Impulse 2014 - VolkswagenStiftung
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Impulse 2014 - VolkswagenStiftung
Impulse Das Wissenschaftsmagazin der VolkswagenStiftung 02 14 Forschung braucht Risiko – über Wagnisse in der Wissenschaft Forschung braucht Risiko – über Wagnisse in der Wissenschaft Impulse 02_2014 3 Editorial „Wissenschaft braucht Risiko“ „Wissenschaft und Risiko“: Das ist ein weites Feld. Risiko spielt auf ganz unterschiedlichen Ebenen in der und für die Wissenschaft eine Rolle. So setzen sich Forscherinnen und Forscher einerseits mit Risiken auseinander, die unsere Lebenswelt bedrohen. Wissenschaftler sind andererseits manchmal selbst bereit, erhebliche Risiken einzugehen – beispielsweise, wenn sie neue Wirkstoffe, Geräte oder Diagnoseverfahren am eigenen Körper ausprobieren; die Medizingeschichte kennt etliche spektakuläre Fälle. Sie gehen ein Risiko auch dann ein, wenn sie sich für ihre Forschung unerschrocken gefährlichen oder extremen Bedingungen aussetzen: etwa in Ländern aktiv sind, die eine freie Wissenschaft nicht zulassen. Ebenso spricht die Gesellschaft – oft ganz diffus – manchen Technologien großes Gefahrenpotenzial zu; vielfach zu Unrecht mangels besseren Wissens. Dabei leben wir in einer Gesellschaft, die gar nicht anders kann, als sich auf Risiken einzulassen. Wissenschaft selbst ist aber auch dann riskant, wenn sie ihrerseits Gefahren heraufbeschwört. Und immer auch trägt Wissenschaft das Risiko in sich, zu scheitern. In einigen Forschungsfeldern ist letztgenanntes Risiko besonders groß – zum Beispiel in der Teilchenphysik. Gemeinsam mit der VolkswagenStiftung geht Professor Dr. Matthias Schott dieses Risiko ein. Der „Lichtenberg-Professor“ sucht nach der Erklärung für etwas, das uns beinahe so selbstverständlich erscheint wie das Atmen: die Masse. In seinem Gespräch über risikoreiche Forschung und risikobereite Wissenschaftsförderer setzt er einen markanten Akzent für das Thema dieser Impulse-Ausgabe. Auch die anderen skizzierten Facetten bilden sich in stiftungsgeförderten Projekten ab. So begegnen Sie in diesem Heft Forscherinnen und Forschern, die zeigen, dass unabhängige Wissenschaft nicht nur kluge Köpfe braucht, sondern manchmal eine gehörige Portion Furchtlosigkeit, Mut oder eben – Leidenschaft. Sie treffen sie im 4 arabischen Raum, wo sie sich unter schwierigsten Bedingungen mit den dortigen zivilgesellschaftlichen Prozessen befassen, die seit Anfang 2011 gleichsam Anlass und Motor der Umbruchsituationen in Nordafrika und im Nahen Osten sind. Nicht minder spannend ist die Arbeit jener Forscherteams, die zur besseren Abschätzung von Risiken neue Methoden und Modelle entwickeln. Sie analysieren Extremereignisse: heftige Hurrikane, riesige Monsterwellen, zerstörerische Erdbeben – aber auch ausufernde Algenblüten, Stromausfälle ganzer Städte oder Börsencrashs. Diese Phänomene, allesamt extreme Abweichungen von der Norm, entfalten ein weltweites Bedrohungspotenzial. In der Regel treten sie völlig unvorhergesehen auf, oft mit katastrophalen Folgen. Noch einmal anders gewendet begegnet uns Risiko als Folge der Globalisierung. Menschen und Waren reisen heute in rasantem Tempo um die Welt – allerdings immer mal wieder mit ungewollten Begleitern. Seuchen beispielsweise breiten sich auf diese Weise zunehmend rascher aus. Sofort denken wir alle an die lebensbedrohende Lungenkrankheit SARS. Forscher aus Deutschland und den USA haben jetzt Gesetzmäßigkeiten für solche Ausbreitungswellen entdeckt. Globale Risiken besser abschätzen und sie zu begrenzen, lautet hier das Ziel. Ein weiterer Blick gilt mit den „Peter Paul EwaldFellowships“ jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich am Beginn ihrer Karriere mit Themen beschäftigen, bei denen Scheitern wahrscheinlicher ist als Gelingen. Stellt sich jedoch Erfolg ein, ist der Nutzen für Wissenschaft und Gesellschaft oft enorm. Ein letztes Beispiel verdeutlicht, dass sich ein Gefahrenpotenzial häufig minimieren lässt, sobald man Risiken im Detail kennt. So hilft moderne Technik, Verkehrsunfälle zu vermeiden – klar! Doch welche Systeme sind letztlich wirklich besser geeignet als andere, um mehr Sicherheit zu gewährleisten? Auch daran wird geforscht. All das zeigt: Das Investieren in „riskante Wissenschaft“ lohnt – gleich welches Gesicht das Risiko uns und jenen anbietet, die es aushalten müssen. Die Geschichten aus der Wissenschaft in diesem Heft verdeutlichen aber auch, dass solche Forschung Unterstützung und Unterstützer braucht. Es dürfte unbestritten sein, dass der deutschen Wissenschaft bislang mangels geeigneter Förderangebote und Finanzierungsmöglichkeiten so manch gute Idee, aus der sich wiederum weitere attraktive Forschungsaspekte oder größere Projekte hätten ergeben können, verloren ging. Und mit den Ideen kommen zuweilen auch die klugen Köpfe dahinter abhanden, denn die suchen ihr Forscherglück schnell woanders, gern im Ausland. Vielleicht plakativer noch als all die skizzierten Projekte stehen aktuell zwölf Wissenschaftler und eine Wissenschaftlerin mit ihren Ideen für das Thema „Risiko“. Sie sind jene „Wilde 13“, die die Stiftung in der ersten Runde ihrer neuen Förderinitiative „Experiment!“ ausgewählt hat. Dieses Angebot ermöglicht über eine Anschubfinanzierung von bis zu 100.000 Euro die erste Erkundung neuer und unkonventioneller, gewagter Forschungsideen in den Natur-, Ingenieur- und Lebenswissenschaften jenseits hierzulande üblicher Förderverfahren. Die Akteure hätten anderswo angesichts einer zum Beispiel unorthodoxen Herangehensweise oder eines allzu frühen Projektstadiums kaum eine Chance gehabt, ihre Vorhaben umzusetzen. Es gibt derzeit kein annähernd vergleichbares Angebot in der deutschen Forschungsförderlandschaft. Und so stellt dieses Stiftungsengagement eine einzigartige Gelegenheit dar. Dabei steht nicht im Vordergrund, ob das Projekt am Ende erfolgreich ist oder womöglich scheitert. Wenn also eine Idee sich doch als Irrweg entpuppt? – Macht nichts! Die Forscher lernen aus ihren Fehlern, auch darum geht es schließlich in der Initiative. Zudem ist es untrennbarer Bestandteil von Wissenschaft, von jedem missglückten Experiment ebenso zu profitieren. Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung Die 13 „Experimentler“ präsentieren ihre Projekte Mitte Juli 2014 in Hannover beim „Forum Experiment!“ im Tagungsschloss Herrenhausen der Öffentlichkeit. Eines stand schon zuvor fest: Mit über 700 Bewerbungen zum ersten Stichtag hat die Initiative zweifelsohne einen Nerv der Community getroffen; sie schließt offenkundig eine Lücke. Das ist vermutlich nicht zuletzt Ausdruck dafür, dass Forschungsförderung in Deutschland in den allermeisten Fällen eher eine Belohnung für nachweislich Geleistetes ist als für Leistung, die noch kommen wird – eher ein Reward- als ein Award-System. Unterdessen erfährt die Stiftung sogar aus dem Ausland viel positive Resonanz zu „Experiment!“. – „So etwas hätten wir hier auch gerne“, ist der Tenor zahlreicher E-Mails und Anrufe. Wir sind jedenfalls sehr gespannt, welche Überraschungen „unsere Experimentler“ bereithalten – auch die kommenden. Die zweite Auswahlrunde läuft; 650 Bewerbungen zeigen: Das Interesse ist ungebrochen groß. Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Ihr Impulse 02_2014 5 08 38 Die Perspektiven des „Arabischen Frühlings“ Seit 2011 blickt die Welt wie gebannt auf die Konflikte in Arabien. Steht die Region am Scheideweg? Für Forschung in solch aufgeheizter Atmosphäre braucht es mutige Wissenschaftler – so wie Marie-Christine Heinze. Diagnose per Kaugummi – ein „Experiment!“ Dr. Christian Herzmann ist Tuberkulose-Bakterien auf der Spur – mit Kaugummi! Seine Idee: Warum damit nicht die Krankheitserreger nachweisen? Ein solches Diagnoseverfahren könnte in großem Stil gerade in Entwicklungsländern zum Einsatz kommen. Wissenschaft und Risiko Forschung an der Grenze des Wissens und des Vorstellbaren: Dort hält sich der Physiker Matthias Schott auf. Ein Gespräch mit einem, der ausgezogen ist, das große Ganze zu erklären – und der dabei das Risiko nicht scheut, zu scheitern. 48 Erkundung des Extremen Sie sind selten, doch treten sie auf, sind die Auswirkungen zumeist verheerend: Megakatastrophen richten enorme Schäden an. Forscher wie Professor Norbert Hoffmann von der Technischen Universität Hamburg-Harburg arbeiten daran, dass sich solche Extremereignisse besser abschätzen lassen. Er beschäftigt sich mit Monsterwellen. 6 26 Inhalt 08 Ein Experiment! Eine neue Initiative der Stiftung gibt kreativen Forscherinnen und Forschern Rückenwind. 10 Von Knochensynthese bis Kaugummidiagnostik Die 13 in der ersten Runde der Initiative „Experiment!“ erfolgreichen Personen und Projekte im Porträt. 26 „Das Risiko zu scheitern habe ich im Blick …“ Welches Wagnis man als Wissenschaftler mit seiner Forschung eingeht? Ein Gespräch mit Lichtenberg-Professor Matthias Schott. 38 Unterwegs in Arabien Arbeiten unter Hochspannung: wenn Forschung lebensgefährlich wird 48 Extremereignisse Monsterwellen, Erdbeben, Tsunamis, Sintfluten: zu Gast bei Expertenteams, die extreme Abweichungen von der Norm erforschen 60 Gefährliche Globetrotter Ob Seuchen, Pflanzen oder Tiere: Bioinvasion wird zur weltweiten Bedrohung. Forscher haben Gesetzmäßigkeiten für die Ausbreitungswege gefunden. 70 70 Atome filmen in Echtzeit Pro Sekunde zehntausende Aufnahmen aus dem Nanokosmos machen – die jungen Peter Paul Ewald-Fellows zeigen, wie's geht. 82 Der Tanz des Wassers Forscher können jetzt Moleküle in Bewegung beobachten. Plötzlich wird klar, welch eine besondere Flüssigkeit gerade Wasser ist. 90 Sicherheit hat Vorfahrt Moderne Technik hilft, Verkehrsunfälle zu vermeiden. Doch wie berücksichtigt man den „Risikofaktor Mensch“? Wenn Atome stillhalten Chemische Reaktionen filmen in Echtzeit; atomare Strukturen von Biomolekülen, Viren und Zellen aufklären: Die Stiftung unterstützt junge Wissenschaftler bei der Umsetzung solcher Projekte – darunter auch Katharina Kubicek. Ein Besuch in Stanford, USA. 22 Spektrum Nachrichten aus der Wissenschaftsförderung 96 Forum Stiftungsengagement an der Schnittstelle Wissenschaft und Gesellschaft 98 Veranstaltungen 102 Publikationen 104 Die Stiftung im Netz 105 Die Stiftung in Kürze 107 Impressum Impulse 02_2014 7 Ein Experiment! – und noch zwölf weitere. Viel Rückenwind für kreative Forscher „Wir haben da schon mal was vorbereitet …“ Wer diesen Satz aus der Fernsehsendung „Wissen macht Ah!“ kennt, weiß, was kommt: ein famoses Experiment! Auf famose Experimente im eigentlichen und im übertragenen Sinne zielt seit 2013 ein neues Angebot der VolkswagenStiftung, das es bis dato in der deutschen Forschungslandschaft nicht gegeben hat – die Initiative „Experiment!“. Sie ermöglicht über eine Anschubfinanzierung von bis zu 100.000 Euro die erste Erkundung neuer und unkonventioneller, gewagter Forschungsideen in den Natur-, Ingenieur- und Lebenswissenschaften. Pro Jahr werden bis zu 15 Projekte gefördert, jeweils 18 Monate lang. Dass dieses Angebot ohne Zweifel eine einzigartige Gelegenheit darstellt, zeigte der laute Widerhall mit über 700 Förderanträgen in der ersten Runde. 13 Ideen setzten sich letztlich durch. Die Bandbreite an Bewerberinnen und Bewerbern reichte „vom 29-jährigen frisch Promovierten bis zum gut 60-jährigen Professor“, sagt Dr. Ulrike Bischler. Die Physikerin ist eine der „Experiment!“-Koordinatoren; sie traf mit ihren Kollegen eine erste Vorauswahl unter den eingereichten Projekten. Für sie steht ein Ergebnis von „Experiment!“ bereits fest: „Wir haben zweifelsohne einen Nerv in der Community getroffen!“ Dr. Oliver Grewe, der mit ihr gemeinsam die Initiative koordiniert, pflichtet bei: „Der große Ansturm hat uns überrascht, aber natürlich erfreut.“ „Experiment!“ aus Stiftungssicht soweit also gelungen – obschon ein Wermutstropfen natürlich gleich hinterherfließt bei einer Auswahl von eben „nur“ gut einem Dutzend Geförderter pro Jahr bei 704 Bewerbungen zumindest zum Auftakt. Der Wettbewerb selbst verläuft schnell und unbürokratisch: Innerhalb von drei Monaten bekommen die Ideengeber eine Zu- oder Absage und damit weit schneller, als das ansonsten in der Forschungsförderlandschaft zumeist üblich ist. Bewerben können sich Nachwuchswissenschaftler ebenso wie etablierte Professoren von Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Eine Vorstellung von Erfolg – oder vielleicht auch Misserfolg – erhält man am 11. Juli 2014 im Schloss Herrenhausen in Hannover beim „Forum Experiment!“. Dort stellen alle 13 in der ersten Wettbewerbsrunde erfolgreichen Wissenschaftler ihre Ideen und Projekte vor. Einen kurzen Eindruck bieten bereits die folgenden Seiten. Die zweite Auswahlrunde von „Experiment!“ (Stichtag war im Mai 2014) läuft bereits. Dritter Stichtag im Wettbewerb wird voraussichtlich der 1. September 2015 sein. Wer nun noch mehr wissen will: www.volkswagenstiftung.de/experiment. 8 Mareike Knoke / Christian Jung Das „Knochenaufbau-Experiment“ von Professorin Sidney Omelon (wird auf der nächsten Seite erklärt). Impulse 02_2014 9 Ein harter Knochen Professorin Sidney Omelon, Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, Potsdam-Golm Knochen unterliegen einem dauernden Umbau. So kann sich unser Körpergerüst zum einen anpassen an die Belastungen, denen wir ausgesetzt sind oder uns aussetzen – man denke etwa daran, wie relativ schnell und zielgenau sich durch ständigen leichten Druck Zähne im Kiefer verschieben lassen. Andererseits ist die Fähigkeit zum Knochenumbau notwendig für die Reparatur kleiner Risse infolge von Verletzungen. Im Wesentlichen sind zwei Zelltypen für den Knochenstoffwechsel verantwortlich: Die Osteoklasten tragen defektes Knochengewebe in rund drei Wochen ab; anschließend füllen die Osteoblasten diese Stelle in etwa drei Monaten mit neuem Knochengewebe auf und aus. Man kann die Statik von Knochen mit der von Stahlbeton vergleichen. Ein Teil der Bausteine, die den Knochen als Ganzes ausmachen, ist druckbeständig, während andere wie etwa eingebaute Kollagenfasern die auftretenden Zugkräfte abfangen. Dieses Bild hilft auch zu verstehen, warum Knochenabbau und Knochenaufbau eine untrennbare funktionelle Einheit darstellen. Durch die mechanische Belastung treten im Knochen dauernd Mikrorisse auf. Dort sind die Kollagen-(„Stahl-“)Fasern gerissen. Eine Reparatur kann an dieser Stelle nur erfolgen, wenn neue, intakte Fasern mit ausreichender Verankerung diesseits und jenseits des ursprünglichen Risses eingebaut („einbetoniert“) werden können. Ein reines Mineralisieren („Vergipsen“) des Risses würde die ursprüngliche Belastbarkeit nicht wiederherstellen. „Das Phänomen als Ganzes ist noch nicht so weit verstanden, dass sich Knochen problemlos nachbauen ließen“, umreißt Professorin Sidney Omelon die Intention ihres „Experiments“. Über den Vorgang der Mineralisation weiß man, dass Osteoblasten Ca2+ und Phosphat aufnehmen und diese Minerale auch gezielt abzugeben vermögen. Exakt lokalisiert, können die Zellen eine „Übersättigung“ herbeiführen; in der Folge bildet sich die neue Grundsubstanz – nanometerkleine Calciumphosphat-Partikel. Die zentrale, unverstandene Rolle bei der Knochenmineralisation spielt ein während des gesamten Prozesses äußerst aktives Enzym: die alkalische Phosphatase. Sie ist an der Außenseite der Osteoblasten-Zellmembran verankert und stellt die benötigten Phosphat-Ionen zur Verfügung; vermutlich, indem sie diese aus organischen Molekülen abspaltet. „Die große unbeantwortete Frage in der Knochenbiologie ist eine scheinbar einfache: Wie mineralisieren Knochen? Wie also schaffen es diese kleinen Zellen, unser hartes Skelett zu bauen und durch Reparatur zu erhalten?“ Danach fragt Professorin Sidney Omelon, die auf der Suche nach einer Antwort dafür eigens von Kanada ins Brandenburgische, nach Potsdam, gereist ist. Sidney Omelon will nun den Prozess rund um die alkalische Phosphatase und damit die Knochenmineralisation aufklären. Ziel ist ein synthetisches Knochenmaterial, das in Funktionalität und Haltbarkeit dem Original möglichst nahe kommt. Dem Prototyp soll dann ebenso zügig der Schritt in den klinischen Einsatz folgen. Christian Jung 10 Impulse 02_2014 11 Revolution mit dem Replikator Dr.-Ing. Philipp Imgrund, FHI für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung, Bremen Werden 3D-Drucker bald zu Standardgeräten in der industriellen Massenproduktion, in Privathaushalten gar – ähnlich gebräuchlich womöglich wie Fernseher oder Kühlschrank? 3D-Drucker sind in der industriellen Fertigung schon länger im Einsatz – etwa zur Entwicklung von Prototypen im Flugzeug- und Autobau. „Das Problem ist jedoch bislang, dass immer nur eine begrenzte Zahl von Werkstücken gleichzeitig produziert werden kann“, sagt Philipp Imgrund, stellvertretender Leiter Pulvertechnologie am Fraunhofer Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung in Bremen. „Mithilfe der Stiftung arbeiten wir nun an der Entwicklung einer neuen, hocheffektiven Fertigungsmöglichkeit.” 3D-Drucker stellen Objekte her, indem sie Schicht für Schicht Material hinzufügen. Sie bedienen sich einer digitalen Vorlage und verwenden als Material Plastik, Metall oder Keramik. Was dem Segment derzeit besonders viel Interesse beschert, sind die Verheißungen der Branche, dass der Einsatz für Massenfertigungsprozesse enormes wirtschaftliches Potenzial verspricht. Und so zielt auch das Engagement des Bremer Werkstoffingenieurs mittelfristig darauf, eine fortlaufende Massenproduktion kundenspezifischer Kunststoffteile und -produkte zu ermöglichen. Konkret fließen die Mittel der Stiftung unter anderem in die Entwicklung eines Geräts, an dem eine neue Produktionstechnik getestet werden kann. Imgrund ist optimistisch: „Ich denke, nach Ablauf der Förderung können wir uns dann nach einem Industriepartner umschauen.“ Projektmitarbeiter Dr. Juan Isaza am Herzstück der Anlage für die sogenannte generative Fertigungstechnologie. Der rotierende Zylinder bewegt sich durch ein Becken mit chemischer Print-Flüssigkeit und nimmt Schicht für Schicht des zu druckenden Gegenstands auf. Der Zylinder ist danach für weitere 3D-Drucke wiederverwendbar. Für ihn war gerade die schnelle Förderung ein Grund, sich bei der VolkswagenStiftung zu bewerben. Vermutlich sei der deutschen Ingenieurwissenschaft in der Vergangenheit mangels entsprechender Finanzierungsmodalitäten manch gute Idee verloren gegangen, aus der sich wiederum weitere attraktive Forschungsaspekte oder größere Projekte hätten ergeben können, meinen Imgrund und Fachkollegen. Es sei daher mehr als geboten, dass gerade in Deutschland wieder Forschungsideen unterstützt werden, die etabliertes Wissen grundlegend herausfordern, die unkonventionelle Hypothesen, Methoden oder Technologien etablieren wollen oder ganz neue Forschungsrichtungen in den Blick nehmen. Dies fordert zum Beispiel auch der Dachverband der Ingenieurwissenschaften und Informatik an Universitäten „4ING“. Er hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft ermuntert, die Initiative der Stiftung aufzugreifen und eine Förderlinie auf den Weg zu bringen, die vom Volumen her eine Unterstützung von weit mehr Projekten zulassen würde. Unterdessen ist Philipp Imgrund gedanklich schon bei Folgeprojekten. Eines könnte der Einsatz von Keramik- oder Metallpolymerlösungen für die Massenfertigung vieler neuer Materialien und Werkstoffe sein. 12 Mareike Knoke / Christian Jung Impulse 02_2014 13 Diagnose per Kaugummi Dr. Christian Herzmann, Leibniz-Forschungszentrum Borstel bei Lübeck Die Lungenkrankheit Tuberkulose ist in Entwicklungsländern nach wie vor eine der häufigsten Todesursachen, auch in einigen Ländern Europas steigt die Zahl der Betroffenen wieder – zum Teil deutlich. Schleichend, aber unübersehbar ist sie in den vergangenen Jahrzehnten somit erneut zu einer globalen Bedrohung für die Gesundheit der Menschen geworden; in der Statistik der tödlichen Erkrankungen belegt sie inzwischen wieder einen Spitzenplatz. Allein im Jahr 2012 erkrankten weltweit um die zehn Millionen Menschen daran. Fast ein Fünftel von ihnen starb an der Infektion, die in 80 Prozent der Fälle vom Mycobacterium tuberculosis verursacht wird. Dr. Christian Herzmann vom Forschungszentrum Borstel bei Lübeck ist Tuberkulose-Erregern auf der Spur – mit Kaugummi! Eigentlich kaut man Kaugummis ja wegen ihres Geschmacks oder weil sie die Zähne reinigen sollen. Doch der Mediziner ist davon überzeugt, dass solch ein Kaubatzen noch viel mehr kann, dass ungeahntes Potenzial in ihm steckt, wenn man ihn entsprechend präpariert und verändert. Seine Idee: Warum nicht einen Kaugummi entwickeln, an dem sich die Tuberkulose-Bakterien nachweisen lassen, nachdem der Proband darauf herumgekaut hat? Der Gedanke klingt so bizarr wie bestechend und vor allem – es wäre ganz einfach in der Umsetzung und Handhabung, wenn’s klappt. „Was mein Team und ich gerade versuchen, muss man zweifelsohne riskant nennen – eben weil das Ergebnis so unsicher ist“, sagt Dr. Christian Herzmann, hier mit den Projektmitarbeitern Dr. Norbert Reiling (links) und Dr. Sven Müller-Loennies (rechts) vor dem Haupthaus des Leibniz-Forschungszentrums Borstel bei Lübeck. Die Fotos Mitte und unten zeigen die Testkaugummis in unterschiedlichen Verarbeitungsstufen. Solch ein Kaugummi könnte in großem Stil gerade in Entwicklungsländern zum Einsatz kommen, überall dort, wo schlechte Infrastruktur aufwendige Verfahren für den Nachweis einer Infektion oft unmöglich macht. „Man lässt die Probanden einfach eine bestimmte Zeit lang kauen. Anschließend werden die Kaugummis im Labor auf das Bakterium untersucht“, erläutert der Forscher sein Vorhaben. Auf diese Weise könnte es gelingen, rechtzeitig zu erkennen, wer an Lungentuberkulose erkrankt ist. Wie aber entwickelt man einen Kaugummi so weiter, dass Tuberkulose-Bakterien an der Masse „haften“ bleiben und sich nachweisen lassen? „Ansätze aus der Lebensmittelforschung sind hier wegweisend und könnten uns auf die richtige Spur bringen“, sagt Herzmann. Mehr verrät er nicht. Der Tuberkulose-Experte ist zwar in der Wissenschaftscommunity kein unbeschriebenes Blatt mehr – dennoch: „Die Chancen meines Teams auf eine konventionelle Förderung wären gleich null gewesen“, sagt er, der sein Projekt mit viel Optimismus vorantreibt. Ob es nun ein grandioser Erfolg wird und die medizinische Diagnostik bereichert oder ob es ebenso grandios scheitert, das soll sich bereits im Laufe dieses Jahres zeigen. Damit ist das Projekt ein Paradebeispiel für die noch junge Stiftungsinitiative „Experiment!“. 14 Mareike Knoke Impulse 02_2014 15 Wieder kräftig zubeißen können Professor Dr.-Ing. Rainer Telle, Rheinisch-Westfälisch Technische Hochschule (RWTH) Aachen Bei den derzeit zumeist genutzten Implantaten für Zähne und Knochen handelt es sich in der Regel um Keramiken aus Calciumphosphat. Sie haben den Nachteil, sehr bruchanfällig zu sein. Professor Dr.-Ing. Rainer Telle, Lehrstuhlinhaber für Keramik und Feuerfeste Werkstoffe an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, sucht nach einem alternativen Werkstoffkonzept. Was ihm vorschwebt, ist ein Werkstoff aus flexiblen Keramikelementen, der sich je nach Bedarf zurechtbiegen ließe. Inspiriert hat ihn die Struktur von Sandstein. „Wenn wir es schaffen, keramische Elemente von ähnlicher Beschaffenheit synthetisch und über große 3D-Drucker herzustellen, sind wir einen bedeutenden Schritt weiter“, sagt der Werkstoffforscher. Anwendungsmöglichkeiten gäbe es viele: etwa in der Medizintechnik oder der Automobilherstellung. Dennoch ist der Ausgang seines Vorhabens ungewiss, das Risiko zu scheitern gegeben. Selbst wenn gerade Ingenieuren viele Quellen für Forschungsgelder zur Verfügung stehen und sie sich zum Beispiel um Fördermittel bei Bundesministerien, der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder auch der Allianz Industrieforschung bemühen können: Für jene, die wie Rainer Telle solche Ideen entwickeln und erproben wollen, macht das die Lage nicht einfacher. Auch auf einen Ingenieur wartet nicht immer das Schlaraffenland: „Bewirbt man sich um Mittel etwa beim Bundesforschungs- oder Wirtschaftsministerium, muss man bereits möglichst einen ausführlichen Verwertungsplan mit Anwendungslösungen und Projektpartnern vorweisen.“ Wer jedoch Neues ausprobieren wolle, mit dem er durchaus scheitern könne, wer mit seinen Ideen zwischen den üblichen Denkschemata liege, der falle schnell durchs Förderraster, moniert Telle. Und so habe er es kaum glauben können, als er – die Idee bereits im Kopf – von der „Experiment!“-Initiative erfahren habe. „Der Wandel vom Rohstoff zum Werkstoff hat mich schon immer fasziniert – auch im Blick zurück“, sagt der gelernte Mineraloge Professor Rainer Telle. Da überrascht es nicht, dass durch seine Arbeit inzwischen auch in der archäologischen Forschung Verfahren aus den modernen Ingenieurwissenschaften zum Einsatz kommen. Wenngleich Telle sich zumeist mit Hochleistungskeramiken beschäftigt, pflegt der Ingenieur neben der anwendungsorientierten Entwicklungsarbeit auch archäologische Forschung. Seine Passion führte ihn zurück bis zu den ersten Verhüttungsprozessen der Menschheit ins dritte vorchristliche Jahrtausend. Welche Materialien wurden damals verwendet? Was wurde aus ihnen gefertigt? Bei welchen Temperaturen wurden die Gerätschaften gebrannt, und wie lange haben sie gehalten? „Die Beantwortung dieser Fragen gibt Aufschluss über die gezielte frühzeitliche Rohstoffverwendung und den Produktionsprozess“, erläutert Telle. So zeigten seine Forschungen, dass die Entwicklung feuerfester Materialien weitaus zielgerichteter erfolgte als bis dato angenommen. 16 Mareike Knoke / Christian Jung Impulse 02_2014 17 In die Knochen gefahren Professor Andreas Zimmer, Universitätsklinikum Bonn Depressionen belasten nicht nur die Psyche, sondern gehen auch an die Knochensubstanz. Seit einigen Jahren gibt es Hinweise, dass Depressionen insbesondere bei Frauen eine Osteoporose begünstigen. Untersuchungen zeigen, dass depressive Frauen über eine geringere Knochendichte verfügen als gleichaltrige psychisch Unbelastete. Der relative Schwund entspricht Größenordnungen, die man von anderen Risikofaktoren für Osteoporose kennt – darunter Rauchen, kalziumarme Ernährung und Bewegungsmangel. Wenngleich sich Studien zufolge der Knochenschwund depressiver Frauen als solcher belegen lässt, ließ sich bislang keine enge Verknüpfung finden zwischen dem Grad des Knochenschwunds und der Schwere der Depression oder der Zahl der depressiven Phasen. Es zeigten sich aber Veränderungen im Immunsystem der Probandinnen: Jene hatten einen erhöhten Wert entzündungsanregender Stoffe im Blut, darunter Interleukin-6; das Protein ist bekannt dafür, Knochenschwund zu fördern. Professor Dr. Andreas Zimmers „Experiment“ wendet nun die Perspektive. Seine Hypothese: Ist es vielleicht genau andersrum? – Könnten nicht Knochenkrankheiten ihrerseits Verursacher von Depressionen sein? Und zwar nicht, weil die Betroffenen an den damit einhergehenden Schmerzen, Beschwerden und Beeinträchtigungen leiden, sondern weil es zu Störungen in den Signalketten zwischen Knochen und Nervensystem bis hinauf ins Gehirn kommt? „Für unsere These gibt es zahlreiche Anhaltspunkte“, erklärt der Leiter des Instituts für Molekulare Psychiatrie am Universitätsklinikum Bonn. Sein „Experiment“ – er nutzt dazu zwei „Mausmodelle“ – hat er als internationales Kooperationsvorhaben aufgestellt; mit im Boot ist noch sein israelischer Kollege Professor Dr. Itai Bab von der Hebrew University in Jerusalem. „Wir wissen inzwischen, dass jene Nervenfasern, die die Knochen durchdringen, nicht nur für die Schmerzwahrnehmung verantwortlich sind, sondern auch eine Rolle spielen beim Knochenaufbau und -umbau.“ Bestätigen sich die Vermutungen, könnte dies zu ganz neuen Ansätzen in der Therapie depressiver Störungen bei Osteoporose-Patienten führen. Professor Dr. Andreas Zimmer baut bei seinem „Experiment“ auf breitem Wissen und reichlich Forschung zu der Funktion von Signalstoffen bei psychiatrischen Erkrankungen und Alterungsprozessen des Gehirns auf. So hat er sich lange mit der Frage beschäftigt, wie bestimmte Signalstoffe im Gehirn Reaktionen beeinflussen, die sich etwa bei Stress oder als Folge einer Bedrohung beobachten lassen. Seine Erkenntnisse könnten helfen, Angststörungen besser zu behandeln. So wie dieser Antrag stammten zwei Drittel der Wettbewerbsbeiträge der ersten Runde zu „Experiment!“ von Forscherinnen und Forschern an Universitäten. „Für die meist unterfinanzierten Universitäten ist diese Initiative Gold wert: Es ist wichtig, dass Risikoforschung auch an den Hochschulen stattfindet, damit sie Ideenmotoren bleiben“, sagt Zimmer. Er lobt das Stiftungsengagement als vorbildlich, überfällig und einzigartig und will andere ermutigen, es mit einer unkonventionellen Idee doch auch einmal bei der Stiftung zu versuchen. 18 Christian Jung Impulse 02_2014 19 Noch mehr Ideen Die weiteren acht im Wettbewerb erfolgreichen „Experimente!“ MED. PSYCHOLOGIE MEDIZIN MEDIZIN ENTWICKLUNGSBIOLOGIE Prof. Niels Birbaumer Prof. Bernd Moosmann Prof. Niels Birbaumer Prof. Joachim Hauber (mit Dr. Julian Schulze zur Wiesch) Dr. Takashi Hiiragi Für alle 13 geförderten Projektideen in der Initiative „Experiment!