"Rund um Liebe, Sexualität und Anmache. Eine
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"Rund um Liebe, Sexualität und Anmache. Eine
PADAGOGIK 9’10 SEXUELLE GEWALT UND SCHULE BEITRAG: UNTERRICHTS- UND SCHULENTWICKLUNG IN SCHULNETZWERKEN BILDUNGSPOLITIK: AUFSTIEG DURCH BILDUNG – DER SELBSTBETRUG DER MITTELSCHICHT 62. Jahrgang, Heft 9/September 2010/€ 6,50 el e« ing ach Z nm je nt d A A n / l u ck e Prol alität u r rd /Beat Sexu e nd Paul iebe, o S ista m L r u Ch und www.beltz-paedagogik.de »R Thema Sexuelle Gewalt und Schule Moderation: Johannes Bastian/Gerhard Eikenbusch Johannes Bastian/Gerhard Eikenbusch Sexuelle Gewalt und Schule Christa Paul/Beate Proll/Antje Zingel »Rund um Liebe, Sexualität und Anmache« Bianka Petri/Beate Proll Sexualisierte Gewalt als Thema im Unterricht Bianka Petri/Beate Proll Ein konkreter Fall – Wie bleibt Schule handlungsfähig? Silke Umlauff Prävention im regionalen Netzwerk PADAGOGIK 62. Jahrgang Heft 9/2010 ֛ Ursula Schele Sexueller Missbrauch. Fortbildung für Präventionsarbeit? Was sollten Lehrer(innen) wissen, was sollten sie können? Lutz van Dijk Der ganz normale Missbrauch Regelschulen und Reformpädagogik damals und heute Beate Proll Sexualisierte Gewalt Hinweise und Materialien Christoph Joseph Ahlers/Gerard Alfons Schaefer Sexueller Kindesmissbrauch versus Pädophilie Wer ist wer und was ist was? Gerhard Eikenbusch Offene Geheimnisse Über Missbrauch in der heilen Schul-Welt ֛ Magazin 57 Reifezeiten 58 Handys in der Schule: Verbot oder Aufklärung? 4 PÄDAGOGIK 9/10 59 Nord-Süd-Gefälle 59 Lernen an einer Waldorfschule 60 Schüler-BAföG in Brandenburg 60 Studium: Jeder Vierte bricht ab 60 Besserer Schutz für Flüchtlingskinder 60 Studie: Ein Fünftel der Kinder »bricht weg« 60 61 61 61 61 62 63 66 Steigende Ausgaben für Bildung und Forschung »Nummer gegen Kummer« feiert 30-jähriges Jubiläum Erziehungskolumnen als MP 3-Dateien netzdurchblick.de Junge Leute gesucht Materialien Termine Impressum Einzelheftbestellung Thema Sexuelle Gewalt und Schule ■ »Rund um Liebe, Sexualität und Anmache« Eine Projektwoche zur Prävention von sexualisierter Gewalt In nahezu allen Schulen beobachten Lehrerinnen und Lehrer sexualisierte Gewalt in sprachlicher Form, nicht selten auch in weitergehenden Formen. Erfahrungen zeigen, dass angemessene Reaktionen einen Kontext brauchen, in dem sexualisierte Gewalt wahrgenommen und nicht geduldet wird. Was kann eine Schule tun, um einen solchen Kontext langfristig aufzubauen? Wie kann die Kooperation mit Beratungseinrichtungen dabei helfen? Der Beitrag zeigt ein gelungenes Beispiel. Christa Paul/ Beate Proll/Antje Zingel Sexualisierte Gewalt – (k)ein Thema für den Unterricht? Bei Fragen sexuellen Missbrauchs oder sexualisierter Gewalt gibt es verständliche Unsicherheit in Schulen und bei Lehrerinnen und Lehrern. Können wir das Thema mit der erforderlichen Sensibilität und Professionalität aufgreifen? Ist es überhaupt ein Thema für Schule und Unterricht? Sollten sich um diese Probleme nicht besser Spezialisten kümmern? Gerade bezogen auf eine Bearbeitung des Themas im Unterricht werden Bedenken geäußert. Die klingen in etwa wie folgt: Sexualität solle als positiv besetzte Lebensenergie erfahren werden. Das Aufgreifen des Themas »sexualisierte Gewalt« lenke den Blick zu sehr auf die dunklen Seiten der Sexualität. Wenn Jugendliche sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten, mit Teenagerschwangerschaften, mit Pornographie und sexuellen Grenzüberschreitungen auseinandersetzen, dann verstelle das den Blick auf die positiven Seiten, wie Liebe, das Kribbeln im Bauch, Lust oder Fruchtbarkeit. 