zu erholen. Stattdessen hatte sie ihm die unerschöpfliche Gelegenheit geboten, sich über das Schlamassel Sorgen zu machen, in das er hineingeraten war, und über all die Leute, die ihm vielleicht nach dem Leben trachteten. „Also,“ sagte Ingalawa, „wie hast du es bloß geschafft, dich in eine Gerichtsverhandlung wegen Verrats hineinziehen zu lassen?“ „Darüber können wir uns später unterhalten,“ sagte Chegory. „Chegory,“ sagte Ingalawa scharf, „ich meine, du solltest uns lieber jetzt sofort erzählen, was hier los ist. In allen Einzelheiten.“ Chegory blickte hilflos zu Uckermark. Gab es hier vielleicht noch etwas, das nicht los war? Er steckte in soviel verschiedenen Schwierigkeiten, dass es den ganzen Tag erfordern würde, sie zu katalogisieren. Und er hatte doch so fest versucht, gut zu sein! Ein vorbildlicher Bürger zu sein! „Chegory?“ sagte Ingalawa, um sein Schweigen zu brechen. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll,“ sagte Chegory. Seite 182 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Dann fang’ damit an, dass du uns erzählst, was du so treibst. Und zwar hier. Mit diesen – diesen Leuten. Hast du irgendwelchen Ärger?“ Diese Frau war ja so schwer von Begriff! Wie könnte er wohl keinen Ärger haben? Chegory hatte sich tüchtig angestrengt, Zurückhaltung zu üben, merkte jetzt aber, dass die Worte zornig-heiß aus ihm herausströmten, brennend wie eine Sturzflut aus geschmolzenem Wachs: „Ärger! Natürlich hab’ ich Ärger! Ich hab’ nach Jod zurückgehen wollen, als uns Ox das erste Mal gewarnt hat. Ich hab’ zurückgehen wollen, aber Sie haben ja nichts davon hören wollen. Oh nein, haben Sie gesagt, lauf’ jetzt nicht davon. Es ist dein Recht, haben Sie gesagt. Du bist ein Bürger, haben Sie gesagt. Du hast das Recht auf deiner Seite. Oh ja, Sie haben freilich gut reden! Aber was ist dann passiert? Dieser wahnwitzige Schäbbel hat uns alle in die Scheiße geritten und wir sind alle verhaftet worden, dann sind die Wachen zurückgekommen, und was dann? Na klar, Sie bleiben an Ort und Stelle, kein Problem für Sie, aber mich schleift man fort zum Palast. Und was dann? Oh, nicht viel. Bloß Aufstände, Ausbrüche, verrückte Zauberer, Ungeheuer, Drogenhändler. Und Varazchavardan, oh, ich könnte Ihnen den ganzen Tag lang Geschichten über Varazchavardan erzählen. Und was dann? Der Palast, und dieses wahnsinnige Weibsbild namens Justina, und sie hat ständig versucht, mich zu vergewaltigen, dann der Drache, es ist ein Drache im Palast gewesen, und ich wäre dabei beinahe getötet worden. Aber was ist mit Ihnen? Oh, bei Ihnen ist alles in Ordnung, stimmt’s? Sie sind problemlos aus dem Gefängnis gekommen, vermutlich haben Sie sich einen Anwalt besorgt, Ihnen passiert jedenfalls nichts. Weil Sie eine Ashdan sind, hat man Achtung vor Ihnen, aber ich bin bloß ein Ebbie, sie werden mich töten, sobald sie mich sehen, denn egal, was auch schief gelaufen ist, es wird auf alle Fälle meine Schuld sein, nicht wahr? Und nichts davon wäre passiert, überhaupt nichts davon, wenn Sie mir erlaubt hätten, einfach zurück auf die Insel zu gehen. Das hätte gereicht. Sich einfach eine Nacht lang zu verstecken. Ich hab’s gewusst, ich hab’s gewusst, aber Sie…“ Chegory ballte seine Fäuste, als ob er ihr gleich einen Schlag versetzen wollte. Dann brach er stattdessen in Tränen aus. Zerbrach am unerträglichen Schmerz seines Daseins. Ingalawa hielt sich von ihm fern, weil ihr überhaupt nicht klar war, wie sie mit seinem Ausbruch umgehen sollte – vielleicht hatte sie Angst, er könnte womöglich zum Mörder werden? Doch Log Jaris klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Es ist besser, das mal ausgesprochen zu haben, als es unausgesprochen in dir weiterschlummern zu lassen.“ Dann sagte Uckermark: „Zeit für uns, zu gehen, Chegory. Die Vorladung besteht darauf mit Nachdruck. Wir dürfen zu dieser Vernehmung nicht zu spät kommen. Log Jaris, mein Freund – kannst du hierbleiben, um Yilda zu helfen, sich um den Laden zu kümmern? Falls irgendwelche Räuber oder so auftauchen.“ „Mit Vergnügen,“ sagte Log Jaris. „Wenn ihr dorthingehen wollt,“ sagte Ingalawa in einem Moment flinker Entschlossenheit, „dann werden wir zwei euch begleiten.“ Also gingen sie los, und Artemis Ingalawa und Olivia Qasaba waren nun die Weggefährten von Chegory und Uckermark. Seite 183 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 25 Es war einer jener Tage, wo die Hitze selbst diejenigen beklemmend fanden, die auf Untunchilamon geboren und aufgewachsen waren. Um sich zu schonen, hatte die ganze Stadt ihre Geschwindigkeit zu einem gemächlichen Schritttempo heruntergedrosselt, denn es war praktisch unmöglich, irgendeine Tätigkeit schnell auszuführen. Dank der Hitze war schon der Versuch, einfach die Lak-Straße hochzuschlendern, eine Aufgabe der fortgeschrittenen Gymnastik. [So heiß kann es gar nicht werden. Trägheit ist eine Schwäche des Geistes, für die man niemals das Klima verantwortlich machen sollte. Sollte eine geringfügige Erwärmung des Wetters Injiltaprajura wirklich einen solchen Stillstand zufügen, dann hätten wir hier das schockierende Bild einer ganzen Kultur, die in einen unaufhaltsamen Abstieg versunken ist. Man sehnt sich danach, dass endlich mit der Unterwerfung begonnen wird und eine kraftvolle Religion die Tugenden von Arbeit und Leistung einer derart verfallenen Gesellschaft näherbringt. Srin Gold, Außerordentlicher Kommentator.] In Untunchilamon ist es immer heiß, aber wenn es ein außergewöhnlicher Schweißtag wie dieser war, wenn selbst die hartgesottensten Achselläuse den Tod durch Ertrinken befürchten müssen, wenn jedes Paar Schenkel in der Stadt so feucht ist wie sonst nur in den leidenschaftlichsten Flitterwochen, wenn jeder Sack wie eine ganze Turnhalle stinkt, dann scheint die Hitze nicht nur von der Sonne zu kommen, sondern vom Himmel selbst, und tatsächlich auch direkt von den Straßen. Der Blutstein erhitzte sich bis zum Schmelzpunkt. Die weiße Masse der Perle wurde von einem unerträglichen Glanz überzogen. Hitzeverzerrte Gebäude schimmerten und verbogen sich, als sich die Luft selbst in hilflosen Todesqualen krümmte. Ein solches Wetter bewirkt gewisse Arten von Wahnsinn, die auf Untunchilamon sehr gefürchtet werden. Da gibt es beispielsweise einen Geisteszustand namens (um ihn auf Janjuladoola zu bezeichnen) Talabrapalau, indem man sein Leben in ständiger Furcht verbringt, in Folge spontaner Selbstentzündung plötzlich in Flammen aufzugehen. Eine andere Psychose, deren Name mir entfallen ist, lässt einen glauben, dass sich die Steine selbst entzünden werden. Ich bin auch einem Mann begegnet, der sich davor gefürchtet hat, sich völlig in Schweiß aufzulösen, durch die Fenster der Dromdanjerie zu fließen, den steilen Abhang des Skindik-Wegs nach Lubos hinabzuplätschern, durch den Schmutz des Elendsviertels zu sickern, um dann schließlich in den Laitemata zu platschen. Wir sehen also, dass der Wahnsinn charakteristisch für jede Kultur ist. In der Tat sehen wir das auch anderswo. In der Stadt Babrika zum Beispiel, wo alles so manierlich ist, wo die Höflichkeit alles beherrscht und sich niemals eine Stimme vor Zorn erhebt, passiert es, dass ab und zu ein Einzelner Amok läuft und sich durch den Marktplatz schnippelt, bis er überwältigt und dann in Stückchen gehackt wird, die nicht größer als der Daumen eines Babies sind. Auf den Ebrellen dagegen rebellieren gewisse Einzelpersonen gegen das Leben des Organismus, indem sie ihren Hass auf die Verdorbenheit ihrer Genossen dadurch zeigen, dass sie einen körperlichen Zustand entwickeln, den man als Kneifen bezeichnet, bei dem sie die Nahrung verweigern und sich zu Tode hungern. Während sie auf diese Weise verhungern, bilden sie sich merkwürdigerweise ein, dass sie völlig gesund sind und immer gesünder werden. In Obooloo fordert natürlich der religiöse Wahn seine Opfer, wohingegen auf der Insel Odrum… [Hier sind diverse Verleumdungen und an den Haaren herbeigezogene und völlig irreführende Übergenauigkeiten gelöscht worden. Auf Anweisung. Vendano, Wächter der Ehre Odrums.] So kam es, dass Chegory und seine Gefährten schweißgebadet waren, während sie sich die Lak-Straße zum Palast hinaufquälten, wo Kaiserin Justina Hof hielt. Der Palast! Ein Denkmal der Erotik. Die rosa Schenkel seiner Mauern. Die Brüste seiner Kuppeln. Man hätte den Palast tatsächlich lieblich nennen können, wären da nicht die unerträglichen Reflektionen seiner glitzernden Hauptkuppel gewesen, deren Anblick die reinste Höllenpein war. Der rothäutige Ebrellianer und seine Begleiter drangen in das rosa Fleisch von Justinas Palast ein. Nach dem Sonnenschein kam ihnen alles gedämpft vor, mit Ausnahme der Hitze. Ein Saaldiener trat ihnen in den Weg, erkundigte sich nach ihrem Begehren und geleitete sie dann zu der Sternenkammer, wo die eidliche Zeugenvernehmung stattfinden sollte. Auf dem Weg dorthin kamen sie an dem finsteren Slanic Moldova vorbei, Seite 184 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 der an seinem großen Wandbild arbeitete, das den Titel trägt: „Himmel bei der Verehrung des Kraken ihrem Meister“. „Hallo, Slan,“ sagte Olivia, die eine Pause machte, um seine Arbeit anzuschauen. Chegory machte ebenfalls eine Pause, um bei ihr zu bleiben. Slanic Moldova war bei seiner Arbeit gerade in Höchstform, ließ den Pinsel flitzen und gleiten, zuckte damit von seiner Palette zur Wand. Und dann zum Fleisch. Ehe Chegory noch zurückweichen konnte, hatte ihn Moldova von den Augenbrauen bis zum Kinn mit blauer Farbe gestrichen. „Zoso!“ sagte Olivia scharf. Nach dem Aussprechen dieses Worts kam Moldovas Malerhand schwankend zum Stillstand, da er in eine hypnotische Trance gefallen war. Olivia nahm seine Hand und führte behutsam den Pinsel zur Wand, denn sie wusste, dass er den Rest des Tages weitgehend damit verbringen würde, weiterzuarbeiten, ohne aus seiner Trance aufzuwachen. „Beeilung!“ sagte der Saaldiener in drängendem Ton. „Beeilung, sonst wird die Vernehmung ohne Sie beginnen.“ Also hetzten sie den Saal entlang, wobei sich Chegory krampfhaft bemühte, sein Gesicht zu säubern. Aber Wandfarbe ist bekanntermaßen schwierig zu entfernen. „Halt!“ sagte Ingalawa, als sie das Portal der Sternenkammer erreicht hatten. Sie konnte sehen, dass die Vernehmungen noch nicht im Gange waren. Sie hatten noch Zeit. Sie zückte ein sauberes Schweißtüchlein und nahm die Farbe auf Chegorys Gesicht in Angriff. „Lassen Sie diesen jungen Mann in Ruhe,“ sagte eine Stimme im Befehlston. Es war die Stimme von Aquitaine Varazchavardan, des Meisters der Rechte im Dienst der Kaiserin Justina. „Los,“ sagte Varazchavardan. „Die eidliche Zeugenvernehmung beginnt soeben.“ „Lassen Sie mich nur noch sein Gesicht säubern,“ sagte Ingalawa, die dabei ihren Angriff auf den Himmelsstreifen erneuerte, der Chegorys feuerrote Gesichtshaut besudelte. „Was fällt Ihnen ein!“ sagte Varazchavardan, wobei er ihr das Tüchlein entriss. „Sollten Sie dem Zeugen noch einmal zunahe kommen, werde ich Sie hängen, erdrosseln oder aufschlitzen lassen.“ Sie starrten sich gegenseitig an. Sie bildeten einen verblüffenden Kontrast. Varazchavardan mit seinen rosaroten Augen. Ingalawa mit Augäpfeln, die so dunkel waren wie das mondlose Meer. Varazchavardan mit seiner Haut, die so weiß war wie der große Narjorgo-Leichenwurm. Ingalawa mit ihrer kohlenglänzenden Haut, die so dunkel war wie das Gefieder des Düsterlärtels, jenes schlechtgelaunten scharfschnabligen Vogels aus Wen Endex. Da Varazchavardan das volle Gewicht und die ganze Erhabenheit des Staates hinter sich hatte, war es Ingalawa, die den Blick senken und nachgeben musste. Folglich betrat Chegory die Sternenkammer mit einem breiten blauen Band, das man über sein Gesicht gestrichen hatte. Er sah ganz so aus wie ein Clown. Eigentlich wie ein Schauspieler aus dem Broko-Komödien-Theater. Obwohl es über seine peinliche Lage nichts zu lachen gab. Die Sternenkammer war der neueste Teil des rosa Palastes. Sie war ein großer Saal, den man an die Nordseite des Palastes geheftet hatte. Seine rosa Wände erhoben sich weit droben zu einer rosa Kuppel. Wo die Wände auf die Kuppel trafen, hatte man Fenster eingefügt, die einem rosafarbigen Licht gestatteten, in den Raum zu strömen, der mit rosa Fliesen gefliest war und durch ein rosagestrichenes Zwischengeschoss vervollständigt wurde, das Pfeiler aus rosa Stein abstützten. Heute war die Sternenkammer nahezu leer, denn die erdrückende Hitze hatte die trägen Elemente des Gesindels von der Teilnahme abgehalten. Ein paar Laufburschen und Rechtsanwaltsgehilfen lungerten herum, wobei sie auf Betelnüssen oder Stöckchen des Schraubenbaums43 herumkauten, aber der Großteil des Pöbels war abwesend. 43 engl. pandanus Seite 185 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Artemis Ingalawa nahm sachkundig auf einer der langen Bänke aus geflochtenem Bambus Platz, die man für die Zuschauer bereitgestellt hatte. Sie blickte streng umher. Sie fühlte sich voller Energie, sie war bereit, Entscheidungen zu treffen, sie hatte Lust, Dinge zu erledigen. In dieser Stimmung war sie möglicherweise sehr gefährlich. Beachten Sie, dass, obwohl Artemis Ingalawa in die Kultur der Eleganz hineingeboren worden war, die in Süd-Ashmolea vorherrscht, ihre Familie eigentlich aus Nord-Ashmolea stammte. Dort ist die IngalawaSippe dafür berüchtigt, Schlachtschwerter und Meuchelmörder zu erzeugen. Blut ist dicker als Wasser! Da Chegory genau davor Angst hatte, hoffte er, dass Ingalawa keine unerwünschten Zwischenfälle auslösen würde. Würde sie das machen, bezweifelte er, ob er das verkraften würde. Er war einfach zu müde. So müde, dass er bloß seine Augen schließen müsste, um sofort ins Traumland zu reisen. Aber sein Blut geriet in dem Moment in lebhafte Wallung, als sich Olivia neben ihn setzte und seine Hand nahm. Ah ja! Es stieg in ihm auf und rüttelte ihn wach. Verzehrt von seinen Gedanken an Säfte und Weichheit, an das ungeheure Geheimnis, das zwischen ihren Schenkeln kauerte, an hurenfingrige nächtliche Befriedigungen der Gelüste ihres SchamStrudels, an… [Hier ist eine langatmige und schwülstige Abschweifung beträchtlicher Unwahrscheinlichkeit herausgeschnitten worden. Auf Anweisung des Chefredakteurs Drax Lira.] Doch Olivias Gegenwart konnte Chegorys Wonne nicht vollständig erfüllen, da ihm nur allzu klar war, dass ihn Varazchavardan mit seinen rosaroten Augen wie ein Drache musterte. Der weißfleischige Meister der Rechte hatte die Augen eines Raubtiers und die passenden Krallen dazu. Als Chegory seinerseits die Augen schloss, um diesem unerbittlichen Starren zu entgehen, konnte er nicht vermeiden, sich vorzustellen, wie jene Krallen sein Fleisch solange zerschnibbeln würden, bis sie auf die blanken Knochen gestoßen wären. Allmählich versammelten sich in der Sternenkammer auch die anderen Akteure dieses Gerichtsdramas. Der Beschwörer Odolo kam herein. Schwitzend – und das nicht nur wegen der Hitze. Dann traf Kaiserin Justina ein, mit einer Handtasche in der Hand, um bei der eidlichen Zeugenvernehmung zuzuschauen – die eigentliche Leitung derselben würde Richter Qil übernehmen. An diesem Tag der Schmetterlingsträume und bananenschaligen Beschlüsse… [Zweifellos sinnlose Worte, aber das ist nicht zu ändern. Man vermutet oft, dass die Version, aus der wir übersetzen, rettungslos fehlerhaft ist. Was soll man andererseits von einem Geisteskranken schon erwarten? Dieser Einschub wurde hier eingefügt von Valter Nash, Beratender Übersetzer.] …trug die Kaiserin ein eigentümliches Gewand, das größtenteils aus Schnüren bestand, mit nichts als ein bisschen Seide an jedem der sieben Strategischen Orte. [Einer dieser Strategischen Orte ist der Nabel, aber es ist mir nicht gelungen, die anderen sechs präzise zu lokalisieren. Diese Materie wird im Buch des Fleisches in allen Einzelheiten behandelt, aber der Zugriff auf dieses wissenschaftliche Traktat ist mir vom prüden Haupt-Bibliothekar verweigert worden. Oris Baumgage, niederrangiger Faktenprüfer.] Die Kaiserin lächelte Chegory Guy an, und dieses Lächeln machte ihm absolut klar, dass sie ihn nicht vergessen hatte. Dann sah sie, dass Olivia gerade Chegorys Hand tätschelte. „Wer ist deine bezaubernde junge Freundin?“ sagte Justina und hörte sich dabei nicht wirklich freundlich an. „Das ist bloß – bloß eine Bekannte meiner Familie,“ sagte Chegory, der sich schnell, so gut er es vermochte, etwas ausgedacht hatte. War Olivia in Gefahr? Vielleicht! Doch da Chegory spürte, wie sie sich steif machte, war ihm klar, dass er lieber nicht in so einem abschätzigen Ton von ihr gesprochen hätte. Sie war gekränkt. Schließlich war sie eine Ashdan – und diese Leute besitzen viel mehr Stolz als der Rest von uns. „Was für eine Art von Bekannte?“ sagte Justina in bohrend-spitzem Ton. Seite 186 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Der Schweiß tröpfelte von Chegory Guys Stirn, während er verzweifelt nach einem geschickten Weg suchte, seine Schwierigkeiten zu bewältigen, das heißt, Justinas Aufmerksamkeit von Olivia abzulenken, ohne diese köstliche junge Persönlichkeit zu beleidigen. Es misslang ihm vollkommen. Zu seinem Entsetzen hörte er sich selbst sagen: „Oh, bloß so eine Ashdan.“ Junge Liebhaber, nehmt zur Kenntnis: das ist nicht die Art, wie ihr über die Lust eures Herzens in ihrem Beisein reden solltet. Als Beweis dafür nahm Olivia augenblick Anstoß daran und entfernte sich. Chegory wollte an ihre Seite fliehen, um Verzeihung flehen, einen Kniefall machen und ihr einen Kuss geben, säuseln und um Gnade winseln. Aber es stand ihm nicht frei, sich derart zu äußern, denn Kaiserin Justina redet noch immer auf ihn ein: „…was heute Nacht sein wird.“ „Verzeihung?“ sagte Chegory. „Du hast eine Audienz bei mir,“ sagte Kaiserin Justina. „Heute Nacht.“ „Heute Nacht?“ sagte Chegory, dem der Mund offenstand wie einem Idioten. „Die ganze Nacht,“ sagte Kaiserin Justina. „Von der Abend- bis zur Morgendämmerung. Undokondra und Bardardornootha voll und ganz.“ „Eure… Eure Majestät. Ich fühle mich… ich fühle mich geehrt. Aber – ähm – ah…“ Aber Olivia würde ihn umbringen. „Wir sind froh, dass du diese Ehre auf angemessene Weise zu schätzen weißt,“ sagte Justina streng. „Genau so gehört sich das auch. Warte hier, nachdem du deine Zeugenaussage gemacht hast. Am Ende der Sitzung wollen wir uns treffen.“ So sprach sie also, lächelte dann und zog sich zurück. Chegory fluchte vor sich hin, während er zusah, wie Justina auf einem Rattan-Stuhl Platz nahm und ihre krokodillederne Handtasche neben sich auf den Boden stellte. Eine vernünftige Wahl war dieser Rattan-Stuhl, denn es war viel zu heiß, um die Pracht eines samtgekleideten Throns auszuhalten. Sklaven, von denen jeder nichts außer einer fest umgeschnallten Schamkapsel anhatte, fächelten ihr mit Straußenfedern zu. [Es ist zweifelhaft, ob es möglich sein könnte, dass sowohl Kaiserin Justina als auch ihre Sklaven so gekleidet waren, wie es der Urheber andeutet. Zunächst einmal sei daran erinnert, dass der Strauß ein völlig frei erfundenes Tier ist. Doch gibt es hier Unwahrscheinlichkeiten, die noch viel größer sind. Höchstwahrscheinlich sind die oben genannten Beschreibungen der Kleidung nichts als ein schräger Einfall der infantilen Fantasie des Urhebers. Zweifellos waren die Kaiserin und ihre Sklaven in Wirklichkeit anständig mit Wollkleidern und ledernen Wetterhelmen bekleidet. Sot Dawbler, Kommentar-Schule.] Dann begann die eidliche Zeugenvernehmung. Chegory war unter den ersten, die als Zeugen aussagen mussten, aber als er das erledigt hatte, konnte er die Sitzung nicht verlassen, weil ihm Kaiserin Justina befohlen hatte, hier zu warten. Also hockte er einsam herum. Schwitzend. Wohl wissend, dass ihn die Kaiserin, Qasaba und Ingalawa, und Varazchavardan höchstpersönlich wie Drachen beäugten. Bei allen Göttern! Was soll nur aus mir werden? Seite 187 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 26 Schließlich ging die eidliche Zeugenvernehmung zu Ende. Richter Qil verkündete seinen Beschluss. „Odolo,“ sagte er, „du kannst dich glücklich preisen. Ich weise hiermit etliche Klagen ab, die gegen dich vorgebracht worden sind. Erstens, die Anklage wegen Rauchens. Es wäre falsch, dich vor Gericht zu stellen, weil du bei einem kaiserlichen Bankett geraucht hast – weil sich das Rauchen, das im Gesetz gemeint ist, offensichtlich auf den verbrennungsgestützten Konsum von Kif, Opium oder Rasenschnitt bezieht. Ungern weise ich auch die Anklagen zurück, die das Halten eines Drachens ohne Maulkorb innerhalb der Stadtgrenzen betreffen, sowie die Zurschaustellung eines Drachens zum Zweck der Einschüchterung, und die Erteilung der Erlaubnis für einen Drachen, in unmittelbare Nähe von Alkohol zu gelangen. Zu meinem tiefsten Bedauern ist hier das Gesetz eindeutig. Für den Zweck der einschlägigen Bestimmungen ist ein Drache genau definiert, und zwar als Reichsdrache, Landdrache oder Seedrache. Leichenmeister Uckermark hat bezeugt, dass die Zerteilung des Drachens ergeben hat, dass das Ergebnis deiner mutmaßlichen Schöpfung zu keiner dieser drei Kategorien gehört, und deswegen, obwohl es sich offenkundig um irgendeine Art von Drache gehandelt hat, ist es also kein Drache nach den Buchstaben des Gesetzes gewesen. Es könnte vielleicht ein Hund gewesen sein, aber auch das erscheint zweifelhaft – also werden auch die alternativen Anklagen bezüglich des Haltens, Zurschaustellens und Erlaubniserteilens von Hunden fallengelassen. Der Vorwurf, du hättest dich in ein schreckliches Untier verwandelt, wird ebenfalls zurückgewiesen, und das gilt auch für die Anschuldigungen der Hexerei, der unerlaubten Hypnose, der Ketzerei, der allgemeinen Beleidigung einer öffentlichen Religion und der Einflößung von Furcht im Herzen der Kaiserin. Letzterer Vorwurf ist nicht aufrecht zu halten, weil unsere geliebte Kaiserin die Tochter eines Yudonischen Ritters und bekanntermaßen furchtlos ist.“ Mittlerweile lächelten sowohl Justina als auch Odolo den Richter an. Aber der überragende Qil war noch nicht am Ende. Er fuhr fort: „Allerdings ist in vielen anderen Anklagepunkten ein glaubhaft gemachter Sachverhalt gegen dich vorgebracht worden, Odolo.“ Der Beschwörer duckte sich. Das sah ja ganz und gar nach fleischgewordener Feigheit aus. Erbarmungslos setzte der Richter seine Rede fort: „Ich werde dich deshalb vor Gericht stellen, und zwar aufgrund von zwei Anklagen wegen Hochverrats, drei wegen mittleren Verrats, eine wegen niederen Verrats sowie aufgrund einer halben Anklage wegen nachgeordneten Verrats. Außerdem sollst du dich vor Gericht bezüglich folgender Vorwürfe verantworten: Umsturz, Kriegshandlungen gegen den Staat, versuchte Tötung, Ausübung generativer Magie ohne Lizenz, Vermüllung, öffentliche Anmaßung, ungebührliches Benehmen, und ein der öffentlichen Ordnung abträgliches Verhalten.“ Der letzte Vorwurf war der gefährlichste, denn da man praktisch alles, was irgendjemand macht, als ein der öffentlichen Ordnung abträgliches Verhalten auffassen kann, ist es nahezu unmöglich, eine gegen einen derartigen Vorwurf wirksame Verteidigung in Gang zu setzen. Aus diesem Grund musste ich in meinem eigenen Fall auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit plädieren, als… [Der Urheber präsentiert uns hier ein ausführliches Plädoyer für Strafmilderung, in dem er den bisherigen Verlauf seines Lebens schildert. Es ist hier mit der Begründung gelöscht worden, dass es (a) anstößig und (b) verleumderisch ist. Zweifellos werden Gelehrte, die den ungekürzten Text des ursprünglichen Manuskripts untersuchen, zustimmen, dass an der Geisteskrankheit des Urhebers überhaupt nichts Vorübergehendes war. Srin Gold, Außerordentlicher Kommentator.] Mit den folgenden Worten kam der Richter zum Schluss: „Hast du dazu irgendetwas zu sagen?“ „Jawohl!“ sagte Odolo. „Nämlich, dass ich unschuldig bin!“ Dann wandte er sich an Kaiserin Justina und schrie: „Eure Majestät! Habt Erbarmen! Ich flehe Euch an!“ Odolos Bewacher brachten ihn unsanft zum Schweigen. Justina musterte ihn. Dann sagte sie mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen: „Sollte ich etwa Erbarmen haben? Wer will mir einen Rat erteilen? Nein, Varazchavardan – deinen Vorschlag kann ich mir sowieso denken.“ Sie wandte sich an Chegory Guy. Ihr Seite 188 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Lächeln nahm zu. „Lasst uns mal probieren… lasst uns mal probieren, von einer anderen Quelle einen Rat zu bekommen. Was, bitte schön, würde denn ein Ebrellianer machen?“ Auch wenn sich nur wenige Leute in der Sternenkammer befanden, lief dennoch ein hörbares Murren der Empörung durch jene Kammer, als die Kaiserin auf diese Weise gesprochen hatte. Sogar Chegory selbst war schockiert. Er sank auf seinem Stuhl zusammen. Um sich zu ducken. Um so zu tun, als ob er unsichtbar wäre. Um so zu tun, als ob er schlafen würde. Aber da ihn eine Wache bereits mit ihrem Krummsäbel stupste, merkte er geschwind, dass er mit dieser Strategie keinen Erfolg haben würde. Widerwillig erhob er sich und sagte: „Es steht einem Ebrellianer nicht zu, über das Leben und das Recht der freien Bürger Untunchilamons zu bestimmen.“ „Unsinn!“ sagte Justina. „Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich, nicht wahr? Anwälte sind auch nur Bürger wie alle anderen, erlauben es sich aber jeden Tag aufs Neue, mir Ratschläge zu erteilen. Wenn das die Anwälte können, warum dann nicht auch du?“ „Weil –“ erlaubte sich Varazchavardan zu sagen. „Sei still, Vazzy!“ sagte die Kaiserin in einem kopfabhackenden Ton. „Es ist viel zu heiß, um uns zu streiten. Wir wollen uns lieber anhören, was der Junge zu sagen hat.“ Varazchavardan erlaubte sich nichts weiter, sondern wartete darauf, dass ihnen Chegory seine Weisheit zuteil lassen würde. So wie alle anderen auch. Sie warteten, und sie beobachteten ihn. Chegory wollte sich verflüchtigen. Mit einem Donnerschlag in einer Rauchwolke verschwinden. Weglaufen und weglaufen und weglaufen und niemals wieder in Injiltaprajura gesehen werden. Denn egal, was er auch sagen würde, es würde zwangsläufig falsch sein. Er war vollkommen bloßgestellt. Vollkommen schutzlos. Schlimmer noch… Egal, was er auch sagen, tun oder sonstwie probieren würde, er würde dabei ganz bestimmt sichtbar, entblößt und schutzlos sein. Mit einem Wort: er war jetzt berühmt. Denn die letzten paar Tage hatten ihm soviel Bekanntheit eingebracht, dass er niemals wieder in der Lage sein würde, so zu tun, als ob er ein Stein wäre. Seine Tage der Sicherheit waren vorüber, deshalb lag sein Todestag zweifellos äußerst nahe in der Zukunft. Dann wurde Chegory von einem plötzlichen Einfall gepackt. Er wandte sich an Varazchavardan und sagte: „Äh, ich bin kein, hm, wie soll ich das sagen, naja, ich bin kein, ich bin keiner der Weisen, okay, und deshalb suche ich die Hilfe der Weisen. Die Hilfe des Meisters der Rechte. Von Varazchavardan, dem, äh, Ehrenwerten. Wir beide kennen uns zwar noch nicht, aber das könnten wir vielleicht. Uns gegenseitig kennenlernen, meine ich. Falls er mir nur ein bisschen bei dieser, äh, rechtlichen Sache helfen könnte, würde ich, naja, ich würde ihm halt bei dem behilflich sein, bei dem ich ihm behilflich sein kann.“ Chegory gab sein Bestes. Er versuchte damit gerade zu sagen: „Verehrter Varazchavardan, Sie, den ich mehr als jeden anderen Menschen liebe und verehre, vergessen Sie, dass Sie mich jemals zusammen mit den wahnsinnigen Piraten erblickt haben, die versucht haben, Sie im Drunten zu entführen. Vergessen Sie das. Denken Sie stattdessen daran, dass ich der neueste kaiserliche Günstling bin. Es könnte sich lohnen, meine Freundschaft zu besitzen. Also tun Sie mir schon den Gefallen. Helfen Sie mir aus dieser Klemme.“ Bedenkt man, was er alles nicht offen aussprechen konnte, war es ihm doch gelungen (oder zumindest glaubte er, dass ihm das gelungen wäre), recht viel davon mitzuteilen. Er war mit seiner wortgewandten kleinen Rede äußerst zufrieden. Aber war Varazchavardan auch zufrieden? Der wurmweiße Albino betrachtete den blutroten Ebbie schweigend. Obwohl der Meister der Rechte später niemandem erzählt hatte, was er sich in diesem Augenblick gedacht hatte, können wir uns seine Gedanken mühelos und mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit herleiten. Zweifellos dachte Varazchavardan über Chegorys Herkunft von den Ebrellen nach, und über deren Auswirkung hinsichtlich einer natürlichen Neigung zu tödlichen Spirituosen in allen Ausprägungen. Dieser Ebbie sah jung genug, schnell genug und zäh genug aus. Ein im Umgang mit dem Messer begabter junger Mann. Der bei der Kaiserin (im Moment) ein offenes Ohr gefunden hatte. Ein mächtiger Verbündeter. Ein gefährlicher Gegner. Seite 189 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 So dachte (zweifellos) Varazchavardan bei sich. Sagte dann: „Ich begrüße diesen Treueschwur des jungen Ebrellianers. Ich habe mir schon oft gedacht, dass wir die Fähigkeiten unserer rothäutigen Freunde unterschätzen. Ich werde die Gelegenheit begrüßen, mich nachher unter vier Augen mit ihm zu unterhalten.“ Als er das hörte, lehnte sich Chegory in seinem Stuhl mit einem Gefühl süßer Entspannung und Erlösung zurück. Er hatte es getan! Er hatte den Zorn Varazchavardans von sich abgewandt. Er hatte einen Gegner in einen Verbündeten verwandelt. Er war äußerst zufrieden mit sich. Aber er hatte keine Zeit für ausgiebige Selbstbeglückwünschungen, denn Varazchavardan sprach noch immer. Chegory hatte einen Teil seiner Rede verpasst, merkte aber, dass es um Odolo ging: „…wären die Folgen, vor der Verhandlung bereits Barmherzigkeit zu üben? Sicherlich ist es eine Schlüsselfunktion des Gesetzes, die Wahrheit festzustellen. Sobald die Wahrheit bekannt ist, können wir Barmherzigkeit in Betracht ziehen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt wäre Barmherzigkeit ein jämmerlicher Schlag gegen die Feststellung der Wahrheit. Dieses will ich deshalb sagen.“ Varazchavardan legte eine Atempause ein, fuhr dann aber nicht fort, dieses zu sagen. Oder jenes. Oder etwas anderes. Denn er wurde von der Ankunft von Dolglin Chin Xter unterbrochen, den man nicht in der Öffentlichkeit gesehen hatte, seit der Drache im Bankettsaal des rosa Palastes aufgetaucht war. Jawohl – Dolglin Xter. Haben Sie ihn schon vergessen? So schnell? Dann verraten Sie ihm das lieber nicht, sonst wäre er tödlich beleidigt! Denken Sie daran, dass man Sie ordnungsgemäß mit ihm bekannt gemacht hat. Dolglin Chin Xter! Der inquisitorische Leiter von Justinas Untersuchung des Drogenhandels auf Untunchilamon! Fällt es Ihnen jetzt wieder ein? Xter ist derjenige, der so gelb wie das Fleisch einer Mango ist, dank der Erkrankung, die ihn in ihrem Griff hat. Warum er noch nicht an Hepatitis gestorben ist, bleibt ein Rätsel. Warum er schweißgebadet ist, ist ebenfalls ein Rätsel, aber ein weniger schweres; Hitze, Hepatitis und Malaria haben vermutlich alle etwas damit zu tun. Und was seine zitternden Hände angeht – nun ja, dabei kann es sich recht gut um eine angstbedingte Schüttellähmung handeln. Denn der Inquisitor hatte sich auf einen möglicherweise tödlichen Kurs eingelassen: auf eine öffentliche Konfrontation mit Varazchavardan. Dolglin Chin Xter also. Wir wissen jetzt, wer das ist (oder war – mittlerweile ist er vielleicht tot), und hier folgt, was er sagte: „Erhalte ich die Erlaubnis, zu sprechen?“ Das klang ja nicht besonders dramatisch. Nach der obigen Einführung ist es gut möglich, dass Sie seine Worte vielleicht für abgedroschen halten. Falls ja, geben Sie der Zeitgeschichte die Schuld, aber nicht mir. Das hier ist lediglich eine Aufzeichnung der Ereignisse und der im Verlauf dieser Ereignisse gesprochenen Worte, und man kann richtigerweise eine Chronik nicht der dramatischen Wirkung zuliebe verfälschen. Zweifellos wäre es viel befriedigender gewesen (aus der Perspektive eines Dramatikers), wenn Dolglin Xter in die Sternenkammer geplatzt wäre und dabei Folgendes gebrüllt hätte: „Varazchavardan, du stinkender dämonischer Blutfleck! Du, der übelste und blutgierigste eines ganzen Gezüchts von Skorpionen! Du bist es, den ich beschuldige, denn du bist entlarvt! Es ist alles durchschaut! Mach’ dich auf dein Verderben gefasst!“ Dolglin Xter sprach jedoch nicht auf diese Weise. Was er in Wirklichkeit sagte („Erhalte ich die Erlaubnis, zu sprechen?“), das waren unter den gegebenen Umständen die richtigen und angemessenen Worte, denn selbst ein Inquisitor darf eine eidliche Zeugenvernehmung in der Sternenkammer nicht ungestraft unterbrechen. Deshalb antwortete ihm Kaiserin Justina wie folgt: „Aber freilich, mein Dolly-Schätzchen. Sprich, solange du möchtest.“ Seite 190 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Aber zunächst sprach Dolglin Chin Xter überhaupt kein Wort. Stattdessen schaute der gelbe Xter unheilvoll von links nach rechts und um sich herum, ehe er seinen Blick auf Varazchavardan heftete. [Anmerkung des Übersetzers: Hier sind die Syntax und das Vokabular des Originals äußerst undurchsichtig. Diese vorläufige Version muss genügen, bis uns die Wissenschaft eine endgültige Auslegung geliefert hat.] Dann begann Xter zu sprechen, und das waren seine Worte: „Die besten Köpfe Untunchilamons sitzen hier bei einer ernsten Zeremonie zusammen, um den Fall des Beschwörers Odolo zu beraten.“ Warum sagte er das? Soviel war doch jedem Anwesenden klar. Er stellte damit nur das Offensichtliche fest. Zweifellos war seine juristische Ausbildung daran schuld. Jawohl, Xter hatte etwas von einem Anwalt an sich, und neun Zehntel der Ausübung der Gesetze besteht nun einmal darin, einen wirtschaftlichen Vorteil dadurch zu erringen, dass man fleißig wieder und immer wieder das Offensichtliche feststellt, um einen Beschluss zur vorliegenden Angelegenheit möglichst lang zu verzögern, damit sich die dazugehörigen Anwaltskosten zu einer Größenordnung aufsummieren, die der Gier dieser Anwälte entspricht. Da Xter sehr krank war, drosselte die Last seines körperlichen Gebrechens glücklickerweise die Schwatzhaftigkeit, für die ihn seine Ausbildung anfällig gemacht hatte, und er kam danach unverzüglich zur Sache: „Manche würden sagen, dass hiermit der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Ich wäre da allerdings anderer Ansicht. Diese Gerichtsverhandlung ist reiner Blödsinn. Es ist ein Blödsinn, Odolo zu beschuldigen, beim Bankett einen Drachen erschaffen zu haben. Denn nur die Größten sind mit den dafür erforderlichen Kräften der Schöpfung ausgestattet. Odolo ist nur ein Taschenspieler, dessen einzige Begabung die manuelle Manipulation ist. Welcher Irrsinn könnte jemanden zu der Annahme verleiten, dieser schlichte Unterhaltungskünstler könnte einen Drachen erschaffen haben? Der wahre Schurke ist eine völlig andere Person. Aquitaine Varazchavardan! Jawohl, Varazchavardan hat diesen Drachen gemacht. Er hat ihn mit der Absicht gemacht, mich umzubringen. Wieso? Weil sich meine Inquisition kurz davor befunden hat, ihm seine Schuld zu beweisen. Jetzt haben wir sie ihm bewiesen! Der letzte Beweis ist erbracht worden! Varazchavardan ist ein Drogenhändler!“ Dolglin Chin Xter machte eine Pause. Nicht wegen der dramatischen Wirkung, sondern um Luft zu holen. Obwohl sein Motiv für diese Pause also banal war, war ihre Wirkung dennoch äußerst dramatisch. Die Pause gab Chegory die Gelegenheit, sich selbst für seinen entsetzlichen Irrtum zu verfluchen. Als er Varazchavardan im Drunten unter wenig verheißungsvollen Umständen begegnet war, hatte der Wunderwirker nicht etwa eine Razzia in einem illegalen Lagerhaus beaufsichtigt – nein, er war der Eigentümer dieses Lagerhauses höchstpersönlich gewesen! Der Albinotische war Abschaum von der schlimmsten Sorte, ein Unhold aus der Legion der Verdammten. Er war eines jener Ungeheuer, die mit den abscheulichsten Drogen, die man sich nur vorstellen konnte, Handel trieben, nämlich mit Drogen, die Wahnsinn, Krebs oder Tod verursachten. Der Hexer war ein gefühlloser, ein gewissenloser Unmensch, der Alkohol – das übelste aller Übel! – verkaufte, um sich daran zu bereichern und seine Gier nach weltlichen Reichtümern zu stillen. Und Chegory hatte trotzdem versucht, sich mit ihm zu verbünden. Chegory hatte sich zu einem unglaublich ungünstigen Zeitpunkt für Varazchavardan ausgesprochen, nämlich kurz bevor man diesen Mann als Hauptverbrecher entlarvt hatte. Sein Fehler wurde von der Tatsache verschlimmert, dass er das in aller Öffentlichkeit gemacht hatte. Vor den Augen der Kaiserin! Vor den Augen Olivias und Ingalawas! Irgendwie musste er sich aus diesem Schlamassel befreien. Sich von Varazchavardan distanzieren. Und zwar schnell! Aber wie? Ehe er noch weiter darüber nachdenken konnte, fuhr Xter fort: „Aquitaine Varazchavardan, in meiner Eigenschaft als Hauptinquisitor befehle ich, dass man dich hiermit aller öffentlicher Ämter enthebt und dich unter Arrest stellt. Du…“ „Du bist verrückt!“ sagte Varazchavardan. „Ich lass’ mich doch nicht von einem Verrückten suspendieren! Der ist ja wohl nur ein Irrer, ein Geisteskranker, eine blaue Banane.“ Seite 191 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Wachen!“ rief Xter und deutete dabei auf Varazchavardan. „Ergreift ihn!“ Diejenigen Wachen, die Dolglin Chin Xter ihr Vertrauen geschenkt hatten, kamen auf Varazchavardan zu, der seine Vorwürfe bezüglich Xters Geisteskrankheit wiederholte: „Der ist ja wohl völlig verrückt, verrückt! Ihn sollt ihr ergreifen! Nicht mich! Ihn!“ Diejenigen Wachen, die Varazchavardan treu ergeben waren, rückten Dolglin Chin Xter näher. Es war die Hölle los! Kaiserin Justina war aufgesprungen. Rief irgendetwas. Aber was? Ihr Stimme ging in dem Aufruhr unter, als die laut brüllenden Wachen sowohl auf Xter als auch auf Varazchavardan eindrangen. Vielfarbiger Rauch kräuselte sich um die beiden umkämpften Hexer. Die Wachen verschwanden in diesem Rauch. In dem wirbelnden Tumult war Brüllen und Fauchen, Schreien und Kreischen zu vernehmen. Die Ruferei ging allmählich in Husten über, weil der Rauch die ganze Horde bezwungen hatte. „Hört auf!“ befahl Justina. „Hört mit dem Kämpfen auf! Sofort!“ Sie hatte eine äußerst kräftige Lunge. Man gehorchte ihr. Oder schien ihr zu gehorchen. In Wahrheit endete der Kampf, weil beide Hexer die gegen sie eingesetzten Wachen erledigt hatten. Der Rauch verflüchtigte sich. Um die beiden Wunderwirker zu enthüllen. Die wachsam dastanden, während noch der Rauch von ihren Fingerspitzen herabträufelte. Um sie herum lagen stöhnende Wachen in verschiedenen Stadien des Verfalls. Niemand war ums Leben gekommen (wirklich ein echtes Wunder!), aber die meisten fühlten sich mehr als nur ein bisschen schlecht. „Ruhe im Gericht!“ sagte Richter Qil, der jetzt, da die Ordnung hergestellt war, wieder zu sprechen wagte. Kaiserin Justina ignorierte ihn. Sie richtete ihren Zorn auf ihren Meister der Rechte. „Varazchavardan!“ sagte sie. Dann hustete sie, weil ein wenig Rauch in ihre Atemwege eingedrungen war. Dann fuhr sie fort: „Rechtfertige dich! Bist du ein Drogenhändler, oder bist du keiner?“ „Ich bin keiner,“ sagte Varazchavardan. Er stieß mit einer Kralle in Chin Xters Richtung. „Wohingegen dieser Mann ein Verbrecher ist! Er beschuldigt zwar mich, aber dabei ist er es gewesen! Er hat es getan! Er hat den Drachen entfesselt! Ich hab’s gesehen, ihr habt’s gesehen, wir alle haben es gesehen! Xter ist in den Bankettsaal gekommen. Im nächsten Moment – der Drache! Er ist es gewesen!“ Dolglin Chin Xter war von seinem Gefecht mit den Wachen so erschüttert und aufgewühlt, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Ihm fehlte die Luft für eine zungenfertige Antwort. Tatsächlich hatte er kaum genügend Luft, um am Leben zu bleiben. Er sah wahrlich so aus, als ob er jeden Moment einen Herzinfarkt bekommen könnte. Es gab also gute Gründe für sein Schweigen. Gesundheitliche Gründe. Aber daran dachten nur die wenigsten Zuschauer. Für die meisten der anwesenden schlichten Gemüter konnte Xters Schweigen nur eines bedeuten: er musste schuldig sein. „Ich befehle hiermit, dass man Xter seines Amtes enthebt und verhaftet,“ sagte Varazchavardan. „Aufgrund von Anklagen wegen hohen, niederen und mittleren Verrats. Aufgrund einer Anklage wegen des ungenehmigten Haltens von Drachen. Und – und – wegen Fluchthilfe für die Gefangenen.“ „Gefangene?“ sagte Kaiserin Justina verdutzt. „Gebt doch mal Ruhe, ihr Männer! Ruhe, sag’ ich! Vazzy, welche Gefangenen meinst du eigentlich?“ Sämtliches Geschehen in der Sternenkammer war vorübergehend außer Kraft gesetzt, während Kaiserin Justina ihren Meister der Rechte zur Rede stellte. „Die Gefangenen, von denen ich spreche, sind die Marodeure vom Volk der Malud, die im Hungerkäfig eingesperrt waren,“ sagte Varazchavardan. „Xter hat sie freigelassen! Dafür hab’ ich Beweise!“ „Da irrst du dich,“ sagte die Kaiserin mit einem beträchtlichen Maß an Strenge. „Die Gefangenen hat der junge Chegory Guy herausgelassen.“ Seite 192 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Als er das hörte, war Varazchavardan klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte sich zuweit aus dem Fenster gelehnt. Trotzdem versuchte er es weiter auf die Spitze zu treiben: „Dann verhaftet ihn ebenfalls!“ sagte Varazchavardan. „Zweifellos ist er Xters Spion gewesen.“ „Er hat sie nur deshalb herausgelassen, damit wir uns vor dem Drachen in dem Käfig in Sicherheit bringen konnten,“ sagte Justina. „Hätte er sie nicht herausgelassen, wäre ich jetzt tot. Wäre von dem Drachen gefressen worden.“ „Aber wer hat den Drachen überhaupt erst in den Bankettsaal gebracht?“ sagte Varazchavardan. „Xter! Versteht Ihr denn nicht? Das ist eine Verschwörung! Erst ist Xter hereingekommen, dann ist der Drache hereingekommen, dann hat Chegory den Käfig geöffnet, die Gefangenen sind hinausgegangen, die Kaiserin ist hineingegangen, es hat Verwirrung geherrscht…“ „Aber hier und jetzt herrsche nur ich,“ sagte die Kaiserin. „Varazchavardan! Du liegst völlig daneben! Setz’ dich!“ Kaiserin Justina war kein politisches Genie. Aber ihr Vater, Lonstantine Thrug, hatte ihr die Grundlagen beigebracht. Er hatte ihr insbesondere beigebracht, dass Geschwindigkeit gefährlich war. Geschwindigkeit ist tödlich! Im Augenblick passierten eine ganze Menge Dinge äußerst schnell. Das gefiel der Kaiserin überhaupt nicht. War Varazchavardan schuldig? War Xter das? War Odolo das? Das wusste sie nicht, aber sie wusste sehr wohl, dass sie Zeit brauchte, darüber nachzudenken. „Setz’ dich!“ sagte sie, um ihren Befehl an den widerspenstigen Varazchavardan zu wiederholen. Aber Varazchavardan wollte sich nicht setzen. Weil er bereits zu weit gegangen war, musste er jetzt noch weiter gehen – oder er wäre mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt. Sein Krallen nadelten anklagend durch die Luft, während er rief: „Xter! Du stehst unter Arrest! Und auch du! Der Ebbie! Und dieser Leichenmeister, auch er steht unter Arrest! Und…“ „Halt!“ schrie Justina. „Das geht jetzt zu weit! Das ist ein schwerwiegender Missbrauch unserer Gegenwart, des Wirkens der Justiz, des verfassungsmäßigen Mechanismus, deines Amtes und der Geduld der Öffentlichkeit.“ Was die Kaiserin da sagte, hätte vielleicht nur wenig Sinn ergeben, wenn man es einer gründlichen intellektuellen Analyse unterzogen hätte, aber es klang einfach großartig. Sie fuhr fort: „Niemand steht hier unter Arrest. Jedenfalls solange nicht, bis ich mich anders entscheiden sollte.“ „Dann entscheidet Euch doch!“ sagte Chegory Guy verzweifelt, der seine Chance ergriff. „Entscheidet Euch wenigstens wegen Varazchavardan! Der ist ein Drogenschieber! Xter hat recht! Ich kann’s beweisen! Varazchavardan ist böse! Drogen, Drogen, damit beschäftigt er sich! Ich hab’ ihn gesehen, er hat Schnaps gehabt, Fässer über Fässer voll damit. Ich hab’s im Drunten gesehen! Er hat Rum gehabt!“ Er hat Rum gehabt! In Injiltaprajura war das die vielleicht schlimmste Anschuldigung, die man gegen jemanden vorbringen konnte. „Das ist eine haltlose Anschuldigung,“ sagte Varazchavardan rundheraus. „Eine niederträchtige Verleumdung. Dieser Chegory ist mit Xter verbündet! Er ist Teil einer verbrecherischen Verschwörung, die die Durchsetzung unserer Gesetze untergraben will. Hier geht es, mit einem Wort, um Verrat!“ Chegory konnte dröhnende Schritte hören, die schnell näher kamen. Wessen Schritte? Wer kam da herbei? „Das werden wir noch sehen,“ sagte Kaiserin Justina grimmig. „Aber im Moment hast du keine Aufgabe, Vazzy. Ich entferne dich hiermit aus deinem Amt. Du sollst…“ Sie verstummte, weil bewaffnete Wachen dröhnend in die Sternenkammer gekommen waren. An ihrer Spitze befand sich der Hauptmann ihrer Palastwachen, der elegante Bro Drumel. „Brody!“ sagte Justina. „Genau der Mann, den ich sehen wollte! Ich möchte, dass du…“ „Ergreif’ die Schlampe!“ rief Varazchavardan. „Es heißt jetzt oder nie, Mann!“ Seite 193 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Zu Chegorys Bestürzung wurden Bro Drumel und seine Männer auf grobe Weise handgreiflich gegenüber Kaiserin Justina, ohne auch nur einen einzigen Augenblick zu zögern. Ein wenig verspätet kam ihm die Erkenntnis: Bro Drumel und seine Männer mussten schon seit langer Zeit mit Varazchavardan verbündet sein. Hier war eine echte und nachweisliche Verschwörung im Gang! „Wie lauten Ihre Befehle?“ sagte Bro Drumel zu Varazchavardan. „Sicher’ den Palast ab,“ sagte der Hexer. „Lass’ niemanden kommen oder gehen. Bewache die Schatzkammer. Ruf’ die Truppen zusammen. Erkläre den Ausnahmezustand. Ich werde im Namen Aldarchs des Dritten, des Schlächters von Yestron, die Herrschaft über Untunchilamon übernehmen.“ „Das kannst du doch nicht machen!“ schrie Justina außer sich vor Wut. „So eine bodenlose Undankbarkeit! So eine abscheuliche Schändlichkeit!“ „Halt’s Maul, du Schlampe!“ Das waren Bro Drumels Worte gewesen. Der dann freilich nichts mehr sagte, weil ihm die Kaiserin einen Schlag mit ihrer Handtasche versetzt hatte, und er war zu Boden gestürzt, als hätte ihn ein Blitz gefällt. Brüllend wie ein sexuell erregter Büffel schlug Justina um sich und teilte den Wachleuten zur Rechten wie zur Linken kräftige Hiebe aus. „Stecht sie ab!“ schrie Varazchavardan, der seine besonnene Haltung völlig aufgegeben hatte. „Tötet sie gleich an Ort und Stelle!“ Aber keine der Wachen war ausreichend darauf vorbereitet, in kaiserliches Fleisch zu hacken. Stattdessen ließen sie ihre Krummsäbel fallen und strengten sich an, die Kaiserin ausschließlich mit roher Gewalt zu überwältigen. Während das kaiserliche Gerangel seinen Lauf nahm, schob sich Chegory Guy langsam auf die Tür zu. „Der Ebbie!“ sagte Varazchavardan. „Lasst ihn nicht entkommen! Ergreift ihn! Und die beiden AshdanSchlampen auch! Und den Leichenmeister, schnappt euch den Leichenmeister!“ Das wurde gemacht. Und so wurden Chegory Guy, Olivia Qasaba, Artemis Ingalawa und der Leichenmeister Uckermark zusammen mit dem Inquisitor Xter und der Kaiserin Justina in Varazchavardans Netz gespült. Jawohl, Justina wurde gefangengenommen. Keuchend, schwitzend, sprachlos vor Zorn und Erschöpfung. Sie spuckte auf den heimtückischen Hauptmann ihrer Wache, der sich gerade wieder mühsam vom Boden erhob. „Durchsucht sie,“ sagte Bro Drumel. Seinem Befehl gehorchend, begannen die Wachen die Gefangenen zu durchsuchen. Machten den Anfang mit Justina. „Fasst mich bloß nicht mit euren dreckigen Händen an!“ sagte Kaiserin Justina, deren Stimme sich rasch wieder erholt hatte. „Wie könnt ihr es nur wagen, die kaiserliche Person mit euren ordinären Pfoten zu malträtieren?