“ gilt: Die Akteure hätten anderswo angesichts ihrer zum Beispiel unorthodoxen Herangehensweise oder des sehr frühen Projektstadiums kaum eine Chance gehabt, die Vorhaben umzusetzen. Doch auch bei der Stiftung hatten sie hohe Hürden zu überwinden: die der Qualität natürlich, aber auch die beeindruckende Zahl an Mitbewerbern. Nicht zuletzt ob der großen Nachfrage heißt es deshalb umso mehr: überzeugen können auf der einen Seite, genau hinschauen auf der anderen. Die andere, das ist die international besetzte Jury. Von zentraler Bedeutung ist für sie die kurze, schlüssige Projektskizze, die nicht länger als drei Seiten sein soll. „Das Innovative und Visionäre des Forschungsansatzes muss überzeugend herausgearbeitet und auf den Punkt gebracht sein“, sagt Stiftungsmitarbeiterin Dr. Ulrike Bischler und betont: „Wir fördern nicht Personen, sondern Ideen.“ Entsprechend ist die Begutachtung anonym angelegt; sie stellt sicher, dass der Fokus der Jury strikt auf der Bewertung der Idee liegt. Normalerweise können die Erkunder neuer Ideen kaum auf staatliche Förderung hoffen. „Die Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft etwa wollen in einem Antrag zum Beispiel sehen, auf welchen Vorergebnissen diese Forschung aufbaut. Doch das ist schwierig, wenn ein Wissenschaftler völliges Neuland betritt“, sagt Ko-Koordinator Dr. Oliver Grewe. „Experiment!“ setzt unterdessen in vielerlei Hinsicht die Schwelle für Interessierte so niedrig wie möglich: Wer sich bewirbt, muss, anders als zumeist üblich, keinen Zeit- oder Finanzplan vorlegen, auch sonst erforderliche Vorarbeiten entfallen. „Die Mittel können unbürokratisch und flexibel innerhalb des Projekts verwendet werden – sei es für Personal, Geräte oder Reisekosten“, erklärt Grewe. „Wir erleichtern den Forschern die Beantragung und Verwaltung der Mittel so weit wie möglich; so bleibt ihnen viel ihrer wertvollen Forschungszeit.“ Dabei steht nicht im Vordergrund, ob das Projekt am Ende erfolgreich ist oder aber scheitert. „Wissenschaft lernt aus ihren Fehlern – auch darum geht es in der Initiative“, betont Bischler. „Denn auch gescheiterte Versuche bringen oft neue, wichtige Erkenntnisse.“ Und wenn sich eine Projektidee innerhalb der „Experiment!“-Förderzeit doch erfolgversprechend entwickelt – wie geht es dann weiter? „Auf dieser Grundlage haben die Wissenschaftler sicherlich bessere Chancen als zuvor, im Rahmen der üblichen Programme verschiedener Forschungsförderer ihre Anschluss- oder Vertiefungsarbeiten unterstützt zu bekommen“, sagt Bischler. Christian Jung 20 Universität Tübingen Universitätsklinikum Mainz Wie wir den Zustand unseres Gehirns, unseres Bewusstseins verändern können? – Die Kombination von Hirnbildgebung (Echtzeit-funktioneller Magnetresonanztomographie) und Neurofeedback-Methoden macht’s möglich. Kann jeder lernen, z. B. seinen Blutfluss bewusst zu regulieren? Ziel ist es, biochemische Prozesse neurodegenerativer Erkrankungen besser zu verstehen – Gegenstand des „Experiments“, das auf die Alzheimer-Erkrankung fokussiert, ist der NMDA-Rezeptor-Antagonist. Der Rezeptor selbst ist ein Kanal für Ionentransport in der Zellmembran. PHYSIOLOGIE Prof. Karl Kunzelmann Universität Regensburg Die meisten in den Körperzellen ablaufenden (biochemischen) Prozesse benötigen Wasser, das durch Zellmembranen und -wände seinen Weg findet. Ein Experiment soll zeigen, warum die Regulierung des Zellvolumens, des zellulären Wasserhaushalts, wohl anders abläuft als bislang gedacht. Universität: Tübingen Heinrich-Pette-Institut + UniversiProjekt: Kontemplative Betätsklinikum Hamburg-Eppendorf wusstseinszustände durch Auf dem Weg zu einem neuartigen Selbstregulation erlangen zellulären Reparatursystem – oder: ohne jahrelanges Training EMBL Heidelberg „Mikro-Chirurgie“ auf der Ebene des Genoms. Wie kann die Heilung genetisch bedingter Krankheiten mithilfe von Virus-RNA erfolgen? Die mechanischen Kräfte, die in einer Zelle wirken, spielen bereits bei der Embryonalentwicklung eine wichtige Rolle: Welche Bedeutung haben sie als Signalgeber für die Symmetriebrechung im sich entwickelnden Säugetierembryo? Warum also sitzt etwa das Herz (fast immer) links? EXPERIMENTALPHYSIK BIOPHYSIK PFLANZENBIOCHEMIE Prof. Matthias Weiss Prof.Carsten Karl Kunzelmann Prof. Beta Universität Bayreuth Die Komplexität der Transportprozesse in einer Zelle und die Vielfalt molekularer Interaktionen sind enorm. Wie funktioniert die Selbstorganisation (bei der Bildung) der darin entscheidend eingebundenen Organellen, den zentralen Bausteinen der Körperzellen? – Entwicklung eines Modellsystems Universität Potsdam Universität: Regensburg Projekt: Experiment zum„Mikro„Mikro-Trucks“ transportieren Frachten“: Lassen sich polarisierte des Verständnis der Regulation Zellen als Transporter für kleinste zellulären Wasserhaushalts Lasten nutzen, zudem in einem weitgehend eigenständigen sich selbst organisierenden Prozess? – Der Schleimpilz Dictyostelium als Versuchsvehikel für gerichteten Transport Prof. Ludger Wessjohann Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie, Halle Ziel ist die Entwicklung eines „Werkzeugkastens“, der Chemiebausteine für dreidimensionale Nanomoleküle enthält: ein synthesechemisch anspruchsvoller Designansatz für molekulare Architekturen – etwa zur Entwicklung von Medikamenten? Impulse 02_2014 21 Spektrum Nachrichten aus der Wissenschaftsförderung der VolkswagenStiftung Gebrochener Glanz: Ausstellung über römische Großbronzen eröffnet Eine Forschergruppe hat fast 5.000 Großbronzenfragmente von 132 Fundplätzen untersucht. Viele Exponate sowie die überraschenden Forschungserkenntnisse sind noch bis zum 20. Juli 2014 im LVR-LandesMuseum Bonn zu sehen und anschließend in Aalen. Vor rund zweitausend Jahren schmückten überlebensgroße bronzene Statuen römische Kastelle und Siedlungen nahe dem Limes. Heute sind davon häufig nur noch Bruchstücke vorhanden, viele davon schlummerten bislang in den Museumsmagazinen. Bereits mehr als vier Jahre hat ein Forscherteam um Dr. Martin Kemkes vom Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg die einst in künstlerischer Feinarbeit gefertigten Großbronzenfragmente untersucht. Es befasste sich mit solchen Bruchstücken, die bei den Grabungen in den Militäranlagen und Siedlungen entlang des Limes zwar oft gefunden wurden, bei der wissenschaftlichen Auswertung bislang jedoch keine allzu große Rolle spielten. „Bei der archäologischen, naturwissenschaftlichen und experimentellen Untersuchung haben wir unzählige interessante Dinge erfahren“, berichtet Kemkes. Durch eine äußerst umfangreiche Sammlung und Aufbereitung der Datenbestände konnte das Forscherteam zum Beispiel belegen, dass die Verbreitung der imposanten, teils sogar vergoldeten Bronzefiguren vor allem in den ländlichen Gebieten abseits von Köln, Trier oder Mainz deutlich höher war als bisher angenommen. Auch wurden die Statuen zur Kaiserzeit nicht ausschließlich in Italien produziert und anschließend in die nördlichen Gebiete gebracht, sondern auch in den Gegenden um den Limes hergestellt. 22 Interessant auch die Erkenntnis, dass der Großteil der Metalle bereits während der Römerzeit und im folgenden Umbruch durch die Germanen wieder eingeschmolzen wurde. Auch die mutwillige Zerstörung mancher Kaiserstatuen durch die römischen Soldaten selbst lässt sich an einigen Objekten durch Einschusslöcher römischer Katapultspitzen nachweisen. „Das war bisher so nicht bekannt“, erklärt Kemkes. Darüber hinaus ließ sich erstmals innerhalb des Projekts der komplexe Herstellungsprozess beim Bronzeguss erforschen und nachstellen. All das wird in der Ausstellung „Gebrochener Glanz – Römische Großbronzen am UNESCO-Welterbe Limes“ anschaulich präsentiert, die noch bis zum 20. Juli 2014 im LVR-LandesMuseum Bonn zu sehen ist. Anschließend wird sie vom 14. August 2014 bis zum 22. Februar 2015 im Limesmuseum Aalen sowie danach im Museum Het Valkhof in Nijmegen gastieren. Die VolkswagenStiftung hat die Wissenschaftler mit rund 519.500 Euro unterstützt. „Ohne die Förderinitiative ‚Forschung in Museen‘ gäbe es dieses Projekt sicher nicht. Wir wären nie dazu in der Lage gewesen, solch ein großes Kooperationsvorhaben in dieser Weise anzugehen“, erklärt Kemkes. Für Forschung und Ausstellung liehen sich die Wissenschaftler die Fundstücke von rund 70 Museen in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Frankreich, der Schweiz und Österreich aus. Die Ergebnisse werden auch den objektgebenden Institutionen zugänglich gemacht. Oben rechts: Nahezu 5.000 Fundstücke, davon viele Bruchstücke, haben die Forscher in den vergangenen vier Jahren untersucht. Oben links: Der lebensgroße Kopf der Göttin Rosmerta aus Mainz-Finthen ist einer der wenigen gut erhaltenen Köpfe im Untersuchungsgebiet. Mitte: Dr. Martin Kemkes ist Referatsleiter des Archäologischen Landesmuseums Baden-Württemberg, in dem auch noch viele Exponate für weitere archäologische Forschungen schlummern. Unten: Die Großbronzenfragmente wurden entlang des ehemaligen Limesverlaufs gefunden, viele davon in ländlichen Gebieten. Impulse 02_2014 23 Spektrum Molekular- und Nanotechniken im Fokus: von Datenautobahnen bis zu Perlmutt-Werkstoffen Erste Freigeist-Fellows im Schloss Herrenhausen ausgezeichnet In der inzwischen vierten Ausschreibungsrunde der Förderinitiative „Integration molekularer Komponenten in funktionale makroskopische Systeme“ hat die VolkswagenStiftung 4,3 Millionen Euro für acht neue Kooperationsvorhaben bewilligt. In der ersten Wettbewerbsrunde der allen Fächern offenstehenden „Freigeist-Fellowships“ konnten elf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überzeugen: Mit insgesamt 8,2 Millionen Euro werden sie und ihre außergewöhnlichen Forschungsvorhaben von der VolkswagenStiftung gefördert. Die Freigeist-Fellows (von links): Dr. Elmar Behrmann, Dr. Barbara Caspers, Dr. Julia Eichenberg, Dr. Marijn van Wingerden, Dr. Jonas Rose, Dr. Matthias Roick, Dr. Neil In einem der neu bewilligten Projekte der Initiative will Professor Ralph Krupke Bausteine für künftige Hochgeschwin- Thurman, Dr. Annika Bande, Dr. Benjamin Lahusen. Es fehlen: Dr. Volker Busskamp und Dr. Hendrik Weimer. digkeits-Datenübertragung auf Computerchips entwickeln. Seit Jahren entwickeln Wissenschaftler neue Materialien und Komponenten im Nanometerbereich mit außergewöhnlichen Eigenschaften. Zumeist werden jedoch Einzelkomponenten erstellt, größere Anwendungen basierend auf diesen Bausteinen bilden immer noch die Ausnahme. Daher fördert die Stiftung seit 2008 Forschungsvorhaben, deren Ziel die Verknüpfung molekularer oder nanoskaliger Einheiten zu komplexen Systemen mit makroskopisch nutzbaren Effekten ist. Das kann von der Konzeption, Produktion und anschließenden Integration einzelner winziger Bausteine in größere Systeme reichen bis hin zur Herstellung des Prototyps eines Gerätes oder Bauelements. Im Frühjahr 2014 hat die VolkswagenStiftung weitere acht herausragende Projekte auf den Weg gebracht, die durchweg interdisziplinär angelegt sind und zum Teil die Beteiligung ausländischer Partner einschließen – etwa eine Forschergruppe am Weizman Institute of Science, Israel. 24 Ein Beispiel für einen zukunftsweisenden Ansatz stellt das Forschungsvorhaben zur Herstellung frei formbarer Materialien mit keramischen Eigenschaften dar: Professor Dr. Christopher BarnerKowollik vom Karlsruher Institut für Technologie möchte gemeinsam mit Dr. Andreas Walther vom Leibniz-Institut für Interaktive Materialien in Aachen Werkstoffe entwickeln, die sich in ihrer Struktur an der von Perlmuttschichten orientieren. Die Materialien könnten beispielsweise mit selbstheilenden Eigenschaften ausgestattet werden und so als kratzfeste Beschichtungen auf Mobiltelefonen dienen. Auch Barriereanwendungen zur hochflexiblen, gasdichten Verkapselung sensibler Bauteile wie Displays sind denkbar. In einem weiteren Projekt steht bei Professor Dr. Ralph Krupke von der Technischen Universität Darmstadt die Herstellung der ersten nanoskaligen Lichtquellen auf Basis von Kohlenstoffnanoröhrchen im Fokus. Daraus möchte der Physiker Bausteine für künftige HochgeschwindigkeitsDatenübertragung auf Computerchips entwickeln. Die Palette der Projektthemen ist denkbar breit und repräsentiert Natur- und Lebenswissenschaften ebenso wie die Geistes- und Sozialwissenschaften. Drei Beispiele: Erforscht wird die Entstehung des sogenannten Verwandtengeruchs und dessen Bedeutung für das Sozialverhalten. Es wird recherchiert, wie europäische Exilregierungen während des Zweiten Weltkriegs in London operiert haben. Und es soll ein Verfahren entwickelt werden, mit dem sich menschliche Nervenschaltkreise im Labor herstellen lassen. Das könnte die Behandlung neuronaler Krankheiten verbessern. Nicht minder spannend sind die Themen, mit denen sich die anderen acht der insgesamt elf frisch gekürten Freigeist-Fellows der Stiftung künftig beschäftigen werden. Der Öffentlichkeit vorgestellt wurden die Fellows am 29. April 2014 bei einer feierlichen Abendveranstaltung im Schloss Herrenhausen. Gemeinsam mit Familienmitgliedern und Vertretern von Hochschulen waren sie der Einladung der Stiftung gefolgt, ihre Projekte vorzustellen und sich untereinander zu vernetzen. Zur Förderinitiative Um dem wissenschaftlichen Nachwuchs neue Wege zu öffnen, hat die VolkswagenStiftung im Jahr 2013 die „Freigeist-Fellowships“ ins Leben gerufen. Die Förderinitiative richtet sich an exzellente Postdoktorandinnen und -doktoranden, die risikobehaftete, unkonventionelle Forschung an deutschen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen betreiben möchten. Gedacht ist an Forscherpersönlichkeiten, die Spaß haben am kreativen Umgang mit Unerwartetem. Mit einem modulartig aufgebauten, flexiblen Förderangebot erhalten die Fellows mit bis zu fünfjähriger Forschungserfahrung nach der Promotion die Möglichkeit, ihre wissenschaftliche Tätigkeit mit großem Freiraum und klarer zeitlicher Perspektive optimal zu gestalten und eigene, originelle Ideen umzusetzen. Mehr Informationen zur Förderinitiative und zu den bewilligten Projekten sind zu finden unter www.volkswagenstiftung.de/freigeist. Impulse 02_2014 25 „Wissenschaft birgt immer auch das Risiko zu scheitern“ Forschung an der Grenze des Wissens und des Vorstellbaren: Dort hält sich der Physiker Matthias Schott auf. Ein Gespräch mit einem, der ausgezogen ist, das große Ganze zu erklären. Am Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf hat er an der Entdeckung des lange gesuchten Higgs-Teilchens mitgearbeitet, jetzt ist er mit einer Lichtenberg-Professur an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz gewechselt, um noch tiefer in die geheimnisvolle Materie einzutauchen. Ohne Zweifel: Matthias Schott – hier mit dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Christoph Weinsheimer (rechts) – ist mit seinem Thema auf der Langstrecke unterwegs. 26 Impulse 02_2014 27 Wissenschaft und Risiko: ein weites Feld. Risiko spielt in der Wissenschaft auf ganz unterschiedlichen Ebenen eine Rolle – etwa dann, wenn Forscher selbst bereit sind, erhebliche Risiken einzugehen. Wissenschaftliches Arbeiten trägt zwar per se potenzielles Scheitern in sich, in einigen Forschungsfeldern ist dieses Risiko aber besonders groß. Zum Beispiel in der Teilchenphysik. Dort bewegt sich der „Lichtenberg-Professor“ Dr. Matthias Schott. Er sucht nach der Erklärung für etwas, das uns beinahe so selbstverständlich erscheint wie das Atmen: die Masse. Hier spricht er mit Wissenschaftsjournalistin Jo Schilling über sein neues Projekt, risikoreiche Forschung und risikobereite Wissenschaftsförderer (Fotos: Thomas Victor). Herr Schott, Sie haben kürzlich eine Forschungsstelle am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf, wo Sie an der Entdeckung des Higgs-Teilchens mitgearbeitet haben, für eine Lichtenberg-Professur an der Universität Mainz aufgegeben. Was hat Sie veranlasst, den Arbeitsplatz an einem so renommierten Institut wie dem CERN dafür einzutauschen? Ich habe am CERN in der weltweiten Kooperation ATLAS mitgearbeitet, die dann in der Tat im vergangenen Jahr das Higgs-Teilchen nachgewiesen hat – eine wissenschaftliche Sensation. Benannt nach dem britischen Physiker Peter Higgs, komplettiert das Teilchen das Standardmodell des Aufbaus der bekannten Materie als womöglich dessen letzter unentdeckter Baustein. Ich wurde direkt vom CERN beschäftigt. Diese Arbeitsplätze sind sehr schön, da sie einem erlauben, vollkommen selbstständig zu forschen – und das im Verbund mit ungefähr 3.000 Physikern aus aller Welt. Das ist unglaublich anregend; das Problem ist nur: Ich hatte keine eigene Gruppe aus Doktoranden und Postdoktoranden und konnte nur an sehr speziellen Fragestellungen arbeiten. Gefehlt hat mir insofern vor allem, dass ich keine eigenen größeren Projekte vorantreiben konnte. Aber dafür ist nicht zwingend eine LichtenbergProfessur notwendig … Was ich vorhabe, baut auf den Arbeiten am CERN auf. Dennoch ist schon ein gewisses Risiko dabei, dass meine Forschung auch nach langer Zeit, mit 28 langem Atem nicht zum Erfolg führt – und welcher Partner geht solch ein Risiko schon gemeinsam mit einem Wissenschaftler ein? Die VolkswagenStiftung ist mit den Lichtenberg-Professuren bereit, eben dies zu tun. Das ist für mich sehr wichtig, um frei forschen, um eigenständig meine wissenschaftlichen Themen vorantreiben zu können. „Gewisses Risiko“ ist schön formuliert. Andere bezeichnen Forschung wie die Ihre als hochriskant …. Doch bevor wir uns weiter über das Thema Risiko als solches unterhalten, möchte ich erst einmal verstehen, was Sie nun genau erforschen wollen. Das Problem, um das sich meine Arbeit dreht, ist ganz fundamental: die physikalische Erklärung der Masse. Wir wissen, dass es Masse gibt, denn wir leben mit ihr, verdanken ihr unsere Existenz. Aber zu erklären, wie punktförmige Elementarteile eine Masse haben können, wurde erst mithilfe der in den 1960er-Jahren vorgelegten HiggsTheorie möglich, für die es ja gerade den Nobelpreis gab. Zentrales Element dieser Theorie ist das Higgs-Feld. Es ist allgegenwärtig im Universum, und alle Elementarteilchen fliegen durch dieses Feld hindurch. Aufgrund der Wechselwirkung der Elementarteilchen mit dem Higgs-Feld erhalten sie ihre Masse. Wie muss ich mir das in etwa vorstellen? Nehmen Sie mal an, Sie müssten einen Regenschirm durch Wasser ziehen. Einmal ist der Schirm Matthias Schotts Forschung dreht sich um eine ganz fundamentale Frage: die physikalische Erklärung der Masse. Das erfordert nicht zuletzt viel handwerkliches Geschick – etwa bei der Analyse eines beschädigten Metallgitters eines Micromega-Detektors, auch unter dem Mikroskop (Bild oben rechts). Später installiert der Physiker einen Micromega-Prototypen in eine Röntgenkammer, um Tests mit hohen Strahlungsraten durchzuführen (rechts, unten). Für einen anderen Versuch benötigt er optische Fasern (rechts, Mitte), die er anschließend in das Gehäuse eines Photo-Multipliers einsetzt, der unter anderem dazu genutzt wird, Elementarteilchen nachzuweisen. geöffnet und einmal ist er geschlossen. Natürlich brauchen Sie für das Ziehen des geöffneten Regenschirms mehr Kraft, das heißt: Er kommt ihnen schwerer vor. Ähnlich ist das auch mit dem Higgs-Feld. Einige Elementarteilchen haben eine größere Wechselwirkung mit diesem Higgs-Feld als andere und erhalten so auch eine größere Masse. Die Quantenphysik lehrt uns nun, dass jedes physikalische Feld auch angeregt werden kann. Im Prinzip ist das Higgs-Boson nichts anderes als die Anregung des Higgs-Feldes. Obwohl wir das Higgs-Feld nicht direkt beobachten können, wissen wir von dessen Existenz, sobald wir das zugehörige Teilchen finden – in diesem Fall also das Higgs-Boson. Und das Teilchen haben Sie gemeinsam mit Ihren 3.000 Kolleginnen und Kollegen am CERN gefunden. Sie lassen Protonen mit unglaublichen Energien in dem Teilchenbeschleuniger aufeinanderstoßen und messen mit den Detektoren den Aufprall der Teilchen, die dabei entstehen. Wie finden Sie dabei so ein versprengtes Higgs-Boson? Für den experimentellen Nachweis des HiggsBosons und die Bestimmung seiner Masse braucht es in der Tat Teilchenbeschleuniger mit ausreichender Energie – auch deshalb gelang der Nachweis über mehrere Jahrzehnte hinweg nicht. Pro Sekunde lassen wir etwa bis zu einer Milliarde Mal jeweils zwei Protonen kollidieren. Dabei Impulse 02_2014 29 Matthias Schott erörtert mit seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern Laura Wehner und Robert Westenberger diverse Experimente. Kurz zuvor hat er vorbereitete optische Fasern in das Gehäuse eines PhotoMultipliers eingesetzt (links), eine spezielle Elektronenröhre. Sie dient dazu, schwache Lichtsignale (bis hin zu einzelnen Photonen) durch Erzeugung und Verstärkung eines elektrischen Signals zu detektieren. Die Lichtenberg-Professuren Forscherglück lässt sich eigentlich auf eine einfache Formel bringen: Unabhängigkeit, gepaart mit einer angemessenen Ausstattung, der nötigen geistigen Freiheit und Flexibilität – sowie ausreichend Zeit und Muße für Reflexion. Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die mit ihrer Arbeit interdisziplinäres Neuland betreten, brauchen viel davon. Sind sie exzellent, finden sie Unterstützung bei der Stiftung mit einer Lichtenberg-Professur – und das für einen Zeitraum von bis zu acht Jahren. Seit nunmehr einem Jahrzehnt richtet die VolkswagenStiftung solche Professuren ein – zumeist Unabhängigkeit, Zeit, geistige Freiheit, Flexibilität: Über all das verfügen Lichtenberg-Professoren – und haben damit den Kopf frei für das Lösen schwierigster Aufgaben. Hintergrund findet pro Jahr eine Auswahlrunde statt. Und Jahr für Jahr bringt das Angebot wissenschaftliche Exzellenz hervor. Seit Bestehen der Initiative hat die Stiftung insgesamt knapp 70 Millionen Euro bereitgestellt für 46 Lichtenberg-Professuren. 17 dieser Professuren erhielten eine Verlängerung im Anschluss an die positive Evaluation ihrer Vorhaben, die nach rund der Hälfte der Laufzeit erfolgt. Viele dieser Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind allerdings so erfolgreich, dass sie noch vor der Evaluation einen Ruf auf eine reguläre Professur erhalten – ob an der eigenen Hochschule oder andernorts. Insgesamt gibt die Erfolgsstatistik für die Lichtenberg-Professuren der Stiftung Recht in der Konstruktion solch eines Angebots. Dabei ist der Erfolg nicht nur ein auf sie selbst und die jeweilige Hochschule gerichteter; die Stiftung versteht ihn zuvorderst als „Katalysator“ für die Geförderten. Deren wissenschaftliche Karrieren haben alle – bis hin zu starker internationaler Sichtbarkeit – mit der Professur einen spürbaren Schub erfahren. cj geschieht meist nichts Spannendes; oft entstehen nur Teilchen, die wir schon lange kennen, wie zum Beispiel nur zwei Quarks. Aber ganz selten entsteht eben auch ein Higgs-Teilchen, das dann wiederum in vier Elektronen oder zwei Photonen, also Lichtteilchen, zerfallen kann. Der Zerfall des Higgs-Teilchens in andere Elementarteilchen liefert ein typisches Muster im Teilchendetektor, auf das wir warten. Diese Muster werden jedoch leider auch ab und zu von den anderen, weniger spannenden Teilchenkollisionen erzeugt. Diese Kollisionen nennen die Physiker Untergrund … Genau. Zum Glück wissen wir, mit wie vielen „Untergrundereignissen“ normalerweise zu rechnen ist. Wenn wir – nur als willkürliches Beispiel – zweihundert Ereignisse mit einem typischen Muster für das Higgs-Boson in unserem Detektor finden, jedoch nur hundert Untergrundereignisse erwarten, dann können wir recht sicher sein, dass die anderen gemessenen hundert Ereignisse vom Higgs-Boson selbst stammen müssen. Das heißt: Unsere Experimente sind zunächst einmal eine Frage der Statistik. Wir brauchen sehr, sehr viele Teilchenkollisionen, um am Ende eine statistische Signifikanz für eine Entdeckung des Higgs-Teilchens zu erhalten. Nun wollen Sie in Mainz die Masse von W-Bosonen bestimmen. Was hat das mit Higgs-Bosonen zu tun? Das W-Boson ist das Austauschteilchen der sogenannten schwachen Kraft; also einer unserer vier elementaren Kräfte. Zu diesem Teilchen gehört – wir bewegen uns immer noch in der quantenmechanischen Welt – ein Feld. Dieses Feld kann schwingen und diese Schwingungen sehr, sehr kurz auf das Higgs-Feld übertragen. Im Prinzip heißt das nichts anderes, als dass die W-Bosonen indirekt mit den Higgs-Bosonen verbunden sind. Wir kennen W-Bosonen sehr gut – vor allem auch deren Masse. Darüber können wir ausrechnen, wie sich das Higgs-Teilchen verhalten muss: Welche Masse und welche Eigenschaften es beispielsweise hat – denn schließlich hängen die Eigenschaften des W-Bosons mit den Eigenschaften des Higgs-Bosons zusammen. Die Frage ist nun: Passt das neue Higgs-Teilchen, das wir am CERN gefunden haben, zu der Masse der W-Bosonen, die wir schon lange kennen? Um das herauszufinden, muss ich die W-Bosonen-Masse sehr viel genauer vermessen, als das bisher bereits möglich ist. Aber Sie haben das Higgs-Teilchen gefunden, und Sie kennen W-Bosonen. Weshalb noch genauer? Ich möchte wissen, ob das Higgs-Boson tatsächlich ein Standard-Higgs-Boson ist, also ob es das HiggsTeilchen ist, das Peter Higgs vorhergesagt hat. Oder ob es noch andere Eigenschaften hat, die wir nicht kennen und die nicht dem Modell entsprechen. Mit dem Higgs-Boson hat man zwar wie schon beschrieben den letzten fehlenden Baustein nachgewiesen und damit eigentlich ein fast perfektes Auslesechips für gasbasierte Teilchendetektoren im Labor des Mainzer Physikinstituts; rechts: beschädigtes Metallgitter eines Micromega-Detektors, gesehen durch ein Mikroskop. 30 Impulse 02_2014 31 „Es gibt weltweit nur eine Handvoll Institute, die an Forschungsfragen arbeiten, die auch mich im Kern umtreiben“, sagt Matthias Schott. In Mainz fühle er sich exzellent aufgehoben. Modell fundamentaler Wechselwirkung. Aber es ist eben nur fast perfekt – zum Beispiel hat man die Gravitation damit noch nicht erklärt. Und es bleiben eben Fragen offen. Vielleicht öffnet sich ja bei meiner Forschung eine Tür ins Ungewisse. Letztlich macht ja auch die mit dem Higgs-Teilchen erklärbare Materie nur einen kleinen Teil des Universums aus … Ja, hinzu kommen die mysteriöse Dunkle Materie und die postulierte Dunkle Energie. Diese uns unbekannte Welt birgt weit größere Rätsel – eigentlich wissen wir nur über einen sehr kleinen Teil unseres Universums etwas: Vieles liegt im Verborgenen. Insofern hofft man als Forscher natürlich schon, etwas anderes herauszufinden als vorhergesagt. Das führt dann zu neuen Theorien, die vielleicht neue Teilchen und neue Felder benötigen, um unsere Welt, so wie wir sie sehen, erklären zu können. Dafür wiederum würde es einer ganz neuen Physik bedürfen. Doch zurück zu den Bosonen. Das Ergebnis meiner Arbeit wäre dann also entweder die Bestätigung des HiggsTeilchens oder aber der Nachweis eines HiggsTeilchens, für das es bisher noch keine Vorhersage gibt – oder eben meine Forschung führt zu keinerlei neuer Erkenntnis über das Higgs-Boson. Damit sind wir wieder bei dem „gewissen Risiko“, über das wir vorhin schon sprachen. 