Lebenslauf als Präsident der Lebenslauf als Präsident der

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Lebenslauf als Präsident der Lebenslauf als Präsident der
Selbstauskünfte zur Person
Selbstauskünfte
Selbstauskünfte
Lebenslauf als Präsident der
Oberfinanzdirektion Nürnberg - 1962
Lebenslauf nach der Rückkehr aus dem
Konzentrationslager Theresienstadt - 1946
Biografische Reflexionen
aus: “Material für ein Judenbuch” - 1952
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Lebenslauf des Oberfinanzpräsidenten - 1962
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Lebenslauf nach der Rückkehr aus dem Konzentrationslager - 1946
Biografische Reflexionen - aus: “Material für ein Judenbuch" - 1952
Augenblicklich stecke ich in einer Arbeit über die Judenfrage in
Deutschland. Ich behandle sie in zwei Teilen, in einem ersten allgemeinen,
in dem ich auf die mehr oder weniger antisemitische Stimmung unserer
führenden Menschen im 19. Jahrhundert hinweise, im zweiten Teil gebe ich
eigene Erfahrungen. Glauben Sie, dass ein deutscher Verlag diese Arbeit
von etwa 150 Druckseiten übernehmen wird, oder dass ich mich nach USA
wenden soll? Ich fürchte, ein deutscher Verlag wird das Risiko nicht
übernehmen, denn Deutsche wollen nichts davon wissen, heute im
Johannistrieb des Antisemitismus weniger denn je, und die 25.000
Deutschen Juden machen den Kohl nicht fett (Grabower 1952).
1952, nach meiner Pensionierung und vor meiner Umsiedelung nach
München diktierte ich meiner Frau die jüdischen Erinnerungen, die
besonders deshalb interessant und ziemlich einmalig sind, weil alles, was
ich unter Hitler erlebte, wenig war im Vergleich zu dem, was ich im Alter
zwischen zehn und achtzehn Jahren auf diesem Gebiet erfahren habe. Das
Diktat umfasste 150 Schreibmaschinenseiten. Dann ließ ich es. Natürlich
müsste solch ein absolut objektiver Bericht irgendwie veröffentlicht werden
(Grabower 1953).
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Biografische Reflexionen
Nachfolger
Walter Blümich, 1888-1950, 1933 Leiter des
Einkommensteuerreferates im Reichsfinanzministerium, 1938
Oberfinanzpräsident in Düsseldorf, 1943 Oberfinanzpräsident in Berlin,
wo er auch für die Verwertung jüdischen Vermögens verantwortlich war,
starb an den Folgen eines Unfalls, bevor über das Rechtsmittel gegen
den erstinstanzlich abgelehnten Entnazifizierungsantrag entschieden
wurde. Bekannter Autor eines Kommentars zur Einkommensteuer.
Grabower 1946: Ich bin damals zu dem Ergebnis gekommen, dass
Blümich aus rein idealistischen Gründen der Partei beigetreten ist. Ich
weiß noch, wie ich mich darüber wunderte, dass ein so kluger Mann sich
so irren kann. Zwei Punkte möchte ich als besonders erwähnenswert
hervorheben. Zwei Männer der Reichsfinanzverwaltung, von denen der
eine meine Stellung wollte, griffen mich in törichter und unanständiger
Weise an. Blümich verteidigte mich gegen beide Angriffe erfolgreich,
obwohl ihm das in den Augen des damaligen Staatssekretärs Reinhardt
nur schaden konnte. Noch wichtiger erscheint mir folgendes.
Staatssekretär Reinhardt wollte, dass Blümich mein Referat übernahm,
das eines der interessantesten und wichtigsten war, und das immer
wichtiger werden musste. Blümich lehnte es ab, dieses Referat, für das
er, wie kaum ein zweiter, sachlich geeignet war, zu übernehmen und
mich zu verdrängen. Ich habe ihm das damals hoch angerechnet und
habe all die Jahre, die seitdem verflossen sind, immer an diese
uranständige Haltung gedacht, die man selten findet.
