St. Panayotakis: ‚The Story of Apollonius, King of Tyre - H-Soz-Kult

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St. Panayotakis: ‚The Story of Apollonius, King of Tyre - H-Soz-Kult
St. Panayotakis: ‚The Story of Apollonius, King of Tyre‘
Panayotakis, Stelios: ‚The Story of Apollonius,
King of Tyre‘. A Commentary. Berlin: de Gruyter
2012. ISBN: 978-3-11-021412-3; X, 682 S.
Rezensiert von: Peter Habermehl, Theologische Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin
In mehr als einer Hinsicht erinnert die lateinische Historia Apollonii regis Tyri an den
Alexanderroman. Beide Texte sind anonym
auf uns gekommen, und beide wurden von
Anfang an ‚kreativ‘ rezipiert: jeweils mehrere Versionen in verschiedenen Sprachen sind
überliefert, die sprachlich wie inhaltlich zum
Teil markant voneinander abweichen. Im Fall
der Historia Apollonii regis Tyri datieren die
beiden frühsten Fassungen, ‚rec. A‘ und ‚rec.
B‘, mutmaßlich ins 5./6. Jahrhundert n.Chr.;
umstritten ist die Frage, ob ihnen ein verlorenes, zwei, drei Jahrhunderte älteres Original
auf Griechisch zugrunde lag.
Besonderer Wertschätzung erfreut sich zu
Recht die ‚rec. A‘, die in jüngerer Zeit nicht
nur wiederholt ediert, sondern gleich dreimal
kommentiert wurde.1 Dass ein vierter Anlauf dennoch Sinn macht, belegt Panayotakis’ philologisch-literarisch ausgerichtete Arbeit mit jeder Seite. Er sieht in der ‚rec. A‘ eine
Erzählung sui iuris, die vor dem Hintergrund
der zeitgenössischen spätantiken Kunst und
Kultur zu lesen sei und in der sich die angeblichen Gegensätze, von denen die einschlägige
Sekundärliteratur ausgeht – Latein und Griechisch, pagan und christlich, raffiniert und naiv –, harmonisch verbinden.
Die knappe Einführung referiert den aktuellen Forschungsstand. Thema sind unter anderem der anonyme Autor und der olympische, gelegentlich Partei ergreifende Erzähler, aber auch die Struktur der Erzählung,
die überraschend unterschiedlich seziert wurde (wie Panayotakis aufzeigt, sind die einzelnen Handlungsstränge enger miteinander
verflochten, als manche artifizielle Trennung
dies wahrhaben will), oder wiederkehrende
Leitmotive wie Inzest, Bildung, Königtum,
Rätsel und der etwas dunkle, von Panayotakis ins Spiel gebrachte Begriff der ‚Reziprozität‘ („reciprocity“ im Sinne von ‚wechselseitige Beziehungen‘; vgl. S. 3).
Anschaulich abgehandelt wird die Topo-
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graphie der Geschichte. Auf der Landkarte
der Historia Apollonii regis Tyri erscheinen
etliche berühmte Städte, die nicht nur im griechischen Roman eine Rolle spielen, sondern
auch in Philostrats Apollonios von Tyana und
bei Paulus.2 Das Genre des Textes lässt Panayotakis offen. Außer Frage steht, dass die
Historia Apollonii regis Tyri wie etliche fiktive Texte der Kaiserzeit aus einer Vielzahl literarischer Quellen schöpft (so aus Epos und
Drama, besonders aus Komödie und Mimus,
aber auch aus Roman, Rhetorik und Hagiographie) und dass ihr Verfasser, wie Panayotakis detailliert belegt, mit einer ganzen Reihe römischer Autoren vertraut war (vor allem
Cicero, Vitruv, Seneca und vermutlich auch
Apuleius).
Hellhörig filtert Panayotakis die vielen biblischen Echos heraus, die im Text anklingen.