6 PÄDAGOGIK 9/10 Die Beschäftigung mit diesem Thema könne auch bei Lehrerinnen und Lehrern Ohnmachtsgefühle und Wut auslösen; verstärkt würden diese Gefühle durch die Erinnerung und Reflexion eigener Erlebnisse. Die Folgen seien Unsicherheit, Verlust der Distanz und schließlich eingeschränkte Handlungsfähigkeit. Unter Umständen werde im Unterricht unbewusst eine nicht mehr steuerbare Dynamik ausgelöst, die Schülerinnen oder Schüler ermutigen könne, sich zu eigenen Gewalterfahrungen zu äußern. Die Lehrerin oder der Lehrer sei dann möglicherweise nicht in der Lage, damit verantwortungsvoll umzugehen. So werde den Betroffenen zunächst Unterstützung zugesagt, diese aber nicht mehr eingehalten, wenn die Lehrerin oder der Lehrer sich überfordert fühlten. Das Aufgreifen des Themas im Unterricht könne als Unterstellung missverstanden werden, dass es konkrete Anlässe im häuslichen Umfeld der Schülerinnen und Schüler gebe. Eltern könnten so in eine Verteidigungshaltung geraten und sich dem Thema gegenüber verschließen. Das Vertrauensverhältnis zu den Eltern könne dadurch gestört werden. Werden solche Bedenken geäußert, dann sollten sie ernst genommen und bearbeitet werden. Dabei können die folgenden Argumente und Erfahrungen helfen, die vor allem darauf zielen, dass sexualisierte Gewalt Teil des Alltags von Kindern und Jugendlichen ist. Situationen im Schulalltag Immer wieder wird sexualisierte Gewalt im Schulalltag sichtbar; nicht selten wird sie aus Unsicherheit »übersehen« oder nur situativ aufgegriffen, statt sie langfristig und systematisch im Rahmen von Sexualerziehung und Präventionsprojekten zu bearbeiten. Anlass kann beispielsweise eine sexualisierte Sprache sein. Nicht selten hören wir Bemerkungen wie »Eh du Schwuli« oder »Fick dich« oder »Fick deine Mutter«. Wie kann hierauf angemessen reagiert werden? Ein anderer Anlass kann sein, dass Jugendliche gegenüber anderen sexuell übergriffig werden: Ein Junge greift einem anderen Jungen zwischen die Beine. Ein Mädchen wird von einem Jungen an die Wand gedrängt, um ihr unter das T-Shirt zu fassen. Auf einer Klassenfahrt wird ein Mädchen von mehreren Jungen zum Alkoholkonsum genötigt, anschließend versuchen sie, das Mädchen zu vergewaltigen. Zufälliger- Sexuelle Gewalt und Schule Thema Bausteine des Kooperationsprojektes 1. Vorgespräch (ein bis zwei Schulstunden) Fachgespräch zum Projekt »Rund um Anmache« Im Rahmen eines Fachgesprächs stellen die Mitarbeiter(innen) das Projekt »Rund um Anmache« den zuständigen Lehrkräften vor und besprechen gemeinsam Inhalte, Verlauf und Termine. 2. Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer mit Methodenteil (sechs Stunden) ohne Methodenteil (drei Stunden) Die Fortbildungsarbeit mit den Lehrkräften stellt eine tragende Säule des Schulprojekts dar mit dem Ziel, den Präventionsgedanken im Schulalltag zu verankern. Im Rahmen einer 4-stündigen Fortbildung werden Lehrerinnen und Lehrer darin unterstützt, ihre Handlungskompetenz in den Bereichen Sexualität, Grenzüberschreitungen und sexualisierte Gewalt zu erweitern. Darüber hinaus lernen sie Präventionsmaterialien und -methoden kennen, die sie im Unterricht einsetzen oder zur Gestaltung einer Projektwoche nutzen können. Ideen und Anregungen werden in der Gruppe ausgetauscht. Projekttag 3. Durchführung des Schulprojektes 4. Beratungsstellenbesuch für Mädchen und Jungen Baustein in der Schule (drei Schulstunden) Projekttag an der Schule für Schülerinnen und Schüler durch Mitarbeiterinnen von Allerleirauh e.V. und Mitarbeitern von pro familia LV Hamburg e. V. Beratungsstellenbesuch (1,5 Stunden) Mädchen: Allerleirauh e.V. Jungen: pro familia LV Hamburg e.V. Die Mitarbeiter(innen) der Beratungsstellen gestalten einen Projekttag in der Schule. Die Arbeit findet sowohl in geschlechtsgemischten als auch in geschlechtshomogenen Gruppen statt. Der Austausch in Mädchen- und Jungengruppen ermöglicht es, sich mit eigenen Erfahrungen von ›guter‹ und ›schlechter Anmache‹, geschlechtsspezifischem Rollenverhalten und eigenen Wünschen auseinanderzusetzen. In einem gemeinsamen Abschluss werden die jeweiligen Erkenntnisse und Fragen wieder zusammengetragen, um die Kommunikation zwischen den Mädchen und Jungen zu fördern. Gerade in der Pubertät kann somit in Bezug auf diese Themen der Umgang untereinander verbessert werden. Bestandteil des Projekts sind Beratungsstellenbesuche für die Mädchen bei Allerleirauh und für die Jungen bei pro familia. Diese Besuche finden im Anschluss an den Projekttag statt. Die Mädchen und Jungen lernen die Arbeit der Beratungsstellen vor Ort kennen, was zum Abbau von Schwellenängsten hilfreich sein kann. 5. Auswertung (ca. eine Stunde) Im Anschluss an die verschiedenen Projektbausteine erfolgt eine ausführliche Reflexion und Auswertung des Gesamtprojektes mit den Lehrkräften in der Schule. Projektkoordination Allerleirauh e.V. Dipl.-Soz.päd. Kirsten Wacker Menckesallee 13 22089 Hamburg Tel. 0 40 – 29 83 44 83 E-Mail: info@allerleirauh.de www.allerleirauh.de pro familia Hamburg e.V. Dipl.-Soz.päd. Sven Vöth Seewartenstr. 10 20459 Hamburg Tel.: 0 40 – 3 09 97 49-20 E-Mail: sexpaed.hamburg@profamilia.de www.profamilia-hamburg.de Abb 1: Bausteine des Kooperationsprojektes weise kommen andere Jugendliche hinzu und verhindern die Tat. Jungen versuchen einen anderen mit einem Gegenstand anal zu penetrieren. Wie können Lehrerinnen und Lehrer mit solchen schwierigen Situationen umgehen? Oft werden zur Unterstützung in solchen Fällen Beratungsstellen hinzugezogen. Kontakt mit sexualisierter Gewalt liegt auch vor, wenn von einer Grup- pe männlicher Jugendlicher regelmäßig Pornographie konsumiert wird und sie sich darüber in der Schule austauschen. Ähnlich problematisch ist es, wenn über das Handy Filmsequenzen pornographischen Inhalts oder auch real gefilmte Mädchen oder Jungen mit Kommentierungen, wie z. B. »Geile Schlampe will gefickt werden« oder »So sieht ein Opfer aus«, weitergegeben werden, wenn solche Sequenzen in das Internet gestellt werden oder wenn Jugendliche Musik hören, in deren Texten beispielsweise Vergewaltigungen als normale Verhaltensweise beschrieben werden. Fragen nach dem Umgang mit sexualisierter Gewalt tauchen auch auf, wenn Eltern auf Elternabenden und in Einzelgesprächen äußern, dass sie über den Medienkonsum ihrer Kinder verunsichert sind und nicht wissen, wie sie sich dazu verhalten sollen. PÄDAGOGIK 9/10 7 »Der Diebstahl der Kindheit« Vom Irrsinn der G8-Turbo-Schule Der Spiegel Erschöpfte Schüler, empörte Eltern und protestierende Lehrerverbände: Die Erfahrungen mit der verkürzten Gymnasialzeit sind vielerorts katastrophal. Die Journalistin Birgitta vom Lehn bringt die Kardinalfehler der überhasteten G8-Einführung auf den Punkt, skizziert die Folgen und zeigt die Hintergründe und wirtschaftlichen Interessen auf. Eine kritische Bestandsaufnahme und Argumentationshilfe. Birgitta vom Lehn Generation G8 Wie die Turbo-Schule Schüler und Familien ruiniert 2010. 