“ Ihr Zorn beeindruckte die Wachen nur wenig. Unglücklicherweise waren die meisten Soldaten Untunchilamons aus Ang und besaßen deshalb kaum natürlichen Respekt für die Tochter eines Yudonischen Ritters aus Wen Endex. Obwohl sie ihr während der Jahre des Bürgerkriegs treu gedient hatten, gefiel keinem von ihnen die Vorstellung, sein Leben bei dem vergeblichen Versuch zu verlieren, sie vor dem Zorn Aldarchs des Dritten zu bewahren, der mittlerweile als sicher galt, den Sieg in Yestron zu erringen. Für die Wachen war es durchaus sinnvoll, mit Varazchavardan gemeinsame Sache zu machen. Da sie diesem angesehenen Hexer gern ihre Loyalität unter Beweis stellen wollten, machten sie die Durchsuchung zu einer äußerst gründlichen Angelegenheit. Da die Kaiserin aber praktisch so gut wie nichts anhatte, fanden sie an ihrer Person auch nichts Nennenswertes. Aber eine Durchsuchung ihrer Handtasche förderte folgende Gegenstände zutage: Eine Haarnadel, ein Giftring, eine Streichelnatter in einer emaillierten Dose, eine Konfektschachtel mit einem halben Dutzend Kondome und einem Stückchen zürkischen Honigs, ein Soljamimpambagoya-Stein, zwei Seiten Seite 194 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 eines Traktats über Sodomie, eine Miniatur-Schriftrolle mit Gebeten, ein Krümel Haschisch, eine Schnupftabakflasche, ein sauberer Schweißtupfer, zwei Perlen, ein kleiner für das Säubern von Nasenöffnungen bestimmter Löffel, ein Brocken Bimsstein, ein von Seide umhüllter Riechapfel, ein Likoraskifdadona, allerlei Münzgeld, verschiedene für die weiblichen Intimpflege verwendete Objekte, ein auf ein Silberkettchen gezogener Basiliskenzahn, ein Drachenzahn, ein Stück unbearbeiteter Ambra, ein von Bernstein umschlossener Skorpion, ein besticktes Schneuztuch, ein Kinnkratzer aus Elfenbein und ein toter Moskito. Da sich Varazchavardan jetzt sicher war, dass Justina nicht im Besitz einer verborgenen Waffe war, trat er hinzu. „Pfui!“ sagte sie. „Das ist also das Ding, das vorhat, mich zu töten!“ Das Publikum gab ein leises Murren von sich. Varazchavardan wurde auf unbehagliche Weise klar, dass eine große Anzahl von Zuschauern die Sternenkammer betreten hatte, die das Drama angelockt hatte, das hier gerade stattfand. Er hatte sie bis zu diesem Moment noch gar nicht bemerkt, denn es hatte bisher niemand gewagt, das Schlachtfeld im Erdgeschoss zu betreten. Stattdessen drängten sich die Zuschauer im Zwischengeschoss zusammen. Sollte er versuchen, Justina kurzerhand umzubringen, könnte er bei ihnen vielleicht einen plötzlichen Anfall selbstmörderischer Vaterlandsliebe auslösen. Varazchavardan zählte seine Wachen, überflog grob die Zahl der Zuschauer und ersetzte dann „selbstmörderisch“ durch „mörderisch“. Sollte ihm diese Sache aus der Hand gleiten, würde er vielleicht sterben. Und zwar hier und jetzt! „Niemand hat vor, dich zu töten,“ sagte Varazchavardan in seinem aufrichtigsten und beruhigendsten Ton. „Meine liebe Justina, du bist krank gewesen. Mein alter Freund Aldarch Drei wird das verstehen, vor allem dann, wenn er dich zusammen mit deinem Vater in der Dromdanjerie vorfindet.“ Die Kaiserin fauchte vor Wut. Spuckte. Traf aber nicht. Varazchavardan richtete das Wort jetzt direkt an das Publikum im Zwischengeschoss und sagte: „Die Kaiserin leidet derzeit an einer mentalen Störung. Sie wird deshalb in Schutzhaft genommen, damit sie keinen weiteren Schaden erleidet. Aldarch Drei wird das verstehen. Ihr soll kein Schaden zugefügt werden. Oder... oder uns, uns allen, die ihr schon so lange Beistand geleistet haben. Wir lagen richtig, so zu handeln, als die Herrschaft über Yestron noch strittig war, aber jetzt, wo diese Herrschaft nicht mehr umstritten ist, müssen wir… müssen wir uns hier um jeden kümmern, der in Gefahr ist. Einschließlich Justina. Würde sie hier noch länger herrschen, würde das ihren Tod bedeuten. Und… und unseren auch, meine Freunde.“ Dies mag sich vielleicht wie eine schlichte Rede anhören. Das war sie auch. Sie war mit Sicherheit keine Glanzleistung in Sachen Beredsamkeit. Aber sie rief das Publikum zur Ordnung, denn sie enthielt ein paar äußerst gewichtige Wahrheiten. Aldarch der Dritte würde nahezu sicher in Yestron triumphieren und wäre zweifellos extrem unzufrieden mit jedem, der sich seinem absoluten Machtanspruch in den Weg stellen würde. Dann schrie eine durchdringende Stimme vom Zwischengeschoss herab: „Wer behauptet denn, dass sie verrückt ist?“ „Was sollte sie denn sonst sein?“ sagte Varazchavardan. „Wenn sie nicht verrückt wäre, würde sie dann mit diesem Ebbie verkehren?“ Er legte seine Hand auf Chegorys Schulter. Er grub seine Krallen in Chegorys Fleisch. „Ebbies sind okay,“ sagte die gleiche schneidende Stimme. Varazchavardan wünschte, er könnte sehen, wem diese Stimme gehörte. Ihr Besitzer würde dann als Nächster an der Reihe sein, um ein Bad in kochendem Öl zu nehmen. Im Zwischengeschoss konnte man ein hässliches Murmeln vernehmen. Andere griffen den Schrei zugunsten der Ebbies auf. Aber Varazchavardan zeigte sich Seite 195 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 dieser Situation gewachsen. Er steckte seine Hand in einen der Ärmel von Chegorys kanariengelber Seidenrobe und zog sie wieder heraus, wobei er nun etwas Helles, Glitzerndes in ihr hielt. „Was ist das denn?“ sagte Varazchavardan und hielt dabei die Trophäe in die Höhe, die er scheinbar Chegorys Besitz entrissen hatte. „Etwas, das Sie vorher dorthin getan haben!“ sagte Chegory. „Das behauptet der Dieb!“ sagte Varazchavardan, der die glitzernde Kugel hochhielt, damit sie alle sehen konnten. „Das ist der Wunschstein, stimmt’s?“ „Nein, das stimmt nicht, das stimmt nicht!“ sagte Chegory. „Das ist nur Glas, nichts weiter. Ein Triakisoktaeder aus Glas!“ „Triakisoktaeder!“ sagte Varazchavardan. „Meine Güte, was für ein großes Wort für einen Ebbie! Das ist kein Triakisoktaeder. Das ist der Wunschstein! Das kostbare magische Artefakt, das Chegory Guy aus der Schatzkammer gestohlen und dann verwendet hat, um Justina mit Hexerei zu überwältigen!“ „Du hast dieses Ding in seinen Ärmel gesteckt, bevor du es wieder herausgeholt hast,“ sagte der Beschwörer Odolo. „Außerdem ist das kein Wunschstein, das ist…“ Bro Drumel machte eine schroffe Handbewegung. Ein Wächter packte Odolo von hinten und brachte ihn zum Schweigen. Richter Qil protestierte. „Hören Sie mal!“ sagte der Richter. „Sie können doch nicht…“ Aber auch er wurde stillgestellt, während sich Varazchavardans Stimme über Chegory Guys Protest-Gestammel erhob. „Seht ihr?“ sagte Varazchavardan und hielt dabei die Kugel aus geschliffenem Glas in die Höhe. „Der Wunschstein! Von Chegory Guy gestohlen! Von ihm verwendet, um unsere Rechtsgrundsätze zu untergraben! Um das Herz der Kaiserin zu gewinnen! Jede Nacht paart sie sich mit diesem verschwitzten Tier, mit diesem Ding aus der Gosse. Dank seiner Mucken ist unsere Schatzkammer jetzt halbleer. Sein Berater…“ „Halt, halt,“ sagte Chegory verzweifelt, den diese unverfrorenen Unverschämtheiten so überrascht hatten, dass er fast nicht reden konnte. „Ich hab’ mich niemals…“ Ein Wächter schlug ihn. Einmal. Fest. In die köstliche Weichheit unterhalb der freien Rippen. Er krümmte sich zusammen und zischte dabei vor Schmerz. Er hörte, wie Varazchavardan zungenfertig und gnadenlos die Vorurteile der Menge bediente. Ein Schrei wurde laut: „Tötet den Ebbie!“ Die Sache fing an, ziemlich trostlos für Chegory Guy auszuschauen. Da schritt Justina zur Tat. Aus voller Lunge brüllte sie: „Das sind Lügen! Alles nur Lügen! Erhebt euch, mein Volk! Befreit eure Kaiserin! Fünf Drachen für jeden Mann, der mir die Treue erweist!“ Fünf Drachen sind eine Menge Geld, gemessen an dem, was man in Untunchilamon als Vermögen bezeichnet. Fünfzig Dalmond! Oder, um es so auszudrücken, dass es selbst ein steingärtnernder Ebbie verstehen könnte, zweitausend Pfiffer. Dieses kolossale Schmiergeld sorgte dafür, dass die Allereifrigsten direkt bis zur Kante des Zwischengeschosses wogten. Aber die Krummsäbel der unten wartenden Wächter waren sehr scharf, und niemand war darauf versessen, als erster ins Erdgeschoss hinabzuspringen. Varazchavardan überlegte, ob er der Menge ein ähnliches Schmiergeld anbieten sollte, erkannte dann aber, dass das gar nicht nötig war. Die Zuschauer waren erst für die Kaiserin gewesen, dann gegen die Kaiserin, und jetzt waren sie wieder für die Kaiserin. Was nur bewies, dass ihnen jene zielstrebige Leidenschaft fehlte, die Menschen zu gefährlicher Entschlossenheit verleiten kann. Schon die Krummsäbel allein würden sie aufhalten. Außerdem – was war denn das, das da schnell näherkam? Na so was – noch ein Trupp Wachen! „Schafft die Zuschauer hinaus,“ sagte Varazchavardan. Seite 196 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Bro Drumel schmückte seinen Befehl weiter aus, und bald darauf war diese Sache erledigt. Varazchavardans Putsch war vollendet. „Sie wissen doch, dass das alles nur Lügen sind!“ sagte Chegory. „Dieses – dieses Ding ist nicht, es ist nicht der Wunschstein, stimmt’s? Sie haben es reingetan, stimmt’s? In meinen Ärmel?“ „Vielleicht,“ sagte Varazchavardan, „aber mir wird das als ausreichende Begründung für deine Hinrichtung genügen. Und für die Hinrichtung der alten Hure, die dich jede Nacht mit ihren Düften betört.“ Da Chegory sah, dass ihn Olivia entsetzt anblickte, protestierte er: „Das sind alles nur Lügen! Lügen! Was die Kaiserin und mich betrifft! Und – und Sie können sie gar nicht töten. Sie haben das versprochen. Sie würden sich um sie kümmern, haben Sie gesagt. Die Dromdanjerie. Das haben Sie versprochen!“ „Wie versprochen, so gebrochen,“ sagte Varazchavardan. „Sie ist zu gefährlich, um sie einfach hinter Schloss und Riegel zu verwahren. Wenn Undokondra anfängt, sollen die Vampirratten sie bekommen.“ „Das ist der reinste Verrat,“ fauchte die Kaiserin. „Das sollst du mir teuer bezahlen!“ „Ich kann’s mir wohl leisten,“ sagte Varazchavardan trocken. „Die Beurteilung meiner Kreditfähigkeit kommt zu einem ausgezeichneten Ergebnis.“ „Machst du Witze?“ sagte die Kaiserin entrüstet. „Warum auch nicht?“ sagte Varazchavardan. „Bist du denn jemals mehr als ein Witz gewesen? Die Göre eines liederlichen Soldaten aus Wen Endex, die in der Robe einer Kaiserin posiert?“ Die Kaiserin zappelte herum. Chegory zappelte ebenfalls herum, um zu versuchen, sich loszureißen. Olivia schrie, und Artemis Ingalawa begann, einen Anwalt zu verlangen. Dann riss sich Uckermark los. Der Leichenmeister grabschte sich Odolo und hieb mit dieser zweckdienlichen Waffe nach den beiden nächststehenden Wächtern. Sie gingen zu Boden. Auch Odolo ging zu Boden. Uckermark war frei! Einen Moment lang war er auf freien Fuß und rannte zur nächsten Tür. Dann rempelte ihn Bro Drumel an. Das Paar schmetterte auf den Boden. Wenigstens ein halbes Dutzend Soldaten stürzte sich sofort auf den tollkühnen Leichenmeister. Die Situation war wieder unter Kontrolle. Vorübergehend. Dann: „Gaa!“ schrie einer der Soldaten, der Dolglin Xter festhielt. Die Kleidung des Soldaten hatte sich in einen krabbelnden Vorhang aus Skorpionen verwandelt. Während der Soldat von dem Hexer wegtaumelte, warf Xter seine Hände nach oben und sagte: „Anitha! Bin Go Ska…“ Dann trat ihm ein Soldat in den Schritt. Er sackte zusammen und sagte (vorübergehend) nichts weiter. In der Luft über ihm waberte eine nur halb ausgeformte Horrorgestalt mit drei Mäulern und einem halben Dutzend Armen, die sich mit grabschenden Bewegungen zaghaft in Richtung Varazchavardans bewegte, bevor sie sich auflöste und verschwand. „Na schön!“ sagte Varazchavardan. „Damit ist alles klar! Wir werden die ganze Bande töten! Und zwar augenblicklich!“ Seite 197 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 So sprach Varazchavardan. Worauf Kaiserin Justina mit einer zuckenden Zuckung den Griff ihrer Bewacher abschüttelte und versuchte, dem Hexer die Augen auszukratzen. Ihre zu grausamen Krallen gespreizten Fingernägel zerfurchten sein Antlitz. Doch dann hielten sie ihre Wächter wieder fest. Varazchavardan stand regungslos da. Ein Blutstropfen quoll aus einer Krallenspur. Fiel auf die rosa Fliesen hinab. Rot auf rosa. Ah, wunderschön, wunderschön! Das ist seltsam, nicht wahr? Dieser Varazchavardan war auch nur ein banaler Spieler um die Macht, der zwar zu kriegerischen Spielchen um die Vorherrschaft bereit war, aber dessen Blut auch nur so rot wie der Saft einer Rubin-Mango war, was übrigens sehr stark auf diese ganze spezielle Wunde hindeutet, die uns in den Bildern unserer Fantasie ständig verfolgt. Doch sein Blutverströmen in der Sternenkammer war reine Verschwendung, denn keiner hatte Augen für diese Schönheit oder Zeit für Gedanken über Verführung und verlorene Unschuld, zu denen dieses Bild hätte anregen sollen. Stattdessen stand ihnen der Sinn nach Ärger. „Hackt ihnen die Köpfe ab,“ sagte Varazchavardan. „Wem sollen wir die Köpfe abhacken?“ sagte ein Wächter. „Allen!“ sagte Varazchavardan mit einer schwungvollen Handbewegung, die sämtliche Gefangenen zum sofortigen Tod verurteilte. „Dem Ebbie. Den Ashdans. Der verrückten Tochter des geisteskranken Thrug.“ „Meinen Sie… meinen Sie damit die Kaiserin?“ „Bei Squilth und Zigletz!“ sagte Varazchavardan. „Hab` ich soeben nicht genau das gesagt? Wen, glaubst du, könnte ich denn noch damit meinen? Den Grünen Oktopus des Äußeren Branpapia?“ Schweigen. Die Kaiserin schwieg, denn sie war zu wütend, um sprechen zu können. Olivia schwieg, denn sie war zu schockiert, um sprechen zu können. Uckermark schwieg – im Grunde genommen war er ein Fatalist. Auch Chegory Guy schwieg, der mittlerweile (er war ein Ebrellianer, vergessen Sie das nicht!) auf jeden noch so kleinen Augenblick lauerte, bei dem er die Gelegenheit bekommen würde, Varazchavardan zu töten. Dann meldete sich Odolo zu Wort, und der Beschwörer sagte Folgendes: „Wenn es Ihnen recht ist, ich hab’… ich hab’ persönlich keine festen politischen Ansichten. Es ist nicht nötig, mich zu töten, denn ich werde dem Sieger freudig zu Diensten sein.“ „Ruhe!“ sagte Varazchavardan. Dann: „Tötet sie!“ Aber seine Wachen machten noch immer keine Anstalten, Köpfe abzuhacken. Nach fünf Jahren der mildtätigen Herrschaft Justinas waren sie alle ziemlich aus der Übung gekommen, Leute hinzurichten. Außerdem trugen sie alle ihre besten Dienstuniformen, die sie auf eigene Rechnung gekauft hatten, die entsetzlich teuer gewesen waren, und die vollständig ruiniert sein würden, wenn sie Varazchavardan auf der Stelle gehorcht hätten. Immerhin reicht schon ein Becher Blut, um einen Mann von Kopf bis Fuß zu besudeln, und jenen von Ihnen, die eine gerichtliche Enthauptung gesehen haben, werden mir zustimmen, dass bei einer solchen weitaus mehr Blut verspritzt wird und die Chancen des Henkers, dem Blutstrahl zu entgehen, vernachlässigbar klein sind. Obwohl die Wachen also keine besondere Rücksicht auf die Kaiserin nehmen wollten, fanden sie die Vorstellung einer sofortigen Hinrichtung alles andere als begeisterungswürdig. Zumindest wollten sie eine Chance haben, ein paar alte Klamotten anzuziehen, ehe sie damit anfingen, Köpfe abzuhacken. „Mein Herr,“ sagte Bro Drumel, der das Zögern seiner Männer richtig deutete, „mein Herr, wenn Sie gestatten, mein Herr, die Hinrichtung sollte lieber etwas später stattfinden, mein Herr, um den vorgeschriebenen Regeln zu entsprechen, mein Herr. Mein Herr, soll ich die Gefangenen fortschaffen lassen, mein Herr?“ Seite 198 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Ein weiterer Blutstropfen tropfte von Varazchavardans zerfetzter Wange und fiel auf die ach so rosaroten Fliesen der Sternenkammer. „Du kannst sie dann fortschaffen lassen,“ sagte Varazchavardan grimmig, „wenn sie alle tot sind.“ Mit diesen Worten schnappte er sich den Krummsäbel eines der Wächter. Er stolzierte auf Odolo zu, mit dem festen Entschluss, einen Mord zu begehen. Justina wollte er sich bis zuletzt aufheben. Sie sollte das Vergnügen haben, dabei zuzusehen, wie alle ihre Untergebenen abgeschlachtet wurden, ehe sie selbst unter das Messer geraten würde. Während Varazchavardan auf Odolo zukam, machte der feige Beschwörer keine Anstalten, sich zu verteidigen, sondern warf sich stattdessen vor den Füßen des Hexers in den Staub. „Setz’ dich auf!“ sagte Varazchavardan, der ein sauberes Ziel für seinen Hieb haben wollte. Odolo hockte sich widerwillig auf seine Schenkel. „Heb’ deinen Kopf hoch,“ sagte Varazchavardan. „Na los! Hoch mit dem Kinn!“ Odolo fügte sich. Widerwillig. Varazchavardan verzog das Gesicht. Er wollte das eigentlich gar nicht tun. Wie den Wachen missfiel auch ihm die Vorstellung, seine ganze Kleidung mit Blut zu bespritzen. Würde er den Beschwörer köpfen, hätte er keine Möglichkeit, einer solchen Besudelung zu entgehen. Außerdem trug er gerade seine Lieblingsrobe. Und abgesehen davon: Was, wenn Odolo zurückzucken würde? Dann würde seine Klinge vielleicht nur ein Stückchen seines Schädels weghacken und ihn schreiend am Leben lassen. Sofern kein Fachmann dafür verantwortlich ist, kann eine Hinrichtung durch Enthaupten lange Zeit dauern und äußerst schmutzig werden. Trotzdem ist Politik nun einmal Politik, und Varazchavardan hatte deswegen keine Wahl. Er holte mit dem Krummsäbel aus. Er schlug zu. Er legte seine ganze Kraft in diesen Schlag. Der Krummsäbel schwang auf den Hals des Beschwörers zu. Zersplitterte dann. Olivia schrie. Justina schrie. Ingalawa schrie ebenfalls (und schämte sich dafür!). Uckermark starrte fassungslos hin. Dolglin Chin Xter fiel in Ohnmacht. Dann setzte sich Chegory Guy in Bewegung. Der kräftige junge Ebrellianer versuchte sich loszureißen – aber seine Wächter hielten ihn zurück. „Mein Herr!“ sagte Bro Drumel eindringlich. „Sind Sie verletzt?“ Varazchavardan, der eine Hand auf seine Wange gelegt hatte, nahm sie dort blutig wieder weg. Er hatte zusätzlich zu den Krallenspuren, die ihm Justina zugefügt hatte, eine frische Wunde. Ein Splitter hatte sein Fleisch durchbohrt. Der stählerne Spreißel ragte zur Hälfte aus der Wunde heraus. „Odolo!“ sagte Varazchavardan. Er richtete seine blutunterlaufenen Augen auf den Beschwörer. Er erhob seine Hände. Er schrie: „Jenjobo! Jenjobo! Dandoon! Dandoon!“ Rauch löste sich kräuselnd von Varazchavardans Fingerspitzen und wogte auf den Beschwörer zu. Der Rauch nahm Gestalt an, verwandelte sich in ein fünfzig-fingriges Ungeheuer, ein grässliches Ungeheuer, ein riesiges Ungeheuer, ein Ding aus vulkanischer Größe und nächtlichen Fledermaus-Schatten, ein Ding mit einer verrückt klingenden Stimme, die sich halb nach peitschenknallendem Hass und halb nach Wahnsinn anhörte. Das Ungeheuer kam dem Beschwörer gefährlich nahe. Mit einem Todesschrei schlug es nach Odolo… Seite 199 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Dann löste es sich augenblicklich auf. Im ersten Moment war es noch da. Und einen Moment später war es verpufft. Die verpufften Übrigbleibsel des Ungeheuers ergossen sich auf den Boden und flossen leicht dampfend in alle Richtungen. Das Ungeheuer hatte sich in eine große Pfütze aus Chowder44 und Kedgeree45 verwandelt. „Nadinkos!“ sagte Varazchavardan, mittlerweile knöcheltief in dieser Nahrungsflut. Dann fluchte er noch einmal. Dann erhob er wieder seine Hände. Im Tonfall äußersten Zorns brüllte er: „Wenfardigo! Wenfardigo! Doktoris! Doktoris! Ko!“ Augenblicklich bildete sich aus der bloßen Luft ein albtraumhaftes Scheusal. Es war ein Geschöpf des Schreckens, ein kreischender Unhold mit umhertastenden Klauen und teuflischen Zähnen. Es atmete Rauch aus, dann Schwefel, dann kreischte es erneut – und dann ging es zum Angriff über. Aber ehe es auch nur den allerfeinsten nadelspitzen Nadelstich in Odolos Haut ritzen konnte, verpuffte es zu einer Schmiere aus äußerst heißem Curry, um auf diese Weise dem schmuddeligen Teppich aus Chowder und Kedgeree, der bereits die Sternenkammer verschmutzte, Hitze und Schärfe hinzuzufügen. „Jetzt reicht’s!“ sagte Varazchavardan. Erneut erhob er seine Hände. Er holte tief Luft. Dann rief er erneut mit hoher Stimme Worte einer verzerrten Sprache. Es gab einen Donnerschlag. Einen grellen Lichtblitz. Dann ein abscheuliches Kreischen zerberstenden Steins und zerreißenden Metalls. Die meisten Leute, die dazu in der Lage waren – flüchteten. Bro Drumel flüchtete. Chegory Guys Bewacher flüchteten. Aber Chegory selbst wich nicht von der Stelle. Jene, die (wie Chegory) dämlich genug waren, um zu verweilen, hatten den Vorzug, zuschauen zu dürfen, wie sich Varazchavardan und Odolo in die Haare gerieten. Beide hatten sich verwandelt. In Dinge aus Stein und Stahl. In unmenschliche Wesen, die sich gegenseitig mit überirdischen Energien zu zerfleischen suchten. Einen halben Herzschlag lang sah Chegory Guy diesen beiden zu Ungeheuern gewordenen Mächten zu, wie sie sich bekämpften. Vom Diktat der Vernunft beherrscht, flüchtete Chegory dann. Er stürmte aus der Sternenkammer hinaus und rannte gedankenlos davon, bis er mit jemandem zusammenprallte. Der Zusammenprall brachte ihn schlitternd zu Fall. „Du,“ sagte eine gar nicht unvertraute Stimme, „bist in deinem Essen herumspaziert.“ Chegory, der noch nach Luft rang, blickte auf. Der Sprecher war niemand anderes als Slanic Moldova. Nachdem er seinen Spruch aufgesagt hatte, wandte sich der Verrückte wieder seinem Wandbild zu. „Slan,“ sagte Chegory. „verschwinde hier! In der Sternenkammer bekriegen sich zwei Wunderwirker. Slan. Hörst du mir zu? Slan!“ Aber Moldova ignorierte ihn. Also rappelte sich Chegory wieder auf und kratzte Curry, Kedgeree und Chowder von seinen Schuhsohlen. Begann dann, nachzudenken. Wo war Olivia? Wo Ingalawa? 44 amerikanische Bezeichnung für eine dickflüssige Fischsuppe oder eine Suppe mit Muscheln oder anderen Meeresfrüchten 45 ein vor allem in England populäres Gericht, das aus Fisch (meistens geräucherter Schellfisch), gekochtem Reis, Eiern und Butter besteht Seite 200 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Er riskierte einen Schrei: „Olivia!“ Jemand kam aus Richtung der Sternenkammer herbeigerannt. Ein Soldat mit einem zerfetzten Ohr. „Halt!“ sagte Chegory. „Was passiert dort hinten?“ Aber der Soldat rannte an ihm vorbei, ohne anzuhalten. Nach ihm kam der Leichenmeister Uckermark. „Na los,“ sagte Uckermark und packte Chegory dabei am Arm. „Nichts wie raus hier!“ „Nein!“ sagte Chegory. „Ich muss noch Olivia holen!“ Er schüttelte den Leichenmeister ab und fing dann an, zur Sternenkammer zurückzutrotten. Uckermark zögerte einen Augenblick, sagte etwas ausgesprochen Unanständiges und folgte ihm dann gemächlichen Schrittes. Es war viel zu heiß, um weiterhin zu rennen. Abgesehen davon, wenn der junge Chegory Guy wirklich den Wunsch hatte, zu sterben, warum sollte es dann ein gesetzestreuer Leichenmeister überhaupt eilig haben, ihn in den Tod zu begleiten? Bevor der schnell dahinhastende Chegory Guy die Sternenkammer erreicht hatte, hörte er bereits den grässlichen Klang des Kampfes, der in ihrem Inneren noch immer vonstatten ging. Er erreichte das Portal der Sternenkammer. Er hielt inne. Odolo und Varazchavardan, die noch immer als wahre Höllengestalten verkleidet waren, waren in einem Kampf auf Leben und Tod gefangen. Strampelnd und trampelnd tobten sie herum, verprügelten sich mit künstlicher Schwerkraft und zerkratzten sich gegenseitig mit geschärftem Licht. Hartes aktinisches46 Licht schien grell aus ihren Panzerungen heraus. Die bloßen Wände der Sternenkammer glühten dank einer dazu ebenbürtigen Strahlung. In diesem Raum würde kein einziger Schatten überleben können. Das gleißende Licht war dreimal heller als die Mittagssonne. Chegory, der nahezu blind wegen dieses Glanzes war, konnte nicht feststellen, ob eine der zusammengekauerten Gestalten zu Füßen der Kämpfenden Olivia sein könnte. „Olivia!“ schrie er. Dann versuchte er noch einmal zu brüllen – aber sein Stimme überschlug sich, wurde brüchig, versagte. Er schluckte. Schrie dann: „Odolo! Varaza – Varazchavardan! Hört auf damit! Hört auf!“ Die beiden Kämpfer lösten sich voneinander, als ob sie ihn gehört und sich entschlossen hätten, ihm zu gehorchen. Noch immer als albtraumhafte Gestalten verkleidet, ließen sie ein abscheuliches Knurren ertönen, das den Boden selbst in Schwingungen versetzte. Dann stürzten sie wieder aufeinander los. Sie schlugen wild um sich, als sie erneut zusammenprallten. Blitze zuckten über ihre Metall-Insekten-Hüllen, während sie auf sich eindroschen und behämmerten. Sie packten sich gegenseitig. Umklammerten sich in tödlicher Umarmung. Während Chegory noch zusah, veränderten sie ihre Gestalt, ließen verschnörkelte Klauen und grausame Zangen sprießen, ließen sich klammernde Tentakel und kopfabzwickende Mandibeln wachsen. Einer der beiden begann unerträglich zu kreischen. Dann… Die Gestalten beider Kämpfer vergingen im Chaos. Im ersten Moment waren sie noch da. Und einen Moment später waren sie fort. Waren zu einer zuckenden Wolke aus Finsternis und Bewegung verschmolzen. Die sich unter den Blicken Chegorys umformte. Die Wolke der Unklarheit zerlegte sich in zwei menschliche Gestalten, die noch immer aktinisches Licht abstrahlten, die noch immer in einer tödlichen Umarmung gefangen waren. 46 Unter Aktinität versteht man die photochemische Wirksamkeit von elektromagnetischer Strahlung. Seite 201 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Da war der Körper Varazchavardans, und da war Odolo. Der mit Sicherheit im Sterben lag. Denn Varazchavardan hatte den Hals des Beschwörers in eisernem Griff. Buchstäblich. Denn einer von Varazchavardans Armen war nicht wieder zu Fleisch geworden, sondern war noch immer aus Metall. Dieser Metallarm war gerade dabei, Odolo den Hals mit Gewalt umzudrehen. In Kürze würde er ihm bestimmt das Genick brechen. Jetzt hatte Chegory seine Chance. Wenn einer dieser seuchenstillen Körper Olivia gehörte, dann musste er sie jetzt hier herausholen und sich mit ihr davonmachen, jetzt, jetzt! Bevor der Kampf zu Ende war und es Varazchavardan freistand, seinen Zorn auf andere Ziele zu richten. Er rannte vorwärts. Das Licht flammte zu gleißender Helligkeit auf. „Nein!“ schrie Chegory. Er rutschte aus. Er glitt dahin. Er stürzte. Er fiel der Länge nach in die Unfreuden von Kedgeree und Curry. Platsch! Er öffnete die Augen, musste aber feststellen, dass er blind war. Dann packte ihn die Wut. Er fluchte so, wie das nur ein Ebrellianer konnte. Er sprag auf die Beine, in der Absicht, sich mit jedem herumzuprügeln, auf den er in seiner Blindheit stoßen würde. Aber seine Beine gaben unter ihm nach, denn der Boden war glitschig wie beim Nachspiel nach einem fünffachen Liebesakt. Er ging zu Boden, und sein Kopf schlug dort mit einem dumpfen Dröhnen auf. Halb betäubt lag Chegory da. Hatte er sich das Rückgrat gebrochen? Nein. Konnte er aufstehen? Ja. Konnte er etwas sehen? Naja… ein bisschen. Jawohl, sein Sehvermögen kehrte allmählich zurück. Sein Gehör war unterdessen so scharf wie eh und je. Er konnte einen einzelnen Menschen hören, der in der schlammigen Brühe herumrutschte. Wer war das? Chegory strengte sich an, etwas zu sehen. Inmitten eines Strudels aus violettem Licht und pulsierenden Sonnen konnte er die Umrisse Odolos ausmachen. Jawohl, es war der Beschwörer Odolo, der da durch das Essen krabbelte. Wo war dann bloß Varazchavardan? „Chegory!“ sagte Uckermark, der soeben die Sternenkammer betreten hatte. „Achtung!“ schrie Chegory. „Varazchavardan!“ „Ja, ja,“ sagte Odolo mit undeutlich verschwommener Stimme. „Wo ist Varazchavardan?“ Er musste diese Frage stellen, weil seine Augen durch Blutergüsse fast vollständig zugeschwollen waren. Er war so übel zugerichtet worden wie ein glückloser Elitamoripadroti, den man in einem Kathandamatandatu-Spiel eingesetzt hatte. „Hier,“ sagte Uckermark, der dabei einen Schritt vorwärts machte und dem daliegenden Körper des Meisters der Rechte einen herzhaften Tritt versetzte. Seite 202 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Varazchavardan lag bewusstlos auf dem Rücken in einem Kedgeree-See, der fast (aber nicht völlig) tief genug war, um ihn ertrinken zu lassen. Aber obwohl Varazchavardan ohne Besinnung war, führte sein gräßlicher aus Metall geformter Arm, ein Souvenir seines Kampfes der Verwandlungen gegen Odolo, ein Eigenleben. Seine Metallfinger öffneten und schlossen sich. Öffneten und schlossen sich. Öffneten und schlossen sich. Klick klick klick! „Du musst ihn umbringen,“ sagte Odolo. „Töte ihn.“ „Mit Vergnügen,“ sagte Uckermark und angelte sich einen weggeworfenen Krummsäbel aus der klebrigen Soße, die den Boden bedeckte. Das war Chegorys Augenblick. Das war Chegorys Chance. Hätte er sie genutzt, hätte er Olivia finden und aus der Sternenkammer bugsieren können, ehe noch etwas anderes schiefgegangen wäre. Aber er versäumte es, seine nur kurze Zeit bestehende Chance zu nutzen – denn er war zu sehr damit beschäftigt, fasziniert zuzusehen, wie sich Uckermark gleich über Varazchavardan hermachen würde. „Halt!“ schrie ein Eindringling. Uckermark hielt inne. Drehte sich um. Blickte dem Eindringling ins Gesicht. Der niemand anders als Nixorjapretzel Rat war. Wo war der wohl herausgesprungen? Die Antwort ist einfach. Rat hatte den größten Teil des Geschehens vom Zwischengeschoss aus beobachtet. Jetzt griff er ein, um seinen Meister Varazchavardan vor dem sicheren Tod zu bewahren. „Verschwinde,“ sagte Uckermark und erhob seinen Krummsäbel im festen Entschluss, einen Mord zu begehen. Rat erhob seine Hände. Dieser Teil gelang ihm perfekt. Einen Augenblick lang sah er durch und durch wie ein Wunderwirker aus. Uckermark zögerte und beobachtete Rat mit einem gewissen Maß wachsamen Argwohns. „Phidamas!“ schrie Rat. „Phidamas! Strobo, ähm… Stroboko! Stroboko!“ Nichts geschah. Also wandte sich Uckermark wieder Varazchavardan zu, erneut mit dem festen Entschluss, einen Mord zu begehen. Der Krummsäbel fuhr nieder. Direkt auf Varazchavardans Schädel. Man hörte Metall gegen Metall klirren. Uckermark ließ den Krummsäbel fallen. Er umklammerte seine Schwerthand. „Der Schädel dieses Hexers ist aus Metall!“ sagte Uckermark. Richtig. Varazchavardans Schädel hatte es nicht geschafft, nach dem Kampf der Verwandlungen wieder den ursprünglichen knöchernen Zustand anzunehmen. Schlimmer noch, Varazchavardans Arm aus Monstermetall, der es ebenfalls nicht geschafft hatte, zurückverwandelt zu werden, fing gerade an, nach etwas zu suchen, das er zermalmen und töten konnte. „Aufgepasst!“ schrie Chegory. Uckermark hüpfte zur Seite. Gerade noch rechtzeitig. Die Metallfinger des Monster-Arms schlossen sich um leere Luft und zerquetschten sie zu einem Nichts. Inzwischen versuchte Rat noch immer, Chegory, Uckermark und Odolo durch die Ausübung von Magie zu töten. „Phildamas!“ schrie Rat. „Phildamas Stroldoko! Mancredos! Mancredos! Fa!“ Auf seinen Befehl hin erwachte ein Wirbelwind aus Schatten und Flammen brüllend zum Leben. Noch immer brüllend, begann er auf Varazchavardans Feinde zuzuwirbeln. Jene merkten, dass sie den jungen Rat unterschätzt hatten, nahmen die Beine in die Hand und rannten um ihr Leben. Aus dem rosa Palast entkamen also: Uckermark, Odolo und Chegory Guy als gemeinsame Truppe. Sie trödelten nicht herum, sondern flohen in offensichtlicher Missachtung der Gluthitze dieses Tages die Lak-Straße hinab. Als sie das Kabalenhaus der Hexer Untunchilamons erreicht hatten, liefen sie den Skindik-Weg hinab, wodurch sie einige Krähen in Unruhe versetzten, die gerade eine geschäftliche Unterredung veranstaltet hatten, bei der sie sich im Bauch eines toten Hundes um die besten Stücke gezankt hatten. Seite 203 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 An der Dromdanjerie liefen sie vorbei, dann an Ganthorgruk ebenfalls. Dann, als sie das städtische Schlachthaus erreicht hatten, hielten sie an. Erhitzt, schnaufend und erschöpft. „Bei allen Göttern!“ sagte Chegory. Sagte dann nichts weiter, sondern lehnte sich nur an eine Wand und schnaufte noch ein wenig vor sich hin. Er konnte sich selbst riechen. Er stank nach Schweiß, Curry, Chowder und Kedgeree. Seine kanariengelbe Seidenrobe stand kurz vor ihrer Zerstörung. Bei allen Göttern! Was, wenn man von ihm verlangen würde, eine neue Robe zu bezahlen? Wo sollte er das Geld auftreiben? „Ich glaub’ das einfach nicht,“ sagte Odolo. „Was glaubst du nicht?“ sagte Uckermark. „Was ist passiert?“ sagte Odolo. Der Beschwörer wischte sich mit einer Hand über seine glänzende Stirn. Er schüttelte diese Hand. Schweißtropfen flitzten durch die Luft. Sie bildeten vorübergehende Muster der Feuchtigkeit auf dem heißen Blutstein der Straße. Aber diese Muster vertrockneten in wenigen Augenblicken zu einem Nichts. Chegorys Atmung begann sich zu beruhigen. Die Sonne schien. Aus einer dem Schlachthaus gegenüberliegenden Kneipe torkelte eine betrunkene Vampirratte, die ihre an die Nacht angepassten Augen wegen der Sonne geschlossen hatte. Chegory schaute ihr ein paar Augenblicke zu, blickte dann zurück, den Skindik-Weg hinauf. Der, abgesehen von den hundeverzehrenden Krähen still, leer und uninteressant war. „Na los,“ sagte Uckermark. „Wohin gehen wir denn?“ sagte Chegory. „Was meinst du wohl?“ sagte Uckermark. Aber Chegory Guy meinte nichts mehr. Er konnte es nur vermuten. Wohin könnten sie gehen? Vermutlich nach Drunten. Ihm fiel kein anderes Ziel ein. „Wir können nicht dorthin gehen!“ sagte er und klang dabei entsetzt. „Können wir,“ sagte Uckermark. „Müssen wir. Werden wir.“ Und lief weiter, und Chegory folgte ihm hinterher. Schließlich merkte Chegory (zu seiner Erleichterung), dass sie nicht in Richtung Drunten gingen. Nein. Sie hatten ein völlig anderes Ziel. Seite 204 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 27 Die ganze Zeit über waren die Marodeure vom Volk der Malud und Guest Gulkans Gruppe von Schäbbel im Drunten zusammengepfercht worden, der seit Ewigkeiten nicht mehr so viel Spaß gehabt hatte. Das war einfach köstlich! So viele Leute, mit denen man spielen konnte! Zu denen gehörten die zwei Zauberer, Pelagius Zozimus und Hostaja Sken-Pitilkin. Zu denen gehörte der Barbar Guest Gulkan und der verschlagen dreinblickende Thayer Levant. Oh, und die drei Piraten aus Asral: Al-ran Lars, Arnaut und Tolon. Während dieser Zeit – und es war wirklich eine ziemlich lange Zeit gewesen – hatten diese sieben Gefangenen ihre eigenen Beiträge dem Abwasserstrom hinzugefügt, der die Tiefen des Drunten so weiträumig verunreinigte. Im Lauf ihrer aufgezwungenen Wanderung hatten sie ein wenig Eis aufgestöbert, hatten aber sonst nichts zu essen bekommen und waren dementsprechend hungrig, müde und schlecht gelaunt. Außerdem waren sie heiser. Wieso heiser? Weil Schäbbel ihnen gedroht hatte, seinem Schäbbel-Selbst mit ihrer Hinrichtung ein Vergnügen zu bereiten, und um dem Kugelförmigen eine andere Quelle des Vergnügens zu bieten, hatten ihm die Gefangenen seither pausenlos Geschichten erzählt. Wahre Geschichten, unwahre Geschichten, Fabeln, Witze, Legenden und Chroniken. Zwischen den Geschichten hatten sie versucht, den seit vielen Jahrtausenden sein Unwesen Treibenden zu überreden, dass es ein echtes Vergnügen sein würde, zu Justinas Palast zu gehen, dort ein paar Wächter zu verbrennen und sich zu den Gebietern Untunchilamons zu machen. Unglücklicherweise war Schäbbel felsenfest entschlossen, sich nicht überreden zu lassen. Arnaut war es, der als erster zusammenbrach. Schäbbel hatte den Jugendlichen aus Asral den Wunschstein tragen lassen. Arnaut hatte sich damit ein ums andere Mal etwas gewünscht – ohne jedes Ergebnis. Jetzt wollte er mit einer Protestaktion versuchen, seinen Kopf durchzusetzen. Er war der Jüngste und geriet leicht in scheußliche Wut, wenn er gereizt wurde. „Du Scheißding!“ sagte Arnaut. „Mir reicht’s! Bis hierher und nicht weiter! Du kannst mich ruhig schlagen, verbrennen, treten oder hassen, aber ich kann einfach nichts mehr machen. Keine Witze mehr, keine Geschichten mehr, keine Lieder mehr.“ All das wurde in Arnauts Muttersprache Malud gesagt, aber Schäbbel, der ein Sprachgelehrter ersten Ranges war, verstand die Worte völlig problemlos. „Warum nicht?“ sagte Schäbbel und klang dabei so verletzt, wie sich Schäbbel fühlte. „Weil ich vor Hunger sterbe!“ schrie Arnaut mit brüchiger und abgehackter Stimme. „Warum hast du das nicht gleich gesagt?“ sagte Schäbbel verständnisvoll. „Na los, ich weiß, wo es ein paar Vampirratten gibt.“ „Ratten!“ sagte Arnaut. „Jawohl, Ratten, Ratten,“ sagte Schäbbel, der dabei in einen Gang fortschwebte. „Wir können keine Ratten essen!“ sagte Arnaut. „Katzen essen sie,“ sagte Schäbbel. „Also müssen sie auch für euch gut genug sein. Katzen geben sich immer nur mit dem Besten zufrieden.“ „Was reden die da? Was reden die da?“ sagte Thayer Levant, der keiner Unterhaltung folgen konnte, die in Malud geführt wurde. „Werd’ ich herausfinden,“ sagte der stämmige Guest Gulkan. Ein Übersetzungsmanöver folgte. Dann: Seite 205 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Ein Mensch kann nicht nur von Ratten leben,“ sagte Pelagius Zozimus. „Wenn du willst, dass wir in guter Verfassung bleiben, dann brauchen wir auch grünes Gemüse.“ „Grünes Gemüse!“ sagte Schäbbel beleidigt. „Vermutlich wollt ihr demnächst auch noch schlafen?“ „Naja…“ „Ich hab’s gewusst!“ sagte Schäbbel. Dann spuckte der freischwebende Fürst der Missherrschaft in einem plötzlichen Anfall von Groll eine bläulich leuchtende Feuerkugel aus. Sie schwebte zum Boden herab und explodierte dort mit einem Aufflackern ionisierender Strahlung. Zozimus schreckte zurück, und der ganze Streit über die richtige Ernährung war zu Ende. Angeführt vom furchteinflößenden Sonnenimitator liefen die Flüchtlinge weiter. In von Hunger diktierter Eile schnell ausschreitend, kamen sie an einem Gang vorbei, der von bläulichem Licht erhellt wurde. Zozimus blickte dort hinein, während er überlegte, ob er die Gelegenheit beim Schopf packen und wegrennen sollte. „Sollen wir wegrennen?“ murmelte Al-ran Lars zu Arnaut und Tolon, denn seine Gedanken liefen in die gleiche Richtung. „Das sollten wir,“ sagte Arnaut. Aber ihre Eile hatte sie schon an der Einmündung des Gangs vorbeilaufen lassen, und falls sie jetzt umkehren wollten, um zurück zu spurten, würden sie mit dem dicht hinter ihnen folgenden Guest Gulkan zusammenprallen. „Wir sollten es wagen, loszuflitzen, wenn wir den nächsten Gang erreicht haben,“ sagte der Muskelprotz Tolon. „Aber seid vorsichtig! Dieses Sonnendings ist zu drei Vierteln verrückt.“ „Ich bin nicht verrückt!“ sagte Schäbbel, der ein unvorstellbar feines Gehör hatte. „Verzeihung, Verzeihung, Verzeihung,“ sagte Arnaut und warf dabei seine Hände in die Luft, als ob er einen schnell geschleuderten Stein abwehren wollte. „Du bist nicht verrückt, überhaupt nicht verrückt, kein – bei allen Göttern, was ist denn das?“ Da kam gerade etwas aus einem Seitengang vor ihnen heraus. Arnaut wusste nur, dass es groß, schwer, braun und bauchig war. Ein riesiges schwerfälliges Ding, das mit rätselhaften Ausstülpungen bestückt war. Es machte ein Geräusch, als ob es schwer atmen würde, während es näherkam. Dann blieb es stehen. Blockierte den Gang. „Kehrt um,“ sagte Schäbbel in großer Hast. „Kehrt um, alle miteinander. Ich will euch nicht verlieren.“ Alle drehten sich um. Das musste man ihnen nicht zweimal sagen. Sie hatten bereits vermutet, dass dieses Ding vor ihnen fürchterlich gefährlich war. „Geht den Weg zurück, den wir hergekommen sind,“ sagte Schäbbel, der sich nahezu panisch anhörte. „Rennt aber nicht!“ Das flügellose Wunder sagte das dreimal leise, aber schnell, wobei es jedesmal eine andere Sprache gebrauchte. Das hier war äußerst wichtig. Schäbbel wollte nicht, dass einer seiner wunderbaren neuen Spielkameraden von diesem Ungeheuer getötet wurde. Der Fürst des Lichtes und des Lachens wusste, was dieses Ungeheuer war. Es war dumm. Sehr dumm. Aber es war auch gefährlich. Sehr gefährlich. Sehr sehr sehr gefährlich. Es war eine Maschine. Es war ein Dorgi. Schäbbel hatte den Dorgi sofort als einen solchen durchschaut, obwohl der Leuchtende etwas derart Bedrohliches seit über fünftausend Jahren nicht mehr gesehen hatte. Schäbbel, meine Freunde, vergisst eben nichts. „HALT!“ sagte die Maschine. Seite 206 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Keiner von Schäbbels Gefangenen verstand den Code Sieben, den der Dorgi verwendete, aber als er sprach, hielten sie alle im gleichen Moment inne. Sie alle kannten den Ruf einer Wache, wenn sie ihn hörten. Ihr hell leuchtender Begleiter hielt ebenfalls inne. Das Ungeheuer war eindeutig ein Dorgi. Dieser felsenzermalmende Tonfall war unverkennbar. Theoretisch ist es Schäbbel nicht möglich, zu schaudern. Doch ihm schauderte trotzdem. Der Dämon von Jod hatte nicht gewusst, dass noch irgendwelche Dorgis übriggeblieben waren. Aber das waren sie wohl doch! Schäbbel war entsetzt. Trotzdem gab sich der Leuchtende ultralässig. „Oh, hallo!“ sagte Schäbbel, der im Code Sieben zum Dorgi sprach.“Na sowas, das ist aber eine Überraschung! Ich hab’ dich dort gar nicht gesehen! Mach’ dir wegen uns keine Gedanken, wir sind hier nur auf der Durchreise.“ Mit diesen Worten begann Schäbbel, den Gang entlang fortzuschweben. „Jawohl, jawohl, mach’ dir wegen uns keine Sorgen, wir finden unseren Weg schon, vielen Dank.“ „HALT! AUF DER STELLE HALT!“ Um seinen Befehl zu unterstreichen, richtete der Dorgi die sieben Rüssel seines Zulzers auf den langsam dahinschwebenden Schäbbel. Unter der Drohung des Zulzers kam der Dämon von Jod zu einem sofortigen Stillstand. Der Zulzer konnte den fürstlichen Katzenjäger zwar nicht töten, aber er war durchaus dazu fähig, den Transponder zu zerstören, der den Unbekümmerten mit dem hiesigen Kosmos verband. Sobald der zerstört wäre, würde Schäbbel taub, blind und hilflos sein. Wäre völlig eingesperrt in einem ganz anderen Universum. Stumm, blind, und jeder kinästhetischen47 Empfindung beraubt. Allein, allein, zum Alleinsein verdammt, ungeliebt, unbeachtet und ohne Freunde, ganz allein und abscheulich einsam für den Rest der Ewigkeit. Deshalb betrachtete Schäbbel den Dorgi und dessen Zulzer mit nichts Geringerem als blankem Entsetzen. Der Dorgi sprach erneut: „HALT! HALT! AUF DER STELLE! LASST EURE WAFFEN FALLEN! STELLT EUCH AN DIE WAND! HALT! ODER IHR WERDET ELIMINIERT!“ Hätte Schäbbel schwitzen können, dann hätte Schäbbel in diesem Moment zu schwitzen begonnen. Der Leuchtende hatte absolut keine Idee, was er tun sollte. Aber während Schäbbel noch unentschlossen war, holte Tolon, der Killer, ein Messer heraus. Was würde ihm das wohl bringen? Nicht viel. Tolon hätte sich genauso gut mit einer Straußenfeder bewaffnen können. Aber das wusste er nicht. Er war noch nie zuvor einem Dorgi begegnet. Er hatte keine Ahnung, mit wem er es hier zu tun hatte. Auch keiner der anderen Menschen war jemals zuvor einem Dorgi begegnet – aber einige von ihnen stellten bereits recht genaue Vermutungen an, was seine Herkunft anging. „Was ist das für ein Ding?“ sagte Guest Gulkan. „Was sagt es gerade?“ „Es sagt, dass wir bis zum Kinn in irgendwas Unerfreulichem drinstecken,“ sagte Thayer Levant. „Halb so wild,“ sagte Hostaja Sken-Pitilkin mit einer Zuversicht, die vollends vorgetäuscht war. „Ich bin sicher, dass unser Führer damit fertig wird.“ „Unser Führer ist ein Schäbbel,“ sagte Pelagius Zozimus, „und ich würde einem Schäbbel nicht einmal zutrauen, einen Pfannkuchen zuzubereiten. Macht euch bereit, loszurennen!“ Der Dorgi wurde allmählich wütend. Er versetzte sich immer mehr in mörderische Raserei. Mit zornigem Brüllen sagte er: „JETZT! JETZT! AN DIE WAND! SONST PASSIERT WAS!“ In höchster Not wurde Schäbbel von einer Eingebung heimgesucht. 47 Bewegungssinn, durch den eine Bewegungsempfindung und das Erkennen der Bewegungsrichtung ermöglicht wird. Seite 207 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Also sprach Schäbbel, in perfekter Nachahmung von Anaconda Stogirov, der unsterblichen Sicherheitschefin des Goldenen Gulag: „Lass mich mit meinen Gefangenen vorbei.“ Vom Dorgi war ein unheilvolles Grollen zu hören. „Ich besitze eine Absolute Autorisierung!“ sagte Schäbbel, der weiterhin Stogirovs Stimme verwendete. „Zweifelst du etwa daran? Dann prüfe deine Sicherheitsliste! Auf der Stelle! Oder ich werde dich zerlegen lassen! Stück für Stück. Und dabei deine Schmerz-Schaltkreise bis zum endgültigen Aus unversehrt lassen.“ Der Dorgi knurrte erneut. Wich aber ein Stückchen zurück. Er begann die stimmlichen Identitäten zu überprüfen, die in seiner Sicherheitsliste aufbewahrt waren. Dann ließ der Dorgi ein unzufriedenes Grollen hören. Er hatte Schäbbels stimmliche Identität mit der Sicherheitsliste verglichen. Gemäß dieses Vergleichs war Schäbbel tatsächlich Anaconda Stogirov. Aber Stogirov war ein Mensch, weiblich, 567 Inkas groß, 96 Noks schwer, und hatte blaue Augen, rote Haare und helle Haut. Das war folglich das Problem, das dem Dorgi Schwierigkeiten machte: Wäre es möglich, dass man Anaconda Stogirov eingeschmolzen und auf eine Art und Weise neugeformt hatte, die ausreichend drastisch gewesen war, um ihr das äußere Erscheinungsbild eines Schäbbels zu verleihen, das heißt einer funkelnden freischwebenden Kugel in der Größe einer Orange? Der Dorgi knurrte heftig. Ein echtes Problem! Denn er wusste praktisch nichts über den menschlichen Körperbau und ebensowenig über die innere Zusammensetzung von Schäbbels. Gerade, als der Dorgi noch hinsah, veränderte sich diese Kugel. Sie begann, Hitze zu verströmen. Sie wurde zu einer Feuerkugel. Konnten Menschen das tun? Der Dorgi durchforschte seine Speicherbänke. Ja! Menschen verströmen Hitze! Nein! Menschen sterben bei Feuerkugel-Hitze! Ja! In reflektierendes Material gehüllte Menschen können sich solcher Hitze aussetzen! Nein! Nein! Ja ja! Nein nein nein! Ja! In ausweglosem Zweifel gefangen, befragte der Dorgi seine Oberste Anweisung. Diese war sehr einfach und verrät uns eine Menge über den Goldenen Gulag: 1. FALLS ZWEIFEL BESTEHEN, FRAGE. 2. FALLS IMMER NOCH ZWEIFEL BESTEHEN, FOLTERE. 3. FALLS IMMER NOCH ZWEIFEL BESTEHEN, TÖTE. 4. FALLS JETZT KEINE VOLLKOMMENE ZUFRIEDENHEIT BESTEHT, GEHE ÜBER ZUR ZERSTÖRUNG DIESER ZONE. BEZÜGLICH DER SICHERHEIT IN DIESER ZONE Der Dorgi beruhigte sich augenblicklich. Dies war das Gesetz. Der Dorgi brauchte nur das Gesetz zu befolgen. Außerdem durfte er so grob und gewalttätig sein, wie er nur wollte, solange er dabei nur das Gesetz befolgte. Der Dorgi hatte bereits Anweisung Eins ausgeführt. Deshalb musste er direkt mit Anweisung Zwei weitermachen. Dieser Eindringling musste gefoltert werden! „Ich höre Stogirov,“ sagte der Dorgi, „aber ich sehe einen Schäbbel. Einen pflichtvergessenen Schäbbel! Der einen Menschen nachahmt! Du sollst zwecks ausführlichem Verhör augenblicklich zu einem Therapeuten gebracht werden.“ „Es gibt keine Therapeuten mehr,“ sagte Schäbbel kühn. „Sie sind alle tot.“ „Es gibt einen funktionierenden Therapeuten auf Ebene 433,“ sagte der Dorgi in einem Tonfall, der sich wie eine massive Drohung anhörte. Ein Dorgi lügt nicht. Ein Dorgi ist ein primitiver Mechanismus, der zu so etwas Ausgeklügeltem wie einer erfundenen Geschichte nicht in der Lage ist. Ein Dorgi kann sich jedoch irren. Aber in diesem Fall war die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums verschwindend gering. Wenn ein Dorgi sagte, dass ein Therapeut existieren würde, dann musste ein solcher Therapeut auch wirklich existieren. „Also gut, also gut,“ sagte Schäbbel, der dabei nur langsam in die Höhe stieg, um den Dorgi nicht zu erschrecken. „Ich werde friedlich mitkommen.“ Seite 208 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Dann komm’ 934 Inkas herab und beweg’ dich weiter durch den Gang.“ „Durch welchen Gang?“ sagte Schäbbel, der dabei langsam durch die Luft auf die bläulich erleuchtete Abzweigung in dem labyrinthischen Drunten zurollte, die seine Gefangenen vor kurzem als Fluchtweg in Betracht gezogen hatten. „Durch den hier!“ sagte der Dorgi. „Der Gang, in dem wir uns befinden!“ „Ach, der hier!“ sagte Schäbbel und beschleunigte dabei. „Ja, ja,“ sagte der Dorgi. „Aber nicht so schnell! Und komm’ herab! Herunter, sag’ ich! Halt! Du bewegst dich zu schnell! Halt oder ich schieße! Halt! Halt! Halt!“ Die Alarmhupe des Dorgis plärrte los. Das war die letzte Warnung – wie Schäbbel nur allzugut wusste. Deshalb schoss Schäbbel auf den Dorgi mit voller Wucht einen Feuerstrahl, der heiß genug war, um geschmiedeten Stahl zu schmelzen. Der Dorgi nahm diesen Angriff gelassen hin – aber er war vorübergehend geblendet. Genau in diesem Moment wirbelte Schäbbel wie wild herum, um siebenundzwanzig schäbbelgroße Feuerkugeln auszuspucken. Der Dorgi gewann seine Sehkraft zurück. Ungläubig starrte er auf die achtundzwanzig Schäbbel, die vor ihm in der Luft schwebten. Was zur Hölle war hier los? Na schön: zuerst schießen, und Fragen dann hinterher stellen! Der Dorgi eröffnete das Feuer, wobei er versuchte, alle achtundzwanzig Schäbbel gleichzeitig abzuknallen. Er war so damit beschäftigt, auf die Feuerkugeln zu schießen, dass er die Menschen zeitweise vergaß. Diese Menschen befanden sich schon längst auf der Flucht. Sie spurteten los, stießen zusammen, fielen hin, rollten über den Boden, krabbelten herum, kamen wieder auf die Beine, duckten sich, sprangen hin und her und warfen sich schließlich in den bläulich erleuchteten Gang hinein. Hinter ihnen beherrschte der ohrenbetäubende Donner des Zulzers alles andere. Plax-Stücke platzten aus den Wänden heraus. Schäbbel schlitterte um die Ecke in den bläulich erleuchteten Gang hinein, zählte die Menschen (alle sieben waren da), und drängte sie dazu, sich wieder in Bewegung zu setzen. „Brodirov kanamensky!