Fritz Reinhardt, 1895-1969, 1928 Gauleiter von Oberbayern und
Leiter der Reichsrednerschule der NSDAP, 1933 Staatssekretär im
Reichsfinanzministerium. Er war - auch durch seine Mitarbeit im Stab
von Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess - oberste Autorität in Sachen
Steuern und Finanzen. Seine Amtsausübung war darauf angelegt, die
Finanzpolitik ideologisch aufzuladen, um sie zu einem willfährigen
Instrument bei der Verfolgung nationalsozialistischer Ziele ,
insbesondere bei der wirtschaftlichen und finanziellen Entrechtung der
Juden, zu machen. Auf ihn geht § 1 Steueranpassungsgesetz (1934)
zurück, wonach die Steuergesetze nach nationalsozialistischer
Weltanschauung auszulegen waren. 1945 als Hauptbeschuldigter
eingestuft, zu vier, in der Berufung zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt, arbeitete dann als Steuerberater.
Im Februar 1949 wurde Grabower gebeten, im Entnazifizierungsverfahren bei der Hauptkammer München zu Vorwürfen gegen
Reinhardt Stellung zu nehmen. Aus dem Schreiben OFPräs vom 9. März
1949: Herr Oberfinanzpräsident hat Ihr Schreiben in den Geschäftsgang
gegeben, weil er sich selbst für befangen hält und hat seinen derzeitigen
Vertreter gebeten, zum Fall dienstlich Stellung zu nehmen....
Staatssekretär Reinhardt hat sich in den „Staatssekretär-Mitteilungen“
(StM) gewissermaßen ein Privatorgan geschaffen. Das waren
Mitteilungen, die von ihm an die Oberfinanzpräsidenten und
unmittelbar an die Vorsteher der Finanzämter und Hauptzollämter usw.
versandt wurden. Folgende Proben sprechen für sich:
Biografische Reflexionen
Kein Beamter und kein Behördenangestellter und kein Familienangehöriger darf an Maßnahmen der nationalsozialistischen Staatsführung
etwas auszusetzen haben, oder sonst sich über etwas äußern, was sich auf
Meinung, Stimmung und Haltung anderer Volksgenossen und
Volksgenossinnen ungünstig auswirken könnte (1943).
Es hat jeder Beamte und jeder Behördenangestellte in Meinung,
Stimmung und Haltung allen anderen Volksgenossen und
Volksgenossinnen Vorbild zu sein. Es darf keinen Beamten und
Behördenangestellten geben, der kleingläubig oder aus irgendwelchen
Gründen missmutig ist. Jeder Beamte und jeder Behördenangestellte
steht zum Führer in einem besonderen Treueverhältnis. Jeder Beamte
und jeder Behördenangestellte hat demgemäß besonderer Propagandist
der nationalsozialistischen Staatsführung zu sein und alle Maßnahmen
gegenüber jeder abträglichen Kritik zu verteidigen. Die Beamten und
Behördenangestellten sind verpflichtet, ihre Familienangehörigen
entsprechend zu belehren und zu beeinflussen. Ich bitte die Herren
Vorsteher, die ihnen unterstellten Beamten und Angestellten bei jeder
geeigneten Gelegenheit, mindestens aber in der nächsten
Amtsbesprechung und weiterhin in drei monatlichen Zeitabständen auf
diese Tatsachen und Gebote aufmerksam zu machen und auf sie
einzuwirken. Die Einwirkung muss auf innerer Überzeugung und fester
Zuversicht des Vorstehers beruhen (1943).
Die Treue des Beamten und Behördenangestellten wird nicht nur nach
seiner eigenen Haltung, sondern auch nach derjenigen seiner Ehefrau
und seiner Kinder beurteilt. Der Beamte oder Behördenangestellte ist für
die Haltung seiner Ehefrau und seiner Kinder uneingeschränkt
verantwortlich (1944).
Ein Regierungsrat unserer Verwaltung hat einem Volksgenossen
gegenüber geäußert, der Krieg werde von Deutschland nicht mehr
gewonnen werden können, der nationalsozialistische Staat werde
zusammenbrechen, die Fliegerangriffe würden das deutsche Volk mürbe
machen, die Drohungen der Feindmächte richten sich nicht gegen das
Volk sondern nur gegen führende Persönlichkeiten. Der Volksgerichtshof
hat diesen Lumpen zum Tode verurteilt (1944). Zusatz: Es handelt sich
um den jetzigen Vorsteher des Finanzamtes Schwabach, Regierungsrat
Wieland.