Doch den alten Streit, ob der Autor pagan
oder christlich war, lässt er hinter sich.3 Seiner
einleuchtenden These zufolge fehlt dem Text
ein klares religiöses Bekenntnis. Die paganen,
jüdischen und vor allem christlichen Elemente in der Historia Apollonii regis Tyri zeugten vielmehr vom literarischen Ehrgeiz eines
Autors, der seine Belesenheit im Kosmos des
spätantiken Schrifttums zur Schau stelle und
sich auf ein unterhaltsames Spiel mit seinen
gebildeten Lesern einlasse. Für diese These
spricht übrigens auch die zentrale Rolle der
Rätsel in dem Text.4
Dass der Autor ebenfalls mit der griechischen Sprache vertraut war, besonders
mit Homer und dem Liebesroman, belegt
eine ganze Reihe von Gräzismen. Manche
Exegeten sehen in ihnen ein klares Indiz
für eine griechische Vorlage des Textes; anders Panayotakis: Er unterscheidet nicht nur
1 David
Konstan / Michael Roberts, Historia Apollonii
regis Tyri, Bryn Mawr 1985; Georgius A. A. Kortekaas,
Commentary on the Historia Apollonii regis Tyri, Leiden 2007 (mit rec. B); Giovanni Garbugino, La storia di
Apollonio re di Tiro. Introduzione, testo critico, traduzione e note, Alessandria 2010.
2 Auffällig genug reisen die Protagonisten grundsätzlich
zur See.
3 Für ersteres könnten Szenen wie das Neptunfest (39,2)
oder die Artemis von Ephesos (48,15) sprechen, für
letzteres etwa die biblischen Formeln und die Versatzstücke frühchristlichen Lateins.
4 Zu Kap. 42 lohnte ein Verweis auf den berühmten Rätselstreit zwischen Bilbo und Gollum in J.R.R. Tolkiens
„The Hobbit“ (1937).
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sauber zwischen lexikalischen und syntaktischen Gräzismen, sondern vergleicht auch
verwandte Phänomene in der lateinischen Literatur allgemein und in Texten, die nachweislich aus dem Griechischen übersetzt sind.
Sein klares Fazit lautet: „Neither the analysis
on a lexical level nor the discussion in issues of syntax can be convincingly employed to
prove the existence of a Greek model“. (S. 9)
Panayotakis’ Lesetext basiert auf Kortekaas’ maßgeblicher Edition5 , weicht dabei
aber an fast 130 Stellen von Kortekaas ab (vgl.
die Liste S. 12–15). Ein Wort verdienen Panayotakis’ zwölf eigene Eingriffe in den Text
– mitunter sind es nur Kleinigkeiten: um Orthographie geht es in 10,7; in 39,12 ergänzt er
ein ait ; in 21,1 setzt er den Ablativus absolutus moderner Editoren in den gefälligeren
Singular perlecto codicillo. Manches geht aber
einen Schritt weiter: In 48,12 schreibt Panayotakis statt rex nomine mit klassischen Parallelen regis nomine („by the title of prince“);
in 13,7 tilgt er mit soliden Argumenten vel
pueris; in 43,1 übernimmt er mit cincta den
Text der ‚rec. B‘ und der Anthologia Latina,
in der das Rätsel ebenfalls überliefert ist; in
25,5 vereint er die beiden Lesarten der Handschriften, pie bzw. impio, mit sicherer Hand
zu <im>pie. Die glückliche Umstellung in
25,7 <et> unguibus [et], die dem Trauerritual
erst den rechten Sinn verleiht, ist im Grunde
so evident, dass man sich unweigerlich fragt,
warum niemand vor ihm auf die Lösung kam.
Auch vier genuin eigene Konjekturen setzt
Panayotakis in den Text. In 50,9 erweitert er
das überlieferte imo corpore contremuit elegant zu <toto an>imo, corpore contremuit.6
In 26,12 hat das unsinnige per unctionem
für viel Kopfzerbrechen gesorgt. Panayotakis
bringt mit per ustionem das seltene ustio in
der nur vereinzelt bezeugten Sonderbedeutung ‚beißende Kälte‘ ins Spiel – ein nicht
nur paläographisch attraktiver Vorschlag. Zu
39,12 bietet er für das problematische und viel
emendierte munere (tam utilem inter nos munere elegisti nisi me? ) die verlockende Alternative nullum, ere (sinngemäß: „Ausgerechnet mich hast du unter uns als Helfer ausgewählt, Herr?“). Überzeugend ist sein Einfall
für das überlieferte austris ventorum flatibus
(25,5): adversis ventorum flatibus.