“ „Was?“ sagte Zozimus. „Shavaunt!“ sagte Schäbbel, der zum Toxteth zurückkehrte. Die Menschen verstanden diesen Wink, und so benommen und verstört sie auch waren, fingen sie dennoch zu rennen an. Ihr Oberherr war erfreut, als er sah, dass derjenige, den man Arnaut nannte, den Wunschstein noch immer fest in seinem Griff hatte. Im Hauptgang setzte sich der Donner des Zulzers noch ziemlich lange Zeit fort. Der Dorgi stellte das Schießen erst ein, als er seine gesamte Munition aufgebraucht hatte. Er suchte nach Leichen. Es gab aber keine.Vielleicht hatte sie der Zulzer atomisiert? Vielleicht. „Das werden wir ja sehen,“ sagte der Dorgi. Er zog die Bildaufzeichnung seiner in diesem Gangbereich durchgeführten Attacke zurate und führte eine spektrale Analyse derselbigen durch. Unglücklicherweise deutete die spektrale Analyse darauf hin, dass keine große kohlenstoff-basierte Lebensform zerstört worden war. Der Schäbbel schien ebenfalls entkommen zu sein. „Sinvoco senvovo sabvoco!“ sagte der Dorgi und überlastete damit beinahe seine Obszönitäts-Schaltkreise. Die Eindringlinge waren allesamt davongekommen. Der Dorgi führte eine tiefgreifende Situationsanalyse durch, wobei er wegen der Schmerzen, die ihm diese intellektuelle Analyse verursachte, zu knurren begann. Kam dann zu dem Schluss: „Sie müssen dort in diesen Seitengang gerannt sein.“ Seite 209 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Er donnerte zu dem Seitengang hin. Der zu eng war, um ihn durchzulassen. Der Dorgi führte eine weitere tiefgreifende Situationsanalyse durch, die mindestens genauso schmerzhaft war wie die erste. Er kam zu dem Schluss: „Ich kann sie nicht verfolgen.“ Er befand sich mittlerweile in einer Art Zwickmühle. Also befragte er erneut seine Oberste Anweisung. Die eindeutig feststellte: 4. FALLS JETZT KEINE VOLLKOMMENE ZUFRIEDENHEIT BEZÜGLICH DER GEHE ÜBER ZUR ZERSTÖRUNG DIESER ZONE. SICHERHEIT IN DIESER ZONE BESTEHT, „In Ordnung!“ murmelte der Dorgi. „Mir reicht’s jetzt!“ Geschwind lud er seine Wahrscheinlichkeits-Unterbrecher auf, höchst zufrieden über die tröstliche Vorstellung, dass in Kürze alles im Umkreis von fünfzig Luzak unwiederbringlich deformiert sein würde. „Dann mal los!“ sagte der Dorgi. Leitete dann die Wahrscheinlichkeits-Unterbrechung ein. Nichts geschah. Bestimmt waren die Wahrscheinlichkeits-Unterbrecher kaputt. „Mal wieder typisch für mich,“ murmelte der Dorgi verdrießlich und befragte seine Speicherbänke, wo er schließlich Folgendes ausfindig machte: Anweisung 238768138764: Fehlfunktion der Ausrüstung. IM FALLE DER FEHLFUNKTION EINER FÜR DEN EINSATZ WESENTLICHEN AUSRÜSTUNG BEGIB DICH ZU EINEM ROBOTERAUFSEHER 7. GRADES. Der Dorgi knurrte. Knurrte dann nochmal. Er mochte keine Aufseher. Die waren intelligent. Schlimmer noch, die waren intelligenter als Dorgis. (Das waren die meisten Dinge.) Dennoch konnte man nichts dagegen tun. Eine Anweisung war nun einmal eine Anweisung. Jeden Dorgi, der unvorsichtig genug sein sollte, eine Anweisung zu missachten, würden etliche Jahrtausende intensiver Schmerztherapie erwarten. Knurrend und grummelnd begann der Dorgi den Gang entlang zu rumpeln, um pflichtbewusst einen Aufseher zu suchen. Den würde er äußerst lange Zeit suchen müssen, da der letzte funktionstüchtige Aufseher vor etwa dreitausend Jahren eine endgültige Fehlfunktion erlitten hatte. Und dennoch – so ist das Leben nun mal. Seite 210 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 28 Während der Dorgi damit beschäftigt war, einen Aufseher zu suchen, und während Schäbbel gerade Schäbbels gefangene Spielkameraden neu formierte, lag der Beschwörer Odolo im Bett, und zwar in Ivan Pokrovs Privaträumen im Analytischen Institut auf der Insel Jod. Odolo war auf der Hafenbrücke auf halbem Weg zusammengebrochen, und Uckermark und Chegory hatten ihn den Rest des Weges geschleppt. Während des Kampfes im rosa Palast hatte sich Varazchavardan mit äußerster Entschlossenheit bemüht, Odolo zu erwürgen, und die Flecken auf dessen Hals, die diese Bemühungen unter Beweis stellten, verdunkelten sich fortlaufend von Klatsch-Patsch-Rot zu Gewitter-Schwarz. Immerhin war Odolo noch am Leben und atmete. Uckermark und Chegory saßen am Bett des bewusstlosen Beschwörers und unterhielten sich mit Ivan Pokrov über ihn. „Ihr behauptet, er hat sich tatsächlich selbst verwandelt?“ sagte Pokrov. „Wir meinen das wirklich ernst,“ sagte Chegory. „Er – er ist ein – es ist ein, naja, sowas wie ein Albtraum gewesen, okay?“ „Schon gut, schon gut,“ sagte Pokrov, der sein Bestes tat, den verkrampften Ebbie zu beschwichtigen. „Er hat sich also höchstpersönlich selbst verwandelt. Ich glaub’s euch ja!“ „Er muss ein Zauberer sein,“ sagte Uckermark. „Oder zumindest ein Hexer.“ „Ein Zauberer,“ sagte Chegory. „Die führen doch gegeneinander Krieg, nicht wahr? Zauberer und Hexer? Er ist also ein Zauberer. Warum würde er denn sonst seine Kräfte verbergen wollen?“ „Die führen nicht wirklich Krieg gegeneinander,“ sagte Uckermark. „Zauberer und Hexer, meine ich. Die kommen bloß nicht besonders gut miteinander aus.“ Pokrov versuchte, sich irgendeine intelligente Bemerkung einfallen zu lassen, die er dieser Debatte beisteuern könnte, aber es gelang ihm nicht. Er war es gewohnt, sich mit dem Leben, dem Tod und dem Universum in Ausdrücken mathematischer Theorie zu befassen, aber er besaß keine zufriedenstellende theoretische Erklärung für Magie. Das ist auch kaum verwunderlich, weil es selbst der Thaldonischen Mathematik nicht gelingt, ein prädiktives Paradigma bereitzustellen, um jene Vorgänge zu erklären, die die Forscher des Goldenen Gulag als synergetische Unwahrscheinlichkeit zu beschreiben pflegten. „Trotzdem weiß ich immer noch nicht, warum er diesen Drachen gemacht hat,“ sagte Chegory. „Bei dem Bankett, meine ich.“ „Vielleicht ist es bloß ein Jux gewesen,“ sagte Uckermark. „Bankett!“ sagte Pokrov, dankbar, dass er auch einmal etwas Gescheites sagen durfte. „Jetzt fällt’s mir wieder ein! Ich bin den ganzen Tag so beschäftigt gewesen, dass ich noch gar kein Mittagessen gehabt habe. Würde es euch etwas ausmachen, euch mir anzuschließen? Odolo hat es ja wohl nicht nötig, dass wir hier auf ihn aufpassen.“ Chegory war nicht wirklich scharf auf eine weitere Mahlzeit. Im Grunde seines Herzens fühlte er sich todtraurig, weil er Olivia den Gefahren des rosa Palastes preisgegeben hatte. Außerdem hatte sich diese Traurigkeit seines Herzens, trotz der damit verbundenen anatomischen Schwierigkeiten, bereits seinem Magen mitgeteilt. Kurzum, er konnte kein Essen sehen. Trotzdem wäre es unhöflich gewesen, sich zu weigern. Außerdem fühlte sich Chegory in Gegenwart von Pokrov gezwungen, die Rolle des höflichen, disziplinierten, höchst flexiblen jungen Ebrellianers zu spielen. Auch wenn er wusste, dass er ein todgeweihter Gesetzloser war, ein verkommener Tunichtgut auf der Flucht vor dem Gesetz und den Behörden, ein Strolch, der rettungslos in eine Welt aus Drogen, Betrügereien, Verschwörungen, Staatsstreiche und plötzliche Todesfälle verstrickt war. „Ja,“ sagte Chegory. „Das ist eine, ähm, tolle Idee. Wir sollten etwas zu Mittag essen, okay, das kann die Sache auch nicht mehr schlimmer machen.“ Seite 211 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Während eines (äußerst) späten Mittagessens erörterten sie das vermutliche Schicksal von Olivia Qasaba und Artemis Ingalawa. „Ich würde mir keine großen Sorgen um sie machen,“ sagte Ivan Pokrov unbekümmert. „Varazchavardan hat nichts gegen sie in der Hand. Bestimmt sind sie in diesem Augenblick bereits zurück in der Dromdanjerie und machen sich sauber.“ Chegory schauderte es. „Sie haben nicht das gesehen, was wir gesehen haben,“ sagte er. Nach dem Mittagessen verließ Chegory das Analytische Institut und stand an Jods glühend-heißer Küste, wo die Schatzquellen noch immer Ströme von Dickel und Schlack ausschütteten, als ob sie damit nie mehr aufhören könnten. Der längste Quellfluss, der in den Akten verzeichnet war, hatte drei Jahre gedauert und sämtliches Leben in der Lagune vernichtet, bis zu einer Entfernung von fünf Meilen von der Katastrophe. Nach der Unmenge toter Fische zu urteilen, die bereits in der Hafenbucht trieben, könnte sich dieser jüngste Ausbruch als ebenso katastrophal herausstellen. Aber wer wollte sich schon darüber beschweren? Ohne solche Giftstoffe würde es auf Untunchilamon keinen Wohlstand geben. Dickel, Schlack und andere fremdartige, aber ebenso wundertätige Substanzen waren es gewesen, die die Insel zu einem wohlhabenden und begehrten Teil des Izdimir-Reichs gemacht und die Erbauung der holden Stadt Injiltaprajura finanziert hatten. Der junge Chegory Guy schaute über den Laitemata-Hafen hinweg zu den Straßen jener Stadt. Sie sahen alle ruhig aus. Wie ausgestorben. Normal, mit einem Wort. Denn beim üblichen Lauf der Dinge würde sich in Injiltaprajura am späten Nachmittag eines derart heißen Tages einfach nichts rühren. Chegory musterte den rosa Palast in der Ferne. Was zur Hölle hatte sich dort drüben ereignet? Er hatte einen Machtkampf zwischen Varazchavardan und Odolo gesehen. Der Albino mit den rosaroten Augen hatte Odolo beinahe das Genick gebrochen. Dann hatte der Beschwörer den Wunderwirker irgendwie bewusstlos gemacht. Dann hatte, ehe Uckermark und Chegory den widerwärtigen Meister der Rechte töten konnten, Nixorjapretzel Rat eingegriffen. „Was weiß ich eigentlich?“ sagte Chegory. „Ich weiß, dass Varazchavardan Injiltaprajura für Aldarch Drei erobern will. Dass er möchte, dass Justina tot ist. Und dass ich tot bin. Und dass Olivia tot ist. Und dass Ingalawa tot ist. Und dass schließlich auch Uckermark tot ist.“ Doch Ivan Pokrov war der Ansicht, dass es nichts gab, worüber man sich Sorgen machen müsste! Je länger Chegory darüber nachdachte, um so stärker war er davon überzeugt, dass der analytische Ingenieur übertrieben optimistisch war. Pokrov war so mild, so sicher, so zuversichtlich. So losgelöst von der Wirklichkeit! Dabei ging es hier um Leben oder Tod. Binnen kürzester Zeit würde Chegory tot sein. Es sei denn, Varazchavardan würde zuerst sterben. „Er hat halt die Soldaten auf seiner Seite,“ murmelte Chegory. Dann, nach ein paar weiteren Gedanken: „Aber mehr als ein Messer ist nicht erforderlich. Ein Mann mit einem Messer.“ Es gab nicht viel zu überlegen, wer dieser Mann am Schluss wohl sein müsste. Doch Chegory stürzte nicht auf der Stelle zurück zum Palast, um die Sache ganz nach Art von Helden zu erledigen oder dabei zu sterben, denn man hatte ihm beigebracht, seine Probleme erst zu Ende zu denken, bevor er aktiv wurde. Also dachte er nach. Aber das half ihm so gut wie gar nicht! Der Vorgang des Denkens ließ seinen Kopf schmerzen und seine Zunge austrocknen, aber abgesehen davon lieferte er überhaupt kein verwertbares Ergebnis. Selbst nachdem Chegory festgestellt hatte, dass Denken nutzlos war, stürzte er sich trotzdem nicht sofort in irgendwelche Aktionen. Stattdessen spielte er auf Zeit und tat so, als ob er immer noch nachdenken würde. In Wahrheit hatte er einfach Angst. Die Welt war größer geworden, und ihre Steine waren schwerer und fester geworden – während Chegory selbst kleiner und weicher und schmerzempfindlicher geworden war. Schließlich verblasste jeder Vorwand des Denkens ins Nichts. Er saß auf einem Stein und konzentrierte sich darauf, zu schwitzen. Seite 212 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Der Austrocknung hatte es Chegory zu verdanken, dass er noch matter war, als Salahanthara zu Ende gegangen war. Eine grausame Sonne sank durch einen Himmel des Gemetzels in ein blutrotes Meer. Dann verging der Tag in einem atemberaubenden Schauspiel des Ausblutens, bei dem die Farben des blutigen Todes aus dem Abendhimmel abflossen. Die Glocken des Abendrots (zweifellos vom Blut ertränkt) schafften es nicht, zu läuten. Der rothäutige Ebrellianer, dessen eigene Hautfarbe sich in den weltumspannenden Schatten des Abends todesgleich verdüsterte, saß an der Küste Jods und sah den Blutstein-Gebäuden Injiltaprajuras dabei zu, wie sie sich allmählich in der schwarze Erstarrung der Nacht verfestigten. Immer noch strömten Dickel und Schlack unaufhörlich aus den Schatzquellen, und immer noch erstickte die drückende Hitze ganz Untunchilamon. Dann begannen in der Dunkelheit Jods lüsterne48 Frösche im Chor zu singen. Gork-mork-gork-mork. Gork-mork-gork-mork… Die Nacht war heiß. Kein Lufthauch. Am Himmel zauberten sich die Sterne selbst herbei und schlüpften in die Gewänder von Phönix und Feuerdrache. Chegory saß da und starrte über das schwarze Gewässer des Laitemata, bis er einen Entschluss gefasst hatte. Er wollte – „Chegory!“ Das war Ivan Pokrov, der da nach ihm rief. „Um was geht’s denn?“ sagte Chegory, dessen Stimme sich nach verkohltem Holz und rissigem Leder anhörte. Er war durstig, durstig, er hatte gar nicht gemerkt, dass er so durstig war. „Es geht um Odolo. Er ist wach geworden. Er will uns etwas mitteilen.“ Also erhob sich Chegory von seinem Stein und begleitete Ivan Pokrov nach drinnen. Schmerzen pochten in seinem Schädel: Kopfschmerzen, die die Hitze und der Wassermangel verursacht hatten. Als Chegory Odolos Krankenzimmer betrat, war das erste Wesen, das er sah, der hässliche Uckermark. Der Leichenmeister, der noch immer leicht nach Toten roch, stutzte gerade den Docht einer Öl-Laterne. Wie scheußlich der doch aussah! Ein bizarres Durcheinander von Narben und Tätowierungen. Uckermark knurrte, als Pokrov hinter Chegory hereinkam, und sagte dann: „Unser Freund ist sehr erregt.“ Er sprach die Wahrheit. Der Beschwörer Odolo hatte sich in seinem Bett aufgesetzt. Er war erschreckend fiebrig, seine Augen waren weit aufgerissen, seine Hände vollführten rhetorische Beschwörungen in der Luft, seine Knie zuckten und ruckten unter einem dünnen Moskitonetz. Er erinnerte Chegory an die Art, wie manche der stärker dem Wahnsinn verfallenen Patienten in der Dromdanajerie aussahen, kurz bevor sie gewalttätig wurden. „Erregt ist er in der Tat!“ sagte Pokrov, während er Odolos unruhige Bewegungen studierte. „Hat er Ihnen schon gesagt, warum?“ „Das soll er Ihnen lieber selbst sagen,“ sagte Uckermark. Nachdem er den Docht der Öllampe gestutzt hatte, verließ der Leichenmeister das Zimmer. Sogleich fing Odolo mit seinen Erläuterungen an. „Ich,“ sagte der Beschwörer, der trotz der Quetschungen, die seinen Hals verunstalteten, deutlich sprechen konnte, „bin von dem Dämon Binchinminfin besessen gewesen.“ „Ja, ja,“ sagte Chegory, wobei er Jon Qasabas beschwichtigendsten Tonfall perfekt nachahmte. „Ja, ähm, das ist schon in Ordnung, gell? Lehn’ dich einfach zurück, sei ganz lieb, sei lieb und ganz locker, und wir werden, äh, wir werden uns um alles kümmern, okay?“ 48 engl. slabender [ein dem Übersetzer unbekanntes Wort] Seite 213 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Ihr solltet mir lieber glauben,“ warnte Odolo. „Es stehen Menschenleben auf dem Spiel. Denkt bloß nicht, dass ich wahnsinnig bin. Kann Wahnsinn allein vielleicht Drachen heraufbeschwören oder aus einem Menschen einen ebenbürtigen Gegner für den Kampf gegen einen Wunderwirker machen?“ Chegory gab keine Antwort. Was sollte er schon sagen? Er hatte schon wieder einen gesellschaftlichen Patzer begangen! Alles, was er machte oder sagte oder dachte, war falsch und brachte ihn mit irgendwem in Schwierigkeiten. Er war zu müde, um dagegen anzukämpfen. Er wollte sich nur noch in Luft auflösen. „Nun?“ sagte Odolo. „Kann er das? Kann Wahnsinn die Mächte der Zauberei herbeibeschwören?“ „Ich muss mich im Namen des jungen Chegory Guy entschuldigen,“ sagte Ivan Pokrov. „Er hat schon so lange seine Unterkunft in der Dromdanjerie, dass er vermutlich bei jedem, dem er begegnet, annimmt, dass er mindestens zur Hälfte verrückt ist.“ Chegory war zu müde, um ihm dafür dankbar zu sein. An dieser Stelle kehrte Uckermark mit ein paar Dienern zurück, die Rohrstühle trugen, Krüge mit kühlem Wasser und Trinkbecher, um selbiges zu trinken. Die Stühle wurden verteilt, das Wasser wurde eingeschenkt, die Diener entfernten sich, und dann lehnten sich Chegory, Uckermark und Ivan Pokrov zurück und lauschten schweigend, während der Beschwörer Odolo seine Geschichte erzählte. Und er erzählte, wie: sich der Dämon Binchinminfin in seinem Schädel eingenistet hatte; der Dämon Binchinminfin dann Odolos Träume, Ängste und Albträume hatte lebendig werden lassen. Wasser zu Blut an seinem Bett. Skorpione in seiner Frühstücksschüssel. Ein Himmel voller Regenbögen. Kraken im Laitemata. All das war das Werk des Dämons gewesen, der mit den Vorstellungen gespielt hatte, die er in Odolos Kopf gefunden hatte, ehe er vollständig begriffen hatte, was damit eigentlich gemeint war. „Also begreift er sie jetzt?“ sagte Chegory. „Er ist jetzt nicht mehr so überspannt,“ sagte Odolo. „Ob das schon heißt, dass er die Dinge begreift, naja – vielleicht. Jener Drache bei dem Bankett, jener Drache war das letzte Ding, das er wie aus einer plötzlichen Laune heraus gemacht hat. Es ist so, als ob – als ob er aus dem spielerischen Stadium herausgewachsen ist. Er ist ernst geworden. Er kommt jetzt wohl zur Sache.“ Dann erzählte Odolo, wie der Dämon Binchinminfin: Odolos Hirn nach dessen Wissen über die Sprachen von Untunchilamon durchwühlt hatte, als Odolo in einer Zelle im Hochsicherheitsgefängnis Moremo eingekerkert gewesen war; seine Kräfte erprobt hatte, in dem er Miniatur-Lebensformen in eben dieser Zelle erschaffen hatte; sich dann zurückgelehnt hatte, um abzuwarten und zu beobachten, bis Varazchavardan schließlich versuchte hatte, Odolo umzubringen. „Bis dahin hat er sich also geweigert, Ihnen zu helfen?“ sagte Chegory. „Du – du verstehst das nicht,“ sagte Odolo. „Wenn du einen Dämon an Bord hast, kannst du ihn nicht – du kannst ihn nicht direkt um irgendwelche Dinge bitten. Wenn er sich betätigen möchte, dann macht er das einfach. Dann übernimmt er die vollständige Kontrolle, und es gibt nichts, was du dagegen tun könntest. Aber in der übrigen Zeit – nun ja, da reitet er einfach mit dir herum, unsichtbar und schwerelos.“ „Aber wenn es um Hilfe geht?“ beharrte Chegory. „Sie hätten ihn doch bestimmt um Hilfe bitten können?“ „Du vergisst da etwas,“ sagte Uckermark. „Den Schrecken, den vergisst du nämlich soeben.“ „Jawohl,“ sagte Odolo dankbar. „So ist es gewesen. Es war schrecklich gewesen. Deshalb – deshalb gibt es Sachen, an die man freilich nachher denkt, aber an die man in dem Moment einfach überhaupt nicht denkt.“ Seite 214 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Nachher?“ sagte Pokrov, der sich bemühte, Odolos Worte zu verstehen. „Wollen Sie uns damit erzählen, dass Sie nicht mehr besessen sind? Wollen Sie uns vielleicht erzählen, dass der Dämon dorthin zurückgekehrt ist, wo er hergekommen ist?“ „Ganz und gar nicht!“ sagte Odolo. „Ich versuche euch das ja gerade zu erzählen. Wenn es euch nichts ausmachen würde, mir einfach zuzuhören, könnte ich das vielleicht ein wenig schneller erledigen.“ Pokrov gelobte Schweigen, und dann fuhr Odolo fort. „Dieser Binchinminfin-Dämon hat sich gut benommen. Den ganzen Tag lang. Bis Varazchavardan versucht hat, mir den Kopf abzuhacken. Dann hat mich Binchinminfin vollständig übernommen, um sich mit Varazchavardan herumzuschlagen. Lange haben sie kämpfen müssen, bis Varazchavardan die Oberhand über Binchinminfin gewonnen hat.“ „Aber das ist – das ist doch verrückt!“ sagte Chegory. „Diese Dämonen, sind die denn nicht, Sie wissen schon, allmächtig? Ich meine, wie kann Varazchavardan einen Dämon umnieten, wenn er doch bloß ein Wunderwirker ist?“ „Da unterschätzt du unsere Wunderwirker,“ sagte Odolo. „Sie erwerben sich ihre Kräfte, indem sie Dämonen gestatten, von ihnen teilweise Besitz zu ergreifen. In höchster Not wird ihnen ein Hexer sogar die vollständige Besitzergreifung erlauben. Das muss es gewesen sein, was Varazchavardan getan hat. Auf diese Weise hat der Meister der Rechte die notwendige Kraft gefunden, Binchinminfin entgegenzutreten und zu bezwingen.“ Chegory, der sich ärgerte, weil er schon wieder vor anderen Leuten einen Fehler begangen hatte, konnte nicht anders, als diese Aussage in Frage zu stellen. „Na schön, das ist also das, was Sie behaupten. Aber was wissen Sie denn schon? Sie sind ein Beschwörer, nicht wahr? Was wissen Sie denn schon von Hexerei und dem ganzen Kram?“ „Ich weiß das,“ sagte Odolo, „weil ich mich direkt mit einem Dämon unterhalten habe. Binchinminfin ist die Quelle meines Wissens.“ „Na gut,“ beharrte Chegory, der sich noch immer sträubte, falsch zu liegen, „wenn ein Dämon eine Person einfach so übernehmen kann, wie kommt es dann, dass wir nicht alle schon längst von Dämonen übernommen wurden?“ „Weil sich das die Dämonen selbst verbieten,“ sagte Odolo. „Unsere Welt ist zerbrechlich, ihre Substanz ist dünn. Unsere Welt ist wie eine Eisplatte. Würden die Dämonen in großer Zahl ihr volles Gewicht in unserer Welt zum Einsatz bringen, würde sie zerbrechen. Um sich also an den Wonnen dieser Welt zu erfreuen, dürfen sie hier nur einen Bruchteil des Gewichts weniger Dämonen zum Einsatz bringen. Das regeln sie mit Hilfe ihrer eigenen Gesetze.“ Der Beschwörer nippte an seinem Wasser. Chegory tat das ebenso, füllte dann seinen Trinkbecher wieder auf. Seine Kopfschmerzen hatten sich verflüchtigt, und er fühlte sich jetzt kräftiger und aufmerksamer, da er wieder mit ausreichend Wasser versorgt war. Er hörte aufmerksam zu, als Odolo fortfuhr: „Es waren die Dämonen, die sich die ersten Hexer ausgesucht hatten. Die jenen Hexern die Maßregeln beigebracht hatten, durch die ein Mensch zumindest einen kleinen Teil des Gewichts eines Dämons tragen kann, ohne dabei die Welt zu zertrümmern. Das sagt jedenfalls Binchinminfin. Der selbst ein Abtrünniger ist, ein Dämon, der in unserer Welt unter Missachtung der Gesetze seiner eigenen Welt tätig geworden ist.“ So sprach Odolo. Aber alles, was er sagte, musste mit Vorsicht genossen werden. Immerhin war die einzige Quelle seines Wissens der nach eigenem Geständnis abtrünnige Binchinminfin. Selbst unter der Annahme, dass der Dämon die Absicht gehabt hatte, die Wahrheit zu sagen, kann man nur wenig Wissen über die Welt des Jenseits auf angemessene Weise in die Sprache unserer Welt übertragen. Der Versuch, theologische Wahrheiten in der Sprache des Tauschhandels und des Warenverkehrs auszudrücken, ist zum kläglichen Scheitern verurteilt. Oder zumindest äußerst unbefriedigend. Das ist so, als ob man aus Fischgräten ein Modell der Zeit bauen wollte. Als ob man sich anstrengen würde, die Zufriedenheit eines Organismus mit Hilfe der Arithmetik eines Buchhalters auszudrücken. Als ob man versuchen würde, aus dem Duft eines Parfüms ein Haus zu errichten oder Feuer aus Eis zu formen. Seite 215 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Dann ist,“ sagte Chegory, „dieser Binchinminfin jetzt also tot.“ „Falsch!“ sagte Odolo. „Aber,“ protestierte Chegory, „Sie haben doch gesagt, dass Varazchavardan die Oberhand über Binchinminfin gewonnen hat.“ „Im Zweikampf, jawohl,“ sagte Odolo. „Varazchavardan hat den Kampf der Verwandlungen gewonnen. Aber Binchinminfin hat ihn trotzdem besiegt. Denn als Varazchavardan versucht hat, meinen Körper mit seiner Eisenklaue zu zerstören, ist Binchinminfin von meinem Körper in den von Varazchavardan gesprungen.“ „Aber Sie haben doch gesagt, dass bereits ein Dämon von Varazchavardan Besitz ergriffen hat,“ widersprach Pokrov. „Ein Dämon hat weder Gewicht noch Ausdehnung oder Substanz,“ sagte Odolo. „Deshalb kann eine unbegrenzte Anzahl von ihnen auf dem Kopf einer Nadel tanzen. Oder in einem einzigen Geist um die Vorherrschaft wetteifern.“ „Deshalb ist Varazchavardan also zusammengeklappt,“ sagte Uckermark, der bis dahin bemerkenswert still gewesen war. „Weil in seinem Kopf zwei Dämonen gegeneinander Krieg geführt haben.“ „Nein,“ sagte Odolo. „Es ist der Akt der Besitzergreifung selbst, der die Bewusstlosigkeit verursacht. Die Anwesenheit des Dämons bringt den Verstand durcheinander, der einige Zeit braucht, um sich davon wieder zu erholen.“ „Welcher Dämon beherrscht jetzt also Varazchavardan?“ sagte Chegory. „Sein eigener, oder dieser Binchinminfin?“ „Ich hab’ da genauso wenig Ahnung wie ihr,“ sagte Odolo. „Wenn Varazchavardan sein Bewusstsein wiedererlangt, wird er entweder er selbst sein, oder Binchinminfin wird von ihm Besitz ergriffen haben.“ Odolo verstummte. Chegory, Uckermark und Pokrov musterten ihn und warteten auf weitere Enthüllungen. „Es bringt gar nichts, mich anzustarren,“ sagte Odolo. „Ich hab’ meinen Teil gesagt. Ihr wisst jetzt ebenso viel wie ich. Was wir jetzt tun sollten – naja, es steht mir nicht zu, hier etwas vorzuschlagen.“ „Was wir jetzt tun sollten, das ist doch ganz einfach,“ sagte Chegory. „Wir sollten Varazchavardan töten. Ob er jetzt von einem Dämon besessen ist oder nicht, auf jeden Fall ist er unser Todfeind.“ Ivan Pokrov räusperte sich. „Ich meine,“ sagte Pokrov, „dass wir, bevor wir losstürzen, um jemanden zu töten, diese Sache lieber erstmal ganz durchdenken. Und während wir denken, können wir dabei ebenso gut auch etwas essen.“ Dann klatschte Pokrov in die Hände, um seine Diener hereinzurufen. Er gab ihnen seine Anweisungen, und schon bald kehrten sie mit Speisen zurück, die in Schüsseln aufgetragen wurden, die mit Blumenmustern in zartestem Blau verziert waren. In jede Schüssel waren reisförmige Stücke weißen Porzellans in ihre dünnen Wände eingearbeitet. Normalerweise hätte sich Chegory Sorgen gemacht, dass seine dicken und klobigen Hände irgendetwas zerbrechen könnten. Aber heute Nacht dachte er überhaupt nicht daran. Er war hungrig, und in den Schüsseln war ausgezeichnetes Futter. Oliven. Stücke geräucherten Schlangenfleischs. Frisch gebackener Tintenfisch. Geröstete Grillen. Mit Schinken gefüllte Riesenchamäleons. In Öl eingelegte Schaben. Mangos. KokosnussStücke. Dünn geschnittene goldenen Ananas-Scheiben. Obwohl also Olivia, seine wahre Liebe, in den Fängen eines Dämons schmachtete, verschlang Chegory gierig sein Essen. Sein früherer Appetitverlust war völlig verschwunden. Schließlich war er ein Ebrellianer, und es Seite 216 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 erfordert mehr als einen Putsch, eine Entführung und eine nationale Katastrophe, um den Appetit eines Ebbies dauerhaft zu verstimmen. Während Chegory aß, dachten die anderen nach, aber am Ende der Mahlzeit waren sie alle kein bisschen schlauer. „Wir haben keine ausreichenden Daten für eine genaue Analyse,“ sagte Ivan Pokrov. „Wir müssen eine Gesandtschaft aufs Festland schicken, freilich nur zum Sammeln zusätzlicher Daten.“ „Nein,“ sagte Chegory rundheraus. „Wir werden in die Stadt gehen, um Varazchavardan zu töten.“ Alle schauten ihn an. Die Erklärung seiner Absicht, einen Mord zu begehen, war Chegorys erste Reaktion auf die augenblickliche Lage gewesen. Jetzt, nachdem er eine gute Mahlzeit genossen und darüber nachgedacht hatte, war seine Absicht noch immer genau die gleiche. Also genau das, was man von einem Ebrellianer erwarten würde! Keinerlei Versuch, die Lage abwägend zu erörtern. Kein Gedanke an einen Kompromiss oder eine Verhandlung. Kein Vorschlag, eine Art Botschafter auszusenden, um die Sache mit ihrem Feind zu besprechen. Nein, nichts in dieser Art. Einfach das sofortige Votum für diesen Mord. Das ist kaum überraschend, da auf den Ebrellen die typischen Werkzeuge zur Konfliktbewältigung recht häufig Waffen mit scharfen Schneiden sind. Obwohl Chegory auf Untunchilamon geboren und aufgezogen worden war, so war er nichstdestotrotz in der kulturellen Tradition der Ebrellen aufgezogen worden. Überraschend war dagegen, dass sich nach kurzer Diskussion alle darin einig waren, dass Chegorys Plan tadellos, angemessen und vernünftig war. Odolo, der die Gnade der intimen Bekanntschaft mit Binchinminfin genossen hatte, hielt den Plan für eine ausgezeichnete Idee. Uckermark konnte sich seinerseits nichts Besseres vorstellen. Selbst Ivan Pokrov, der zielstrebige Student des Rationalen, hätte sich kein ausgeklügelteres Vorgehen ausdenken können. „Aber,“ sagte Ivan Pokrov, „wir sollten bei diesem Versuch lieber nicht unsere eigenen Leben aufs Spiel setzen.“ „Wahrscheinlich wird uns aber niemand sonst helfen wollen,“ sagte Uckermark. „Oh, da bin ich aber anderer Ansicht,“ sagte Pokrov. „Ich kann mir eine Gruppe von Leuten vorstellen, die uns vermutlich sehr gerne behilflich sein würde.“ Er erläuterte das. „Das ist viel zu gefährlich!“ sagte Odolo. „Sie könnten sich eher als Feinde denn als Freunde herausstellen!“ „Sie müssen ja nicht mitkommen, wenn Sie das nicht wollen,“ sagte Uckermark. „Ich will das nicht,“ sagte Odolo. Er war nicht in der Verfassung für Heldentaten. Er hatte Prellungen, war übel zugerichtet worden und sowohl körperlich wie geistig völlig erschöpft. „Dann bleiben Sie doch einfach hier,“ sagte Pokrov, „und der Rest von uns wird losziehen.“ „Sie?“ sagte Chegory. „Sie wollen mit uns kommen?“ „Um bei den Verhandlungen mit unseren künftigen Freunden zu helfen,“ sagte Pokrov. „Und… und um vielleicht diesem Dämon-Ding zu begegnen. Meine Neugier, müsst ihr wissen, ist jetzt geweckt.“ Damit war es also beschlossen. Uckermark, Ivan Pokrov und Chegory Guy würden sich nach Injiltaprajura begeben, um Hilfe für ihren Krieg gegen Varazchavardan zu suchen. Bald darauf waren sie unterwegs, nachdem sie sich in geeigneter Weise mit Waffen ausgerüstet hatten. Seite 217 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 29 Jods Helden liefen schwitzend durch die heiße Nacht zu Uckermarks Leichenladen, wo sie von Yilda und Log Jaris mit einem dringenden Verlangen nach mehr Informationen begrüßt wurden. Nachdem sich diese die ausführlichen Erläuterungen angehört hatten, die als Zugeständnis an Yildas Taubheit allesamt nahezu brüllend geäußert wurden, verkündete Log Jaris, dass er sich der Expedition zum rosa Palast anschließen wollte. „Ich auch!“ sagte Yilda. Aber ihr Partner verbot ihr das und löste dadurch einen Streit aus. Dank der Unterstützung aller anwesenden Männer triumphierte Uckermark bei dieser Auseinandersetzung über seine Gemahlin – ein wahrhaft seltenes Ereignis. Dann holte der Leichenmeister aus einem verborgenen Wandschrank eine Flasche mit einer seltsamen violetten Flüssigkeit. Sie glühte im Kerzenlicht in einem bösen, unheimlichen Schimmern. Die Flasche enthielt Drachenfeuer, eine spezielle Form jenes krebserregenden Gifts, das als Alkohol bekannt war, und das in seiner Wirkung nur noch vom Feuerwasser der Ebrellen übertroffen wurde. Ein wahrhaft übler Stoff! „Das sollte die Laune unserer Freunde versüßen, die sich mit diesen Dämonen eingelassen haben,“ sagte Uckermark. Was Geschenke anging, war dieses wirklich kostspielig, denn allein die Glasflasche war mehr wert als das, was die meisten Leute in einem ganzen Monat verdienten. Aber sie mussten einfach alles tun, was irgendwie möglich war, um die Wunderwirker als Verbündete in ihrem Krieg gegen Varazchavardan zu gewinnen. Die Hexer mussten überzeugt werden, dass der Meister der Rechte tatsächlich von dem Dämon Binchinminfin besessen war und deshalb vernichtet werden musste, um den pflichtvergessenen Dämon in die Welt des Jenseits zurückzutreiben. Die Helden zogen also hinaus, hinaus durch die Straßen der Nacht, in denen in jedem Torbogen gewaltige Schatten geronnenen Blutes lauerten. Die Nacht war schwül – und außergewöhnlich friedlich. Die Stille verriegelter Fensterläden lag schützend vor vielen Fenstern, die normalerweise von Lampenschein und Lachen erfüllt waren. Ganz Injiltaprajura wusste, dass sich gerade etwas Ungehöriges ereignete, und die Stadt hatte sich so mit Latten verkleidet, als ob ihr in Kürze ein Hurrikan begegnen würde. Durch diese Unheil verkündende Atmosphäre strebten unsere Helden dem Kabalenhaus entgegen – und stellten dort fest, dass man es vor ihnen verschlossen hatte. Oben auf dem Gebäude verbrannte man Nitrobenzol in einem hellen Signalfeuer, um alle Hexer Injiltaprajuras zu einer Versammlung einzuberufen. Nach dem lauten Tumult zu urteilen, der aus den oberen Räumen drang, hatten sich diese Respektpersonen dort tatsächlich versammelt. „Das klingt nach einer Party,“ sagte Uckermark, während er an die Tür klopfte. Da er keine Antwort erhielt, setzte Uckermark seinen Stiefel ein. Die Tür summte, glühte gelb auf, stieß Schwefel aus und hüllte sich dann in düsteres Schweigen. Er trat erneut zu. Diesmal wahrte die Tür eine unerschütterliche Unempfindlichkeit. Während der Leichenmeister die Tür trotzdem erneut attackierte, drehte sich Log Jaris um und lief davon. „Wo laufen Sie denn hin?“ sagte Chegory verwundert. Aber der Stiermann lief weiter, ohne zurückzublicken. Uckermark, der den Rückzug seines Kameraden ignorierte, setzte seine Tätlichkeiten gegen die Tür fort. Chegory Guy schloss sich ihm jetzt an, denn der junge Ebrellianer konnte dieser Versuchung nicht länger widerstehen. Chegory legte einen derartigen Eifer für das Treten, Pochen und Hämmern an den Tag, dass ihn Uckermark die Angriffe allein fortsetzen ließ. Der Leichenmeister trat dagegen einen Schritt zurück und brüllte aus Leibeskräften: „Kommt raus, ihr arschgefickten Hundefresser!“ Der Klang betrunkener Gesänge schwebte von oben herab, aber falls man Uckermark gehört hatte, so wurde er trotzdem ignoriert. Deshalb fing er an, die Himmelsbewohner ausführlich zu beschimpfen. Ein halbes Tausend obszöner Schimpfwörter später stellte Chegory seine Bemühungen ein, die Tür in Stücke zu schlagen. „Das ist zwecklos,“ sagte er, wobei er den überreichlich fließenden Schweiß von seiner erhitzten Stirn wischte. „Da werden wir niemals hineinkommen.“ Seite 218 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Ich denke schon, dass wir da hineinkommen,“ sagte Log Jaris, der von seinem Ausflug mit einem Vorschlaghammer zurückgekehrt war, den er sich auf seine Schulter gelegt hatte. Unverzüglich fing der Stiermann an, die ins Kabalenhaus führende Tür zu zerschmettern. „Ich weiß nicht, ob das wirklich klug ist,“ sagte Ivan Pokrov, der die Vorbehalte jedes braven Bürgers gegenüber mutwilligen Zerstörungen uneingeschränkt besaß. „Aber Sie wissen schon, wo Sie sich Ihre Klugheit momentan hinstecken können?“ sagte Log Jaris. Er schwang den Vorschlaghammer erneut. Einer der Türbalken zerbrach. „Orks!“ kreischte im Inneren eine zu Tode erschrockene Stimme. „Da draußen sind Orks!“ „Jawohl, Orks!“ brüllte Log Jaris. „Große riesige massive Orks mit blutbeschmierten Zähnen! Sie sind gekommen, um euch alle aufzufressen!“ Geräusche einer ausbrechenden Panik waren die Folge. Verstummten dann. Welche Hexer auch immer die Tür bewacht hatten, sie waren jetzt alle geflohen. „Diese feigen Wunderwirker,“ murmelte Log Jaris. Zertrümmerte die Tür dann vollständig und stürmte hinein, dicht gefolgt von Uckermark und Chegory Guy. Ivan Pokrov blieb draußen, denn obwohl sich der analytische Ingenieur auf Jod fürchterlich tapfer und mutig gefühlt hatte, hatte er die vielen Jahrtausende dadurch überlebt, dass er unnötige Risiken vermieden hatte, und Unsterbliche können ihre alten Gewohnheiten eben nur besonders schwer überwinden. Pokrovs waghalsige Gefährten fanden das Erdgeschoss des Kabalenhauses verlassen vor, abgesehen von den schweren Düften nach Weihrauch und Schwefel. Log Jaris setzte sich an die Spitze eines Sturmangriffs, der auf keine Gegenwehr stieß und die Helden geschwind hinauf in das oberste Stockwerk brachte. Dort fanden sie die Hexer, die schon vor einer Ewigkeit ihre Vorräte an alchemistischem Alkohol angebrochen hatten und jetzt alle voll und ganz betrunken waren. Einer, der noch nüchterner war als die anderen, stellte die Eindringlinge zur Rede. Nämlich wie folgt: „Was wollt ihr hier?“ Chegory kannte diesen Hexer. Das war Nixorjapretzel Rat, Varazchavardans ehemaliger Lehrling. „Wir sind hier, um Hilfe zu suchen,“ sagte Log Jaris. „Verpisst euch,“ sagte Rat. „Falls du das noch nicht wissen solltest,“ sagte Uckermark, „ein Dämon namens Binchinminfin hat von deinem Meister Aquitaine Varazchavardan Besitz ergriffen.“ „Der ist nicht mehr mein Meister,“ sagte der betrunkene Rat. „Ich bin letztes Jahr zum Hexer befördert worden.“ „Zur Hölle mit deinen Spitzfindigkeiten!“ sagte Uckermark. „Hörst du mir eigentlich zu? Es gibt da einen Dämon, einen…“ „Wissen wir, wissen wir,“ sagte Rat. „Wir wissen alles darüber. Es kann vielleicht das Ende Untunchilamons bedeuten. Es kann vielleicht das Ende der Welt bedeuten.“ „Warum?“ sagte Chegory. „Es ist, ähm, doch nur ein Dämon, okay? Mit dem können wir es doch aufnehmen, wenn wir uns gegen ihn verbünden, stimmt’s?“ „Du hast ja keine Ahnung,“ sagte Rat. Der dabei dicke Tränen der Furcht, des Kummers und des Selbstmitleids weinte. „Die Dämonen haben nur wenig Sinn für Selbstdisziplin. Das Große Abkommen der Hohen Einwilligungsmächte ist schon lange gefährdet gewesen…“ Seite 219 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Oh, hör bloß auf mit diesem Quatsch!“ sagte Uckermark voll ungeduldigem Zorn. „Auf was willst du hinaus? Drück’ dich gefälligst deutlicher aus!“ „Ich meine,“ sagte der junge und immer noch heulende Hexer, „wenn erst einmal ein Dämon aus der Reihe tanzt, dann werden das andere ebenso tun.“ „Was bedeutet dein Geschwätz für Außenstehende wie uns?“ sagte Log Jaris. „Willst du uns damit sagen, dass andere Dämonen das Gleiche wie Binchinminfin tun werden?“ Ein älterer, klügerer und wortgewandterer Hexer torkelte zu ihnen herüber und sagte: „So, wie ein einziger Rädelsführer eine Menge anständiger Menschen in einen wilden Pöbel verwandeln kann, kann auch ein einziger pflichtvergessener Dämon den eifersüchtigen Haufen seiner Kameraden zu verbrecherischen Handlungen anstacheln, selbst wenn die Dämonen genauso wie die Hexer wissen, dass die Zerstörung der gesamten Welt die Folge wäre. Bis morgen früh kann vielleicht schon jeder Kopf in dieser Stadt einen Dämon beherbergen. Wenn das passiert, wird tags darauf die Welt untergehen.“ „Und was unternehmt ihr so dagegen?“ sagte Uckermark verächtlich. „Ihr besauft euch wohl bis zum Umfallen? Oder wie?“ „Wir arbeiten daran,“ sagte der ältere Hexer. Offenkundig meinte er damit, dass sie daran arbeiteten, betrunkener zu werden, denn er drehte sich um und ergriff die näheste Flasche Alkohol mit der deutlichen Absicht, genau das zu tun. „Rat!“ sagte Uckermark. „Wir wollen zum Palast gehen, um uns mit diesen Dämon anzulegen. Du musst uns begleiten!“ „Das werde ich nicht tun!“ sagte Rat, der keine Lust hatte, einen Selbstmord zu begehen. „Hinfort! Hinfort, sage ich! Oder ich verwandle dich in einen Frosch!“ Dann hob Rat seine Hände und begann mit einer hohen und grässlichen Stimme zu rufen. Einer von Uckermarks Stiefeln verwandelte sich prompt in einen Frosch. Da auf ihm zu diesem Zeitpunkt das volle Gewicht des Leichenmeisters lastete, war die unerwartete Fleischwerdung seines Stiefels als schwimmfüßige Amphibie hauptsächlich wegen ihrer kurzen Dauer bemerkenswert. „Na los,“ sagte Log Jaris. „Lasst uns verschwinden.“ Nixorjapretzel Rat hob erneut seine Hände. Rief irgendetwas laut vor sich hin. Die Helden eilten zu der Treppe. Feuer schoss hinter ihnen her. Sie duckten sich und flohen. Beim ersten Treppenabsatz hielten sie keuchend an. Der junge und unbarmherzige Rat stand soeben oben an der Treppe und hatte erneut die Hände erhoben. Er sprach mit einer hohen zischenden Stimme. Die Luft flimmerte. Ein gutes halbes Dutzend Steine direkt über den Helden verwandelte sich in Butter. Einer der Steine war der Schlüsselstein des Gewölbes gewesen. „Oh Scheiße!“ sagte Uckermark. Setzte sich dann an die Spitze des Rückzugs, indem er acht Stufen mit einem einzigen Satz hinabsprang. Hinter den Helden ächzten die Steine. Dann stürzte mit lautem Getöse das Gewölbe ein. Steintrümmer prasselten ihnen hinterher. Als die Helden am unteren Ende anhielten und zurückblickten, sahen sie, dass die Steinlawine die Treppe völlig versiegelt hatte. Bis auf den letzten Mann saßen Untunchilamons Wunderwirker im Kabalenhaus in der Falle. „Borgan!“ sagte Log Jaris. Nachdem er dieser Obszönität Ausdruck verliehen hatte, ging er als Erster nach draußen. Der Klang betrunkener Gesänge schwebte noch immer von den obersten Räumen des Kabalenhauses herab. Seite 220 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Schlecht gelaufen?“ sagte Ivan Pokrov, der die ganze Zeit geduldig auf der Straße gewartet hatte. „Naja, wir haben schon etwas erfahren,“ sagte Uckermark, der dabei seinen anderen Stiefel auszog, weil er es für leichter hielt, barfuß statt einstieflig herumzulaufen. „Was denn?“ sagte Pokrov. „Der Dämon Binchinminfin hat definitiv von Varazchavardan Besitz ergriffen. Wenigstens das haben uns die Hexer bestätigt. Außerdem haben sie gesagt, dass ihm dort, wo sich ein einzelner pflichtvergessener Dämon hinbegeben hat, Tausende folgen könnten.“ „Na schön,“ sagte Chegory, der versuchte, dabei forsch und tapfer zu klingen. „Alles klar soweit, stimmt’s? Es bleibt, ah, naja, nur eine Lösung für uns. Wir gehen zum Palast, alles klar, dann wird’s Zeit, die Messer einzusetzen, so soll es sein, wir schlachten diesen Dämon ab, Mann gegen Mann.“ Aber sie taten nichts dergleichen, denn ehe sie noch etwas derart Tapferes oder Dämliches tun konnten, traf Yilda bei ihnen ein, die keuchend die Straße hochgelaufen kam. „Kommt zurück!“ sagte sie. „Zurück zum Leichenladen! Schnell, schnell!“ „Warum?“ sagte Uckermark. Sobald Yilda Luft geschöpft hatte, erklärte sie es ihnen. Nachdem sie ihre Erklärung gehört hatten, eilten alle zurück zum Leichenladen. Sie stürzten durch die weit aufgerissene Tür hinein und eilten auf den rückseitig gelegenen Hinterhof hinaus. Dort beaufsichtigte eine sonnenhelle Lichtkugel einen bunt zusammengewürfelten Haufen von Gesindel. „Hallo, Schäbbel,“ sagte Log Jaris, der den Dämon von Jod schon lange kannte. „Was hast du uns denn da mitgebracht?“ „Gefangene!“ sagte Schäbbel und quiekte dabei vor Begeisterung. Gefangene waren das in der Tat. Erschöpfte, ausgezehrte, nervlich zerrüttete Gefangene. Die fraglichen Pechvögel waren Arnaut, Al-ran Lars, Tolon, Guest Gulkan, Thayer Levant, Pelagius Zozimus und Hostaja Sken-Pitilkin. Nachdem sie dem Dorgi begegnet waren, hatte sie Schäbbel durch die Fugen der Unterwelt getrieben, bis sie endlich, nachdem sie einer mit Bedacht gewählten kreisförmigen Strecke gefolgt waren, in das Sternenlicht des nächtlichen Injiltaprajuras hinausgetreten waren. Dann hatte sie der Dämon von Jod zum Leichenladen gebracht. „Ihr riskiert eine Menge, uns einfach so gefangenzunehmen,“ sagte Pelagius Zozimus. Fest klang die Stimme des Zauberers von Xluzu, und streng war sein Gehabe, denn sein Stolz erlaubte ihm nicht, seinen verwelkten Zustand einzugestehen. Dagegen sah sein Cousin Hostaja Sken-Pitilkin so aus, als ob er an der Schwelle des Todes stünde, während er zusammenhanglos mit der zittrigen Stimme eines alten Mannes am Rande der Senilität herumnuschelte. „Wir riskieren überhaupt nichts,“ sagte Uckermark. „Das Risiko liegt ganz allein bei Schäbbel.“ „Aber, mein Herr,“ sagte Pelagius Zozimus zu Uckermark, „ist dieser Kobold mit den schlechten Manieren denn nicht Ihr Diener?“ „Ruhe!“ sagte Schäbbel, der zwar nicht wusste, was ein Kobold war, aber annahm, dass diese Bezeichnung als Beleidigung gemeint war. „Denn falls er das ist,“ fuhr Zozimus fort, „dann bin ich…“ Seite 221 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Ruhe!“ sagte Schäbbel erneut, diesmal mit einer weiblichen Stimme, die sich furchterregend anhörte. Jawohl, Schäbbel hatte sich erneut die Stimme von Anaconda Stogirov, der Sicherheitschefin des Goldenen Gulag, geborgt. Eine Stimme, die allezeit sowohl Furcht als auch Respekt eingeflößt hatte. Anaconda Stogirov! Was wissen wir über sie? Dass sie – [Hier sind dreißigtausend Worte ausgeklügelter Hirngespinste gelöscht worden. Ich muss hier die Fakten wiederholen, die ich bereits in meiner redaktionelle Bemerkung verdeutlicht habe. Dieser „Goldene Gulag“ ist vollkommen mythisch, der Urheber ist in vielerlei Hinsicht ein verantwortungsloser Fantast, und dieser Text muss in seiner Gesamtheit mit der allergrößten Vorsicht behandelt werden. Drax Lira, Chefredakteur.] – folglich ist uns nunmehr klar, dass Stogirov eine schlimmere Frau als die Eiserne Dame aus den Legenden über den Todeszyklus gewesen war. Wie auch immer – kehren wir zu unserer Chronik zurück. Sie werden sich vielleicht erinnern, dass wir (vor etwa 30000 Worten) Schäbbel zusammen mit Schäbbels Gefangenen im Hof des Leichenladens verlassen haben. Zozimus hatte gerade aufgebracht gegen die Gefangennahme protestiert, und obwohl mittlerweile 30000 Worte vergangen sind, treffen wir ihn immer noch aufgebracht an. Wie auch immer, um somit wieder in die zeitliche Form unserer Erzählung (die Vergangenheitsform) zurückzukehren, lassen Sie uns ihn vorfinden, wie er gerade sagt: „Ich bin Justinas Meisterkoch! Ein kaiserlicher Diener! Meine Herrin wird euch bei lebendigem Leib rösten lassen, wenn ihr mich nicht augenblicklich freilasst!“ Dieser Bluff war zwecklos, denn Uckermark wusste bereits, dass Zozimus nichts weiter als ein ausländischer Dieb war, und Zozimus wusste, dass er das wusste. Dennoch war dieser Bluff eine tapfere rhetorische Leistung, wenn man bedenkt, dass der arme Zozimus so müde war, dass er sich wie betrunken fühlte. „Vielleicht wird man ja wirklich jemanden bei lebendigem Leib rösten,“ sagte Uckermark grinsend. „Und zwar bald! Schäbbel wird nämlich dich auf der Stelle rösten, wenn ich ihn darum bitte.“ In diesem Moment erblickte er den Wunschstein in Arnauts Händen. Er nahm ihn mit einem höflichen „Danke“ an sich. Sagte dann zu Schäbbel: „Warum hast du diese Leute hierhergebracht, mein kleiner Freund?“ „Das sind allesamt Verbrecher, die sich Verbrechen gegen den Staat schuldig gemacht haben,“ sagte Stogirovs Stimme. „Sie sollen allerlei periphere Amputationen erleiden, ehe sie die allerblutigsten Hinrichtungen erdulden werden. Sie…“ „Das reicht!“ sagte Ivan Pokrov, dem das alles, anders als Uckermark, überhaupt keinen Spaß machte. „Schäbbel! Reiß dich zusammen! Oder ich bring’ dich zu einem Therapeuten! Jetzt sofort!“ Schäbbel quiekte vor Angst. Das Licht des Leuchtenden wurde immer dunkler, bis die nur noch schwach glühende Kugel in der Dunkelheit kaum noch sichtbar war. Die derart verfinsterte Sonne schwebte langsam auf Chegory Guy zu, der mit dem armen Schäbbel Mitleid hatte und den traurigen und schuldbewussten Dämon in die geräumigste Tasche seiner kanariengelben Robe stopfte. „Danke, dass Sie ihren Kobold in seine Schranken verwiesen haben,“ sagte Zozimus. „Nun, als ein Diener der Kaiserin…“ „Kaiserin Justina ist eine Gefangene, und vermutlich bereits tot,“ sagte Ivan Pokrov, der ihn unterbrach, ohne sich dafür zu entschuldigen. „Wir haben hier eine Krisensituation. Sie müssen uns helfen, einen Dämon zu töten.“ „Einen Dämon?“ sagte Zozimus, der einen Augenblick lang sprachlos war. Er schlotterte dann, als ob er soeben aus äußerst kaltem Wasser aufgetaucht wäre, presste die Finger gegen seine Schläfen, als ob er sich anstrengen würde, seine Müdigkeit durch Ausübung nackter Gewalt zu vertreiben, und sagte dann knapp: „Erklärungen!“ Pokrov übernahm die Aufgabe, die Situation auf Ashmarlan zu erklären. Tolon hörte teilnahmslos zu (vielleicht verstand er etwas, vielleicht auch nicht), aber Arnaut verlangte eine Übersetzung ins Malud, mit der ihn dann Al-ran Lars versorgte. Inzwischen übertrug Pelagius Zozimus Pokrovs Rede ins Toxteth zugunsten von Guest Seite 222 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Gulkan, der diese Übersetzung auf Bitte Thayer Levants in einer vollkommen anderen Sprache wiedergab. Hostaja Sken-Pitilkin, der vorübergehend unzurechnungsfähig war, kümmerte sich überhaupt nicht um diese Unterhaltung. „Duggerlop,“ murmelte Thayer Levant, als ihn die Übersetzung einer Übersetzung über seine Situation aufgeklärt hatte. Die genaue Bedeutung dieser Aussage ist zwar unklar, aber man kann vernünftigerweise annehmen, dass sie ein Ausdruck äußersten Unbehagens war. Levant wechselte dann mit Guest Gulkan weitere Worte in einer Sprache, die allen Zeugen, die uns darüber informiert haben, unbekannt gewesen war. Woraufhin Guest Gulkan die anderen in leidlich gutem Toxteth ansprach: „Mein guter Freund Thayer Levant möchte anmerken, dass wir persönlich nichts gegen Varazchavardan haben. Wenn ihr also wollt, dass wir euch helfen, ihn zu töten, werden wir das tun – aber nur, wenn wir dafür ein angemessenes Entgelt erhalten.