Reinhardt galt als ein besonderer Nutznießer des Nazi-Regimes, der
seine Dienststellung auch zur Erhöhung seines Privateinkommens
skrupellos ausgenutzt hat. Er hat die sogen. „Bücherei des Steuerrechts“
herausgegeben, die zum Schluss 54 Bändchen zum Preise von
durchschnittlich zwei Reichsmark umfasste. Die Verfasser waren in den
meisten Fällen unterstellte Beamte. Das Honorar soll in der Hauptsache
Reinhardt zugeflossen sein. Die Auflage war beträchtlich, da sämtliche
Dienststellen wie auch alle Nachwuchsbeamten gehalten waren, sich die
einzelnen Bände dienstlich oder privat zu beschaffen. Um die Auflage zu
steigern, ist Reinhard in einzelnen Fällen dazu übergegangen, rein
dienstliche Anordnungen lediglich in dieser seiner Privatbücherei zu
veröffentlichen.
Anlage des Oberfinanzpräsidenten Grabower zum Schreiben: Ich habe durch
den Nationalsozialismus derart gelitten, dass ich fürchten muss, in seiner
Beurteilung und der seiner führenden Männer nicht objektiv zu sein. Jede
Stellungnahme, die ich als überzeugter Vertreter des Gedankens der Versöhnung
abgebe, würde daher die Schattenseiten bewusst oder unbewusst übersehen und
dadurch ein falsches Bild ergeben. Ich bitte daher auf eine Stellungnahme zu
verzichten.
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Biografische Reflexionen
Elternhaus
Wenn ich eingangs hervorhob, dass ich mich stets als Deutscher
gefühlt habe, so konnte ich dies deshalb, weil meine Vorfahren keine
eingewanderten Juden waren. Meine sämtlichen Vorfahren, die ich
bis zu 150 Jahre zurückverfolgen kann, sind in Preussen geboren.
Mein Vater, Max Grabower, 1851 in Koschmin (Provinz Posen)
geboren, starb 1907 als preuss. Notar und Justizrat in Berlin. 1905
war er zum Christentum übergetreten. Sein Vater, ebenfalls in
Koschmin geboren, starb in den 70er Jahren in Breslau. Die Mutter
mein Vaters ist 1820 in Kempen (Provinz Posen) geboren und 1852 in
Koschmin gestorben. Ihr Vater ist 1794 in Glogau, ihre Mutter 1796
in Kempen geboren. Der Vater dieses Vaters meiner Großmutter, also
mein Ur-Ur-Großvater, lebte von 1788 bis 1802 in Glogau, dann in
Hamburg, wo er 1807 starb.
Meine Mutter, Gertrud Grabower, ist 1858 in Bernau bei Berlin
geboren und 1938 in München gestorben. Ihre Mutter ist 1831
daselbst geboren und rein arisch. Der Vater meiner Mutter, Friedrich
London, ist 1824 in Königsberg/Pr. geboren und wurde 1837 im Alter
von 13 Jahren getauft. Vettern dieses meines Großvaters sind gleich
ihm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Christentum
übergetreten. Einer von ihnen war Superintendent, ein anderer
Kreisphysikus in Preussen. Die Eltern meines Großvaters, Ludwig
und Helene London, sind 1797 und 1794 in Königsberg geboren und
dort 1836 und 1857 gestorben.
(Grabower November 1940)
Viele Vorfahren und Verwandte waren Wissenschaftler, ich nenne
den Bruder meines Vaters; er war als Arzt Honorarprofessor an der
Universität Berlin. Mein Vater selbst hatte starke wissenschaftliche
Tendenzen. Der Großvater der Mutter meines Vaters war einer der
bekanntesten Rabbiner des 18. Jahrhunderts und starb 1811 in
Hamburg als Landesrabbiner von Hamburg, Altona und Wandsbek.
Dessen Vorfahren in beiden Linien waren, wie es in den Schriften
über ihnen heißt (er selbst hat viele heute noch bekannte Schriften
philosophisch-theologischen Inhalts verfasst), angesehene Rabbiner
auf Jahrhunderte hinaus.
(Grabower 1946)
Rat
Ich habe diesen Rat mein Leben lang befolgt und immer wieder in
den wenigen freien Stunden, die mir Beruf und Wissenschaft
übrig ließen, mit diesen Fragen mich beschäftigt. Leider ist das
ganze Material, das ich bis zur Zeit meiner Evakuation im Juni
1942 erarbeitet habe, bei dieser verloren gegangen.