223 Seiten. Broschiert. € 14,95 D ISBN 978-3-407-85915-0 www.beltz.de Besonders schwierig wird es, wenn in der Schule Gerüchte darüber kursieren, dass sich einzelne Lehrkräfte nicht angemessen verhalten; wenn es beispielsweise heißt, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer unangekündigt Dusch- oder Umkleideräume aufsucht, sich privat mit einem Schüler oder einer Schülerin trifft oder Bemerkungen macht wie: »Da fällt gleich alles raus«. Auch sehr schwierig sind Situationen, in denen sexualisierte Gewalt im häuslichen Umfeld vermutet wird. Anlässe für solche Vermutungen können beispielsweise sein, wenn ein Mädchen dadurch auffällt, dass sie versucht, Einschnitte auf den Unterarmen zu verstecken, oder dadurch, dass sie plötzlich ihre Körperpflege vernachlässigt; wenn ein Junge erzählt, dass er häufig bei seiner Tante übernachtet und dort kein eigenes Bett hat. Mit all diesen Situationen können Lehrerinnen und Lehrer konfrontiert werden. Deshalb ist die Frage nicht, ob sexualisierte Gewalt thematisiert werden soll. Die Frage ist vielmehr, wie Schulen mit solchen Herausforderungen professionell umgehen können, ohne sich dabei zu überfordern? Oder anders gefragt: Wie kann eine Schulkultur entstehen, in der es selbstverständlich ist, dass sexualisierte Gewalt wahrgenommen und nicht geduldet wird? Im Folgenden soll dargestellt werden, wie die Hamburger Schule Griesstraße in Kooperation mit der Beratungseinrichtung Allerleirauh, das Thema »sexualisierte Gewalt« im Unterricht bearbeitet und darüber hinaus Sicherheit in der Intervention gewonnen hat. Der Rahmen von Präventionsarbeit im Unterricht Wenn die Schule Griesstraße das Thema »sexualisierte Gewalt« aufgreift, kommt sie ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag nach. Das Hamburgische Schulgesetz legt nämlich fest, dass Sexualerziehung als so genanntes Aufgabengebiet in allen Altersstufen und in allen Schulformen verbindlich durchgeführt werden soll. An der Ausgestaltung von Aufgabengebieten beteiligen sich mehrere Fächer bzw. Lernbereiche, d. h. Themen der Se- xualerziehung werden nicht allein im Biologieunterricht bearbeitet, sondern können beispielsweise in einer Kooperation der Fächer Deutsch und Religion bearbeitet werden. Sind solche Vorhaben geplant, dann sollen Eltern im Sinne einer gemeinsamen Erziehungsverantwortung informiert werden. Nicht möglich ist jedoch, dass Eltern beispielsweise aufgrund religiöser Überzeugungen Schülerinnen und Schüler von der Sexualerziehung befreien können. Dazu liegen inzwischen mehrere juristische Entscheidungen vor. Gegen eine Bearbeitung sexualisierter Gewalt im Unterricht gibt es immer wieder Bedenken. In den Bildungs- und Rahmenplänen für das Aufgabengebiet Sexualerziehung wird beschrieben, über welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügen sollen. Dazu gehört beispielsweise, dass sie wissen, wo man sich in Krisensituationen, z. B. bei sexuellem Missbrauch, Hilfe bekommen kann. Der Erwerb von Fähigkeiten zum Umgang mit sexualisierter Gewalt ist damit in die Sexualerziehung integriert. Die Umsetzung und Ausgestaltung von entsprechenden Unterrichtssequenzen und -projekten bleibt der Einzelschule überlassen. Als Anknüpfungspunkte und Rahmen für die präventive Thematisierung von sexualisierter Gewalt bieten sich die folgenden Themenfelder an: Den eigenen Körper annehmen können – ein gutes Verhältnis zum eigenen Körper entwickeln. Situationen schaffen, in denen über den eigenen Körper gesprochen werden kann. Eigene Grenzen und die anderer erkennen und respektieren. Die Wahrnehmung von eigenen Stärken und Schwächen erweitern. Selbstvertrauen und eigenverantwortliches Handeln fördern. Sensibilisierung für den Gebrauch von Sprache: Was ist eine bewusste Provokation und was ist Ausdruck von Verunsicherung? Wo beginnt