Abendspielzettel Klanginstallation Oliver Schneller
Transcription
Abendspielzettel Klanginstallation Oliver Schneller
Der 1966 in Köln geborene Komponist und Saxophonist Oliver Schneller wuchs im Sudan, in Belgien und auf den Philippinen auf. Er studierte Komposition am New England Conservatory in Boston. An der City University of New York leitete er das Electronic Music Studio und promovierte im Fach Komposition an der Columbia University New York, wo er als Assistent von Tristan Murail arbeitete. In Berlin kuratierte Oliver Schneller das Festival Tracing Migrations mit zeitgenössischer Musik junger arabischer Komponisten. Er war Stipendiat der Villa Massimo in Rom und erhielt 2010 den Komponistenpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung. Oliver Schneller, dessen Werke von namhaften Ensembles und Orchestern aufgeführt werden, interessiert sich heute vor allem für interkulturelle und interdisziplinäre Musikprojekte. Er ist Professor für Komposition an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. OLIVERsCHnEllER 16–24032013 HaUsD E RBERlinERF E STS P I E LE maERZMUSIKfEstiValFÜRaKtUEllEMUSIK K l an g i n stall ati o n O l i ver Sch n e ller OLI V E R S C H N E LL E R Polis. Istanbul – Kairo – Jerusalem – Beirut 8-Kanal Soundscape Montage (2008-2009) Auftragswerk im Rahmen von „Taswir Islamische Bildwelten und Moderne” Eine Ausstellung von ha’atelier Plattform für Philosophie und Kunst Berliner Festspiele / Martin-Gropius-Bau, 5.11.2009-18.1.2010 Öffnungszeiten Installation: 16. – 24. März 2013 14:00 – 18:00 Uhr und jeweils zwei Stunden vor Veranstaltungsbeginn Oliver Schneller © Lothar Hering www.oliverschneller.net Berliner Festspiele ein Geschäftsbereich der Kulturverwaltungen des Bundes in Berlin GmbH Gefördert durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Intendant Dr. Thomas Oberender Kaufmännische Geschäftsführung Charlotte Sieben Künstlerischer Leiter Matthias Osterwold Organisationsleitung Ilse Müller Mitarbeit Ina Steffan / Chloë Richardson / Anna Christina Brünjes Programmberatung Oliver Schneller / Barbara Eckle / Volker Straebel Redaktion Melanie Uerlings / Barbara Barthelmes / Christina Tilmann Technische Leitung Matthias Schäfer / Andreas Weidmann Grafik Ta-Trung, Berlin Programm- und Besetzungsänderungen vorbehalten Das Gesamtprogramm mit Essays können Sie für 5 € in einer Box erwerben Polis „Polis“ ist der Titel einer achtkanaligen Klanginstallation, die für die von Almut Bruckstein konzipierte und kuratierte Ausstellung „Taswir – Islamische Bildwelten und Moderne“ im Berliner Gropiusbau (November 2009 bis Januar 2010) geschaffen wurde. Das akustische Material der Installation besteht ausschließlich aus Field Recordings, die in vier verschiedenen Städten entstanden sind: Kairo, Beirut, Jerusalem und Istanbul. In jeder Stadt unternahm ich jeweils für drei Tage ausgiebige Spaziergänge und nahm hunderte Geräusche auf, um eine Art „akustisches Por trät“ jeder Stadt zusammenzustellen. Während dieser Spaziergänge führte ich genau Buch über den Ort und die jeweilige Zeitdauer der aufgezeichneten Klänge. Zurück im Studio in Berlin ordnete ich die Aufnahmen aus den vier Städten nach einem zeitlichen Montageprinzip und überlagerte sie in vier Schichten. Ich ordnete das mitgeschnittene Material in der Reihenfolge, in der es aufgezeichnet worden war. Bei jedem Schnitt im Material fügte ich einen kurzen Nachhall (eine Form der akustischen „Erstarrung“) ein, um die bearbeiteten Stellen akustisch zu identifizieren. Je nach Dichte und Lautstärke der jeweiligen Klangtextur tarierte ich die Lautstärkepegel der vier Klangschichten gegeneinander aus und ließ zeitweise die Klänge einer Stadt – oder auch von zwei oder drei Städten gleichzeitig – in den Vordergrund treten. Stellenweise sind auch alle vier Kanäle equivalent ausgepegelt, um eine dichte, aber vielfältig intern ausdifferenzierte Polyphonie entstehen zu lassen. Mit der Installation wollte ich die Illusion erzeugen, man könne gleichzeitig an vier verschiedenen Orten sein, die Klänge vier geografisch getrennter Orte zugleich hören: 11 Uhr in Kairo, 11 Uhr in Beirut, 11 Uhr in Jerusalem und 11 Uhr in Istanbul. Diese chronologische Synchronisierung der einzelnen Aufnahmen brachte eine ganze Reihe erstaunlicher Zufälligkeiten mit sich: Ein morgendlicher Soundcheck für eine Freiluftveranstaltung am Place des Martyrs in Beirut fiel in meiner Montage mit dem Signalhorn eines Frachtschiffs bei der Einfahrt in den Hafen von Istanbul zusammen, darunter mischten sich der manische Drone des Innenstadtverkehrs von Kairo und die pene trante Sirene eines Notarztwagens am Ölberg unweit der Altstadt von Jerusalem. Dieses künstlich entstandene Geflecht warf sogleich zahlreiche Fragen nach urbaner und kultureller Klangidentität auf, nach der Wirkung von architektonischen und geografischen Gegebenheiten auf die akustische Landschaft von Städten, nach der zum Teil kompetitiven akustischen Präsenz religiöser Institutionen wie der Ruf des Muezzins, das Läuten von Kirchenglocken oder der Gesang aus einer nahegelegenen Talmud-Schule. Manche Geräusche, wie das Dröhnen von dichtem Verkehr oder ein Stimmengewirr Hunderter von Menschen auf Straßen, waren nahezu identisch. Andere Klänge, wie die aus einem Freizeitpark am Strand von Beirut oder der akustische Filter des komplexen Innenraums der SultanAhmed-Moschee in Istanbul, waren unverwechselbar charakteristisch und ortsspezifisch. In diesem akustischen Geflecht öffnen sich immer wieder neue Räume, Geschichten und Szenarien wie kleine Guckfenster, die einen Moment lang den Blick freigeben auf die Geschäftigkeit der in diesen Städten lebenden Menschen. Die Anregung für die Klanginstallation erhielt ich von klassischen Stadtansichten Bagdads, der arabischen Metropole, die einst den Namen Madinat as-Salam (Stadt des Friedens) trug. Sie wurde im 8. Jahrhundert vom Abassiden-Kalifen Abu Dschafar al-Mansur (754–775) gegründet. Bagdad war kreisförmig angelegt, denn der Kreis wurde in der persischen Tradition als die vollkommenste aller Formen angesehen. Nach dem aristotelischen Denken steht die geometrische Form des Kreises für die Vollkommenheit des Herrschers und die ideale kosmische Bewegung der Gestirne um die Erde. Deshalb befindet sich in klassischen Darstellungen auf Metallarbeiten persischer Künstler aus dem 8. Jahrhundert der Herrscherpalast im Zentrum der Stadt. Und die großen spirituellen Zentren, wie Bagdad im 10. Jahrhundert und Jerusalem im 14. Jahrhundert, sind als jeweilige Mittelpunkte einer kreisförmig um sie herum angelegten, vom Menschen gezeichneten Erde zu sehen. Diese symbolische Form der Stadtdarstellung gleicht der Struktur stetig anwachsender Megastädte unserer Zeit im Nahen und Mittleren Osten, in Indien, Ost- und Südostasien und Südamerika. Oliver Schneller Oliver Schneller, Klangkarten zu „Polis“ (2008-2009)