32 Wenn man Ihnen zuhört, klingt das alles sehr selbstverständlich und gar nicht riskant. Empfinden Sie Ihre Forschung überhaupt als eine, die mit einem hohen Risiko zu scheitern einhergeht? In dem Sinne, dass ich mich selbst einem Risiko aussetze, selbstverständlich nicht. Am Computer zu sitzen, ist nicht gefährlich. Aber natürlich kann ich nach vier Jahren investierter Arbeit und Forschungsmittel an einen Punkt kommen, an dem ich meine Messfehler nicht mehr kleiner machen kann und weiß, dass ich die erforderliche Präzision nie erreichen werde. Es ist sicher frustrierend, wenn ich eines Tages feststellen muss, dass ich mehrere Jahre meines Lebens in ein Abenteuer investiert habe, das letztlich gescheitert ist. Ein solches Risiko muss ich aber eingehen, wenn ich fundamentalen Fragen wie diesen auf den Grund gehen will. Und ich gehe das Risiko eben nicht allein ein, sondern die VolkswagenStiftung trägt es gemeinsam mit mir über die LichtenbergProfessur, die explizit wissenschaftlichen Mut zum Ungewissen fördert und letztlich belohnt. Der 27 Kilometer lange Ringtunnel, in dem die Teilchenbeschleunigungs-Experimente durchgeführt wurden, der Large Hadron Collider (LHC) am CERN, trägt den Kosenamen „Gottesmaschine“. Da schwingt schon die Ungewissheit und auch Unbegreiflichkeit der Teilchenphysik mit … Die Hochenergiephysik nimmt sicherlich eine Sonderrolle ein. In vielen anderen Bereichen können es sich Wissenschaftler nicht erlauben, finanzielle Ressourcen, Zeit und Personal in Projekte zu investieren, bei denen der Ausgang so ungewiss ist – bei denen selbst die Entwicklung der Methoden so viele Unbekannte enthält, dass nicht abzusehen ist, ob jemals neue Informationen daraus erwachsen. Wenn Kollegen beispielsweise in den Materialwissenschaften arbeiten, können sie meist erklären, welchen Ansatzpunkt, welchen potenziellen Nutzen ihre Forschung hat. Das gilt im Prinzip für alle naturwissenschaftlichen Disziplinen. Selbst wenn andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Grundlagenforschung betreiben – die Teilchenphysik ist durchaus noch mal ein Stück grundlegender. Wie gut lassen sich Forschungsförderer wie die VolkswagenStiftung oder auch andere davon überzeugen, Geld für solche „riskanten“ Arbeiten zu geben? Was die VolkswagenStiftung in meinem Fall letztlich überzeugt hat, weiß ich natürlich nicht. Ich versuche vor allem immer zu zeigen, dass diese Forschung ohne entsprechende Fördermittel nie gemacht werden würde. Und wenn es denn funktioniert, werden die Ergebnisse vermutlich bahnbrechend und zukunftsweisend sein. Hätte ich beantragt, die Masse oder Eigenschaften des Higgs-Bosons zu vermessen, wie viele Kollegen das tun, würde auch ohne meinen Beitrag daran in diversen Laboren weiter geforscht werden. Die Stiftung hätte solch einen Antrag vermutlich aufgrund mangelnder Originalität auch gar nicht unterstützt und schon gar keine LichtenbergProfessur dazu eingerichtet. Für das W-Boson und die Technologien, die dazu gehören, gilt das nicht. Das mit dieser Forschung ohne Zweifel verbundene Risiko zu scheitern einzugehen: Dazu sind eben nur wenige Physiker bereit. Die Ergebnisse aber, die bei dieser Arbeit herauskommen können – ich bin ja nicht, nur weil ich mich dem Risiko des Scheiterns aussetze, zum Scheitern verurteilt Exzellent und nachhaltig: neues Fördermodell der Stiftungsprofessuren Seit Beginn des Jahres 2014 können LichtenbergProfessuren über zusätzliches Stiftungskapital dauerhaft an den jeweiligen Hochschulen verankert werden. Mit diesem besonderen Angebot unterstützt die VolkswagenStiftung deutsche Universitäten darin, hochkarätige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen langfristig zu binden und zu fördern. Möglich wird dies, da seit dem 1. Januar 2014 private Stiftungen hierzulande Teile ihrer Überschüsse und Gewinne den Hochschulen als Stiftungskapital zur Verfügung stellen können. Die Stiftung nutzt diese Chance und setzt über die bislang gewährte „Startförderung“ einer Lichtenberg-Professur hinaus einen klaren Anreiz: Verläuft die Zwischenevaluation nach Hintergrund vier Jahren erfolgreich, können zusätzlich bis zu eine Million Euro als Stiftungskapital fließen. Voraussetzung ist, dass die jeweilige Hochschule selbst mindestens drei Millionen Euro aus der Zivilgesellschaft einwirbt. Die Stiftung stellt damit sicher, dass sich die jeweilige Professur in ihrem Kernbereich aus den Erträgen des angesammelten Stiftungskapitals finanzieren lässt. Die stiftungsgeförderten Lichtenberg-Professuren, auf deren Reputation hier aufgebaut wird, sollen so dauerhaft finanzierbar werden – und bleiben damit nicht wie bisher auf fünf bis maximal acht Jahre begrenzt. Nähere Informationen unter www.volkswagenstiftung.de/fileadmin/downloads/merkblaetter/ MB_79_d.pdf. cj Impulse 02_2014 33 Wissen weitergeben: Das ist dem noch jungen, mit seiner Lichtenberg-Professur aber schon sehr erfolgreichen Forscher wichtig. An der Universität Mainz bietet er einige Seminare an. essanterweise ganz andere „Risiken“ in den Blick – um es gleich zu sagen: vermeintliche Risiken. So besteht die Furcht, ob bei unseren Experimenten im LHC kleine schwarze Löcher entstehen, und ob wir – wie in dem Buch „Illuminati“ von Dan Brown – Antimateriebomben im Collider bauen. Beides ist Unsinn. In diesem Sinne, dass aus den Experimenten etwas Gefährliches erwächst, ist meine Forschung vollkommen risikolos. Dann frage ich Sie: Weshalb halten Sie es für sinnvoll, so viel Geld – wir sprechen beispielsweise beim LHC von etwa drei Milliarden Euro – für Forschung auszugeben, bei der man weder weiß, ob sie tatsächlich neue Erkenntnisse liefert, noch ob diese Ergebnisse je von Nutzen sein werden? – würden die Teilchenphysik einen großen Schritt voranbringen. Diese Kombination aus Einzigartigkeit und Chance auf wissenschaftliche Nachhaltigkeit, das ist für mich der Kernaspekt, den ich auch Geldgebern zu vermitteln versuche. Und vielleicht war es eben das, was die VolkswagenStiftung überzeugt hat. Müssen Sie das Risiko, das Ihre Forschung birgt, manchmal vor Ihren Mitmenschen rechtfertigen? Sie arbeiten letztlich mit Steuergeldern – beziehungsweise mit Mitteln, die einem anderen Projekt dann eben nicht zur Verfügung stehen. Am CERN – in Mainz bin ich noch nicht lange genug, um solche Erfahrungen gesammelt zu haben – haben wir viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht und oft den Kontakt zu Nichtwissenschaftlern gesucht. Die beiden häufigsten Fragen, die bislang nach Vorstellung meiner Arbeit immer wieder an mich gerichtet wurden, rücken inter- 34 Es gibt immer Leute, die grundlegende Zusammenhänge verstehen wollen. Die Tatsache, dass die Erde um die Sonne kreist, hat keinen Einfluss auf irgendjemanden auf diesem Planeten, das ist für unser Leben vollkommen irrelevant. Trotzdem würde ich sagen, dass es eine unglaublich wertvolle kulturelle Leistung ist, herausgefunden zu haben, dass die Erde nicht das Zentrum des Kosmos ist. Und auf einer vergleichbaren Ebene bewegt sich unsere Forschung. Wir versuchen eben nicht weniger, als das Universum, in dem wir leben, in seinen Grundfesten zu verstehen. Das Problem ist, dass ich das jemandem, der das nicht fühlt, leider nur schwer vermitteln kann. Es gibt Menschen, die schauen sich die Sterne an, und dann fragen sie einfach nach ihrem Platz im Universum – und es gibt Menschen, die tun das nicht. Sind Sie über den Blick in die Sterne zur Teilchenphysik gekommen? Irgendwie schon. Ich hatte schon immer das Bedürfnis, darüber alles wissen und die großen Zusammenhänge verstehen zu wollen. Und in der 11. Klasse hing vor unserem Physikraum ein Plakat vom CERN. Das habe ich gesehen, gelesen – und ich wusste: Das will ich machen, da will ich hin, dort ist meine Zukunft. Das hat ja auch funktioniert. Aus dem kleinen Jungen, der mit großen Augen auf die Maschine blickt, ist ein gestandener Wissenschaftler geworden, der mit der Maschine umzugehen weiß, der seine Karriere meistert und dem es gelingt, mit etwas so Speziellem seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Hatten Sie eigentlich zu keinem Zeitpunkt Angst vor der eigenen Courage? Nein. Neben der risikobehafteten Forschung betreibe ich auch noch das klassische Brot-undButter-Geschäft. Selbst wenn meine Forschung keine neuen Erkenntnisse über das Higgs-Teilchen liefert, werde ich am Ende Detektoren entwickelt haben, die einmalig und einzigartig sind. Es gibt weltweit nur eine Handvoll Institute, die ebenfalls daran arbeiten. Diese Detektoren könnten zum Beispiel das Potenzial für medizinische Anwendungen haben, indem sie sehr effizient Röntgenstrahlen auf großen Flächen nachweisen. Damit lassen sich – unter Umständen – äußerst kostengünstige Röntgengeräte bauen. Wir haben zwar derzeit keine Anwendungen im Fokus unserer entsprechenden Projekte, aber das schmälert nicht den Reiz an dieser Grundlagenforschung. Der liegt auch hier einfach darin, Neues zu entdecken. Diese Offenheit führt dann dazu, dass letztlich durchaus Nebenprodukte entstehen können – so hoffentlich eine neue Generation Röntgengeräte für industrielle Anwendungen. Das Risiko als Chance für Innovationen? Sollte es mehr solcher Projekte und mehr Förderung dafür geben? Wenn Risiko hier im Sinne eines Plädoyers für gefährliche Forschung gemeint ist oder für Forschung, die neuen Gefahren Tür und Tor öffnet: nein. Dabei ist noch nie etwas Gutes herausgekommen. Aber wenn es um das Risiko geht, nach getaner Arbeit ohne das angestrebte Ergebnis dazustehen: ja. Ein Ergebnis bekommt man schließlich immer – denn auch wenn etwas nicht funktioniert, ist es gut zu wissen, dass es nicht funktioniert. Das ist ebenfalls ein wichtiges, ein wertvolles Ergebnis. Herr Schott, ich danke Ihnen für das Gespräch. „Ich hatte schon immer das Bedürfnis, alles über die Sterne und das Universum wissen und die großen, grundlegenden Zusammenhänge verstehen zu wollen“, sagt Schott, hier bei seiner morgendlichen Fahrt in die Uni. Angst vor der eigenen Courage habe er eigentlich nicht, auch wenn er wisse, dass er mit seiner Forschung scheitern könne. Impulse 02_2014 35 Hier dreht sich alles um Physik – genauer: darum, sie der interessierten Öffentlichkeit näherzubringen. Blick auf den beeindruckenden „Globe of Science and Innovation“, das Besu- Und hier dreht sich dann alles cherzentrum des Europäischen nur noch um die reine Physik: Teilchenforschungszentrums CERN nahe Genf in der Schweiz. Blick in den Large Hadron Collider. Der LHC als größter Teilchenbeschleuniger der Welt ist das Herz der 27 Kilometer langen Anlage; er verläuft in rund 100 Metern Tiefe. Forscherinnen und Forscher aus aller Welt, die etwas über den Aufbau der Materie wissen wollen, schätzen die einzigartigen Möglichkeiten, die dieser Ort ihnen bietet. Der Large Hadron Collider (LHC) am CERN in Genf Wer das Europäische Teilchenforschungszentrum CERN in der Nähe von Genf betritt, merkt schnell, dass sich hier alles um Physik dreht. Überall trifft man auf Nobelpreisträger und bekannte Naturwissenschaftler. Die Forscher am CERN beschäftigen sich mit Teilchen, die ihnen etwas über den Aufbau der Materie verraten. Um die Geheimnisse des Mikrokosmos zu entschlüsseln, nutzen sie den größten Teilchenbeschleuniger der Welt: den LHC (Large Hadron Collider). Er verläuft in einer Tiefe von etwa 100 Metern im Grenzgebiet zwischen Frankreich und der Schweiz;. 27 Kilometer Länge misst die riesige Röhre. Die „Aufgabe“ des LHC: mehr über die Bausteine der Materie und die Vergangenheit unseres Universums herauszufinden. Dafür lassen die Wissenschaftler in dem Ring zwei Teilchenstrahlen nahezu mit Lichtgeschwindigkeit kreisen und an vier Stellen aufeinanderprallen – und zwar mit einer derart hohen Energie, wie sie kein anderer Beschleuniger erreicht. An den Stellen, an denen es kracht, entstehen Zustände wie kurz nach dem Urknall; auf allerkleinstem Raum wird es um ein Vielfaches heißer als im Inneren der Sonne. Detektoren zeichnen auf, was passiert. 36 Seit 2009 ist der LHC in Betrieb. Mitte 2012 konnten die Wissenschaftler ihren bis jetzt größten Erfolg vermelden: die Entdeckung eines Higgs-ähnlichen Teilchens. Dass es sich um das lang gesuchte Teilchen handelt, das erklären soll, wie andere Teilchen zu ihrer Masse kommen, kann inzwischen als gesichert gelten. Doch um welches genau, das steht noch nicht fest: um das vom Standardmodell vorhergesagte oder womöglich sogar um eines von mehreren Higgs', die gemäß einer anderen Theorie, der Supersymmetrie, existieren. Um diese Frage zu beantworten, sind noch mehr und präzisere Auswertungen notwendig. Diese erfolgen fortlaufend, wurden doch bis Ende 2013 reichlich Daten am LHC gesammelt mit dem Ziel, das neu entdeckte Higgs-Teilchen mehr im Detail kennenzulernen, zu vermessen – und um zu schauen, ob es wirklich die in den 1960er-Jahren von Peter Higgs prognostizierten Eigenschaften hat. Anfang 2014 wurde der Riesenbeschleuniger abgeschaltet; zurzeit wird er gewartet. Etwa zwei Jahre haben Forscher und Techniker nun Zeit, an dem Tunnel und den großen Detektoren zu bauen, um dessen Leistung zu verbessern. Etwa Anfang 2016 soll er dann wieder anlaufen und eine deutlich höhere Kollisionsenergie ermöglichen. Mit einer Höchstleistung von 14 Tera-Elektronenvolt kann der LHC künftig betrieben werden: Mehr als 11.200 Mal pro Sekunde rasen die Protonen dann durch den Beschleunigerring. Das gibt der Wissenschaft die Chance, ganz neue Teilchen zu finden. Teilchen, die es vielleicht im Standardmodell gar nicht gibt – etwa die Dunkle Materie. Auf der Suche nach noch mehr Teilchen – und: einer neuen Theorie Physiker liebäugeln derzeit mit einer Theorie namens Supersymmetrie. Diese geht über das Standardmodell hinaus, kann also mehr erklären. Sie setzt jedoch voraus, dass es noch ein ganzes Bündel weiterer Teilchen gibt, die alle ziemlich schwer sein müssten. Eines von ihnen könnte der Grundbestandteil jener rätselhaften Dunklen Materie sein, die 80 Prozent der Materie des Universums ausmachen soll und die hilft, die Bewegung von Galaxien zu beschreiben. Ein entsprechender Nachweis wäre eine noch weit größere Sensation als die Entdeckung des HiggsTeilchens. Die Pläne für den Large Hadron Collider reichen aber noch weiter. Um 2020 soll er noch ein weiteres Mal massiv umgebaut werden mit dem Ziel, etwa fünf- bis zehnmal mehr Teilchen kollidieren lassen zu können. Dann würde man entsprechend fünf- bis zehnmal mehr Messdaten sammeln, und das wiederum steigert die Chance, neue Phänomene zu entdecken. Darüber hinaus gibt es Pläne, einen ganz neuen Teilchenbeschleuniger zu bauen, mit dem sich das Higgs-Boson weit genauer als derzeit möglich analysieren ließe. Der LHC feuert Wasserstoffkerne aufeinander – eine relativ unsaubere Methode, um Teilchen zu erzeugen und vor allem, sie dann zu studieren. Viel präziser wäre es, Elektronen und ihre Antiteilchen, die Positronen, kollidieren zu lassen. Die dazu erforderliche neue Maschine wäre dann kein Ring mehr, wie der LHC, sondern eine schnurgerade Anlage – geschätzt mindestens 20 Kilometer lang, womöglich noch länger. Vor dem Hintergrund der zu erwartenden Kosten von derzeit prognostiziert mindestens fünf Milliarden Euro soll aktuell einzig Japan Interesse am Bau solch einer Anlage zeigen. C hristian Jung Impulse 02_2014 37 Die Perspektiven des „Arabischen Frühlings“ Es beginnt mit einzelnen Protesten und wird zum Lauffeuer. Anfang 2011 blickt die Welt wie gebannt auf die Ereignisse im arabischen Raum, wo mit unbändiger Wucht die Rufe nach mehr Freiheit und Demokratie laut werden. Für unabhängige Wissenschaft und Forschung in solch einer Region braucht es vor allem eines – Mut! Sana‘a, Jemen, in den ersten Wochen des Jahres 2011: Auf dem Platz vor der Universität sind Demonstranten aus allen Regionen des Landes zusammengekommen. Sie bleiben vier Monate, beten gemeinsam, teilen Mahlzeiten und debattieren die Zukunft ihres Landes. 38 Impulse 02_2014 39 Seit 2011 zeigt sich vor allem die westliche Welt überrascht von den Umbrüchen in Nordafrika und im Nahen Osten. Niemand hatte für möglich gehalten, dass zivilgesellschaftliche Prozesse dort derart schnell und dynamisch an Fahrt gewinnen könnten. Die VolkswagenStiftung hat seinerzeit umgehend eine die Situation aufgreifende Ausschreibung zu den „Transformationsprozessen in der arabischen Welt“ auf den Weg gebracht. Die Forscherinnen und Forscher der fünf im Jahr 2012 ausgewählten, mit 1,1 Millionen Euro geförderten Kooperationsvorhaben zeigen, dass es für Wissenschaft nicht nur kluge Köpfe braucht, sondern oft auch eine gehörige Portion Risikobereitschaft, Unerschrockenheit oder ganz einfach – Leidenschaft. Oliver Schlumberger beginnt mit einem Eingeständnis: Er selbst, sagt der Nahost-Experte von der Universität Tübingen, habe noch im Jahr 2010 die Proteste nicht vorhergesehen, die schon bald darauf im arabischen Raum aufflammen sollten, und niemand hätte angenommen, dass es zuerst in Tunesien passieren würde. Aber dass die Bevölkerung sich irgendwann erheben würde, das immerhin habe man kommen sehen müssen. University in Kairo, Ägypten, und Dr. Saloua Zerhouni von der Université Mohammed V in Rabat, Marokko. In jedem Team sind zudem Doktoranden eingebunden – in Tübingen beispielsweise die Nachwuchswissenschaftlerin Kressen Thyen. Nach den Aufständen sollte dann vieles nicht mehr so sein wie zuvor. In so manchem Land in der Region waren die Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Strukturen in ihren Ländern zu protestieren. Viele riskierten ihr Leben, einige verloren es. Im Nachhinein dürfe niemand über die Zuspitzung der Situation in der arabischen Welt überrascht sein, meint der Politikwissenschaftler. Es handele sich schließlich um die „weltweit dauerhaft am unfreisten regierte Region“. Er selbst hat ausgerechnet, dass sich die Herrschaftsjahre der Potentaten von Nordafrika bis zum Golf auf mehr als 400 Jahre kumulieren – „ein wahrhaft pharaonisches Ausmaß“. Im Fokus der Forscher: marokkanische und ägyptische Jugendliche im Alter von 16 bis 35 Jahren. In beiden Ländern gelten die jungen Leute in ihrem Aufbegehren als Träger der Proteste. „Ironischerweise wurden sie in der Forschung bisher völlig vernachlässigt“, sagt die ägyptische Politologin Nadine Sika. „Deshalb ist die Studie so wichtig. Wir wollen verstehen, in welcher Weise sich junge Leute politisch engagieren und inwieweit sie in die institutionalisierte Politik involviert sind.“ Das Projekt von Professor Dr. Oliver Schlumberger vom Institut für Politikwissenschaft, Arbeitsbereich Vorderer Orient und Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Tübingen ist eines der fünf Gemeinschaftsvorhaben, die die Stiftung im Zuge ihrer Ausschreibung für Begleitforschung zu den aktuellen Entwicklungen im arabischen Raum fördert. Kooperationspartner sind die Professorinnen Dr. Nadine Sika von der American 40 Die mutige Jugend Arabiens: das Beispiel Marokko und Ägypten Die sozialen Profile und politischen Einstellungen der Zielgruppe sowie ihre Haltung zu Parteien und staatlichen Institutionen ergründen die Forscher anhand von Fragebogen und Tiefeninterviews. Für die deutsche Seite war dabei nicht zuletzt von Interesse, wie die Rolle westlicher Geberinstitutionen eingeschätzt wird. Gerade nach den Vorfällen in Ägypten um im Land aktive Organisationen wie beispielsweise die Konrad Adenauer Stiftung wollten die Wissenschaftler herausfinden, wie junge Leute das Engagement solcher und vergleichbarer Institutionen in ihren Ländern wahrnehmen und bewerten. Inmitten der gesellschaftspolitischen Umbruchsituation in Ägypten und Marokko unterlag die Forschung besonderen Bedingungen. Eine entscheidende Frage war, welche Art der Datenerhebung sich überhaupt vor Ort umsetzen lässt. Zum Teil erzwangen die politischen Rahmenbedingungen Abstriche an der ursprünglich geplanten Methode. So musste etwa in Ägypten die quantitative Komponente des Projekts, also die Erhebung mittels Fragebogen, auf die Universität in Kairo und drei weitere Hochschulen beschränkt werden. Dabei hatten die Wissenschaftler noch Glück, denn ein Gesetz, das von ausländischem Geld geförderte Erhebungen mittels Fragebogen an staatlichen Universitäten des Landes verbietet, wurde glücklicherweise erst kurz nach Abschluss der Umfrage vor Ort erlassen. „Wir arbeiten in Ländern, in denen Rechtstaatlichkeit nicht garantiert und der Wert unabhängiger Forschung nur selten anerkannt ist“, sagt Oliver Schlumberger. „Wir fokussieren ein sich bewegendes Ziel, da sich die Länder mitten in einem Transformationsprozess befinden. Der Forschungsverlauf ist in solch einem Umfeld nicht immer planbar.“ Trotz der methodischen Herausforderungen verlief das Projekt „Arab Youth: From Engagement to Inclusion?“ bislang ausgesprochen erfolgreich. So konnten die Wissenschaftler das selbstgesteckte Ziel von 300 Befragungen pro Land weit übertreffen. Knapp tausend waren es am Ende in Marokko, 660 in Ägypten. Im Oktober 2013 präsentierte das Team Zwischenergebnisse bei der Middle East Studies Association of North America (MESA), der weltweit wichtigsten wissenschaftlichen Tagung zu Nahost- und Mittelost-Forschung. „Das Projekt erfährt inzwischen erhebliche Aufmerksamkeit und positive Resonanz“, fasst Schlumberger zusammen. So Die Forschungspartnerinnen und -partner aus Marokko und Ägypten werden von ihren deutschen Kollegen zum ersten Projektworkshop erwartet: Professor Oliver Schlumberger (oben in der Bibliothek des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Tübingen) und die Projektmitarbeiterinnen Kressen Thyen (links) und Stephanie Wagner (rechts) bei der Detailplanung des Besuchs. Impulse 02_2014 41 Marie-Christine Heinze und Professor Stephan Conermann sorgen sich um den Jemen, der seit Anfang 2011 nicht zur Ruhe kommt. Täglich haben sie von ihren Büros in Bonn aus aber durchaus auch aufmunternden Kontakt zu ihren Projektpartnern. Marie-Christine Heinze hat mehrfach hautnah im Jemen erfahren, was Forschen in riskantem „Umfeld“ bedeutet. gebe es Interesse renommierter Verlage an der Veröffentlichung einer Monografie und – bereits konkreter – das Angebot der Herausgeber der Fachzeitschrift „Journal of North African Studies“, ein Sonderheft oder eine „special section“ den Projektergebnissen der Gruppe zu widmen. „Das Tübinger Vorhaben steht auch beispielhaft für die Intention der Stiftung, im Zuge der Ausschreibung Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler deutscher Hochschulen zu animieren, gemeinsam mit Partnern in der Zielregion die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Perspektiven der Ereignisse zu untersuchen“, sagt Dr. Anika Haverig, die bei der Stiftung die geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Vorhaben der Afrika-Initiative betreut. „Selten bietet sich zudem für die Wissenschaft eine solche Gelegenheit, entsprechende Entwicklungen begleitend zu erforschen; noch seltener, dies auf Augenhöhe mit Partnern vor Ort zu tun.“ Zwei Jahre nach Beginn der fünf Projekte kann ohne Zweifel das Ziel als eingelöst gelten, Wissenschaftler aus Deutschland und dem arabischen Raum stärker zu vernetzen. Die Voraussetzungen dafür waren auch gut: Schon gleich zum Start ihrer Projekte, im Februar 2012, hatte die VolkswagenStiftung die insgesamt rund hundert beteiligten Forscherinnen und Forscher nach Leipzig zu einer Auftaktkonferenz eingeladen. Und schon damals ging es darum, Möglichkeiten des weiteren Engagements der Stiftung für die geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Forschung in Nordafrika und im arabischen Raum zu diskutieren. „Als Stiftung, die sich als Impulsgeberin für die Wissenschaft versteht, wollten wir die Konferenz auch dazu nutzen, eine größere Ausschreibung für multilaterale Forschungsprojekte bestmög- 42 lich vorzubereiten“, sagt Dr. Almut Steinbach. Die Leiterin des Förderbereichs „Internationales“ bei der VolkswagenStiftung verdeutlicht, welch große Chancen sich für beide Seiten, Deutschland wie die Region Nordafrika und Arabien, mit dem Angebot aufgetan haben. Wie man solche Chancen nutzen kann, zeigt ein weiteres der fünf Vorhaben der Pilotphase; es richtet den Blick auf den Arabischen Frühling in einem anderen Teil der Region: „Framing the Revolution in Yemen“. Der Jemen: Risikoland für die Stabilität einer ganzen Region? Gerade bei Projekten, die in geografisch riskantem Umfeld platziert sind, ist es für die Wissenschaftler wichtig, eine Struktur im Hintergrund zu wissen, die ihre „Risikokalkulation“ mitträgt. Dies war von großer Bedeutung für das Team des Gemeinschaftsvorhabens im Jemen – einem Land, das manchem inzwischen als Risikoherd für die Stabilität einer ganzen Region gilt. „Der Jemen steht am Scheideweg“, sagt Projektmitarbeiterin Marie-Christine Heinze. Falls es nicht gelinge, das überaus komplexe Gleichgewicht der verschiedenen Interessengruppen neu auszuhandeln, drohe ein Bürgerkrieg. „Die Leute warten seit Jahren auf Veränderungen, aber sie sehen keine.“ Stattdessen gibt es eine wirklich dramatische humanitäre Krise: Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, ein großer Teil der Bevölkerung hungert. Ansatzpunkte genug also, um die ausufernde Gewalt im Lande zu erklären. Forscht man in diesem Land, gehören Wohnungswechsel, täglich variierende Schleichwege und ständig drohende Überfälle oder gar Entführungen zum Alltag. Seit September 2012 arbeiten Marie-Christine Heinze und Professor Dr. Stephan Conermann von der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn gemeinsam mit ihrem jemenitischen Partner, dem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Yemen Polling Center, zu den aktuellen politischen Entwicklungen im Land. Dort ringen seit dem Auftakt der Proteste im Januar 2011 verschiedene politische Kräfte um entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der Zukunft im Land. Beteiligt sind Anhänger und Gegner des Ex-Präsidenten, die Sunniten und Repräsentanten der schiitischen Huthis, Muslimbrüder, Salafis und westlich orientierte Intellektuelle. Es mischen sich Gruppen ein aus dem gebirgigen Norden, wo die Regierung kaum Macht hat, aus dem ehemals sozialistischen Süden, der sich seit der Wiedervereinigung vor 23 Jahren dauerhaft benachteiligt fühlt, aus dem von Wüsten gezeichneten Osten – dort liegen die wichtigen Ölquellen. Im Zentrum der Untersuchung steht die umfangreiche Dokumentation der Aktivitäten auf dem Change Square, dem Platz des Wandels – zentraler Ort der Proteste in Jemens Hauptstadt Sana’a. Ziel ist es, eine weltweit zugängliche Plattform zu schaffen, die belastbare Daten über die politischen Prozesse bereithält. Die Website Stiftungsengagement für den arabischen Raum Die im Jahr 2012 vorgelegte Ausschreibung „Staat, Gesellschaft und Wirtschaft im Wandel – Multilateral-kooperative Forschungsvorhaben im arabischen Raum“ zielt auf die Erforschung der zivilgesellschaftlichen Transformationsprozesse in der Region. Darüber hinaus sollen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland und dem arabischen Raum sowie Forschungspartner innerhalb Arabiens untereinander stärker vernetzen; zudem soll der akademische Nachwuchs vor Ort durch die geförderten Projekte wissenschaftlich ausgebildet werden und auch übergreifend davon profitieren. Seitdem unterstützt die VolkswagenStiftung fünf Kooperationsprojekte deutscher mit arabischen Wissenschaftlern – sie sind in den Beiträgen vorgestellt. Als Reaktion auf die anhaltenden Umbrüche in der arabischen Welt entschloss sich die Stiftung umgehend, ihr Engagement in der und für die Region auszuweiten. Entsprechend legte sie im Jahr 2013 eine zweite Ausschreibung auf, mit der sie Forscher aus dem Bereich der Gesellschaftswissenschaften, insbesondere den Sozialund Politikwissenschaften sowie der Geografie Hintergrund adressierte. Sie können sowohl die aktuellen Transformationsprozesse in der arabischen Welt untersuchen als auch die derzeitigen Umbrüche mit (früheren) Transformationsprozessen in anderen Regionen der Welt vergleichend betrachten. Neben dem deutschen Partner einer hiesigen Forschungsinstitution sollten Wissenschaftler aus mindestens zwei arabischen Ländern beteiligt sein, um auch die Vernetzung in der Region bestmöglich zu fördern. Im Frühsommer 2014 wurde über die Projektvorschläge entschieden: Drei Vorhaben, gefördert mit insgesamt rund 1,18 Millionen Euro, sind seitdem neu am Start. cj Ohne ihre Netzwerke im Jemen und ihren Mut wäre das Projekt nicht durchführbar, sagen deutsche wie arabische Wissenschaftler über ihre Bonner Kollegin. Impulse 02_2014 43 „Voices of Change in Yemen. A History of the Present“ soll alles Relevante bündeln: O-Töne, Zeitungsartikel, politische Pamphlete, Fotos und Videos von Demonstrationen oder politischen Theaterstücken – also letztlich all jene Ausdrucksformen, derer sich die verschiedenen Akteure im Jemen, seien es etablierte Parteien oder Jugendgruppen, bedienen. „Die soziale Ordnung im Land ist in einem Aushandlungsprozess, dessen Ergebnis nicht abzusehen ist“, sagt Stephan Conermann, Professor für Islamwissenschaften am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn. „Um wirklich zu verstehen, was vor Ort vor sich geht, setzen wir auf der Mikroebene an und beobachten, wie die einzelnen Kräfte interagieren.“ Der Jemen ist für MarieChristine Heinze nicht nur bloßes Forschungsthema. Überall in ihrem Büro zeugen Geschenke oder Mitbringsel von Aufenthalten in der Region – ob kunstvoll gestaltete Krummdolche oder wertvolle Stoffe, Fachbücher, verschiedene Medien und andere Preziosen mehr. Für die Umsetzung des Projekts ist auf jemenitischer Seite der Nachwuchswissenschaftler Abdulsallam Alrubaidi mit der Redaktion der Website betraut. Er ist Mitarbeiter am Yemen Polling Center und Doktorand am Institut für Arabische Literatur der Universität Sana’a. Die elektronische Plattform soll all jenen, die aus Sicherheitsgründen nicht selbst in das Land reisen können, einen Zugang verschaffen zu möglichst authentischem Material; sie bildet damit die Basis für eine wissenschaftliche Analyse der Ereignisse im Jemen. „Die Website repräsentiert sowohl die Starken als auch die Schwachen“, sagt Abdulsallam Alrubaidi. „Sie bietet Forscherinnen und Forschern einen objektiven Zugang zu den Stimmen verschiedener Akteure im Land.“ Seit Beginn des Projektes hat er bereits mehrere Rückmeldungen von Wissenschaftlern aus aller Welt erhalten, die die Quellen auf der Website für ihre Arbeiten nutzen konnten. Im Juni 2013 gelang es dem Team darüber hinaus, jemenitische Wissenschaftler verschiedener Fachbereiche zu einem Workshop zu versammeln. Das Treffen war die erste interdisziplinäre Veranstaltung im Jemen, bei der die politische Lage aus wissenschaftlicher Perspektive analysiert wurde. Aus den Beiträgen soll ein Sammelband auf Arabisch entstehen, der nicht zuletzt den beteiligten jungen jemenitischen Wissenschaftlern ein Forum bietet, auf akademischem Niveau zu publizieren. Ein Projekt wie Framing the Revolution in Yemen, das unter solch riskanten Bedingungen in der Region umgesetzt wird, hat nur dann eine Chance auf gutes Gelingen, wenn die Strukturen innerhalb des Projekts stimmen. Marie-Christine Heinze, die häufig im Jemen unterwegs ist, hat bereits für ihre Doktorarbeit in diesem Land geforscht. Seitdem ist sie mit den lokalen Gegebenheiten vor Ort vertraut. Auch wenn sie zwischendurch immer mal wieder in Deutschland ist, bleibt die Forscherin in Kontakt mit Freunden und Bekannten im Jemen und analysiert das Geschehen genau. Im ständigen Austausch mit ihren Partnern vom Yemen Polling Center verfolgt sie, wie Gegenwart zu Geschichte wird. Bereits in früheren Kooperationen hatte sich das Polling Center als zuverlässiger Partner erwiesen – einer, mit dem es vertrauensvoll möglich ist, wissenschaftlich unabhängig zu arbeiten. Mehrere jemenitische Kleider zieren die Wände des Büros der engagierten Wissenschaftlerin. Innerhalb Deutschlands bedeutend sind die Bestände an Fachliteratur zu den Islamwissenschaften, die die Bonner Universitätsbibliothek vorhält – ein Ort, an dem Marie-Christine Heinze sich gern aufhält. Unabdingbar ist der jemenitische Partner auch, wenn es darum geht, Daten außerhalb Sana’as zu erheben. Trotz der guten Vernetzung sind Reisen ins Landesinnere für die Partner aus dem Westen und selbst für eine so erfahrene Forscherin wie Marie-Christine Heinze unmöglich. Entführungen und das Erpressen von Lösegeld sind seit Jahren ein lukratives Geschäft. „Die eigene Sicherheit hat jedoch viel damit zu tun, wie man sich vor Ort bewegt“, sagt sie. „Man muss unvorhersehbar bleiben, für die alltäglichen Wege neue Strecken gehen und vertrauenswürdige Taxifahrer kennen.