die Grenzüberschreitung? Was empfinde ich als Grenzüberschreitung? Sexuelle Gewalt und Schule Umgang mit Gefühlen typisch weiblich gute Anmache Klassengemeinschaft verliebt sein ausprobieren sich trauen, den ersten Schritt zu machen Wünsche sich erwachsen fühlen nein-sagen schlechte Anmache unterschiedliche Einstellungen Grenzen typisch männlich Ja-Gefühle cool sein Gruppendruck Nein-Gefühle erwachsen werden Freundschaft + Liebe Belästigung Ja sagen unterschiedliche Vorstellungen Rollenverhalten Zukunft Regeln in der Schule stark sein Sehnsucht anstarren Mädchenclique Chatten Abb. 2: Themen für die Präventionsarbeit Sexuelle Selbstbestimmung – was ist das und wie geht das? Schule und Beratungseinrichtung arbeiten zusammen Die Schule Griesstraße liegt im Stadtteil Hamburg-Hamm und hat 366 Schülerinnen und Schüler; ein Großteil von ihnen hat einen Migrationshintergrund. Insgesamt gibt es 52 Nationalitäten an der Schule. Die Schule hat sich auf den Weg zur Stadtteilschule gemacht: Mit Beginn des Schuljahres 2008/2009 wurde begonnen, die neu gebildeten 7. Klassen als »Integrierte Haupt- und Realschulklassen« zu unterrichten. In naher Zukunft wird die Schule mit dem Aufbau-Gymnasium Lohmühle zur Stadtteilschule-Mitte fusionieren. Stadtteilschulen sind eine zweite gleichberechtigte Säule in einem zweigliedrigen Schulsystem, die nach der siebenjährigen Primarschule zum mittleren Abschluss nach Klasse 10 und dann zum Abitur führen. Im Leitbild der Schule sind folgende Aussagen zu finden: Wir wollen friedlich, achtsam und geduldig miteinander umgehen und uns gegenseitig unterstützen. Die Integration aller Nationen ist uns wichtig. Wir fördern Gesundheit und Bewegung. Nur durch elterliche Mitwirkung kann Erziehung ganzheitlich gelingen. Diese übergeordneten Ziele werden auch mit dem Projekt zur Prävention von sexualisierter Gewalt verfolgt. Die kooperierende Beratungsstelle Allerleirauh ist ein anerkannter freier Träger der Kinder- und Jugendhilfe und wurde im Jahr 1989 von Frauen gegründet, die in der Frauenbewegung aktiv waren. Allerleirauh wendet sich an Mädchen ab 13 Jahren und junge Frauen bis zum Alter von 27 Jahren. Das grundlegende Ziel der Präventionsarbeit ist ein Beitrag zur Veränderung bestehender gesellschaftlicher Strukturen, die sexualisierte Gewalt begünstigen. Dieses kann nur dadurch erreicht werden, dass die Wahrnehmung von sexuellen Grenzüberschreitungen und das Einschreiten dagegen gefördert wird. Zum einen sollen Mädchen und Jungen befähigt werden, mehr Sensibilität für ihre eigenen Bedürfnisse, Gefühle, Wahrnehmungen und Grenzen zu entwickeln. Dadurch sollen sie einen sexuellen Übergriff schneller einordnen können. Sie sollen ermutigt werden, »Nein« zu sagen und sich Hilfe zu holen. Ihnen wird vermittelt, dass sie ein Recht auf Hilfe haben, dazu brauchen sie Informationen über bestehende Unterstützungsmöglichkeiten. Zum anderen richtet sich Präventionsarbeit an Erwachsene: Gefördert werden soll die Reflexion der eigenen Haltung zur Machtausübung, zum Verhältnis von Nähe und Distanz sowie zur Sexualität mit dem Ziel, eine emanzipatorische Grundhaltung zu entwickeln und zu kompetenten Ansprechpartnern für Kinder und Jugendliche im Hinblick auf das Thema »sexualisierte Gewalt« zu werden. In der Kooperation mit Schulen bietet Allerleirauh eine Projekt-Version an, die sich ausschließlich an Mädchen wendet und eine Version, bei der Jungen einbezogen werden. Im zweiten Fall arbeitet Allerleirauh mit Einrichtungen, die sich auch an Jungen wenden, wie beispielsweise pro familia Hamburg e.V. zusammen. Was war der Schule wichtig? Vor