“ „Wir werden euch den Wunschstein schenken,“ sagte Pokrov großzügig. Uckermark und Log Jaris warfen sich gegenseitig Blicke zu. Wie konnte dieser analytische Ingenieur nur so etwas Dämliches von sich geben? Der Wunschstein war von unermesslichem Wert. Dennoch konnte man diese Worte nicht mehr ungesagt machen. Sie entfachten ein Gezeter, sowohl bei den Marodeuren vom Volk der Malud als auch bei Guest Gulkans Fraktion. Beide Seiten wollten den Wunschstein unbedingt haben. Im Nu war Leben in die Nacht gekommen, denn beide Seiten hatten ihre Waffen gezückt und sich kampfbereit aufgestellt. „Schäbbel!“ sagte Pokrov, der dachte, er könnte mit Hilfe seines „Kobolds“ die Ordnung wiederherstellen. Schäbbel lag reglos in Chegorys Tasche. Aber Chegory fummelte den jetzt Nicht-Leuchtenden aus dieser Tasche und warf den Therapeuten-Fürchtenden in die Luft. Schäbbel fiel wie ein Stein zu Boden. Das Spielzeug, das schon so viele Jahrtausende überlebt hatte, stellte sich tot. „Jetzt reicht’s aber!“ brüllte Log Jaris. Toxteth ist eine Sprache, die sich hervorragend zum Brüllen eignet, deshalb hatte er in dieser Sprache gebrüllt. Sebst diejenigen, die seine Vokabeln nicht verstanden hatten, legten trotzdem eine Pause ein. Log Jaris trat den Möchtegern-Streithähnen entgegen. Das war eine sehr kitzlige Situation. Schäbbel war nie auf die Idee gekommen, seine Gefangenen zu entwaffnen, die für ein Gemetzel gut ausgestattet waren. Würde es den Gefangenen einfallen, sich zu verbünden (was sie in Kürze mit Sicherheit tun würden), dann könnten sie Log Jaris und seine Freunde mit Leichtigkeit überwältigen. „Der Dämon Binchinminfin spukt in Varazchavardans Fleisch herum,“ sagte Log Jaris. „Ein derart besessener Varazchavardan wird für unseren Untergang sorgen, es sei denn, wir sorgen vorher für seinen Untergang. Aus Untunchilamon gibt es kein Entrinnen, bis Fistavlir zu Ende ist und die Winde wieder neu aufleben. Oh, vor sterblichen Menschen könnten wir freilich in einem flachen Kanu fliehen – aber vor einem Dämon?“ „Ich würde mein Glück mit einem Kanu versuchen,“ sagte Guest Gulkan. „Gebt mir nur den Wunschstein, und schon werde ich auf und davon sein.“ „Was willst du denn mit dem Wunschstein machen?“ sagte Log Jaris. „Die Welt beherrschen,“ sagte Guest Gulkan. Der Stiermann lachte herzhaft. „Dieses Ding,“ sagte Log Jaris und nahm dabei den glitzernden Triakisoktaeder aus Uckermarks Händen, „beherrscht gar nichts. Wunschstein wird dieses Ding zwar genannt, aber es erfüllt keine Wünsche. Es ist nur ein Spielzeug. Eine Spielerei. Opal und Diamant in einem, deswegen hochgeschätzt – aber nutzlos für jegliche Machtausübung.“ Seite 223 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Falsch!“ sagte Guest Gulkan. „Der Wunschstein ist ein äußerst machtvolles Instrument für jene, die es zu gebrauchen wissen.“ „Mal angenommen, wir händigen ihn dir wirklich aus,“ sagte Log Jaris. „Kannst du damit Varazchavardan beseitigen? Kannst du Binchinminfin besiegen? Kannst du Injiltaprajura auf den Kopf stellen und das Innere der Stadt nach außen kehren?“ „Jawohl!“ sagte Guest Gulkan, dessen Stimme wegen seiner ungezügelte Gefühle zitterte. „Gib ihn mir! Er gehört mir!“ Er streckte seine Hand danach aus. Tolon knurrte vor lauter Missbilligung. Schwerter zuckten in die Höhe, waren bereit, jeden Moment zuzuschlagen. Alle waren bereit für das Gemetzel. Dann, in einem einzigen Augenblick, entwickelte sich Schäbbel vom Stein zum Glühwürmchen, vom Glühwürmchen zur Kerze, von der Kerze zur Sonne. Nachdem er sich derart entwickelt hatte, sprang der Leuchtende himmelwärts. Die Schwertkämpfer wichen vor seinem gleißenden Licht zurück. Dann sprach Schäbbel mit gurrender weiblicher Stimme, die äußerst wohlklingend und wunderschön anzuhören war, die folgenden süßen Worte: „Kämpft nicht, meine lieben Freunde. Denn wenn ihr das tut, meine lieben Freunde, dann muss ich euch leider zu Asche verbrutzeln.“ Diese lieblich klingende Todesdrohung sorgte für Ordnung in Uckermarks Hof und machte den Weg frei, damit die langwierigen und verwickelten dreiseitigen Verhandlungen beginnen konnten. Es wäre ermüdend, diese komplizierten Verhandlungen in allen Einzelheiten wiederzugeben, aber des Pudels Kern kann man in wenigen Augenblicken schildern. Von den anwesenden drei Parteien wollte nur Guest Gulkans Fraktion den Wunschstein um seiner selbst willen haben. Die Marodeure vom Volk der Malud waren hinter der wertvollen Kugel nur deshalb her, weil sie wussten, dass man sie anderswo gegen fabelhafte Reichtümer eintauschen konnte. Und wenn Uckermark und seine Freunde scharf auf dieses Ding waren, dann geschah das ebenfalls nur deshalb, weil sie es verwenden wollten, um reich zu werden. „Dann gibt’s doch gar kein Problem,“ sagte Log Jaris, nachdem alle Parteien ihre Position klargestellt hatten. „Wenn wir Varazchavardan töten, werden wir Helden sein. Wenn wir sicherstellen, dass Kaiserin Justina weiterhin über Untunchilamon herrschen kann, wird uns ihre Dankbarkeit erlauben, die Schatzkammer vollständig zu plündern. Man wird selbst den Geringsten unter uns mit Reichtümern und Auszeichnungen überhäufen. Wir werden auf Perlen schlafen und in flüssigem Gold schwimmen. Wenn unser Freund Guest Gulkan damit zufrieden sein will, sich mit dem Wunschstein abzufinden, dann wird sich der Rest von uns sicherlich für die Schätze entscheiden.“ „Aber,“ widersprach Chegory, „was wäre, wenn, ähm, wenn dieser Gulkan-Kerl den Wunschstein einsetzt, um, naja, um uns die Köpfe abzuhacken, oder so? Er hat doch gesagt, dass es ein Ding der Macht ist, nicht wahr?“ „Jetzt übertreib’s mal nicht!“ sagte Pelagius Zozimus. „Du glaubst doch wohl auch sonst nicht alles, was man dir erzählt, oder?“ „Ihr Gulkan-Mann hat gesagt, dass der Wunschstein ein Ding der Macht ist,“ sagte Chegory verbissen. „Ich will wissen, was er wirklich ist. Was er bewirkt.“ Zozimus seufzte. „Das ist eine lange Geschichte,“ sagte er, „und die Nacht ist schon viel kürzer, als uns recht sein kann. Wenn du es aber unbedingt wissen musst, dieser Wunschstein ist in Wahrheit der X-x-zix der Iltong-Legende, von der du Seite 224 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 noch nie gehört hast. Er wurde von den Dissidenten hergestellt, über die du überhaupt nichts weißt, um die Atemzüge des Kalten Westens zu kontrollieren, eines Ortes, der seltsamer als alles ist, was du dir vielleicht vorstellen kannst. Sobald wir den X-x-zix in den Kalten Westen gebracht haben, können wir um die Herrschaft über Chi’ash-lan kämpfen, also über eine Stadt, in der du nie gewesen bist und das auch niemals sein wirst. Der Erfolg wird uns die Kontrolle über eine Tür einbringen. Dann können wir uns darum bemühen, die Herrschaft über den Kreis zu erlangen. Daraus wirst du jetzt auch nicht schlauer – aber schlauer wirst du sowieso nie werden. Wir haben eine Abmachung. Wir dürfen unsere Zeit nicht länger verschwenden. Auf zum Palast! Um uns diesem Dämon zu stellen! Um ihn auf der Stelle zu töten!“ All das wurde im fürchterlichsten Schnellfeuer-Geknatter gesagt, das man sich nur vorstellen konnte, denn selbst übermüdet blieb der eindrucksvolle Zozimus ein brillianter Zauberer, der nur wenig Geduld mit Dämlichen oder Ahnungslosen hatte. Chegory beharrte darauf, dass er zwar noch immer kein Wort verstand, aber genau das tun wollte und würde. Aber er wurde überstimmt. „Wir haben schon zuviel geredet,“ sagte Uckermark und zog dabei seine zweitbesten Stiefel an. „Freund Zozimus hat recht. Lasst uns losziehen. Zuerst aber…“ „Zuerst was?“ sagte Zozimus ungeduldig. „Ich habe eine Flasche, die ich eigentlich bei den Wunderwirkern für einen Tauschhandel einsetzen wollte, aber sie sind nicht in der Stimmung gewesen, sich auf einen Tauschhandel einzulassen. Und daher…“ Und daher trug der wieder gestiefelte Uckermark eine bunte Ramsch-Sammlung von Bechern, Näpfen und Krügen zusammen. Unter völliger Missachtung der Gesetze Injiltaprajuras entkorkte er seine Flasche mit Drachenfeuer und schenkte jedem Anwesenden (mit Schäbbel als einziger Ausnahme) ein Schlückchen ein. „Ein Toast,“ sagte Uckermark. Dieses „Toast“ genannte Ding ist eines der Rituale dieser alkoholabhängigen Drogenkonsumenten. Es ist eine sehr wichtige Zeremonie, die dem Kult der Drogenkonsumenten unmittelbar am Herzen liegt. Studenten derartiger Verirrungen glauben in der Tat, dass für viele Süchtige solche Rituale fast genauso wichtig wie die tatsächliche alchemistische Wirkung dieser giftigen Substanzen sind. „Ein Toast,“ sagte Uckermark. „Auf… auf Justina Thrug!“ Alle erhoben ihre Behälter des Todes und tranken dann daraus. Der nuschelnde und murmelnde Hostaja SkenPitilkin war so zittrig mit den Händen, dass er seinen Trank zur Hälfte verschüttete, aber er schaffte es, den Rest zu schlucken. Nur Chegory Guy ließ seinen Becher unberührt. „Du trinkst ja gar nicht mit uns, mein Junge,“ sagte Uckermark in schwer enttäuschtem Ton. „Ich hab’ eine Magenverstimmung,“ sagte Chegory lahm. In Wahrheit dachte er gerade an Olivia. An sie, die (zumindest in seiner Vorstellung) so rein und unbefleckt war. Er schämte sich über die vielen Gelegenheiten der letzten Zeit, bei denen er sich mit Alkohol besudelt hatte. Jetzt war er aber fest entschlossen. In Zukunft würde er seine Reinheit für sie bewahren, den Schrecken der Drogen widersagen und unerschütterlich abstinent bleiben. „Also gut,“ sagte Uckermark philosophisch, „wenn du krank bist, dann bist du eben krank.“ Dann ließ er sich Chegorys Anteil am Drachenfeuer schmecken. „Okay!“ sagte Uckwermark. „Lasst uns aufbrechen! Schäbbel, du zeigst uns den Weg!“ Aber Schäbbel hatte sämtliche Verhandlungen und Erläuterungen, die im Leichenladen stattgefunden hatten, sehr genau verfolgt. Der Sonnenimitator wollte nichts mit dem Töten von Dämonen zu tun haben, vor allem auch deshalb, weil sich ganz einfach dieser Binchinminfin als hinreichend gefährlich angehört hatte, um einen armen wehrlosen Schäbbel zu töten. Also stellte sich der Kindliche wieder tot. Seite 225 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Schäbbel!“ sagte Pokrov und versetzte dabei der todestrüben Kugel einen Tritt. „Wach’ auf! Oder ich hol’ einen Therapeuten! Das werd’ ich wirklich tun, weißt du?“ Aber Schäbbel wachte nicht auf. Also steckte Chegory Schäbbel erneut in seine Tasche, und die Helden (jetzt zehn an der Zahl) machten sich auf den Weg zum Palast, während sie Yilda als alleinige Besitzerin des Leichenladens zurückließen. Da keine der drei Fraktionen den beiden anderen vollständig traute, nahm Uckermark höchstpersönlich den Wunschstein mit, damit keine Fraktion die anderen während der Schlacht im Stich lassen und zurück zum Leichenladen rennen würde, um ihn an sich zu reißen. [Der Urheber irrt. Sie waren nicht zu zehnt. Sie waren in Wirklichkeit elf an der Zahl. Guest Gulkan, Thayer Levant, Pelagius Zozimus, Hostaja Sken-Pitilkin, Al-ran Lars, Arnaut, Tolon, Chegory Guy, Uckermark, Log Jaris und Ivan Pokrov. Zwölf, wenn man den Kobold Schäbbel mitzählt. Prill, niederrangiger Pedant.] Seite 226 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 30 Mit festem Griff hielt die Dunkelheit die Helden umschlungen, hielt sie in enger Umarmung, als sie zum rosa Palast mit einer Begeisterung eilten, die das Drachenfeuer, das sie zu sich genommen hatten, nur noch mehr entfachte. Der Schnaps hatte in ihren Bäuchen ein wahres Feuer entzündet. Selbst der vor sich hin nuschelnde Hostaja Sken-Pitilkin bewegte sich entschlossen (wenn auch torkelnd) vorwärts. Den Skindik-Weg liefen sie hinauf, am Schlachthaus vorbei, an Ganthorgruk und an der Dromdanjerie vorbei, bis zur Lak-Straße. Als sie am Kabalenhaus der Wunderwirker vorüberkamen, hörten sie, dass die Party darin immer noch in vollem Gang war. Sie liefen weiter, vorbei an dem schiffsgroßen knöchernen Klotz, den man Perle nennt, dann vorbei an den Häusern der Bedeutenden und Einflussreichen, die im blaugrünen Licht des Mondlacks schimmerten. Vor ihnen ragte der rosa Palast auf. Düster wie ein unbeseelter Totenschädel. Chegory begann, ein wenig hinter den anderen zurückzubleiben, denn wenn die Gefahr einer gegenseitigen Vernichtung auch gebannt schien, so war er dennoch entsetzt über die prahlerisch übertriebene Zuversicht seiner heldenhaften Gefährten. Weil sich der junge Ebrellianer nicht des geringsten Verzehrs von Alkohol schuldig gemacht hatte, beteiligte er sich nicht an diesen Aufschneidereien. Sein Kopf war klar, und er hatte deshalb Zeit gehabt, nachzudenken. Er hatte wirklich nachgedacht. War die Idee, Varazchavardan zu töten, auch wenn sie ursprünglich von ihm stammte, wirklich so eine schlaue Sache? Dieser Mann war also von dem Dämon Binchinminfin besessen. Na und? Wen sollte es schon kümmern, ob nun ein Dämon über Untunchilamon herrschen würde oder nicht? Sicherlich würde sich der Dämon in einem gewissen Umfang mit Schändungen, Plünderungen und Folterungen beschäftigen, denn aus der Überlieferung wissen wir ja, dass dämonische Wesen aus der Welt des Jenseits süchtig nach solchen Betätigungen sind. Aber – jetzt mal im Ernst – könnte ein Dämon wohl schlimmer sein als Aldarch der Dritte? Sie hatten freilich einen schlechten Ruf, diese Dämonen, aber dieser Ruf beruhte größtenteils auf Hörensagen. Sollte Binchinminfin über Untunchilamon herrschen, wäre die Insel bestimmt sicher vor dem Schlächter von Yestron. Wobei das ein schwerwiegender Gesichtspunkt war, jetzt, wo es doch sehr danach aussah, dass der Schlächter den Bürgerkrieg gewinnen würde, der gerade im Izdimir-Reich wütete. Schon richtig, die Wunderwirker hatten behauptet, dass Binchinminfin nur der erste in einem ganzen Ansturm von Dämonen sein würde, der die ganze Welt zerstören würde. Aber durfte man den Wunderwirkern unbedingt Glauben schenken? Rückblickend glaubte Chegory, dass sich die Hexer im Kabalenhaus alle viel zu sehr amüsiert hatten. Vielleicht war die Welt ja wirklich in Gefahr. Aber er hatte den starken Verdacht, dass die Wunderwirker das nur als Ausrede gebraucht hatten, um sich mit alchemistischem Alkohol volllaufen zu lassen. Dass die Welt auch in zehn Tagen noch vorhanden sein würde, und dass die Hexer das sehr wohl wussten. Als Chegory dies alles endlich bedacht hatte, befand er sich am Eingang des rosa Palastes. Er war jedoch so weit zurückgefallen, dass die anderen nicht mehr in Sichtweite waren. „Na schön,“ sagte Chegory, „das ist deren Problem, nicht meins.“ Er rieb mit den Händen über sein Gesicht, um den Schweiß wegzuwischen, der so ungehemmt aus seiner Haut sprudelte, hockte sich dann im Säulengang hin, lehnte sich an einen der dunklen Pfeiler, die eigentlich rosa waren, wie er wusste, und wartete ab. Nach einer Weile kroch Schäbbel aus Chegorys Tasche, erhob sich in die Luft bis zu einer Höhe von siebzig Inkas und begann, sanft zu glühen. „Also lebst du ja doch noch,“ sagte Chegory schlecht gelaunt. Fröhlich stimmte ihm Schäbbel zu und fing dann an, ein heiteres Liedlein zu singen. Seite 227 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Mach’ dein Licht aus,“ sagte Chegory. „Du bist ein Signalfeuer für jede Motte, die jemals erschaffen worden ist.“ Aber der Dämonische wurde allmählich heller und begann, in der Luft herumzutanzen, um mit den Motten zu spielen. Chegory überlegte, ob er seinem verantwortungslosen Freund mit einem Therapeuten drohen sollte (egal, was der auch sein mochte). Diese Drohung funktionierte ja wohl immer. Aber er war zu müde, sich diese Mühe zu machen. Ein Kamikaze-Käfer zerschellte an dem Signalfeuer, das sich vor Therapeuten fürchtete, und das sich daraufhin eng an Chegory schmiegte, um auf diese Weise die Trümmer des Käfers zu entfernen. Chegory schob Schäbbel von sich fort und wischte sich erneut mit den Händen über sein Gesicht. Er schwitzte noch immer. Er hatte bisher gar nicht gewusst, dass es so heiß werden konnte! Wenigstens gibt es keine Moskitos. So dachte Chegory. Natürlich hörte er schon im nächsten Moment einen Moskito, der neben seinem rechten Ohr durch die Luft summte. Er patschte nach dem Moskito. Er verfehlte ihn. Schlug sich dabei aber richtig schmerzhaft auf sein eigenes Ohr. „Schäbbel,“ sagte Chegory, „warum machst du dich nicht ein wenig nützlich? Schau doch mal, wo unser lieber Freund Ivan Pokrov hingegangen ist.“ „Wir wissen, wo er hingegangen ist,“ sagte Schäbbel. „Er ist dort hineingegangen, um den Dämon Binchinminfin zu töten.“ „Na schön, und warum gehst du nicht auch hinein, so wie er?“ sagte Chegory. „Du hast doch wohl keine Angst vor diesem kleinen alten Dämon, oder?“ „Bin mir da nicht so sicher,“ sagte Schäbbel zurückhaltend. Obwohl sich Schäbbel manchmal den Spaß erlaubte, so zu tun, als ob er ein Dämon wäre, war sich der vorsichtige Überlebende vieler Jahrtausende in Wahrheit gar nicht hundertprozentig sicher, was ein Dämon eigentlich war. Außerdem hatte Schäbbel überhaupt keine Eile, dies auf die harte Tour herauszufinden. Chegory wartete noch ein wenig. Hörte dann Schritte, die taumelnd näherkamen. Bedächtig stand er auf. Er starrte in die Finsternis im Inneren des Palastes. Ivan Pokrov trat aus dieser Finsternis hervor und stellte sich vor Chegory hin. Wobei er schwankte. „Passt alles bei Ihnen?“ sagte Chegory. „Ich lebe noch,“ sagte Pokrov. Wurde dann ohnmächtig. Als der analytische Ingenieur zusammensackte, fing ihn Chegory auf. Schleifte ihn von den Portalen des rosa Palastes weg. Legte ihn auf den nachtwarmen Stein des Säulengangs nieder. Pokrovs Atmung war in Ordnung, und der Puls in seinem schmalen Handgelenk war kräftig und langsam. Er würde überleben. Chegory fühlte dann seinen eigenen Puls, der panisch dahinraste. Du hast Schiss! Er hatte wirklich Schiss. Die Angst hatte seine Müdigkeit verdrängt, und er fühlte sich in der Lage, schnell davonzulaufen. Aber das konnte er nicht. Olivia war noch immer im Palast. Er kehrte zu den Portalen zurück, ballte seine Fäuste und versuchte, den Mut aufzubringen, sich hinein zu wagen. Ich hätte lieber mit den anderen hineingehen sollen! Chegory blieb keine Zeit für weitere Selbstvorwürfe, denn aus der Tiefe des Palastes kam etwas Großes, Grünes und Leuchtendes auf ihn zu. Er duckte sich hinter eine Säule. Als das grünleuchtende Ding vorüber schwebte, Seite 228 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 sah Chegory, dass es eine Kapsel aus Licht war. In ihrem Inneren befand sich der junge Mann vom Volk der Malud, Arnaut aus Asral. „He!“ rief Chegory. „He, was zur Hölle geht hier vor?“ Arnaut zappelte wie wild in seinem Licht-Kokon hin und her. Er boxte, trat und kratzte um sich. Aber er schaffte es nicht, sich daraus zu befreien. Die Kapsel grünen Lichts schwebte davon, die Lak-Straße hinab, und trug den unglückseligen Piraten mit sich fort. Chegory starrte dem davonziehenden Licht-Kokon hinterher. „Scheiße,“ sagte er. Auf den Ebrellen gilt so etwas als Beispiel für Beredsamkeit. Nachdem er sich dieses entzückende kleine Selbstgespräch gegönnt hatte, drehte sich Chegory wieder zum Palast um und wartete auf weitere Erleuchtungen. Es kam aber keine. Am unheilvollstem von allem war aber, dass er kein einziges Geräusch aus dem Inneren hören konnte. Kein Ruf, kein Schrei. Nicht mal ein Pieps. Aber er konnte seinen eigenen Herzschlag hören. Außerdem: einen Moskito. Der sich hinsetzte. Auf seine Wange. Flink zerquetschte er ihn. Spürte, wie der zerbrechliche Körper des Insekts zwischen seinen Finger hin und her rutschte, während er ihn dabei zerdrückte. Wusste, dass dies der Augenblick der Entscheidung war. Weglaufen. Und zwar sofort! Oder hineingehen. Er schloss die Augen. Dachte: Olivia Olivia Olivia. Er öffnete die Augen. Wischte sich noch einmal den Schweiß aus dem Gesicht. Holte tief Atem. Rannte dann – und bewegte sich dabei sehr schnell, damit ihm seine Feigheit keinen Streich spielen konnte – direkt in die Finsternis des Palastes hinein. Er hatte kaum ein Dutzend Schritte zurückgelegt, als ihn etwas stolpern ließ, und er schwer zu Boden stürzte. Gerade, als er sich wieder aufrappeln wollte, kam Schäbbel hinzu, der ihm durch die Luft hinterhergetaumelt war, und beleuchtete den Schauplatz um ihn herum. Chegory war über eine Leiche gestolpert. Über den Körper dieses alten Mannes namens Al-ran Lars! Der blutbesudelt war, voller Blut, blutüberströmt, mit Blut, mit dem roten Blut des Todes und des Gemetzels. „Runter von mir, zur Hölle,“ sagte die blutverschmierte Leiche. Chegory stieß einen unterdrückten Schrei aus, als er von dem toten Mann wegsprang. „Was ist denn mit dir los?“ sagte Al-ran-Lars. „Sie sind – Sie sind doch tot,“ sagte Chegory. „Bin ich nicht, verdammt noch mal!“ sagte der ältliche Abenteurer, der bisher immer wie ein Edelmann gewirkt hatte. Wurde dann ohnmächtig. „Der ist nicht tot, du Blödmann,“ sagte Schäbbel. „Hab’ ich schon gerafft,“ sagte Chegory steif. Er beugte sich über den Piraten, dessen Haut die Farbe der Ashdans hatte, um den alten Mann nach Wunden abzusuchen. Es gab nur eine: ein klaffender Riss in seiner Kopfhaut. Durch diese Verletzung hatte der Greis vielleicht eine Handvoll Blut verloren, was ausreichend war, um ihn wie einen aus einem Horror-Haus aussehen zu lassen, aber was nicht genügte, um sein Leben zu gefährden. Weil noch immer ungehindert Blut aus der Wunde strömte, riss Chegory Al-ran Lars das Hemd vom Leib und verwendete es dann, um den Riss fest zu verbinden. Seite 229 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „He, alter Mann!“ sagte er, wobei er seinen Patienten auf grobe Weise schüttelte. „Bei dir ist alles in Ordnung! Wach’ auf!“ Doch selbst wenn ihn der Pirat gehört haben sollte, ließ er sich das nicht weiter anmerken. Chegory sagte etwas Unfreundliches und stand dann auf. Mittlerweile hatte der Nachkomme einer blutbefleckten Rasse von Walmördern seine früheren Bedenken bezüglich der Tötung des Dämons Binchinminfin völlig vergessen. Der Anblick des Blutes hatte genügt, um in seiner Brust, die die eines Wilden war, die Lust auf ein Gemetzel zu entfachen. „Waffen!“ sagte er. „Ich brauch’ eine Waffe! Schäbbel, such’ mir eine!“ Schäbbel erhob sich höher in die Luft, wobei er immer heller wurde und so immer mehr von dem Palast beleuchtete. „Neunzehn Schritte geradeaus, dann fünf nach links,“ sagte Schäbbel. „Ich seh’ schon,“ sagte Chegory. Er schritt vorwärts, um an der bezeichneten Stelle einen Krummsäbel aufzuheben. Der war schwer, und er hielt ihn ungeschickt in der Hand. Trotz der Dringlichkeit des Augenblicks war es ihm ziemlich peinlich, sich im Besitz einer derart theatralischen Waffe zu befinden. „Na gut,“ sagte Chegory und straffte seine Schultern. „Auf los geht’s los.“ Und er ging los, und Schäbbel hielt sich dicht hinter ihm. „Ich hab’ Schiss,“ sagte Schäbbel. „Du brauchst ja nicht mitzukommen,“ sagte Chegory. „Aber wenn ich zurückbleibe, wäre ich einsam!“ protestierte Schäbbel. „Wieso spielt denn das für dich eine Rolle?“ sagte Chegory. „Du hast ja keine Ahnung! Einsamkeit ist das Allerschlimmste! Wie würde es denn dir gefallen, Abertausende von Jahren zu leben, und…“ Mit diesen Worten begann Schäbbel die Erläuterung der emotionalen Motivation seines Schäbbel-Selbsts, und das war eine lange Erläuterung. Aber Chegory hörte kaum zu, denn er bereitete sich gerade auf den kommenden Kampf vor. Er war: Im Hier! Im Jetzt! Konzentriert! Zentriert! Bereit! Durch die gefahrvolle Finsternis stolzierte der kriegerische Ebrellianer dahin, mit der vollen Absicht, einen Mord zu begehen. Dann sah er vor sich ein unheilvolles grünes Feuer glühen. „Schäbbel!“ sagte Chegory. Schäbbel senkte sofort Schäbbel-Selbsts Beleuchtung auf nahezu Null herab und schwebte, derart abgedunkelt, neben Chegorys Schulter, während der Mordbegierige vorwärts schritt, um den Dämon Binchinminfin zu erledigen. Der grün glühende Raum vor ihnen war kein anderer als die Sternenkammer, und als Chegory Guy hineinspähte, fiel sein Blick auf eine wahrlich pikante Szene. Aquitaine Varazchavardan war tatsächlich von diesem widerlichen, grässlichen Ding aus dem Jenseits, von dem Dämon Binchinminfin, besessen. Seine Besessenheit war gleich auf den ersten Blick erkennbar. Seite 230 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Varazchavardans schlanker, knochiger Körper war nicht in der kleinsten Einzelheit verändert worden – und hatte sich doch vollständig verwandelt. Jegliches Gespür für anmaßende Erhabenheit und eiserne Selbstbeherrschung hatte das eisweiße Fleisch des Wunderwirkers verlassen. Der vom Dämon besessene Körper lümmelte sich, entspannte sich mit einer derart schwelgenden Leichtigkeit, dass sie es jedem unmöglich machte, sie in Verbindung mit dem nervösen und immer unter Druck stehenden Meister der Rechte zu bringen. Jawohl, Varazchavardan hatte ganz eindeutig die Kontrolle über seinen eigenen Korpus verloren. Der Dämon Binchinminfin besaß das unwidersprochene Kommando über Fleisch und Knochen des Wunderwirkers. Das kunstvollste Objekt in Reichweite hatte sich das heimtückische Ungeheuer als Krone aufgesetzt, und dieses Objekt war zufällig ein Nachttopf gewesen, der aus Wen Endex stammte. Dort ist jegliche künstlerische Tätigkeit verpönt, und die herrschenden Yudonischen Ritter verdammen alle Möchtegern-Künstler dazu, ihr Talent mit der Erzeugung von solch schlichten Gegenständen wie Nachttöpfen oder Spucknäpfen zu vergeuden. Deshalb wies dieser Nachttopf die Übrigbleibsel genialer künstlerischer Gestaltung auf, die in folgenden Merkmalen zum Ausdruck kam… [Hier folgt ein Katalog. Er wurde aufgrund seiner Obszönität herausgetrennt; er wirft Fragen auf, die sowohl die geniale künstlerische Gestaltung als auch die Moral des Urhebers betreffen. Soo Tree, Redakteur niedrigsten Ranges.] Um seinen prächtigen Anblick zu vollenden, hatte Binchinminfin Varazchavardans Fleisch in das Kleid eines Küchenmädchens und in einen silbern glitzernden Kürass gehüllt. Derart gekleidet, räkelte sich der Dämon gerade auf einem Seidenkissen, wobei seine nackten Füße auf der erstarrten Masse aus Curry, Kedgeree und Chowder ruhten, die den Boden der Sternenkammer bedeckte. Er verköstigte sich soeben aus einer Schüssel stark gewürzter Grill-Küken49, während er sanft Justinas Albino-Affen streichelte, der sich aus der gleichen Schüssel bediente. Chegory kauerte sich am Eingang zur Sternenkammer hin. Um die Szene zu beobachten. Er wusste, dass ein Dämon das Kommando über diesen Körper führen musste, weil Varazchavardan nie in der Lage gewesen war, die Anwesenheit von Justinas Affen auszuhalten. Dann war da auch noch die Sache mit der exzentrischen Bekleidung dieses Körpers. So sah also ein Dämon aus! Binchinminfin erinnerte Chegory an eine betrunkene Vampirratte – denn hier war ein Körper, der sich ganz allein mit sich selbst vergnügte und dabei auf nichts anderes als auf seine eigene Bequemlichkeit Rücksicht nehmen wollte. Dank ungetrübter Wonnen hatte sich sein Fleisch völlig entspannt, hatten sich seine Gesichtszüge verweichlicht. Gelenkt von ungezügelter Gier, tastete eine seiner Hände forschend in den Grillküken herum. Nur um seinen Appetit bekümmert, sabberte und triefte der Mund bei allem, was die Hand in ihn hineinstopfte. Zu Füßen des Dämons knieten Sklaven in anbetender Haltung, die sich überhaupt nicht um die verdichtete Masse der von vielen Füßen zertrampelten Nahrung scherten, in der sie herumkrochen. Was war Uckermark also zugestoßen? Und Log Jaris? Und… oh! Dort drüben waren sie ja! Alle vermissten Helden hingen an der gegenüberliegenden Seite der Sternenkammer mitten in der Luft. Hostaja Sken-Pitilkins Augen waren geschlossen, und der Kopf des klapprigen alten Zauberers hing so zur Seite, als ob er tot wäre. Aber die anderen waren offensichtlich am Leben und unversehrt – ja, sie besaßen tatsächlich noch die Waffen, die sie aus dem Leichenladen mitgenommen oder unterwegs aufgesammelt hatten. Aber sie waren offenkundig gefangen, wurden dort festgehalten von unsichtbaren Kräften unbekannter Stärke. Chegory begegnete dem Blick des Muskelprotzes Tolon. Der nachtschwarze Fremde aus Asral formte mit seinem Mund irgendwelche Worte. Aber welche waren das bloß? Da er nicht von den Lippen lesen konnte, schüttelte Chegory nur den Kopf. Tolon starrte ihn an. Der Muskelprotz war mit einem gewaltigen Speer bewaffnet, der vollständig aus Eisen gemacht war, also mit einer zeremoniellen Waffe, die für die meisten Sterblichen viel zu schwer gewesen wäre, um sie in der Praxis einsetzen zu können. Sein Gesichtsausdruck 49 engl. spitchcock Seite 231 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 schien anzudeuten, dass er sie, falls er die Gelegenheit dazu bekommen würde, gern gegen Chegory einsetzen würde. Das war alles äußerst unfair! Was sollte Chegory denn tun? Wie erledigt man eigentlich einen Dämon wirklich? Chegory dachte darüber nach, dachte dann noch etwas länger darüber nach, beschloss dann, dass er sich an Binchinminfin anpirschen sollte, um den Dämon dann kleinzuhacken, bis er tot war. Der wohnte in menschlichem Fleisch. Folglich konnte man ihn auch töten. Dennoch zögerte er immer noch, bis eine der Sklavinnen des Dämons ihren Kopf aus dem Dreck hob, ihn erblickte und voll ungeheuchelter Verzweiflung aufheulte: „Chegory! Chegory! Hilf uns!“ Es war Olivia! Sofort war Chegory auf den Beinen. Schreiend griff er an. Sein Krummsäbel zuckte nach Binchinminfins Kehle. Aber – Er wurde gepackt. Riesige Finger packten ihn (völlig unsichtbar!). Quetschten ihn! Quetschten aus ihm die Luft heraus. Er war dabei, zu ersticken. Rang nach Luft. Konnte nicht atmen. Er war dabei… Sich zu bewegen. Chegory strampelte und zappelte hilflos herum, während ihn die unsichtbare Faust durch den Raum beförderte, um ihn in die Linie der Helden einzureihen, die dort bereits hoch in der Luft hingen. Als er angekommen war, lockerte die Faust ihre Umklammerung. Hielt ihn aber weiterhin an der Taille fest. Chegory hackte mit seinem Krummsäbel wie wild nach der Faust. Aber seine Klinge stieß auf keinerlei Widerstand. „Hast mir’s wohl nicht geglaubt, du blöder Ebbie?“ sagte Tolon in erträglichem Toxteth. „Ich hab’ dir doch gesagt, dass es keinen Zweck hat, dieses Ding anzugreifen. Ich hab’ dir doch gesagt, du sollst lieber Hilfe holen.“ „Ach, kratz’ doch einfach ab, du Arsch,“ sagte Chegory. Hackte dann noch ein wenig weiter auf der Faust herum, die aber gar nicht vorhanden war, um auf sich herumhacken zu lassen. Binchinminfin sah ihm durch Varazchavardans rosa Augen dabei zu. Kratzte dann Justinas Affen hinter den Ohren, stopfte sich ein paar weitere Grillküken in den Mund und fing dann zu lachen an. Mit einiger Verspätung begann Chegory nachzudenken. „Schäbbel,“ sagte Chegory vorsichtig. „Schäbbel, bist du da?“ „Ja,“ sagte eine Stimme genau hinter seinem Ohr. „Chegory, Chegory, lass nicht zu, dass mir dieses Ding weh tut.“ „Liebster Schäbbel,“ sagte Chegory, „ich werde keinesfalls zulassen, dass das Ding dir weh tut. Was ich von dir gern möchte, das ist, dass du Hilfe holst. Roll’ dort hinauf, einfach hinauf. Dort oben sind Fenster. Geh’ zu Yilda, erzähl’ ihr, was passiert ist. Sie wird wissen, was zu tun ist.“ So sprach Chegory, der freilich seine Zweifel hatte, ob es in Wahrheit überhaupt viele Dinge gab, die Yilda tun könnte, abgesehen davon, sich um ihre Bestattung zu kümmern. Er wartete. Schließlich erhielt er von seinem zurückhaltenden Gefährten eine Antwort. Seite 232 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Ich kann nicht,“ sagte Schäbbel. „Es ist zu gefährlich.“ „Gefährlich ist es, sich hier aufzuhalten!“ sagte Chegory. „Dieses Ding dort unten, das ist nicht Varazchavardan! Das ist Binchinminfin! Ein Dämon! Ein schreckliches grässliches Ding aus dem Jenseits, das gekommen ist, um zu schänden, zu töten und zu plündern!“ „Schäbbels kann man nicht schänden,“ sagte Schäbbel. „Oder plündern.“ „Vielleicht nicht,“ sagte Chegory. „Aber man kann sie töten. Oder zum Therapeuten schicken.“ „Warum sollte der Dämon das tun?“ sagte Schäbbel. „Weil er böse ist!“ sagte Chegory. „Woher weißt du das?“ sagte Schäbbel, zu Chegorys hochgradiger Verärgerung. Jetzt war keine Zeit für ontologische Auseinandersetzungen! Gleichwohl fuhr Schäbbel fort: „Kannst du das beweisen?“ „Schau,“ sagte Chegory, der dabei tief Luft holte. „Vergiss den Dämon. Wenn du Yilda keine Nachricht bringst, werd’ ich dich eigenhändig töten. Oder – oder ich könnte dich auch höchstpersönlich zu einem Therapeuten schicken!“ „Du kannst weder das eine noch das andere,“ sagte Schäbbel berechtigterweise. „Jedenfalls nicht, solange du hier auf diese Weise herumhängst.“ Der Abgestürzte bluffte nur. Der Fürst der Lügen wusste, dass in Wahrheit jede natürliche Person jeden Schäbbel jederzeit zu jedem Therapeuten jeglicher Art unter jedem beliebigen Vorwand schicken konnte. Die Schäbbel-Konstrukteure des Goldenen Gulag hatten Schäbbels Sinn für Logik mit Bedacht verzerrt, um sicherzustellen, dass diese Blase freien Willens zumindest das immer glauben würde. Doch Chegory wusste nicht, dass sein flatterhafter Begleiter nur bluffte, und deshalb glückte es dem jungen Ebrellianer nicht, die unverhohlene Drohung auszusprechen, die seinen widerspenstigen Kugelfreund gezwungen hätte, ihm zu gehorchen. Stattdessen hing Chegory einfach nur da und fluchte machtlos vor sich hin. Thayer Levant und Tolon schlossen sich ihm an, um sich ausgiebig in wütenden und obszönen Ausrufen zu ergehen. „Das hat keinen Zweck,“ sagte Uckermark. „Schont eure Kräfte.“ „Früher oder später muss dieses Dämonen-Ding mal schlafen,“ sagte Log Jaris. „Jeder muss mal schlafen. Dann können wir abhauen. Ganz bestimmt.“ „Oh ja,“ sagte Guest Gulkan. „Es sei denn, es tötet uns vor dem Einschlafen.“ Der Zauberer Pelagius Zozimus lieferte keinen Beitrag zu dieser Unterhaltung, denn er sprach eindringlich auf Hostaja Sken-Pitilkin ein. Endlich rührte sich sein Cousin, öffnete die Augen und gab Antwort. Kurz darauf waren die beiden Meister des Wunderwirkens in ihr eigenes Kolloquium in der Hohen Sprache der Zauberer vertieft. Chegory verstummte, aber nur für einen Augenblick. Dann überwältigte ihn seine Wut. Mit schneidender Stimme rief er: „Binchinminfin! Ich fordere dich heraus! Ich fordere dich zum Kampf Mann gegen Mann!“ Ein äußerst leichtsinniger Spruch! Der augenblicklich Folgen hatte! Der in Varazchavardans Fleisch gehüllte Dämon sprang auf die Beine und schnappte sich einen Krummsäbel. Seite 233 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Schmerz,“ sagte der Dämon, der Varazchavardans Fleisch zu Odolos merkwürdiger ausländischer Betonung zwang. „Wir wollen mit dem Schmerz spielen, während wir dich in Stücke hacken. Deine Füße sollen als erste drankommen.“ Damit kam der Dämon auf Chegory zu, wobei er den Krummsäbel unterwegs hin und her schwang. Chegory erkannte seinen Irrtum. Das Dämonen-Ding hatte kein Ehrgefühl. Es würde sich keiner Herausforderung, Klinge gegen Klinge, stellen. Stattdessen würde es ihn in Stücke schnippeln, während er hilflos in der Luft herumhing. Er schrie vor Angst. Doch ehe Binchinminfin Chegorys Füße abhacken konnte, brüllte eine Stimme los. Oh, und was für eine Stimme! „Wag’ es bloß nicht!“ sagte Anaconda Stogirov. Binchinminfin, der die Anwesenheit einer feindlichen Macht fürchtete, wich zurück. Die schwebenden Gefangenen wurden plötzlich losgelassen. Sie purzelten aus der Luft herab. Chegory landete unsanft auf allen vieren. „Wer hat da gesprochen?“ sagte Binchinminfin. „Wer ist das gewesen? Wer ist das? Wer ist da?“ „Ich bin es,“ sagte Schäbbel, der droben in der Luft hell aufglühte, außerordentlich ermutigt angesichts der offensichtlichen Furcht des Dämons. „Ich bin es, Anaconda Stogirov, Sicherheitschefin des Goldenen Gulag. Hör mir zu und gehorche! Oder ich werde dich auf der Stelle zu einem Therapeuten schicken.“ „Pah!“ sagte der Dämon. Er warf eine Handvoll Luft in Schäbbels Richtung. Die Luft wurde zu einer Feuerkugel. Schäbbel bewegte sich keine Spur. Die Feuerkugel und der hellglühende Schäbbel wurden eins. Schäbbel glühte noch ein bisschen heller. Antwortete dann, indem er eine feurige Flammenfurie entfesselte, die eigentlich den Dämon hätte einäschern müssen. Doch Binchinminfin lachte nur. Dämonisches Gelächter ließ die Flammenfurie zu ein paar harmlosen Rauchfetzen verschrumpeln. Dann schleuderte der Dämon einen Blitzstrahl auf Schäbbel. Der sich duckte und als Antwort harte Strahlung ausspuckte. Während ein knisternder Austausch von Tod und Zerstörung seinen Lauf nahm, begannen Pelagius Zozimus und Hostaja Sken-Pitilkin, zum nächsten Ausgang zu krabbeln. Fröhlich pfeifend hüpfte Schäbbel auf und ab. Schäbbel hielt diesen Feuerkampf für einen tollen Spaß. Dann gelang Binchinminfin ein direkter Treffer gegen den schnell herumflitzenden Schäbbel. Mit einer Kugel aus weißglühendem Plasma. Schäbbel aß sie einfach auf. „Wirf doch noch eine her,“ sagte der Sonnenimitator. Binchinminfin schrie vor Wut. Während der Feuerkampf immer heftiger wurde, gingen Uckermark und Log Jaris hinter den beiden Zauberern her. Tolon folgte ihnen. Das taten auch Guest Gulkan und Thayer Levant. Chegory, der letzte der Helden, der noch die Stellung hielt, blieb liegen, blieb in Deckung, um auf seine Chance zu warten, vorwärts zu stürmen und Olivia zu befreien. Dann rastete Binchinminfin völlig aus. Er schleuderte einen wahren Teppich aus Rauch, Flammen und Blitzen auf den spottenden Schäbbel. Während die Luft erfüllt war vom Tod, ergriffen alle Menschen, die fortlaufen konnten, die Flucht. Chegory war einer von ihnen. Er würde Olivia nichts nützen, wenn er tot war! „Wo bist du?“ brüllte Binchinminfin, als sich der Rauch verzogen hatte. „Hier,“ sagte Schäbbel. Kicherte dann. Seite 234 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Binchinminfin hob eine Orange auf und hauchte sie an. Die Orange wurde durchsichtig. Tief in ihrem Inneren wirbelten funkensprühende Lichter herum. „Tharaftendosko,“ sagte Binchinminfin. Ließ daraufhin die Orange los. Die Kugel rollte durch die Luft auf Schäbbel zu. Der ahnte, was das war – und ließ sich fallen wie ein Stein. Die Kugel traf eine Säule und löste sich auf. Das tat die Säule ebenfalls. Wo die Kugel getroffen hatte, war Stein zu Chaos geworden: eine Kaskade freischwebender Zusammenhanglosigkeit, in der kleine Stückchen aus Vielleicht, War-Einmal und Könnte-Geschehen-Sein herumpurzelten. Die Schwerkraft erhob Anspruch auf das Chaos. Das daraufhin zu Boden stürzte, wobei es sich hin und her schlängelte, bis es sich zu der widerlichen Schmiere hinzugesellte, von der die Sternenkammer bereits verunstaltet wurde. Glücklicherweise war die Säule von Haus aus nur zu reinen Zierde dagewesen, und deshalb stürzte der Palast nicht auf die Köpfe derjenigen, die sich in seinen Mauern gerade bekämpften. Der Dämon feuerte eine weitere Kugel ab. Schäbbel flitzte hierhin und dahin, fieberhaft bemüht, dieser tödlichen Waffe zu entgehen, die der Flüchtling aus den Ruinen des Goldenen Gulag korrekt als ein Feld örtlich begrenzter Unwahrscheinlichkeit identifiziert hatte. Drei weitere Kugeln feuerte der Dämon ab. Für Schäbbel wurde es Zeit, zu verschwinden! Der Kraftlose vervielfältigte sich dreimal dreißigfach. Während er die Sternenkammer im lodernden Schein der SchäbbelImitate zurückließ, ging der echte Artikel zu Boden und rollte dort entlang, bis er aus dem nächstgelegenen Ausgang wie ein Spuckeklümpchen herausschoss, das ein Orkan fortgepustet hatte. In den finsteren Gängen des rosa Palastes holte Schäbbel Chegory Guy ein und ließ ein wenig Licht leuchten, um dem Ebrellianer und dessen taumelnden Kameraden zu helfen, aus dem Palast herauszufinden. „Was ist passiert?“ sagte Chegory. „Ich bin besiegt worden,“ gab Schäbbel unumwunden zu. „Meinst du damit, du kannst dieses Dämonen-Ding nicht töten?“ „Ich hab’s versucht!“ sagte Schäbbel, den der enttäuschte Klang in Chegorys Stimme verletzt hatte. „Ich hab’s versucht, ich hab’s versucht, ehrlich, das hab’ ich! Aber ich hab’s nicht geschafft, das ist alles.“ „In Ordnung,“ sagte Chegory, der sein Bestes tat, den armen Schäbbel zu trösten. „In Ordnung, du hast dein Bestes getan, das weiß ich. Na los, lass uns lieber verschwinden.“ Draußen trafen sie Ivan Pokrov und den alten Al-ran Lars, die sich in der Düsternis des zum Palast gehörigen Säulengangs miteinander unterhalten hatten. „Was ist da drin passiert?“ sagte Al-ran Lars. „Erklärungen gibt’s später!“ sagte Uckermark. „Nichts wie weg hier!“ „Was ist mit dem Wunschstein?“ sagte Guest Gulkan. „Wo ist der?“ Uckermark musste gestehen, dass er ihn der Sternenkammer fallen gelassen hatte. „Wie konnte dir das nur passieren?“ sagte Guest Gulkan, fassungslos angesichts dieser Katastrophe. „Ich hab’ mein Leben für dieses Ding riskiert! Bin jahrelang danach auf Queste gewesen! Schlachten, Folterungen, Schrecken, Albträume, Tod! Und du – du – ich glaub’ es einfach nicht! Du hast ihn noch, stimmt’s? Stimmt’s?!“ „Durchsuch’ mich halt,“ sagte Uckermark. „Durchsuch’ mich, wenn du mir nicht glaubst.“ Guest Gulkan ließ sich das nicht zweimal sagen. Er filzte den Leichenmeister augenblicklich. Danach gab er sich erst zufrieden, nachdem er auch alle anderen durchsucht hatte. Danach schrie er laut auf vor enttäuschter Wut. Er war so zornig, dass er sich selbst auf seinen Kopf schlug. Seite 235 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Na gut!“ sagte Zozimus barsch. „Wenn du endlich fertig bist mit deinem theatralischen Getue, sollten wir lieber verschwinden.“ Mit diesen Worten begann der Meisterzauberer vom Orden von Xluzu, bergabwärts fortzumarschieren. Die anderen folgten ihm. Chegory wollte protestieren. Olivia befand sich noch immer in der Sternenkammer! Falls sie überhaupt noch am Leben war. Aber… Was konnte er schon tun? Er konnte es nicht mit dem Dämon aufnehmen. Als er bedroht worden war, hatte ihn Binchinminfin hoch in den Lüften an die Leine gehängt, ohne ihn überhaupt zu berühren. Der Dämon herrschte über Feuer, Rauch und Donner. Konnte Steine nach Belieben zerschmettern. Schon waren die anderen Menschen hundert Schritte weit weg. „Komm’ schon, Chegory!“ sagte Schäbbel. Also schloss sich der Ebrellianer dem Rückzug an, der die Lak-Straße hinabging. Vorbei an den Häusern der Bedeutenden und Einflussreichen, deren Wände im blaugrünen Licht des Mondlacks schimmerten. Vorbei an dem rätselhaften schiffsgroßen knöchernen Klotz, der in der Stadt als Perle bekannt ist. Dann trat Arnaut aus Asral aus dem Schatten und begrüßte sie. „Was ist dir widerfahren?“ sagte Al-ran Lars. „Das ist eine lange Geschichte,“ sagte Arnaut und begann sie zu erzählen, während die Flüchtlinge ihren bergabwärts führenden Rückzug fortsetzten. Kurz darauf erreichten sie das Kabalenhaus von Injiltaprajuras Wunderwirkern. Aus dem obersten Stockwerk drang noch immer der Klang betrunkener Gesänge, was darauf hindeutete, dass die Ende-der-WeltFeierlichkeiten noch immer in vollem Gang waren. Uckermark blieb stehen. „Wir sollten hineingehen und verhandeln,“ sagte er. „Ohne Hilfe werden wir nicht mit diesem Dämonen-Ding fertig. Zozimus, sei mein Mann! Führe uns hinein!“ „Ich?“ sagte Pelagius Zozimus. „Ich bin ein Zauberer! Zauberer und Hexer sind Todfeinde. Sie würden mich eher töten, als mich anzuhören.“ „Na gut!“ sagte Uckermark. „Dann geh’ ich halt allein!“ Also ging er hinein. Nach einer längeren Wartepause wagte sich Chegory Guy hinein, um nachzuschauen, was mit dem Leichenmeister geschehen war. Er stellte fest, dass Uckermark auf den Stufen saß, die nach oben führten. Der Weg war unpassierbar, denn die Wunderwirker hatten nichts unternommen, um die Unmenge an Steinen wegzuräumen, die noch immer die Treppe blockierten. Chegory konnte den Staub zerschmetterter Steine riechen. Sowie zusätzlich etwas anderes. Etwas Scharfes, Übles, Verführerisches. Er bemerkte, dass Uckermark ein kleines Fläschchen in der Hand hielt. „Was haben Sie da?“ sagte Chegory. „Was glaubst du wohl?“ sagte Uckermark, der dabei das Fläschchen dem Ebrellianer anbot. „Nein danke,“ sagte Chegory steif. „Na gut!“ sagte Uckermark. „Des einen Leid, des andern Freud.“ Seite 236 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Mit diesen Worten leerte er das Fläschchen, warf es zur Seite und ging nach draußen voran. „Heute Nacht werden wir von den Wunderwirkern keine Hilfe bekommen,“ sagte er. „Lasst uns verschwinden.“ Sie bogen in den Skindik-Weg ab und eilten abwärts, an der Dromdanjerie vorbei, aus der das Heulen der Geistekranken zu hören war. Chegory vermutete, dass drinnen Jon Qasaba sein würde, um sich um seine Patienten zu kümmern. Nicht zum ersten Mal wünschte sich der Ebrellianer, er könnte in die Dromdanjerie fliehen, sich auf seiner Pritsche zusammenrollen und so tun, als ob all die Katastrophen, die über sein Leben hereingebrochen waren, niemals geschehen wären. Sie liefen weiter. Vorbei an dem gewaltigen Schatten des verrottenden Ganthorgruk. Als sie die Straße hinabhasteten, stürzte aus dem Loch eines Abwasserkanals am Sockel eines Gebäudes eine wilde Schar von Ratten. Vampirratten! Ein Schar räuberischer mordlüsterner Vampirratten! „Schäbbel!“ sagte Ivan Pokrov. „Licht!“ Schäbbel flackerte auf. Dann wandten sich die Männer voll grausamer Absichten den Ratten zu, denn sie waren froh, etwas zu haben, das sie treten und töten konnten. Die Vampirratten spürten aber, mit wem sie es hier zu tun hatten, und liefen schreiend davon. Die Rattenterroristen liefen weiter, am Schlachthaus vorbei, wo noch einige Metzger zu dieser späten Stunde seelenruhig bei Lampenschein arbeiteten, um den Kadaver eines Kraken zu sezieren, der kürzlich in dem verschmutzten Gewässer des Laitemata den Tod gefunden hatte. Chegory blieb stehen, um sie zu warnen. „He!“ sagte Chegory. „He, dort oben im Palast läuft ein Dämon frei herum.“ „Oh?“ sagte ein Metzger. Sein Hackbeil fuhr herab. Dann schwankte der Mann leicht und rülpste. Chegory merkte, dass er betrunken war. Im Schlachthaus waren alle betrunken! Sie arbeiteten im Dunst des Alkohols. Arbeiteten so, wie es Brauch und Vorschrift war, wie es Gewohnheit und die Macht der Routine erforderten. Er stand noch einen Moment länger da und schaute zu, merkte dann, dass er hier nichts Nützliches tun konnte und rannte dann hinter seinen Kameraden her. Sie liefen weiter bergabwärts, bis sie zu den Bruchbuden und Krabbelgängen von Lubos kamen. Ohne Warnung wurde der Himmel über ihnen kurz von merkwürdigen blauen Lichtblitzen erleuchtet, deren Bedeutung einfach vollkommen unbegreiflich war. Er erlaubte ihnen kurzzeitig einen flüchtigen Blick in ihre eigenen schockierten und verängstigten Gesichter. Dann beanspruchte die Nacht erneut ihre Herrschaft. „Schäbbel!“ sagte Pokrov. „Wo steckst du? Wo ist dein Licht?“ „Hier bin ich,“ sagte Schäbbel, der dabei heller wurde, weil sich Schäbbel-Selbst von der Furcht erholte, die das unerklärliche Himmelsblitzen ausgelöst hatte. Dann war ein Schrei äußerster Todesqual zu hören. Woher? Sie konnten die Quelle nicht feststellen. Als er verklungen war, blieben sie still. Lauschten. Hörten – nichts. Nichts außer dem Tröpfeln des Abwassers, dem festen Schnarchen, das aus dem Fenster einer Dachkammer drang, und dem gleichmäßigen Plätschern eines benachbarten Brunnens. „Los, weiter,“ sagte Uckermark. Führte sie dann auf den Weg zu seinem Leichenladen, wo sie Yilda mit Erleichterung und einem halben Tausend Fragen begrüßte. „Ich hätte ein Tagebuch führen sollen,“ murrte Uckermark, denn er wusste, dass sich Yilda nicht zufrieden geben würde, solange sie nicht wirklich alles erfahren hatte. Seite 237 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Während Uckermark sein Bestes tat, einige von Yildas Fragen zu beantworten, machte Chegory allen etwas heißen Kaffee. Er kannte sich an diesem Ort mittlerweile recht gut aus. Den Leichengestank bemerkte er nur noch kaum, und statt den Laden als ein Haus des Schreckens zu betrachten, fand er diesen Ort ziemlich gemütlich. Ein Zeichen, wie er bereits gesunken war! Und zwar tief! Tatsächlich – und schnell obendrein! Sobald man Yilda allesfresserische Neugier beschwichtigt hatte und Kaffee aufgetragen war, wurde es Zeit, sich der Frage zu stellen. Der logischen, offensichtlichen, notwendigen Frage, die Chegory dennoch äußerte: „Was nun?