“ Auch ihre Unterkunft hat die engagierte, mutige Forscherin aus Sicherheitsgründen mehrfach wechseln müssen: zuletzt aus einer wohlhabenden Wohngegend mitten hinein in die engen Gassen von Sana’as Altstadt; dorthin, wo die Straßen zu eng sind für die Autos der Kidnapper. Trotz der Risiken sah das Team letzlich aber keinen Grund, die geplante Feldforschung nicht umzusetzen. „Ohne die Netzwerke von Marie-Christine Heinze und die etablierte Position des Yemen Polling Center wäre das Projekt allerdings nicht möglich gewesen“, sagt Stephan Conermann und betont, dass die Sicherheit der Mitarbeiter bei der Planung stets an oberster Stelle gestanden habe. 44 „Wir haben die Risiken, im Jemen zu arbeiten, sehr ernst genommen. Entscheidend war dann aber, wie gut die Netzwerke vor Ort funktionieren.“ Auch müsse man sich darüber im Klaren sein, dass eine Veränderung der lokalen Gegebenheiten und Bedingungen immer auch das Aus der Forschung bedeuten könne. „Es ist deshalb wichtig, eine Förderinstitution hinter sich zu wissen, die die Relevanz des Ganzen erkennt und mit den Wissenschaftlern gemeinsam bereit ist, das Wagnis einzugehen“, sagt Stephan Conermann. Vor allem die internationalen Partner schätzen den Mut der deutschen Kollegen und ihrer Geldgeber. „Es geht bei unserem Vorhaben darum, gemeinsam etwas zu erreichen“, sagt Abdulsallam Alrubaidi vom Yemen Polling Center. „Ich bin davon überzeugt, dass das, was wir tun, im Interesse meines Volkes ist. Und im Interesse der Wissenschaft.“ Überzeugt ist davon auch die Stiftung; sie setzt ihr Engagement für die Region fort. Mit der Ausschreibung „Staat, Gesellschaft und Wirtschaft im Wandel“ (siehe Kasten auf Seite 43) hat sie 2013 der Wissenschaft hier wie dort ein zweites Angebot für multilaterale Forschung im arabischen Raum unterbreitet. Melanie Gärtner (Text) // Daniel Pilar (Fotos) Impulse 02_2014 45 Mit dem Auftakt der Proteste im Januar 2011 ringen im Jemen verschiedene politische Die Zeitenwende nimmt ihren Anfang in einer Zeltstadt, die Studierende vor der Universität Kräfte darum, die Zukunft in Sana‘a errichten. Doch Jemens des Landes in ihrem Sinne Regierung geht schon bald brutal zu gestalten. Unüberhörbar gegen oppositionelle Kräfte vor. erschallten vom „Platz des Bei einem Massaker an Demon- Wandels“ schon bald Rufe stranten sterben Mitte März 2011 nach dem Sturz des Regimes. in Sana‘a über fünfzig Menschen. Mit der Hoffnung auf Reformen – die drei weiteren Projekte Im Namen der Freiheit haben die Menschen in Tunesien, Ägypten und Libyen ihre Herrscher abgeschüttelt, in Syrien kommt es unvermindert zu Tumulten, und in einigen anderen arabischen Staaten wächst ebenfalls der Druck auf die autoritären Regime. Wie wird sich die Lage in den Ländern der Region weiter entwickeln? Die Bürger lehnen sich auf gegen politische Willkür, militärische Übergriffe, Menschenrechtsverletzungen, Korruption, hohe Arbeitslosigkeit, ein marodes Bildungssystem und steigende Nahrungsmittelpreise. Steht die arabische Welt am Scheideweg? Drei weitere von der Stiftung in der ersten Ausschreibung zu den Demokratisierungsprozessen im arabischen Raum geförderte Projekte adressieren diese Frage in jeweils spezifischer Ausrichtung. Bevölkerung auf den Barrikaden: die Situation in Syrien und Bahrain Es beginnt als friedlicher Protest: Ab März 2011 gehen in Syrien Menschen für politische Reformen auf die Straßen. Anfangs sind es nicht viele, doch durch das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte und mehrere hundert Tote wächst die Protestbewegung rasant. Gleichzeitig beginnen Soldaten der regulären Armee zu desertieren und gegen das Assad-Regime zu kämpfen. Ende Juli 2011 wird die Rebellenarmee FSA (Freie Syrische Armee) gegründet. Die anfangs noch recht klaren Bürgerkriegsfronten zersplittern zusehends. Syrische Kurden und Al-Kaida-nahe Dschihadisten kämpfen für eigene Interessen – teilweise gegen die Rebellen der FSA. Ein Jahr nach Beginn der Proteste, im Februar 2012, zählen die Vereinten Nationen 5000 Bürgerkriegstote, ein Jahr später 55.000, 46 Ende 2013 weit über 100.000 Menschen. Mindestens viereinhalb Millionen Menschen sollen Anfang 2014 innerhalb Syriens auf der Flucht sein, rund drei Millionen haben das Land verlassen. Mitte 2012 startete ein Vorhaben, dessen Interesse der Macht(ver)teilung in den multiethnischen Gesellschaften des Nahen Ostens gilt: insbesondere in Bahrain und eben – in Syrien. Dafür interessiert sich eine Forschergruppe um Professor Dr. Henner Fürtig vom GIGA Institut für NahostStudien in Hamburg. In Bahrain und Syrien beeinflussen ethnische und konfessionelle Gegensätze die Konflikteskalation zwischen Regime und Opposition. Der schwierigen Lage und dem Bürgerkrieg hier (Syrien) sowie der drohenden Gefahr einer Eskalation dort (Bahrain) zum Trotz suchen einige politische Akteure in beiden Ländern nach Optionen für eine friedliche Transformation. Länder wie der Irak und der Libanon, deren Bevölkerung in der Vergangenheit Vergleichbares durchlitten hat, dienen den Forschern als Referenzrahmen – auch im Hinblick darauf, ob sich von ihnen lernen lässt. Der Titel des Vorhabens: „Power-sharing in multiethnic societies of the Middle East. What can Bahrain and Syria learn from Iraq and Lebanon?” Die Freiheit der Hochschulen in Ägypten und im Libanon Wie ist es um die akademische Freiheit an verschiedenen sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten an Universitäten in Ägypten und im Libanon bestellt? Diese Frage interessiert eine Forschergruppe um Professor Dr. Stefan Reichmuth von der Ruhr-Universität Bochum. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehmen dabei insbesondere die wechselseitigen Beziehungen zwischen institutioneller und individueller Autonomie in den Blick und untersuchen, welche Folgen die derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Umbrüche auf die akademische Freiheit haben. „Es geht zum Beispiel um die Frage, wie autonom über Forschungsmittel verfügt werden kann oder wie frei Lehrinhalte und Curricula bestimmbar sind – und letztlich auch darum, wie frei Forschungsinhalte festgelegt werden können“, erläutert Reichmuth. Wichtig ist den Projektbeteiligten darüber hinaus, dass Wissenschaftler aus der arabischen Welt auf Einladung zum Austausch nach Deutschland kommen können, fügt der Islamwissenschaftler hinzu. Dafür könne von Deutschland aus noch einiges mehr an Unterstützung geleistet werden. „Viele unserer wissenschaftlichen Partner haben derzeit große Schwierigkeiten, überhaupt Visa für Deutschland zu erhalten.“ Der Titel des Vorhabens: „Local, Regional, and International? Borrowing and Lending in Social Sciences and Humanities Departments at Egyptian and Lebanese Universities”. Die Rolle des Militärs in Ägypten, Jordanien, Syrien und im Sudan Dr. Elke Grawert vom Bonn International Center for Conversion und ihre Forschergruppe richten ihren Fokus auf die Rolle des Militärs in den vier Ländern Ägypten, Jordanien, Syrien und im Norden Sudans. Alles in allem sollen die Erkenntnisse Aufschluss geben über die Haltung der jeweiligen Armee gegenüber den Protestbewegungen. Die Palette der Positionierung reicht dabei von Unterstützung über Untätigkeit bis hin zu gewaltsamer Unterdrückung. Für die autoritären Regime stellen die Armeen in politischer, sozialer wie ökonomischer Hinsicht eine tragende Säule dar. Insbesondere fokussieren die Wissenschaftler in ihrem Projekt die wirtschaftlichen Interessen, die das Militär in den Ländern verfolgt. Wer hat in diesem Kontext welchen Einfluss in Ägypten, Syrien, Jordanien und im nördlichen Sudan? „Mit Kooperationspartnern aus den vier Ländern, die sowohl aus der Friedens- und Konfliktforschung als auch der Ökonomie kommen, nehmen wir uns besonders die wirtschaftlichen Akteure, die Wirtschaftseliten und deren Interessen vor – wie diese sich im laufenden Umbruchprozess gestalten“, sagt Grawert. Die Neuverteilung von Geld in der Region sei ohne Zweifel ein grundlegendes Thema für Sozialwissenschaftler. „Wie der Besitz den Herrn wechselt. Das ist das A und O von Demokratie. Wohin gehen die Milliarden in den Ländern? Gibt es Enteignungen, und wie verteilen sich Besitz und Nicht-Besitz – zum Beispiel im ‚neuen Ägypten‘?“ Das alles definiere die künftige Struktur in den Ländern entscheidend mit, schreiben die Beteiligten. Solche Forschung könne nur jetzt gemacht werden; zudem sei sie insbesondere für die Kooperationspartner aus den arabischen Ländern nicht ungefährlich, sagt Elke Grawert. „Noch ist die Freiheit der Forschung in den arabischen Staaten nicht das, was hierzulande darunter verstanden wird!“ Der Titel des Vorhabens: „Economic Interests and Actors in Arab Countries and Their Role during and after the Arab Spring”. Christian Jung Impulse 02_2014 47 Erkundung des Extremen Sie sind selten, doch wenn sie auftreten, sind die Auswirkungen zumeist verheerend: Megakatastrophen richten enorme Schäden an. Interdisziplinäre Forscherteams entwickeln neue Methoden, mit denen sich die Risiken besser abschätzen lassen. Professor Norbert Hoffmann vom Institut für Wellenphysik der Technischen Universität Hamburg-Harburg am 15 Meter langen Wellenkanal der Hochschule. Sein Interesse gilt sogenannten Kaventsmännern: Er erforscht mit seinem Team, wie es zu solchen Riesenwellen kommt. 48 Impulse 02_2014 49 Heftige Hurrikane, riesige Monsterwellen, zerstörerische Erdbeben – aber auch ausufernde Algenblüten, Stromausfälle ganzer Städte, Börsencrashs und epileptische Anfälle: All diese Phänomene sind extreme Abweichungen von der Norm. In der Regel geschehen sie völlig unvorhergesehen, oft mit katastrophalen Folgen. Bislang fehlte es vor allem an geeigneten Modellen, solche Vorkommnisse möglichst genau erfassen zu können – mit dem Ziel, sie eines Tages verlässlich vorherzusagen. Vor diesem Hintergrund startete die VolkswagenStiftung Ende 2009 die Ausschreibung „Extremereignisse: Modellierung, Analyse und Vorhersage“. Acht Forscherteams waren mit ihren Projektideen erfolgreich. Gut drei Jahre nach dem Start der Vorhaben zeigen Besuche in ihren Labors: Was mit einem kleinen Wettbewerb der Stiftung begann, könnte bald schon global von großem Nutzen sein. Die Materie ist schwer zu fassen: Desaster wie erschütternde Beben, heftige Vulkanausbrüche oder Superstürme treten nur selten auf, manchmal nur alle paar Jahrzehnte. Dadurch mangelt es den Experten an Daten, anhand derer sie sattelfeste statistische Aussagen treffen könnten. Außerdem laufen die Katastrophen oft nach komplexen, schwer durchschaubaren Regeln und Prozessen ab. Zuweilen genügen kleinste Ursachen, um eine enorme Wirkung zu entfalten – das Prinzip der Chaostheorie. Trotz dieser Hemmnisse macht die Forschung Fortschritte. Immer besser gelingt es, jene Formeln und Gesetzmäßigkeiten zu enträtseln, auf deren Grundlage sich Extremereignisse beschreiben lassen. Welche Regionen sind besonders erdbebengefährdet, an welchen Küsten drohen verheerende Tsunamis, wann muss ein Patient mit einem epileptischen Anfall rechnen? Oft finden sich zur Beantwortung solcher Fragen interdisziplinäre Teams zusammen – Mathematiker kooperieren mit Medizinern, Physiker mit Biologen, Informatiker mit Geoforschern. Im Zusammenspiel ihrer jeweiligen Expertisen bilden sich neue Theorien. Und es zeigt sich: Sie sind extrem hilfreich, Risiken Schritt für Schritt besser abschätzen zu können. Für manche Szenarien gelingt das inzwischen recht genau, für andere – noch – weniger. Den Hamburger Forschern ist es gelungen, im Labor die Entstehung der gefürchteten Monsterwellen nachzubilden. Damit rückt auch eine bessere Vorhersage in Reichweite. Zum Team gehören (von links): Sönke Neumann, der hier ein Instrument zum Messen der Wellenhöhe installiert, Arne Wenzel, Professor Norbert Hoffmann, Andy Witt. 50 Ein Prüfstand für Hafenkräne, ein Testbecken für Unterwasserroboter, der Wellenkanal: Die große „Mehrzweckhalle“ des Instituts für Wellenphysik der Technischen Universität Hamburg-Harburg bietet Forschern neueste Technik und viel Platz, ihre Theorien zu überprüfen. Nehmen wir als Beispiel das Auftreten einer Monsterwelle, ein ebenso eindrucksvolles wie beängstigendes extremes Ereignis. Lange Zeit hielt man solche Riesenbrecher – eine Wand aus Wasser, zwei- bis dreimal höher als alle Wogen um sie herum – für pures Seemannsgarn. Dann aber wurden sie tatsächlich nachgewiesen: Erst registrierten Pegelmesser auf Bohrinseln scheinbar absurde Ausschläge, dann spürten Radarsatelliten die maritimen Monster vom All aus auf. Extremereignis Kaventsmann – ein Besuch im Hamburger Wellenkanal „Heute geht man davon aus, dass Jahr für Jahr zehn schwere Schiffsunfälle durch Riesenwellen verursacht werden“, sagt Dr. Norbert Hoffmann, Professor für Strukturdynamik an der Technischen Universität Hamburg-Harburg sowie am Imperial College in London. So sank 1978 das Containerschiff München nördlich der Azoren mit 28 Mann Besatzung, vermutlich getroffen von solch einer „Freak Wave“. 1984 ging vor Kanada nach Aufprall eines Kaventsmanns eine Ölplattform unter. 2002 schlug eine haushohe Welle den Tanker Prestige in Stücke und verursachte eine Ölpest an der spanischen Atlantikküste. Wie sich Monsterwellen bilden und ob sie sich überhaupt vorhersagen lassen, untersuchen die Forscher aus Hamburg gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Oldenburg, der Australischen Nationaluniversität und der Russischen Akademie der Wissenschaften in dem Projekt „Extreme Ocean Gravity Waves“. Ihr vereintes ehrgeiziges Ziel ist ein Modell, das die Entstehung und Ausbreitung der Riesenwellen besser abbildet, als das bisher möglich ist. Dafür taugt die herkömmliche, lineare Mathematik nicht. Mit ihr lässt sich zwar normaler Seegang passabel beschreiben. Bei Kaventsmännern aber versagt der Ansatz: Deren Zahl würden die derzeit verfügbaren Modellberechnungen massiv „unterschätzen“, etwa um den Faktor 50, sagen die Wissenschaftler. Deshalb greifen die Forscher zu einem anderen Werkzeug, der nichtlinearen Mathematik. Impulse 02_2014 51 „Lässt man die Strahlen aus zwei Gartenschläuchen aufeinandertreffen, spritzt das Wasser in alle Richtungen davon“, erläutert Projektkoordinator Hoffmann. „Im Unterschied zu den Lichtkegeln zweier Taschenlampen, deren Strahlen sich völlig unbeeinflusst kreuzen, gehorcht dieser Prozess nichtlinearen Gesetzmäßigkeiten.“ Ähnlich verhalten sich die Wellen im Ozean: Statt sich linear zu überlagern, interagieren sie intensiv. Bei besonderen Bedingungen, etwa wenn starker Wind auf bestimmte Meeresströmungen trifft, kann ein nichtlineares Wechselwirken dazu führen, dass eine Welle ihren Nachbarn Energie entzieht. Sie saugt sie regelrecht leer. „Dadurch kann sich die Energie für einige Minuten in einem zentralen Bereich bündeln“, erläutert Hoffmann. „Es bildet sich eine außergewöhnlich große Welle, die kurze Zeit später wieder auseinanderläuft.“ Überprüfen können die Forscher ihre neue Theorie im laboreigenen Wellenkanal. Nachwuchsingenieur Dr. Amin Chabchoub schließt die Tür zur Mehrzweckhalle auf. Vorn ein Testbecken für Unterwasserroboter, daneben ein Prüfstand für Hafenkräne. Der Wellenkanal steht hinten in der Bei den Wellenforschern sind alle Objekte etwas größer: An der Wand hängen Teile von Schiffsrümpfen, Bauteile von Offshore-Anlagen und anderes mehr. Die Wissenschaftler benötigen die Gegenstände, um Simulationen im Wellenkanal so realitätsnah wie möglich zu gestalten. Bei ihrem Arbeitstreffen diskutieren Norbert Hoffmann und der wissenschaftliche Mitarbeiter Andy Witt (oben, rechts) darüber, wie sich die Modellierungen verfeinern lassen. Projekt 4: Risiken besser abschätzen können Weitere Projekte Am Bildschirm demonstriert Hoffmann noch einmal per Video, welche Berechnungen Extremereignisse sind von Natur aus selten. Aus diesem Grund ist es alles andere als einfach zu berechnen, wie hoch die mit ihnen verbundenen Risiken sind, mit welcher Wahrscheinlichkeit überhaupt verheerende Auswirkungen eintreten werden. Die herkömmlichen Werkzeuge der Statistik versagen hier, also müssen die Experten zu neuen Methoden greifen. Der Entwicklung solch innovativer Verfahren widmet sich ein Forscherteam aus Kaiserslautern, Furtwangen und Wien in dem Projekt „Robust risk estimation”. Die Wissenschaftler haben sich drei Anwendungsszenarien vorgenommen, um Methodik und entwickelte Modellierungsansätze zu überprüfen. Im ersten Fall geht es um das Eigenkapital von Banken, das bekanntlich dazu vorgesehen ist, Gibt es eine generelle, übergreifende „Formel“ zur Risikoabschätzung bei unterschiedlichen Extremereignissen? Daran arbeiten Forscher aus Deutschland und Österreich. 52 unerwartete Verluste abzufedern. Die von den Forschern entwickelten Methoden sollen helfen, die Risiken für solche Verluste möglichst genau zu quantifizieren. Das ist wichtig für die Bestimmung der Höhe des Eigenkapitals, das die Geldinstitute auf die hohe Kante legen müssen. Das zweite Teilprojekt fokussiert ein Problemthema aus dem Gesundheitswesen: Wie wirkt es sich auf das Klinikmanagement aus, wenn einzelne Patienten wegen unerwarteter Komplikationen weitaus länger im Krankenhaus bleiben müssen als zunächst geplant? Welche Faktoren sind hier zu berücksichtigen, um zu validen statistischen Aussagen zu kommen? Im dritten Fall geht es um die Pegelstände ausgewählter österreichischer Flüsse: Wie hoch ist das Risiko, dass sie gewisse Werte überschreiten und das Wasser über die Ufer tritt? Das Bemerkenswerte an den neuen Modellierungen: Es hat sich bereits gezeigt, dass man sie auf jeden der formulierten Fälle anwenden kann. Die einzelnen Risiken lassen sich zuverlässig identifizieren, vorhersagen und auch – überwachen. einem Testlauf zur Erzeugung einer Riesenwelle zugrunde liegen, wie dieser verläuft – und was sich anschließend alles daraus ableiten lässt. Halle, er ähnelt einer überdimensionalen Badewanne: 15 Meter lang, 1,5 Meter breit. „Vorn ist die Wellenklappe installiert, die hydraulisch die Wellen erzeugt“, erläutert Chabchoub, der mittlerweile an der Technischen Universität Swinburne in Melbourne forscht. „Am anderen Ende befindet sich ein kleiner Strand. Er absorbiert die Wellen, damit sie nicht zurückschwappen und das Ergebnis verfälschen können.“ Um eine künstliche Monsterwelle zu erzeugen, beugt sich Amin Chabchoub über den PC und aktiviert per Mausklick die Computersteuerung. Die Hydraulik setzt sich mit einem rhythmischen Rumpeln in Bewegung. Rasch bildet sich im spiegelglatten Wasser ein gleichmäßiges Wellenmuster aus. Die Miniwellen sind kaum einen Zentimeter hoch und sehen alle gleich aus. Dann plötzlich – ein kurzer Ruck, die rechnergesteuerte Hydraulikklappe schlägt etwas heftiger aus. Es entsteht eine einzelne Welle, die auf ihrem Weg durch den Kanal immer größer wird, bis sie mit einem vernehmlichen „Platsch“ auf dem künstlichen Strand aufschlägt. Furchterregend ist das Schauspiel zwar nicht. Doch die Kriterien für eine Monsterwelle sind erfüllt: Der Ausreißer ist drei Zentimeter hoch – er misst das Dreifache aller Wellen um ihn herum. Impulse 02_2014 53 Die Forscher nutzen auch den gut 75 Meter langen Wellenkanal der Hamburgischen Schiffbau-Versuchsanstalt GmbH mit dessen Aufbauten und Modellschiffen. Hier stellen sie Testläufe aus dem kleinen „hochschuleigenen“ Wellenkanal noch einmal nach. „Wir haben unsere Ergebnisse mit Messungen an echten, bis zu 30 Meter hohen Monsterwellen verglichen“, sagt Professor Norbert Hoffmann. „Dabei kam heraus, dass sich unsere Laborwellen ganz ähnlich verhalten wie jene natürlichen Kaventsmänner.“ Für die Fachleute ein wichtiges Indiz, dass sie mit ihrer Theorie auf der richtigen Spur sind. In einigen Jahren könnte sie – so die Hoffnung – als Basis für eine Art MonsterwellenPrognose dienen. Die australischen Projektpartner etwa suchen bereits nach Frühwarn-Indikatoren. Diese würden den Kapitänen verraten, in welchen Seegebieten mit erhöhtem Kaventsmann-Risiko zu rechnen ist. Diese Seegebiete sollten Schiffe dann meiden und vorsichtshalber andere Routen wählen. Extremereignis Tsunami – vom Beben zur Welle: Forscher in Hamburg, München und Zürich modellieren gemeinsam Deutlich verheerender noch kann sich eine andere Art von Wellen auswirken – Tsunamis, hervorgerufen durch Seebeben. So forderte im Indischen Ozean die Flutwelle vom Dezember 2004 rund 200.000 Todesopfer. Beim Tsunami im März 2011 in Japan verloren etwa 15.000 Menschen ihr Leben; die Atomkatastrophe in Fukushima hat sicher jeder noch vor Augen. Angesichts solcher Megakatastrophen versuchen Wissenschaftler möglichst genau zu verstehen, wie diese Flutwellen zustande kommen. Eines der Ziele: eine verlässliche Abschätzung, an welchen Küsten das Tsunami-Risiko besonders hoch ist. Ungeklärt ist unter anderem, wie sich die Wucht des Bebens auf das Wasser überträgt. „Bislang hat die Forschung darüber empirische Annahmen gemacht, die sich im Nachhinein oft als zu ungenau herausgestellt haben“, sagt Dr. Jörn Behrens, Professor für Numerische Methoden in den Geowissenschaften der Universität Hamburg. „Vielleicht haben wir noch gar nicht richtig verstanden, wie sich die Bewegung der Erde auf die Bewegung des Wassers auswirkt.“ 54 Um diesen Zusammenhang besser zu durchdringen, initiierte Behrens 2011 gemeinsam mit Forscherkollegen aus München und Zürich das Projekt „Advanced Simulation of Coupled Earthquake and Tsunami Events” (ASCETE). Es setzt auf die Kooperation verschiedener Fachdisziplinen. Geophysiker der Ludwig-Maximilians-Universität und der ETH Zürich entwickeln ausgefeilte Modelle darüber, wie sich die Erdkruste bewegt und wie Beben entstehen. Die Hamburger Mathematiker wissen, wie man realitätsgetreu Tsunamiwellen im Rechner simuliert. Und Informatiker der Technischen Universität München liefern das Handwerkszeug: wichtiges Programmier-Know-how für Supercomputer. Früher war man bei den Simulationen davon ausgegangen, dass sich der bebende Meeresgrund in einem Stück hebt oder senkt. Spätere Modelle verfeinerten diese Vorstellung und unterteilten den Boden in viele kleine Platten, die sich zwar gleichzeitig, aber unterschiedlich stark und auch gegeneinander verschieben: eine realistischere Annahme. Die neuesten Modelle können detaillierte Bruchzonen darstellen und berücksichtigen nun auch, dass sich solche Brüche zeitlich ausbreiten – so geschehen beim Japan-Beben von 2011: Dort war der Meeresgrund zunächst in eine Richtung aufgebrochen, danach „sprang“ der Bruch wieder ein Stück zurück. Projekt 5: Grundlagen für Unwetterprognosen Immer wieder sorgen sie für Schlagzeilen: Tornados, die Schneisen der Verwüstung zurücklassen. Desgleichen heftige Schauer, die zu fatalen Sturzfluten und plötzlichen Überschwemmungen führen. Bislang tun sich die Meteorologen schwer, solche Wetterextreme verlässlich vorauszusagen. Der Grund: Hervorgerufen werden diese Ereignisse in der Regel durch atmosphärische Prozesse, die sich auf der „Mesoskala“ abspielen – Bereichen in der Größenordnung von einigen wenigen bis mehreren hundert Kilometern. Die Auflösung der verfügbaren Computermodelle ist jedoch zu gering, um diese eher kleinskaligen Wetterphänomene präzise berechnen und abbilden zu können. Deshalb bleibt es meist bei pauschalen Unwetterwarnungen für größere Regionen. Ein Forscherteam aus Bonn, Heidelberg, Mannheim und Oslo will nun über neue methodische Ansätze die bestehenden Defizite beheben. Die Wissenschaftler gehen dabei unter anderem der Frage nach, wie sich die Energie in der Atmosphäre eigentlich verteilen muss, um Weitere Projekte außergewöhnlich starke Gewitterzellen hervorzubringen. Die Fachleute setzen dabei auch auf sogenannte Ensemble-Vorhersagen. Hier rechnet der Computer nicht nur ein Verfahren durch, sondern viele. Die Gesamtprognose ergibt sich dann aus einem intelligent gewichteten Mittelwert aller Einzelvorhersagen. Damit sollen sich – so die Hoffnung – Hagelschauer und heftige Gewitter besser absehen lassen. Das Projekt „WEX-MOP – Mesoscale weather extremes: Theory, spatial Modeling and prediction“ führt Statistiker, Wahrscheinlichkeitstheoretiker und Meteorologen zusammen. Frühsommer 2014: Die unvorhergesehen heftigen Überflutungen in einigen Regionen Europas zeigen, wie notwendig bessere Unwettervorhersagen sind. Impulse 02_2014 55 Professor Jörn Behrens vom KlimaCampus der Universität Hamburg erläutert eine Simulation, die zeigt, wie sich der Tsunami infolge des Sumatra-Andamanen-Erdbebens entwickelte. „Wir gehen davon aus, dass dieser zeitliche Verlauf entscheidend zur extremen Wellenkonfiguration und -höhe und damit zur Zerstörungskraft eines Tsunamis beiträgt“, sagt Projektkoordinator Jörn Behrens. „Abhängig davon, wie sich der Bruch entwickelt, können sich die entstehenden Wasserwellen aufschaukeln, aber auch gegenseitig auslöschen.“ Um diese Prozesse modellhaft zu simulieren, arbeiten die ASCETE-Experten an einer umfassenden Computersoftware. Gleich einem virtuellen Labor soll sie das gesamte Phänomen nachbilden – vom detaillierten Aufbrechen des Erdbodens über die Entstehung der Wasserwelle bis hin zum Auftreffen des Tsuna- mis an der Küste. Bislang lassen sich Beben und Welle nur getrennt simulieren, doch die Forscher sind zuversichtlich, bald eine Software vorlegen zu können, die beides bündelt. Langfristig sollen die Ergebnisse helfen, Warnungen vor einem Tsunami und über dessen Stärke und Ausmaß treffsicherer zu machen. Die Idee: „Mit unserem Modell wollen wir studieren, welche Mechanismen in einer bestimmten Region überhaupt auftreten können“, erläutert Behrens. „Das wird dann bei der Abschätzung des Risikos helfen, welche Küsten besonders tsunamigefährdet sind und welche nicht.“ Projekt 6: Das Starkregen-Barometer Klimaforscher befürchten, dass sich mit dem unaufhaltsamen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur manche Wetterextreme häufen – zum Beispiel Wolkenbrüche, die durch enorme Niederschlagsmengen katastrophale Überschwemmungen verursachen. Sie meinen: Die Weltgemeinschaft wäre gut beraten, der Zunahme extremer Starkregenphänomene mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Kommunen sollten etwa darüber nachdenken, Abwasserkanäle auszubauen und sich zu rüsten gegen Bäche und Flüsse, die künftig immer öfter bei extremen Sintfluten über ihre Ufer treten dürften. Projekttreffen der Unwetterforscher aus Deutschland, Großbritannien und Frankreich – bei bestem Wetter. 56 Weitere Projekte Diese Alltagsbezüge klar im Blick haben die Forscher des Projekts PLEIADES – „Projections and predictions of local precipitation intensities. Advanced downscaling using extreme value statistics”. Ziel des multinationalen Wissenschaftlerteams aus Kiel sowie Birmingham, Großbritannien, und Gif-sur-Yvette (nahe Paris) in Frankreich ist es zu ermitteln, inwieweit sich diese Starkregenereignisse in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich häufen und welche Regionen besonders betroffen sind. Das Problem: Mit „Maschenweiten“ von 200 Kilometern sind heutige Klimamodelle schlicht zu grob, um verlässliche Aussagen über einzelne Städte oder Landstriche treffen zu können. Deshalb arbeitet die Forschergruppe an einem möglichst genauen „Downscaling“. Das neue Modellierungsverfahren soll helfen, die Prognosen auf regionale Maßstäbe herunterzubrechen. Ziel ist es, die gesamte Niederschlagsverteilung abzubilden und vor allem Aussagen über zu erwartende Starkregenextreme treffen zu können – und das möglichst weltweit. Auch die Erdbeben selbst geben noch Rätsel auf. Wodurch kommen sie zustande, was löst sie aus? Wichtige Fragen, denn je genauer man auch hier die Entstehungsmechanismen und -prozesse kennt, umso präziser lassen sich die Risiken für ein Extremereignis wie einen verheerenden Erdstoß abschätzen. Anreiz genug für ein weiteres in der Initiative gefördertes Wissenschaftlerteam, einen noch jungen, spekulativen Ansatz mit Nachdruck zu verfolgen – die Fluid-Hypothese. Extremereignis Erdbeben – Experten in Zürich und Bonn rütteln an althergebrachten Theoriegebäuden „An den Rändern der Kontinentalplatten steigen enorme Mengen an Gasen und Flüssigkeiten aus dem Erdinneren auf, zum Beispiel Wasser und Kohlendioxid“, erklärt Professor Dr. Stephen Miller vom Steinmann-Institut für Geologie, Mineralogie und Paläontologie der Universität Bonn die Ausgangsvorstellung der kooperierenden Forscherteams aus Deutschland und der Schweiz. „Wir gehen davon aus, dass sich diese Fluide an bestimmten Stellen sammeln und dort Erdbeben auslösen können.“ Das Prinzip: Ähnlich wie der Dampf in einem Dampfkochtopf setzen die Fluide das Gestein um sich herum gehörig unter Hochdruck. Bekommt der „Hochdruckkessel“ einen Riss, treten die Fluide aus – und dabei werden beträchtliche Energien frei. Die Erde bebt. Indizien dafür, dass diese Mechanismen wie beschrieben greifen, meinen die Bonner Forscher bereits gefunden zu haben: „Als klarer Fall kann das Beben gelten, das 1997 die Gegend um das italienische Assisi erschütterte“, sagt Miller. „Damals folgten die Nachbeben einem Muster, das genau einer unter Hochdruck entweichenden Fluid-Front entsprach.