(Grabower Juni 1946)
Biografische Reflexionen
Kurt Gerron, 1897-1944, zählte zu den bekanntesten Schauspielern
der zwanziger Jahre, trat allein 1927 in 27, bis 1933 in 74
Filmproduktionen auf, 1928 Rolle des Polizeichefs „Tiger-Brown“ und
Interpret der Moritat des Mackie Messer in der Uraufführung der
„Dreigroschenoper“, 1930 neben Marlene Dietrich und Emil Jannings
in „Der blaue Engel“, ebenfalls 1933 „Die Drei von der Tankstelle“ mit
Lilian Harvey, Willy Fritsch und Heinz Rühmann, Flucht nach Paris,
weiter über Österreich nach Amsterdam, schlug Angebot zur
Emigration in die USA aus („bin zu beschäftigt“), Februar 1944 KZ
Theresienstadt.
Gerron erhielt den Auftrag, einen Film über das Lagerleben zu drehen
„Theresienstadt - ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen
Siedlungsgebiet“. Die Lagerinsassen mussten an den Dreharbeiten im
August und September mitwirken. Der Film sollte der Welt ein
angenehmes, idyllisches Leben im Ghetto vorgaukeln. Gerron selbst
sang das Lied des Mackie Messer. Der SS-Lagerleitung kam es
insbesondere darauf an, die international bekannten „Prominenten“ zu
zeigen, zu denen auch Grabower zählte.
Sequenz 22 des Films: Freilichtvarieté auf einer Wiese außerhalb der
Ghettomauern; es treten auf: eine Tänzerin, ein Musikduo, ein KabarettTrio, eine Sängerin, Kurt Gerron; Prominente im Publikum u.a.: Rolf
Grabower, Philipp Kozower (1894-1944, Jurist, Mitglied des
Vorstandes der jüdischen Gemeinde in Berlin und der
Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, in Theresienstadt Mitglied
des Ältestenrates und Leiter der Post, nach Auschwitz deportiert und
ermordet) sowie Franzi Schneidhuber (geb. 1892, 1920 vom späteren
SA-Obergruppenführer August Schneidhuber, Polizeipräsident von
München und Mitglied des Reichstages, geschieden. August
Schneidhuber wurde 1934 im Zuge des „Röhm-Putsches“ verhaftet und
im Gefängnis München-Stadelheim erschossen. Frau Schneidhuber
wurde Mitte 1942 nach Theresienstadt deportiert).
Einige verübelten Gerron, dass er sich für diesen „dokumentarischen“
Film zur Verfügung gestellt hatte, andere zeigten Verständnis für die
wohl auch unter Druck und Drohungen zustande gekommene
„Kollaboration“. Gerron wurde nach den Dreharbeiten, vor
Fertigstellung des Films im Herbst 1944 nach Auschwitz deportiert „Rückkehr unerwünscht“ - und dort ermordet.
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Biografische Reflexionen
kein Bild von mir
Schwieriger ist für mich die Bilderfrage. Bitte halten Sie mich nicht für komisch, wenn
ich Ihnen sage, dass ich seit Theresienstadt mich gegen jede photographische Aufnahme
gewehrt habe. Ich wurde damals aus bestimmten Gründen von der SS so oft
photographiert, dass mein Bedarf insoweit für den Rest des Lebens gedeckt ist. Ich habe
aus der ersten Zeit dieser Aufnahmen ein paar Abzüge, die meines Erachtens ein
getreues Abbild meiner damaligen Verfassung geben. Sie haben zwar nicht ganz die
vorgeschriebene Größe, sind aber umso naturwahrer.
(Grabower Februar 1952)
Ich lege Ihnen ein Bild bei mit der Verpflichtung, es niemandem zu zeigen und mir mit
dem nächsten Brief zurück zu schicken. Es ist in München auf Befehl der SS gemacht.
Es gibt noch ein schlimmeres. Das habe ich Gottlob nicht.
(Grabower an Pausch, Bundesfinanzakademie, Juli 1961)
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Biografische Reflexionen
Oben rechts:
Vermutlich Lützowufer 32 in Berlin. Hier wohnte Grabower bis zu seiner
Versetzung an den Reichsfinanzhof. Das Gebäude wurde im zweiten Weltkrieg
zerstört. Es lag zwischen dem Zoologischen Garten und der Budapester Straße
gegenüber dem Tiergarten.
Unten rechts:
Blick in das private Arbeitszimmer Grabowers in Berlin
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Rolf Grabower im 1. Weltkrieg
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Hans von Below in seinen Kriegserinnerungen, Buenos Aires 1923: Der
Vertreter von Hauptmann Gutschmidt war Oberleutnant der Reserve Grabower,
in seinem Zivilverhältnis Oberregierungsrat im Finanzministerium. Der Letztere
zeigte sich als schneller und guter Generalstabsoffizier und leistete der Division
in dieser Eigenschaft sehr gute Dienste.