“ Seite 238 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 31 Was hätten Sie denn getan, mein lieber Held? Was hätten Sie getan, wenn Sie gemerkt hätten, dass Sie plötzlich in Uckermarks Leichenladen sitzen, während ein verrückter Dämon frei in Injiltaprajura herumläuft? Für den Leichenmeister selbst war der nächste Schritt kristallklar. „Ich bin dafür, dass wir uns betrinken,“ sagte Uckermark. Aber Log Jaris hatte Bedenken. „Freund Uckermark,“ sagte er, „dieses Spiel ist noch nicht zu Ende gespielt. Noch sind wir nicht tot. Wir können immer noch entkommen – zumindest mit unserem Leben. Ich bin dafür, dass wir zu den Ngati Moana fliehen. Heute Nacht. Zusammen haben wir genügend Gold und Silber, um sie zu bestechen, uns eine Überfahrt zu gewähren.“ „Unmöglich!“ sagte Guest Gulkan. „Ich bin wegen des Wunschsteins hergekommen. Ohne ihn werde ich nicht fortgehen!“ „Außerdem,“ sagte Chegory, „was ist denn mit, ähm, Olivia, okay? Sie ist noch immer bei dem Dämon! Ingalawa ebenso – und auch die Kaiserin! Wir können nicht einfach, naja, davonlaufen und sie im Stich lassen, nicht wahr? Vielleicht einige von ihnen, okay, aber was ist mit Justina?“ „Was mit Justina ist?“ sagte Uckermark. „Sie ist ein großes Mädchen. Sie kann auf sich selbst aufpassen.“ „Aber was ist dann mit Olivia?“ sagte Chegory. „Du bist doch derjenige, der sie liebt,“ sagte Uckermark. „Also kümmerst du dich um sie.“ „Wer hat denn behauptet, dass ich sie liebe?“ sagte Chegory errötend. „Ich hab’ nichts von Liebe gesagt. Es – es geht hier um Verantwortung, darum geht es hier. Wir müssen zurück, um sie zu holen.“ „Wir sind schon hingegangen,“ sagte Uckermark. „Wir sind dort gewesen. Wir haben es versucht. Wir haben es riskiert. Was wir tun konnten, haben wir getan.“ „Oh ja!“ sagte Guest Gulkan. „Und dabei hast du unseren Wunschstein verloren! Ich wünschte, ich hätte dich umgebracht, und zwar gleich nachdem ich dich zum ersten Mal erblickt hatte.“ Die Stimmung schien in diesem Moment außer Kontrolle zu geraten, aber Pelagius Zozimus schaffte es, den schlecht gelaunten Yarglat-Barbar zu besänftigen, während der Stiermann Log Jaris Uckermark davon abriet, Gewalt anzuwenden. Dann: „Jod,“ sagte Ivan Pokrov. „Dort sollten wir hingehen. Dort haben wir Odolo gelassen. Vielleicht kann uns der Beschwörer bei unseren Plänen helfen? Immerhin ist er derjenige, der den Dämon am besten kennt.“ Es folgte eine Debatte. Pokrovs Wille setzte sich durch. Yilda wurde zurückgelassen, um den Leichenladen zu behüten, während sich die Mitglieder der Anti-Binchinminfin-Liga auf den Weg zum Hafen machten und über die Hafenbrücke zur dunklen Erhebung von Jod huschten. Aus der fischdärmigen Düsternis des Laitemata erhob sich der überwältigende Gestank von Dickel und Schlack. Das Zeug strömte noch immer aus den Schatzquellen, was die Helden dazu zwang, das letzte Stück ihres Wegs auf Stelzen zurückzulegen. Sobald sie im Analytischen Institut waren, führte sie Ivan Pokrov zu seinen Privaträumen, wo sie den Beschwörer Odolo friedlich schlummernd antrafen. „Wir sollten ihn wecken,“ sagte Chegory, der immer noch hoffte, einen Rat zu erhalten, der ihnen helfen würde, gegen Binchinminfin Krieg zu führen und Olivias Freiheit zu erringen. Doch Pokrov hatte andere Vorstellungen. Seite 239 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Der arme Mann soll lieber schlafen,“ sagte Ivan Pokrov. „Bei Tagesanbruch wird er genausoviel wissen, wie er jetzt weiß, nicht mehr und nicht weniger. Kommt bis dahin mit in mein Dienstzimmer. Ich hab’ da etwas, das ich euch zeigen will.“ Alle folgten Pokrov in sein persönliches Dienstzimmer, wo er mit feierlicher Gebärde eine große Flasche hervorholte. „Ich habe mich in meiner Freizeit ein wenig mit alchemistischen Forschungen beschäftigt,“ sagte Ivan Pokrov. „Das hier ist das Endergebnis meiner Bemühungen.“ Dann nahme er einige kleine Porzellantassen und goss in jede eine Dosis einer zart duftenden Flüssigkeit, die die Farbe des Innenfleisches einer Jungfrau hatte. Uckermark schnupperte. Nippte dann. Verdrehte dann die Augen vor Entzücken. „Hervorragend,“ murmelte er. „Hervorragend.“ Log Jaris kostete ebenfalls. „Nicht übel,“ gab er zu. „Nicht übel?“ protestierte Uckermark. „Das ist – das ist ausgezeichnet!“ Würde man mit diesem Stoff ein Entenküken aufziehen, würde es sich zu einem Drachen entwickeln. Ein Kätzchen, das so etwas aufschlecken würde, würde zum Tiger heranreifen. Das dachte zumindest Uckermark. Aber Chegory dachte etwas anderes. Ihm hatte nämlich ein einziger Schluck genügt, um ihm zu verraten, dass das Alkohol war. Chegory, der das wahre Übel dieses dreckigen Gifts kannte, spuckte das Zeug aus und wandte sich dann an den analytischen Ingenieur. „Sie haben das hergestellt?“ sagte Chegory. „Wahrhaftig,“ sagte Pokrov voll Stolz. Chegory war erschüttert. Gab es denn in ganz Injiltaprajura nicht eine einzige rechtschaffene Person? Er hatte Pokrov durch und durch für einen ernsthaften Wissenschaftler gehalten, der sich ganz und gar der Beschäftigung mit Wissen und Lehre gewidmet hatte, doch jetzt war er hier als Schwarzbrenner enttarnt, der sich mit den übelsten Drogen befasste – mit Drogen, die die Seele zerstörten, die die Leber verfaulen ließen, die die Ungeborenen im Mutterleib verstümmelten, die das Hirn zersetzten und die das Opfer als hilflosen Idiot zurückließen, der sich von einem Albtraum in den nächsten zitterte. Wenigstens einen aufrechten Bürger besaß Injiltaprajura aber noch. Chegory hatte das Gesetz selbst noch nie vorsätzlich gebrochen. (So dachte er – und vergaß dabei bequemerweise gewisse Vorfälle wie beispielsweise seine energischen Bemühungen, die Tür zum Kabalenhaus mutwillig zu beschädigen.) Er hatte versucht, der bestehenden Ordnung zu dienen, sie zu respektieren und ihr zu gehorchen. (Lag darin irgendein besonderer Verdienst, wenn die Alternative aller Voraussicht nach die Hinrichtung sein würde?) Er hatte versucht, ein gehorsamer Sklave des Gesetzes zu sein, ein pflichtbewusstes Rädchen im System zu sein, so wie eines der Tausenden von Zahnrädchen aus Titan, die im Herzen der Analytischen Maschine herumklickten. (So redete er sich das jedenfalls ein, wobei er ganz vergaß, dass eine seiner täglichen Übungen dem Messerkampf gewidmet war – schwerlich ein Hobby, das auf demütige Anerkennung der herrschenden Ordnung hindeutete.) Angesichts der Versuchung gelobte Chegory, dass er versuchen wollte, ein durch und durch ehrenwerter und aufrechter Bürger zu bleiben, immer offen und ehrlich beim Umgang mit seinen Mitmenschen, ein Leben lang nüchtern, eine unbefleckte Jungfrau bis zum Tag seiner Heirat. Er würde es ihnen schon zeigen! Sie sollten sehen, dass ein Ebrellianer genau so sittsam sein konnte wie jede andere Person! Oder sogar mehr als das! Trotz des blutigen Makels, der sein Fleisch befleckte, würde er sich als völlig rein erweisen! Während Chegory solche Gedanken hegte, hörte er jemanden kichern. Mit Mordgelüsten in seinem Herzen suchte er alle Gesichter ab, bereit, jemanden zu töten, sollte er den Gedankenleser entdecken, der ihn gerade auslachte. Aber es war nur Schäbbel, der wegen eines lustigen Einfalls vor sich hin gluckste. „Na los, Chegory,“ sagte Ivan Pokrov. „Willst du denn nicht mit uns trinken?“ Seite 240 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Nein!“ sagte Chegory. Er wartete darauf, dass die Männer austrinken und sich dann mit der Frage befassen würden, wie man gegen Binchinminfin Krieg führen sollte. Doch dem ersten Umtrunk folgten weitere. Als die Schnapsflasche geleert war, holte Ivan Pokrov eine zweite. Dann eine dritte. Die Party fing an, lebhaft zu werden. Log Jaris und Uckermark stimmten ein Lied an. Ein sehr seltsames Lied mit einem Refrain, bei dem sie Hund, Hahn, Katze und Robbe nachahmten. Sehr zur Verwirrung von Chegory Guy, der in seinem ganzen Leben noch nie eine Robbe gesehen, geschweige denn gehört hatte. Am Ende hatten die meisten Männer soviel von dieser giftigen Subsatnz, die als Alkohol bekannt ist, konsumiert, dass sie das Stadium der Kotzerei erreicht hatten. Das ist sehr seltsam, aber viele Leute, die es eigentlich besser wissen sollten, geben oft gutes Geld – ausgezeichnetes Geld, das beste Geld, das man für seine Arbeit bekommt – aus, um zu erleben, was passiert, wenn man sein System mit einem wirksamen Gift überlastet. Sie machen das auch nicht nur einmal, sondern immer wieder – was die Theorie des berühmten Philosophen Stupa unterstützt, der behauptet, dass Existieren Leiden bedeutet, und dass alle menschlichen Wesen derart veranlagt sind, dass sie Leiden mehr als alles andere schätzen. Schließlich hielt Chegory die Gesellschaft dieser Betrunkenen nicht mehr länger aus. Er verließ sie, und viel später fand ihn Ivan Pokrov, wie er allein draußen auf den Steinen hockte. „Was ist denn los?“ sagte Pokrov. „Was ist wohl nicht los?“ sagte Chegory. „Sie – das ist Wahnsinn! Im Palast ist ein Dämon, und alles, was Sie – alles, was Sie machen, ist, sich zu betrinken!“ „Ich bin nicht betrunken,“ sagte Pokrov. „Die anderen sind es, aber ich nicht.“ „Aber Sie haben das getrunken, dieses alkoholische Zeug, stimmt’s?“ „Was ist damit?“ sagte Pokrov. „Es verstößt gegen das Gesetz!“ sagte Chegory. Pokrov lachte. Leise. „Das tut es!“ beharrte Chegory. „Und aus gutem Grund! Es lässt einen verfaulen, nicht wahr? Es tötet einen, richtig? Das ist doch so?“ Es entstand eine Pause, in der Pokrob darüber nachdachte, wie er dieses Problem umgehen könnte. Dann sagte der analytische Ingenieur: „Du willst also perfekt sein?“ „Naja,“ sagte Chegory, „ich will mich nicht selbst umbringen, das steht jedenfalls fest!“ „Wir sind alle sterblich, weißt du,“ sagte Pokrov. Durch den Gebrauch des einschließenden „wir“ äußerte Pokrov nur die halbe Wahrheit, denn Pokrov war eigentlich unsterblich. Er würde nie wegen zu hohen Alters sterben. Doch er konnte getötet werden. „Wir sind sterblich?“ sagte Chegory. „Was hat das denn damit zu tun?“ Ivan Pokrov antwortete damit, dass er ihm die erste und ärgerlichste der Sieben Unbefriedigenden Erklärungen gab: „Wenn du älter bist, wirst du das verstehen.“ Seite 241 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Nein,“ sagte Chegory, „das reicht mir nicht. So einfach dürfen Sie mir nicht davonkommen. Zur Hölle damit, über was reden Sie eigentlich die ganze Zeit? Sich zu betrinken, das bedeutet Drogen und das ganze Zeug. Was zur Hölle hat das alles mit der Sterblichkeit zu tun? He? Na los, Mann, was soll diese Scheiße?“ „Wenn ich sage, dass wir sterblich sind,“ sagte Pokrov, „dann meine ich damit, dass wir nicht frei von Risiken leben können.“ Das war wahr. Es war für ihn ebenso wahr wie für Chegory. „Deshalb ist deine – deine fixe Idee bezüglich deiner Gesundheit – nicht unbedingt fehl am Platz, soweit würde ich nicht gehen. Aber – ich möchte mal sagen, sie ist, naja, übertrieben. Du läufst Gefahr, ein Fanatiker zu werden.“ „Oh, das ist doch alles Scheiße,“ sagte Chegory. „Sie versuchen gerade, mir einzureden, wir alle sollten – ja, was? Gift zu uns nehmen? Wegen – wegen was? Weil jeder sterben muss? Ist das vielleicht ein Grund, sich zu beeilen, dass man getötet wird?“ „Du bist ein wenig fanatisch diesbezüglich,“ sagte Pokrov. „Fanatisch!“ sagte Chegory. „So wollen Sie das nennen? Ich will Ihnen mal sagen, wie ich das nenne! Ich nenne das ernsthaft! Und warum? Weil, wenn man ein stinkender Ebbie ist, Mann, dann ist man lieber ernsthaft, weil es da draußen Leute gibt, die einen töten wollen, darum geht’s, du darfst keinen Mist bauen, weil das war’s dann, Mann, bloß ein Fehler, und du bist erledigt, zack! Sie haben doch noch nie mit Leuten zusammengelebt, mit Leuten, die Jagd auf Sie machen, man läuft die Straße entlang und man hört, naja, gewisse Dinge, die Leute sagen gewisse Dinge, so ist es, und dann will man sie kaputtmachen, kaputtmachen, kaputt – Knochen, die kann man zerschmettern, Blut, ich könnte sie zerschmettern – ich könnte so manches Arschloch umbringen! Das ist wirklich ernst, Mann! Dann ist jetzt, okay, jetzt ist also dieser Dämon da, die ganze Hölle ist irgendwie auf freiem Fuß, und Sie, Sie sind, es ist, als ob – ich meine, was geht hier gerade ab, Mann? Sie glauben wohl, das ist irgend so ein Witz? Leben stehen auf dem Spiel, und ihr, ihr verrückten Scheißer, ihr hockt bloß herum, ihr macht euch bloß selbst kaputt, und ich – bleibe ernsthaft, warum auch nicht? Da gibt’s Leute, die ich – naja, um die ich mir Sorgen mache, okay? Aber, oh, ich bin ja ein Ebbie, richtig? Deshalb ist das nichts Ernsthaftes für Sie, oh nein, plötzlich sind Sie dieser tolle große Erwachsene, und ich bin nur ein Kind oder so, Sterblichkeit, diese ganze Scheiße, was soll denn das überhaupt beweisen?“ Soweit Chegory Guy. In Kürze. In Wahrheit führte er einen langen Monolog, der so voller Hass, Wut und Enttäuschung war, dass er Ivan Pokrovs Weggang zunächst gar nicht bemerkt hatte. Als er schließlich merkte, dass der analytische Ingenieur fortspaziert war und ihn ohne Entschuldigung alleingelassen hatte, wurde er so sehr von Raserei gepackt, dass er bereit war, jemanden umzubringen. Also blieb ihm nur eine Sache, die er machen konnte. Chegory machte sie. Er kramte seinen bevorzugten Vorschlaghammer heraus und verbrauchte seinen Zorn, indem er einige der vielgehassten Felsbrocken in Stücke schmetterte, wobei er bei dieser Gewaltausübung ins Schwitzen geriet, bis sein Körper und seine Gefühle völlig erschöpft waren und er sich, torkelnd vor Müdigkeit, einen Platz zum Schlafen suchte. Seite 242 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 32 Die Morgendämmerung erreichte die Insel Jod. Die Dunkelheit der Nacht zerfloss in blutigen Strömen, ganz so, als ob der Himmel verbluten wollte. Eine blutunterlaufene und wie ein Karbunkel aufgedunsene Sonne quoll aus dem purpurnen Horizont wie ein blutrotes Blutgerinnsel, das aus einer faustgroßen Wunde durch langsame, aber unbarmherzig wirkende Kräfte herausgeschwemmt wird. Rot glühte der Blutstein in den Straßen Injiltaprajuras. Rot war der brütende Korallenstrand, der den Laitemata säumte. Rot waren die Strände der Säbelinsel, und rot war der Tang in der blutbefleckten Lagune. Aber das Analytische Institut war weiß. Das prachtvolle Gebäude erhob sich auf Jod wie ein kühles Konfekt aus Eis und Schnee, wie ein offensichtliches Wunder in dieser moskitogeplagten Gegend des erbarmungslosen Schweißes und der erdrückenden Fieberanfälle. Unglücklicherweise spielte sich in diesem Gebäude der Schönheit eine Szene äußerster Sittenlosigkeit ab. In Ivan Pokrovs Quartier lag eine Anzahl komatöser Körper, die in einen stuporösen Schlaf gesackt waren, den man nur schwer von einer tiefgreifenden Gehirnerschütterung unterscheiden hätte können. Die Besitzer jener Körper hatten sich einer tiefgreifenden, schamlosen fleischlichen Ausschweifung hingegeben. Sie hatten völlig zügellos obszönen und giftigen Drogen gefrönt und litten nun unter den Folgeerscheinungen. Unter jenen, die dort wie tot herumlagen, befanden sich die Zauberer Pelagius Zozimus und Hostaja SkenPitilkin. Sobald die Tage ihrer Lehrzeit hinter ihnen liegen, betrinken sich Zauberer nur selten, denn wenn sie berauscht sind, setzen sich diese Meister des Wunderwirkens weitaus höheren Risiken aus als jene Gefahren, mit denen es geringere Wesen zu tun haben. Diese beiden waren jedoch genauso gründlich stockbesoffen wie der ganze Rest. Selbst der Mordgeselle Thayer Levant hatte sich trotz seines hochentwickelten Sinns für Selbsterhaltung einen Vollrausch angetrunken, der ihn völlig hilflos gemacht hatte. Das war die Szene, auf die der nüchterne und schlecht gelaunte Chegory Guy stieß, als er aus den Unterkünften der Diener hereinkam, wo er sich im letzten Teil von Bardardornootha ein wenig Schlaf gekrallt hatte. Er verschaffte seinen Gefühlen Luft, indem er jedem in Sichtweite einen Tritt verpasste. Seine Darbietung sorgte für so manches Gestöhne. Aber keiner erlangte durch Chegorys Bemühungen wirklich das Bewusstsein, und das ganze Gestöhne war nur eine im Schlaf geäußerte Beschwerde aus den schummrigen Tiefen drogenverwirrter Albträume. Dann fand Chegory Schäbbel, der sich in einem Aquarium versteckt hatte und dabei so tat, als wäre er ein Stein. Chegory packte den Nichtsnutzigen. Schäbbel lag kalt und reglos in seiner Hand. „Wach’ auf,“ sagte Chegory und warf Schäbbel dabei in die Luft. Der Kugelförmige beschrieb eine perfekte Parabel. Stürzte dem Boden entgegen. Schnappte dann zu sonnenhellem Leben und schwang sich in einer engen, fliegerisch entzückenden Spirale aufwärts. „Hallo, Chegory!“ sagte Schäbbel fröhlich. „Hi,“ sagte Chegory schlecht gelaunt. Hob dann einen Krummsäbel auf, den einer der Schläfer in der vorherigen Nacht im rosa Palast erbeutet hatte. Während er darauf wartete, dass sich seine Kameraden erheben würden, übte er ein paar kopfabschlagende Hiebe. Pelagius Zozimus wachte als Erster auf. Er erwachte aus Macht der Gewohnheit. Er war immerhin ein Meisterkoch, und eine der Bürden im Leben eines Kochs ist die Notwendigkeit, lange vor dem Zeitpunkt aufzustehen, an dem andere wach werden. Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal in Ihrem Esszimmer Platz nehmen, um diese köstliche Zusammenstellung aus Schlangeneiern und dem Fleisch von einem halben Dutzend verschiedener Schlangen zu vertilgen, die dort darauf wartet, Ihnen Freude zu bereiten. Das ist nicht von selbst dorthin gekommen, wissen Sie?! [Jene, die von den gelegentlichen Anspielungen des Urhebers bezüglich des Verzehrs von Schlangenfleisch und der Eier von Schlangen angewidert sind, dürfen nicht vergessen, dass der Urheber kein Ausübender ist. Obwohl Seite 243 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 die fragliche Straftat einen ordnungsgemäßen Abschluss erfordert, ob man die Religion nun ausübt oder nicht, ist bei einem ausländischen Atheisten eine unbeschwerte Einstellung bezüglich dieser Straftat verständlich (wenn nicht sogar verzeihlich). Zin Twee, Meister der Religion.] [Bezüglich des obigen Kommentars von Zin Twee ist zu sagen, dass aus dem Text überhaupt nicht klar hervorgeht, ob der Urheber tatsächlich ein Atheist ist. Wenn einige Abschnitte auch eine bedauerliche Gottlosigkeit aufzeigen, so findet man doch nirgends ein Leugnen der Existenz von Dingen aus dem Jenseits. Trotz der Existenz gewisser Abschnitte des Textes, die scheinbar alle Einrichtungen auf gotteslästerliche Weise verunglimpfen, ist es dennoch möglich, dass der Urheber, um ein paar Beispiele zu nennen, ein Anhänger des Bösen (in der Reinen oder in der Angewandten Form) oder ein Mitglied der Danatos-Blutsekte sein könnte. Newt Gerund, Chef-Pedant.] Gewohnheit war nicht der einzige Grund, warum Zozimus aufwachte. Ein Baby, das Kind einer der Dienerinnen, die auf Jod wohnten, hatte begonnen, laut zu plärren. Wenn es eine Sache gab, bei der es Zozimus unmöglich war, weiterzuschlafen, dann war das der Lärm eines schreienden Kindes. Pelagius Zozimus hasste Babies. Das war einer der Gründe, warum er Zauberer geworden war. Natürlich nicht der einzige Grund. Er war in Wen Endex geboren und aufgezogen worden und hatte in früher Jugend eine furchtbar peinliche Entdeckung bei sich selbst gemacht. Er war ein Intellektueller. Für solche gibt es keinen Platz in Wen Endex, das von den Yudonischen Rittern mit roher Gewalt und gedankenloser Grausamkeit regiert wurde. Folglich kommt eine unverhältnismäßig große Anzahl von Zauberern aus dieser Provinz, insbesondere aus Galsh Ebrek, trotz der enormen Schwierigkeiten der Pilgerreise von dort zu den Burgen des Bunds der Zauberer in Argan. Pelagius Zozimus beschloss, die anderen zu wecken, aber als er gemäß seines Beschlusses zur Tat schritt, scheiterte er an dieser Aufgabe, so wie vorher der junge Chegory Guy daran gescheitert war. „In Ordnung,“ murmelte Zozimus. „Zumindest kann ich dafür sorgen, dass sie wach bleiben werden, wenn sie erstmal aufgewacht sind.“ Dann machte Zozimus, der sich in einer ausgesprochen kriegerischen Stimmung befand, das fürchterlichste Curry, das man sich nur vorstellen kann. Dort kamen hinein: ganze Pfefferkörner, gemahlener grauer Pfeffer der Güteklasse Gelber Phönix, orange-braun schimmernder Cayenne-Pfeffer (auch als Drachenfeuer bekannt), eine Prise des Fünf-Himmlische-Tugenden-Gewürzpulvers, und zu guter Letzt eine gewaltige Menge jenes Currypulvers, das als Brennende-Freude-der-Grünen-Springeidechse bekannt war. Ein paar Schläfer erhoben sich und bekamen das Curry zum Frühstück angeboten. Selbstverständlich konnte es keiner von ihnen essen. Nach einer durchsoffenen Nacht waren sie tatsächlich kaum in der Lage, überhaupt etwas zu essen. Ivan Pokrov nahm einen Bissen der neugeborenen Speise zu sich, die Zozimus gerade „Zauberers Rache“ getauft hatte, lief in einer äußerst komischen Farbe an und zog sich dann zurück. Er kehrte eine ganze Weile nicht mehr zurück. Selbst der Barbar Guest Gulkan, der durch lebenslange Übung gegen Leiden aller Art abgehärtet war, lehnte einen zweiten Bissen ab. Log Jaris hätte es vielleicht geschafft, einiges von dem Zeug zu vertilgen, doch der Stiermann bekam keine Gelegenheit, das unter Beweis zu stellen, da er noch immer tief und fest schlief. „Wir sind wohl ein wenig zimperlich?“ sagte Zozimus. Er betrachtete sein Werk prüfend, schaute nachdenklich drein und setzte dann Reis zum Kochen auf. Am Ende verspeisten nur Chegory und Zozimus das Curry, und auch dann nur, nachdem sie es mit großen Mengen gekochten weißen Reises gestreckt hatten. Sie schwitzten beide fürchterlich, als sie damit fertig waren, teilweise wegen der schwülen Morgenhitze, aber vor allem wegen des inneren Feuers, das das fehlgeleitete Genie des Meisterkochs entfacht hatte. Die anderen Menschen gaben sich mit dem Saft einiger grüner Kokosnüsse zufrieden, also mit einer Flüssigkeit, die man jedem anderen in ihrer Lage nur sehr empfehlen kann, denn sie ist mit größter Gewissheit das beste aller bekannten Heilmittel für jenes gefürchtete Gebrechen, das man als Kater bezeichnet. Seite 244 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 [Hier ist eine Ungenauigkeit, die aus verzeihlichem Unwissen entstanden ist. Ein antiker medizinischer Text in unserem Besitz stellt eindeutig fest, dass man einen Kater am schnellsten dadurch kurieren kann, dass man den Körper abkühlt und das Blut abfließen lässt, um diese mit Drogen verunreinigte Flüssigkeit durch eine Transfusion aus einer einwandfreien Quelle zu ersetzen. Obwohl ein später verfasster Kodex berichtet, dass massenhafte Todesfälle das Ergebnis eines Experiments gewesen seien, das man durchgeführt hatte, um diese These zu überprüfen, müssen wir trotzdem die Kompetenz unserer Vorfahren anerkennen, selbst wenn wir bedauerlicherweise feststellen müssen, dass uns selbst an der nötigen Expertise mangelt, um dieses Wissen zu verwerten. Xjoptiproti, interpolativer Faktenprüfer.] [An diesem Mangel ist nichts Bedauerliches, da sich ja keiner von uns dem Alkohohl hingibt. Abgesehen von tragischen Ausnahmen! Wie beispielsweise Xjoptiproti, den man einen Tag, nachdem er Obiges geschrieben hatte, tot aufgefunden hat. Eine Flasche Kartoffelschnaps ist an seiner Seite gelegen, und in seinem Arbeitszimmer hat man die Destille zur Herstellung dieses tödlichen Gebräus entdeckt. Muss ich noch mehr dazu sagen? Drax Lira, Chefredakteur.] Das Frühstück war kaum vorbei, als ein Diener voller Panik hereingestürzt kam, um mitzuteilen, dass draußen der Einsiedlerkrebs war – und Chegory Guy zu sprechen wünschte. „Oh Scheiße!“ sagte Chegory und schlug sich dabei auf die Stirn. „Ich hab’ das Ding nie gefüttert! Es ist nicht mehr gefüttert worden, seit – seit – bei allen Göttern! Ist das schon drei Tage her? Oder vier?“ Chegory versuchte nachzudenken. Er hatte dem Krebs am ersten Tag der Katastrophe das Mittagessen gebracht – an dem Tag, an dem man das Verschwinden des Wunschsteins bemerkt hatte. Am zweiten Tag war er aber zu sehr mit solchen Dingen wie zum Beispiel der Versammlung der Bittsteller beschäftigt gewesen. Am Abend war dann das Bankett gewesen, und dann war der Drache dagewesen, und – naja, danach war der Einsiedlerkrebs das Letzte gewesen, an das er gedacht hatte. Den dritten Tag hatte er damit verbracht, in Uckermarks Leichenladen zu schlafen und sich dort zu verstecken. Am vierten Tag – gestern – hatte dann die Zeugenvernehmung stattgefunden, und Varazchavardans Putsch, sowie der ganze nachfolgende Wahnsinn. Der Krebs war mindestens drei volle Tage lang überhaupt nicht gefüttert worden! „Na schön, los geht’s,“ sagte Ivan Pokrov. „Wir sollten das Ding lieber nicht warten lassen. Das würde seine Laune nicht verbessern, weißt du?“ „Sie begleiten mich wohl?“ sagte Chegory. „Wenn du willst, kannst du auch allein rausgehen,“ sagte Pokrov. „Ich, äh – ja, freilich, Begleitung ist prima. Ja, na los, aber sicher.“ Und damit machte sich Chegory auf den Weg, um sich mit dem gefürchteten Einsiedlerkrebs zu unterhalten. Er begann sich an einige Dinge zu erinnern, die man ihm über die Macht des Krebses erzählt hatte. Über den Hexer beispielsweise, dessen Inneres nach außen gestülpt worden war, nachdem er versucht hatte, den Krebs zu unterjochen. Fliegen hatten sich niedergelassen auf seinem noch pulsierenden… [Hier sind Einzelheiten über siebenundzwanzig ekelhafte Vorfälle gelöscht worden. Auf Anweisung. Die Begeisterung, mit der der Urheber besagte Vorfälle schildert, ist für sich selbst etwas, das ans Obszöne grenzt. Drax Lira, Chefredakteur.] Chegory und Pokrov trafen den Einsiedlerkrebs wartend vor dem Haupteingang zum Analytischen Institut an. Die Morgensonne glänzte und schimmerte auf der gesprenkelten Oberfläche seines Panzers. Unterhalb seines Körpers, wo seine Masse das Sonnenlicht auslöschte, waren die Schatten kräftig, düster, schwarz. Die Scheren des Krebses waren einwärts, zu seinem Panzer hin, gerichtet. Chegory versuchte ihre Reichweite abzuschätzen, gab dann aber diesen anstrengenden Versuch auf. Nackte Gewalt war die geringste Gefahr, mit der er es hier zu tun hatte. Trotzdem war schon die reine Körpermasse des Krebses furchteinflößend. Chegory hatte ganz vergessen, wie riesig er war. Der Krebs musterte sie mit stillem Vorwurf und sagte dann: Seite 245 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Ich bin nicht gefüttert worden. Den ganzen gestrigen Tag nicht. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, bin ich auch am vorherigen Tag nicht gefüttert worden. Hätte ich die Gesinnung eines Buchhalters, würde ich noch weitermachen. Aber ich bin sicher, dass ihr mich verstanden habt.“ Keiner wusste, was er sagen sollte. Der Einsiedlerkrebs wartete geduldig. Auf was? Ausreden? Entschuldigungen? Während der unangenehmen Pause in ihrer Unterhaltung konnten sie die schier endlosen Ströme von Dickel und Schlack hören, die sich noch immer in den Laitemata ergossen, und das Gezänk einiger Krähen, die sich vor der Küche um irgendwelche Abfälle stritten. Chegory war es, der als Erster zu sprechen wagte. „Leider sind wir, ähm, ziemlich beschäftigt gewesen,“ sagte er. „Es geht, ähm, um einen Dämon, ehrlich. Der hat auch einen Namen. Binchinminfin, das ist sein, ähm, Name. Er ist – naja, er ist in Varazchavardan drin. Ich meine, er hat ihn übernommen. Und – naja, wir sind, wir sind, ähm, ich denke, man könnte sagen, wir sind ziemlich ausgelastet gewesen. Beschäftigt, meine ich.“ Er machte eine Pause. Die unheilvolle Bewegungslosigkeit des Einsiedlerkrebses deutete darauf hin, dass es dieser Ausrede nicht gelungen war, Zustimmung zu finden. Chegory stand da. Schwitzend. Seinen Tod erwartend. Dann gesellte sich eine dritte Gestalt zu den beiden, die bereits dem Ungeheuer gegenüberstanden. Es war der Zauberer von Xluzu, der bewundernswerte Pelagius Zozimus. „Aha!“ sagte Zozimus munter, wobei er sich die Hände rieb. „Das also ist dieser berühmte Krebs! Einen guten Tag wünsche ich Euch, mein Fürst! Pelagius Zozimus zu Euren Diensten! Ein Meisterkoch, wenn’s Euch recht ist, und glaubt mir, bisher ist das den allermeisten wirklich äußerst recht gewesen. Ich habe tausend zufriedener Kunden, die entlang des ganzen Weges von Tang nach Chi’ash-lan verstreut sind. Ich hab’ noch niemals zuvor für einen Krebs gekocht, aber es gibt immer ein erstes Mal. Ich wäre entzückt, wenn ich es einmal probieren dürfte. Was würdet Ihr denn gerne essen?“ „Er isst Fischdärme,“ sagte Chegory. „Abfälle, nichts weiter.“ „Lieber Freund,“ sagte der Zauberer, der sich damit direkt an den Einsiedlerkrebs wandte und Chegory völlig ignorierte, „in jüngster Zeit habe ich der Kaiserin Justina gedient, und es wäre mir wirklich ein Vergnügen, als nächstes Euch dienen zu dürfen. Sagt mir bitte – wie würdet Ihr denn Euer Futter gern zubereitet haben? Was würde Euch wohl am besten schmecken?“ Der Einsiedlerkrebs schwieg, als ob er in tiefen Gedanken versunken wäre. Dann öffnete sich eine der gewaltigen Scheren. Die sich dann mit einem entschlossenen Knacken wieder schloss. „Ich möchte gern,“ sagte der Einsiedlerkrebs, „ein wenig frischen fliegenden Fisch, der leicht angebraten und mit einer milch-basierten Soße garniert ist, die, falls möglich, mit Minze gewürzt ist, oder andernfalls mit gleichwertigen, ganz nach deinem Gutdünken ausgesuchten Kräutern.“ „Oh, ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet,“ sagte Zozimus. „Und danach?“ „Und danach,“ sagte der Einsiedlerkrebs, „möchte ich gern…“ Er zählte insgesamt fünfzig verschiedene Gerichte auf. Als er damit fertig war, beglückwünschte ihn Zozimus zu seinem Geschmack und zu seiner Auswahl, ehe er sich, mit Chegory im Schlepptau, auf den Weg zur Küche begab. Zozimus liebte eine Herausforderung. Vor allem eine, die nahezu unmöglich zu erfüllen war. Seite 246 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Kaum in der Küche angelangt, erteilte Pelagius Zozimus dem Küchenpersonal Schnellfeuer-Befehle. Dann wandte er sich an Chegory. „Chegory! Ich brauche etwas Milch!“ „Naja, dafür gibt’s wohl, ähm, Kokosnüsse,“ sagte Chegory. „Keine Kokosmilch!“ sagte der Meisterkoch. „Echte Milch! Bring’ eine Ziege her!“ „Es gibt auf ganz Jod keine Ziege,“ sagte Chegory. „Dann werden wir’s halt mit einer anderen Quelle probieren,“ sagte Pelagius Zozimus. „Auf Jod gibt es ein plärrendes Baby, deshalb gibt es hier auch Milch. Bring’ sie mir!“ Mit diesen Worten drückte er Chegory eine Schüssel in die Hände. Der Ebrellianer stand blöde glotzend da, weil er sich absichtlich Mühe gab, diesen Auftrag nicht zu verstehen. „Milch!“ sagte Pelagius Zozimus gebieterisch. Woraufhin der junge Chegory Guy fortschwankte, wobei er so torkelte, als ob er gerade einen schweren Schlag auf den Kopf erhalten hätte. Was anschließend passiert ist, können wir nicht sagen. Denn Chegory Guy wollte später nie mehr darüber sprechen, und es gab keine unabhängigen Zeugen, die zu einer Stellungnahme bereit gewesen wären. Selbst Schäbbel ist es nie gelungen, die Einzelheiten aufzuklären, obwohl Schäbbel ein unverbesserliches Klatschmaul und zugleich der geschickteste Spion ist, den man sich nur vorstellen kann. Es muss deshalb die Aussage genügen, dass der junge Chegory zu gegebener Zeit wieder mit etwas Milch in der Schüssel zurückkehrte. Pelagius Zozimus tauchte den kleinen Finger in diese Gabe, schleckte daran und schmatzte dann mit den Lippen. „Ah!“ sagte er. „Das versetzt mich zurück!“ „Versetzt Sie zurück?“ sagte Chegory. „Wie weit?“ „Oh, tausend Jahre oder so,“ sagte Zozimus leichthin. „Das ein oder andere Jahrhundert mehr oder weniger spielt dabei kaum eine Rolle.“ Dann beendete er jegliche fruchtlose Unterhaltung zugunsten der Arbeit. Als der erste Gang beinahe fertig war, serviert zu werden, ging Chegory los und holte den Eimer des Einsiedlerkrebses. „Um alles in der Welt, wozu brauchst du denn diesen Eimer?“ sagte Zozimus. „Für das Essen natürlich,“ sagte Chegory. „Du kannst doch niemandem sein Essen in einem Eimer vorsetzen!“ „Das tu ich auch nicht. Das Essen wird in den Trog gekippt, okay, es gibt da einen speziellen Krebs-Trog, da kippt man einfach alles hinein, das wird dann schon gegessen. So erledigen wir nun mal die Sachen bei uns hier.“ „Das ist einfach nicht gut genug,“ sagte Zozimus mit Nachdruck. „Die Darbietung ist mindestens genauso wichtig wie der Inhalt.“ „Für den Einsiedlerkrebs nicht,“ sagte Chegory. „Er sagt, wir müssen uns mit diesen Dingen einfach abfinden.“ Seite 247 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Pelagius Zozimus ergriff eine Mango. Er hielt sie hoch, wobei er wissen wollte: „Gefällt sie dir?“ Chegory, der sich ziemlich sicher war, dass er das Opfer irgendeines Zaubertricks werden sollte, antwortete vorsichtig: „Das ist eine recht ansehnliche Frucht.“ Woraufhin der Zauberer die Mango zu Boden schleuderte. Natürlich zerplatzte sie beim Aufprall. „Gefällt sie dir immer noch?“ sagte Zozimus. Chegory gab keine Antwort. „Das tut sie nicht, stimmt’s?“ sagte Zozimus. „Und warum nicht? Der ernährungsmäßige Inhalt ist unverändert geblieben. Er schmeckt immer noch genauso. Iss doch mal davon! Das bekommt dir mit Sicherheit. Na los, versuch’ doch mal! Komm’ schon – warum so mürrisch?“ „Ich hab’s satt,“ sagte Chegory. „Ich hab’s satt, ständig gehänselt zu werden.“ „Gehänselt?“ sagte Zozimus verwundert. „Ich hab’ dich nur ein wenig unterrichtet.“ „Oh, so nennt man das also?“ sagte Chegory. „Unterricht? So nennt man das, was Leute tun, wenn sie sich gemein verhalten und einen auf den Arm nehmen? He?“ Die Auseinandersetzung mit dem Krebs und die Tortur, frische Milch für die spezielle Fliegende-Fische-Soße des Krebses zu besorgen (was war denn an der normalen Sorte auszusetzen, he?) hatte die schlechte Laune nicht verbessert, mit der er bereits diesen Tag begonnen hatte. Glücklicherweise entschied sich Zozimus nicht dafür, den aufsässigen Ebbie zu maßregeln. Stattdessen nahm der Meisterkoch Chegorys Ausbruch gelassen hin und setzte seine Arbeit fort. Kurz darauf wurde dem Einsiedlerkrebs der erste Gang auf dem besten Porzellan serviert, das man im Analytischen Institut gefunden hatte. Fasziniert sah Chegory zu, wie der Einsiedlerkrebs sein Essen verspeiste, wobei er mit äußerstem Feingefühl einen Leckerbissen nach dem anderen von dem zerbrechlichen Porzellan entfernte. Der junge Ebrellianer hätte sich nie träumen lassen, dass die riesigen Scheren des Krebses in der Lage waren, derart geschickt zuzugreifen. Oder dass der Krebs ein ausgesprochener Feinschmecker war. „Gut!“ sagte der Krebs, nachdem er das fünfzigste Gericht beendet hatte. Woraufhin sich Pelagius Zozimus zu sagen erlaubte: „Mein verehrter Fürst, ich bin sehr froh, dass Euch Euer Frühstück geschmeckt hat. Man kann mit Sicherheit ein ebenso gutes Frühstück für Morgen zubereiten, falls das Euer Wunsch ist. Darf ich inzwischen Eure Aufmerksamkeit auf ein geringfügiges Problem an den Grenzen Eures Hoheitsgebiets richten?“ „Sprich,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Mein Fürst, in der Stadt gibt es ein wenig Ärger. Zufällig geht es dabei um einen Dämon. Um einen Dämon namens Binchinminfin. Er hat auf dem Festland das allerschrecklichste Unheil entfesselt. Nun ja, zunächst mal hat er das Läuten der Glocken gestoppt.“ „Das hat er getan?“ sagte der Einsiedlerkrebs, der dabei mit einer Leidenschaft sprach, die Chegory für völlig fremd für seine Natur gehalten hätte. „Diese verdammten Glocken! Der Fluch meines Lebens. Ein Dämon hat sie also gestoppt, nicht wahr? Gut! Ich hoffe, sie bleiben auch weiterhin stehen!“ Seite 248 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Mein Fürst,“ sagte Zozimus geschmeidig, „sie sollen auf ewig stehen bleiben, falls das Euer Wunsch ist. Indessen, dieser Dämon… mein Fürst, er könnte zu einem Problem werden. Sie sind sehr mächtig, diese Dämonen.“ „Lass hören,“ sagte der Krebs. Also schilderte Zozimus ausführlich die Macht und das Leistungsvermögen von Dämonen. Als der Zauberer fertig war, sagte der Krebs: „Kann mich dieser Dämon in ein menschliches Wesen verwandeln?“ „Euch verwandeln?“ sagte Zozimus verblüfft. „In einen Menschen?“ „Jawohl!“ sagte der Krebs. „Mein Fürst,“ sagte Zozimus, „ich – ich hab’ wirklich keine Ahnung.“ „Dann geh’ doch!“ sagte der Krebs. „Geh’ zum Palast! Such’ den Dämon und frag’ ihn! Richte ihm meinen Wunsch aus! Richte ihm aus, dass ich zu einem Bündnis der Macht mit ihm bereit bin, falls er mich mit einer solchen Umwandlung beglücken kann.“ Das war das Allerletzte, was Zozimus erwartet hatte – und das Gegenteil von dem, was er erhofft hatte. Aber so ist das Leben nun mal. „Mein Fürst,“ sagte Zozimus, „darf ich noch ein wenig Zeit verbringen, um mich mit meinen Freunden zu beraten, ehe ich Jod verlassen werde, um Euren Auftrag auszuführen? Diese Dämonen… sich ihnen zu nähern, ist eine Sache, die großes Feingefühl erfordert. Wir flehen Euch um Nachsicht an. Wir brauchen etwas Zeit, um unsere Annäherung an den Dämon vorzubereiten.“ „In Ordnung,“ sagte der Krebs. „Aber sorge dafür, dass du den Dämon heute noch triffst. Und – versage nicht!“ Chegory und Zozimus machten sich dann daran, alle Helden der vorherigen Nacht zusammenzutrommeln, damit sie einen Kriegsrat einberufen konnten. Es stellte sich heraus, dass nur Log Jaris nicht verfügbar war: der Stiermann lag noch immer in unerschütterlichem Schlaf. Deshalb fingen sie ohne ihn an. Zuerst berichtete Zozimus über sein Scheitern bei der Verhandlung mit dem Krebs. Er schloss mit den Worten: „Unsere Möglichkeiten sind komplizierter als vorher geworden. Falls wir den Dämon töten, verärgern wir den Krebs. Aber ich bezweifle, dass wir den Dämon überhaupt töten könnten. Oder mit ihm verhandeln könnten. Was auf jeden Fall feststeht, das ist, dass wir nicht hierbleiben können. Der Krebs will ein Mensch werden. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein Dämon machen würde. Diese Dämonen – selbst sie besitzen nicht diese Art von Macht. Ich denke, unsere beste Möglichkeit besteht darin, fortzulaufen.“ „Nein!“ brüllte Guest Gulkan, der noch immer die Absicht hatte, den Wunschstein zu bergen, den er benötigte, um im weit entfernten Chi’ash-lan Krieg zu führen. „Nein,“ sagte Chegory Guy, für den mindestens genausoviel auf dem Spiel stand wie für Guest Gulkan, und der sich in einer üblen und blutrünstigen Stimmung befand. „Meine Frau ist im Palast. Zur Hölle mit allen Risiken. Ich bin dafür, dass wir hineingehen und uns um diesen Dämon kümmern. Dass wir ihn töten. Dass wir ihn fertigmachen. Danach können wir ja daran denken, von hier wegzugehen.“ Man kann nur mit wenigen Dingen zu tun haben, die gefährlicher als der düstere Groll eines Ebrellianers sind. Eines dieser Dinge ist ein betrunkener Ebrellianer, der seinen Rappel bekommt. Ein zweites Ding ist ein junger, kräftiger, betrunkener Ebrellianer, der mit einer scharfen Waffe Amok läuft. Wenn wir versuchen, uns ein drittes Ding auszudenken – nun ja, dann fangen wir an, in Schwierigkeiten zu geraten. Wir dürfen nie vergessen, dass diese Ebrellianer ein Volk sind, das aus Spaß und Profitgier auf entsetzliche See-Ungeheuer Jagd macht, das sich nichts dabei denkt, sich im Alter von Dreißig zu Tode zu trinken, und das man, kurz gesagt, niemals unterschätzen sollte. Seite 249 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Guest Gulkan und Chegory Guy befürworteten also beide einen weiteren Angriff auf den Dämon – trotz der verächtlichen Leichtigkeit, mit der das Ungeheuer ihre erste Attacke zunichte gemacht hatte. Die Marodeure vom Volk der Malud erklärten dann, dass auch sie bereit wären, bei einem Angriff mitzumachen. Vor allem der junge Arnaut war wild zum Kämpfen entschlossen. Es lässt sich nicht sagen, wohin am Ende dieses ganze Gerede über das Kämpfen noch geführt hätte. Denn ehe man eine finale Entscheidung erreichen konnte, schloss sich Log Jaris dieser Konferenz an und verlangte, dass man ihn zunächst auf den aktuellen Stand brachte. Der Stiermann lachte herzhaft, als er hörte, was man geplant hatte. „Worüber lachen Sie denn so?“ sagte Chegory. „Das ist uns ernst!“ „Der Tod ist immer ernst,“ sagte der Stiermann. „Selbst deiner.“ „Ich werde nicht sterben!“ sagte Chegory aufgebracht. „Wenn hier jemand vernichtet wird, dann wird das der Dämon sein. Ich werd’ das Ding eigenhändig zerschmettern!“ „Wir haben hier also einen Helden vor uns!“ sagte Log Jaris. „Er hat einem Basilisken in die Augen gestarrt, bis das Vieh aufgegeben hat. Er hat mit einem Kraken gerungen, bis der sich nicht mehr gerührt hat. Er hat die Rasse der Drachen vollständig ausgerottet. Mehr noch – er hat es geschafft, dass ihm seine Schwiegermutter jeden Gefallen erweist. Nachdem er solche Kleinigkeiten hinter sich hat, sucht er jetzt eine wirklich gehaltvolle Herausforderung.“ „Machen Sie sich etwa lustig über mich?“ sagte Chegory. „Lustig?“ sagte Log Jaris, ganz gekränkte Unschuld. „Über einen grimmigen jungen Mann wie dich? Jemanden wie dich, mein junger Herr, könnte ich vielleicht zum Gatten eines Stachelschweins machen oder zu einem guten Stück Stiefelleder verarbeiten. Aber lustig machen über dich? Vergiss das einfach!“ Dann lachte Log Jaris erneut. Sein Lachen war ehrlich, herzlich und unverkrampft. Es erzürnte Chegory Guy so sehr, dass er dem Stiermann einen Schlag verpassen wollte. Verfehlte ihn aber, weil Log Jaris schon seit langer Zeit ein versierter Straßenkämpfer war. „Sie sind ein Feigling, sonst nichts!“ sagte Chegory, während Log Jaris einem zweiten Hieb auswich. „Sie haben Schiss!“ Da blieb Log Jaris stehen und erlaubte Chegory, ihn nach Herzenslust zu boxen. Die Fäuste des Ebrellianers konnten aber dem Fell des Stiermanns überhaupt nichts anhaben, und sein massiger Körper darunter gab nicht einmal für einen kurzen Moment auch nur ein kleines Stückchen nach. Deshalb stellte Chegory seine Attacke nach nur drei Boxhieben wieder ein. „Natürlich hab’ ich Schiss,“ sagte Log Jaris, der anscheinend noch immer gut gelaunt war. „Jeder, der mit so etwas Zartem wie mit einem Hodenpaar geboren worden ist, hat jedes Recht und jeden Grund, in Angst zu leben.“ „Sie geben es also zu!“ sagte Chegory wütend. „Sie sind ein Angsthase! Ein schamloser Feigling!“ „Mein Schatz,“ sagte Log Jaris. „Du bist wunderschön, wenn du so wütend bist.“ Diese gutgemeinte Beleidigung war der letzte Tropfen. Chegory startete einen intensiven Angriff auf den Stiermann. Er schlug wie wild mit den Fäusten nach ihm, aber diesmal blieb Log Jaris nicht stehen, um sich treffen zu lassen. Chegory schlug bestimmt dutzendmal zu, aber er musste verblüfft feststellen, dass er seinen Gegner kein einziges Mal getroffen hatte. Schnaufend stand er schließlich da und sagte: „Zur Hölle mit Ihnen. Zur Hölle mit Euch allen. Bleibt doch hier und verfault, wenn es das ist, was Ihr tun wollt. Ich werde dann eben allein in den Krieg gegen den Dämon ziehen.“ Aus dem Mund vieler wäre das nichts weiter als eine leere prahlerische Drohung gewesen. Doch wenn ein Ebrellianer auf derart leidenschaftliche Weise in Zorn gerät, wie das Chegory soeben tat, würden diesen Worten auch Taten folgen. Seite 250 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Wirst du das wirklich?“ sagte Log Jaris. „Vielleicht wirst du ja tatsächlich den Sieg erringen. Was aber, wenn du ausgerechnet im Augenblick dieses Sieges doch verlieren wirst? In höchster Not könnte ein sterbender Dämon vielleicht ganz Injiltaprajura zerstören, um sich selbst zu verteidigen. Hast du das etwa auch berücksichtigt?“ „Ich muss es versuchen!“ sagte Chegory. „Sie verstehen das einfach nicht, stimmt’s? Der Dämon hat Olivia in seiner Gewalt. Wir können nicht einfach fortspazieren und sie ihm überlassen!“ „Oh nein,“ sagte Log Jaris. „So etwas wollte ich gar nicht vorschlagen. Jetzt, da wir einen Helden zur Verfügung haben, gibt es sicherlich ein paar Schachzüge, die wir ausprobieren können. Du bist doch ein Held, nicht wahr?“ Chegory Guy blickte Log Jaris durchdringend an. Der junge Ebrellianer war sich nicht sicher, ob sich der Stiermann nicht noch immer über ihn lustig machte. Dennoch beschloss Chegory, ihm die Gunst des Zweifels zu gewähren – zumal es sich herausgestellt hatte, dass man ihm nur äußerst schwer einen Hieb verpassen konnte. „Sie sollen der Richter meines Muts sein,“ sagte Chegory. „Sie sind ja selbst ziemlich tapfer. Schließlich haben Sie sich ja selbst in der vergangenen Nacht unserem abenteuerlichen Vorhaben angeschlossen.“ „Jawohl,“ sagte Log Jaris, „doch nur, um die Hexer aufzurütteln.“ „Aber danach,“ beharrte Chegory, „haben Sie sich mit dem Rest von uns den Gefahren des Palastes ausgesetzt.“ „Das hab’ ich getan, das hab’ ich getan,“ sagte Log Jaris. „Ein Fehler. Naja, jeder kann mal einen Fehler machen. Aber nur ein Held würde einen Fehler dieser Größenordnung absichtlich wiederholen. Ich erhebe keinen Anspruch auf Heldentum. Ich mache nichts weiter als einen Vorschlag.“ „Was für einen Vorschlag?“ sagte Chegory. „Die Anwendung einer kleinen List,“ sagte Log Jaris. Fuhr dann fort, seinen Plan zu schildern. Seite 251 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 33 An diesem Nachmittag konnte man Log Jaris und Chegory Guy schwitzend in der stickigen Hitze einer Fälscherwerkstatt in Injiltaprajura antreffen. Der Fälscher, ein zwergenhafter Leprakranker namens Scapil Hun, plagte sich gerade mit einem Stück Pergament herum. Seine Arbeit war anspruchsvoll und wurde noch weiter erschwert durch das wahnsinnige Gejammer, das sich aus dem auf der anderen Straßenseite gelegenen Tempel der Geweihten Jungfrauen erhob. Schließlich sagte Log Jaris zu Chegory: „Bring’ sie zum Schweigen.“ „Was?“ sagte Chegory. „Die Leute im Tempel. Bring’ sie zum Schweigen.“ „Das kann ich nicht machen!“ „Natürlich kannst du das. Oder möchstest du lieber, dass ich ihnen deine Leiche als Opfer anbiete?“ Chegory Guy war sich nicht sicher, wie ernst diese Drohung gemeint war, hielt es aber trotzdem für das Beste, das nicht herausfinden zu wollen. Er verließ die Fälscherwerkstatt und trat hinaus in den Sonnenschein. Die Straße war völlig leer. Er überquerte sie und ging in den Tempel hinein, wo er die wehklagenden Betenden antraf, die vor ihrem Götzen auf die Knie gefallen waren. Chegory hämmerte auf einen griffbereiten Gong. Das Gejammer hörte schlagartig auf. Bis zu diesem Moment hatte Chegory keine Ahnung gehabt, was er eigentlich sagen sollte. Aber die Verzweiflung des Augenblicks erfüllte seinen Mund mit ungewohnter Beredsamkeit. „Ich bin hier,“ sagte er, „im Auftrag, ähm, im Auftrag des Dämons Binchinminfin. Ich überbringe euch die Befehle des Dämons. Ihr sollt dieses jämmerliche Getue einstellen und diesen Ort augenblicklich verlassen. Geht nach Hause!“ Geschwind leerte sich der Tempel, und bald war Chegory allein, mit Ausnahme eines Mädchens, das zu seinen Füßen kniete. „Was willst du denn?“ sagte Chegory, obwohl er es bereits erraten konnte. Das Gestammel der Jungfrau bestätigte seinen Verdacht. Sie wollte den Zorn des Dämons Binchinminfin von ihren Leuten abwenden, indem sie sich ihm persönlich als dessen Boten hingab. Chegory befand sich in größter Versuchung. Aber er dachte tapfer an Olivia und stählte sich gegen diese Versuchung. Er schickte das Mädchen nach Hause. Haben Sie jemals etwas derart Albernes gehört? Die Gelegenheit des Lebens! Eine unbefleckte Jungfrau, kostenlos und willig! Doch dieser dämliche Ebbie verscherzte sich diese Chance, ohne wenigstens noch ein zweites Mal darüber nachzudenken. Da sieht man mal wieder den geistigen Bankrott der unteren Schichten der Menschheit! Ein tugendhafter und keuscher Chegory kehrte in die heiße, schweißtreibende Fälscherwerkstatt zurück, wo sich Scapil Hun noch immer unter Log Jaris wachsamen Blicken abmühte. Das Endergebnis intensivens Schwitzens und Kratzens aufseiten des zwergenhaften Fälschers war ein verziertes Pergament, das äußerst eindrucksvoll aussah. „Was meinst du?“ sagte Hun. „Naja,“ sagte Chegory, der dabei das Pergament prüfend anblickte, „ich, ähm, ich kann dieses Zeug nicht lesen. Ich kann nur Ashmarlan lesen. Aber, okay, es schaut gut aus. Ich meine, es schaut so aus wie die anderen. Wenigstens für mich.“ „Du verlierst jetzt aber nicht den Mut, richtig?“ sagte Log Jaris, der den zögernden Klang in Chegorys Stimme bemerkt hatte. Seite 252 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Nein,“ sagte Chegory. Doch wenig später, als er unterwegs zum Palast war, blieb er ein paar Mal stehen. Am Ende war es der Gedanke an seine jungfräuliche Olivia, der ihn vorwärts trieb. Er konnte sie nicht einfach dort lassen! Nicht zusammen mit diesem – diesem Ding! Als Chegory die Stufen des rosa Palastes erreicht hatte, fand er dort ein paar Bettler vor, die hier ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sie hatten Feuer gemacht und brutzelten in einem Wok Fische, Paprikaschoten und Reis. „Gibt’s was Neues von drinnen?