“ Ähnliches gilt für das L’Aquila-Beben von 2009 in Italien. Dort hatten sich plötzlich die chemischen Eigenschaften in wasserführenden Schichten verändert – für Stephen Miller ein Zeichen, dass Gase und Flüssigkeiten aus der Tiefe aufgestiegen waren und Nachbeben verursacht hatten. Zudem könnten die Fluide hinter weiteren seismischen Phänomenen stecken – langsamen Rutschund Zitterbewegungen im tiefen Erdgestein etwa. „Diese Prozesse scheinen vor allem dort abzulaufen, wo es unterirdische Hochdruckblasen gibt“, sagt Miller. Ein weiterer Effekt: Gelegentlich registrieren Geoforscher, dass bei einem schweren Beben das Gestein an weit entfernten Stellen auf besondere Weise vibriert. Miller und Kollegen vermuten, dass diese Schallsignale durch „eingefangene“ Fluide erzeugt werden; sie schwingen quasi wie der Resonanzkörper eines Musikinstruments. Entsprechende Stellen wollen die Experten nun genauer unter die Lupe nehmen und nach verräterischen Besonderheiten in den seismischen Signalen fahnden. Um die Fluid-Hypothese eingehend zu prüfen, arbeitet das Team an einer 3D-Computersimulation. Diese soll detailliert nachstellen, wie sich im Erdinneren allmählich Blasen aufbauen und unter Hochdruck entladen. Sollten die Ergebnisse des Rechnermodells mit den tatsächlichen seismischen Daten übereinstimmen, wäre die Hypothese erhärtet. Dann scheint es möglich, für Rekonstruktion des Japan-Erdbebens und des nachfolgenden Tsunamis im Jahr 2011. In Orangerot eingefärbt ist die maximale Anhebung des Meeresbodens, blaulilafarben hervorgehoben die Wellenhöhe. Als leicht schattierte Fläche ist oberhalb der Meeresoberfläche das Rechengitter erkennbar. Der Modellierung liegt eine gekoppelte Berechnung der Ereignisse Erdbeben und Tsunami zugrunde (Grafik erstellt vom ASCETE-Team). Impulse 02_2014 57 Er arbeitet an der „Fluid-Hypothese“, einer ganz neuen Theorie zur Entstehung von Erdbeben einschließlich entsprechender Risikoabschätzung: Professor Stephen A. Miller vom Steinmann-Institut für Geologie, Mineralogie und Paläontologie der Universität Bonn. manche erdbebengefährdete Region eine genauere Risikoanalyse abzugeben. „Vor allem kleinere Nachbeben lassen sich vorhersagen“, zeigt sich Projektpartner Professor Dr. Didier Sornette von der ETH Zürich optimistisch. „Doch die wirklich schweren Erdstöße verlässlich zu prognostizieren, dürfte auch auf lange Sicht schwierig sein.“ Mensch und Natur werden sich also auch weiterhin mit den Folgen extremer Ereignisse auseinanderzusetzen haben – für manche Vorkommnisse hofft man jedoch, dass die Auswirkungen dank besserer Vorhersagen künftig weniger gravierend sind. Das wurde auch deutlich bei einer von der Stiftung initiierten Veranstaltung für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller acht geförderten Projekte. Sie kamen im März 2013 im Schloss Herrenhausen in Hannover zusammen, um Ergebnisse ihrer Projekte zu diskutieren. Zwischen den rund achtzig international führenden Experten und Nachwuchswissenschaftlern, die ein breites Spektrum an Fächern und Forschungs- Projekt 7: Frühwarnsystem für Akku-Explosion Akkus, die auf dem Leichtmetall Lithium basieren, zählen zu den derzeit besten Batterietypen. Sie stecken in den meisten Laptops, Smartphones und Handys, und auch immer mehr Elektroautos haben sie an Bord. Allerdings hat die hohe Leistungsdichte der Lithium-Akkus auch ihre Schattenseiten: Unter Umständen können die Batterien in Brand geraten oder sogar explodieren – eine Gefahr insbesondere für die Elektromobilität. Der genaue Mechanismus, der dahintersteckt, trägt die Kennzeichen eines Extremereignisses: ein Aufheizprozess, der durch zufällig auftretende Prozesse in der Ein Extremereignis ganz anderer Art: die Selbstentzündung und Verbrennung mancher Batterien 58 Weitere Projekte Batterie ausgelöst wird und sich dann nach dem Schneeballprinzip von allein beschleunigt. Der Experte spricht vom „thermischen Durchgehen“ des Akkus. Ein Forscherteam aus Stuttgart, Offenburg und Ulm versucht derzeit herauszufinden, welche Mechanismen ganz am Anfang des fatalen Prozesses stehen. In ihrem Projekt entwickeln die Wissenschaftler detaillierte theoretische Modelle über das thermische Durchgehen, die sie anschließend experimentell überprüfen. Das langfristige Ziel ist ein Frühwarnsystem für das Wärmemanagement von Lithiumbatterien: Sobald es erste Vorzeichen für ein Durchgehen erkennt, würden die betreffenden Regionen im Akku gezielt gekühlt. Dadurch könnte der sich selbst verstärkende Lawineneffekt unterbunden werden. Im Ergebnis würde das Risiko, dass ein Elektroauto wegen eines durchbrennenden Akkus plötzlich in Flammen steht, deutlich minimiert. Dieses Fernziel verfolgen die Wissenschaftler mit ihrem Projekt „Thermal runaway of lithium batteries“. feldern repräsentierten, flogen Ideen und Modellierungsszenarien munter hin und her. Fast aus dem Stegreif entstanden skizzenhaft zahlreiche neue Forschungsansätze. Einige Hauptthemen, die dort diskutiert wurden, waren etwa die nach den „Triggermechanismen“ für Extremereignisse. Wie kommt es dazu, dass sich solch ein Geschehen ausbildet? Lässt sich die Wucht eines Extremereignisses im Vorfeld beeinflussen, wenn man es rechtzeitig nahen sieht? Ab wann andererseits verläuft ein Prozess unumkehrbar? – Eine zentrale Erkenntnis aus der Tagung formuliert Dr. Ulrike Bischler, die die Initiative bei der VolkswagenStiftung betreut hat: „Ob sich Extreme in einer zunehmend vernetzten und mehr belastenden Einflüssen ausgesetzten Welt vielleicht sogar verstärken und wie sich solche Ereignisse möglichst treffsicher vorhersagen lassen: Diese Fragen stellen für die Wissenschaft weiterhin große Herausforderungen dar.“ Der Austausch über Ideen, Forschungsdesigns und methodische Ansätze zwischen den verschiedenen Disziplinen sei daher auch künftig zwingend. Es bleibt also spannend: mit Blick auf Extremereignisse als solche und die Forschung dazu. Frank Grotelüschen (Text) // Franz Bischoff (Fotos) Projekt 8: Was Algen und Epilepsie verbindet Immer öfter stoßen Forscher bei ihren Arbeiten auf einen verblüffenden Umstand: Auch wenn Extremereignisse wie Erdbeben, Börsenblasen oder Tornados nicht viel gemein zu haben scheinen, zeigen genauere Betrachtungen, dass sie oft denselben mathematischen Gesetzen gehorchen. Zum Beispiel Algenblüten und epileptische Anfälle. Mit diesen beiden scheinbar völlig verschiedenen Phänomenen beschäftigt sich ein interdisziplinär aufgestelltes Forscherteam aus Oldenburg, Wilhelmshaven, Dresden, Potsdam und Bonn in dem Projekt „Recurrent extreme events in spatially extended excitable systems: Mechanisms of their generation and Termination“. In manchen Jahren kommt es in bestimmten Gewässern zu ausufernden, völlig unvorhergesehenen Algenblüten. Handelt es sich um giftige Algen, können diese Blüten große Schäden anrichten: Fische fressen die Gifte und gehen zugrunde; das Ökosystem insgesamt leidet. Ein Extremereignis anderer Art stellen epileptische Anfälle dar, bei dem ein Teil der Neuronen im Gehirn unvermittelt beginnt, sich synchron zu Weitere Projekte entladen. Die resultierende Krampfattacke erleben Betroffene ähnlich extrem wie andere ein heftiges Beben. Die Forscher arbeiten nun mithilfe von Gesetzen aus der theoretischen Physik an einem neuen Modell. Es soll abbilden, welche Mechanismen und Prozesse eine Algenblüte oder einen Anfall auslösen und wie sich beide Extremereignisse letztlich stoppen lassen. Vergleiche mit Messdaten – etwa den Hirnströmen von Epilepsie-Patienten – werden Auskunft darüber geben können, wie leistungsfähig die neue Theorie ist. Eines Tages, so die Hoffnung, könnte sie dazu beitragen, sowohl Algenblüten als auch Krampfanfälle verlässlich vorherzusagen. Massive Algenblüte an der südkalifornischen Küste im Jahr 2005. Mehr als eine Milliarde Zellen der Mikroalge Lingulodinium polyedrum ließen sich in einem Liter Meerwasser nachweisen. Impulse 02_2014 59 Gefährliche Globetrotter Seuchen breiten sich weltweit immer rascher aus. Verschleppte Tier- und Pflanzenarten richten fern ihrer Heimat erheblichen Schaden an. Forscher aus Deutschland und den USA haben jetzt Gesetzmäßigkeiten für solche Ausbreitungswege und -wellen entdeckt. Via Flughäfen erreichen manche Seuchen als unerkannte Mitreisende oftmals andere Regionen der Welt und verbreiten sich von dort aus weiter. Dirk Brockmann, Professor für Komplexe Systeme am Institut für Theoretische Biologie der Humboldt-Universität Berlin, auf dem ehemaligen Rollfeld des Flughafens Berlin-Tempelhof. 60 Impulse 02_2014 61 Schritttempo war gestern. Heute reisen Menschen und Waren in rasanter Geschwindigkeit um die Welt – allerdings oft mit ungewollten Begleitern. Denn mit ihnen reisen Pflanzen, Tiere, Mikroben. Das kann fatale Folgen für Ökosysteme haben und sogar Pandemien auslösen. In der Förderinitiative „Neue konzeptionelle Ansätze zur Modellierung und Simulation komplexer Systeme“ haben zwei Forscherteams Ergebnisse erarbeitet, mit denen sich Risiken nun besser einschätzen und Schäden begrenzen lassen. Neue Modelle erlauben künftig schnellere und genauere Vorhersagen – und: Es lässt sich rückverfolgen, wo Ereignisse ihren Ursprung genommen haben. Vor elf Jahren gelang dem Erreger der lebensgefährlichen Lungenkrankheit SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome) der Sprung von der Schleichkatze auf den Menschen. Von diesem Moment an verbreitete er sich in rasantem Tempo. Kaum war der erste Fall in China bekannt, wurden auch schon Infizierte in Kanada gemeldet. Am Ende tötete der Erreger rund 8.000 Menschen. SARS ist nur ein Beispiel für eine Krankheit, die das Potenzial hat für eine Pandemie, die die ganze Welt in Schrecken versetzt. Nach SARS kamen Vogel- und Schweinegrippe oder der Ehec-Erreger, der eine schwere Darmentzündung auslösen kann. Und was künftig noch alles folgen wird, weiß niemand. Professor Dr. Dirk Brockmann ist ein Experte auf diesem Gebiet. Schon vor gut zehn Jahren mach- te er, damals noch am Göttinger Max-PlanckInstitut für Dynamik und Selbstorganisation, die Flughäfen als Dreh- und Angelpunkt für die Verteilung von SARS aus. Seit rund sechs Jahren erforscht er die Grundlagen von Transportnetzwerken im Rahmen mehrerer von der VolkswagenStiftung geförderter Projekte: zunächst an der Northwestern University in Evanston, USA, und seit 2013 zurück in Deutschland. Dort hat er eine Professur am Institut für Biologie der HumboldtUniversität Berlin inne; zugleich arbeitet er am Robert Koch-Institut, der zentralen Einrichtung der Bundesregierung auf dem Gebiet der Krankheitsüberwachung und -prävention, an Konzepten zur Seuchenprävention. Seine Forschungsergebnisse machen seit Jahren immer wieder Schlagzeilen, in der internationalen Fachpresse und in Zeitungen wie der New York Times. Teambesprechung in Dirk Brockmanns Büro im Robert Koch-Institut in Berlin. Er diskutiert mit Doktorandin Olga Baranov (rechts) und Dr. Li Chen darüber, wie sich unter Berücksichtigung bestimmter Unsicherheitsfaktoren die strahlenförmig visualisierten Pandemieprognosen noch verbessern lassen. Aktuell gilt ihr Interesse neuen Seuchenerregern wie dem Mers-Coronavirus. Brockmann findet es zwar brisant, dass Krankheitskeime heutzutage so mobil sind wie die Menschen, die sie infiziert haben, sieht darin aber auch eine Chance. „Kennen wir die Ausbreitungswege, können wir gezielt eingreifen und die Ansteckungskette unterbrechen“, sagt er. In wenigen Tagen um die Welt: Krankheiten im Globalisierungsfieber Brockmann – hier in der Bibliothek des Robert Koch-Instituts – und Forscherkollegen ist ein echter wissenschaftlicher Coup gelungen: eine neue Art Weltkarte, die die Ausbreitung global auftretender Seuchen verdeutlicht und Risiken besser erkennen und vorhersagen lässt. „Entscheidend ist nicht, wie weit zwei Orte voneinander entfernt, sondern wie sie verkehrstechnisch verbunden sind“, sagt er. 62 Wie komplex allerdings die Mechanismen sind, die dahinterstecken, wird schnell klar, wenn Brockmann die rund 40.000 den Globus umspannenden Flugverbindungen mit einem Mausklick auf seinem Computermonitor sichtbar macht: ein dichtes, buntes Netz, gegen das selbst ein Wollknäuel noch ordentlich aussieht. In einem Jahr reisen rund drei Milliarden Menschen auf diesen Wegen – das entspricht etwa der Hälfte der Weltbevölkerung. Simuliert Brockmann die Verbreitung von Krankheiten, flackern Lichtpunkte über die Karte, scheinbar ohne System. „Wir leben eben nicht mehr in Zeiten der Pest, die sich linear ausgebreitet hat, weil sie sozusagen zu Fuß von Dorf zu Dorf getragen wurde“, betont er. Doch jetzt ist seinem Team ein Coup gelungen, mit dem endlich Ordnung ins vermeintliche Chaos kommt. „Man muss mit einer ganz neuen Art Weltkarte arbeiten“, sagt er. Und die beruht weniger auf klassischer Geografie als vielmehr auf sogenannten effektiven Entfernungen. „Diese Entfernungen werden nicht durch die Kilometerzahl bestimmt, sondern dadurch, wie gut ein Ort verkehrstechnisch angebunden ist“, berichtet der Forscher. Auf so einer Karte liegt dann etwa Frankfurt deutlich dichter an New York als etwa Brockmanns ehemaliger Arbeitsort Evanston im Mittleren Westen der USA. Die Idee kam ihm bei einer Reise nach Deutschland. „Nach Taxifahrt und mehreren Inlandsflügen war der Transatlantikflug tatsächlich nur der kleinste Teil der Reise, obwohl er die meisten Kilometer umfasste“, erzählt er. Impulse 02_2014 63 Dirk Brockmanns Forschungsergebnisse ziehen in der wissenschaftlichen – und außerwissenschaftlichen – Welt ebenso Kreise wie sein Untersuchungsgegenstand, die Welt erobernde Seuchen. Schnappschuss, wo die Epidemie gerade ist, und probiert dann alle Flughafen-Kandidaten durch.“ Der Flughafen, der als Kartenzentrum zu einem besonders gleichförmigen Kreismuster führt, ist aller Wahrscheinlichkeit nach der zentrale, erste richtige „Keimverteiler“. Weil das aber nicht immer mit bloßem Auge gut zu erkennen ist, haben die Forscher ein Maß für die runde Gleichförmigkeit entwickelt, das sich in Zahlen ausdrücken lässt – das Modell hat seine Kontur erhalten. Auf Brockmanns neuer Weltkarte breiten sich Krankheiten vom ersten Infektionsherd ringförmig nach außen aus, wie Wellen in einer Pfütze, in die man einen Stein geworfen hat. „Für SARS, Vogelgrippe und Ehec konnten wir bereits zeigen, dass das Modell funktioniert“, freut sich Brockmann. Damit ist ein entscheidender Fortschritt im Kampf gegen gefährliche Mikroben gelungen, denn bei der nächsten drohenden Pandemie lässt sich nun deutlich schneller und zuverlässiger als bisher vorhersagen, wann und wo auf der Welt mit Infektionswellen zu rechnen ist. „Der Trick bei der Karte ist, dass sich nur dann ein gleichmäßiges kreisförmiges Muster ergibt, wenn der Ursprungsort in der Mitte der Karte ist“, erklärt Brockmann. „Man nimmt einfach eine Art 64 Globalisierung kann allerdings nicht nur zur Bedrohung werden für die Gesundheit, sondern auch für die Geschäftswelt, etwa wenn Flughäfen schließen. So geschehen zum Beispiel nach dem Anschlag auf das World Trade Center (WTC) in New York am 11. September 2001 oder nach dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull vor vier Jahren. Olivia Woolley, die in Dirk Brockmanns Team ihre Doktorarbeit angefertigt hat und heute an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) forscht, hat die Folgen des Vulkanausbruchs untersucht und mit den Daten aus der Zeit nach dem Anschlag auf das WTC verglichen. Das Ergebnis überraschte sie dann doch. „Europa hat nur halb so viele Flughäfen wie die USA und trotzdem einen drei Mal so großen Effekt auf Handel und Reisen“, berichtet sie. Bezogen auf die neue Weltkarte mit den effektiven Entfernungen heißt das: Schließen die Flughäfen in Europa, entfernt sich der Rest der Welt explosionsartig. „Europa kommt hier definitiv eine kritische Rolle zu“, betont die Forscherin. Nachwuchswissenschaftler profitieren von dem ungewöhnlichen Förderangebot Woolley erzählt auch, dass sie persönlich von der Arbeit profitiert hat. „Ich habe gelernt, die richtigen Fragen zu stellen und zu bearbeiten, zu koordinieren und zu präsentieren – kurz: eine Wissenschaftlerin zu sein.“ Besonders geschätzt habe sie, wie flexibel und kreativ sie sein durfte, um die wirklich interessanten Fragen zu finden und anschließend zu verfolgen. Und auch, dass sie dafür die nötige Zeit gehabt habe. Interessante Fragen bleiben zur Genüge – etwa zu den Unsicherheitsfaktoren, die in die Pandemieprognosen noch nicht eingeflossen sind. So beruhen mögliche Vorhersagen auf Daten und Modellierungen, die im Wesentlichen einen Normalzustand abbilden, die „Normalreaktionen“ zugrunde legen. Bei der Nachricht über eine globale Pandemie könnten die Menschen jedoch ihr Verhalten ändern – insbesondere ihre Bewegungsmuster. Brockmann jedenfalls wird seinem Thema treu bleiben; er will mit seinem Team als nächstes ein Modell entwickeln, das den Verlauf der gewöhnlichen Grippe vorhersagt. Der Nutzen wäre enorm, bedenkt man die große Zahl Betroffener sowie den volkswirtschaftlichen und gesundheitspolitischen Aspekt. Noch mehr allerdings reizt die Forscher, ihre Kenntnisse bei neuen Seuchenerregern anzuwenden: etwa den in Saudi-Arabien grassierenden MersCoronaviren, die sich allmählich ebenfalls von ihrem Ursprungsort in verschiedene Richtungen entfernen und die Weltgemeinschaft aktuell beunruhigen. Entsprechende Nachrichten im Frühjahr 2014 aus Asien, Afrika, Russland und derzeit vielen Regionen Europas über zahlreiche Krankheitsfälle lassen aufhorchen. Allein im Laufe der Monate Mai und Juni warnten Experten zahlreicher Forschungseinrichtungen und von nationalen wie internationalen Behörden der Gesundheitsvorsorge weltweit vor einer steigenden Infektionsgefahr durch das Mers-Coronavirus. Ausschreibung „Komplexe Netzwerke als fächerübergreifendes Phänomen“ Ob Menschen oder Viren auf Reisen, bei Prozessen, die in einer Körperzelle oder im Blutkreislauf vonstatten gehen, den Finanzmärkten, der Stromversorgung, dem Mobilitätsverhalten im eigenen Freundeskreis – bis hin zu den Abläufen in einem Logistik-Betrieb oder in den Online-Communities: Komplexe Netzwerke wirken überall. Doch so simpel das zugrunde liegende Konzept „Knoten und Verbindungen“ auch zunächst aussehen mag: Es sind höchst anspruchsvolle theoretische Methoden erforderlich, um Strukturen, deren Organisation und Dynamik als Netzwerk abzubilden und zu verstehen – und um letztlich daraus die geeigneten Simulationen und Modelle zu entwickeln. Eine Herausforderung für die Forschung stellen dabei insbesondere solche Phänomene dar, die in komplexen Netzwerken völlig verschiedener Wissensbereiche gleichermaßen auftreten. Sind manche Netzwerke gar so komplex, dass dort universale und noch unbekannte, folglich gänzlich unverstandene Prinzipien wirken? Hier neue Erkenntnisse zu generieren, war das Ziel der Hintergrund Ausschreibung „Komplexe Netzwerke als fächerübergreifendes Phänomen“ unter dem Dach der Förderinitiative „Modellierung und Simulation komplexer Systeme“ (siehe Kasten auf Seite 66). Für zehn im Wettbewerb erfolgreiche Vorhaben, von denen viele eine Verlängerung erhielten, hat die Stiftung insgesamt fünf Millionen Euro bereitgestellt. Eingebunden war ein breites Spektrum an Disziplinen: von der Biologie über die Verkehrsplanung und die Produktionslogistik bis zu den Wirtschaftswissenschaften. Sie machen deutlich: Netzwerke begegnen uns in der Tat überall. cj Projekt beendet, die Arbeit geht weiter: Dirk Brockmann diskutiert mit seinem Team neue Herausforderungen. Impulse 02_2014 65 Auch Ozeanriesen transportieren blinde Passagiere mit Gefahrenpotenzial. Professor Bernd Blasius von der Universität Oldenburg erstellt und diskutiert mit seinem Kollegen Dr. Christoph Feenders (rechts) Formeln zur Berechnung sowie Modellierungen solcher Ausbreitungswege entlang bestimmter Schifffahrtsrouten. Blinde Passagiere mit Gefahrenpotenzial: Bioinvasion als ökologisches Roulette Um ein nicht weniger brisantes Thema kümmert sich Brockmanns Kooperationspartner Professor Dr. Bernd Blasius vom Institut für Chemie und Biologie des Meeres an der Universität Oldenburg. Auch er war schon mehrfach mit Projektideen bei der VolkswagenStiftung erfolgreich. Seine Arbeitsgruppe hat vor allem den Schiffsverkehr im Visier, denn Ozeanriesen transportieren oft ebenfalls blinde Passagiere mit Gefahrenpotenzial. Das können Meeresorganismen, Pflanzen oder Tiere sein, die beispielsweise Seu- chen übertragen, ganze Ökosysteme umkrempeln oder schlicht wirtschaftlichen Schaden anrichten. Oft reisen sie im Ballastwasser mit, das in die stählernen Schiffsbäuche gefüllt wird, um die Meereskreuzer auch bei ungleichmäßiger Beladung zu stabilisieren. Mit Ballastwasser sind zum Beispiel Algen aus dem Pazifik in norwegische Gewässer gelangt und haben dort tonnenweise Lachsbestände vergiftet. „Ein großes Problem sind auch Muscheln, die sich sehr schnell vermehren“, berichtet Blasius. Bedroht sind unter anderem Wasserleitungen von Kraftwerken und Staudämmen. Sie vom tierischen Belag freizuhalten, ist aufwändig und kostenintensiv. Förderinitiative „Modellierung und Simulation komplexer Systeme“ Das Angebot bestand von 2003 bis 2011. Es lenkte das Interesse auf die Entwicklung neuer Methoden und mathematischer Modelle, die ein besseres Verständnis von Komplexität ermöglichen. Im Fokus stand die Computersimulation, seit einigen Jahren in vielen Feldern dritte wichtige Säule neben Experiment und Theorie. Alles in allem bewilligte die Stiftung rund 24,5 Millionen Euro für nahezu 80 Vorhaben. Sie eint vor allem, dass es gelang, die Methodenentwicklung voranzutreiben sowie verallgemeinerbare, realitätsnahe und datengetriebene Simulationsansätze für unterschiedliche Herausforderungen zu entwickeln. Was visuell umgesetzt als eingängiges Modellierungs- oder Simulationsszenario daherkommt, fußt meist auf komplexen Berechnungen. 66 Hintergrund Mit drei verschiedenen thematischen Ausschreibungen zu so unterschiedlichen Themenfeldern wie Biomoleküle und Zellen, komplexe Netzwerke (siehe Haupttext) sowie Extremereignisse (siehe Beitrag „Erkundung des Extremen“) wurden Theoretiker aus unterschiedlichen Disziplinen angesprochen, ihr Fachwissen zusammenzuführen und komplementäre Ansätze zu verknüpfen. Viele dieser Forschungsprojekte laufen noch; manche gingen ob ihrer beeindruckenden Ergebnisse in die Verlängerung. Die acht Kooperationsvorhaben der Ausschreibung zu den Extremereignissen sind im Beitrag ab Seite 48 vorgestellt. Weiterhin wurden 15 Fellowships „Computational Sciences“ für Postdoktoranden und Postdoktorandinnen vergeben, die in Summe ebenfalls ein breites Fächerspektrum bedienen. Die Fellowships zielten nicht zuletzt auf wissenschaftliche Selbstständigkeit in jungen Jahren durch frühzeitiges eigenverantwortliches Forschen und damit die Wegbereitung einer akademischen Karriere. Über das Projekt von Fellow Dr. Vitaly Belik berichten wir kurz auf Seite 69 (siehe Textkasten dort). cj „Bioinvasion ist wegen der zunehmenden Globalisierung längst zu einem heißen Forschungsthema geworden“, sagt der Physiker, der vor seiner Zeit in Niedersachsen eine ebenfalls von der Stiftung geförderte Nachwuchsforschergruppe an der Universität Potsdam leitete. Um die Gefahren besser einschätzen zu können, hat sein junges Team ein Modell entwickelt, das erst kürzlich weltweit für Aufsehen sorgte. „Damit können wir für jedes Schiff und jeden Hafen der Welt das Risiko einer Bioinvasion von Meeresorganismen berechnen“, sagt der Physiker. Grundlage ihres Modells sind fast drei Millionen Schiffsbewegungen, die in den Jahren 2007 und 2008 auf den Weltmeeren zu verzeichnen waren. Ein Blick auf die Liste zeigt: Am höchsten ist das Risikopotenzial in Singapur, gefolgt vom Suezkanal und von Hongkong. New York steht auf Platz 13, Los Angeles auf Platz 17. Deutsche Häfen tauchen auf der Top 20-Liste gar nicht auf. „Das Invasionsrisiko in der Nordsee ist trotz des sehr hohen Schiffsverkehrs erstaunlich gering“, bekräftigt der Forscher. „Das liegt vor allem daran, dass Organismen aus tropischen oder subtropischen Gewässern wärmeres Wasser gewohnt sind und die meisten von ihnen deshalb hier kaum eine Überlebenschance haben.“ Ähnliche Bedingungen wie in der Nordsee gebe es lediglich an der US-Ostküste, etwa auf Höhe der Häfen um New York. „Wir haben unsere Modellergebnisse mit Felddaten verglichen. Und tatsächlich, die meisten invasiven Arten, die in der Nordsee vorkommen, haben ihre Heimat an der nordamerikanischen Ostküste“, erklärt der Oldenburger Biologe Dr. Hanno Seebens, der als Postdoktorand im Team von Bernd Blasius arbeitet. Die Nordsee sei zudem ein gutes Beispiel dafür, dass Bioinvasion nicht immer schlecht sein muss, denn viele der heute dort „gut integriert“ lebenden Arten haben sozusagen einen Migrationshintergrund und wurden dann sesshaft. Auch insgesamt richtet im Schnitt nur eine von tausend eingewanderten Arten wirklich Schaden an. Der allerdings könne dann recht massiv sein. Allein in Deutschland schlagen zurzeit die Folgen der Bioinvasion Jahr für Jahr mit immerhin über 40 Millionen Euro zu Buche. So müssen beispielsweise Schäden an Flussufern und Dämmen repariert werden, die die aus Nordamerika stammenden Bisamratten verursachen, oder es gilt, stark wuchernde, eingewanderte Pflanzen wie den eigentlich im Kaukasus beheimateten Riesen-Bärenklau in Schach zu halten. „Bioinvasion bleibt letztlich ökologisches Roulette; der beste Schutz dagegen ist, sie möglichst gar nicht erst zuzulassen“, fasst der Forscher zusammen. Das betreffe gleichermaßen Land wie Meer. In der Tat konnte das Team von Bernd Blasius die modellierten maritimen Verbreitungsmuster auch auf die Bioinvasion von Landtieren und Pflanzen übertragen. Dabei habe sich beispielsweise gezeigt, dass die typische Distanz für Bioinvasion in allen untersuchten Fällen bei rund 10.000 Kilometern liege. Impulse 02_2014 67 Für ihre Forschung zu den skizzierten Globalisierungsprozessen, die erforderlichen Modellierungen und Simulationen sitzen die Wissenschaftler fast durchweg am Rechner. Ob Schifffahrtsrouten, Wassertemperaturen, Krankheitsstatistiken oder Artenvorkommen: Alles ist in umfangreichen Datenbanken abrufbar. Dann und wann verlassen die beiden jungen Forscher und ihre Mitarbeiter natürlich dennoch ihre Arbeitsräume – Bernd Blasius (oben) das Institut für Chemie und Biologie des Meeres der Universität Oldenburg und Dirk Brockmann das Robert Koch-Institut. In allen Modellen der Oldenburger stecken nicht nur eine Menge Mathematik, Physik und Programmierkenntnisse, sondern auch eine große Portion biologischer Sachverstand. Den liefert Dr. Hanno Seebens: „Ich untersuche, welche Faktoren für die Ausbreitung von Arten wirklich wichtig sind, welche Rolle zum Beispiel Ballastwassermenge, Wassertemperatur oder Lichtverhältnisse spielen“, erzählt er. Er rücke ein Modell sozusagen näher an die Realität. Dennoch sei er wie seine Kollegen ein reiner Schreibtischtäter. Für ihre Arbeit müssen die Forscher ihre Büros nicht verlassen, denn ob Schiffsrouten, Wassertemperaturen oder Artengehalt: Alles ist über umfangreiche Datenbanken verfügbar. „Man findet zum Beispiel sämtliche Informationen darüber, wann welches Schiff welchen Hafen angelaufen hat, auf welcher Strecke es unterwegs war und ob es sich zum Beispiel um einen Öltanker oder ein Containerschiff handelt.“ Von zum Teil exotischer Resonanz auf die Projektergebnisse berichtet Bernd Blasius. Ihn erreichen nicht nur Anfragen von Journalisten aus aller Welt, sondern von Versicherungen, die Ökorisiken von Schiffen einschätzen wollen, von Künstlern, Designern und Museen, die die bildliche Darstellung der globalen Schiffsverbindungen für Kunstprojekte, Ausstellungen oder Lehrmaterial nutzen möchten. Sogar ein Flottenkommandeur der US-Streitkräfte im Pazifik war mit reichlich Nachdruck an Ergebnissen interessiert. „Solche Anfragen sind für einen Physiker schon ungewohnt“, sagt Blasius. „Aber es ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein abstrakter, theoretischer Ansatz in kurzer Zeit auch für ganz praktische, lebensnahe Anwendungen hoch interessant werden kann.“ Andrea Hoferichter (Text) // Gordon Welters (Fotos Berlin) // Michael Löwa (Fotos Oldenburg) Die Wege des Menschen sind ergründlich Zur Nagelprobe für das Oldenburger Modell könnte – auch wenn Schiffe dort bislang noch weitgehend fehlen – der junge JadeWeserPort in Wilhelmshaven werden, Europas größter Tiefseehafen. „Hier sehen wir unmittelbar, wie sich ein Ökosystem durch einen neuen Hafen ändert“, betont Blasius. Im Gegensatz zu den anderen deutschen Häfen enthält das Wasser dort mehr Salz, da der Tiefseehafen nicht an einer Flussmündung liegt. Zudem ist sein Wasser wärmer, weil ein benachbartes Wärmekraftwerk Kühlwasser einleitet. Die Forscher gehen deshalb davon aus, dass hier eine stärkere Bioinvasion stattfindet als in den anderen Nordseehäfen. Dass es durchaus Möglichkeiten gibt, etwas dagegen zu unternehmen, wollen die Wissenschaftler nicht unerwähnt lassen: Durch ständige Reinigung des Ballastwassers der Schiffe mithilfe von Filtern, Chemikalien und UV-Strahlung lasse sich das Risiko einer Bioinvasion merklich verringern. 68 Gerade prüfen die Wissenschaftler, wie gut sich ihr Modell für Zukunftsprognosen eignet. „Es sieht so aus, als ob sich jene ortsfremden Arten, die wir heute als inzwischen etablierte beobachten, vor 15 bis 25 Jahren angesiedelt haben“, berichtet Blasius. „Bestätigt sich das, können wir mit den aktuellen Handelsdaten sehr gut prognostizieren, welche Arten welche Regionen zum Beispiel 2030 bevölkern werden.