zirka zehn Jahren entschied sich die Schule für diese Kooperation, die Beratungseinrichtung Allerleirauh liegt im selben Stadtteil wie die Schule. Die Lehrerinnen und Lehrer Thema beobachteten, dass viele Jungen vor allem in der Pubertät dadurch auffielen, dass sie eine stark sexualisierte Sprache verwenden. Es gab häufiger Konflikte mit Mädchen, die sich von einzelnen Jungen belästigt und unter Druck gesetzt fühlten. Viele Jungen waren unsicher in der Kommunikation mit Mädchen und zeigten dieses durch besonders cooles oder auch ruppiges Verhalten. Die Beratungseinrichtung verständigte sich mit Lehrerinnen und Lehrern über Inhalte und Ziele eines Präventionsprojektes. Im Kollegium wurde das Projekt vorgestellt und eine pilothafte Durchführung vereinbart. Aufgrund der sehr guten Resonanz von Seiten der Jugendlichen, der Lehrkräfte und der Eltern fiel die Entscheidung, diese Projektwoche regelhaft in jedem 8. Jahrgang durchzuführen. Was war den Beratungseinrichtungen wichtig? Die Projektwoche soll ein Beitrag zur Entwicklung einer präventiven Grundhaltung in der Schule sein. Damit ist verbunden, dass bei den Ressourcen der Jugendlichen angesetzt wird: Das Selbstbewusstsein Nicht selten wird sexualisierte Gewalt in der Schule »übersehen« oder nur situativ aufgegriffen. der Mädchen und Jungen und ihre Autonomie sollen gefördert werden. Durch die Sensibilisierung aller Akteure in der Schule für Situationen, in denen sexualisierte Gewalt vorkommt, wird eine dauerhafte und tragfähige Struktur sowohl für die Prävention als auch für die Intervention geschaffen. Dieses Ziel kann nur dadurch erreicht werden, dass Erwachsene in die Präventionsarbeit einbezogen werden, indem u. a. Lehrkräfte fortgebildet werden und die Schule in Krisensituationen sowie bei Handlungsunsicherheit unterstützt wird. Das Projekt Ablauf Das Projekt wird in den 8. Klassen durchgeführt. Die Eltern werden PÄDAGOGIK 9/10 9 Thema Sexuelle Gewalt und Schule rechtzeitig mit einem Informationsbrief auf das Projekt hingewiesen. Die Beratungseinrichtungen stellen dem Kollegium das Projekt vor. Verantwortlich für die Durchführung der Projektwoche sind die Klassenlehrerinnen bzw. Klassenlehrer, die sich eine Tandempartnerin bzw. einen Tandempartner suchen. Die ideale Besetzung – ein Frau-Mann-Tandem ist nicht immer möglich. Entscheidend ist, dass die Lehrerinnen und Lehrer eine Atmosphäre des Vertrauens herstellen und mit der nötigen Sensibilität – sich selbst und den Jugendlichen gegenüber – die Thematik bearbeiten können. Vier Projekttage werden von den Lehrkräften selbst durchgeführt, ein Projekttag wird von den Beratungsstelle Allerleirauh und pro familia Hamburg gestaltet. Dazu wird Seit einigen Jahren werden von den Beratungseinrichtungen interkulturelle Aspekte in die Präventionsarbeit integriert. in der Schule sowohl gemeinsam als auch geschlechtergetrennt gearbeitet, anschließend besuchen die Mädchen Allerleirauh und die Jungen pro familia. Im Anschluss der Projektwoche erfolgt eine Reflexion und Auswertung mit den beteiligten Lehrkräften (siehe Abb. 1). Themenschwerpunkte der Fortbildung In der Fortbildung werden grundlegende Kenntnisse zum gesamten Themenkomplex »sexualisierte Gewalt« vermittelt. Dabei steht nicht Wissensvermittlung im Vordergrund, sondern die Entwicklung konkreter Maßnahmen für den Schulalltag. Dabei lernen die Lehrerinnen und Lehrer geeignete Unterrichtsmaterialien und -methoden kennen und erproben diese. Nach der Durchführung der Projektwoche wird dieses mit Unterstützung der Beratungseinrichtungen reflektiert und ausgewertet. Themenschwerpunkte