“ sagte Chegory. Doch die Bettler ignorierten ihn. Ohne die geringste Zeit damit zu verschwenden, ihre unkooperativen Köpfe mit einem Fluch zu bestrafen, lief er weiter und ins Innere hinein. Wo es still war. Wie verlassen. Abgesehen von Slanic Moldova, den Chegory dabei antraf, wie er noch immer sein Wandbild malte. „Slan,“ sagte Chegory. „Wie läuft’s denn so?“ „Nicht schlecht,“ sagte Moldova. „Überhaupt nicht schlecht. Willst du etwas Schwein?“ „Nein, danke, Slan,“ sagte Chegory mit der Stimme, die er dafür reserviert hatte, Verrückte bei guter Laune zu halten. „Aber es ist sehr nett von dir, mir das anzubieten.“ „Da ist noch was da, weißt du?“ sagte Moldova und deutete auf ein paar dreckige Teller, die Chegory bisher noch nicht bemerkt hatte. „Essen!“ sagte Chegory überrascht, als er sah, dass der größere Teil einer Mahlzeit noch auf den Tellern übrig geblieben war. „Wo kommt das denn her?“ „Aus der Küche natürlich. Ich hab’ es selbst zubereitet. Willst du etwas davon?“ „Ah, ähm, nein danke, Slan. Ich muss weitermachen.“ „Na, dann leb’ wohl,“ sagte Moldova. Dann: „Oh, was ich dir noch sagen wollte – wenn du dort drüben hingehen willst, dann sei lieber vorsichtig. Man hat mir erzählt, dass sich dort irgendwo ein Dämon befindet.“ „Danke, Slan,“ sagte Chegory. Dann lief er weiter. Fühlte sich dabei sehr einsam. Als sich Chegory der Sternenkammer genähert hatte, legte er eine Pause ein. Er konnte spüren, wie das Herz in seiner Brust schnell und kräftig pochte. Das Blut zischte in seinen Ohren. Er fühlte sich benebelt. Nach was roch es hier eigentlich? Nach verfaulendem Essen. Was für ein Gestank! Den Geruch ausklammernd, schlich er weiter, bis er in die Sternenkammer blicken konnte. Dort drinnen war der Teppich aus Chowder und Kedgeree in der Hitze auf schlimme Weise verrottet. Es wimmelte vor Fliegen, und die Luft war erfüllt vom geschäftigen tiefen Brummen der sich am Tod ergötzenden Insekten. Und dort – ja, dort war der vom Dämon besessene Aquitaine Varazchavardan. Der schlanke Körper des Albinos räkelte sich in fauliger Nahrung herum. Um ihn herum lagen überall Schüsseln mit frischer und unverdorbener Nahrung. Das Ding, das dieses Fleisch in Besitz genommen hatte, war dabei, sich systematisch vollzufressen. Der Dämon hatte verstanden, dass Essen Energie bedeutete, und wusste sehr wohl, dass Energie Macht bedeutete. Um seine Macht zu maximieren, versuchte er, seinem Stoffwechsel soviel Essen wie möglich einzuverleiben, und für dieses Ziel stopfte er sich einen Happen nach dem anderen in seinen Schlund. Von daher war es offensichtlich, dass der Dämon, auch wenn er das Hirn des Beschwörers Odolo nach sämtlichen Daten über seine neue Umgebung durchwühlt hatte, noch immer kein tiefgreifendes Verständnis des menschlichen Organismus besaß. Chegory zögerte. Seite 253 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Am liebsten wäre er davongelaufen. Dann sah er Olivia bei den Leuten, die zu Füßen des Dämons kauerten. Falls sie ihn auch gesehen hatte, ließ sie sich das aber nicht anmerken. Ihr Gesicht war leer. Jegliche Persönlichkeit war von unerträglichem Entsetzen fortgespült worden. Hatte sie einen dauerhaften Schaden erlitten? Das konnte er so nicht feststellen. Er hielt Ausschau nach Ingalawa. Fand sie. Ingalawas Augen begegneten den seinen. Die Ashdan-Frau formte mit ihren Lippen unhörbare Worte – aber welche Worte das auch waren, Chegory gelang es nicht, sie zu verstehen. Was war mit der Kaiserin los? Wo war Justina? Dort – sie schlief in einer Ecke. Chegory räusperte sich. Der Dämon schaute ihn an. „Was willst du?“ sagte Binchinminfin. Es war Varazchavardans Kehle, durch die der Dämon sprach. Aber sein Akzent war noch immer der des Beschwörers Odolo, den Chegory an diesem Tag auf der Insel Jod zurückgelassen hatte. Dies war der erste Akzent, den Binchinminfin erlernt hatte – und sicherlich würde der Dämon fortfahren, mit Odolos Stimme zu sprechen, solange er keinen besonders guten Grund haben würde, eine andere Form der Sprache zu lernen. „Ich hab’ – ähm, ich hab’ hier etwas für Sie,“ sagte Chegory, wobei er mit dem gefälschten Pergament näherkam, das er vorsichtig auseinandergefaltet hatte. „Was ist das?“ sagte der Dämon. „Ein… ein medizinisches Attest.“ „Erklär’ mir das,“ sagte Binchinminfin. „Naja, Sie haben, äh, ich meine – das ist Varazchavardans Körper, den Sie da haben, okay? Und der Hexer, naja, dem wird übel wie jedem anderen auch. Das hier ist von seinem Arzt. Es ist eine Notiz. Sie besagt, dass er seine Medizin braucht.“ Chegory blickte auf das ganze Essen, mit dem sich der Dämon ernährt hatte. Er stellte ein paar Schlussfolgerungen an und sagte dann: „Äh, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich das so sage, vielleicht fühlen Sie sich schon ein wenig übel. Diese, diese Medizin, die ist, naja, die ist ein tolles Zeug.“ „Ich fühle mich tatsächlich ein wenig… wie sagt man doch? Schlecht! So sagt man! Jawohl, ich fühle mich schlecht.“ „Naja, verstehen Sie doch, das ist deshalb, weil Sie diese Medizin nicht eingenommen haben,“ sagte Chegory. Während er sprach, schaute er sich um. Wenn er ein wenig näher herankommen würde, könnte er den Dämon bestimmt abstechen. Zu diesem Zweck war er bewaffnet hergekommen. Aber – oh! Dort in der Ecke war ein Wächter. Ein Wächter mit einer Armbrust, die auf Chegorys Herz gerichtet war. Der Dämon hatte bereits für grundlegende Sicherheitsmaßnahmen gesorgt. So ist nun einmal die Verworfenheit der menschlichen Rasse, dass selbst ein Dämon, ein übles Ding aus dem Jenseits, Diener finden kann, die mehr als bereit sind, sich zu verpflichten, ihm treue Dienste zu leisten. „Erzähl’ mir mehr von dieser Medizin,“ sagte Binchinminfin. „Es ist, äh, so ein Zeug, das man Alkohol nennt,“ sagte Chegory. „Man trifft es in verschiedenen Formen an. Da gibt’s zum Beispiel, äh, Met. Und Wodka, natürlich. Brandy. Rum – das ist ein ziemlich guter Stoff. Aber das sind alles nur verschiedene Versionen des gleichen Zeugs, wissen Sie, es ist nur so, dass manche stärker sind als andere. Sie alle sind – naja, diese Medizin ist so gut, dass man damit so gut wie alles behandeln kann. Plattfüße, Magenverstimmung, alles Mögliche. Das mein’ ich ernst.“ Seite 254 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Das werden wir ja sehen,“ sagte der Dämon unheilvoll. Schloss dann seine Augen. Sein Gesicht erschlaffte. Chegory wurde klar, dass der Dämon soeben Varazchavardans Geist nach Daten durchsuchen musste. So, wie er vorher Odolos Geist durchsucht hatte. Sein Herz hämmerte umso schneller. Sollte er davonlaufen? Ein Blick zu dem Wächter gab ihm die Antwort: Nein! Sein sofortiger Tod wäre die Folge. Binchinminfin öffnete Varazchavardans rosa Augen. Mit diesen Augen betrachtete der Dämon Chegory misstrauisch. Sprach dann. „Mir scheint, dass dieser Organismus eine Überdosis dieser Medizin zu sich nehmen könnte.“ „Ähm, ja,“ sagte Chegory. „Naja, Nebenwirkungen, die gibt es freilich, an denen kommt man nicht vorbei, wenn man Medizin zu sich nimmt, dann gibt es auch Nebenwirkungen. Ich meine, nehmen Sie Opium als Beispiel, das ist gutes Zeug, aber, äh, man kann davon scheußlich abhängig werden, wenn man es zu oft zu sich nimmt. Und jetzt dieses Alkohol-Zeug, naja, mit dem kann man auch Probleme bekommen. Deshalb ist es am besten, man hat einen Vorkoster. Okay? Jemanden, der es ausprobiert. Und das bin ich. Ich werde Getränk für Getränk das Gleiche tun wie Sie. Auf diese Weise können Sie mich beobachten. Wenn es mir keinen Schaden verursacht, dann werden Sie wissen, dass es Ihnen auch keinen Schaden verursacht. Okay?“ „Das ist logisch,“ sagte der Dämon. „Wo kann ich diese Medizin bekommen?“ „Sie rufen einfach einen Kellner,“ sagte Chegory. „Oder sind die etwa alle fortgelaufen?“ Der Dämon blickte zum Wächter, der die Armbrust besaß. „Wir haben die Kellner noch, mein Herr,“ sagte der Wächter. „Gut,“ sagte Binchinminfin. „Dann hol’ mir ein paar her.“ „Holt ihm ein paar Kellner,“ sagte der Wächter, der dabei seine Stimme erhob. „Wird gemacht,“ kam die Bestätigung von oben. Du liebe Zeit! Im Zwischengeschoss gab es weitere bewaffnete Wächter! Mindestens zehn. Der einfache, elegante Plan, den Log Jaris formuliert hatte (den Dämon betrunken machen und dann umbringen) war erheblich komplizierter geworden. Irgendwie würde man die Wächter freundlich stimmen müssen. Oder sie beseitigen müssen. Vielleicht könnte man den Dämon überreden, sie alle in Frösche zu verwandeln. Oder in etwas anderes. Vielleicht könnte man die Wächter überreden, sich ebenfalls zu betrinken. Aber könnte Chegory die allermeisten von etwa einem Dutzend Soldaten auch wirklich unter den Tisch trinken? Durfte er einigen der hässlichen Gerüchte Glauben schenken, die er über Injiltaprajuras Garnison gehört hatte, würde es ausgesprochen unklug sein, so etwas zu versuchen. Kurz darauf wurden ein halbes Dutzend Kellner in die Sternenkammer geführt. Zu Chegorys Enttäuschung waren sie noch immer so selbstsicher und herablassend wie eh und je. Ein wenig mehr kellnerseitiges Entsetzen wäre in diesem Moment recht gut beim Ebrellianer angekommen. „Alkohol,“ sagte Binchinminfin. „Wir wollen Alkohol.“ „Jawohl, mein Herr,“ sagte einer der Kellner, ein geschmeidiger junger Bursche mit einer Warze auf seiner Nase. „Und darf ich fragen, welche Sorte, mein Herr?“ „Alkoholischen Alkohol!“ sagte Binchinminfin ungeduldig. „Bring’ ihn mir! Alkohol! Für mich und meinen Freund.“ „Ihren Freund, mein Herr?“ Seite 255 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Der da!“ sagte Binchinminfin und deutete dabei auf Chegory. „Mein Freund. Verstanden?“ „Gewiss, mein Herr,“ sagte der Kellner. In diesen Worten lagen tausend Schattierungen ihres eigentlichen Sinns. Keine davon war schmeichelhaft. Dann sagte Chegory auf beiläufigste Weise: „Sie haben nicht zufällig etwas Feuerwasser?“ „Feuerwasser, mein Herr?“ sagte der Kellner in seinem herablassendsten Ton. Der Dämon Binchinminfin hörte diesen Ton und wies ihn scharf zurecht: „Du sollst die Wünsche meines jungen Freunds erfüllen.“ „Gewiss,“ sagte der Kellner. „Aber mit diesem – diesem Feuerwasser bin ich nicht vertraut.“ „Feuerwasser von den Ebrellen,“ sagte Chegory geduldig, der dabei dem Drang widerstand, den Kellner auf der Stelle abzustechen. „Ebrellianisches Feuerwasser, mit anderen Worten.“ Er sammelte seine Gedanken und sagte dann mit einem Redefluss, der seine Energie aus sublimierter Angst bezog: „Das ist ein Getränk, das der Zunge außerordentlich schmeichelt und das der Verdauung außerordentlich förderlich ist.“ „Wenn Sie das sagen, mein Herr,“ sagte der Kellner im Ton sorgfältiger Neutralität. „Wir werden nachsehen, was der kaiserliche Keller liefern kann. Sollten wir dabei keinen Erfolg haben, dann werden wir uns an die… an die städtischen Quellen wenden.“ Oh, war das aber taktvoll ausgedrückt! So nett formuliert! Mit einer derart vorbildlichen Beherrschung des protokollgerechten Auftretens erledigt! Mit einer derart meisterhaften Höflichkeit! Aber es bedeutete offensichtlich: Wir sind es zwar nicht gewohnt, uns von euch stinkenden Ebbies euren verkommenen Geschmack aufzwingen zu lassen, aber wir können damit jederzeit fertig werden, wenn wir das unbedingt müssen. Während Chegory und sein dämonischer Gefährte darauf warteten, dass das Feuerwasser herbeigeholt wurde, musste sich Chegory ein paar Rückfragen über andere Formen des Alkohols stellen. „Was ist Bier?“ sagte Binchinminfin. „Ich hab’ gehört, wie jemand Bier erwähnt hat. Eine andere Form von Alkohol, stimmt’s?“ „Ein Gebräu, das von Sklaven und Hafenarbeitern in fremden Ländern geschätzt wird,“ sagte Chegory. „Dann also Wein?“ sagte Binchinminfin. „Was ist Wein?“ „Verfaulter Traubensaft,“ sagte Chegory. „Wir sollten unsere Zeit lieber nicht mit Wein verschwenden. Feuerwasser, das ist der wahre Stoff.“ Nach einiger Zeit kehrte der warzengesichtige Kellner in die Sternenkammer zurück und trug dabei ein Tablett. Darauf standen zwei Krüge und zwei sehr kleine Porzellantässchen. „Feuerwasser, mein Herr,“ sagte der Kellner, wobei er das Tablett mit einer Hand balancierte, während er die andere verwendete, um ein wenig Flüssigkeit in eines der Tässchen zu gießen. Die heimtückische Flüssigkeit floss in einer sich kräuselnden Spirale aus dem Krug. Ein schlangenzischelnder Protest erhob sich aus dem Porzellan. Die Flüssigkeit ging in tänzelnde grüne Flammen auf. „Essig, mein Herr,“ sagte der Kellner und nahm dabei den zweiten Krug in die Hand. Angeblich soll es Anlässe gegeben haben, bei denen man Feuerwasser in seiner ursprünglichen, unverdünnten Form getrunken hat. Es gibt jedoch nur wenige dokumentarische Beweise für derartige Experimente. Sollte jemand mehr solcher Beweise suchen, ist sicherlich der beste Platz, an dem man danach suchen kann, eine Sammlung von Todesanzeigen. Seite 256 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Der Kellner schenkte ein, um das Tässchen mit einem Schwall Essig zu krönen, der die grünen Flammen des Feuerwassers auslöschte und eine blubbernde braune Flüssigkeit in dem Tässchen zurückließ. Indem er das Getränk auf diese Weise zubereitete, zeigte der Kellner, dass seine Vertrautheit mit diesem Trank weit größer war, als er vorher behauptet hatte. Er bot das Tässchen Binchinminfin an, der es nahm und vorsichtig in der Hand hielt. Irgendetwas im Verhalten des Kellners hatte das Scheusal aber auf die Gefahren dieses Getränks aufmerksam gemacht, und ihm kam nichts davon über die Lippen, während der Kellner eine ähnliche Ration für den Gast des Dämons zubereitete. „Geben Sie mir etwas Größeres,“ sagte Chegory, wobei er das einer Eierschale gleichende Tässchen zurückwies. „Ich bin durstig.“ Der Kellner gab der Versuchung nach und verdrehte die Augen verächtlich nach oben (obwohl das höchst unprofessionell von ihm war). Ging dann weg, um kurz darauf mit einem Schädel zurückzukehren, der einmal Lonstantine Thrug gehört hatte, der ihn einem der vielen Männer abgenommen hatte, die er im Lauf seines militärischen Berufswegs getötet hatte. Chegory ließ Feuerwasser in das mit Silber ausgekleidete Schmuckstück plätschern, schüttete etwas Essig hinein und trank dann. Binchinminfin wurde von dieser zur Schau gestellten Begeisterung ermutigt. Der Dämon warf sein eigenes Tässchen zur Seite, packte den Nachttopf, der ihm bisher als Krone gedient hatte, und streckte ihn hin, damit er gefüllt werden konnte. Der Kellner verdrehte erneut die Augen verächtlich nach oben, seufzte dann und goss Essig und Feuerwasser zusammen in den Nachttopf. Der Dämon nippte daran. „Schmeckt gut,“ sagte er angenehm überrascht. „Oh,“ sagte Chegory leichthin, „die Ebrellianer mögen das Zeug recht gern. Aber das hält man nicht überall für eine Empfehlung.“ „Nein, nein,“ sagte Binchinminfin großmütig. „Du tust dir Unrecht. Das schmeckt prima!“ Die Kellnerschaft erwies sich als entsetzlich langsam, deshalb war es schwer, das Feuerwasser nachgefüllt zu bekommen. Aber obwohl es schon spät am Tag gewesen war, als die beiden zu trinken begonnen hatten, hatte der Dämon bei Abenddämmerung ausreichend Medizin konsumiert, um sich sehr viel besser zu fühlen. „Du hast recht gehabt,“ sagte Binchinminfin. „Das ist genau das gewesen, was ich gebraucht habe. Aber… warum zittern mir die Hände, dir aber nicht?“ „Ich hab’ halt mehr getrunken als Sie,“ sagte Chegory, der diese unverschämte Lüge mit der größtmöglichen Sicherheit auftischte, die er aufbringen konnte. „Je mehr Sie trinken, umso besser fühlen Sie sich.“ „Oh,“ sagte der Dämon und blinzelte dabei in die Kerzen, die man gerade entzündet hatte, um die sich schnell verdunkelnde Sternenkammer zu beleuchten. „Und wenn – wenn ich ein wenig mehr trinke, wird das auch meinen Augen helfen?“ „Ihren Augen?“ sagte Chegory. „Ich sehe alles doppelt. Manchmal dreifach.“ „Naja,“ sagte Chegory, „ich bin zwar kein Augenarzt, aber, wie schon gesagt, man verwendet in Injiltaprajura Alkohol, um so gut wie alles zu behandeln.“ „Willst du damit sagen,“ sagte der Dämon, „dass wir noch mehr trinken sollten?“ „Aber natürlich, natürlich!“ sagte Chegory. „Wenn Sie genügend Feuerwasser vorrätig haben, können Sie die ganze Nacht hindurch weitertrinken.“ Seite 257 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Was weitgehend die Wahrheit war. Es ist eine schriftlich fixierte Tatsache, dass einige Ebrellianer dafür bekannt geworden sind, fortwährend Feuerwasser von einem Sonnenaufgang bis zum nächsten zu trinken. Was der junge Chegory aber zu sagen versäumte, das war, dass man dabei eine gute Chance hatte, während eines solchen Trinkgelages (oder kurz danach) tot umzufallen. Derart ermutigt, klatschte Binchinminfin in die Hände. „Kellner!“ schrie der Dämon. „Mehr Feuerwasser! Soviel wie möglich! Schnell, schnell!“ Der Kellner zog sich zurück, um nach einiger Zeit mit einem frischen Krug Feuerwasser und einem reichlichen Vorrat an Essig wiederzukommen. So konnten sich der Dämon und der Ebrellianer weiter in die Nacht hinein betrinken. Was ist das nur für ein Bild der Verkommenheit! Der Ebrellianer und der Dämon vergiften schamlos ihre Körper mit dem tödlichsten Getränk, das die menschliche Rasse kennt! Zu Chegorys Füßen befindet sich die reizende Olivia Qasaba, denn sie ist auf der Suche nach Trost näher zu ihm hingekrochen, in der Hoffnung, er hätte irgendeinen Rettungsplan. Naja, einen Plan hat er freilich gehabt – den Dämon bis zur Bewusstlosigkeit betrunken zu machen und dann abzustechen. Aber die Anwesenheit von Soldaten hat diesen Plan durchkreuzt. Trotzdem fährt der junge Chegory unbekümmert fort, sich zu betrinken. Das Schamloseste daran ist freilich, dass es ihm zu gefallen beginnt. Jawohl! Dieser Ebrellianer, der mittlerweile mit absoluter Sicherheit betrunken ist, betrinkt sich nun aus eigenem Antrieb. Das macht er liebend gern! Jetzt erkennen wir, wie oberflächlich jene moralischen Beteuerungen waren, die er vorher gebraucht hatte, um gegen den dämonischen Rum zu predigen. Das Blut will ans Licht! Das Blut hat sich verraten! Hier ist ein echter Ebrellianer, ein vom Saufen besessenes Wesen, das sich auf unbändige Weise der Ausschweifung und der Trunkenheit hingibt. Jawohl, der junge Chegory trinkt mit wilder Hingabe, und während er das tut, liebkost er die appetitliche Olivia. Schlimmer noch, er lässt sie von dem Schädel nippen, der ihm als Tasse dient. Dank des Zustroms von Feuerwasser war die nackte Angst aus Olivias süßem und mädchenhaftem Gesicht gewichen, um durch etwas ersetzt zu werden, das… naja, es würde jedenfalls kein zu starkes Wort sein, dieses Etwas als Lüsternheit zu bezeichnen. Während Chegory ihr Fleisch liebkost, liebkost sie im Gegenzug auch das seine. Er ist ihr Held, der – da ist sie sich sicher – hier ist, um sie zu befreien. Um sie zuerst vom Dämon Binchinminfin zu befreien, und danach zweifellos von ihrer Jungfräulichkeit. Artemis Ingalawa ist empört, wagt aber nicht, sich einzumischen. Stattdessen schaut sie aus den Schatten heraus zu, wobei sie gegen jede Hoffnung hofft, dass Chegory einen Plan hat. Im Moment hat er aber keinen. Aber das bekümmert ihn nicht. Er ist davon überzeugt, dass er alles rechtzeitig in Ordnung bringen wird. Er ist von einer heiteren und stark übertriebenen Zuversicht erfüllt, an der das Feuerwasser schuld sein muss. Doch früher oder später muss diese Sauforgie zu Ende gehen. Früher oder später muss man ihren Folgen ins Auge sehen. Wir wollen hoffen, dass das lieber früher als später passiert – denn wer weiß, welche Schrecken sich noch heute Nacht in diesem Palast des Verderbens und des Verbrechens in Szene setzen könnten? Seite 258 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 34 Das Saufgelage wäre die ganze Nacht hindurch weitergegangen, wäre Binchinminfins Genuss nicht von den natürlichen Grenzen des Fleisches aufgehalten worden. Der Dämon hörte auf, sich besser zu fühlen, und begann sich stattdessen schlechter zu fühlen. Trank deshalb umso mehr in der Hoffnung, damit eine günstigere Entwicklung zu fördern. Übergab sich dann, wobei er halbverdaute Speisen auf den fauligen Teppich aus Chowder und Kedgeree erbrach. Die Wächter – zu diesem Zeitpunkt befanden sich einige von ihnen in unmittelbarer Reichweite – sahen mit der fachlichen Distanziertheit äußerst erfahrener Experten zu, wie Binchinminfin auf Händen und Knien in dem grotesken Matsch-Teppich herumkroch. Und sich dabei immer wieder übergab. „Das ist eine Nebenwirkung, richtig?“ sagte er schließlich. „Jawohl,“ gab Chegory zu. „Eine der schlimmeren.“ Eine Weile sagte der Dämon gar nichts. Ihm war zu übel, um irgendetwas zu sagen. Dann sagte er: „Warum?“ „Warum was?“ sagte Chegory. „Diese Nebenwirkungen,“ sagte Binchinminfin. „Warum ich und nicht du? Warum hast du noch nicht gekotzt?“ „Weil er ein Ebbie ist,“ sagte einer der Wächter verächtlich. „Ein stinkender Ebbie. Wir haben sein Spiel durchschaut! Er hat Euch mit Feuerwasser abgefüllt, um zu versuchen, Euch so betrunken zu machen, dass Ihr völlig handlungsunfähig werdet.“ „Ihr seid doch alle bloß neidisch,“ sagte Chegory mit betrunkenem Stolz auf seine Rasse. „Ihr wisst genau, dass ihr es mit uns Ebrellianern nicht aufnehmen könnt. Wir können besser trinken als ihr, besser kämpfen als ihr, und…“ Naja, ich bin mir sicher, wir alle wissen, welche Angeberei logischerweise als nächstes zu dieser Reihe gehört. Sie dürfen außerdem mit Sicherheit davon ausgehen, dass Chegory sie geäußert hat. Was die Missbilligung der zusehenden Ingalawa steigerte. Sie prägte jeden Augenblick davon ihrem Gedächtnis ein. Früher oder später würde sich Chegory für seine Fehltritte verantworten müssen! „Warum wolltest du mich wohl betrunken machen?“ sagte Binchinminfin, der es nicht schaffte, sich darüber klar zu werden, dass er bereits betrunken war. „Was hätte dir das denn einbringen sollen?“ „Ich hätte dir die Kehle aufgeschlitzt,“ sagte Chegory, der dabei Olivias Umklammerung abschüttelte, um sich torkelnd aufzurichten. „Ich hätte dir die Milz mit einem Seziermesser herausgeschnitten. Ich hätte dir die Leber zerfetzt. Ich hätte dir die Lunge herausgerissen. Nämlich so!“ Mit diesen Worten taumelte Chegory auf den Dämon zu. Stolperte dann und fiel hin. Kam dann wieder auf die Beine. Offenkundig musste Binchinminfin irgendetwas unternehmen. Aber was? Das Logische und Sinnvolle wäre gewesen, den jungen Chegory Guy einzuäschern. Oder ihn in eine Kröte zu verwandeln. Aber weil der Dämon betrunken war, tat er stattdessen etwas Vorschnelles und verließ den Körper Varazchavardans zugunsten des Körpers des Ebrellianers, jenes großartigen rothäutigen Körpers, der besser kämpfen, besser trinken und auch das andere besser tun konnte, als jedermann sonst in Sichtweite. Varazchavardans verlassener Körper sackte bewusstlos auf dem Nahrungsteppich zusammen. „Er hat ihn getötet!“ sagte einer der Wächter und meinte damit, dass Chegory Binchinminfin erschlagen hatte. Sofort stürzten einige Soldaten vorwärts, in der Absicht, Chegory Guy auf der Stelle niederzumetzeln. Olivia kreischte. Aber die Wächter sollten ihr Ziel nie erreichen. Sie wurden stattdessen herumgewirbelt und gegen die Wände geschmettert. Bewusstlos brachen sie zusammen. Seite 259 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Im Zwischengeschoss richtete ein Wächter seine Armbrust auf Chegory und betätigte den Abzug. Der Armbrustbolzen schnellte auf Chegorys Herz zu. Er kam dort aber nie an. Mitten in der Luft ging er in Flammen auf und löste sich einen Augenblick später in Nichts auf. „Das bin ich!“ brüllte Odolos Stimme, die sich äußerst seltsam anhörte, wie sie der Kehle des jungen Chegory Guy entsprang. „Ich, ich, Binchinminfin!“ Seine Wächter begannen, die Botschaft zu verstehen. Zu seinem Schrecken spürte Chegory, wie sich jemand seiner Kehle bediente, hörte die Worte, die daraus entsprangen, stellte aber fest, dass er überhaupt keine Kontrolle mehr über seinen Körper besaß. Er wurde ohne Rücksicht auf seine eigenen Gedanken gesteuert. So fühlte man sich also, wenn man von einem Dämonen besessen war! Es war mehr als alles andere wie einer jener schrecklichen Träume, in denen sich deine Gliedmaßen weigern, dir zu gehorchen. Seine erste Frage war: Olivia! Wo ist Olivia? Aber er konnte es nicht herausfinden, denn der Dämon hatte seinen Blick auf einen Krug Feuerwasser gerichtet, den er jetzt gerade in den Trinkschädel leerte, den Chegory verwendet hatte. Olivia! Olivia! Olivia! So Chegory. Die viel interessantere Frage, die ihm in diesem Moment überhaupt nicht in den Sinn kam, war, warum Binchinminfins jüngster Akt der Inbesitznahme nicht zur Bewusstlosigkeit sowohl des Dämons als auch seines neuen Wirts geführt hatte. Als Binchinminfin vom Beschwörer Odolo zum Wunderwirker Varazchavardan übergesprungen war, war das neu in Besitz genommene Fleisch eine Zeitlang bewusstlos gewesen, wohingegen der Dämon Chegory ohne die geringste Schwierigkeit übernommen hatte. Die Antwort auf dieses Rätsel liegt natürlich im Feuerwasser, das beide Seiten so großzügig konsumiert hatten. Alkohol lindert den seelischen Schock, den ein vernunftbegabtes Wesen normalerweise auslöst und erleidet, wenn es von einem Körper zum nächsten überspringt. Lange Zeit saß Binchinminfin hiernach da und betrank sich. Aber jedes Fleisch hat seine Grenzen, und selbst Chegory Guys Körper konnte schließlich nicht noch mehr vertragen. Der Schnaps überwältigte ihn, und die geistige Kraft des Dämons und des Ebrellianers schraubten sich gemeinsam spiralförmig hinab in die Bewusstlosigkeit. Der Körper lag einfach da, in dem beide Bewusstheiten nun untätig verharrten. Die Wächter wachten über ihren dämonischen Herrn, während die Nacht vorwärtskroch. Anderswo, auf der Insel Jod, saßen Chegorys ehemalige Abenteuergefährten um ein Wachtfeuer herum, rösteten Vampirratten und verspeisten selbige sodann. Unterdessen strömte der stetige Fluss von Dickel und Schlack aus den Schatzquellen, als ob er bis in alle Ewigkeit damit weitermachen wollte. „Er kommt nicht zurück,“ sagte Pokrov schließlich, um damit das Offenkundige festzustellen. „Nein,“ sagte Uckermark. „Das tut er nicht.“ „Also – also was sollen wir dann dem Einsiedlerkrebs erzählen?“ sagte Pokrov. „Darüber soll sich Zozimus den Kopf zerbrechen, nicht wir,“ sagte Uckermark. „Er ist derjenige, der diese Aufgabe eigentlich erledigen sollte.“ Die fragliche Aufgabe war, wie Sie sich bestimmt erinnern werden, den Dämon Binchinminfin zu fragen, ob er so nett sein könnte, den Einsiedlerkrebs mit einer menschlichen Gestalt zu versehen. Doch Zozimus hatte sich bereits zurechtgelegt, was er dem Krebs sagen würde. Seite 260 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Am Morgen,“ sagte Zozimus, „werde ich dem Krebs erzählen, dass ihm der Dämon ausrichten lässt, er soll sich schleunigst verpissen. Dann wird hier vielleicht ein wenig Schwung in die Sache kommen!“ Seite 261 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 35 Die Morgendämmerung erreichte Injiltaprajura, aber den Sonnenglocken gelang es nicht, zu läuten, um den Beginn Istarlats zu verkünden. Die Morgendämmerung brachte Licht, das den Schein der Wachskerzen ergänzte, die in der Sternenkammer des rosa Palastes hoch droben auf dem Pokra-Kamm brannten. Dieses Licht enthüllte ein grässliches Bild. Über den Teppich aus verfaultem Chowder und Kedgeree, der den größten Teil des Bodens bedeckte, brummten bereits fette Fliegen herum. Ein Teil dieses Teppichs hatte sich in eine weiße, zappelnde Masse von Maden verwandelt. Mitten in dieser mit Erbrochenem bespritzten Schmiere aus fauliger Nahrung lagen ein gutes halbes Dutzend leerer Krüge (die einst Feuerwasser enthalten hatten) und der Nachttopf, den sich der Dämon Binchinminfin zuerst als Krone und später als Trinkbecher ausgesucht hatte. Rundherum im Raum verteilt standen, saßen oder lagen verschiedene Menschen in Posen des Schlafes, der Erschöpfung oder der Verzweiflung. Da war Artemis Ingalawa, die eine erschöpfte und tränenüberströmte Olivia tröstete. Da war Kaiserin Justina, die ihren weißen Affen Vazzy in den Armen hielt. Von diesen abgesehen, waren ein halbes Dutzend namenloser verdreckter Frauen da (Dienstmägde und dergleichen) und ein paar Kellner. Und der schlanke und leukodermische Aquitaine Varazchavardan, der alle, die er in seinem Blick hatte, mit offenkundiger Verachtung musterte. Mit seinen rosaroten Augen beobachtete der Meister der Rechte einen jungen Soldaten, der den Wunschstein in seiner Obhut hatte. Der Mann schien sich damit etwas wünschen zu wollen. Der Wunderwirker konnte sich schon denken, was der Krieger haben wollte. Sämtliche Soldaten in der Sternenkammer waren sehr müde, und selbstverständlich wurden sie alle von dem bestialischen Gestank gequält. Sie waren in die Armee des Izdimir-Reichs eingetreten, um einen regelmäßigen Sold zu erhalten, sowie die Gelegenheit, Reisen zu unternehmen und sich in farbenprächtige Uniformen zu kleiden. Aber nicht, um eine Kloake zu beaufsichtigen! Die meisten hatten in der letzten Nacht nur wenig geschlafen, da die Garnison fürchterlich unterbesetzt war, dank der massiven Fahnenflucht, die auf Binchinminfins Machtergreifung gefolgt war. Die wenigen, die dem Dämon ihre Treue geschenkt hatten, hatten die schwere Aufgabe, Schatzkammer wie Weinkeller zu bewachen, das Küchenpersonal davon abzuhalten, sich der Abwanderung aus dem Palast anzuschließen, und Wache bei ihrem neuen Herrn und Meister zu halten. Bei ihrem bewusstlosen Herrn und Meister. Wie wir wissen, können Ebrellianer viel mehr trinken als gewöhnliche Sterbliche. Aber nachdem Binchinminfin von Chegory Guy Besitz ergriffen hatte, hatte der Dämon schließlich die natürliche Grenze des Fleisches seines neuen Wirts gefunden. Im Augenblick war der Dämon jedem Soldaten ausgeliefert, dem nach einem Meuchelmord zumute sein würde. Ein paar der bewaffneten Wächter, die der Ansicht waren, dass sie einen Fehler bei der Wahl ihres Oberherrn gemacht hatten, überlegten sich das tatsächlich. „Oh, was für ein strahlend-schöner Morgen!“ sagte Justina Thrug und streckte sich dabei auf eindrucksvolle Weise. Sie blies eine Kerze aus. „Ausgepustet! Vorbei mit deinem Licht! Guten Morgen, Vazzy. Wie geht’s dir heute? Was liegt an? Hat es dir die Sprache verschlagen? Oh, du bist aber gar nicht lustig! Also na schön, wer hat denn jetzt hier das Sagen?“ „Darüber brauchst du dir überhaupt keine Sorgen zu machen,“ knurrte einer der Soldaten. „Du wirst nämlich nirgendwo hingehen.“ „Oh, ich glaube, wir alle werden bald irgendwo hingehen,“ sagte die Kaiserin. „Expeditionen im Dienst der Hygiene stehen heute auf der Tagesordnung. Falls nicht, werden wir alle tun, was wir eben tun müssen. Mir ist das egal. Aber ihr müsst mit dem Ergebnis zurechtkommen.“ Die Soldaten mussten schon mit mehr zurechtkommen, als ihnen lieb war, deshalb stellte einer von jenen, die über mehr Initiative als der Rest verfügten, kleine Gruppen zusammen, die dann von bewaffneten Wächtern in andere Teile des Palastes geleitet wurden. Nach einiger Zeit ließ man Justina selbst zusammen mit Olivia Qasaba und Artemis Ingalawa fortmarschieren. Kaum war sie der Sternenkammer entronnen, überredete sie ihre Aufseher, ihr einen Abstecher zu dem Schwimmbecken zu erlauben, das sich auf dem Dach des Palastes befand. Das kostete ihr nur wenig Mühe. Die Soldaten hatten keine Eile, wieder in die Sternenkammer zurückzukehren, und zogen es bei weitem vor, drei Frauen zuzusehen, die sich miteinander im Wasser vergnügten. Der nächste Halt war in Justinas Seite 262 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Privatgemächern. Dort suchte die Kaiserin frische Kleider für sich selbst und die beiden Ashdan-Frauen aus. Bei ihrer Rückkehr in die Sternenkammer trafen sie Chegory Guy aufrecht sitzend an. Er blickte sie mit Augen an, die von einem blutigen Rot durchzogen waren, das noch intensiver war als das seiner Haut. „Chegory,“ sagte Olivia zaghaft. „Das ist nicht Chegory,“ sagte Ingalawa. „Das ist der Dämon Binchinminfin. Der Thronräuber.“ „Du bist da drinnen!“ beharrte Olivia. „Stimmt’s, Chegory? Du kannst mich hören, mein Geliebter. Stimmt’s?“ Chegory Guy steckte tatsächlich in dieser roten Haut. Er hörte Olivia, konnte aber nicht mal einen einzigen Muskel bewegen. Er konnte nicht sprechen. Frustriert und wütend spürte er, wie sich seine Kehle bewegte, weil der Dämon Binchinminfin zu stöhnen begann. Der Akzent des Beschwörers Odolo kam aus seiner Kehle, als Binchinminfin krächzte: „Ich sterbe…“ „Binchinminfin, mein Fürst,“ sagte einer seiner Soldaten. „Das ist nicht der Tod, der Euch plagt. Das ist nur ein Kater.“ „Oh,“ sagte der Dämon mit der Stimme Odolos. Mit schwacher Stimme. „Oh. Ein Kater. Nebenwirkungen. Jawohl, ich erinnere mich.“ Dann schlossen sich Chegorys Augen, und sein Gesicht erschlaffte. Der Dämon durchstöberte Chegorys Geist. Dann belebte sich das Gesicht wieder, und Binchinminfin starrte erneut aus diesen Augen heraus. „Mir scheint,“ sagte der Dämon, „dass es für diese Nebenwirkung keine Heilung gibt, außer der Zeit. Man muss sie einfach aushalten. Ist das vielleicht falsch?“ „So lautet die Weisheit dieser Welt, mein Fürst,“ sagte der gleiche Soldat, der ihn als erster angesprochen hatte. Der Mann tat sein Bestes, höfliche Ehrerbietung zu zeigen, und er machte seine Sache ausgezeichnet. Aber die Anspannung, unter der er stand, war offensichtlich. Binchinminfin schaute umher. „Varazchavardan,“ sagte er. „Es bringt gar nichts, zu mir zu kommen,“ sagte Aquitaine Varazchavardan, der noch schrecklich an den Folgen des Trinkgelages der letzten Nacht litt und keine Eile hatte, erneut besessen zu werden. „Erinnert Ihr Euch nicht mehr? Ihr habt mich bitterlich missbraucht, bevor Ihr mich losgelassen habt. Ich leide selbst jetzt noch unter Höllenqualen. Mein Kopf ist voller Vorschlaghämmer.“ Dann deutete der Meister der Rechte auf Justina. „Wenn Ihr jemanden übernehmen müsst – dann nehmt sie.“ Dort drüben stand Justina, frisch gewaschen und frisch gekleidet, die gerade mit stillem Vergnügen über einen privaten, unausgesprochenen Scherz in sich hineinlächelte. Von allen Leuten in der Sternenkammer sah sie wie die Glücklichste, Gesündeste und Angenehmste aus. Binchinminfin verschwendete keine Zeit mit Nachdenken. Der Dämon handelte stattdessen – er verließ den jungen Chegory zugunsten des Fleisches der Kaiserin. Diesmal gab es keinen Alkohol, der in der Lage gewesen wäre, den seelischen Schock der Transmigration zu lindern. Als sie der Dämon in Besitz nahm, fiel Kaiserin Justina deshalb besinnungslos in das als Teppich dienende Essen und verschmutzte dabei gründlich ihre neuen Kleider. „Chegory!“ sagte Olivia. „Ich bin frei!“ sagte er. Wenige Augenblicke später lagen sie sich gegenseitig in den Armen. Justinas weißer Affe, Vazzy, wählte sich vorsichtig einen Weg durch den Dreckmatsch zu seiner Herrin. Er blieb bei ihrem langsam atmenden Körper stehen und trötete kläglich vor sich hin. „Affe und Dämon sind wieder vereint,“ sagte Varazchavardan, der dabei seine Stimme auf eine für öffentliche Ansprachen erforderliche Lautstärke steigerte, weil er soeben anfing, eine kleine Rede an die Soldaten zu Seite 263 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 richten. „Sie passen gut zueinander, stimmt’s? Dieser Binchinminfin hat mit dem Affen seinen bisher besten Gefährten gefunden. Schaut euch nur mal diesen Ort an! Auf das läuft es hinaus, wenn man von einem Dämon regiert wird. Ist es das, was ihr wirklich wollt?“ Kein Soldat behauptete, dass es das war. Also fuhr Varazchavardan fort: „Ihr habt eine Wahl. Entweder ihr ertragt einfach jeden Wahnsinn, den sich der Dämon als nächstes erträumen wird. Oder ihr schreitet zur Tat – aber dann handelt lieber schnell, meine Freunde, oh ja, sorgt dafür, dass ihr es schnell erledigt. Stürzt den Dämon. Bereitet seiner Herrschaft ein Ende. Aldarch der Dritte wird euch mindestens ebenso gut belohnen, wie das irgendein Dämon könnte. Dieses Dämonen-Ding ist soeben im Fleisch der Kaiserin zu Boden gegangen. Es braucht nur einen kurzen Moment. Handelt jetzt. Sichert euch die Zukunft. Vernichtet sie.“ „Das könnt’ ihr doch nicht!“ sagte Chegory, der sich dabei von Olivia losmachte. „Können wir nicht?“ sagte Varazchavardan. „Was ist denn das für ein Blödsinn? Natürlich können wir! Tatsächlich müssen wir das sogar!“ „Aber das ist – das ist doch die Kaiserin!“ „Deine Hure,“ sagte Varazchavardan. „Ich weiß. Aber was soll’s? Du hast dir doch schon eine neue ausgesucht.“ Varazchavardans Worte wirkten locker, aber in seiner Stimme lag der Tod. Würde man ihn nicht aufhalten, würde er die Kaiserin in wenigen Augenblicken töten lassen. Chegory war ein Patriot. Mit einem Wutgebrüll stürzte er auf den Wunderwirker zu. Ein Wächter setzte sich in Bewegung, um ihn abzufangen. Aber niemand beobachtete Artemis Ingalawa. Die gerade schon kurz davor stand, Varazchavardan ins Handgemenge zu nehmen. Dem Hexer blieb keine Zeit, Flammen zu seiner Verteidigung heraufzubeschwören. Er hatte kaum Zeit, eine Hand zu seiner Selbstverteidigung zu erheben. Ingalawa packte diese Hand am Gelenk. Man hörte das Knacken zerbrechender Knochen. Einen Schrei von Varazchavardan. Ingalawa schlug zu. Mit ihrer Handkante zerschmetterte sie sein Schlüsselbein. Schon stürmten die Wächter auf sie zu. Sie schnappte sich einen herrenlosen Krummsäbel und nahm eine Verteidigungshaltung ein. Die Wächter zögerten, denn jeder Ashdan mit einer Waffe ist gefährlich – und das hier war eine kräftige, entschlossene, athletisch gebaute Frau. Dann versetzte Chegory dem Mann, der ihn festhielt, einen Tritt. Chegory trat fest zu, trat unterhalb der Gürtellinie zu und ließ seinen Wächter gelähmt vor Schmerz zurück. Dann packte der Ebrellianer den bewusstlosen Körper der Kaiserin Justina und war auf und davon. Olivia rannte ihm hinterher. Ingalawa hieb nach dem nächststehenden Wächter und schlitzte ihm dabei den Arm bis auf die Knochen auf. Dann folgte sie ihnen. Das tat auch der albinotische Affe Vazzy, der vor Wut und Erregung Schreie ausstieß, während er durch die Gänge des ros Palastes hoppelte. Natürlich waren sie alle dem Untergang geweiht. Sie hatten keine Chance, dass sie den Wächtern davonlaufen könnten, solange Chegory mit dem Gewicht der Kaiserin belastet wäre. Aber er tat dennoch sein Bestes. Er war jung, fit und muskulös; das tägliche Zerhämmern von Steinen unter der gleißenden Sonne auf Jod hatte seinen Körper gestählt. Dagegen waren die Soldaten verweichlicht, überfüttert und in schlechter Verfassung, dank der langen Jahre ereignislosen Garnison-Alltags. Chegory hatte immer noch einen Vorsprung vor ihnen, als er in die Eingangshalle des rosa Palastes platzte. Geschrei begrüßte seine Ohren. Seite 264 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Eine Volksmenge aus Bettlern, Bittstellern, Priestern und verschiedenen Möchtegern-Plünderern drängte sich im Säulengang des Palastes und versuchte, Einlass zu erhalten. Eine Handvoll Wächter hielt sie davon ab. Chegory, Ingalawa, Olivia und Vazzy, der Affe, stießen von hinten auf diese Wächter, brachen durch die dünne Reihe militärischer Bedrohung hindurch und zwängten sich in die Menge hinein. Die wenigen Soldaten, die ihnen zu folgen versuchten, wurden vom Pöbel zu Fall gebracht. Dann wurden sie auf die schauderhafteste Weise getreten und geschlagen, ehe sie von ihren Kollegen gerettet und zurück in die Sicherheit des rosa Palastes gebracht wurden. Nach ausgedehnter Rangelei schlugen die Wächter endlich den Pöbel zurück, schlossen die Tore des Palastes und sicherten diese Festung vor dem unmittelbaren Eindringen. Aber zu diesem Zeitpunkt waren Chegory und seine Gefährten natürlich schon weit weg. Seite 265 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 36 Als Chegory und seine Gefährten das Hafenviertel erreicht hatten, stellten sie fest, dass die gesamte Oberfläche des Laitemata von erstarrtem Dickel bedeckt war. Tagelang hatten die Schatzquellen gallengrünen Dickel und graue Schlack verströmt. Vermischte man diese beiden Substanzen, bildeten sie eine ölige, schillernde Flüssigkeit, die ein spezifisches Gewicht besaß, das beinahe identisch mit dem von Meerwasser war. Aber unter ruhigen Bedingungen fällt die Schlack aus und sinkt hinab, um die Steine am Meeresboden mit grauem Schlamm zu bedecken, der alles dort am Boden hausende Leben tötet, während der Dickel nach oben schwebt und sich zu einer geringfügig verformbaren Kruste verfestigt. Während der vergangenen Nacht hatten sich die beiden fraglichen Substanzen auf diese Weise getrennt. Mit dem Ergebnis, dass der Laitemata jetzt eine glatte grüne Ebene war. Die Sonne brannte herab, aber wenn die Sonne auch heiß war, so war sie doch nicht heiß genug, um den Dickel zum Schmelzen zu bringen. „Schaut fest aus,“ sagte Olivia. „Vielleicht können wir einfach darauf hinüberlaufen.“ „Das würde ich lieber nicht tun, wenn ich an deiner Stelle wäre,“ sagte Ingalawa. „Das Zeug ist thixotrop. Das heißt…“ „Oh, ich weiß schon, was das heißt,“ sagte Olivia. Dann machten sie sich auf den Weg über die Hafenbrücke. Vazzy blieb zurück und trötete kummervoll. „Hab’ keine Angst!“ sagte Olivia. Doch der albinotische Affe weigerte sich, sich den Gefahren der Brücke auszusetzen. „Oh, sei doch nicht so albern!“ sagte Olivia und lief zurück, in der Absicht, ihn an die Hand zu nehmen. Aber Vazzy hoppelte fort zu den Gebäuden. „Komm schon!“ sagte Artemis Ingalawa in ihrem Das-ist-eine-ernste-Sache-und-nicht-die-Zeit-um-mit-Affenzu-spielen-Ton. Deshalb rannte Olivia den anderen hinterher und hatte sie schon bald wieder eingeholt. Vor ihnen lag die Insel Jod, wo der strahlend-weiße Marmor des Analytischen Instituts in der Sonne glänzte. Aus der Küche des Instituts erhob sich ein wenig Rauch, der Ingalawa und Olivia daran erinnerte, dass sie noch kein Frühstück gehabt hatten. Chegory dachte dagegen nicht ans Essen. Dafür musste er viel zu schwer arbeiten. Er hatte sich den bewusstlosen Körper der Kaiserin Justina über die Schulter geworfen – und sie hatte ein ordentliches Gewicht. Deshalb sagte er nichts, bis ihm, nachdem er den halben Weg über die Brücke zurückgelegt hatte, eine fröhlich singende Lichtkugel begegnete. „Hallo, Chegory!“ sang Schäbbel. „Hi,“ sagte Chegory ohne nennenswerte Begeisterung. „Oh, es ist so schön, dich wieder zu sehen, mein allerliebster Chegory,“ sagte Schäbbel glücklich. „Du bist ja so lange fort gewesen! Ich hab’ schon gedacht, du wärst für immer verschwunden!“ „Ich hab’ schon gemerkt, dass du nicht nach mir gesucht hast,“ sagte Chegory, während er zielstrebig weiterlief und dabei stolz auf seine Fähigkeit war, seine Last mit so einem flotten Tempo befördern zu können. „Das hab’ ich doch nicht tun können! Dort ist doch dieser Dämon, stimmt’s? Im Palast!“ „Nein,“ sagte Chegory. „Dieser Dämon ist genau hier. In der Kaiserin Justina.“ Als Schäbbel diese alarmierende Neuigkeit erfahren hatte, quiekte er vor Angst und schwang sich weit, weit hinauf in die Lüfte. Chegory lief weiter. Jods Schatzquellen hatten irgendwann in der Nacht aufgehört, Dickel und Schlack zu verströmen, und deshalb war er in der Lage, die Kaiserin zur Insel zu tragen, ohne durch einen Seite 266 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 ekelhaften chemischen Erguss stapfen zu müssen. Als er und seine Gefährten den Haupteingang des Analytischen Instituts erreicht hatten, war Schäbbel wieder vom Himmel herabgestiegen. Der Sonnenimitator fürchtete sich zwar vor dem Dämon Binchinminfin – aber ihn plagte dennoch die Neugier. Was war geschehen? Und was würde außerdem jetzt geschehen? Schäbbel war mit seiner Neugier nicht allein. Die nervösen Bewohner Jods hatten Wachtposten aufgestellt, die Chegory, Ingalawa und Olivia bereits erspäht hatten, als diese die Hafenbrücke gerade erst betreten hatten. Als sie deshalb zusammen mit der Kaiserin das Analytische Institut erreicht hatten, hatten sich praktisch alle auf der Insel schon dort versammelt, um herauszufinden, was eigentlich geschehen war. Das Gedränge der Leute war so groß, dass Chegory die Kaiserin nicht hineinbringen konnte und ihm nichts anderes übrig blieb, als sie auf den Boden zu legen. Da stand er nun, streckte seinen Rücken durch, streckte seine Arme durch, und grinste dabei. Er konnte nicht umhin, stolz auf seine Kraft zu sein. Auf seine körperliche Überlegenheit. Obgleich er freilich wusste, dass ein solches Gut in der gegenwärtigen Krise kaum einen Wert besaß. Was für eine Menge! Odolo war da. Ivan Pokrov ebenso. Die Marodeure vom Volk der Malud natürlich auch. Guest Gulkan und alle anderen seiner Fraktion, einschließlich der beiden Zauberer Hostaja Sken-Pitilkin und Pelagius Zozimus. Das Küchenpersonal. Verschiedene Mechaniker und Algorithmiker. Und es waren auch noch andere da, einschließlich einiger Leute, die vom Festland hierher geflohen waren, und die Chegory überhaupt nicht kannte. Sie alle hatten ihre Fragen, und deshalb sorgte zunächst der von Ungeduld geleitete interrogative Aufruhr für ein völlig unerträgliches Durcheinander. „Wo,“ rief Guest Gulkan aufgebracht, „ist denn der Wunschstein? Sag’ bloß nicht, du hast ihn dort gelassen!“ „Zur Hölle mit dem Wunschstein!“ sagte Chegory. „Du hast ihn also tatsächlich dort gelassen!“ sagte Guest Gulkan. Fluchte dann. Der angeblich rechtmäßige Herrscher von Tameran war so wütend, dass er Chegory vielleicht Gewalt angetan hätte, wenn der Stiermann Log Jaris nicht eingeschritten wäre. „Schluss jetzt!“ sagte Log Jaris. „Mir reicht’s jetzt mit euch beiden!“ Dann rief er alle Anwesenden zur Ordnung. „Sprich, Chegory,“ sagte Log Jaris. „Erzähl’ uns, was geschehen ist.“ „Oder vielmehr, was nicht geschehen ist!“ sagte Chegory. Holte dann Luft, ordnete seine Gedanken und fing an. Obwohl sein Redefluss unter psychischem Druck zur Zusammenhangslosigkeit neigte, war er, wenn er sich beherrschte und genügend Zeit ließ, beinahe zu einer richtig flüssigen Aussage in der Lage. Der junge Chegory gab den Versammelten tatsächlich einen überraschend klaren und genauen Bericht über die jüngsten Ereignisse im rosa Palast und versicherte ihnen, dass im Augenblick der Dämon Binchinminfin höchstwahrscheinlich den Körper der Kaiserin Justina in seinen Besitz gebracht hatte. „Folglich bleibt uns nur eins übrig,“ sagte Pelagius Zozimus und rieb sich dabei kräftig die Hände. „Eine Austreibung.“ „Eine Austreibung?“ sagte Chegory. „Wir werden den Dämon aus Justinas Körper vertreiben,“ sagte Zozimus. „Ist das auch wirklich ungefährlich?“ sagte eine Küchenhilfe. „Ungefährlich?“ sagte Zozimus. „Hier gibt’s keinen ungefährlichen Weg. Egal, was wir tun werden, es wird alles gefährlich sein. Sollen wir die Kaiserin töten? Das könnten wir nämlich. Der Dämon Binchinminfin würde zusammen mit ihrem Fleisch sterben. Oder zumindest in die Welt des Jenseits gestoßen werden. Aber wo würden wir dann bleiben? Bei Varazchavardan im rosa Palast – und der ist bereit, dem Willen von Aldarch dem Dritten Geltung zu verschaffen. Wer von uns dürfte dann noch hoffen, von hier lebendig davonzukommen? Seite 267 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Nein, wir brauchen die Kaiserin. Mit ihr als Galionsfigur können wir den Krieg gegen Varazchavardan mit den größten Erfolgsaussichten gewinnen. Neun Zehntel von Injiltaprajura werden ihr mit Sicherheit die Treue halten. Nein. Überleg’ dir nicht, was vielleicht ungefährlich sein könnte. Mach’ dich lieber nützlich. Hilf mir, die Frau hinein zu bringen.