“ Außerdem will er mit seinem Team herausfinden, welches Veränderungspotenzial neuen Schiffsrouten zukommt – so werden zum Beispiel in den nächsten Jahrzehnten, wenn dort das Eis im Sommer geschmolzen ist, voraussichtlich immer mehr Schiffe aus Asien den Weg über das Polarmeer nördlich von Russland und bei Alaska nehmen. Darüber hinaus wollen die Forscher ihre Kenntnisse in ein EUProjekt zum Thema „Bioinvasion im Wattenmeer“ einbringen und ihr global ausgelegtes Modell auf regionalen Maßstab herunterbrechen. Ein deutsch-amerikanisches Forscherteam um Dr. Vitaly Belik vom Göttinger Max-PlanckInstitut für Dynamik und Selbstorganisation hat anhand von Daten aus Paris und Chicago ein Modell entwickelt, das die Mobilität von Menschen auf kurzen Distanzen – etwa innerhalb einer Stadt – und in kurzen Zeiträumen beschreibt. Wie die Forscher feststellten, halten sich 90 Prozent der Menschen werktags an höchstens sechs verschiedenen Orten auf – ihre Wohnung eingeschlossen. Die Ziele, die sie an einem Tag ansteuern, verknüpfen sie in gerade einmal 17 Wegenetzen von über einer Million ihnen dafür eigentlich möglichen Routen. Modelle, die die Mobilität über große Distanzen und lange Zeiträume beschreiben, gibt es bereits. Die neuen Erkenntnisse sollten nun aber Stadtentwicklern helfen, innerstädtische Verkehrswege und -steuerung besser zu planen. Weitere Projekte Ebenso könnten sie sich aber für die Seuchenprävention in kleineren Gebieten als hilfreich erweisen. Die Studie wurde veröffentlicht in Journal of the Royal Society Interface am 8. Mai 2013. Dr. Vitaly Belik wurde bis Ende 2013 mit einem Fellowship „Computational Sciences“ gefördert (siehe dazu auch Kasten auf Seite 66). cj Dr. Vitaly Belik hat ein Modell entwickelt, das die Mobilität von Menschen beschreibt. Impulse 02_2014 69 Wenn Atome plötzlich stillhalten Freie-Elektronen-Laser für harte Röntgenstrahlung schaffen völlig neue Forschungsmöglichkeiten. Mithilfe ihrer ultrakurzen und intensiven Röntgenblitze lassen sich atomare Strukturen von Biomolekülen, Viren und Zellen aufklären oder chemische Reaktionen filmen. Die Stiftung unterstützt junge Forscher bei solchen Projekten – zwei von ihnen haben wir in den USA, in Stanford, besucht. Mit einem Röntgenlaserstrahl hat er Atome in Bewegung abgebildet. Dr. Andreas Schropp demonstriert am Freie-ElektronenLaser für harte Röntgenstrahlung, dem Linac Coherent Light Source (LCLS), wie er kleinste Materiebausteine in Echtzeit gefilmt hat. 70 Impulse 02_2014 71 Freie-Elektronen-Laser für harte Röntgenstrahlung machen Dinge sichtbar, die kein Forscher je zuvor gesehen hat. Da derzeit weltweit erst zwei dieser leistungsstarken Geräte in Betrieb sind – und nur einige mehr, darunter eines in Deutschland, sind im Bau oder in der Planung –, haben gerade junge Forscherinnen und Forscher kaum Gelegenheit, an diesen Lasern zu arbeiten und Messungen vorzunehmen. Doch genau das, einen ein- bis zweijährigen Forschungsaufenthalt am LCLS (Linac Coherent Light Source) im USamerikanischen Stanford, bietet die VolkswagenStiftung dem wissenschaftlichen Nachwuchs mit den „Peter Paul Ewald-Fellowships“. Dort treffen sie auch auf die Besten ihres Fachs. Und so öffnen sich Räume für einen wissenschaftlichen Austausch, zu dem es sonst wohl nie gekommen wäre. Die Aufnahmen, die Dr. Andreas Schropp zeigt, lassen den geübten Betrachter das Besondere erkennen. „Aus ihnen“, sagt er, „könnte man sich auch ein Daumenkino basteln.“ Vielleicht war es diese spielerische Seite, die den Wissenschaftlern den entscheidenden Durchbruch gebracht hat. Und doch erzählen sie ganz nüchtern, was ihnen als offenkundig Ersten gelungen ist: Mit einem Röntgenlaserstrahl haben sie Atome in Bewegung abgebildet. Dazu konzentrierten sie den Strahl auf etwa 100 Nanometer – rund ein Tausendstel der Breite eines Menschenhaares. Auf diese Weise gelang es ihnen, die detaillierten Messungen vorzunehmen. tungszeit von 50 Billiardstel Sekunden jegliche Bewegung der Atome in der Probe sozusagen einfrieren. Die extrem kurze Belichtungszeit sei entscheidend, erklärt Professor Dr. Christian Schroer vom Institut für Strukturphysik der Technischen Universität Dresden. „Man sieht ein scharfes Bild von allem, was sich bewegt.“ Genau das leisten bislang verfügbare Mikroskopie-Methoden nicht. Mit ihnen ließen sich nur dann Bilder erzeugen, wenn Atome „stillhalten" würden und sich starr in einen festen Körper einfügten. Der aus sehr kurzen und intensiven Röntgenpulsen bestehende Strahl liefert Abbildungen, die mit einer – in ihrer Kürze kaum vorstellbaren – Belich- Bei dem jetzt eingesetzten Röntgenlaser, mit dem die Dresdner Forscher Materie in Echtzeit filmten, handelt es sich nicht um irgendeinen. Kleinste Materie filmen in Echtzeit Die Heimstatt des LCLS, das Stanford Linear Accelarator Center (SLAC) in Kalifornien. 72 Für die Messungen hielt sich „Peter Paul EwaldFellow“ Andreas Schropp in den USA auf, in Menlo Park, Kalifornien. Dort steht der weltweit erste und bis vor Kurzem einzige Freie-Elektronen-Laser für harte Röntgenstrahlung: der Linac Coherent Light Source (LCLS) am Stanford Linear Accelerator Center, kurz SLAC. Freie-Elektronen-Laser erzeugen ultrakurze Lichtblitze im Röntgenbereich mit höchster Brillanz. Pro Sekunde lassen sich zehntausende Aufnahmen aus dem Nanokosmos machen: zum Beispiel von Viren, Zellen, chemischen Reaktionen oder atomaren Bewegungen. Auch lässt sich mit den Forschungsanlagen Materie unter extremsten Bedingungen untersuchen, wie sie etwa im Inneren von Planeten herrschen. Seit September 2009 sammelt die Wissenschaft an der Stanford University in Kalifornien experimentelle Erfahrungen mit diesem einzigartigen Gerät, zu unterschiedlichen Forschungsfragen gelangen teils spektakuläre Messungen. Voraussetzung für die richtige Interpretation der entstehenden Bilder ist es, die genauen Eigenschaften des nanofokussierten Röntgenlaserstrahls zu kennen. Dafür hat das Forscherteam um Schropp und Schroer für ihre Versuche eine neue Abbildungsmethode entwickelt. Sie beruht darauf, dass Röntgenstrahlung an einer Probe auf bestimmte Weise gebeugt wird. Die Probe wird in der Nähe des Brennpunkts positioniert und durch den fein gebündelten Strahl gerastert. An jedem dieser Rasterpunkte wird in einem größeren Abstand das von der Probe gestreute Röntgenlicht aufgenommen. Mithilfe des Computers können aus diesem umfangreichen Satz an Bildern sowohl die Struktur der Probe als auch der vollständige dreidimensionale Verlauf des gebündelten Röntgenpulses rekonstruiert werden. Entsprechend nanofokussierte Röntgenlaserpulse sollen nun helfen zu verstehen, wie Stoffe entstehen, oder auch Ideen dafür liefern, wie zum Beispiel Werkstoffe verbessert werden können. Das berichteten die Wissenschaftler bei der Dr. Andreas Schropp ist Peter Paul Ewald-Fellow der Stiftung. Das auf drei Jahre angelegte Fellowship gliedert sich in einen längeren Forschungsaufenthalt im Umfeld des LCLS in Stanford und eine Arbeitsphase in Deutschland. Vorstellung ihrer Ergebnisse im Fachmagazin „Scientific Reports“ (Ausgabe 9. April 2013) in der Veröffentlichung „Full spatial characterization of a nanofocused x-ray free-electron laser beam by ptychographic imaging”. Mögliche Anwendungen böten sich zudem in der Mikroskopie und Röntgenoptik oder bei der Erzeugung von Materie unter extremen Drücken und Temperaturen. „Nanofokussierte Röntgenstrahlen sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg, Atome zu filmen und der Chemie live zuzuschauen“, sagt Schroer. Aufgrund dieser großen Bedeutung für viele Forschungsfelder gehen die Wissenschaftler davon aus, dass sich die Erzeugung und Charakterisierung des nanofokussierten Röntgenlaserstrahls als Standardmethode etablieren wird. Impulse 02_2014 73 Andreas Schropp ist zuversichtlich, dass Forscher mithilfe seiner Erkenntnisse künftig besser verstehen, wie Stoffe sich bilden, oder Ideen entwickeln, wie sich Werkstoffe grundlegend verbessern lassen. Das Projekt von Andreas Schropp zeigt auch: Die Peter Paul Ewald-Fellowships sind ein sehr fokussiertes Angebot der Stiftung. Junge Forscherinnen und Forscher erhalten Zugang zu etwas, das ihnen sonst vermutlich versagt bliebe – einen ein- bis zweijährigen Forschungsaufenthalt am LCLS in Stanford, der zudem eingebettet ist in eine insgesamt dreijährige Förderung mit einer Stelle in Deutschland. Das besondere Fellowship – oder: Wie eine Idee Gestalt annimmt „Unser Programm bietet Postdocs eine ganz außergewöhnliche Möglichkeit, praktische Erfahrungen zu sammeln und sich gleichzeitig mit den Besten ihres Faches vor Ort zu vernetzen“, erklärt Dr. Ulrike Bischler, Physikerin und verantwortliche Förderreferentin für die Fellowships bei der VolkswagenStiftung. „Mit dem Know-how, das sich die Wissenschaftler in Stanford aneignen, sind sie bestens vorbereitet, um beispielsweise am European XFEL in Hamburg ihre Fähigkeiten einzubringen und dort ihre Forschung fortzuführen.“ Die Anlage, die in Hamburg und Schenefeld entsteht, wird ab 2016 den Betrieb starten und die leistungsstärkste weltweit sein (siehe Kasten zu XFEL auf Seite 76). Eben jene Anlage in Hamburg früh im Blick, formte sich bei Ulrike Bischler zeitig eine Idee. Bei einem Kongress hörte sie einen Vortrag über die erste, auf Anhieb gelungene Messung am LCLS in Stanford. Sie war fasziniert davon und beeindruckt, dass im Röntgen-Blitzlichtgewitter Dinge sichtbar werden, die bislang auch nicht 74 annähernd messbar waren. Ohne zu zögern griff sie das Thema auf und entwickelte eine neue Förderinitiative – passgenau, im richtigen, eher kleinen Rahmen, auf die Bedürfnisse der Wissenschaft exakt zugeschnitten. In kurzer Zeit wurden die „Peter Paul Ewald-Fellowships am LCLS (Linac Coherent Light Source) in Stanford“, so der vollständige Titel, etabliert und die ersten Bewilligungen ausgesprochen. Herausragend qualifizierte Postdoktorandinnen und Postdoktoranden erhielten plötzlich die Chance, ihre originellen Forschungsideen vor Ort umsetzen und ihre Theoriegebäude überprüfen zu können. Was sich im Laufe des Jahres 2010 als Förderidee formulierte, kam dann bereits Mitte 2011 den ersten vier jungen Forschern zugute – darunter auch Andreas Schropp, der sich im Wettstreit der besten Köpfe und Ideen durchsetzen konnte. Ein weiterer Fellow des ersten Jahrgangs ist Dr. Ulf Zastrau, der inzwischen mehrfach mit wegweisenden Forschungsergebnissen auf sich aufmerksam machte – zuletzt, als er gemeinsam mit namhaften Kollegen den Blick in die unteren Atmosphärenschichten großer Gasplaneten warf und zeigen konnte, wie flüssiger Wasserstoff zu Plasma wird (siehe Beitrag auf Seite 80/81). Insgesamt ermöglichte die Stiftung bislang elf jungen Nachwuchskräften einen Aufenthalt am LCLS in Stanford, darunter drei Wissenschaftlern, die ursprünglich aus dem Ausland stammen. In Fachkreisen hat sich die Initiative der Stiftung binnen Kurzem einen hervorragenden Ruf erworben – und findet zeitversetzt entsprechend mehr und mehr Nachahmer. So nahm 2013 das Bundes- ministerium für Bildung und Forschung das Themenfeld in den Blick und bewilligte 7,5 Millionen Euro für 14 auf drei Jahre angelegte Projekte an deutschen Universitäten, die mit der Arbeit an Freie-Elektronen-Lasern verknüpft sind. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft vergab im selben Jahr an den Physiker Dr. Thomas Pfeifer einen Heinz Maier-Leibnitz-Preis für entsprechende Forschung, und schließlich startete die schwedische Knut och Alice Wallenberg Foundation mit den MAX IV-Fellowships ein den Ewald-Fellowships vergleichbares Angebot für Postdoktoranden. Momentaufnahmen von chemischen Reaktionen Unter den elf bislang Geförderten der VolkswagenStiftung sind zwei Wissenschaftlerinnen. Eine von Ihnen ist Katharina Kubicek vom Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg. Sie gehört zu den Erfolgreichen der zweiten von bislang vier Auswahlrunden. Eines ihrer Themen: Wie beeinflussen die molekularen Eigenschaften einer gelösten Substanz oder des Lösungsmittels die Dynamik einer durch Licht ausgelösten chemischen Reaktion, die in Lösung abläuft? Zu dieser Frage forscht sie am Stanford Linear Accelerator Center im Verbund mit Wissenschaftlern vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, vom DESY in Hamburg, von der Stanford University und von zwei dänischen Universitäten. Gemeinsam ist es ihnen inzwischen gelungen, für eine Eisenverbindung verschiedene Zustände zu filmen, die diese Verbindung im Verlauf einer durch Licht verursachten Reaktion einnimmt. „Die Momentaufnahmen ermöglichen Untersuchungen zu einem ganz zentralen Problem“, führt Katharina Kubicek an. „Wie sehen die elektronischen Zwischenzustände einer durch Licht ausgelösten Reaktion aus, und wie verän- Ewald-Fellowships und Freie-Elektronen-Laser Der Freie-Elektronen-Laser LCLS in Stanford ist der weltweit erste gepulste kurzwellige Röntgenlaser und eröffnet unbekanntes Terrain für die Röntgenstrukturforschung und die Ultrakurzzeitspektroskopie. Als europäisches Pendant wird aktuell in Hamburg der European XFEL (siehe Kasten auf Seite 76) errichtet. Indem sie junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Methodik und die mit ihr zu leistende Forschung heranführen, bereiten seit dem Jahr 2011 die darauf abzielenden Peter Paul Ewald-Fellowships der Stiftung einer frühzeitigen Entwicklung dieses Gebietes in Deutschland den Boden. Im Zuge einer Ausschreibung erfolgreiche Postdoktoranden erhalten eine Projektförderung mit eigener Stelle für drei Jahre, die gegliedert ist in einen längeren Forschungsaufenthalt im Umfeld des LCLS in Stanford, USA, und eine Rückkehrphase in Deutschland. Hintergrund Verschiedene Fachrichtungen profitieren von dieser spannenden apparativen und methodischen Entwicklung, allen voran die Kristallographie, die Strukturbiologie, die Atom-, Festkörperund Biophysik sowie die Materialwissenschaften und Chemie. Der letzte Stichtag für Bewerbungen um ein Fellowship liegt im Januar 2015; bis Mitte 2014 wurden elf Fellows gefördert. cj Blick in die Experimentierhalle des Gebäudes im Menlo Park, Kalifornien. Impulse 02_2014 75 dern sich diese und ihre Dynamik, wenn die chemische Zusammensetzung von Verbindung und Lösungsmittel systematisch variiert wird?“ Wie sich künftig chemische Reaktionen besser als bisher vorhersagen lassen und wie man diese gar beeinflussen oder kontrollieren kann, dafür hat die junge Wissenschaftlerin vor Kurzem mithilfe eines Experiments am LCLS die Grundlage gelegt. In spektakulären Versuchen gelang es im bereits genannten internationalen Forscherverbund, in die Elektronenwolken eines Moleküls zu schauen – weit genauer, als das jemals zuvor möglich war. Die Forscher schafften es, exakt jene Änderungen bestimmter Zwischenzustände festzuhalten, die diese kleinen geladenen Teilchen im Orbit des Moleküls einnehmen. Man muss sich das auch hier in etwa so vorstellen wie zu verschiedenen Zeiten aufgenommene Bilder, die sich zu einem Film zusammenfügen lassen. Die Wissenschaftler Der Super-Laser: der European XFEL in Hamburg Wie zerfallen Moleküle? Mit welchen Stoffen kann man umweltfreundliche Energie erzeugen? Und wie bekämpft man schwere Krankheiten? Auf diese Fragen soll der Röntgenlaser European XFEL (X-Ray Free-Electron Laser) eine Antwort geben. Das Supermikroskop entsteht derzeit in Hamburg-Bahrenfeld; es wird in einem unterirdischen Tunnelsystem bis ins benachbarte Schenefeld (Kreis Pinneberg) verlaufen. Durch diese Rohre werden einmal Elektronen auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und mittels Magnetfeldern Röntgenblitze erzeugt. Das Licht wiederum lässt Aufnahmen im Nanobereich in bislang unerreichter Schärfe entstehen; es wird möglich, chemische Reaktionen zu filmen und erstmals zu dokumentieren, wie Moleküle entstehen. Jede Sekunde werden bis zu 27.000 Rönt- In Hamburg entsteht gerade ein noch leistungsfähigerer FreieElektronen-Laser: der European XFEL (X-Ray Free-Electron Laser). 2016 soll die Anlage betriebsbereit sein. 76 Hintergrund genlaserblitze erzeugt – keine andere vergleichbare Anlage schafft das, bei Weitem auch nicht das einstige Vorbild, die weltweit erste dieser Art in Stanford, USA. Man ist sich sicher: Das wird Spitzenforscher aus der ganzen Welt anlocken. Aktuell beteiligt sich ein Dutzend Länder an dem Großprojekt. Deutschland übernimmt mehr als die Hälfte der Gesamtkosten von über einer Milliarde Euro. Aber vor allem auch Russland (23 Prozent), Frankreich, Polen und Dänemark leisten einen erklecklichen finanziellen Anteil am Bau. Im Gegensatz zu vielen anderen Großbauprojekten in Deutschland verlaufen die Arbeiten am European XFEL bisher im Zeit- und Kostenrahmen. Im Juni 2013 wurden die Tiefbauarbeiten beendet. Vier Jahre lang hatte es bis dahin nur gedauert, die 5,8 Kilometer lange Strecke vom Forschungszentrum DESY (Deutsches Elektronen-Synchrotron) in Hamburg-Bahrenfeld bis zum Hauptforschungsgelände in Schenefeld zu bohren. Alle fünf Rohre des Elektronenlasers münden in eine Experimentierhalle – der oberirdische Teil der Anlage. 2016 soll diese in Betrieb genommen werden: Eine Hochgeschwindigkeitskamera wird dann wohl Tag für Tag der Wissenschaft sensationelle Bilder liefern: jede Menge neue Erkenntnisse für die Medizin, die Astronomie oder die Energietechnik. cj konnten sogar extrem kurzlebige Zustände, für die andere Verfahren zu ungenau sind, messerscharf abbilden. Gerade in solchen Zeiträumen von einigen Billiardstel (Femto-) bis Billionstel (Piko-) Sekunden laufen chemische Reaktionen häufig ab. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse im Mai 2014 im renommierten Magazin „Nature“. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm – aber wo landet er genau, und warum gerade dort? Was wir über Zwischenzustände wissen und was nicht, lasse sich gut mit dem Bild eines Baumes und seiner Zweige einfangen, erklärt Professor Dr. Christian Bressler vom European XFEL. „Wir kennen das Aussehen der Zweige von unten betrachtet schon recht gut, aber präzise erfassen können wir deren dreidimensionale Form nicht.“ Ein vom Baum fallender Apfel würde nun hier und da von Ast zu Ast springen und schließlich zu Boden fallen. Vergleichbar kann man sich den Ablauf chemischer Reaktionen vorstellen, die über Zwischenzustände zum Endprodukt führen. Dabei würde dann die jeweilige dreidimensionale Form der Äste den Weg und das Ergebnis der Reaktion bestimmen. „Wir wissen zwar heute schon, wo der Apfel auf den Boden fällt, aber wir sehen nicht, was exakt dazu führt, dass er genau an diesem einen Ort auftrifft“, fährt Bressler fort. Und eben da sei entscheidend, was bei dem Weg über die Zweige geschehe. Übertragen bedeutet das: Wisse man im Detail, was dort passiere und wie, lerne man viel über Ablauf und Effizienz der chemischen Reaktion. „Und das ist unser langfristiges Ziel: Reaktionen zu optimieren – indem wir zum Beispiel maßgeschneiderte Lichtpulse nutzen und damit den Weg zu den gewünschten Endprodukten beeinflussen.“ Dadurch ließen sich chemische Reaktionen so wirkungsvoll wie möglich gestalten. Sie liefert spektakuläre Ergebnisse ab: Eingebunden in ein internationales Forscherteam, gelang es Katharina Kubicek, in die Elektronenwolken eines Moleküls zu schauen – weit genauer, als das jemals zuvor möglich war. Impulse 02_2014 77 Für die Aufnahmen des „Films“ war die Stärke eines Röntgenlasers erforderlich, wie nur der LCLS am Beschleunigerzentrum SLAC sie bietet. Zunächst jedoch versetzte ein „normaler“ Laser, der im sichtbaren Bereich des Lichts arbeitet, einen Eisenkomplex in einen energiereicheren, angeregten Zustand. Solch ein Eisenkomplex besteht aus einem Metallatom und einem als Ligand bezeichneten organischen Rest. Die Forscher initiierten auf diese Weise den ersten Schritt einer lichtabhängigen chemischen Reaktion, wie sie auch bei der Photosynthese abläuft oder bei bestimmten biochemischen Prozessen in der Netzhaut, die das Sehen ermöglichen. Solcherart angeregt, nehmen die Elektronen des zentralen Metallatoms in dem Molekül verschiedene, von den Liganden beeinflusste Zustände ein. Diese entsprechen den Zweigen im Baum und werden von Wissenschaftlern durch Schalen, Orbitale und Spin bestimmt und mit sogenannten Quantenzahlen beschrieben. Bisher kannte man nur die Quantenzustände der Ausgangsstoffe und Reaktionsendprodukte, wusste aber kaum etwas über die kurzlebigen Zwischenzustände, die den Verlauf und das Ergebnis der Reaktion entscheidend beeinflussen. Um die Zwischenzustände einzufangen, beschossen die Forscher dann nach wenigen Femtosekunden in einem zweiten Schritt jene frisch angeregten Moleküle mit harten Röntgenblitzen, den extrem kurzen und gleißend hellen Pulsen des Röntgenlasers LCLS. Auf diese Weise lösten sie Elektronen aus der innersten Hülle des zentralen Eisenatoms. Auf den nun frei gewordenen Platz rutscht unmittelbar ein Elektron aus der äußeren Hülle nach und sendet dabei seinerseits hartes Röntgenlicht aus. Das Spektrum dieses Lichts ist charakteristisch für den molekularen Quantenzustand; es liefert damit die gewünschten Informationen über die „Elektronenwolke“ um das zentrale Eisenatom. Diese Messung wurde mehrfach zu verschiedenen Zeitpunkten wiederholt. Ähnlich wie ein Film ein Ereignis dokumentiert, zeigt die Arbeit der Forscher die nur einige 100 Femtosekunden dauernde Reise des angeregten Moleküls durch zwei nun eindeutig identifizierte 78 Zwischenzustände in den Endzustand. „Unsere Experimente profitieren erheblich von den einzigartigen Forschungsmöglichkeiten an den neu entwickelten Röntgenlasern“, sagt Katharina Kubicek, die die Arbeiten am LCLS ebenfalls im Rahmen ihres Ewald-Fellowships durchgeführt hat. „Im Gegensatz zu den meisten herkömmlichen Techniken können wir mit den LCLS-Röntgenblitzen gezielt das Eisenatom im Zentrum des Moleküls untersuchen – dort, wo die interessanten Prozesse stattfinden.“ Allein durch diese Messung kenne man den Quantenzustand der Elektronen zwar noch nicht, aber durch einen Vergleich mit Modellkomplexen ließe sich nun mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit feststellen, wie diese aussähen. Das Ziel: eine Hochgeschwindigkeitskamera für Moleküle Damit ist ein wichtiger Schritt hin zu einer Hochgeschwindigkeitskamera für Moleküle gelungen. So wie der vom Baum fallende Apfel von Ast zu Ast springt und schließlich auf den Boden fällt, lässt sich der Reaktionsweg nun genau verfolgen. „Das bietet die Chance, chemische Reaktionen besser als bisher vorhersagen und künftig beeinflussen oder gar kontrollieren zu können“, bringt Kubicek es auf den Punkt – und knüpft damit an ihre anderen Experimente an. Mit einer solchen Kamera könnten Forscher beispielsweise Molekülsysteme testen, die effizient Sonnenenergie umwandeln oder umweltfreundlich Schadstoffe aus der Abluft unschädlich machen. „Noch ist nicht im Detail geklärt, wie Veränderungen in den molekularen Eigenschaften der Verbindungen den Verlauf der Reaktion beeinflussen“, erklärt Kubicek, der man die Begeisterung für ihre Arbeit ansieht. Letztlich, zieht sie ein Zwischenfazit, gehe es bei diesen Experimenten auch darum zu verstehen, wie man Moleküle so designen könne, dass sich Reaktionen gezielt steuern ließen. „Wir arbeiten an den Grenzen unserer Wissenschaft“, betonen die beiden jungen Ewald-Fellows Kubicek und Schropp abschließend. Man merkt im Gespräch, wie überaus gern sie Grenzgänger sind. Auch wenn es letztlich Forschung mit hohem Risikopotenzial ist, die sie da betreiben: mit Scheitern als nicht unwahrscheinlicher Option. Doch beide haben gezeigt, dass man auch schwieriges Terrain mit experimentellem Geschick, Beharrlichkeit, solidem Grundlagenwissen und realistisch formulierten Forschungsfragen erobern und mit Erfolg im Gepäck in Richtung noch unbekannterer Welten verlassen kann. „Obwohl eine kleine Initiative mit wenigen Geförderten, gibt es einige tolle wissenschaftliche Leistungen zu bestaunen“, freut sich auch Ulrike Bischler. „Die Ewald-Fellowships sind ein Beispiel dafür, wie ausgesprochen früh wir neue Forschungsfelder identifizieren und wie zügig wir dann geeignete Förderchancen für ideenreiche Pioniere eröffnen“, ergänzt Dr. Cornelia Soetbeer, die bei der Stiftung das Förderteam „Herausforderungen – für Wissenschaft und Gesellschaft“ leitet, zu dem auch die Ewald-Fellowships gehören. „Die Kunst ist es, die notwendigen Impulse genau zur richtigen Zeit zu setzen!“ Um das zu gewährleisten, müsse man eigentlich ständig nach Forschungsfeldern suchen, die in naher und vielleicht auch nicht ganz so naher Zukunft von Bedeutung sein werden, die aber jetzt an einem kritischen Punkt sind, an dem sie Unterstützung benötigen. Wie das gelingen kann, wie sich auf passgenaue und zielgruppenspezifische Weise Themen und Methoden in der Wissenschaftslandschaft gezielt und zügig voranbringen lassen – eben dafür stehen beispielhaft die Peter Paul Ewald-Fellowships. Sie zeigen: So schnell und dabei zugleich so wirkungsvoll kann Wissenschaftsförderung sein. Christian Jung (Text) // Leah Fasten (Fotos) „Ich arbeite gern im Grenzbereich meiner Wissenschaft – selbst wenn oder gerade auch weil es letztlich Forschung mit hohem Risikopotenzial ist“, sagt Katharina Kubicek, die sich unter anderem mit der Dynamik von in Lösung ablaufenden chemischen Reaktionen beschäftigt (zum Thema Lösungsmittelchemie s. auch Text ab Seite 82). Zurzeit nutzen Katharina Kubicek und Kollegen die erprobten Techniken, um eine sogenannte Ladungsübertragungsreaktion bei bestimmten Kupferverbindungen zu untersuchen. Deren Einsatz wird derzeit beispielsweise in Solarzellen in Betracht gezogen. Die Kupferverbindungen zeigen nach Lichtanregung eine spezifische Änderung ihrer geometrischen Struktur. Diese wiederum beeinflusst andere molekulare Eigenschaften, von denen dann abhängt, ob sich solche Kupferverbindungen für Solarzellen nutzen lassen oder nicht. Impulse 02_2014 79 Großer Erfolg: Ein internationales Forscherteam um Ewald-Fellow Dr. Ulf Zastrau von der Universität Jena gelang es, in einer Art Superzeitlupe zu zeigen, wie flüssiger Wasserstoff zu Plasma wird. Die Erkenntnisse helfen, Planetenmodelle besser zu verstehen. Über die Gasplaneten Jupiter und Saturn wissen die Forscher dadurch schon einiges mehr. Ulf Zastrau ist Ewald-Fellow der ersten Stunde. Wie Wasserstoff zu Plasma wird: ein Blick in große Gasplaneten Mit dem Röntgenlaser FLASH am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg hat ein Forscherteam um Dr. Ulf Zastrau von der Universität Jena tief in die unteren Atmosphärenschichten großer Gasplaneten wie Jupiter oder Saturn gespäht. Den Wissenschaftlern gelang es in einer Art Superzeitlupe zu zeigen, wie flüssiger Wasserstoff zu Plasma wird. Das gibt Aufschluss über dessen Wärmeleitfähigkeit und inneren Energieaustausch – eine Erkenntnis, die für das Verständnis von Planetenmodellen von großer Bedeutung ist. Die Forschung von Ulf Zastrau erfolgte im Zuge seines Peter Paul Ewald-Fellowships; die Ergebnisse wurden im März 2014 im Fachblatt „Physical Review Letters“ veröffentlicht. Die Atmosphäre von Gasplaneten besteht zum großen Teil aus Wasserstoff, dem häufigsten chemischen Element im Universum. „Man weiß experimentell kaum etwas über den Wasserstoff im Inneren solcher Planeten“, sagt Zastrau. „Auch wenn die theoretischen Modelle inzwischen sehr gut sind.“ Für ihre Untersuchungen haben die Forscher daher kalten, flüssigen Wasserstoff als eine Art Probe aus der Planetenatmosphäre benutzt. „Flüssiger Wasserstoff hat eine Dichte, wie sie den unteren Atmosphärenschichten großer Gasplaneten entspricht“, erläutert Zastrau. Mit DESYs Röntgenlaser FLASH haben die Wissenschaftler den flüssigen Wasserstoff auf einen Schlag von minus 253 Grad Celsius auf rund 12 000 Grad Celsius erhitzt und gleichzeitig die Eigenschaften des Elements während des Erhitzens beobachtet. 80 Wasserstoff ist das einfachste Atom des Periodensystems, es besteht aus einem Proton im Atomkern, das von einem einzelnen Elektron umkreist wird. Normalerweise kommt Wasserstoff als hantelförmiges Molekül aus zwei Atomen vor. Durch den Röntgenlaserblitz werden zunächst nur die Elektronen erhitzt, die nach und nach ihre Energie an die etwa zweitausend Mal schwereren Protonen abgeben, bis sich ein thermisches Gleichgewicht einstellt. Die Molekülbindungen brechen dabei auf, es entsteht ein sogenanntes Plasma aus Elektronen und Protonen. Obwohl dazu viele tausend Stöße zwischen Elektronen und Protonen nötig sind, stellt sich das thermische Gleichgewicht bereits nach knapp einer Billionstel Sekunde (Pikosekunde) ein, wie die Untersuchungen zeigen. „Was wir machen, ist Labor-Astrophysik“, erklärt Zastrau. Bislang stützen sich Forscher auf Rechenmodelle, wenn sie das Innere von Gasplaneten wie Jupiter beschreiben. Wichtige Parameter sind dabei die sogenannten dielektrischen Eigenschaften des Wasserstoffs, das sind unter anderem die Wärme- und die elektrische Leitfähigkeit, denn in den großen Gasplaneten findet ein starker Wärmetransport von innen nach außen statt. „Die Untersuchung verrät uns die dielektrischen Eigenschaften des flüssigen Wasserstoffs“, berichtet Forscherkollege Dr. Philipp Sperling von der Universität Rostock. „Wenn man weiß, welche thermische und elektrische Leitfähigkeit die ein- zelnen Wasserstoffschichten in der Atmosphäre eines Gasplaneten haben, lässt sich daraus das zugehörige Temperaturprofil berechnen.