Hans von Below war im Rahmen der argentinisch-deutschen Militärkooperation
bereits 1910 als Militärberater in Buenos Aires tätig.
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Emil Utitz, 1883-1956, gehörte in Prag zum Kreis um Franz Kafka, Philosoph
und Psychologe, 1925-1933 Universität Halle, 1933-1939 deutsche Universität
in Prag, 1942-1945 KZ Theresienstadt, dort Leiter der Zentralbücherei und
zeitweilig stellvertretender Leiter der Freizeitgestaltung, hielt zahlreiche
Vorträge zu verschiedenen Themen.
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Biografische Reflexionen
Der Große Kurfürst hatte 1685 die in Frankreich verfolgten
Protestanten eingeladen, nach Preußen einzuwandern.
Auf die Präsenz dieser Hugenotten ist die Gründung des
Französischen Gymnasiums im Jahre 1689 zurückzuführen.
Zwischen 1873 und 1933 befand sich das Schulgebäude am
Reichstagsufer. Gelegentlich wurde es Zielscheibe der frankophoben
und antisemitischen Rechten. Ein Drittel, zwischen 1890 und 1900
fast die Hälfte der Schüler, waren jüdischer Herkunft.
Berlin W
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand in der Gegend um Kurfürstendamm,
Kantstrasse und Bayerisches Viertel ein Wohngebiet für das wohlhabende
Bürgertum, ein Kontrapunkt zur Welt des Adels, der Unter den Linden zu Hause war.
Berlin W(est) war Berliner Umland und Speckgürtel; es wurde erst 1920 nach der
Eingemeindung von Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöneberg ein Teil Berlins.
Grabower 1949: Sie wissen, dass ich ein Leben ohne Ehe als verfehlt
ansehe. Dass ich es trotzdem führe, hat tiefere Gründe. Ich wollte nicht
Kinder - und eine Ehe ohne Kinder ist keine - dem Schicksal
aussetzen, das ich in den Jahren 1899 bis 1901 (1933 bis 1945 war nur
eine schwache und seelisch viel weniger deprimierende Angelegenheit) durch meine Blutmischung erleben musste.
Grabower und Berlin
An Hans Bornkessel, Oberbürgermeister der Stadt Fürth, Mai 1952:
Laut Nürnberger Nachrichten haben Sie bei der Feier des auch von
mir sehr geschätzten Herrn Grundig vom „preußisch-tierischen
Ernst“ gesprochen. Wenn richtig referiert wurde, so wäre ich Ihnen
recht dankbar, wenn Sie diese Worte noch einmal überprüften. Ich
selber bin, wie ich Ihnen wohl neulich sagte, geborener Berliner, also
einer der 58.811 Berliner in Bayern, und habe 50 Jahre in Berlin
gelebt. Ich habe in dieser Zeit so unendlich viel Berliner Humor und
Witz genossen, dass ich immer empfunden habe, wie gerade der
Berliner tierischen Ernst nicht mag. Auch in Königsberg, wo ich zwei
Jahre studierte, habe ich einen, wenn auch anders gearteten Humor
gefunden. Ich könnte Ihnen außerdem viele waschechte Preußen
nennen, die wegen ihres Humors bekannt sind; aber Sie würden
vielleicht meine Beispiele nicht gelten lassen, weil der eine aus einer
Hugenottenfamilie stammt oder der andere dänisches oder flämisches
Blut hat oder weil Sie bei dem vierten den Grundsatz des „pater
incertus“ anwenden u.s.f. Die Stadt Fürth hat einen wunderschönen
Park. Aber auch mein geliebtes Berlin, wo ich allerdings seit 1934
nicht mehr war, hat oder hatte deren eine ganze Menge. Ich finde, dass
solche schönen Anlagen es ihren Bewohnern gewissermaßen zur
Pflicht und zur Gewohnheit machen, Freude an den Wegen, Blumen,
Farben zu haben und wer das kann, für den sollte es auch keinen
„tierischen Ernst“ geben. Hoffentlich fassen Sie diese Zeilen nicht als
Ausdruck eines solchen auf.
Mai 1953: Als ich mit einem Oberregierungsrat vom Zoll bei Kranzler
war, fragte mich dieser nachher, ob ich aus einer Großstadt stamme.