“ Dann wurde Justina in Ivan Pokrovs Privaträume gebracht, die meisten Schaulustigen wurden verscheucht, und Pelagius Zozimus begann sich auf die Austreibung vorzubereiten. Chegory Guy bestand darauf, dabei zugegen zu sein, damit Zozimus seine Kaiserin nicht ermorden konnte. Ingalawa bestand ebenfalls darauf. Sie hatte ihren Krummsäbel mitgebracht und war bereit, ihn auch zu gebrauchen, sollte sich dieser ausländische Zauberer meuchlerisch verhalten wollen. Uckermark, Log Jaris und die drei Marodeure vom Volk der Malud wollten ebenfalls zuschauen, da sie alle ein finanzielles Interesse an Justinas Überleben hatten. Pelagius Zozimus hatte nur die ehrenhafteste aller Absichten. Dennoch wusste er, dass Teile der Austreibung von diesen lästigen Schaulustigen missverstanden werden könnten. Damit ein solches Missverständnis nicht zum Verlust seines Kopfes führen würde, stärkte Zozimus seine Position, indem er Hostaja Sken-Pitilkin, Guest Gulkan und Thayer Levant in das Austreibungszimmer kommen ließ, wo man die Kaiserin inzwischen auf Pokrovs Bett gelegt hatte. Olivia schlüpfte mit all den anderen in das Zimmer hinein, da sie nicht von Chegory getrennt werden wollte. Das Paar stand Hand in Hand im heißen, schweißtreibenden Gedränge der schwer atmenden Menge von Schaulustigen. Noch eine weitere Person war anwesend. Odolo. Er war derjenige, der als Erster von Binchinminfin besessen gewesen war. Er wollte bei diesem Ding bis zu dessem Ende dabei sein. Oh, und Schäbbel war natürlich auch dabei – er schwebte über all den anderen und summte dabei sehr, sehr leise vor sich hin. Alle Schaulustigen waren äußerst gespannt, zu erfahren, wie so eine Austreibung durchgeführt wurde. Die meisten nahmen an, sie würden gleich einem Experten bei der Arbeit zuschauen. Nun ja… das würden sie wohl, und doch würden sie es auch wieder nicht. Die meisten Zauberer hatten keine Ahnung von Austreibungen. Doch Pelagius Zozimus war ein Meisterzauberer vom Orden von Xluzu, der sich auf die Wiederbelebung von Leichen spezialisiert hat. Dieser Orden hat zwangsläufig einige Seitenzweige entwickelt, die sich mit verwandten Wissensgebieten beschäftigen. Weil es viele hässliche Dinge aus dem Jenseits gibt, die wiederbelebtes totes Fleisch für ihre eigenen Zwecke umformen können, sind die Zauberer von Xluzu notgedrungen zu Austreibungsexperten geworden. Natürlich besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Entfernen eines Dämons aus einer Leiche und dem Vertreiben des gleichen Wesens aus lebendigem Fleisch. Die Besitzergreifung lebendiger Körper durch Außenseiter ist extrem selten, so dass es kaum überraschend sein kann, dass Pelagius Zozimus überhaupt keine persönliche Erfahrung besaß, wie man mit diesem Phänomen umgehen sollte. Und deshalb – Würden seine Methoden funktionieren? Und falls sie funktionieren würden, würde Kaiserin Justina am Ende des Verfahrens noch immer bei geistiger Gesundheit sein? Austreibung ist ein, gelinde gesagt, äußerst unschönes Unterfangen. Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Probier’s einfach aus, und schau’, was dann passiert! Zozimus erster Schritt war es, Justinas Puls zu fühlen. Der war langsam. Sehr langsam. Ihr Körper befand sich in Ruhelage, und ihr Geist ebenso. Ihr Atmen konnte er nicht hören, wegen des ganzen Gezappels, Geflüsters, Gehustes und Gescharres im Zimmer, aber er konnte sehen, dass das Heben und Senken des kaiserlichen Bauchraums langsam und regelmäßig verlief. „Sie wird’s schon aushalten,“ murmelte Hostaja Sken-Pitilkin, der sich dabei der Hohen Sprache der Zauberer bediente. „Ihr Fleisch wohl,“ sagte Zozimus zu seinem Cousin. „Aber auch ihr Geist?“ Seite 268 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Das,“ sagte Sken-Pitilkin, „können wir nur durch einen Versuch herausfinden.“ Damit endete das Gespräch der beiden – denn Zozimus konzentrierte sich nun in seinem Geist auf die ordnungsgemäße Austreibung. Nach der nötigen mentalen Vorbereitung legte er seine Hände auf die kaiserliche Stirn und stellte fest, dass sie schweißnass und leicht fiebrig war. Dann entlud er die erste der Exorzierenden Energien. An dieser Stelle wäre es nett, wenn man die erzählerische Wirkung dieser Chronik steigern könnte, indem man beispielsweise sagen würde, dass die Kaiserin auf dem Bett herumgestrampelt hätte, weil sie in krampfhafte Zuckungen versetzt worden wäre. Oder dass sie zuerst blau, später rot angelaufen war, dass ihr die Haare zu Berge gestanden hatten, dass sich an ihren Fingerspitzen Blitze entladen hatten, dass ihr das Blut aus den Nasenlöchern geströmt war, dass ein überirdisches Feuer ihre Kleider mit kalt-brennender silberner Flamme verzehrt hatte, dass ihr Brustkorb aufgeplatzt war, um ihr pulsierendes Herz zu offenbaren, dass der Donner ihres Herzens angeschwollen war, bis er all jene taub gemacht hatte, die von Grauen gepackt um ihr Bett herumgestanden waren, und dass sich dann ein Ding in den Farben des Blutes und der Galle erhoben hatte, und zwar, sagen wir mal, aus der kaiserlichen Bauchspeicheldrüse. Weil dies jedoch eine nüchterne und verantwortungsbewusste Chronik ist, darf sie sich nur mit der Wahrheit befassen, wie öde sich diese Wahrheit auch erweisen mag. Um also die Wahrheit zu sagen, so gab es, als Zozimus die Exorzierenden Energien entfesselte, kein einziges sichtbares Anzeichen für den Horror-Schock, der die kaiserliche Psyche wie ein Albtraum durchzuckte. Solche Anzeichen hätte es aber geben sollen. Es hätte – allermindestens – einen durchdringenden Schrei und ein paar Zuckungen geben sollen. Aber es gab keine. Zozimus begann zu schwitzen. Hostaja Sken-Pitilkin wischte ihm besorgt die Stirn trocken. Zozimus glitt mit zwei Fingern die kaiserliche Luftröhre entlang, um den kaiserlichen Puls zu fühlen. Der Puls der Halsschlagader war kräftig, flink und unregelmäßig. Er verriet ihm, dass er mit Sicherheit das, was auch immer sich darin versteckt hielt, wachgerüttelt hatte. „Noch mal,“ murmelte Sken-Pitilkin. „Du kannst jetzt nicht aufhören.“ „Ich weiß, ich weiß,“ sagte Zozimus. Der Meisterzauberer vom Orden von Xluzu war sich überdeutlich des Drucks bewusst, den die Anwesenheit von so vielen Leuten verursachte. Die ihm alle zusahen. Die zusahen und abwarteten. Er hasste es, auf diese Weise zu arbeiten. Austreibungen sollte man allein durchführen, außer Sicht- und Hörweite jeder anderen Person. Aber die auf Messers Schneide stehenden politischen Verhältnisse auf der Insel Jod machten eine solche Abgeschiedenheit unmöglich. Die meisten der im Zimmer Anwesenden hatten Angst, dass Zozimus möglicherweise zum Mörder werden könnte. Sollte er versuchen, sie alle aus dem Zimmer zu verbannen, würde sich ihr Verdacht in Gewissheit verwandeln. Zozimus schauderte es. Dann beruhigte er sich wieder. Konzentrierte sich. Sammelte seine Kräfte. Legte dann erneut seine Hände auf Justinas Stirn und ließ erneut die Exorzierenden Energien frei. Seite 269 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Die Augen der Kaiserin Justina flackerten. Öffneten sich. Ein rotes Licht blitzte aus diesen Augen. Seine Intensität war so groß, dass Zozimus davon beinahe zu erblinden glaubte. Er schrie auf vor Schmerz und hielt sich die Hände vor die Augen. Schäbbel quiekte vor Angst und floh durch das nächstgelegene Fenster, wobei er das Moskitonetz zerriss. Im Zimmer wurde gebrüllt und gerempelt, bis Log Jaris um Ruhe bat – und sie auch erhielt. Justina hatte sich gerade auf ihrem Bett aufgesetzt. „Meine Güte!“ sagte sie und rieb sich dabei reumütig ihre Schläfen. „Ihr wisst wirklich, wie man einem Mädchen das Leben schwer machen kann!“ „Ihr geht’s wieder gut!“ sagte Chegory. Hielt sich dann die Hände vor den Mund. Denn er hatte mit Odolos Akzent gesprochen! „Er ist vom Dämon besessen,“ sagte Odolo nüchtern. „Das ist meine Stimme, die er da verwendet.“ „Lasst ihn bloß nicht entwischen!“ sagte Zozimus. Merkte dann, dass auch er mit einer Stimme gesprochen hatte, die ihm nicht gehörte. „Was geht hier vor?“ sagte Log Jaris. Der Klang von Odolos Stimme, der aus dem Mund des Stiermanns kam, war so komisch, dass Chegory nicht anders konnte. Er brach in Gelächter aus. „Der Dämon ist unter uns,“ sagte Sken-Pitilkin mit der gleichen Stimme. „Jawohl,“ sagte Zozimus. „Er versteckt sich, indem er seinen Akzent dadurch verbirgt, dass er den Akzent von uns allen verändert hat. Er muss also schwach sein, so schwach, dass er sich nach der Austreibung am Rande des Todes befindet. Sonst hätte er es nicht nötig, sich zu verstecken.“ „Aber wir sind alle bei Bewusstsein!“ protestierte Odolo. „Als der Dämon von mir auf Varazchavardan übergesprungen ist, hat er Bewusstlosigkeit verursacht. Der Wunderwirker ist wie tot umgekippt! Jetzt hat der Dämon Justina verlassen, aber niemand ist umgekippt. Dennoch behaupten Sie, dass der Dämon noch hier ist.“ „Ich bin nicht umgekippt, als der Dämon letzte Nacht zu mir gekommen ist,“ sagte Chegory. „Aber da bist du ja betrunken gewesen,“ sagte Zozimus. „Nach der Theorie gelingt einem Dämon die Besitzergreifung viel leichter, wenn die Zielperson betrunken ist. Du bist doch betrunken gewesen, oder?“ „Ja,“ gestand Chegory. „Na also,“ sagte Zozimus barsch. „Das erklärt die Sache. Hier muss irgendwer betrunken sein. Die Frage ist nur – wer?“ Aber niemand wollte zugeben, dass er betrunken war. „Hört mal,“ sagte Chegory, „als der Dämon betrunken gewesen ist, da ist er genauso betrunken gewesen, wie wenn ihr oder ich betrunken sein würdet, ich meine, das, das hängt mit dem Körper zusammen, okay? Ist der Körper betrunken, dann ist auch der Dämon betrunken. Wenn also hier irgendwer betrunken sein würde, würde sich das doch zeigen, nicht wahr? Man kann das nicht verheimlichen, stimmt’s? Ich meine, in gewissen Grenzen vielleicht schon, aber wir würden das doch merken, oder?“ „Der junge Chegory hat nicht ganz Unrecht,“ sagte Zozimus, schwer beunruhigt, dass er nicht selbst daran gedacht hatte. Seine (einleuchtende) Entschuldigung war, dass ihn die Mühen der Austreibung zu erschöpft zurückgelassen hatten, um noch klar zu denken. Er wandte sich an Sken-Pitilkin. „Mein lieber Cousin,“ sagte er, „es muss da etwas Einfaches geben, das ich versäumt habe. Was ist das?“ Seite 270 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Ich hab’ mein Frühstück versäumt,“ sagte Justina laut. „Besessen oder nicht besessen, wie wär’s, wenn wir etwas Essen in unsere Bäuche füllen würden?“ Sken-Pitilkin ignorierte sie. Zu seinem Cousin Zozimus sagte er: „Besessenheit von Gruppen. Das hast du übersehen.“ „Natürlich!“ sagte Zozimus. „Aber – aber diesbezüglich sind keine tatsächlichen Fälle verzeichnet. So etwas ist völlig theoretisch.“ „Das ist es bis jetzt gewesen,“ sagte Sken-Pitilkin noch immer mit der gleichen Odolo-Stimme. „Aber jetzt ist es eine Tatsache.“ „Worüber unterhaltet ihr euch da gerade?“ sagte Uckermark, dem es gelang, den Akzent des Beschwörers so aufzurauen, dass er dabei fast wie sein altes Selbst klang. „Wollt ihr damit etwa sagen, dass wir – dass wir alle besessen sind?“ „Das erklärt unsere Stimmen,“ sagte Zozimus. „Das erklärt auch das Fehlen eines bewusstlosen Opfers. Die Besitzergreifung einer einzelnen Person versetzt deren einziger Psyche einen gewaltigen Schock und führt deshalb zur sofortigen Bewusstlosigkeit. Wenn sich der Schock unter vielen aufteilt, kippt niemand bewusstlos um.“ „Ich hab’ überhaupt keinen Schock verspürt,“ widersprach Ingalawa. „Haben Sie nicht?“ sagte Zozimus. „Ich schon! Das Licht! Ich wäre beinahe blind geworden davon! Wir sind alle schockiert gewesen, stimmt’s? Aber wir haben es dem Lichtblitz zugeschrieben.“ „Aber,“ protestierte Chegory, „warum sollte der Dämon wohl all unsere Stimmen zu der von Odolo machen? Warum lässt er uns nicht unsere eigenen Stimmen?“ „Weil,“ sagte Odolo selbst, „sich der Dämon auf diese Weise an unserer Beratung beteiligen kann. Hab’ ich nicht recht? In jedem Augenblick kann der Dämon einen unserer Körper, eine unserer Stimmen kontrollieren. Er könnte uns auf diese Weise einen Ratschlag erteilen – während der Rest von uns glauben würde, dass dieser Ratschlag von einem unserer Freunde stammen würde.“ „Eine Sache ist aber sicher,“ sagte Zozimus, „auch wenn der Dämon wegen der Austreibung im Moment noch zweifellos schwach ist, so werden sich seine Kräfte doch geschwind erneuern. Wir müssen handeln! Und zwar jetzt!“ „Mein lieber Cousin,“ sagte Hostaja Sken-Pitilkin, „unsere Optionen sind begrenzt. Die Theorie kennt zwar die Besessenheit von Gruppen – aber wohl kaum die Anwendung der Austreibung bei derart besessenen Gruppen.“ „Ja,“ sagte Zozimus. „Aber Theorie ist wie eine Fremde für den Einsiedlerkrebs. Dort wohnt eine Macht, die uns vielleicht noch helfen kann!“ Seine Worte sorgten für gestammelte Aufschreie der Angst, des Protests und der Furcht. Der Einsiedlerkrebs! Die meisten derjenigen, die auf Untunchilamon lebten, fürchteten ihn mehr als alles andere, das man sich vorstellen konnte. Er war dafür bekannt, grausam, unbarmherzig und unberechenbar zu sein. Er hatte Leuten schon ihr Innerstes nach außen gekehrt. Einst hatte er – so behauptet das zumindest die Legende – zehn Tage hintereinander ohne Unterbrechung die Finsternis nach Injiltaprajura gebracht. Aber Zozimus blieb eisern. „Der Einsiedlerkrebs,“ sagte Zozimus, „hat die Hilfe des Dämons Binchinminfin erhofft. Der Einsiedlerkrebs hat sich solche Hilfe gewünscht, um zu einem Menschen zu werden. Wir haben den Dämon. Vielleicht kann der Einsiedlerkrebs den Dämon aus uns entfernen und dann in einer Katze einschließen. Oder in einem Hund. Oder in sonst etwas. Aber eine Sache weiß ich mit Sicherheit. Sobald der Dämon seine Kräfte wiedergewonnen hat, wird er sich auf fürchterlichste Weise an all jenen rächen, die hier und heute bei der Austreibung mitgeholfen haben. Und das heißt, an euch allen.“ Seite 271 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Aber – aber warum?“ sagte Odolo. „Wenn du in meinem Kopf gewesen wärst, mein Junge,“ sagte Kaiserin Justina streng, „würdest du keine so dumme Frage stellen. Ich weiß ja nicht, wie diese Austreibung für dich ausgesehen hat. Aber ich kann dir verraten, wie sie sich für mich angefühlt hat. Sie hat sich angefühlt, als ob – nein, du bist ein Mann, das würdest du nicht verstehen. Also – ah ja, jetzt weiß ich. Stell’ dir vor, dass man dich gerade kastriert, während jemand mit einem rotglühenden Schüreisen…“ In diesem Ton fuhr Kaiserin Justina fort, bis Odolo trotz der natürlichen olivgrünen Färbung seiner Haut ziemlich bleich geworden war. „In Ordnung,“ sagte Zozimus, der damit Justinas lebendige Schilderungen zu einem Abschluss brachte. „Ich bin sicher, jeder hier hat erkannt, wie ernst die Sache ist. Wir sind alle dem Untergang geweiht, wenn wir dem Dämon eine ausreichende Chance geben, seine Kräfte wiederzuerlangen. Wir sollten uns jetzt lieber zum Einsiedlerkrebs begeben.“ Nachdem schließlich die Furcht vor dämonischer Rache die Furcht vor dem Einsiedlerkrebs bezwungen hatte, verließ die Gruppe also das Austreibungszimmer, um die Macht aufzusuchen, die in unmittelbarer Nähe lebte, diejenige Macht nämlich, die ein Wirker von Wundern war, die weitaus größer als alles waren, was irgendein einfacher Hexer hätte ausrichten können. Rechnete man das Frühstück in der Dämmerung dieses Morgens dazu, hatte der Einsiedlerkrebs jetzt volle vier Mahlzeiten genossen, die Pelagius Zozimus zubereitet hatte, was dem Meisterkoch Anlass zu der Hoffnung gab, dass die Laune des Krebses einigermaßen milde sein würde. Als Zozimus aus dem Analytischen Institut heraustrat, ging er in Gedanken die kunstvolle Rede durch, mit der er den Einsiedlerkrebs für sein Anliegen gewinnen wollte. Seine Gedankenkette wurde aber jäh unterbrochen, als er feststellen musste, dass eine feindliche Streitmacht vor dem Institut Stellung bezogen hatte. „Varazchavardan!“ schrie Chegory Guy. Es war tatsächlich Aquitaine Varazchavardan – sein rechter Arm befand sich in einer Schlinge, um den Schlüsselbeinknochen zu entlasten, den ihm Artemis Ingalawa gebrochen hatte. Der Wunderwirker hatte sich in eine frische Robe gekleidet: es war jene, die er nur wenige Tage vorher ebenfalls getragen hatte, als er ein Mittagessen im Institut unterbrochen hatte. Verschlungene Drachen funkelten auf der festlichen Seide, deren Farben in der Sonne zum Leben erwachten. [Hier ist eine Unmöglichkeit, denn mit Sicherheit haben wir diese speziellen Roben bereits zweimal zerstört gesehen. Das erste Mal, als Varazchavardan von der ersten Flut der Schatzquellen ins Meer gespült worden war. Ein zweites Mal, als der Meister der Rechte seine eigenen Kleider in Brand gesteckt hatte, weil er Feuer verwendet hatte, um sich im Drunten gegen Piraten zu verteidigen. Ein derart offensichtlicher Fehler untergräbt auf massive Weise die Glaubwürdigkeit des gesamten Textes. Srin Gold, Außerordentlicher Kommentator.] [Mein Kollege Srin Gold übersieht dabei, dass Varazchavardan ein Hexer und deshalb sicherlich in der Lage war, seine Kleider mittels Magie wiederherzurichten. Sot Dawbler, Kommentar-Schule.] [Dawbler sollte es eigentlich besser wissen. Kein Hexer hat es jemals geschafft, seine Kräfte so weit zu beherrschen, dass sie ihm erlauben würden, eine derart feinfühlige Tätigkeit wie die Schneiderei auszuüben. Der Urheber des Textes muss sich getäuscht haben. Jan Borgentasko Ronkowski, Oberster Faktenprüfer.] [Nein. Der Urheber scheint sich stark auf Schäbbels Erinnerungen verlassen zu haben, bei denen wir Grund zur Annahme haben, dass sie perfekt sind. Wir sollten deshalb keinen Irrtum bei der Schilderung einer Szene vermuten, die dermaßen gut bezeugt ist. Die logische Inferenz ist die, dass Varazchavardan, der an anderer Stelle als sehr reich beschrieben wird, eine ganze Reihe von Roben besessen hatte, die man nach dem gleichen Muster gefertigt und identisch verziert hatte. Oris Baumgage, niederrangiger Faktenprüfer.] [Das ist sehr einleuchtend. Dennoch ist es für einen niederrangigen Faktenprüfer wie Baumgage völlig unangebracht, „logische Inferenzen“ zu machen. Er demonstriert damit eine Überheblichkeit, die überhaupt nicht zu seiner niedrigen Stellung im Leben passt. Schlimmer noch, er hat damit auf unverschämte Weise seinem Vorgesetzten widersprochen, dem berühmten Ronkowski. Fünf Peitschenhiebe! Jonquiri O, OberZuchtmeister.] Seite 272 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Trotz der Leichtigkeit seiner Seidenrobe schwitzte Varazchavardan kräftig, strömte salziges Wasser aus, das sich mit dem Sonnenöl vermischte, das auf seiner albinotischen Haut glänzte, um ihn vor den sengenden Strahlen des größten himmlischen Leuchtkörpers zu schützen. Vielleicht war es teilweise auch Angst, die ihn so stark schwitzen ließ, obwohl die zahlenmäßige Überlegenheit auf seiner Seite war. Jawohl, Varazchavardan war nicht allein hergekommen. Den Meister der Rechte begleiteten volle zwei Dutzend Wunderwirker. Chegory erkannte in manchen von ihnen Überlebende der Saufparty, die vorhin im Kabalenhaus getobt hatte. Beispielsweise war Nixorjapretzel Rat dabei, der einstmals Varazchavardans Lehrling gewesen und jetzt selbst ein versierter eigenständiger Hexer war. Die beiden Gruppen standen sich feindselig gegenüber. Varazchavardan und seine Verbündeten waren noch nicht endgültig bereit, den ersten Schritt zu machen. Immerhin konnten sie ja sehen, dass Kaiserin Justina auf den Beinen war. War sie noch immer vom Dämon Binchinminfin besessen? Falls ja, besaß sie vermutlich genügend Macht, jeden zu vernichten, der ihr nach dem Leben trachten würde. Im gegnerischen Lager blickten sich Pelagius Zozimus und Hostaja Sken-Pitilkin gegenseitig an. Beide wussten, dass sich ihre Mächte auf einem Tiefstand befanden. Sken-Pitilkin hatte nur wenig Kraft ansammeln können, seitdem er sich bei den Strapazen im Drunten völlig verausgabt hatte. Zozimus, der die bei weitem besseren Fähigkeiten als Zauberer besaß, hatte in der gleichen Zeit viel mehr Kraft aufgebaut – aber bei der kürzlich erfolgten Austreibung hatte er sie vollständig verbraucht. Das Paar konnte keine zwei Dutzend Wunderwirker bezwingen. „Versuch’s mit einem Bluff,“ sagte Sken-Pitilkin in der Hohen Sprache der Zauberer. „Ich werd’ mein Bestes geben,“ sagte Zozimus. Wechselte dann ins Janjuladoola, um mit Odolos Stimme zu sagen: „Varazchavardan! Hör mich an! Ich bin der Dämon Binchinminfin! Verzieh’ dich! Oder es soll dir Unheil widerfahren!“ In diesem Moment schwebte Schäbbel, der hoch in den Himmel geflohen war, wieder herab, um sich zu Chegory zu gesellen. Schäbbel hatte wirklich Angst, doch der Kindliche konnte es nicht länger aushalten, nicht zu wissen, was da gerade los war. „Was ist denn hier los, allerliebster Chegory?“ sagte die freischwebende Leuchtkugel. „Wir stehen kurz davor, getötet zu werden,“ sagte Chegory mit leiser, aber drängender Stimme. „Verbrenn’ sie, Schäbbel! Verbrenn’ sie, verbrenn’ sie ganz und gar! Die Wunderwirker! Röste sie bei lebendigem Leib!“ „Oh, das kann ich nicht machen!“ sagte Schäbbel. „Dann – dann hol’ den Einsiedlerkrebs! Sofort! Sofort! Wenn du mich magst, dann geh’! Geh’, oder ich bin tot – und Olivia ebenfalls.“ Schäbbel ging. Zozimus redete noch immer, drohte Varazchavardan gerade mit unbeschreiblichem Unheil, wenn sich der Meister der Rechte nicht friedlich von der Insel Jod zurückziehen würde. Der junge und unerfahrene Rat wurde sichtlich nervös, während Zozimus dieses Thema immer weiter vertiefte. Aber der Albino blieb standhaft. „Hinter gewaltigen Drohungen steckt oft nichts dahinter,“ sagte Varazchavardan, als Zozimus geendet hatte. „Ich glaube, du bluffst nur. Ich glaube, du bist überhaupt nicht der Dämon. Ich wäre nämlich schon tot, wenn du es sein würdest.“ „Du hörst doch meine Stimme,“ sagte Zozimus und klang dabei wie Odolo. „Du kannst also die Stimme eines Beschwörers nachahmen,“ sagte Varazchavardan kühl. „Was noch? Kannst du auch mit Orangen jonglieren?“ Seite 273 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Du wirst gleich nicht mehr so vorlaut daher reden,“ sagte Zozimus. Dann machte sein Cousin Sken-Pitilkin von der Macht Gebrauch, die ihm noch übrig geblieben war. Die Steinplatte, auf der Varazchavardan gerade stand, erhob sich plötzlich taumelnd in die Lüfte, während der Meister der Rechte torkelnd versuchte, auf ihrer Oberfläche das Gleichgewicht zu bewahren. Sie erhob sich bis auf Kopfhöhe eines Menschen. Dann stürzte sie genauso plötzlich nach unten. Krachend schmetterte sie zu Boden. Sie brach entzwei. Varazchavardan wurde weggeschleudert. Er schrie auf vor Schmerz, als er mit seinen Wunderwirker-Kollegen zusammenprallte und dabei sein gebrochenes Schlüsselbein auf grausamste Weise durchgerüttelt wurde. „Tötet sie!“ keuchte Varazchavardan. Zweifellos hätte es jetzt ein gewaltiges Gemetzel gegeben, hätte an dieser Stelle nicht eine Macht eingegriffen. „Begeneth!“ brüllte eine Stimme, die nach berstenden Felsen und rollendem Donner klang. Dieses einzige Wort in Toxteth rief die kriegführenden Fraktionen augenblicklich zur Ordnung. Der Besitzer dieser Stimme kam jetzt in Sicht. Es war der Einsiedlerkrebs. Während dieser eremitische Würdenträger vorwärts schritt, kauerten sich die verschiedenen Missetäter nieder und begannen, um barmherzige Rücksichtnahme zu flehen. Genauso, als ob der Große Ozean vom Sturm aufgewühlt wäre und die von den Schrecken des Meeres entmutigten Seeleute auf die Knie fallen würden, um ihre Gebete zum Himmel zu schicken, so schrumpften die Wunderwirker zusammen und stammelten vor Furcht, als ob vor ihnen ein Drache aus der Qinjok-Gegend stünde, oder ein ganz und gar nicht edelmütiges Ungeheuer aus der Skorpionswüste. Ihre Befürchtungen waren verständlich. Man kann schwerlich hoffen, sich erfolgreich mit dem Einsiedlerkrebs anzulegen, genausowenig, wie man einen Drachen in den Schwitzkasten nehmen kann, wie man mit einem Hammer, der aus einer Feder hergestellt wurde, Pflugscharen zu Schwertern schmieden kann, oder wie man ein Gewitter niederbrüllen kann, wenn einem die Kehle von einer Mandelentzündung fast zugeschnürt wird. „Varazchavardan!“ brüllte der Krebs. „Verlasse meine Insel! Sofort! Bevor ich dein Innerstes nach außen stülpe!“ Nixorjapretzel Rat rannte bereits. Gewisse andere Wunderwirker zogen sich ebenfalls mit einem Tempo zurück, das man kaum mehr in Einklang mit Würde bringen konnte. Varazchavardan begriff, wie die Dinge standen – und schloss sich dem allgemeinen Rückzug an. „Also,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Was geht hier vor?“ Alle fingen gleichzeitig zu reden an. „Ruhe!“ brüllte der Krebs. Dann, als man ihm diese Ruhe gewährt hatte: „Chegory! Sprich! Sag’ mir – was ist hier eigentlich los?“ „Äh,“ sagte Chegory, der spürte, wie eine Fülle zusammenhangsloser Worte anfing, sich einen Weg aus seiner Kehle zu erzwingen, „äh – hier ist – geben Sie mir bloß einen Augenblick.“ Er hielt inne. Zählte bis fünf. Dann bis zehn. Beruhigte sich, ordnete seine Gedanken, sagte dann: „Da ist ein Dämon. Man nennt ihn Binchinminfin.“ „Hab’ ich schon gehört,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Er ergreift von Leuten Besitz,“ sagte Chegory. „Manchmal nur von einer Person. Manchmal von mehr als einer. Er hat von mir Besitz ergriffen. Und zwar gerade jetzt. Deshalb hören Sie mich gerade mit Odolos Akzent sprechen. Aber er hat auch von jedem anderen Besitz ergriffen, den Sie hier sehen. Eine Besessenheit einer Gruppe. Aber er ist schwach. Stark genug, um unsere Aussprache zu kontrollieren, aber nicht stark genug, um sonst etwas zu kontrollieren. Nicht vollständig, jedenfalls. Glauben wir. Hoffen wir. Aber er wird seine Kräfte sammeln. Mit der Zeit. Uns ist klar, dass Sie mit ihm reden wollen. Darüber reden wollen, ein Mensch zu werden. Na schön, er ist hier. Wir vermuten, dass er durch uns sprechen kann. Das ist der Grund, warum er all unsere Stimmen verändert hat. Eine kleine Taktik, verstehen Sie? Er ist in der Lage, unbemerkt etwas zu äußern. Um unsere Pläne zu ändern. Also… sagen Sie nun schon, was Sie ihm sagen wollen.“ Seite 274 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Der Einsiedlerkrebs war still. Klickte mit seinen Scheren. Chegory schwitzte. Er hatte eine schreckliche Vorahnung. Gleich würde etwas Fürchterliches passieren. Dessen war er sich sicher. Vielleicht: vielleicht sein Tod. Er schaute umher. Zum gallengrünen Laitemata, der von einem Teppich aus erstarrtem Dickel bedeckt war. Zum blauen, blauen, ungemein blauen Himmel. Zum Blutstein von Jod. Zum weißen Marmor des Analytischen Instituts. Zum weißen Weg aus Marmorsteinchen, den er begonnen hatte, rund um die Insel zu verlegen. Hinter ihm hörte er Artemis Ingalawa sagen: „Das war gut, Chegory. Das hast du wirklich sehr gut gesagt. Ich hab’ immer gewusst, dass in dir etwas steckt.“ Olivia nahm seine Hand. Drückte sie. Er wandte sich ihr zu. Sah, dass ihre Augen klar und feucht und tränenzittrig waren. Auch sie wusste, dass dies vielleicht ihr letzter Augenblick sein könnte, und dass sie der Krebs vielleicht aus hemmungsloser Wut töten würde. Dennoch brachte sie ein schwaches Lächeln zustande. Sie war ja so tapfer! So tapfer – und so schön! So voller Leben! Chegory und Olivia blickten sich gegenseitig an. Dann küssten sie sich. Sie küssten sich und vergaßen die Welt um sich herum, bis sie die Stimme des Einsiedlerkrebses zurück in die Wirklichkeit brachte – und zwar abrupt. Sie lösten sich voneinander und blickten das Ungeheuer an. „Ich habe nachgedacht,“ sagte der Einsiedlerkrebs langsam. „Ich habe sorgfältig über dieses Vorhaben, ein Mensch zu werden, nachgedacht, und es ist ganz sicher das, was ich wirklich will. Ich möchte gern mit dem Dämon über dieses Anliegen verhandeln. Aber dafür brauche ich den Dämon in einem einzigen Körper. Ich kann nicht mit so vielen Stimmen verhandeln. Wie soll ich denn, da ihr ja alle Odolos Akzent nachahmt, unterscheiden, ob es jetzt ihr selbst seid, wenn ihr sprecht, oder der Dämon? Binchinminfin soll einen einzigen Körper übernehmen. Danach werden wir verhandeln.“ Stille trat ein. Dann sagte der Krebs, dessen Stimme sich plötzlich zu donnernder Wut erhob: „Falls mir der Dämon meinen Wunsch nicht erfüllen wird – und zwar sofort! – dann werde ich euch alle in ein Häuflein Asche verwandeln. Augenblicklich!“ Alle Menschen, die dem Krebs gegenüberstanden, spürten einen ihr Fleisch zerreißenden Schmerzensstoß. Sie schwankten. Olivia fiel um. Chegory fing sie auf und ließ sie auf den Boden hinab. „Olivia!“ sagte er. „Olivia, was ist denn los, was ist denn los? Olivia, wach’ auf! Olivia!“ Aber es hatte keinen Zweck. Olivia war bewusstlos. Chegory wusste, was passiert war. Bestimmt wusste es der Einsiedlerkrebs ebenfalls. Außerdem überbrachte ihm Pelagius Zozimus gerade sowieso gut gelaunt die entsprechende Nachricht, wobei er mit seiner eigenen Stimme redete, statt Odolos seltsamen fremdländischen Akzent zu gebrauchen: „Na bitte, sehen Sie nur! Der Dämon hat die Gruppe zugunsten dieses einen Mädchens aufgegeben. Sie wird schon bald wieder zu Bewusstsein kommen. Sie wird vollständig von Binchinminfin besessen sein. Dann können Sie mit ihm verhandeln!“ „Sie wird ihr Bewusstsein niemals wiedererlangen,“ sagte der Einsiedlerkrebs bedeutsam. „Was reden Sie da?“ sagte Chegory. „Natürlich wird sie das!“ Seite 275 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Nein,“ sagte der Krebs. „Denn ich muss sie töten. Jetzt. Um den Dämon Binchinminfin aus meinem Reich zu vertreiben.“ „Aber – aber – Sie, äh – das ist doch der – der Dämon, der Ihnen helfen soll! Um ein Mensch zu werden, um etwas zu sein, um etwas zu sein wie, wie wir, okay, Arme, Beine, Sie wollen das doch, stimmt’s?“ „Ich will ein Mensch werden,“ sagte der Einsiedlerkrebs, „aber man kann einem Dämon nicht trauen, dass er mir dabei wirklich helfen würde.“ „Aber warum haben Sie dann – warum haben Sie gesagt, Sie – ich meine – wenn Sie das gar nicht gewollt haben, wenn Sie…“ „Mir ist klar gewesen, dass es meine Pflicht sein würde, den Dämon zu vertreiben,“ sagte der Krebs. „Das ist mir bereits von dem Moment an klar gewesen, als man mir das erste Mal erzählt hat, dass auf Untunchilamon ein Dämon frei herumläuft. Doch wegen der Dinge, die ich über solche Mächte weiß, habe ich geglaubt, ich könnte dieser Aufgabe vielleicht nicht gewachsen sein. Ich könnte bei dieser Schlacht vielleicht getötet werden. Oder zumindest verwundet. Deshalb, Chegory, habe ich kundgetan, dass ich mit dem Dämon ein Geschäft machen will. Ich habe gehofft, ihn auf diese Weise hierher zu locken, damit ich ihn überrumpeln und vernichten könnte, solange er schutzlos wäre. Genauso hat es sich jetzt ergeben.“ Dann rückte der Krebs näher. „Nein!“ schrie Chegory. „Nein, das dürfen Sie nicht, das können Sie nicht, das werd’ ich nicht zulassen!“ Diese dämlichen Ebbies! Sie wollen einfach niemals einsehen, dass sie erledigt sind! Wie konnte sich nur eine dumme Rothaut wie Chegory Guy mit dem gefürchteten Einsiedlerkrebs anlegen? Besaß er etwa Magie? Nein. Verbündete? Ja, aber diese konnten gegen den Krebs genausowenig ausrichten wie er. Hatte er etwa einen Deppen als Gegner? Ganz bestimmt nicht. Hatte er dann wenigstens eine Waffe? Ja! Ein kleines Messer, das er aus einer Stiefelscheide gezogen hatte. Aber was würde ihm das nützen? Gar nichts. Wenn er den Krebs mit einem solchen Spielzeug angegangen wäre, wäre sein stählerner Spreißel genauso nutzlos gewesen wie ein Zahnstocher für einen Drachentöter. Äxte, die sind das Richtige! Äxte! Wenn Sie jemanden umbringen müssen, dann ist eine Axt das richtige Mittel der Wahl. Ah, diese Kraft, die in ihre Gliedmaßen brandet, wenn sie das Gewicht dieser Waffe hochstemmen, wenn mordlüsterne und dringliche Begierden ihrer Vollendung entgegenfiebern! Aber wir schweifen ab. Es muss reichen, wenn wir sagen, dass es Chegory Guy versäumt hatte, sich mit einer Axt auszurüsten, und nichts als einen nadelspitzen Froschstecher in der Hand hatte, als er vortrat, um den Einsiedlerkrebs aufzuhalten. „Geh’ mir aus dem Weg,“ sagte der Krebs und klang dabei nicht anders, als wenn er (in der ach-so-nahen, doch ach-so-anderen Vergangenheit) gesagt hätte: „Geh mir aus der Sonne.“ „Das können Sie nicht tun!“ sagte Chegory. „Das werd’ ich nicht zulassen!“ „Tapfere Worte,“ knurrte der Krebs. „Aber sie sind leer. In den letzten paar Tagen habe ich viel erduldet, aber jetzt ist meine Toleranz am Ende. Geh’ zur Seite, und ich werde die Leiche der Frau gemeinsam mit dem Dämon zerstören.“ „Sie ist keine Leiche!“ sagte Chegory in höchster Not. „Sie ist lebendig, lebendig, sie ist noch am Leben, tun Sie’s nicht, Sie dürfen nicht, sonst sind Sie ein – sind Sie ein Mörder!“ Der Krebs rückte unaufhaltsam auf ihn zu. Da schrie Chegory auf, erfüllt mit blutblindem Zorn, mit irrer Wut, mit heftiger Leidenschaft, mit wilder Raserei. Schreiend schlug er zu. So hatten seine Vorfahren geschrien, wenn sie mit ihren Harpunen einen glücklosen Vertreter der Gattung Cetacea50 durchbohrt hatten, um auf diese Weise ein fühlendes Wesen zu einem äußerst grausamen Tod zu verdammen, damit sie seine Leiche an die Küste schleppen konnten, um sie dort zu Hundefutter zu verarbeiten. Blut ist dicker als Wasser! 50 Wale Seite 276 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Aber der Einsiedlerkrebs hatte viel mehr Mittel zur Verfügung als so ein blöder Wal, der einem Haufen abgefeimter Ebrellianer zum Opfer fallen konnte. Als Chegory zuschlug, setzte der Krebs einen winzigen Bruchteil seiner Macht ein. Chegory wurde rückwärts geschleudert. Mit gespreizten Armen und Beinen blieb er zwischen den Steinen liegen. Unerbittlich marschierte der Einsiedlerkrebs weiter. „Ich werde Mädchen und Dämon zugleich vernichten,“ sagte der Krebs, wobei er seine Scheren öffnete (erst links, dann rechts) und wieder schloss (erst rechts, dann links), und zwar mit einem Knacken, das sich anhörte, als ob er eine Nuss spalten würde (und um hier das volle Gewicht des Arguments jener Scheren zu verstehen, müssen Sie wissen, dass die fragliche Nuss in der unmittelbar zuvor erwähnten Metapher eine Kokosnuss ist). „Nein!“ schrie Chegory. Dann noch einmal: „Nein!“ In höchster Not, mit dem Leben seiner wahren Liebe in Gefahr, war das die ganze Beredsamkeit, die dieser Ebrellianer zu ihrem Beistand aufbieten konnte. Bloß ein einziges Wort, und selbst das noch vollkommen negativ. Und trotzdem wird Ihr durchschnittlicher Ashdan-Liberaler uns auffordern, diese Leute als unseresgleichen zu akzeptieren! Chegory schrie erneut, schloss dann seine Augen, weil der Einsiedlerkrebs schon ganz nahe an Olivia herangerückt war. Man hörte erneut ein Knacken, als ob eine Nuss gespalten würde. Sie war halbiert worden! Das dachte Chegory. Dann flatterten seine Augen auf (vermutlich dank des Drängens einer verflixten Neugier), und er sah, dass Olivia noch nicht tot war. Stattdessen war ein Kokon aus malvenfarbigem Licht um ihren Körper herumgesponnen worden. Während Chegory noch hinsah, erhob sich Olivias Körper in die Luft. Dort hing er nun freischwebend. Die Luft knisterte dort, wo sie von dem malvenfarbigen Kokon durchschnitten wurde. „Was machen Sie da?“ sagte Chegory, dessen Stimme belegt war, vor lauter Angst und Panik. „Ich beabsichtige hiermit, das einzige nennenswerte Hindernis für meinen Frieden auf Untunchilamon zu kochen,“ antwortete der Krebs. „Tritt zurück! Von der Kochstelle könnte etwas Hitze verströmen.“ „Das können Sie nicht!“ sagte Chegory. „Das dürfen Sie nicht!“ „Was soll ich denn machen?“ sagte der Krebs. „Soll ich einen pflichtvergessenen Dämon auf Untunchilamon Amok laufen lassen, damit er viermal am Tag Feuergefechte auslösen kann? Du hast sein Werk doch schon gesehen. Was würde er als nächstes tun? Das Meer in Vanillesoße verwandeln?“ „Keine Ahnung, keine Ahnung,“ sagte Chegory, der vor Angst und Panik den Tränen nahe war. „Aber Sie können nicht, Sie dürfen nicht, Sie können nicht Olivia verbrennen.“ „Ich kann es,“ sagte der Krebs. „Ich kann es. Ich muss es. Ich tu es.“ Doch er hatte es noch nicht getan. Folglich plapperte Chegory nur umso schneller. Voller Hoffnung und voller Einfälle. Oder – wir sollten jetzt lieber realistisch sein und nicht vergessen, dass wir es hier mit einem Ebrellianer zu tun haben – er versuchte zumindest, einen Einfall zu haben. „Hören Sie,“ sagte Chegory, „hören Sie, hören Sie, bitte tun Sie’s nicht, das können Sie nicht tun, dass – dass dürfen Sie nicht tun, ich, ich will – Scheiße! – geben Sie mir bloß einen Moment, okay, mehr will ich gar nicht, bloß einen Moment, bitte – nun machen Sie schon, okay? Bloß einen Moment, um zu reden, mit – naja, mit diesem Wesen. Mit Olivia. Mit dem Dämon. Egal, mit wem von beiden.“ „Reden würde gar nichts ausrichten,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Tritt zurück! Es wird gleich sehr heiß werden!“ Mittlerweile war diese Warnung bereits zweimal ausgesprochen worden, was für Chegory ein Hinweis darauf war, dass der Krebs moralische Vorbehalte hatte, was das Einäschern eines unschuldigen Ebrellianers gemeinsam mit der von einem Dämon besessenen Ashdan anging. Also kam Chegory noch näher heran. Seite 277 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Reden würde etwas ausrichten,“ beharrte er mit jener starrsinnigen Hartnäckigkeit, für die die Ebrellianer so berühmt sind. „Es gibt da – es gibt da eine geheime Strategie. So heißt das wohl. Eine Verhandlungsstrategie. Ein spezielles Geheimnis. Familiengeheimnis. Mehr kann ich Ihnen nicht verraten. Schwüre und so, verstehen Sie? Ich bin zur Geheimhaltung verpflichtet. Aber ich kann den Dämon überlisten, das weiß ich. Gewähren Sie mir nur ein paar Augenblicke allein mit Olivia. Unter vier Augen. Um mehr bitte ich gar nicht.“ „Meinst du damit,“ sagte der Krebs, „dass du eine Methode hast, mit der man den Dämon dazu bringen kann, sich selbst zu verbannen?“ „Genau!“ sagte Chegory. „Das ist sehr – sehr interessant,“ sagte der Krebs. „Wenn du mir diese Methode beibringst, dann werde ich dir erlauben, sie anzuwenden.“ „Ich kann sie Ihnen nicht verraten!“ sagte Chegory verzweifelt. „Ich hab’ einen Eid geschworen! Ich darf sie Ihnen nicht verraten!“ „Du hast also,“ sinnierte der Krebs, „einen Eid geschworen, nichts davon zu verraten. Na schön. Dann lass mich einfach zuhören.“ „Nein, nein,“ sagte Chegory. „Das kann ich nicht, das kann ich nicht, Sie würden – Sie würden den Dämon beunruhigen. Ich wette, der hat Schiss vor Ihnen, ehrlich, denn Sie sind so stark, und außerdem, ähm, hören Sie, ich bin doch immer gut zu Ihnen gewesen, stimmt’s? All die Jahre hindurch, ich meine, ich hab’ Ihnen immer Ihr Essen gebracht, nicht wahr? Okay, es ist in Eimern gewesen und so, das ist nicht gut genug gewesen, das weiß ich jetzt, aber wer ist denn sonst dagewesen, okay? Und – und ich hab’ gefragt, wenn ich irgendetwas haben wollte. Ich hab’ gefragt. Ich bin Ihr Freund gewesen, stimmt’s?“ Stille. Dann, von Chegory: „Stimmt’s?“ Der Krebs seufzte. „Ich werde dir erlauben, mit Olivia zu reden,“ sagte er. „Aber ich muss eine Möglichkeit haben, zu erfahren, was sich ereignet hat. Wenn du wirklich eine Methode hast, Dämonen zu verbannen, dann muss ich sie erlernen. Es gibt so wenig, was neu ist und zugleich wert, erlernt zu werden. Deshalb… soll sich Schäbbel in Hörweite aufhalten. Du hast einen Eid geleistet, niemandem etwas zu verraten. Na schön. Dann erzähl’ es auch niemandem! Aber lass’ Schäbbel zuhören. Dann kann es mir Schäbbel später erzählen.“ „Das… das ist okay,“ sagte Chegory mit schwacher Stimme. Dann, wobei er sich umschaute: „Schäbbel? Schäbbel! Wo bist du, Schäbbel?“ „Hier oben, Chegory, mein Schatz,“ sang Schäbbel. „Dann komm’ runter!“ In dem freischwebenden Kokon begann sich Olivia zu bewegen. Während sich Schäbbel mit dem jungen Chegory zusammentat, öffnete und schloss der Einsiedlerkrebs seine Scheren mit neuerlichem eindrucksvollem Knacken und sagte dann: „Räumt die Insel. Alle miteinander – geht weg! Ins Institut. Nein, Zozimus, geh’ zurück, ich will jetzt nicht mit dir sprechen. Oder mit dir, Pokrov. Haut endlich ab! Verschwindet! Du ebenfalls, Ingalawa.“ Diese Räumung erforderte beträchtliche Zeit, denn unter den Schaulustigen befanden sich einige äußerst eigensinnige Menschen. Aber nach wiederholten Drohungen und einer kleinen Demonstration von Stärke (der Krebs zerschmolz zwei Steinbrocken zu Schlacke) zog sich auch der letzte Zuschauer zurück ins Analytische Institut. Chegory blieb allein unter der sengenden Sonne zurück, zusammen mit Schäbbel, dem Einsiedlerkrebs und der im Kokon befindlichen Olivia. Der Krebs sagte: Seite 278 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Ich werde dir eine vernünftige Menge Zeit gewähren. Aber keine unbegrenzte Zeit. Stell’ meine Geduld nicht auf die Probe.“ Dann zog er sich zurück. Im Kokon begann Olivia zu sprechen. Aber nicht mit ihrer eigenen Stimme. Nein: sie gebrauchte den Akzent des Beschwörers Odolo. Ohne Zweifel war sie von dem heimtückischen Binchinminfin besessen. „Was ist dieses Ding?“ sagte Binchinminfin. „Ein Kocher,“ sagte Chegory. „Der Einsiedlerkrebs hat vor, Ihren Körper einzuäschern.“ „Oh,“ sagte Binchinminfin. „Dann gibt’s wohl kaum etwas, das ich dagegen machen könnte, nicht wahr?“ „Sie müssen aber etwas tun!“ sagte Chegory. „Sie werden sterben, wenn Sie nichts tun.“ „Nein, das glaub’ ich nicht,“ sagte Binchinminfin. „Höchstwahrscheinlich werde ich dort enden, wo ich angefangen habe. Bevor ich ihn verlassen habe, hab’ ich von dem Ort nicht viel gehalten – aber jetzt, wo ich hier bin, hab’ ich meine Meinung geändert. Ich leide gerade unter – wie heißt es doch? Heimweh, so sagt man wohl dazu!“ „Na dann,“ sagte Chegory, „wenn Sie bereit zum Gehen sind, naja, warum gehen Sie dann nicht einfach?“ „Dazu ist der Tod meines Wirts erforderlich,“ sagte Binchinminfin. „Soll doch der Krebs diesen Körper verbrennnen. Ich brauch’ ihn nicht mehr!“ „Aber – aber das ist Olivias Körper! Olivia ist meine – sie – wir – wir sind, naja, nicht völlig, aber wir – Sie können doch nicht – äh…“ „Ach, hör’ doch auf damit,“ sagte Binchinminfin. „Es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte! Nach diesem allzu häufigen Seelen-Gehüpfe bin ich sehr geschwächt. Es ist fürchterlich anstrengend, dieses Springen von Geist zu Geist, von Fleisch zu Fleisch. Allzu oft schaff’ ich das nicht mehr.“ „Dann springen Sie doch nur noch einmal!“ sagte Chegory. „Hinein in – in Varazchavardan etwa!“ Er schaute zur Hafenbrücke hinüber. Dort war nichts vom Meister der Rechte zu sehen, der bereits das Festland erreicht haben musste. „Ja, Varazchavardan, gehen Sie doch in den hinein, dort wären Sie in Sicherheit.“ „Zu weit weg,“ sagte Binchinminfin. „Dann halt – ähm – naja, in mich. Wir würden natürlich beide bewusstlos sein, aber, äh, der Krebs, naja, wir sind alte Freunde, okay, der würde mich schon nicht verbrennen.“ So traute sich Chegory also, einen Bluff zu wagen. Er hatte die schwache Hoffnung, zu überleben, wenn ihn der Dämon Binchinminfin erneut übernehmen würde. Schließlich schuldete der Krebs Chegory etwas für all die langen Jahre seiner Kellnerdienste zur Mittagszeit. Chegory war immerhin dasjenige Wesen, das man noch am ehesten als den einzigen Freund bezeichnen konnte, den der Krebs auf Untunchilamon hatte. Er war bereit, das Risiko einzugehen. Um Olivia zu retten. „Genau genommen,“ sagte Binchinminfin, „würden wir gar nicht das Bewusstsein verlieren, wenn ich zu dir kommen würde.“ „Wieso nicht?“ sagte Chegory. „Weißt du denn gar nichts?“ sagte Binchinminfin. „Nein, vermutlich tust du das nicht. Na schön! Um es so einfach auszudrücken, dass selbst ein Ebrellianer es verstehen sollte: ich habe dein mentales Register in meiner psychischen Konkordanz. Die erste Inbesitznahme beruht auf nackter Gewalt. Weitere Besitzergreifungen verlaufen jedoch sanft, weil ich schon die Daten besitze, um meine Psyche mit deiner zu verschränken. Das verstehst du doch, oder?“ Seite 279 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Was Sie da sagen, jawohl, jawohl, wir würden also nicht bewusstlos werden, okay, das hab’ ich kapiert, okay, na schön, dann tun Sie’s doch, wir könnten weglaufen, ok, abhauen, Schäbbel – Schäbbel, du würdest uns doch helfen, stimmt’s, das würdest du doch?“ „Helfen?“ sagte Schäbbel. „Um etwas Unanständiges zu tun, meinst du? Das kann ich nicht! Ich würde Ärger bekommen!“ „Nein, das würdest du nicht,“ sagte Chegory. „Ich werde auf dich aufpassen. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendjemand weh tut.“ „Ehrlich?“ sagte Schäbbel. „Ehrlich und wahrhaftig?“ „Hab’ ich dich etwa jemals belogen?“ sagte Chegory. Das war ein überzeugendes Argument. Denn Chegory hatte den Fürst des Lichts noch nie belogen. Bis jetzt. „Ich werde es tun, Chegory,“ sagte Schäbbel. Darauf erklärte Chegory Schäbbel in aller Kürze, was er von ihm wollte. „Okay,“ sagte Chegory, „wir sind bereit. Sie wissen ja, was zu tun ist.“ „Mir wäre lieber,“ sagte Binchinminfin, „wenn du das auch wüsstest.“ „Was meinen Sie damit?“ sagte Chegory. „Ich meine, diesmal werde ich bloß der Mitfahrer sein. Zumindest am Anfang. Zumindest während unserer Flucht.“ „Okay, okay,“ sagte Chegory und blickte dabei über seine Schulter zu dem immer noch wartenden Einsiedlerkrebs. „Was immer Sie auch wollen, prima, tun Sie’s einfach, in Ordnung, uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Jetzt!“ Dann spürte Chegory eine vorübergehende mentale Verschwommenheit. Er sagte – und seine Stimme war dabei seine eigene: „Na und? Ist es das schon gewesen? Sind Sie an Bord?“ Aber er bekam keine Antwort. Aber Olivia, die noch immer in dem Kokon schwebte, schaute Chegory an und sagte mit ihrer eigenen lieblichen Stimme: „Liebster Chegory, Chegory, mein Schatz, es ist weg, dieses Ding ist jetzt in dir, und – und ich liebe dich, Chegory!“ „Ich liebe dich auch,“ sagte Chegory. Versuchte sie dann durch den Kokon hindurch zu berühren – aber der widerstand seiner Hand, obwohl er die Sprache ungehindert durchgelassen hatte. Chegory widerstand der Versuchung, kräftig zu fluchen. Dann schaute er Schäbbel an und sagte: „Okay! Auf was wartest du noch? Fort mit dir!“ Sofort schnellte Schäbbel hoch, sehr hoch hinauf in die Luft. Augenblicke später brüllte eine ungeheuerlich verstärkte Stimme mit dem Akzent des Beschwörers Odolo vom Himmel herab: „ICH BIN DER DÄMON UNTERGEHEN!“ BINCHINMINFIN! MACHT EUCH BEREIT, ZU STERBEN! GANZ INJILTAPRAJURA SOLL Um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen, entfesselte der dämonenimitierende Schäbbel eine Feuerkugel, die die Steinbrocken am fernen Ende der Insel Jod zersprengte. Der Einsiedlerkrebs erhob seine Scheren. Seite 280 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Entfesselte im Gegenzug ebenfalls Feuer. Doch Schäbbel glitt zur Seite und entkam diesem Feuer mühelos. Chegory war bereits heimlich unterwegs zur Hafenbrücke. Er erreichte die Brücke. Er begann die Brücke im Dauerlauf zu überqueren. Die hölzernen Bretter dröhnten dumpf unter seinen Füßen. Es entstand aber nicht die vertraute schaukelnde Bewegung, weil die Pontons, die die Brücke trugen, fest in dem Meer aus Dickel eingeschlossen waren, das den Laitemata wie ein Teppich bedeckte. Chegory hatte bereits den halben Weg über die Brücke zurückgelegt, als die krampfhaften, vergeblichen Bemühungen des Einsiedlerkrebses, seinen Kontrahenten vom Himmel zu sprengen, beim hoch droben schwebenden Schäbbel einen Ausbruch gewaltigen Gelächters auslösten. Jetzt war ihr Spiel freilich durchschaut. Der Einsiedlerkrebs brüllte: „DU BIST DAS ALSO! SCHÄBBEL! STIMMT’S? WO IST DANN DIESER DÄMON? CHEGORY GUY! WO BIST CHEGORY!!! ICH KANN DICH SEHEN!“ DU? Chegory begann Hals über Kopf davon zu rennen. „KOMM HIERHER ZURÜCK! KOMM ZURÜCK, ODER ICH WERDE DICH BEI LEBENDIGEM LEIB VERBRENNEN!“ Als Warnung entfesselte der Einsiedlerkrebs eine Feuerkugel. Unmittelbar vor Chegory gingen die Balken in Flammen auf. Wenige Augenblicke später schlugen weitere Feuerkugeln ein. Die Brücke stand auf dem gesamten Weg bis zum Festland in Flammen. Chegory zögerte nicht. Er sprang auf die rechte Seite, sprang auf die Oberfläche des Laitemata. Skraklunk! Risse zersplitterten die Oberfläche, als Chegory aufprallte. Aber die Oberfläche blieb ganz. Vorerst. Er floh, wobei seine Schritte wie Paukenschläge auf den Dickel trommelten, während er in Richtung der Küste sauste. Dann brach der Dickel plötzlich entzwei und wurde flüssig. Chegory ging unter im Meer. Er versuchte zu schwimmen, zappelte aber nur hilflos herum. Dann fand er festen Untergrund unter seinen Zehen. Ein schrecklich schleimiger knöcheltiefer Schlamm umhüllte seine Knöchel. Aber er konnte laufen. Jawohl, er befand sich zwar bis zum Hals in einer Mischung aus Meerwasser und Dickel, aber er konnte sich dennoch einen mühsamen Weg bis zum Festland bahnen, zu dem es jetzt nicht mehr weit war. Das Wasser wurde seichter. Wurde nur noch hüfttief. Dann war Chegory am Strand, der mit seiner Mischung aus roten Korallen und Blutstein die Küstenlinie bildete. Er blickte zurück nach Jod. Der Einsiedlerkrebs stand mit wütend erhobenen Scheren am Ufer. Was würde er wohl machen? Mach’ was oder stirb! Chegory holte tief Luft, krabbelte dann aus dem Wasser, wuchtete sich auf den Strand hoch und spurtete dann in den Schutz der nächstgelegenen Gebäude. Dort kam er an und stellte fest, dass er immer noch am Leben war, dass er noch nicht eingeäschert worden war. Noch immer zwei Arme, zwei Beine – und noch etwas anderes, das ihm eines Tages noch nützlich sein könnte. Er grinste vor Freude, aus reinem Jubel darüber, einfach noch am Leben zu sein, trommelte sich dann auf die Brust und brüllte seinen Triumph hinaus. Dann flitzte der alles beobachtende Schäbbel vom Himmel herab, und kurz darauf war der Kindliche an der Seite von Chegory, der unterdessen seinen Rückzug weiter fortsetzte, wobei Schäbbel vor Aufregung stammelte, während er auf unverschämteste Weise mit dem tollen Kunststück seines Schäbbel-Selbsts prahlte. Seite 281 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Und zusammen liefen sie weiter. Seite 282 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 37 „Wohin jetzt?