Das Kernstück des Bandes bildet erwar-
tungsgemäß der Kommentar, der die erwähnten Vorgänger nicht nur an Umfang (auf jede Seite Lesetext kommen gut 20 Seiten Erläuterungen), sondern auch an Anspruch und
Qualität deutlich übertrifft.7 Gerade der komplexen Grammatik des spätantiken Lateins
widmet Panayotakis die gebührende Aufmerksamkeit und erklärt detailliert exotische
Konstruktionen wie etwa den Genetivus qualitatis exempli pauperrime (8,12), den Nominativus absolutus ingressus Apollonius triclinium ait ad eum rex (14,6) oder das adversative nam in 39,13. Keines der Stilmittel, von denen die Historia Apollonii regis Tyri reichen
Gebrauch macht, entgeht ihm. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert das leitmotivische Spiel
mit den Silben re, se und puta in 8,11: REvocari ad SE SEnem . . . REm fecisti . . . pro qua RE
REPUTA . . . caPUT A cervicibus amPUTAsse.
Auch die Realien kommen nicht zu kurz.
Wenn Apollonius in 8,4 arrogant einem einfachen Mann aus dem Volk den Gruß verweigert, sieht Panayotakis hier als historischen
Hintergrund die Verachtung römischer Patrizier für die Plebs und dokumentiert den
Punkt sattsam aus den Quellen von Plautus
über Martial bis hin zu den Predigten Augustins (S. 139–141). Exquisit analysiert er Apollonius’ selbstverliebten Auftritt als Künstler
(16,14), der nach dem Vorbild römischer Bühnenprofis in gleich drei Kunstformen brilliere: als Sänger (lyristes), Pantomime (comoedus) und dramatischer Rezitator (tragoedus; S. 247). Athenagoras’ augenzwinkernden Kommentar im Bordell, „usque ad lacrimas!“ (34,9), deutet Panayotakis schlagend
als scherzhafte Anspielung auf den Samenerguss (S. 435).8
Anerkennung verdient vor allem, wie viele
literarische Bezüge Panayotakis entdeckt hat,
die früheren Interpreten entgangen waren. Sie
5 Georgius
A. A. Kortekaas, The story of Apollonius
King of Tyre. A study of its Greek origin and an edition of the two oldest Latin recensions, Leiden 2004.
6 Im Kommentar zur Stelle mildert er die asyndetische
Härte zu <toto an>imo <et> corpore contremuit.
7 Er wird von mehreren Registern vorzüglich erschlossen.
8 Das Motiv kehrt m.E. in der Folgeszene wieder (35,1
„non habuisti, cui lacrimas tuas propinares! “, also
„Gab es niemanden, bei dem du deine ‚Tränen‘ losgeworden bist?“), ohne dass Panayotakis den Zusammenhang herstellt.
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alle legen beredt Zeugnis ab für eine stupende Belesenheit in den griechischen und römischen Primärtexten bis weit in die Spätantike. Drei, vier Beispiele mögen genügen: 9,6 finibus vestris applicuit entpuppt sich als diskreter Verweis auf Vergil (Aen. 1,616 quae vis
immanibus applicat oris? ; S. 156). Das Vorbild für die Szene 24,4 liefert die Anagnorisis zwischen Elektra und Orest in Sophokles’
Elektra (S. 304). Der erotisch knisternde Moment, als ein junger Medizinstudent Apollonius’ scheintote Frau untersucht und reanimiert, ist inspiriert von Ovids Pygmalion, der
seine Frauenstatue zum Leben erweckt (26,10;
S. 340f.). Eine besondere Entdeckung gelingt
Panayotakis in dem unappetitlichen Bieterkrieg zwischen Athenagoras und dem Zuhälter um die junge Tarsia (33,5): eine Anspielung auf das biblische Gleichnis vom Kaufmann und der Perle (Matth. 13,45f.). Ihm zufolge lasse sie sich durchaus als Botschaft lesen: der ‚weltliche‘ Athenagoras „is as yet unworthy of the heavenly Tarsia“ (S. 422).
Die 15 Jahre Arbeit, die in den Band geflossen sind (angekündigt wurde er 1998 im Gnomon), haben sich mehr als bezahlt gemacht.
Panayotakis gibt dem Benutzer eine mitunter fast erschlagende Fülle abgewogener und
ausgereifter Informationen an die Hand, die
die Lektüre auf Schritt und Tritt fördern. Seinen exquisiten Kommentar werden nicht nur
Sprachwissenschaftler, sondern auch alle mit
Gewinn studieren, die sich für den antiken
Roman erwärmen. Es ist, kurz gesagt, das beste Buch, das der charmanten Historia Apollonii regis Tyri je gewidmet worden ist. Aficionados werden bedenkenlos zuschlagen.
HistLit 2013-2-127 / Peter Habermehl über
Panayotakis, Stelios: ‚The Story of Apollonius,
King of Tyre‘. A Commentary. Berlin 2012, in:
H-Soz-Kult 21.05.2013.
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