“ Mit ihren Versuchen haben die Forscher zunächst einen Punkt im sogenannten Phasendiagramm von Wasserstoff festgelegt. Um ein detailliertes Bild der gesamten Planetenatmosphäre zu erstellen, müssen diese Versuche bei anderen Drücken und Temperaturen wiederholt werden. Das alles erfordert großen Aufwand, nicht zuletzt weil Wasserstoff normalerweise auf der Erde nicht in flüssiger Form vorkommt. Um Wasserstoffgas zu verflüssigen, muss es auf etwa 20 Grad über dem absoluten Nullpunkt der Temperatur, also auf minus 253 Grad Celsius heruntergekühlt werden. Aufgeteilte Blitze und eine Superzeitlupe: Wissenschaft an der Grenze des Greifbaren Um die Eigenschaften des flüssigen Wasserstoffs beim Verdampfen zu erfassen, beschossen ihn die Forscher mit weicher Röntgenstrahlung aus dem Freie-Elektronen-Laser FLASH. Dazu wurden die einzelnen Blitze „aufgeteilt“. „Die erste Hälfte des Blitzes heizt den Wasserstoff auf, mit der zweiten Hälfte lassen sich dann dessen Eigenschaften analysieren“, erläutert DESY-Forscher Dr. Sven Toleikis. Mithilfe einer sogenannten Split-and-Delay-Einheit wird die zweite Hälfte des Blitzes gezielt um winzige Sekundenbruchteile (bis zu 15 Billionstel Sekunden) verzögert. Untersucht man das System auf diese Weise zu leicht unterschiedlichen Zeiten, lässt sich in einer Art Superzeitlupe beobachten, wie sich ein thermisches Gleichgewicht zwischen den Elektronen und den Protonen im Wasserstoff einstellt. „Unser Experiment hat uns Möglichkeiten aufgezeigt, wie sich dichte Plasmen mit Röntgenlasern untersuchen lassen“, sagt Dr. Thomas Tschentscher, wissenschaftlicher Direktor am Röntgenlaser European XFEL in Hamburg, an dem 2017 die ersten Experimente starten. „Diese Methode öffnet den Weg für weitere Studien, beispielsweise an dichteren Plasmen schwererer Elemente und Gemische, wie sie im Inneren von Planeten vorkommen. Von den Ergebnissen erhoffen wir uns unter anderem eine experimentell unterfütterte Antwort auf die Frage, warum die bisher außerhalb unseres Sonnensystems entdeckten Planeten nicht in allen denkbaren Kombinationen von Eigenschaften wie Alter, Masse, Größe oder Elementzusammensetzung auftreten, sondern bestimmten Gruppen zugeordnet werden können.“ In das Kooperationsvorhaben eingebunden waren Forscher der Universitäten Jena, Rostock und Münster, vom DESY und vom Europäischen Röntgenlaser European XFEL, vom Helmholtz-Institut Jena, von der Universität Oxford und vom GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung – sowie vom SLAC National Accelerator Laboratory und vom Lawrence Livermore National Laboratory. Christian Jung Impulse 02_2014 81 Der Tanz des Wassers Mit einer neuen Technik können Forscher Moleküle in Bewegung beobachten – beispielsweise das genaue Zusammenspiel zwischen Proteinen und Wassermolekülen. Dadurch wird allmählich klar, was gerade das Wasser zu einer besonderen Flüssigkeit macht. Professorin Martina Havenith-Newen von der Ruhr-Universität Bochum justiert eine komplexe Anordnung von Spiegeln und optischen Geräten. Mit einem Terahertz-Laser ist die Chemikerin der Bewegung von Wassermolekülen auf der Spur. 82 Impulse 02_2014 83 Einige Pflanzen und Tiere schützen sich mit „Frostschutzproteinen“ vor Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. In der Arktis und Antarktis lebende Fische etwa überstehen mit diesem Trick Temperaturen von einigen Minusgraden. Wie jedoch die Larve des Feuerkäfers Dendroides Canadensis es schafft, Temperaturen bis zu immerhin -30 Grad Celsius zu trotzen, hat jetzt ein Forscherteam in Bochum herausgefunden. Entscheidend für einen funktionierenden Kälteschutz sind danach verschiedene molekulare Interaktionen zwischen den Frostschutzproteinen und – den Molekülen des Wassers. Um diese Protein-Wasserbewegungen und Wechselwirkungen in realer Zeit überhaupt zeigen zu können, entwickelten die Forscher zeitaufgelöste Techniken, mit deren Hilfe sich sogenannte Terahertz-Filme aufnehmen lassen. Ein Besuch bei Wissenschaftlern mit Mut zum Risiko und handwerklichem Können. Der Mensch besteht zu gut 60 Prozent aus Wasser. Vögel bringen es auf 75 Prozent, Äpfel und Birnen auf 85 Prozent und Gurken, Tomaten und Quallen auf einen Anteil von 98 Prozent. Was aber macht das Wasser in den Organismen? Beim Menschen schwappt ein Teil davon im Magen oder fließt durch die Adern. Das meiste Wasser aber befindet sich in den Zellen des Körpers. „In den Lehrbüchern ist das Wasser nur der Stoff, der zur Seite weicht, wenn die eigentlichen Stars, die Proteine, auftreten“, sagt Martina Havenith-Newen. Doch die Professorin für Physikalische Chemie an der Ruhr-Universität Bochum ist überzeugt: Die Lehr- bücher müssen bald umgeschrieben werden. Denn Wasser ist nicht nur das universale Lösungsmittel, das die Lücken zwischen den vermeintlich interessanteren Teilen der Zellmaschinerie füllt, sondern es ist ein aktiver Mitspieler. Die wichtigste Eigenschaft des Wassers für die Zelle ist seine Netzstruktur. Ein Wassermolekül, bestehend aus einem Atom Sauerstoff und zwei Atomen Wasserstoff, bildet zu seinen Nachbarn bis zu vier schwache Bindungen aus, die sogenannten Wasserstoffbrücken. Diese Annäherung ist allerdings nur von vorübergehender Dauer: Während ein Enzym (große weiße Struktur im Hintergrund) und ein Substrat (grün, im mittleren und rechten Bild) aneinander binden, verändert sich die Dynamik des Wassers (rot-weiß): Die Wasserstoffbrücken brechen am aktiven Zentrum langsamer auf (hellblau) als Der bislang „unsichtbare“ Frequenzbereich des elektromagnetischen Spektrums zwischen Mikrowellen- und Infrarotstrahlung lässt sich jetzt mit ultrakurzen Terahertz-Pulsen beobachten. Die Messungen von Molekülbewegungen erfolgen mithilfe dieses komplexen optischen „Geräteparcours“. Etwa ein Mal pro Pikosekunde – das entspricht einer Billionstel Sekunde – brechen die Wasserstoffbrücken bei Zimmertemperatur auf. Dann dreht und bewegt sich das Wassermolekül ein wenig und schlägt neue Brücken zu anderen Nachbarn. Sinkt die Temperatur, verlangsamt sich die Bewegung. „Man kann sich das vorstellen wie in der Disko“, sagt Havenith-Newen. „Man tanzt mit jemandem, dreht sich dann ein wenig und tanzt mit jemand anderem.“ Bei starren Wasserstoffbrücken wäre die Zelle wie eingefroren. Wären die Brücken hingegen noch flexibler, geriete das ganze komplexe Zellgeschehen in Unordnung. Diese Fähigkeit, das Zellgeschehen gerade so im Gleichgewicht zu halten, dass es schnell von einem Zustand in einen anderen wechseln kann, macht das Wasser für das Leben unverzichtbar. sonst (dunkelblau). Dadurch verlangsamt sich die Bewegung des Wassers in der Umgebung des Substrats. KITA macht's seit Kurzem möglich: Film ab für den „Tanz des Wassers“ Dieser „Tanz des Wassers“ ließ sich so zwar bislang formulieren, nicht jedoch unmittelbar beobachten. Veränderungsbewegungen von Wasserstoffbrücken im Pikosekundentakt – das entspricht einer Frequenz im Terahertz-Bereich – zu messen, war nicht möglich. Optische Strahlungsquellen wie Laser funktionierten nur bis in den mittleren Infrarotbereich (12 bis 120 Terahertz), elektronische Strahlungsquellen reichen von Megahertz wie beim Radio bis zu Mikrowellen (1 bis 300 Giga- 84 hertz). Zwischen Infrarot und Mikrowellen klaffte die „Terahertz-Lücke“. Für diesen Frequenzbereich des elektromagnetischen Spektrums war lange weder Strahlungsquelle noch Detektor verfügbar – genau dort aber spielt sich der Tanz des Wassers ab. Martina Havenith-Newen und ihre Arbeitsgruppe haben in Bochum jetzt eine Methode entwickelt mit dem komplizierten Namen „Kinetische Terahertz-Absorptionsspektroskopie“, kurz KITA. Sie beruht auf ultrakurzen Laserpulsen (siehe Kasten „Die Terahertz-Spektroskopie“). Mit KITA kann man nun das Wasser beim Tanzen beobachten – wobei „zusehen“ etwas übertrieben formuliert wäre. Was man sieht, sind Signale auf dem Bildschirm eines Detektors. Diese zeigen an, wie viel jener mit den Laserpulsen ausgesandten Strahlung vom Wasser absorbiert wird. Daraus wiederum können die Forscher auf die Geschwindigkeit schließen, mit der die Wassermoleküle tanzen. Die Terahertz-Absorptionsspektroskopie lieferte den Bochumer Forschern jetzt die Erkenntnis: Es geht in der Zelle tatsächlich zu wie in einer Disko. Dabei gibt es gemächlichere und wildere Tänzer, und es gibt Langweiler, die den ganzen Abend in der Ecke sitzen. Die Tanzfläche ist allerdings äußerst knapp bemessen, denn die Zelle ist so reichlich mit Biomolekülen wie zum Beispiel Proteinen oder Enzymen angefüllt, dass zwischen diesen gerade einmal Platz für drei oder vier Schichten von Wassermolekülen ist. Impulse 02_2014 85 Die Wasserstoffbrücken zwischen Wassermolekülen (rot-weiß) öffnen sich etwa ein Mal pro Pikosekunde. Die Moleküle drehen sich und gehen eine Bindung mit einem anderen Wassermolekül ein. Es ist, als tanzten die Wassermoleküle um das Enzym. Mithilfe von KITA konnten die Forscher zeigen, dass Proteine und Wassermoleküle aneinander gekoppelt sind, auch in ihren Bewegungen. Die tanzenden Moleküle „treten“ gegen die Proteine, diese wiederum bremsen die Tänzer aus. Das geschieht nicht überall gleich stark, und genau diese Unterschiede sind wichtig – zum Beispiel für die Enzyme, die eine bedeutende Rolle im Stoffwechsel spielen. Ihre Aufgabe ist es unter anderem, chemische Reaktionen anzustoßen oder Die Terahertz-Spektroskopie Der Terahertz-Bereich ist eine für menschliche Augen unzugängliche Welt, die Ungeahntes bereithält: Luft ist so gut wie undurchsichtig, Eis und Papier hingegen sind fast völlig transparent. Dieser Welt nähert man sich, besucht man das Bochumer Forscherteam um Martina HavenithNewen. Man trifft die Wissenschaftler in der Hochschule zumeist in ihrem klimatisierten Laserlabor an. Darin stehen zwei Arbeitstische, bis zur Decke abgeschirmt mit durchsichtigen Folien und dicken schwarzen Vorhängen. Die Vorhänge verhindern, dass Laserstrahlen unkontrolliert in andere Bereiche des Raums dringen; die Folien halten Staub und Luftfeuchtigkeit ab, die die empfindlichen Linsen ruinieren und die Strahlung ablenken würden. Laserlabor: Terahertz-Laser senden Pulse im BillionstelSekunden-Takt. 86 diese zu beschleunigen. Dazu müssen genau definierte Stoffe – Chemiker sprechen von Substraten – im aktiven Zentrum des Enzyms andocken. Die neue Methode brachte ans Licht, dass die Bewegung des Wassers nicht gleichförmig um das Enzym verteilt ist: In der Nähe des aktiven Zentrums tanzt das Wasser besonders langsam. „Das bedeutet, dass das Substrat wahrscheinlich nicht zufällig an der richtigen Stelle landet, Hintergrund Der Terahertz-Laser, der an eine überdimensionale Kaffeemaschine erinnert, steht auf dem einen Tisch im Labor, auf dem anderen ruht ein zweiter in Form eines unscheinbaren kleinen Kastens. Davor sind einige Linsen montiert und eine Vorrichtung mit zwei Schläuchen, über die eine zu untersuchende Lösung in Position gebracht wird. Dann geht es los: Zunächst macht der eine der beiden Laser statische Aufnahmen, während der andere die Veränderungen in der Zeit misst. Die Linsen, mit denen die Terahertz-Laser arbeiten, sind mattweiß und für Menschenaugen undurchsichtig. „Das ist Teflon“, erklärt Martina Havenith-Newen. „Man könnte auch Diamant nehmen, aber das wäre ein wenig zu teuer.“ Der Laser sendet nun Pulse aus – vergleichbar einer Belichtung beim Fotografieren. Die Belichtungszeit beträgt aber maximal eine Pikosekunde, das ist der billionste Teil einer Sekunde. Sie muss derart kurz sein, will man Änderungen im Tanz der Wassermoleküle während einer Proteinfaltung oder enzymatischen Reaktion in Echtzeit folgen. Übrigens: Die Terahertz-Strahlung ist Teil der auch vom menschlichen Körper ausgehenden natürlichen Wärmestrahlung und daher völlig ungefährlich. Auf der Messung dieser Strahlung beruhen auch die „Nacktscanner“, über die vor Jahresfrist viel diskutiert wurde. sondern dort andockt wie im ruhigen Wasser eines Hafenbeckens, das umgeben ist von dem unruhigen Wellengang im offenen Meer“, erklärt Martina Havenith-Newen. Das Bild, das sie für ihre Forschungsobjekte zeichnet, passt auch zu der Wissenschaftlerin selbst, die sich früh schon zielsicher passgenaue Partner für ihre Herausforderungen gesucht hat (siehe Kasten Seite 89). „Es ist dieses fein abgestimmte Wechselspiel zwischen dem Wasser und den Biomolekülen in der Zelle, das das Leben erst möglich macht“, schreibt auch der britische Wissenschaftspublizist Philip Ball. So nehmen Proteine ihre typische dreidimensionale Struktur nur in der Umgebung der Wassermoleküle ein, die zudem auch deren Spezifität zu beeinflussen vermögen. Sie können zum Beispiel dafür sorgen, dass mehrere unterschiedliche Substrate an ein Enzym andocken, indem sie die Lücken zum Protein füllen und so für eine gute Passung des jeweiligen Stoffs sorgen. Ebenso können Wassermoleküle Proteine besonders wählerisch machen, fanden Michelle Sahai und Philip Biggin, Bioinformatiker an der Universität Oxford, heraus. Dann entscheidet sich etwa durch die Position eines Wassermoleküls, dass der Neurotransmitter Glutamat, nicht aber dessen synthetischer Ersatz akzeptiert wird. „Wassermoleküle kann man sich wie kleine Legosteine vorstellen, die sich in bestimmter Weise zusammenstecken lassen“, bringt es Philip Ball auf den Punkt. Erfolgreiche „Manipulation“ des Wassers: Frostschutzprotein hält Rekord Letztlich verändert alles, was sich im Wasser befindet, dessen Netzstruktur. Das gilt für einen Löffel Zucker oder Salz, den man in einem Wasserglas verrührt, ebenso wie für in der Zelle gelöste Stoffe und erst recht für große Biomoleküle wie Proteine. Der Einfluss der Biomoleküle auf das Wasser beschränkt sich nicht auf ihre unmittelbare Umgebung, sondern kann weit darüber hinaus reichen; so weit, dass es in der dicht gepackten Zelle kein unbeeinflusstes Wasser gibt. Den Rekord beim erfolgreichen Manipulieren des Wassers halten die Frostschutzproteine. Das Blut in den Eismeeren lebender Fische müsste bei 0,9 Grad gefrieren. Dank ihrer Frostschutzproteine meistern die Tiere jedoch deutlich tiefere Temperaturen. Ist dieser Frostschutz schon gut hundert Mal wirksamer als jene Gefrierschutzmittel, die ins Kühlwasser von Autos gemischt werden, lässt uns die Larve des Feuerkäfers Dendroides Canadensis regelrecht staunen: Ihre Frostschutzproteine sind wiederum um mehr als das Hundertfache effektiver als jene der arktischen Fische. Das Insekt übersteht problemlos Temperaturen von bis zu -30 Grad Celsius im kanadischen Winter. „Das ist das effektivste Frostschutzmittel, das wir kennen“, sind sich Martina Havenith-Newen und ihre Forscherkollegen einig. Versuche haben gezeigt: Selbst geringste Konzentrationen dieser Frostschutzproteine setzen die Gefriertemperatur um mehrere Grad herab. Impulse 02_2014 87 Sie trotzen extremen Umgebungstemperaturen: die Larve des Scharlachroten Feuerkäfers (links; rechts ein ausgewachsenes Exemplar) und Fische, die in den Meeren rund um Arktis und Antarktis leben wie dieser Eisfisch. Die Tiere verfügen über intrazellulär in Wasser gelöste, hochwirksame Frostschutzproteine (Glycoproteine), die es ihnen ermöglichen, bei etlichen Minusgraden zu überleben. Bislang ging man davon aus, dass die Aminosäure Threonin der entscheidende Baustein der Anti-Gefrierproteine ist, über den die Bildung von Eiskristallen verhindert wird. Auf molekularer Ebene stellte man sich das wie folgt vor: Mit einer Wasserstoffbrücke binden sich die Frostschutzproteine – exakt: das Threonin – an winzige Nano-Eiskristalle. Diese bilden sich in der Zelle, sobald die Temperaturen unter den Gefrierpunkt sinken. Normalerweise wachsen diese „Keime“ immer weiter, bis sich makroskopische Eiskristalle gebildet haben. Sind die Mini-Eiskristalle aber mit dem Anti-Gefrierprotein verbunden, unterbleibt das weitere Wachstum der Eiskristalle – auch dann, wenn die Temperaturen deutlich unter den Gefrierpunkt sinken. So wird verhindert, dass sich in der Zelle größere Eiskristalle bilden, die diese zum Platzen bringen. Das wäre tödlich für die Larve des Feuerkäfers. Ohne Threonin also kein wirksamer Frostschutz, dachten die Forscher. Als man das Threonin durch andere Aminosäuren ersetzte, war das Ergebnis allerdings nicht eindeutig: Manchmal funktionierte der Frostschutz weiterhin, manchmal jedoch nicht. Mithilfe der Terahertz-Absorptionsspektroskopie konnten die Forscher zeigen, dass sich bei aktiven Gefrierschutzproteinen die Wassermoleküle an jenen Stellen, an denen die Eisbindung stattfindet, deutlich langsamer bewegen als anderswo. „Die beruhigte Wasserbewegung erleichtert vermutlich das Andocken der NanoEiskristalle an die Bindungsfläche des Proteins“, so Havenith-Newen. In den Messungen zeigte 88 sich, dass das Frostschutzprotein die Bewegung im Wassernetzwerk über 2,7 Nanometer hinweg beeinflussen kann. Wenngleich diese Distanz winzig anmutet, übertrifft das die Reichweite anderer Proteine immerhin um das Zehnfache. Vom spektakulären Frostschutz zu einer neuen Theorie über Lösungsmittel Für einen so potenten Frostschutz gäbe es zahlreiche Anwendungen, etwa beim Tiefkühlen von Spenderorganen, in denen sich während des Transports bis zur Implantation keine Eiskristalle bilden dürfen. Doch es ist momentan noch sehr aufwendig und damit teuer, das Enzym aus Fischen oder Käferlarven zu isolieren. Und um es erfolgreich synthetisieren zu können, müsste man die Wirkungsweise erst einmal genau verstehen. Dazu simulieren die Bochumer Forscher aktuell in leistungsfähigen Rechnern das Verhalten von tausenden Wasserteilchen rund um ein Enzym. „Ziel ist es, die Interaktion der Moleküle mit den Lösungsmitteln in einer vereinheitlichten Theorie zu erfassen“, sagt Havenith-Newen. „Sie soll es uns ermöglichen vorauszusagen, wie sich welches Lösungsmittel auf einen chemischen Prozess auswirkt.“ Inzwischen lassen die systematischen Untersuchungen verschiedener Gefrierschutzproteine erkennen, dass es wohl mehrere Wirkmechanismen gibt. Mutter Natur war und ist demnach in Sachen Frostschutz kreativer als bislang vermutet: Sie setzt auf (mindestens) zwei sich ergänzende oder sogar unterstützende Strategien – zum einen auf die unmittelbare Bindung der Frostschutzproteine unter Einbeziehung des Threonins, zum anderen auf eine zusätzliche Beeinflussung des Wassernetzwerks. „Es reicht wahrscheinlich nicht, nur die dreidimensionale Struktur eines Biomoleküls zu betrachten, um dessen Funktionsweise zu begreifen“, folgert Havenith-Newen. „Man muss auch die Interaktion mit dem Lösungsmittel in die Gesamtbetrachtung einbeziehen.“ Das Leben ist im Wasser entstanden – und mit ganz entscheidender Hilfe der Experten aus Bochum beginnt die Wissenschaft allmählich zu verstehen, was das bedeutet. „Die Terahertz-Spektroskopie hat ein neues Fenster geöffnet“, sagt Martina Havenith-Newen, „eines von vielen, durch die die Forscher schauen müssen, um die komplizierten Vorgänge in der Zelle zu begreifen.“ Sollte einmal verstanden sein, wie die diversen Wechselwirkungen zwischen Lösungsmittel und gelöstem Stoff im Detail funktionieren, könnte die Forschung in vielen Bereichen einen enormen Schub erfahren. Da sind sich die Wissenschaftler sicher. Manuela Lenzen Solvation Science: die Wissenschaft von den Lösungsmitteln Lösungsmittel spielen in Chemie, Medizin und Industrie eine zentrale Rolle. Sie befördern oder behindern chemische Reaktionen. Das ist lange bekannt. Doch was dabei auf molekularer Ebene geschieht, wird erst jetzt sichtbar. „Wir können das nun messen und auch simulieren“, sagt Martina Havenith-Newen von der RuhrUniversität Bochum. „Es ist an der Zeit, sich die Lösungsmittel auf molekularer Ebene genauer anzusehen.“ Sie und ihre Kollegen sind gerade dabei, eine neue Wissenschaft aus der Taufe zu heben: „Solvation Science“, die Wissenschaft von den Lösungsmitteln. Ihre Kollegen, das sind bei diesem von der VolkswagenStiftung geförderten Projekt die beiden Chemiker Professor Dr. Martin Grübele und sein Team von der University of Illinois at Urbana-Champaign, USA, und Professor Dr. David M. Lettner von der University of Nevada in Reno, USA. In einem 2012 gegründeten neuen Forschungszentrum auf dem Bochumer Campus sind Forscher unterschiedlicher Disziplinen mit ihren diversen Methoden dabei, das Verständnis vom Wechselspiel zwischen den gelösten Molekülen Hintergrund und ihren Lösungsmitteln zu erhellen. Speziell auf ihre Anwendung zugeschnittene DesignerLösungsmittel, so hoffen sie, lassen bald schon chemische Reaktionen effizienter ablaufen und machen sie damit energiesparender. Beispielsweise könnten sie – sobald auf molekularer Ebene einmal verstanden ist, wie der Ladungsfluss in einer Batterie funktioniert – effizientere Batterien mit längeren Standzeiten ermöglichen oder auch eine Rolle bei der Optimierung von Medikamenten spielen. Und vielleicht ließen sich dringend benötigte Lösungsmittel finden, die weder brennbar noch flüchtig sind – und damit auch weniger gefährlich und ungesund. Weitere Infos zum Thema geben die Bochumer Forscher regelmäßig unter www.ruhr-unibochum.de/solvation/ Impulse 02_2014 89 Sicherheit hat Vorfahrt Wenn man bestimmte Risiken kennt, lässt sich das Gefahrenpotenzial häufig minimieren. So hilft zum Beispiel moderne Technik, Verkehrsunfälle zu vermeiden. Doch welche Systeme gewährleisten wirklich mehr Sicherheit? Daran forschen Wissenschaftler in Oldenburg und Braunschweig. Autofahren erfordert komplexe Fähigkeiten. Der Fahrer muss Risiken richtig einschätzen, sich mit der technischen Bedienung auskennen und blitzschnell auf Reize reagieren – und das bei jeder Witterung. Doch das Fahrverhalten des „Risikofaktors Mensch“ ist weitgehend unerforscht, meinen Oldenburger Wissenschaftler. 90 Impulse 02_2014 91 Wer ins Auto steigt, setzt sich Risiken aus. Seit Jahren aber sinkt die Zahl der Opfer im Straßenverkehr. Das verdanken wir nicht zuletzt elektronischen Helfern wie Antiblockiersystem und Co; sie tragen entscheidend dazu bei, Unfälle zu vermeiden. Wissenschaftler eines niedersächsischen Forschungsverbunds untersuchen seit einigen Jahren die Wechselwirkungen zwischen Fahrer, Fahrassistenzsystemen und Fahrzeug. „IMoST“ – so der Name des Projekts – wird gemeinsam gefördert vom Land Niedersachsen und der VolkswagenStiftung aus Mitteln des „Niedersächsischen Vorab“. Die Rettungskräfte sind erschüttert, Zeugen stehen unter Schock, die Autobahn ist mehrere Stunden lang gesperrt: Ein 51-jähriger Motorradfahrer ist bei einem Unfall auf der A 27 ums Leben gekommen. Er fährt gerade auf der Überholspur, als ein Kleintransporter nach links ausschert und ihn gegen die Leitplanke drückt. Offenbar übersieht der Fahrer das Motorrad, als er einem Sattelzug Platz macht, der auf die Autobahn auffährt. Die Bremerhavener Feuerwehr rückt in kürzester Zeit mit einem Großaufgebot aus. Für den Zweiradfahrer jedoch gibt es keine Hilfe; er erliegt unmittelbar seinen schweren Verletzungen. Über solche und ähnliche Schicksale wie dieses dem Jahr 2013 willkürlich entrissene liest man immer wieder in der Zeitung. Was man sich meist nicht vor Augen hält: 90 Prozent aller Unfälle im Straßenverkehr gehen auf Fehler des Fahrers, der Fahrerin zurück. Ohne Zweifel: Das Autofahren erfordert komplexe Fähigkeiten. Der Fahrer muss Risiken richtig einschätzen, sich mit der technischen Bedienung auskennen und blitzschnell auf Reize reagieren. Und die Anforderungen werden zunehmen: Denn laut Schätzungen soll der Verkehr bis 2020 um rund 20 Prozent steigen; zudem sind aufgrund der demografischen Entwicklung immer mehr ältere Menschen unterwegs, manche mit vermindertem Reaktionsvermögen. Das ist die eine Seite. Die andere lässt dagegen staunen. Denn obwohl immer mehr motorisierte Zwei- und Vierräder unterwegs sind, sinkt die Zahl der Verkehrstoten stetig – rund 3.600 Opfer im Jahr 2012 nennt die Statistik und weist damit den niedrigsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen aus. Den Grund dafür sehen Verkehrsexperten – neben 92 einer verbesserten passiven Sicherheit durch Gurtpflicht und modernen Fahrzeugmaterialien – vor allem in den modernen Assistenzsystemen: heißen sie nun Airbag oder Totwinkelwarner. Die Fahrzeuge werden immer sicherer. Droht Gefahr, informieren die elektronischen Helfer den Fahrer, warnen ihn oder korrigieren Fahrfehler. „Hier geht es um Systeme, die in die Fahrdynamik eingreifen, wenn man in eine Gefahrensituation gerät. So soll der Unfall vermieden oder zumindest dessen Wirkung reduziert werden“, erklärt Professor Dr. Werner Damm, Direktor des Forschungszentrums Sicherheitskritische Systeme der Universität Oldenburg und Vorstand des Oldenburger OFFISInstituts. Im Verbund mit Kollegen aus verschiedenen Fachgebieten erforscht der Informatiker, wie sich Gefahren im Straßenverkehr reduzieren lassen. Lange seien Techniken entwickelt worden ohne Nutzen für den Fahrer, moniert Damm. Eine nervig piepende Tankanzeige in Gefahrsituationen sei nur eins der Negativbeispiele. Ob und wie die elektronischen Helfer wirklich nützen, haben Wissenschaftler in dem Verbundprojekt IMoST – „Integrated Modeling for Safe Transportation“ – untersucht (siehe Kasten auf Seite 95). Bislang berücksichtigten die üblichen Testverfahren die Einflussparameter Fahrzeug, Assistenzsysteme und Umgebung. Resultierende Berechnungen ließen jedoch eine ganz große Unbekannte außen vor: den Menschen. „Das Verhalten der Fahrer ist weitgehend unerforscht“, betont Sicherheitsforscher Damm. Die große Unbekannte: der schwer berechenbare Mensch hinter dem Steuer IMoST dagegen nimmt nun erstmals die Wechselwirkung von Mensch und Maschine in den Blick. Dabei werden keine neuen Fahrassistenzsysteme geschaffen, sondern Software, die eine verbesserte Entwicklung solcher Systeme ermöglicht. „Man könnte IMoST auch als Schraubenschlüssel im Werkzeugkasten der Sicherheitssysteme bezeichnen“, vergleicht Martin Fränzle, Professor für Informatik an der Universität Oldenburg. Mithilfe der neuen Computerprogramme ließen sich jetzt Reaktionen, an denen gleichermaßen Auto, Fahrer und Assistenzsystem beteiligt sind, im Verkehr analysieren und Situationen durchspielen. Man wolle damit der Wirtschaft ein effektives Prüfverfahren für Fahrassistenzsysteme anbieten, fügt Fränzle hinzu. Dazu führten die Forscher etablierte Computermodelle für Fahrzeug, Umgebung und Fahrassistenzsysteme mit neu entwickelten, sogenannten Fahrermodellen zu einer gemeinsamen Software zusammen. Sie preisten also das typische, erwartbare Verhalten der Autofahrer in ihre Berechnungen ein. Wenngleich in Deutschland noch recht jung und relativ unbekannt, hat dieses Forschungsfeld mit „Human Modelling“ schon einen Namen. „Aktuell arbeiten auf dem Gebiet bundesweit nur eine Handvoll Fachleute“, weiß Jürgen Niehaus, der IMoST als Projektmanager von der Universität Oldenburg aus begleitet. Ergänzend griffen die Wissenschaftler im Zuge der aufwendigen Modellberechnungen auf grundlegende Untersuchungen aus Psychologie und Kognitionswissenschaften zurück. Diese geben zum Beispiel Aufschluss darüber, nach wie vielen Sekunden ein Autofahrer bremst oder auf einen Reiz reagiert. Den entsprechenden Input lieferte Professor Dr. Hans Colonius mit seinen Mitarbeitern aus dem Fachbereich Allgemeine Psychologie und Methodenlehre der Universität Oldenburg. Zum anderen flossen in die Softwaremodellierung der Informatiker zahlreiche Datensätze ein aus Tests, die unmittelbar mit Probanden im Fahrsimulator durchgeführt wurden – und zwar gemeinsam von Forschern am dritten Projektstandort, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Braunschweig, und von Oldenburger OFFIS-Kollegen. „Hier haben wir wann immer möglich auch menschliches Fehlverhalten berücksichtigt und in die Berechnungen einkalkuliert“, schildert Dr. Frank Köster, Wie wird Autofahren noch sicherer? Damit beschäftigen sich (Bild rechts, von links) am Forschungszentrum Sicherheitskritische Systeme der Universität Oldenburg und am Oldenburger OFFIS-Institut Professor Martin Fränzle, Dr. Andreas Lüdtke, Dr. Frank Köster und Professor Werner Damm. Linkes Bild: Projektmanager Dr. Jürgen Niehaus vom OFFIS-Institut. Die Vielfalt an Fahrassistenzsystemen ist heute so groß wie die Auswahl an Automodellen. Doch welche Systeme sind wirksam, welche weniger? Schon seit Jahren wird die Sicherheit von Autos und Assistenzsystemen lange vor der Markteinführung mithilfe von Computermodellen getestet. So können bereits in frühen Entwicklungsphasen Schwächen erkannt, Eigenschaften verändert oder technische Neuerungen auch verworfen werden – noch bevor die Serienproduktion startet. Impulse 02_2014 93 Jürgen Niehaus im Fahrsimulator. So wie er kurvten etliche Männer und Frauen durch die virtuelle Verkehrswelt. Das Bild unten zeigt kumulierte Ergebnisse aus zahlreichen Fahrsimulationen. – jene Gefahrsituation, die dem eingangs erwähnten Motorradfahrer das Leben kostete. 24 junge Männer und Frauen absolvierten ungefähr 3.500 Experimente, bei denen es um ihre Reaktionszeit ging; sie machten insgesamt 10.000 Versuche. Weitere zwölf kurvten im Simulator durch die virtuelle Verkehrswelt. Die Ergebnisse mündeten in die Entwicklung diverser Fahrermodelle für IMoST. Zudem dienten die wissenschaftlichen Messdaten mehreren Dissertationen als Grundlage. Leiter der Abteilung Automotive am Institut für Verkehrssystemtechnik des DLR. Typische Ursachen für Fahrfehler: Die Person hinter dem Steuer übersieht wichtige Informationen oder trifft Fehlentscheidungen, weil sie ihre Fähigkeiten überschätzt. Professor Damm nennt noch zwei weitere Hürden, die die Wissenschaftler auf dem Weg zu einer neuen Software zu nehmen hatten: „Das typische Fahrverhalten gibt es nicht; Menschen reagieren unterschiedlich. Und: Wir müssen nicht nur eins, sondern zahlreiche Fahrassistenzsysteme berücksichtigen.