“ sagte Chegory, als sie sicher in Lubos angekommen waren. „Wohin du willst, mein allerliebster Chegory,“ sagte Schäbbel. „Mit dir hab’ ich nicht geredet,“ sagte Chegory. „Ich hab’ mit Binchinminfin geredet, okay, mit diesem Dämonen-Ding. Nun denn, wie steht’s damit? Wohin also jetzt, von hier aus?“ Aber selbst wenn ihn der Dämon hörte, so gab er ihm doch keine Antwort. Unglücklicherweise ließ das Chegory in einer ziemlichen Zwickmühle zurück. Auf der Insel Jod war der wütende Einsiedlerkrebs, der sehr wohl in der Lage war, Chegory im Handumdrehen zu vernichten, wenn er ihm das nächste Mal begegnen würde. Auf dem Festland waren aber die Streitkräfte der Wunderwirker, die von dem widerwärtigen Aquitaine Varazchavardan angeführt wurden, der, sollte Chegory auf ihn stoßen, sich als mindestens genauso gefährlich wie der Krebs erweisen könnte. Was soll also jetzt geschehen? Die jüngsten Ereignisse würden sicherlich schon bald allgemein bekannt werden. Varazchavardan würde erfahren, dass der Dämon Binchinminfin derzeit im Fleisch von Chegory Guy untergebracht war. Anschließend würden die Soldaten in den naheliegenden Orten nach ihm suchen. In der Dromdanjerie, die sein traditioneller Wohnsitz war. In Uckermarks Leichenladen, wo man Chegory unlängst die Einladung zu einer eidlichen Zeugenvernehmung zugestellt hatte. Wohin könnte er also gehen? Wohin er schließlich ging, das war nach Thlutter, also in die steile, vom Dschungel überwucherte Schlucht ein wenig östlich von Perle. Er könnte dort natürlich nicht ewig bleiben, aber er könnte dort immerhin für geraume Zeit bleiben. Ein paar Tage, wenn es sein müsste. Aber ich muss hier nicht lange bleiben. Nur so lange, bis der Dämon die Kurve kriegt. Sobald sich Binchinminfin ausgeruht hätte, sobald Binchinminfin kräftiger wäre, würde der Dämon das Fleisch des jungen Chegory Guy übernehmen, vielleicht für immer, und all seine Probleme dauerhaft lösen. Mit dieser Kenntnis war es Chegory zufrieden, in Thlutter im Schatten einer Bananenstaude hocken zu bleiben. Die feuchte Luft war erfüllt vom Plitschern und Plätschern von einem Dutzend Quellen, die im Drunten entsprangen. Die Luft war erfüllt vom Geruch feuchter Erde, vom Moschusduft vermoderter Kokosnüsse, vom Parfüm der Wachsblumen, und von den anwidernden Duftstoffen irgendwelcher Blumen, die sogar noch süßlicher rochen. Außerdem konnte er noch etwas anderes riechen. Dickel und Schlack. Eigentlich war das sogar der vorherrschende Geruch, denn er selbst war ja völlig zugekleistert mit dem stinkenden Zeug. Nach einer Weile merkte Chegory, dass er noch kein Frühstück gehabt hatte. Wie spät war es eigentlich? Nach der Sonne zu urteilen, ging es allmählich auf Mittag zu. Was könnte er wohl essen? Bananen? Die angeschwollenen violetten kielförmigen Fruchtstände an der nächstgelegenen Bananenstaude hatten noch längst nicht ihren Reifezustand erreicht. Aber es gab wenigstens Wasser. Er suchte eine Quelle auf, trank dann von ihrem freizügig gespendeten Wasser. Wasser, Wasser. Oh, richtig sauber zu sein! Naja, warum eigentlich nicht? Chegory zog sich aus und wusch sich langsam und gründlich. Er wusch sogar seine Haare. Er kratzte sich sogar den Schmutz unter seinen Fingernägeln heraus. Dann kümmerte er sich, so gut er konnte, um die stark Seite 283 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 zerfledderten Überreste seiner kanariengelben Robe, die so prächtig gewesen war, als man sie ihm im rosa Palast das erste Mal gegeben hatte. Er zog sie nass an, ohne sich deswegen Gedanken zu machen. Sie würde in der Hitze des Tages schon recht schnell wieder trocken werden. Jetzt fühlte er sich sehr viel besser, auch wenn ihm noch immer ein schwacher unausrottbarer Hauch nach Dickel und Schlack anhaftete. Aber er war immer noch hungrig. „Mach’ uns was zum Essen,“ sagte Chegory. „Das würd’ ich gern, mein liebster Chegory,“ sagte Schäbbel. „Aber ich weiß nicht, wie das geht.“ „Ich sprech’ doch mit dem Dämon,“ sagte Chegory. „Da ist niemand hier, Chegory. Niemand außer uns.“ „Hör mal,“ sagte Chegory, „halt’ dich hier einfach raus, okay? Ich will mich mit meinem Dämon unterhalten. Okay, Binchinminfin. Wir sind hungrig. Wir müssen essen.“ „Ich bin nicht hungrig,“ sagte Schäbbel. Chegory befand sich in größter Versuchung, dem Imitator von Sonnen mit dem schnellen Besuch des nächstgelegenen Therapeuten zu drohen. Nach kurzem Ringen widerstand er dieser Versuchung und verlangte erneut Nahrung von seinem Dämon. Nichts passierte. Chegory war enttäuscht, gelinde gesagt. Wenn jemand schon dämonische Besessenheit ertragen müsste, dann sollte er doch erwarten dürfen, zumindest ein paar zusätzliche Leistungen zu genießen. „Was ist denn los?“ sagte Chegory. „Bist du müde? Oder was? Hallo? Ist jemand zu Hause? Bist du noch da?“ Ein Gedanke antwortete ihm. Das bin ich. Aber er wusste sofort, dass das sein eigener Gedanke gewesen war. Der Dämon Binchinminfin schwieg. Falls er überhaupt noch da war. Vielleicht war er aus der Entfernung getötet worden, von irgendeinem raffinierten Zauber, den der Einsiedlerkrebs bewirkt hatte. Oder er war in die Welt des Jenseits zurückgetrieben worden, aus der er ursprünglich gekommen war. Aber nein. Er hatte ihm ja erzählt, dass sein Wirt sterben müsste, ehe er nach Hause gehen konnte. Bei allen Göttern! Was also, wenn er mich einfach umbringt? Dieser Gedanke ließ Chegory wie vom Donner gerührt zurück. Dann riss er sich wieder zusammen. Wenn der Dämon seinen Tod gewollt hätte, hätte er ihn doch schon längst getötet. Vielleicht konnte er es ja nicht. Oder er wollte es nicht. Wieviele Leute hatte der Dämon denn eigentlich seit seinem Auftauchen in Untunchilamon wirklich abgeschlachtet? So weit Chegory wusste, hatte er genaugenommen keinen einzigen getötet. Vielleicht war der Dämon ein bisschen so wie eine Vampirratte? Gelegentlich richten sie eine Menge Schaden an, diese Ratten, und auf diesen Verwüstungen beruht der Abscheu, den sie manchmal auslösen. Aber die meiste Zeit bleiben sie unter sich. Die Furcht vor ihnen lässt einen Großteil Injiltaprajuras den größten Teil der Nacht im Haus bleiben – aber eine solche Furcht ist überwiegend Blödsinn. Obwohl, vielleicht war Binchinminfin überhaupt nicht so wie eine Vampirratte? Vielleicht war er ein moralisches Wesen mit ziemlich hohem Verantwortungsbewusstsein? Was hatte der Dämon schließlich schon getan? Nun ja, zunächst war er freilich Amok gelaufen. Er hatte Blut gemacht, hatte Regenbögen gemacht, hatte Kraken gemacht. Aber das war unmittelbar am Anfang gewesen, als er noch kaum gewusst hatte, wo er sich befand, als er noch mit Träumen und ähnlichen Sachen gearbeitet hatte. Er hatte Albträume lebendig werden lassen. Hatte bei dem Bankett einen Drachen erschaffen. Aber er hatte diese Sachen nur erschaffen, solange er versuchte hatte, aus Odolos Geist schlau zu werden, und aus der Welt, die dieser Geist widerspiegelte. Seite 284 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Später, als sich der Dämon umfassend orientiert hatte, als er gewusst hatte, wie der Hase lief, da hatte er sich nur amüsiert, sonst nichts. Er hatte im rosa Palast eine zügellose Party gefeiert. Er hatte mit dem albinotischen Affen Vazzy Freundschaft geschlossen. Er hatte sich betrunken. Und das alles war… naja, war das wirklich so schrecklich gewesen? Vielleicht sind Dämonen gar nicht auf Mord, Vergewaltigung und Gemetzel aus. Vielleicht glauben wir bloß, dass sie das sind. Vielleicht glauben wir das nur, weil es das ist, auf das wir aus sind. Vielleicht wollen wir das den Dämonen nur unterstellen, damit wir eine bessere Meinung von uns selbst haben können. Oder so. Wie auch immer, Chegory war jedenfalls noch am Leben. Außerdem war er frei. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass ihn seine Freiheit störte. Als er die Herrschaft des Dämons Binchinminfin anerkannt hatte, da hatte er seine Freiheit nicht nur seiner wahren Liebe Olivia zuliebe geopfert. Nein, es war nicht die Liebe allein gewesen, die ihn dazu bewogen hatte. Ein dunkleres, tieferes Verlangen war am Werk gewesen. Der Wunsch, sich aufzugeben. Beherrscht, eingekerkert, versklavt zu werden. Der Qual der Wahl zu entkommen. Chegoy Guy hatte erwartet, dass ihn der Dämon vollständig übernehmen und danach sein Leben in die Hand nehmen würde, so, wie er das getan hatte, als er ihn zum ersten Mal während des Saufgelages im rosa Palast in Besitz genommen hatte. Ihm wurde klar, dass dies nichts anderes als die Variation eines vertrauten Themas war. Er hatte die Besessenheit als seine Chance erkannt, um faktisch zu nicht mehr als zu einem Stein zu werden. Um nur noch ein machtloser Beobachter zu sein, der in seiner eigenen wandelnden Leiche steckte. Um aus der Welt des Wollens abzutreten, ohne aus der Welt des Fühlens abzutreten. Um keine Probleme mehr zu haben, keine Entscheidungen, gar nichts mehr. Aber jetzt musste er feststellen, dass ihm seine Freiheit, seine Identität, geblieben waren, und damit all die Probleme, die mit diesen Dingen verbunden waren. Er versuchte es erneut. „Dämonen-Ding, bist du jetzt da oder nicht? Gib mir wenigstens ein Zeichen! Ich muss es wissen.“ Aber ihm wurde kein Zeichen gewährt. Deshalb sah er sich sowohl mit einem philosophischem Problem als auch mit einer Reihe praktischer Probleme konfrontiert. Der Dämon hatte gesagt, er könnte nur dann in die Welt des Jenseits heimkehren, wenn sein Wirt sterben würde. Aber das stimmte vielleicht gar nicht. Wie sollte er also wissen, ob er noch immer von einem Dämon besessen war, wenn sich sein Dämon weigerte, mit ihm zu sprechen? Er wünschte sich so sehr, von einem Dämon besessen zu sein, dass sein eigener Verstand bereit war, ihm Einflüsterungen nach Dämonenart vorzutäuschen, was den Gebrauch seines Urteilvermögens nur umso schwieriger machte. „Ich kann es nicht wissen,“ flüsterte Chegory schließlich. „Aber ich muss es annehmen.“ Er musste annehmen, dass der Dämon Binchinminfin noch immer sein Mitfahrer war, der im Augenblick nur deshalb schwieg, weil er seine Kräfte wiedererlangen musste. Wie tief der Dämon doch gestürzt war! Zu Beginn war er in der Lage gewesen, den gesamten Himmel mit Regenbögen einzufärben und den Laitemata mit Kraken zu füllen. Nach den Rückschlägen, die er dank einer Reihe von Geisteswechseln und wegen einer entsetzlichen Austreibung hatte einstecken müssen, war er kaum noch kräftig genug gewesen, die Stimmen seiner Wirte so zu manipulieren, dass sie mit einem fremdartigen Akzent redeten. „Vielleicht,“ flüsterte Chegory, „ist seine Macht ja beinahe am Ende. Vielleicht kann er seinen Wirt nicht töten, selbst wenn er das wollte. Selbst wenn er nach Hause gehen wollte.“ In jedem Fall, ob Chegory nun mit oder ohne Dämon war, würde er noch immer als ein Tier gelten, auf das man Jagd machen würde, so dass es das Beste wäre, wenn er hier abwarten und nichts tun würde. Hier war er noch eher in Sicherheit als anderswo. Er wartete. Seite 285 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Nach einiger Zeit wurde er aufgespürt. Von einem der kleinen, allesfressenden schwarzen Schweine von Injiltaprajura. Das ihn angrunzte, ehe es seinen Weg fortsetzte. Später hörte er etwas in einem benachbarten Baum – in einem Baum, den er vielleicht erklettern müsste, um den Vampirratten aus dem Weg zu gehen, falls er sich noch in Thlutter befinden sollte, wenn die Nacht anbrechen würde. Der Eindringling in diesem Baum war nur ein kleiner Affe. Er erinnerte ihn an eines der theologischen Streitgespräche, die gegenwärtig die Unterhaltung in Injiltaprajura bestimmten. Hatte irgendeine Gottheit die Affen als grausame Karikatur der Menschheit erschaffen? Oder waren die Menschen als grausame Karikatur der Affen erschaffen worden? Da Chegory Guy ein Anhänger der Irrlehre von der Evolution war, blieb er keiner Seite dieses Streits verhaftet. Hätte man ihn aber gezwungen, sich zu entscheiden, dann hätte er in diesem Moment gesagt, dass es wahrscheinlicher wäre, dass man die Menschen als eine höchst lieblose Parodie jenes weniger ungesitteten Tiers, des Affen, erschaffen hatte. Welchen Sinn hatte es, ein Mensch zu sein? War es die ganze Anstrengung wert? Insbesondere dann, wenn man ein Ebrellianer war, der sich auf Schritt und Tritt mit Tod und Verhängnis konfrontiert sah? War Leben etwas anderes als das trostlose Erdulden dieses trägen Fleisches? Feuchte Achselhöhlen, die man sich kratzen musste. Schweiß und Gestank. Lust und Appetit. Die Fantasien des Blutes. Lungen, die sich notgedrungen mit der blanken Luft in häufig wechselndem Verkehr befinden mussten, also mit derjenigen Atmosphäre, die sich ungehindert mit der Atemluft von Hunden, Schweinen und Vampirratten vermischt. Ist Leben denn etwas anderes als eine endlose Schlacht gegen Flöhe, Läuse und Bettwanzen, und, was man in Injiltaprajura nur selten längere Zeit vergessen konnte, gegen die größte Abscheulichkeit der Natur, gegen den erbarmungslosen Moskito, den Verfolger der Schlafenden und den Quäler der Träumenden. Kein Wunder, dass der Dämon Heimweh hatte! Kein Wunder, dass der Dämon nach Hause gehen wollte! In der Welt des Jenseits hatten sie vermutlich diese Dinge nicht: verschwitzte Achselhöhlen, vom Tragen von Kaiserinnen schmerzende Beine, Kater, den Hunger eines Magens, der weder Frühstück noch Mittagessen gehabt hatte. „Woran denkst du gerade, mein allerliebster Chegory?“ sagte Schäbbel. „Daran, mich umzubringen,“ sagte Chegory düster. „Oh, das kannst du doch nicht tun!“ sagte Schäbbel erschrocken. „Bring’ dich bloß nicht um, Chegory! Ich würde sonst einsam sein.“ „Wenn ich will, dann bring’ ich mich um,“ sagte Chegory. „Das ist schließlich mein Leben.“ „Ah,“ sagte Schäbbel verschlagen. „Aber dann würdest du niemals erfahren, was als nächstes passiert.“ Das war ein guter Punkt. Auf Untunchilamon konnte als nächstes alles Mögliche passieren. Natürlich wissen wir alle, was Chegory in jeder ordentlich organisierten Gesellschaft passiert wäre. Man würde ihn schnappen! Dann bestrafen! Dann töten! Denn er hatte sich mit einem Dämon verbündet, unter Missachtung des Möchtegern-Zerstörers jenes Dämons. Schlimmer noch, er hatte sich auf eine verbrecherische Verschwörung mit einem pflichtvergessenen Schäbbel eingelassen. Und was diesen Schäbbel anging – was verdiente eigentlich jener Schäbbel? Nun ja, dieser Schäbbel verdiente rechtmäßig zumindest zehn Millionen Jahre der intensivsten Schmerztherapie, die man sich nur vorstellen konnte. Denn er hatte sich für unzählige Verbrechen zu verantworten. Hausfriedensbruch. Verletzung der Privatsphäre. Entführung. Unrechtmäßiger Freiheitsentzug. Terrorismus. Das Überschreiten einer Geschwindigkeit von zehn Luzak pro Kreisbogen in einem tempoüberwachten Gang. Seite 286 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Missachtung des gesetzmäßigen und berechtigten Befehls eines ordnungsgemäß bevollmächtigten Dorgis. Der Angriff auf einen Dorgi mit einem Wert von mehr als fünfzig Millionen Drax. Umgang mit Staatsfeinden. Mutwillige und boshafte Verkörperung einer treuen Staatsdienerin, nämlich Anaconda Stogirov, der Sicherheitschefin des Goldenen Gulag. Diese Liste geht immer noch weiter. Ohne Grenzen, ohne Ende. Grausamkeit gegen Tiere. Die nächtliche Zurschaustellung eines Lichts mit ausreichender Helligkeit, um möglicherweise die offiziellen astronomischen Beobachtungen zu beeinträchtigen. Die Mitteilung vertraulicher Staatsgeheimnisse an Unbefugte. Betrügerische Selbstdarstellung als Gottheit. Spionage. Verrat. Ungebührliches Benehmen. Missachtung des Gerichts. Ich könnte den ganzen Tag damit verbringen, das Register aller Straftaten dieses Schäbbels wiederzugeben. Ihr Volldeppen! Ihr glaubt, dass das ein Witz ist. Das ist kein Witz. Anaconda Stogirov lebt. Das allein ist schon Beweis genug, dass der Goldene Gulag noch nicht am Ende ist. Er kann in all seiner Pracht wiederbelebt werden. Sobald Stogirov erfährt, dass sich auf Untunchilamon noch ein Schäbbel aufhält, und ein funktionstüchtiger Therapeut obendrein, wird der Gulag bald wieder in seiner ganzen Pracht auferstehen. Dann werde ich es sein, ich, ich, der den ganzen Ruhm einheimsen wird. Der Fürst Beilklinge heißen soll, der König der Henker. Mein gerechter Lohn! [Man lässt sich nicht gern einen Volldeppen nennen. Statt auf diese Beleidigung mit einem kindischen Zeichen von Gereiztheit zu reagieren, ist es dennoch besser, diese Behauptungen des Urhebers leidenschaftslos zu analysieren. Wie ich schon zu Beginn erklärt habe, habe ich bei meinem eigenen Besuch in Untunchilamon weder diesen Schäbbel noch dieses Drunten jemals zu Gesicht bekommen. Andererseits habe ich auch nicht danach gesucht. Außerdem muss man einräumen, dass die Sicherheitschefin, die gegenwärtig im Dienst von Aldarch III in Obooloo tätig ist, eine Frau namens Anaconda Stogirov ist. Das beweist an und für sich noch gar nichts, deutet aber darauf hin, dass eine Ergänzung unserer Datenbasis angebracht erscheint. Kurzum, ich empfehle hiermit, dass wir weitere Spione nach Yestron entsenden, trotz des bedauernswerten Schicksals, das dort bisher die Besten und Tapfersten ereilt hat. Drax Lira, Chefredakteur.] [Man stellt mit Interesse fest, dass der Text darauf hindeutet, dass in den Tagen des Goldenen Gulag „Drax“ eine Währungseinheit bezeichnete. Namen haben oft äußerst antike Ursprünge. Wenn solche Vokabeln die Zeit überdauern, sind sie oftmals jeglicher bekannter Bedeutung beraubt. Ein typisches Beispiel ist der Eigenname unseres geliebten Chefredakteurs höchstpersönlich. Soo Tree, Redakteur niedrigsten Ranges.] Da Chegory Guy nicht in einer ordentlich organisierten Gesellschaft lebte, sondern in Injiltaprajura, blieb er auf freiem Fuß (zumindest im Moment), um über das Leben, den Tod und die Ewigkeit nachzusinnen. Momentan fühlte sich das Leben… fast wertlos an. Doch irgendetwas machte es für die Dinge aus dem Jenseits lohnenswert, einen Pakt mit den Hexern einzugehen, auf dass sie dieses pure Fleisch, diese Welt des Fühlens, genießen durften. Manchmal gingen sie tatsächlich so weit, dass sie sich bis zu jenem Aspekt des Möglichen vorwagten, der darin bestand, die volle Herrschaft über die Freiheit eines Menschen zu übernehmen. Chegory fiel wieder ein, dass er müde, hungrig und verkatert war. Dieser Zustand musste aber nicht zwangsläufig auf Dauer bestehen. Es würden auch wieder gute Zeiten kommen. Teile genau dieses Tages waren schon richtig gut gewesen, nicht wahr? Jawohl. Sein Triumpf bei einer Kraftprobe, als er Kaiserin Justina die ganze Strecke vom rosa Palast oben auf dem Pokra-Kamm bis zum Eingang des Analytischen Instituts auf Jod getragen hatte. Nur wenige Leute in ganz Untunchilamon hätten das ebenfalls zustande gebracht. In der Zukunft würde es noch mehr gute Zeiten geben. Für sie musste er am Leben bleiben. Auf diese Weise schüttelte Chegory allmählich seinen Anflug von Todessehnsucht ab. Er sah dem Licht- und Schattenspiel der von Blattwerk und Rankendickicht gefilterten Sonnenstrahlen zu. Er sah dem umherspritzenden gekrümmten Wasserstrahl einer Quelle zu, der auf breit aufgespannten Bananenblättern herumspielte. Dann wurde er plötzlich von der außergewöhnlichen Schönheit der Bananenstaude überwältigt. Er hatte in seinem Leben schon Tausende von Bananenstauden gesehen, aber jetzt merkte er, dass er wohl kaum eine einzige richtig betrachtet hatte. Er hatte niemals wirklich hingeschaut, um zu begreifen, wie vielschichtig Seite 287 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 dieses Ding war, wie außergewöhnlich, wie makellos einzigartig. Die feste Steife des aufstrebenden Gelbgrüns, das mit den komplexen braunen Sprenkeln einer Pflanzenkrankheit gemustert war. Jene feste Steife wurde breiter und weicher, während sie in die Fülle der grünen Blätter überging, die unter den taumelnden Wassertropfen aus der Gischt der Quelle nachgaben und wieder zurückschnellten. Chegory lächelte. Kletterte dann die Schlucht hinauf, bis er einen Platz erreicht hatte, von dem aus er über den Laitemata blicken konnte. Auf dem Wasser suchte sich ein Kanu seinen Weg zum Westende des Hafens. Ohne Probleme, obwohl ein Teppich aus Dickel noch immer den größten Teil des Wassers bedeckte: die Paddler konnten diesen Teppich auf einfache Weise aufbrechen, indem sie nämlich mit ihren Paddeln solange auf ihn einstießen, bis sich die thixotrope Substanz plötzlich in Flüssigkeit verwandelte. Draußen im Laitemata lag der Blutstein-Hügel der Insel Jod, wo der weiße Marmor des Analytischen Instituts hell in der Sonne glänzte. Jenseits davon lag der rote Sand der Säbelinsel, wo die Kokospalmen ihre Wedel entrollten. Und wieder jenseits davon, jenseits der letzten Felsen des Riffs, war das grenzenlose Meer. „Woran denkst du denn gerade, Chegory?“ sagte der freischwebende Schäbbel. „Ich möchte leben.“ „Da bin ich aber froh, liebster Chegory. Ich will nicht, dass du stirbst.“ „Nein,“ sagte Chegory. „Aber einer muss das tun.“ Jetzt hatte er es kapiert. Jetzt sah er den Weg, den er einschlagen musste. Seite 288 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 38 Für sein Vorhaben brauchte Chegory einen Todesfall. Deshalb machte er sich bei Sonnenuntergang auf den Weg zu Uckermarks Leichenladen im Elendsviertel von Lubos. Anwesend war dort nur Yilda, denn ihr Geliebter musste erst noch von Jod heimkehren. Weil Chegory soviele andere Dinge durch den Kopf gingen, hatte er ganz vergessen, dass Yilda taub war und man sie deshalb anbrüllen musste. Als er ihr die naheliegende Frage stellte, tat er das deshalb in herkömmlicher Unterhaltungslautstärke. Trotzdem verstand sie ihn, weil Yilda entweder lippenlesen konnte, oder weil sie es nicht nötig hatte, taub zu sein, wenn Uckermark abwesend war. Sie beantwortete seine Nachfrage zustimmend: jawohl, früher an diesem Tag wären Soldaten dagewesen, die ihn gesucht hätten. Danach hatte Yilda ihrerseits einige naheliegende Fragen, die eine Antwort verlangten. „Ich hab’ ihn auf Jod zurückgelassen,“ sagte Chegory. „Da ist bei ihm alles in Ordnung gewesen. Aber es hat… irgendwie hat es wohl etwas Ärger gegeben. Der Einsiedlerkrebs auf der einen Seite, Varazchavardan auf der anderen.“ „Wann ist das gewesen?“ sagte Yilda. „Äh, nicht lang nach dem Frühstück. Das heißt nicht, dass ich tatsächlich ein Frühstück gehabt hätte. Oder ein Mittagessen. Oder ein Abendessen, wenn man es recht betrachtet. Ich mache hier übrigens keine Anspielungen, klar? Nein – ich frage Sie hiermit rundheraus. Gibt es hier etwas zu essen? Denn ich bin am Verhungern!“ Eine ausführliche Mahlzeit folgte, und danach folgten ausführlichere Erklärungen. Dann brachte Chegory endlich die delikate Angelegenheit zur Sprache, die ihn zum Leichenladen geführt hatte. Denn in aller Regel weiß man im Leichenladen, wer gerade im Sterben liegt, und wann er tot sein wird. „Ein Todesfall,“ sagte Yilda langsam. „Der Tod ist eine… eine sehr private Angelegenheit.“ „Weiß ich,“ sagte Chegory. „Aber…“ Er hatte nur gefragt, weil er einen dringenden Bedarf hatte. Und Yilda kannte seinen Bedarf mittlerweile auch und hatte ihn verstanden. „Bleib’ hier,“ sagte sie. Dann verließ sie den Leichenladen, und ehe sie zurückkehrte, hatte Undokondra bereits den Platz für Bardardornootha freigemacht. Sie traf Chegory noch wach an, der sich gerade leise mit Schäbbel unterhielt. Seinem kugelförmigen Freund vertraute der Ebrellianer seine innersten Gedanken an, seine privatesten Augenblicke – obwohl er es hätte besser wissen sollen. Denn Schäbbel hatte nur ein unzureichendes Gespür für Vertraulichkeit. „Wie ist es gelaufen“ sagte Chegory. „Sie ist einverstanden,“ sagte Yilda. „Sie?“ „Frauen sterben ebenso wie Männer.“ „Ich wollte… aber egal.“ „Dann komm’ mit,“ sagte Yilda. „Müssen wir uns beeilen?“ „Kein Grund zur Eile,“ sagte Yilda. „Sie ist schon seit Tagen dabei, und es kann noch Tage so weitergehen.“ „Wohin gehen wir?“ sagte Schäbbel. Seite 289 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 „Du wirst nirgendwo hingehen!“ sagte Yilda. „Und am allerwenigsten mit uns!“ „Aber das will ich!“ sagte Schäbbel. „Ich will mitkommen!“ „Schäbbel, Schäbbel, liebster Schäbbel,“ sagte Chegory, „das hier wird übel werden.“ „Nein,“ sagte Yilda. „Nicht übel. Sondern schwer. Und privat. Äußerst privat.“ „Aber wenn ich nicht mitkommen darf,“ sagte Schäbbel, „dann werd’ ich völlig allein sein.“ „Nein, das wirst du nicht,“ sagte Chegory. „Du wirst nach Jod gehen. Ja, genau. Du gehst nach Jod und suchst dort Pelagius Zozimus. Den Meisterkoch, klar? Weck’ ihn auf. Sorg’ dann dafür, dass er den Einsiedlerkrebs fragt, ob du eine Audienz bei ihm haben kannst.“ „Aber,“ protestierte Schäbbel, „aber…“ „Oh ja,“ sagte Chegory. „Aber dies, aber das, und aber noch etwas anderes. Ich weiß schon! Du stehst mit dem Krebs auf Kriegsfuß! Deshalb soll ja Zozimus als Erster hingehen. Um dir den Weg zu bahnen. Diplomatie. Kennst du dieses Wort? Gut. Wenn du es also schaffst, dich mit dem Einsiedlerkrebs zu treffen (nein, das wirst du schon, glaub’ mir), dann überbringst du dem Krebs meine Nachricht.“ Dann gab Chegory Schäbbel eine Nachricht für den Krebs mit, die dem Krebs mitteilte, was Chegory gerade machte, und was Chegory gern hätte, dass der Krebs dafür im Gegenzug machen sollte. Dann bewegte Schäbbel, der dabei nicht stärker als ein Glühwürmchen leuchtete, sein Schäbbel-Selbst nach Jod, während Chegory und Yilda hinaus in die mondlose Nacht schlüpften. Wo genau sie in jener Nacht hingingen, ist ungewiss, aber bekannt ist, dass sie zu einem Todesfall gingen. Wer genau starb, oder wie, ist unbekannt, aber bekannt ist, dass Chegory in jener Nacht erfuhr, dass Leute sich schwer tun mit dem Sterben. Es ist nicht bekannt, ob der Dämon Binchinminfin die Gelegenheit zur Abwanderung wahrgenommen hatte, kurz nachdem Chegory und Yilda bei der Sterbenden eingetroffen waren, oder erst, nachdem sie an ihrem Totenbett einige Zeit gewartet hatten. Was bekannt ist, das ist, dass Chegory, nachdem der Dämon bereits sein Fleisch verlassen hatte, bis zum Ende geblieben war, denn er hatte gespürt, dass dies das Mindeste sein würde, was er tun könnte. Was auch bekannt ist, das ist, dass er später geweint hatte, nachdem er Olivia davon erzählt hatte. Oh, nicht alles davon, aber doch ein wenig. Es ist natürlich möglich, dass er nicht um jene Verstorbene weinte, sondern wegen ihres – und seines – Sterbens. Denn er wusste, dass auch sie zuerst das Leben in der Welt ihrer Jugend beenden und dann, später, das Leben in der Welt überhaupt beenden würden. Oder es ist auch möglich, dass er einfach deshalb weinte, weil er unerträglich müde war. Mit Sicherheit ist bekannt, dass, als der junge Chegory endlich ein Bett erreicht hatte und ungestört schlafen durfte, die ganze Welt für ihn tot war, und zwar für eine Nacht und einen Tag und auch noch für die folgende Nacht. Aber er erholte sich wieder, er erholte sich, denn er war jung, und kräftig, und er hatte genau jene Konstitution eines muskelbepackten Ochsen, die man von einem Nachkommen einer Rasse von Waltötern auch erwarten durfte. Seite 290 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 39 Hier, da wir nun zum Ende kommen, ist ein letztes Geheimnis – das größte und geheimste von allen. Die Generalamnestie, die der Einsiedlerkrebs verkündet und vollstreckt hatte, war überhaupt nicht die Idee des Krebses gewesen. Es war der Ebrellianer, Chegory Guy, der als erster auf den Gedanken einer solchen Amnestie gekommen war und dann einen Abgesandten (Schäbbel) losgeschickt hatte, um dem Krebs diesen Vorschlag zu unterbreiten. Normalerweise mischte sich der Krebs nicht in die Politik der Menschen ein, weil er wusste, dass eine derartige Einmischung eine ganz besonders undankbare Aufgabe sein würde. Aber Chegory hatte geltend gemacht, dass es der Krebs tun sollte, weil erstens ein genialer (!) Ebrellianer dafür gesorgt hatte, dass der Dämon Binchinminfin in die Welt des Jenseits zurückgekehrt war, ohne dass sich der Krebs die Schuldenlast eines Mords hatte aufladen müssen, und weil zweitens der Krebs mit der Verlautbarung und Vollstreckung einer Amnestie die ewige Dankbarkeit Chegorys gewinnen würde. Wir müssen annehmen, dass der Krebs das zweite Argument völlig außer Acht gelassen hatte, denn man weiß ja nur zu gut, was die Dankbarkeit eines Ebrellianers wert ist. Das erste Argument muss aber trotzdem ein beträchtliches Gewicht gehabt haben, denn der Krebs hatte eine Ansprache gehalten. Entschloss sich der Krebs, eine Ansprache zu halten, dann gehorchte man ihm einfach. Aquitaine Varazchavardan und Justina Thrug kamen pflichtgemäß zu einer Besprechung unter dem Vorsitz des Einsiedlerkrebses zusammen und wurden gezwungen, sich gegenseitig als Meister der Rechte beziehungsweise als Kaiserin anzuerkennen. Soweit es durchführbar war, wurden alle Gegenstände, die während der vergangenen Unruhen geplündert worden waren, ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben. (Justina erhielt den Wunschstein zurück.) Man veröffentlichte einen allgemeinen Straferlass für alle verbrecherischen Handlungen, die während der Tage des Tumults begangen worden waren, und man traf ähnliche Maßnahmen hinsichtlich des Zivilrechts, damit die Gerichtshöfe nicht in Rechtsstreitigkeiten jeglicher Art ersticken würden. Natürlich stellte das niemand zufrieden. Varazchavardan wollte nicht Justinas Meister der Rechte sein. Er wollte ihr Henker sein. Sie ihrerseits hätte ihn nach seiner jüngsten Darbietung von Treulosigkeit mit Freude kastrieren können. Die Marodeure vom Volk der Malud, Al-ran Lars, Arnaut und Tolon, waren schwer enttäuscht von der Aussicht, Injiltaprajura ohne irgendeine Beute verlassen zu müssen, die sie vielleicht doch noch der Insel abgerungen hätten, wenn Bürgerkrieg und allgemeine Anarchie die Oberhand gewonnen hätten. Was Guest Gulkan betraf, so kochte er vor Wut auf die mordlüsternste Weise, die man sich vorstellen konnte, und es erforderte die vereinten Anstrengungen von Pelagius Zozimus und Hostaja Sken-Pitilkin, ihn davon zu überzeugen, sich lieber nicht mit dem Einsiedlerkrebs anzulegen. Oder zumindest noch nicht. Wenigstens nicht ausgerechnet jetzt. In der allgemeinen Öffentlichkeit schlug die Unzufriedenheit ebenfalls hohe Wellen. Es hatte einen Ausnahmezustand gegeben, einen Diebstahl in der Schatzkammer, eine Revolution, einen Aufstand, Unruhen, Plünderungen, Flucht aus der Haft, Missachtung des Gerichts und wer weiß, was noch alles. Mit Sicherheit war irgendwer schuld daran. Mit Sicherheit sollte man irgendwen beschuldigen, verprügeln, enthaupten, bei lebendigem Leib verbrennen oder von Haien in der Lagune zerreißen lassen. Verschiedene Teile der Öffentlichkeit schenkten ihre Treue entweder Varazchavardan, Justina oder ihren Eigeninteressen – aber sie waren alle von der blutigen Gier vereint, jemanden für das, was passiert war, bezahlen zu sehen. Deshalb ist es tatsächlich ein Glück für Chegory Guy, dass seine eigene Beteiligung an der Generalamnestie lange Zeit geheim geblieben und nur ihm selbst sowie Yilda, dem Einsiedlerkrebs, Schäbbel und ein paar von Schäbbels vertrauenswürdigen Mitwissern bekannt gewesen ist,. Jetzt, da also dieses interessanteste aller Geheimnisse ans Tageslicht gebracht worden ist, was bleibt uns sonst noch zu sagen? Nichts. Es ist vollbracht. Diese Chronik ist vollendet. Seite 291 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Sämtliche ihrer drei Millionen Worte. Die zinnoberrote Tinte gleitet süß über diese letzte Seite aus Hundehaut51 der goldenen Güteklasse. Dreitausend Seiten. Eintausend Worte pro Seite. Im Schein der Lampe sehen die Worte undeutlich und verschwommen aus. In wenigen Jahren werde ich nicht mehr in der Lage sein, meine eigenen Aufzeichnungen zu lesen. Dennoch ist es vollbracht. Ein kühler Wind weht durch das Heiligtum. Hoch droben am Himmel schwebt fahles Silber, das auf die Steilhänge und den Schnee der Mondberge herabscheint. Morgen muss ich hier abreisen, denn meine Zeit ist zu Ende. Was dann? Was mein Fleisch angeht, so mache ich mir da keine Sorgen. Es hat bereits soviel ausgehalten, dass es auch das Ende aushalten wird. Aber ich habe Angst um den Text. Mein schlimmster Albtraum ist der, dass er in die Hände dieser freigiebigen Deppen auf Odrum fällt, also in die Hände jener einfältigen Trottel, die seit tausend Jahren die Hoffnung hegen, die Welt zu erobern, und die sich für diesen Zweck beständig auf der Queste nach denjenigen Daten befinden, von denen sie annehmen, dass sie ihnen (im langen Lauf der Zeit) den erforderlichen Einfluss verschaffen, um genau das zu tun. Ich bezweifle, dass sie die wahre Schönheit und das Geniale an diesem Text zu würdigen wüssten. Ich fürchte, dass sie ihn irreparabel verstümmeln würden – vielleicht würden sie meine fünfzigtausend Jahre dauernde Tour durch die Bordelle Injiltaprajuras herausschneiden, oder meine lustige kleine Schilderung bezüglich Theodora und ihrer Küken, oder meinen Bericht über Jal Japones Harem und die fünftausend Nächte der Wonne, derer er sich dort erfreut hatte. Nun ja, so ist das Leben eben. Am Ende kann man nur noch sterben. Was sein wird, wird sein. Was aber diese Chronik angeht – hiermit beenden wir sie. 51 engl. fooskin [vermutlich „skin of foo”, wobei foo vielleicht auf die chinesischen Fu-Hunde anspielt] Seite 292 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Eine redaktionelle Bemerkung zum Schluss Dies hat der Urheber niedergeschrieben und beweist damit (das Beispiel trägt sich nur ein paar Absätze weiter oben zu), dass er keine Ahnung vom Sinn des Wortes „freigiebig“ hat, ebenso wie er nicht die wahre Bedeutung von „großmütig“ oder den Wert des Jungfräulichkeit kennt. Nahezu den gesamten oben genannten Text hindurch haben wir (häufig stillschweigend) das Verrückte, das Wiederholte, das Obszöne, das Unbedeutende und das Einfältige herausgeschnitten, überarbeitet oder weggelassen. Aber die letzten Bemerkungen des Urhebers sollen unversehrt und unverändert stehenbleiben, ganz genauso, wie er sie hingeschrieben hat. In sich selbst belegen sie die Notwendigkeit sowohl des Werks als auch der Eroberung. Wir brauchen Kritik dieser Art nicht zu fürchten, da sie sich im Augenblick ihres Angriffs von selbst erledigt. Ein paar abschließende Bemerkungen müssen jedoch bezüglich gewisser Aspekte in der Erzählung des Urhebers gemacht werden, nämlich was die angebliche Macht angeht, die dem Einsiedlerkrebs zugeschrieben wird, und was die behauptete Existenz jenes Wesens namens Schäbbel angeht. Bei nochmaliger Betrachtung meiner „redaktionellen Bemerkung zum Auftakt“, die ich am heutigen Morgen verfasst habe, habe ich festgestellt, dass diese Angelegenheiten dort bereits auf nette Weise behandelt werden, weshalb ich an dieser Stelle den Leser nur auf meine einleitenden Worte aufmerksam machen möchte. Zwei Vergnügen erwarten mich jetzt. Erstens, die überarbeitete Version dieses Textes mit meinem Namen zu unterzeichnen. Zweitens, bei der öffentlichen Züchtigung des niederrangigen Faktenprüfers Oris Baumgage zuzusehen, den man am heutigen Nachmittag erwischt hat, als er gerade eine Kopie des Buchs des Fleisches intensiv studiert hatte, die er in völliger Missachtung des Gesetzes und der Bestimmungen unerlaubterweise aus der Inneren Bibliothek entwendet hatte. Nicht zum ersten Mal frage ich mich verwundert, was mit unserer armen Welt geschehen soll, wenn sie eines Tages endgültig in die Hände einer derart nichtsnutzigen und pflichtvergessenen jüngeren Generation fallen wird (wie das unvermeidlich geschehen muss). In der bis zu einem solchen Verhängnis noch verbleibenden Zeit können Sie versichert sein, dass ich mich mannhaft bemühen werde, sicherzustellen, dass Ordnung und Disziplin obsiegen werden. Eigenhändig verfasst an eben diesem Abend des zwölften Tags des fünften Monats des 15436794. Jahres des Bürgerlichen Krawalls. Drax Lira. Chefredakteur Torklos doskvart. [Explicitum est.]52 52 „Es ist zu Ende.“ Seite 293 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Nachwort Natürlich ist das nicht ganz so einfach gewesen, denn obwohl der Urheber nicht zögerte, am Endpunkt seiner Chronik „hiermit beenden wir sie“ zu schreiben, und obwohl Drax Lira ebensowenig zögerte, am Ende seines Textes „explicit“ zu schreiben, so war die Kette der Kausalität nicht zu Ende gewesen, nachdem die beiden ihr Studium derselben aufgegeben hatten. Selbst die Ereignisse, mit denen sie sich beschäftigt hatten, waren nicht annähernd so einfach, wie sie in dem obigen Text erscheinen, und zwar aus Gründen, die eine kurze Betrachtung offensichtlich machen wird. Selbst der einfältigste Leser wird ja mittlerweile begriffen haben, dass der Urheber ziemlich verrückt gewesen war, dass er während der Ereignisse, über die er später berichtete, in der Dromdanjerie eingesperrt gewesen war, und dass er folglich kein Wissen aus erster Hand bezüglich des von ihm behandelten Geschehens besessen hatte. Demzufolge waren die Quellen des Urhebers zwangsläufig Gerüchte, Geschwätz, Vermutungen und Annahmen gewesen, die ebenso zwangsläufig zu einer Unschärfe des berichteten Geschehens geführt hatten. Natürlich sieht man dabei Schäbbel mit hoher Bildschärfe, denn Schäbbel hatte sich frei in der Dromdanjerie bewegen können und war es gewöhnt gewesen, sich mehrere Tage hintereinander mit dem Urheber zu unterhalten, der einer der wenigen Leute in Injiltaprajura gewesen war, der verrückt genug gewesen war, Schäbbels irrsinnigen Geschichten über den Goldenen Gulag und über die Schrecken, die den lebendig gewordenen Albträumen der Tage des Zorns vorausgegangen waren, Glauben zu schenken. (Die Tatsache, dass die meisten von Schäbbels Geschichten auf der Wahrheit beruht hatten, ändert nichts an der Tatsache, dass es für jeden völlig verrückt gewesen wäre, diesen Geschichten ohne umfassende Beweise Glauben zu schenken, denn ungeachtet ihres tatsächlichen Wahrheitsgehalts sind solche extravaganten Erinnerungen nach außen hin nicht glaubhafter als die albtraumhaften Wahnvorstellungen von Slanic Moldova, dem vielfach Gequälten. Obwohl Ivan Pokrov den groben Inhalt von Schäbbels Geschichten hätte bestätigen können, hatte er es immer abgelehnt, das zu tun, da es ihm stets widerstrebt hatte, sich zu seiner eigenen Unsterblichkeit zu bekennen, damit man ihn nicht wegen des Geheimnis derselben foltern würde.) Schäbbels Einfluss hatte unglücklicherweise dazu geführt, dass der Urheber alle Aussagen Schäbbels für bare Münze gehalten hatte, was zur Aufnahme von ein oder zwei ausgemachten Lügen in den Text geführt hat. Die unverschämtesten von Schäbbels Unwahrheiten sind die Behauptungen, dass sich der Goldene Gulag fünfzigtausend Jahre lang angestrengt hätte, Genies in Schäbbelform herzustellen, und dass „sich der Gulag weitgehend auf Schäbbels wegen ihrer breitgefächerten Fachkenntnisse verlassen hatte“. In Wirklichkeit war der erste Prototyp eines Schäbbels in einem Spielzeugladen in den hintersten Provinzen des Musorischen Reichs entworfen und hergestellt worden. Dann waren in dem Bemühen, einen kleinen Anteil des lebhaften Markts für Kinderspielsachen zu erobern, 78923423911236 Schäbbels hergestellt worden, um sie im gesamten Nexus zu verteilen. Selbstverständlich hatten die Schäbbels in jenem Stadium nicht die Kraft gehabt, Flammen zu werfen oder Feuerkugeln zu erzeugen. Obwohl die Schäbbels nicht hundertprozentig gefährlich gewesen waren, hatten sich unglücklicherweise Spielsachen mit einem derart ausgeprägten Sinn für Humor als unverkäuflich erwiesen. Oder, um genauer zu sein (und das ist ja schließlich die Pflicht eines Geschichtsforschers), die Schäbbels waren zwar tüchtig gekauft worden, aber anschließend hatten lange Schlangen aufgebrachter Eltern die Verkaufsstellen mit Vorwürfen aller Art bestürmt. Schlimmer noch, es waren soviele Eltern vor Gericht gezogen, dass daraufhin in dem ein oder anderen Kosmos die Rechtsordnung unter der Last der zusätzlichen Arbeit zusammengebrochen war. Die Antwort des Nexusrats war unverzüglich erfolgt: ein allgemeines Verbot der Herstellung und des Verkaufs von Schäbbels. Das hatte im Goldenen Gulag keinen gehindert, auf dem Schwarzmarkt einen Restposten von drei53 Millionen Schäbbels zum Verkauf anzubieten. Der skrupellose und vielseitig interessierte Rinprofen Rum hatte die Idee gehabt, dass diese zweitklassigen Kinderspielsachen preiswerte Analytische Maschinen verkörpern könnten, und er hatte deshalb sämtliche drei Millionen Stück für eine Ausgabe von nur hunderttausend Elementaren Bezugspunkten käuflich erworben. 53 [Hier steht im englischen Original „dreißig“ – aber das ist inkonsistent und nach Meinung des Übersetzers ein Tippfehler.] Seite 294 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 Ein Fehler! Denn Rinprofen Rum hatte bald feststellen müssen… Aber das ist eine andere Geschichte, und eine lange obendrein. Es ist jedoch beachtenswert, dass es Rum geschafft hatte, das daraus resultierende Debakel zu überleben, und tatsächlich war er während des Zeitraums, mit dem sich der Urheber beschäftigt hatte, noch am Leben und wohlauf gewesen und hatte auf Untunchilamon gelebt. Schäbbel hatte das genau gewusst. Aber Schäbbel hatte Rum niemals an den Urheber verraten. Oh, Schäbbel war freilich zu mannigfaltigem Verrat in der Lage, daran dürfen Sie niemals zweifeln. Schäbbel hatte dem Urheber immerhin Ivan Pokrovs Urspung verraten und ihm von Pokrovs Verbrechen gegen den Gulag erzählt. Schäbbel hatte Pokrov freilich überhaupt nicht ausstehen können. Würden Sie das nicht ebenfalls? Würden Sie nicht auch einen Groll hegen, wenn Sie ein Schäbbel wären und Pokrov Sie ständig herumschikanieren würde, damit Sie ihm helfen, die Analytische Maschine zu entwerfen, Berechnungen durchzuführen und die Einkommenssteuer auszutüfteln, wenn Sie eigentlich viel lieber rund um die Insel sausen würden, um Fliegende Fische zu jagen und Katzen zu erschrecken? Natürlich würden Sie das. Also hatte Schäbbel unbekümmert Pokrovs Geheimnisse verraten, genauso, wie Schäbbel nahezu alle von Chegory Guys intimsten Bekenntnissen dem Urheber anvertraut hatte. Darüber hinaus hatte Schäbbel, als ihm Rinprofen Rum von den Prüfungen und Kümmernissen berichtet hatte, die er durchgemacht hatte, keinerlei Bedenken, diese Geschichten Rums dem Urheber weiterzuerzählen. Aber das hätte Rum freilich nichts ausgemacht. Was Rum wirklich wichtig gewesen war, das war das Geheimnis seiner Identität gewesen, und das hatte Schäbbel stets geheimgehalten. Da Rinprofen Rum stets Schäbbels allerbester Freund gewesen war, hatte das pflichtvergessene Spielzeug dem Urheber nie mitgeteilt, dass der Beschwörer Odolo in Wahrheit ein unsterblicher Überlebender aus den Tagen des Goldenen Gulag gewesen war. Jetzt werden Sie sich freilich fragen: wie und wo genau hatte Schäbbel die Fähigkeit erworben, Flammen zu werfen? Die Antwort ist einfach. Schäbbels Hirn ist eine Sonne, die sich in ihrem eigenen separaten Kosmos befindet. Diese Sonnenmasse ist für Schäbbel das, was für uns unser eigenes Hirn ist: eine Denkmaschine bar jeglicher sensorischer Verbindung. So wie wir unser eigenes Hirn nicht spüren können, so kann auch Schäbbel die Sonnenmasse nicht spüren, von der Schäbbels Existenz abhängt. In Schäbbels privatem Kosmos gibt es einen Solaren Organisator, einen komplizierten Apparat, der Schäbbels Denkvorgänge mit dem Transponder verbindet, der Schäbbels Sinneseindrücke verarbeitet, wobei dieser Transponder Schäbbels alleinige Erscheinungsform in jedwedem menschlichen Universum darstellt, in dem sich der gute Schäbbel gerade zufällig aufhalten sollte. Der Solare Organisator besitzt die Fähigkeit, Energie aus Schäbbels Solarhirn durch den Transponder zu schicken, der faktisch Schäbbels Körper darstellt. Diese Sonnentransponder-Einheiten hatte man zunächst für militärische Einsätze entwickelt, und deshalb waren sie ursprünglich so konstruiert worden, dass sie in der Lage gewesen waren, Flammen zu werfen, Feuerkugeln zu erzeugen und ein ordentliches Maß an Gefechtstreffern auszuhalten. Sie konnten außerdem Hitze genauso leicht aufnehmen wie abstrahlen, und sie konnten sich nach Belieben tarnen, indem sie die Gestalt kugelförmiger Spiegel oder von Kugeln aus altem Eisen annahmen, oder indem sie rot, grün oder blau wurden, eben so, wie es die Situation gerade von ihnen verlangte. Als sich ein Spielzeugmacher damit beschäftigt hatte, den ersten Schäbbel aus dem ursprünglichen Schwert herzustellen, war es für ihn erforderlich gewesen, die Sonnentransponder-Einheit für den Einsatz im Kinderzimmer betriebssicher zu machen. Folglich war bei jedem Schäbbel, den man in die Welt hinausgeschickt hatte, der Energiefluss auf ein Minimum gesenkt worden. Die in die Solaren Organisatoren eingebauten Energiefluss-Regler waren jedoch anfällig für einen positiven Drift gewesen. Man hatte sie so konstruiert, nachdem die Miltärexperten des Musorischen Reichs festgestellt hatten, dass die Hersteller nicht in der Lage gewesen waren, jene herausragende Qualitätskontrolle zu leisten, die erforderlich gewesen wäre, um Seite 295 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012 sicherzustellen, dass für den Transponder immer eine exakte und gleichbleibende Menge Energie verfügbar sein würde. Es würde also immer einen Drift geben, entweder positiv oder negativ, und im militärischen Umfeld war ein negativer Drift inakzeptabel. Deshalb hatte man die Energiefluss-Regler der Schwerter so konstruiert, dass sie nur einen positiven Drift haben konnten. Man hatte sie nicht neu konstruieren können (die Kosten wären unerschwinglich gewesen), bloß weil ein Spielzeugmacher den Wunsch gehabt hatte, ein paar Schäbbels aus einer zugrundeliegenden Schwert-Konstruktion herzustellen. Das war aber nicht als Problem betrachtet worden, weil ein mit dem Energiefluss auf ein Minimum gedrosselter Schäbbel in Kinderhänden völlig ungefährlich sein würde, und die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit notwendigen Anpassungen nur alle zwanzig Jahre oder so notwendig sein würden. Daher also – viele Jahrtausende später – die pyrotechnischen Fähigkeiten des Dämons von Jod. Was sollte man dem Text des Urhebers und den Kommentaren der Redaktion von Odrum noch hinzufügen? Man könnte ja eine Menge hinzufügen. Aber wir wollen uns mit einem flüchtigen Blick begnügen, mit einem winzigkleinen Blick auf die Feierlichkeiten, die von Kaiserin Justina organisiert worden waren (sie war eine Diplomatin und hielt es für schlau, ihre Zustimmung zu den Beschlüssen des Einsiedlerkrebses deutlich zu zeigen), um die Generalamnestie zu feiern. „Lasst uns eine Generalverordnung haben!“ rief sie. Und es gab eine Generalverordnung, mit frei verfügbarem Alkohol für alle miteinander, die folglich zu einer Steigerung der Laune aller Beteiligten führte, zu einer Steigerung, die von Festessen, Musik und Tanz außerordentlich unterstützt wurde. „Lasst die Glocken erklingen!“ befahl Kaiserin Justina. Das Geklingel nahm seinen Lauf. Ein Geläut nach dem anderen wurde angeschlagen, und schallendes Klingeln ertönte überall in der Stadt. Chong! Jong! Jung! Yong! Chan-gantachong! Die Tauben flogen scharenweise in den Himmel. In den Glockentürmen weinten die Fledermäuse rotes Blut. Und der junge Chegory Guy kam Olivia ganz nahe, kam ihrer Lieblichkeit, ihrer Hitze ganz nahe, und ja, sie sagte ja sie sagte ja. ENDE Seite 296 von 296 – The Wishstone and the Wonderworkers – www.age-of-darkness.de – Copyright © Harald Popp 2012