der Projektwoche Im Rahmen der Projektwoche werden folgende Inhalte aufgegriffen: Sexualität und Sprache Partnerschaft – Beziehungsgestaltung 10 PÄDAGOGIK 9/10 Das erste Mal – Verhütung Ja- und Nein-Sagen so genannter Missbrauch in der Familie Insbesondere mit dem Projekttag der Beratungseinrichtung werden folgende Ziele verfolgt: Die Schülerinnen und Schüler erweitern ihre Wahrnehmung, werden in ihrem Selbstvertrauen gestärkt, lernen, Grenzen zu setzen, erkennen ihre Stärken, lernen, Ambivalenzen zu respektieren, nehmen angenehme und unangenehme Gefühle bewusst wahr, können in geschlechtshomogenen und in geschlechtsgemischten Gruppen kommunizieren, kennen und nutzen in Krisensituationen die Wege zu Beratungseinrichtungen. Zur Implementierung des Projektes Das Projekt ist inzwischen in die Präventionsarbeit der Schule implementiert. Die Resonanz von Seiten der Schülerinnen und Schüler ist durchweg positiv: Sie erhalten verlässliche Informationen und können sich mit sexuellen Mythen auseinandersetzen. Sowohl die Arbeit in den geschlechtshomogenen Gruppen als auch der Dialog zwischen Mädchen und Jungen werden geschätzt. Die Schülerinnen und Schüler erleben die vertrauensvolle Atmosphäre, fühlen sich angenommen und verlieren die Hemmung, über Persönliches zu sprechen. Die Schule nutzt das Angebot der Beratungseinrichtungen, sich in schwierigen Situationen beraten und begleiten zu lassen. Das Projekt wird immer wieder im Kollegium vorgestellt, so dass neue Lehrkräfte informiert werden und das Kollegium mit der Weiterentwicklung des Projektes vertraut ist. Von Seiten der Eltern gibt es keine Bedenken. Erfahrungen mit schwierigen Situationen In der Projektwoche berichten immer wieder Schülerinnen und Schüler über eigene Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt oder über betroffene Freundinnen bzw. Freunde. Daraufhin hat Allerleirauh in der Schule eine offene Sprechstunde angeboten; diese wurde jedoch nicht von Jugendlichen genutzt. Die Möglichkeit, sich telefonisch und/oder im direkten Gespräch in den Beratungseinrichtungen Unterstützung zu holen, wird hingegen genutzt. Erweiterung des Projektes Seit einigen Jahren werden von den Beratungseinrichtungen interkulturelle Aspekte in die Präventionsarbeit integriert. So werden die Jugendlichen als Expertinnen und Experten ihrer Lebenswelt angesehen und haben während des Projektes die Gelegenheit, die für sie gültigen Werte und Normen zu erläutern. Dabei wird immer wieder auf eine Haltung von Respekt und Wertschätzung, die von den Grund- und Menschenrechten eingefordert wird, zurückgegriffen. Im Rahmen des Schulprojektes kann inzwischen das Theaterstück »Click it! Chancen und Risiken des Internets« genutzt werden, das von der theaterpädagogischen Abteilung von »Zartbitter« in Köln erarbeitet wurde. Nach den guten Erfahrungen mit diesem Projekt hat die Schule beschlossen, das sexualpädagogische Angebot auszubauen. Zur Prävention von Teenagerschwangerschaften wird regelhaft von der Klassenstufe 5 bis 10 ein Beratungsangebot für Mädchen durch eine Gynäkologin der ÄGGF e. V. durchgeführt. Christa Paul, Jg. 1959, ist Mitarbeiterin bei Allerleihrauh e.V. Adresse: Menckesallee 13, 22089 Hamburg E-Mail: info@allerleirauh.de Beate Proll, Jg. 1960, ist tätig am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, Arbeitsbereich Gesundheitsförderung, Sexualerziehung und Gender. Adresse: Hartsprung 23, 22529 Hamburg E-Mail: beate.proll@li-hamburg.de Antje Zingel, Jg. 1953, ist Schulleiterin der Schule Griesstraße. Adresse: Griesstraße 101, 20535 Hamburg E-Mail: antje.zingel@bsb.hamburg.de