“ Und dann wurde es noch konkreter: Anhand verschiedener Fallstudien überprüften die Forscher die bei IMoST entwickelten Fahrermodelle auf ihre Wirksamkeit – etwa über Experimente mit Autofahrern im Fahrsimulator. Der Simulator mutet auf den ersten Blick an wie ein Kleinwagen, der auf eine Leinwand mit einer projizierten Fahrsituation zusteuert. In einem der Anwendungsszenarien setzten Wissenschaftler am OFFIS-Institut beispielsweise ein Assistenzsystem für Spurenwechselmanöver auf der Autobahn ein. Die Forscher beobachteten nun, wie verschiedene Fahrer den Spurenwechsel auf der Autobahn bewältigen 94 Projektmanager Niehaus ist überzeugt: IMoST ist erst der Startschuss für ein Dutzend weiterer Projekte. „Durch die Unterstützung mit Geldern aus dem Niedersächsischen Vorab hat sich nicht nur der Forschungszweig in Niedersachsen etabliert. Inzwischen werden wir in Europa wahrgenommen“, freut sich auch Werner Damm. Außerdem sei man extrem gut vernetzt mit der europäischen Automobilindustrie – und die steuere schließlich mit Vollgas auf Automatisierung zu. In der Tat träumen viele Automobilhersteller vom autonomen Fahren. Schon bald werden uns wohl Autos ohne eine menschliche Hand in Aktion wie ferngesteuert zum Ziel bringen. Da fügen sich die Arbeiten der IMoST-Forscher perfekt ein, die die ganze Bandbreite abdecken vom teilautomatisierten über das hochautomatisierte Fahren bis hin zu immer höheren Automatisierungsgraden. Ein Auto selbststeuernd fahren zu lassen sei mittlerweile eigentlich problemlos möglich, sagen die Wissenschaftler. Umso mehr gelte es, die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Systeme zu optimieren. Unfallforscher vermuten, dass bereits heute die serienmäßige Ausstattung mit den üblichen Fahrassistenzsystemen die Zahl der Unfälle um bis zu 25 Prozent reduzieren würde. Mit einem Spurwechselassistenten hätte der Fahrer des Kleinlasters den Motorradfahrer im eingangs geschilderten Fall zweifelsohne bemerkt. Der 51-Jährige wäre möglicherweise noch am Leben. Heidrun Riehl-Halen (Text) // Christian Burkert (Fotos) Projektverbund „IMoST“ – weiter erfolgreich Am Forschungsverbund „Integrated Modelling for Safe Transportation“ – kurz: IMoST – sind Wissenschaftler vom Oldenburger Forschungs- und Entwicklungsinstitut für Informatik (OFFIS), vom Forschungszentrum Sicherheitskritische Systeme der Universität Oldenburg sowie vom Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Braunschweig beteiligt. Informatiker, Elektrotechniker, Ingenieure und Psychologen tragen hier ihr Know-how zusammen. Ihr Kernanliegen ist es, das Fahren im Straßenverkehr immer sicherer zu machen. Dafür erhielt das Netzwerk über zwei Förderperioden Unterstützung aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab. Im Rahmen der Förderlinie „Forschungsverbünde und Forschungsschwerpunkte“ wurden von April 2007 bis Dezember 2013 insgesamt 4,3 Millionen Euro bereitgestellt. Der starke Praxisbezug, die interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie die vorbildliche Kombination aus Grundlagen- und angewandter Forschung hatten die VolkswagenStiftung und das Wissenschaftsministerium überzeugt. Dieselben Partner um Professor Werner Damm von der Universität Oldenburg waren Anfang 2013 auch erfolgreich in der Ausschreibung zur „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit niedersächsischer Hochschulstandorte“ – niedersachsenweit kamen insgesamt nur vier Bewerbergruppen zum Zug. Das vergangene Jahr wurde bereits intensiv dazu genutzt, an der Hochschule ein neues interdisziplinäres Forschungszentrum im Bereich Sicherheitskritische Systeme aufzubauen, das „Interdisciplinary Research Center on Critical Systems Engineering for Socio-Technical Systems”. Das Interesse der Forscher konzentriert sich dort auf hochkomplexe computerbasierte Systeme, die in der Automobilindustrie, der Luft- und Raumfahrt, der Meerestechnik, der Automati- Hintergrund sierungstechnik, der Energieversorgung und im Gesundheitswesen eingesetzt werden. Sie steuern beispielsweise den Motor in Fahrzeugen, unterstützen bei Navigation, Spurhalten oder Unfallvermeidung und tragen als Autopilot und Kollisionsvermeidungssystem in Flugzeugen und Schiffen zu einem sicheren Luft- und Schiffsverkehr bei. Um die Einhaltung der geforderten Sicherheitsstandards in der Entwicklung neuer Systeme zu garantieren, sind interdisziplinäre Ansätze nötig – zumal sich die Verlässlichkeit von sicherheitskritischen Systemen im Labor immer schwieriger erproben lässt. Deshalb arbeiten die Oldenburger Forscher – und mit ihnen Kollegen anderer Wissenschaftseinrichtungen – unter Hochdruck vor allem an Computersimulationen und -modellierungen neuen Typs. Ziel sind integrierte „soziotechnische Systeme”, die die Interaktionen zwischen den im Gesamtsystem handelnden Menschen, ihren Assistenzsystemen und deren technischer und natürlicher Umwelt abbilden. Zunächst überprüfen und entwickeln die Wissenschaftler solche Systeme für den Verkehrssektor: das heißt für Auto, Flugzeug, Schiff und Bahn. Gefördert wird das Verbundvorhaben ebenfalls aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab. cj Von der Idee bis zur Marktreife: Die Wege, neue Informationsund Kommunikationstechnologien zu entwickeln, sind manchmal lang. Die Oldenburger OFFISInformatiker wissen häufig die richtigen Abkürzungen. Impulse 02_2014 95 Forum Stiftungsengagement an der Schnittstelle Wissenschaft und Gesellschaft Mathematik in der Ingenieurausbildung erfolgreich vermitteln – aber wie? Stiftungshandeln professionalisieren – Experten diskutieren, wie Stiftungen wirken Stiftungen befassen sich aufgrund von steigendem öffentlichen Interesse an ihrem Handeln vermehrt mit Wirkungsmessung, Good Governance und Transparenz. Am 5. Februar 2014 trafen sich Vertreter von Stiftungen in Hannover, um darüber zu diskutieren. In den ersten Semestern haben viele Studierende der Ingenieurwissenschaften große Probleme mit den Anforderungen in der Mathematik. Die Hochschulen versuchen dem entgegenzuwirken – unterstützt durch Partner wie Lehren. Viele Studierende der Ingenieurwissenschaften scheitern an den Anforderungen in der Mathematik. Hochschulen arbeiten daran, dieses Problem zu beheben. Die Ergebnisse der Studie „Learning from Partners“ wurden bei der Tagung „Wie wirken Stiftungen?“ diskutiert (von links): Bettina Jorzik (Stifterverband), Prof. Dr. Joachim Rogall (Robert Bosch Stiftung), Dr. Volker Then (CSI), Dr. Frank Suder (Fritz Thyssen Stiftung), Martin Hölz (CSI). Grundlegende Impulse für die Diskussion der rund neunzig Experten, die auf Einladung der VolkswagenStiftung stattfand, lieferten Ergebnisse aus der 2012 veröffentlichten Studie „Learning from Partners“ vom Centrum für soziale Investitionen und Innovationen (CSI) der Universität Heidelberg und aus der Studie „Forschungsfördernde Stiftungen in der Wahrnehmung ihrer Stakeholder“ der TU Dresden aus 2013. Einige deutsche Stiftungen hatten die Wahrnehmung durch Antragsteller, Wissenschaftler, Medien-, Politikund Wirtschaftsvertreter sowie Stiftungsakteure erfragt. Martin Hölz und Dr. Volker Then vom CSI sowie Professor Dr. Wolfgang Donsbach von der TU Dresden stellten einige der Resultate vor. Auch der Beitrag des Evaluationsexperten Professor Dr. Hans-Dieter Daniel, Universität und ETH Zürich, 96 zu unterschiedlichen Evaluationsdesigns gab Input für lebhaften Austausch. Mit Beispielen aus Evaluationsprojekten bei Förderorganisationen machte er deutlich, wie schwierig die Durchführung methodisch fundierter Wirkungsmessungen ist. Resümierend stellten die Teilnehmer der Podiumsdiskussion Bettina Jorzik (Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft), Professor Dr. Bernhard Lorentz (Stiftung Mercator), Professor Dr. Joachim Rogall (Robert Bosch Stiftung), Dr. Frank Suder (Fritz Thyssen Stiftung) und Dr. Wilhelm Krull (VolkswagenStiftung) fest, dass die Stiftungen durch die Studien einen wichtigen Schritt in Richtung Wirkungsorientierung getan haben, der den Mut erfordert, sich auf allen Hierarchieebenen kritischen Einschätzungen zu stellen. Das Bündnis Lehren hat in Kooperation mit dem Projekt nexus der Hochschulrektorenkonferenz am 8. April 2014 rund 200 Expertinnen und Experten im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen in Hannover versammelt. Vertreter von Hochschulen und Fördereinrichtungen haben sich bei „Abgucken erlaubt!“ über erfolgreiche Reformprojekte zur besseren Vermittlung der Mathematik in den Hochschulen ausgetauscht. Die VolkswagenStiftung ist Teil des Bündnisses Lehren, das Plattformen wie Workshops, Netzwerktreffen und Tagungen wie die in Hannover anbietet. Die im April vorgestellten Modellprojekte dienen beispielsweise dazu, den Studierenden zu vermitteln, wie sie eine Vorlesung sinnvoll nacharbeiten können. Neue Konzepte stellen auch der kontrollierte Einsatz von Tutoren dar, die Vermittlung der Bedeutung von freiwilligen Übungsblättern sowie fächerbezogene Projekte – etwa wie man Mathematik „lesen“ kann. Die Ziele der meisten Hochschulen seien ähnlich, berichtete Professor Dr. Manfred Ham- pe, Ars legendi-Preisträger für exzellente Lehre in der Studieneingangsphase „Wir sind dafür verantwortlich, den sprichwörtlichen Samen zu legen, um ein selbstständiges Studieren zu ermöglichen.“ Dass sich durch die laufenden Projekte nicht nur die Zufriedenheit der Ingenieursstudenten erhöht, sondern sich bereits messbare Erfolge einstellen, wurde am Beispiel der Fachhochschule Köln deutlich: „Durch gut aufeinander abgestimmte Maßnahmen konnten wir die Abbrecherquote in den ersten Semestern von 15 auf fünf Prozent reduzieren“, berichtete Professor Dr. Christian Averkamp, Dekan der Fakultät für Informatik und Ingenieurwissenschaften der Kölner Fachhochschule. Ebenso führte die Flexibilisierung bei der Zeiteinteilung der Studienmodule zu merklich weniger Studienabbrüchen – denn heutzutage haben viele Studierende zusätzliche Verpflichtungen wie Nebenjobs oder Kindererziehung. Man war sich schnell einig: Solche Ideen sollten Schule machen. Impulse 02_2014 97 Veranstaltungen „Herrenhausen Late – ScienceMusicFriends“ „Herrenhausen Late“ ist eine Veranstaltungsreihe für ein junges, wissenschaftlich interessiertes Publikum. Die VolkswagenStiftung veranstaltet das Format in Kooperation mit der Leibniz Universität Hannover und der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Bereits zum Auftakt im Juli 2013 war der Ansturm auf den Festsaal von Schloss Herrenhausen enorm – seither ist Herrenhausen Late ein bedeutender Anziehungspunkt für das Publikum. Denn es gibt keine Katheder-Vorlesung, keine abstrakte Forschung – hingegen werden Wissenschaftsthemen originell gewendet und von Experten ebenso unterhaltsam wie überraschend aufbereitet. Die Themen reichten bisher von der makabren Freude an Leichen und den Fertigkeiten von FoodDesignern über die Websprache der Jugendlichen und die Ernährung der Weltbevölkerung bis hin zum Klang des Urknalls. An jedem dieser Abende steht die Interaktion mit dem Publikum im Vordergrund. Dazu verwandeln die Macher den Festsaal im Herrenhäuser Schloss in eine Lounge: mit DJ, Sitzecken, einer Bühne und Bar – und reichlich Aktion. Künftig soll die Veranstaltungsreihe vier Mal pro Jahr stattfinden. 2014 lädt die Stiftung noch zu zwei Terminen. Am 7. Oktober und am 7. November heißt es dann wieder: „Herrenhausen Late – ScienceMusicFriends“. 98 Impulse 02_2014 99 Veranstaltungen November Mit ihren derzeit fünf Veranstaltungsreihen im Schloss Herrenhausen in Hannover verfolgt die VolkswagenStiftung das Ziel, Wissen in die Gesellschaft zu tragen, Forschern ein Forum für ihren fachlichen Austausch zu geben und die Verbindung von Wissenschaft und verschiedenen Zielgruppen zu intensivieren. Eine aktuelle Übersicht der wissenschaftlichen Veranstaltungen im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen sowie Anmeldemöglichkeiten sind zu finden unter www.volkswagenstiftung.de/veranstaltungen. Hier ausgewählte Termine der nächsten Monate. September 2.9. 15.9.-17.9. 18.9. 19.9.-20.9. 26.9. Leopoldina Lecture: „Der Strombürger und das liebe Geld – Sozio-ökonomische Aspekte der Energiewende“ Workshopreihe „Professionals in Science“ für – angehende – Führungskräfte in der Wissenschaft Herrenhäuser Gespräch: „Pioniere und Prosumer – eine Politik des Praktischen“ Hochschulpolitisches Werkstattgespräch Öffentlicher Abendvortrag: „Referenzwerte und Verteilung von Risikofaktoren für die kindliche Gesundheit“ Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Von unserer Sehnsucht, das Schöne zu erklären“ Statussymposium: „Extreme Events“ (beendetes Fördergebiet der Stiftung) Herrenhausen Late Herrenhäuser Konferenz: „Beyond the Intestinal Microbiome – From Signatures to Therapy“ Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Hundert Billionen Mitbewohner – wie Mikroorganismen unsere Gesundheit beeinflussen“ Hannah Arendt Tage Herrenhäuser Zukunftsdialog: „Wie wollen wir morgen miteinander leben?“ ser äu nh EN e r her SI M SY 100 Dezember 3.12.Herrenhäuser Forum Politik – Wirtschaft – Gesellschaft: „Wie viel Streit braucht die Demokratie? Über das Verschwinden des Politischen“ 4.12.-5.12. Symposium: „Musik, Fest und Vergnügen“ 10.12.-12.12. Herrenhäuser Symposium: China in the Global Academic Landscapes 10.12.-12.12. Symposium: „Dual Use Research in Microbes – Biosafety, Biosecurity, Responsibility.” Januar/Februar (Vorschau 2015) Oktober 1.10. 6.10.-7.10. 7.10. 8.10.-10.10. 9.10. 11.10. 27.10. 3.11.-5.11. Workshopreihe „Professionals in Science“ für – angehende – Führungskräfte in der Wissenschaft 5.11.Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen Extra: „Augenzeugen, Übersetzer, Zeitzeugen – der Nahe Osten“ 6.11.-8.11. Nature Herrenhausen Symposium: „Immune Homeostasis and Inflammatory Disease“ 7.11. Herrenhausen Late 12.11.Verleihung NDR Kultur Sachbuchpreis und Förderpreis Opus Primum der Volkswagen Stiftung 19.11.-20.11. Statussymposium zur Förderinitiative „Peter Paul Ewald-Fellowships“ der Stiftung 20.11.-21.11. Workshop: „Die Gestaltung universitärer Forschungszentren und -Verbünde – kollektive Forschungsformen als Modell der Zukunft?“ 24.11.-25.11. Workshop: „1st Governance of Science: Strategies for the 21st Century“ 26.11.Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen Extra: „Augenzeugen, Übersetzer, Zeitzeugen – China“ 27.11.Herrenhäuser Gespräch: „Quantified Self – Fluch und Segen der digitalen Selbstvermessung Herrenhäuser Konferenzen Die Herrenhäuser Konferenzen sind Fachveranstaltungen. Sie fokussieren mit besonderem Aktualitäts- und Zukunftsbezug wissenschaftliche Themen von hoher gesellschaftlicher Relevanz und öffnen neue Forschungsfelder. PO Herrenhäuser Symposien Die Herrenhäuser Symposien – ebenfalls geschlossene Fachveranstaltungen – bieten Forschern eine Plattform, Ideen zu entwickeln und neue Forschungsansätze zu diskutieren. Die Stiftung veranstaltet auch eigene Symposien. 14.1. 22.1. 5.2. 11.2.-13.2. Forum für Zeitgeschehen Extra: „Augenzeugen, Übersetzer, Zeitzeugen“ (Teil 3) Herrenhäuser Gespräch (Thema noch offen) Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik (Thema noch offen) Workshopreihe „Professionals in Science“ für – angehende – Führungskräfte in der Wissenschaft Einzelne Programmpunkte der – ansonsten als Fachveranstaltungen geschlossenen – Herrenhäuser Konferenzen und Herrenhäuser Symposien können für die Öffentlichkeit zugänglich sein. GE ser äu enh r her R SP H ÄC E Herrenhäuser Gespräche Mit den Herrenhäuser Gesprächen präsentieren die Stiftung und NDR Kultur aktuelle Themen aus Wissenschaft und Kultur von Bedeutung für die Gesellschaft. Adressat ist hier zuvorderst die wissenschaftsinteressierte Öffentlichkeit. FO ser äu enh r her M RU Herrenhäuser Forum Mit verschiedenen Schwerpunkten begeistert das Herrenhäuser Forum ein breites Publikum für wissenschaftliche Fragen: zu Themen des Zeitgeschehens und Aktuellem aus „Politik – Wirtschaft – Gesellschaft“ und „Mensch – Natur – Technik“. h sen au TE LA nh e err Herrenhausen Late „Herrenhausen Late – ScienceMusicFriends“ zielt auf ein junges Publikum. Experten unterhalten aus überraschender Perspektive originell über Wissensthemen. Der Festsaal im Schloss verwandelt sich in eine Lounge mit kleiner Bühne, DJ und Bar. Publikationen aus geförderten Projekten der VolkswagenStiftung Flutkatastrophen – Erkenntnisse aus ihrer Geschichte Der Erste Weltkrieg – neu bewertet Der „Große Krieg“: An seinem Ende, im November 1918, waren zu bilanzieren – 17 Millionen Tote, eine in Trümmer gestürzte Weltordnung und ungestillte Revanchegelüste. Als Ausbruch aus einem scheinbar stillstehenden Zeitalter der Sicherheit wurde der Beginn des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 von vielen noch euphorisch begrüßt. Aber dieser Gewaltausbruch veränderte alles. Er fegte die alte Welt hinweg; es begann die Ära der Ideologien und Diktaturen, die zu Hitler und schließlich zum Zweiten Weltkrieg mit all seinen Verwerfungen führen sollte. Der Historiker Herfried Münkler zeigt in sei- ner großen Gesamtdarstellung, wie diese „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts das Ende der Imperien besiegelte, Revolutionen auslöste, aber auch den Aufstieg des Sozialstaats und der Nationalismen förderte. Sein Zeitpanorama führt nicht nur die politischen und menschlichen Erschütterungen des Ersten Weltkriegs vor Augen, sondern nimmt auch Neubewertungen dieses epochalen Ereignisses vor. Herfried Münkler: „Der Große Krieg“. Berlin: Rowohlt Berlin-Verlag, 2. Aufl., 2013. ISBN 978-3-87134-720-7 Peter Weiss und die deutsche Sprache Der 1916 bei Potsdam geborene und 1982 in Stockholm gestorbene deutsch-schwedische Schriftsteller, Maler, Grafiker und Experimentalfilmer Peter Weiss erwarb sich in der deutschen Nachkriegsliteratur gleichermaßen als Vertreter einer avantgardistischen, minutiösen Beschreibungsliteratur, als Verfasser autobiografischer Prosa und als politisch engagierter Dramatiker einen Namen. Internationalen Erfolg erzielte er mit dem Stück „Marat/Sade“. Das dem dokumentarischen Theater zugerechnete AuschwitzOratorium „Die Ermittlung“ führte Mitte der 1960er-Jahre zu breiten vergangenheitspolitischen Auseinandersetzungen. In diesem Buch von Jenny Willner wird Peter Weiss’ Schreiben als ebenso grundlegende wie konsequente Auseinandersetzung mit der sprachlichen Dimension nationalsozialistischer Herrschaft, mit deren Auswirkungen und Spätfolgen greifbar. Die Autorin kombiniert die Analyse bislang kaum 102 bekannter Archivmaterialien aus Weiss’ Nachlass mit einer dezidiert literaturtheoretischen Herangehensweise: Vergleichende Lektüren mit Sprachdenkern wie Victor Klemperer oder Jacques Derrida lassen seinen besonderen Umgang mit Fragen sprachlicher Gewalt und Gegengewalt, sprachlicher Verletzbarkeit und Strategien der Immunisierung erkennbar werden. Weiss’ Kampf mit, um und gegen die deutsche Sprache berührt Probleme, die längst nicht überwunden sind. Quer zur Kampfrhetorik um West und Ost, zu den Debatten der Linken um ’68 verläuft eine ganz andere Konfliktlinie: zwischen dem im Exil Gebliebenen, dessen Lebenslauf von der nationalsozialistischen Verfolgung durchkreuzt wurde, und den Deutschen und ihrer Sprache. Jenny Willner: „Wortgewalt. Peter Weiss und die deutsche Sprache“. Konstanz: Konstanz University Press, 2014. ISBN 978-3-86253-040-3 Schnell ist von Jahrhundertereignissen die Rede, wenn Flüsse wie Elbe und Oder über die Ufer treten oder die Medien Bilder von Hochwasserkatastrophen in fernen Ländern verbreiten. Treten Fluten dieser Größenordnung wirklich nur ein Mal pro Jahrhundert auf? Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass es seit der Eiszeit immer wieder zu extremen Hochwassern gekommen ist. Jürgen Hergets Untersuchung historischer Überflutungen führte zu neuen Erkenntnissen für die heutige Bewertung und die Prognosen künftiger Fluten. In seinem Buch schildert er anschaulich die Ursachen von Überschwemmungen, stellt Untersuchungsund Analysemethoden vor und interpretiert historische Flutkatastrophen anhand ausgewählter Beispiele. Jürgen Herget: „Am Anfang war die Sintflut. Hochwasserkatastrophen in der Geschichte“. Darmstadt: Primus-Verlag, 2012. ISBN 978-3-86312-336-9 Was der Naumburger Westlettner verrät Der Westlettner des Naumburger Doms mit seiner skulpturalen Ausstattung zählt im Einklang mit den lebensgroßen Stifterfiguren im Westchor zu den bedeutendsten bildhauerischen Leistungen des 13. Jahrhunderts. Peter Bömers Forschungen im Rahmen des von der Stiftung als außergewöhnliches Vorhaben geförderten „Naumburg Kollegs“ richteten sich einerseits auf die Formensprache und Ikonographie der Lettnerbildwerke, andererseits auf die Nutzung und Bedeutung des Westlettners. In seiner Dissertation gelangt der Kunsthistoriker zu zwei neuen, grundlegenden Erkenntnissen: Es bestehen zum einen enge künstlerische Verflechtungen des Naumburger Westlettners mit der Westfassade der Kathedrale von Reims; diese Einflüsse wurden bislang wegen einer zu späten Datierung der Skulpturengruppe in Reims nicht in der Forschung berücksichtigt. Zum anderen lässt Bömers Untersuchung darauf schließen, dass Westchor und Westlettner zu ihrer Entstehungszeit vor allem für die Liturgie durch den Klerus genutzt wurden und der Westchor bei großen kirchlichen Festen auch als Ort der Messfeier gedient hat. Peter Bömer: „Der Westlettner des Naumburger Doms und seine Bildwerke. Form- und funktionsgeschichtliche Studien“. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 2014. ISBN 978-3-7917-2563-5 Wie erforscht man Kulturbeziehungen? Die Autoren nehmen die Paradigmen der Kulturbeziehungs- und Kulturkontaktforschung in den Blick, die sich in den vergangenen Jahren beständig erweitert haben. Dabei konzentrieren sie sich auf die deutsch-französischen Kulturbeziehungen. Aufgrund gegebener Differenzen und Konfliktpotenziale stellen diese ein interessantes Feld dar, um entsprechende Theorien und Methoden zu prüfen und gegebenenfalls weiterzuentwickeln. Zwei grundlegende Analysekategorien – Vergleich und Transfer – stehen im Fokus. Sie wurden in erster Linie im deutsch-französischen Wissen- schaftskontext entwickelt. Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen untersuchen anhand von diversen Textsorten, Medien und soziokulturellen Kontexten die methodischen Herausforderungen dieser beiden Kategorien. Christiane Solte-Gresser, Hans-Jürgen Lüsebrink, Manfred Schmeling (Hrsg.): „Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive“. Stuttgart: Steiner-Verlag, 2012. ISBN 978-3-515-10634 Impulse 02_2014 103 volkswagenstiftung.de Die Stiftung in Kürze Start der neuen Audiopodcast-Reihe der VolkswagenStiftung: Ab Juli 2014 können Sie eine Auswahl wissenschaftlicher Vorträge aus Stiftungsveranstaltungen in ungekürzter Länge nachhören – wann und wo Sie wollen. Das Angebot an MP3-Downloads finden Sie auf allen großen Portalen: bei YouTube, iTunes, Soundcloud, Podcast.de – und natürlich auf der Stiftungshomepage (www.volkswagenstiftung.de). Die VolkswagenStiftung ist eine eigenständige, gemeinnützige Stiftung privaten Rechts mit Sitz in Hannover. Mit einem Fördervolumen von insgesamt etwa 150 Millionen Euro pro Jahr ist sie die größte private deutsche wissenschaftsfördernde Stiftung und eine der größten Stiftungen hierzulande überhaupt. In den mehr als fünfzig Jahren ihres Bestehens hat sie über 30.000 Projekte mit insgesamt mehr als 4,2 Milliarden Euro gefördert. Auch gemessen daran zählt sie zu den größten gemeinnützigen Stiftungen privaten Rechts in Deutschland. Veranstaltungen Herrenhäuser Gespräche, Foren, Konferenzen … hier finden Sie Informationen über die Vielzahl unserer Veranstaltungen. Newsletter Unser E-Mail-Newsletter informiert Sie regelmäßig über aktuelle Nachrichten und Veranstaltungen der VolkswagenStiftung. Jetzt anmelden! Angeboten werden zwei Playlists: „ListenToScience“ präsentiert populärwissenschaftliche Vorträge, „ScienceCut“ hingegen richtet sich in zumeist englischer Sprache an ein spezialisiertes Fachpublikum. News Aktuelle Nachrichten aus der VolkswagenStiftung, zum Beispiel zu aktuellen Forschungsprojekten, neuen Ausschreibungen oder Publikationen Unser Förderangebot Sie suchen eine Förderung? Dann nutzen Sie unsere Fördersuche, um eine passende Initiative für Ihr Forschungsvorhaben zu finden. Das Angebot wird laufend erweitert. Wenn Sie die Audiopodcast-Reihen abonnieren, verpassen Sie keine Folge. Wie es geht, erfahren Sie hier: www.volkswagenstiftung.de/audio Mediathek In unserer Mediathek finden Sie Fotos und Bildergalerien, Videos und Audios. sciencemovies In unserem Videoblog sciencemovies.de präsentieren sich acht von der VolkswagenStiftung geförderte Projekte aus unterschiedlichen Fachdisziplinen. Film ab! 104 Wissenschaft hören Facebook Gefällt mir! Die VolkswagenStiftung finden Sie auch bei Facebook unter www.facebook.com/ volkswagenstiftung. Das Gründungskapital der Stiftung wurde von Bund und Land Niedersachsen im Rahmen des Privatisierungsprozesses der heutigen Volkswagen AG bereitgestellt. Es handelt sich bei der VolkswagenStiftung jedoch nicht um eine Unternehmensstiftung. Die Stiftungsgremien sind autonom und unabhängig in ihren Entscheidungen. Erwirtschaftet werden die Fördermittel der Stiftung einerseits – größtenteils zugunsten der „Allgemeinen Förderung“ – aus ihrem Kapital, derzeit circa 2,7 Milliarden Euro. Andererseits stammen sie aus den vom Land Niedersachsen gehaltenen und mit einem Vermögensanspruch der Stiftung versehenen gut 30 Millionen Volkswagenaktien samt ihrer Dividende (Teil des „Niedersächsischen Vorab“). Die VolkswagenStiftung fördert gemäß ihrer Satzung Wissenschaft und Technik in Forschung und Lehre und setzt durch die von ihr bewilligten Mittel gezielte Impulse. Sie entwickelt mit Blick auf zukunftsweisende Forschungsgebiete eigene Förderinitiativen. Diese bilden den Rahmen ihrer Förderaktivitäten und werden im Weiteren als Teil des eigenen Veranstaltungsangebots thematisch aufgegriffen. Mit der Konzentration auf eine begrenzte Zahl von Initiativen sorgt die Stiftung dafür, dass ihre Mittel effektiv eingesetzt werden. Besondere Aufmerksamkeit widmet die Stiftung dem wissenschaftlichen Nachwuchs sowie jenen Forscherinnen und Forschern, die im Zuge ihrer Arbeit und wissenschaftlicher Kooperationen inhaltliche, kulturelle und staatliche Grenzen hinter sich lassen. Ein Hauptaugenmerk gilt desgleichen der Verbesserung der Ausbildungs- und Forschungsstrukturen in Deutschland. Die Umsetzung der Ziele erfolgt oft im Austausch mit anderen Stiftungen und öffentlichen Einrichtungen der Wissenschaftsförderung. Impulse 02_2014 105 Impressum Herausgeber VolkswagenStiftung Kastanienallee 35 30519 Hannover Telefon: +49 511 8381-0 Telefax: +49 511 8381-344 E-Mail: info@volkswagenstiftung.de www.volkswagenstiftung.de Vertreten durch Kuratorium VolkswagenStiftung, vertreten durch den Generalsekretär Dr. Wilhelm Krull Redaktion (Text und Schlussredaktion) Dr. Christian Jung (cj) Bildredaktion Ina-Jasmin Kossatz Kommunikation VolkswagenStiftung Jens Rehländer (Leitung) Gestaltung Medienteam-Samieske, Hannover Korrektorat Cornelia Groterjahn, Hannover Druck gutenberg beuys feindruckerei gmbh Hans-Böckler-Str. 52 30851 Hannover/Langenhagen Bildnachweis Die Fotos und Abbildungen wurden – soweit unten nicht anders angegeben – dankenswerterweise von den jeweiligen Instituten bzw. Hochschul-Pressestellen zur Verfügung gestellt. Professor Norbert Hoffmann vom Institut für Wellenphysik der Technischen Universität Hamburg-Harburg in der hochschuleigenen Mehrzweckhalle mit Wellenkanal. Um Riesenwellen zu simulieren, benötigen er und sein Team zahlreiche Gerätschaften. 106 Titelillustration, Seite 3: Nicolás Aznarez Lopez de Guereño Seite 5: Dennis Börsch Seiten 8-9: Sidney Omelon Seiten 9-10, 60-65, 68 (unten): Gordon Welters, Berlin Seiten 12-15, 76 (unten), 80, 81, 93-95, 97: Christian Burkert, Hannover Seiten 16-17: Dirk Gebhardt, Köln Seiten 18-19, 42, 44-45: Daniel Pilar/Hannover Seiten 20-21 (oben, von links nach rechts): Universität Tübingen, Universitätsmedizin Mainz, Privat, EMBL Heidelberg Seiten 20-21 (unten, von links nach rechts): Universität Regensburg, Privat, Universität Potsdam, Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie (alle Bilder sind bearbeitet) Seite 23: Martin Neumann Seite 24: fotolia Seite 25: Suhwa Lee für VolkswagenStiftung Seiten 26-35 : Thomas Victor, Berlin Seite 36: Michael Jungblut/laif Seite 37: CERN/Maximilien Brice, Claudia Marcelloni Seiten 38-39: Yuri Kozyrev/Noor/laif Seiten 40-41: Cira Moro, Tübingen Seite 43: Mohammed al-Athori Seite 46-47: Abdul Rahman H. Jaber Seiten 48-51, 53, 55, 57 (oben), 106-107: Franz Bischoff, Hannover Seite 52: Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM/RRE Seite 55: Bobby Fisher/Photocase Seite 56: GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel Seite 57 (unten): Visualization: Sebastian Rettenberger, Data: Percy Galvez and the ASCETE team Seite 58 (oben): Christoph Papsch, Bonn Seite 58 (unten): Hochschule Offenburg Seite 59: David A. Caron, Department of Biological Sciences, University of Southern California Seiten 66-67, 68 (oben), 89: Michael Löwa, Hannover Seite 69: Privat Seiten 70-75, 77, 79: Leah Fasten, San Francisco Seiten 82-83, 85, 86: Sponheuer für Ruhr Universität Bochum (RUB) Seiten 84 und 87: RUB, PC2, Grafik: Matthias Heyden Seite 88: Designmaniac/Photocase Seiten 90-91: Photocase Seiten 96, 98-99: Isabel Winarsch, Hannover Impulse 02_2014 107 Wir stiften Wissen VolkswagenStiftung Kastanienallee 35 30519 Hannover Telefon 05 11/83 81-0 Telefax 05 11/83 81-344 mail@volkswagenstiftung.de www.volkswagenstiftung.de 108