Ich sagte leicht verängstigt, wenn Sie Berlin als eine solche
aestimieren. Darauf er: Als Sie nämlich Kranzler betraten, da straffte
sich Ihr ganzer Körper und ich hatte den Eindruck, dass Sie die
ungewohnte Großstadtluft mit vollen Poren einsogen.
Juli 1962: Wenn Kennedy am 13. August (Mauerbau) nichts
unternahm, so deshalb, weil er sich nicht stark genug fühlte. Meine
Frau wäre durchaus dafür, dass wir nach Berlin zum Besuch fahren.
Aber ich kenne mich genug, um zu wissen, wie mein geliebtes Berlin
jetzt mit allen seinen Erinnerungen auf mich wirken würde.
Zeltengegend
Die Strasse „In den Zelten“ am Rande des Tiergartens in der Nähe des Reichstags,
gegenüber dem jetzigen Hansaviertel, war ein Vergnügungsviertel „Quartier der
vornehmen Lebensfreude“; dort befand sich auch die Kroll-Oper.
Biografische Reflexionen
Johannes Popitz, 1884-1945, seit 1919 Reichsfinanzministerium,
„Vater“ der Umsatzsteuer, 1925-1929 Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, schuf eine Steuergesetzgebung mit „relativem
Ewigkeitswert“, 1932-1944 Reichsminister ohne Geschäftsbereich und
preußischer Finanzminister. Grabower und Popitz hatten sich bereits vor
dem ersten Weltkrieg beim Preußischen Oberverwaltungsgericht kennen
und schätzen gelernt; Grabower wurde später im Reichsfinanzministerium Nachfolger von Popitz als Referatsleiter für die
Umsatzsteuer. Grabower beeindruckte dessen scheinbar unangestrengte
intellektuelle Brillanz, die weniger strahlenden Seiten blieben ihm jedoch
nicht verborgen.
Grabower: In der preußischen Verwaltung hieß er allgemein das „kluge
Kind“. Wir überzeugten uns bald, wie er in geistiger Beziehung turmhoch
über uns stand. Bei aller Zurückhaltung hatte er einen persönlichen
Charme, der der Bewunderung die Liebe zugesellte. Nur ab und zu zeigten
sich der ganz tiefe Humor und die geistige Überlegenheit über den
Menschen und den Dingen, in Äußerungen, die manchmal im ersten
Augenblick Befremden auslösten. So glaubte ich zum Beispiel nicht recht
zu hören, als er mir einmal, etwa 1920, sagte, man müsse in der
Verwaltung Reibungen einschalten. Ich korrigierte ihn, er meine wohl
ausschalten. Er lächelte dieses nie vergessene leise kluge und manchmal
etwas müde Lächeln und sagte mir, ich würde den Sinn seiner Worte
vielleicht in 10 oder 20 Jahren verstehen. Dem war dann auch also. Im
Frühjahr 1934 verabschiedete ich mich von ihm, als ich nach München
ging. Die Sorge, die er damals bei der kleinen Abschiedsfeier in Dahlem
zum Ausdruck gebracht hatte, war zur Angst geworden. Als entscheidend
mag vielleicht erwähnt werden, wie er den damaligen Reichsfinanzminister Schwerin von Krosigk fragte, wie lange er sich noch von seinem
Staatssekretär Reinhardt beherrschen lassen wolle. In München hat er
mich dann und wann besucht, obwohl ich von den meisten ängstlich
gemieden wurde. Wir gingen zusammen, seine Frau, er und ich, durch die
Glyptothek und dieser Rundgang zeigte, was eine Galerie dem bieten
kann, der ihre Schätze im Innersten aufgenommen hat. In den folgenden
Jahren habe ich nur dann und wann von ihm gehört. Dass er trotz aller
Gefahren seine schützende Hand über uns hielt, die der Nationalsozialismus verfolgte, versteht sich bei einem Mann wie ihn von selbst. In
sachlicher Beziehung kann ich aus eigenem Wissen hier nichts beisteuern.
Die United States Army richtete ab dem 1. Januar 1947 im Gebäude des Gefängnisses
Landsberg das War Criminal Prison No. 1 ein. Etwa 1.500 Kriegsverbrecher wurden
hier untergebracht, fast 300 Todesurteile vollstreckt. Adolf Hitler war nach seinem
Putschversuch 1923/24 in Landsberg in Festungshaft und schrieb hier an seinem
Buch „Mein Kampf“.
Popitz stand in den ersten Jahren des tausendjährigen Reiches durchaus in
Einklang mit dem Nationalsozialismus, später jedoch geriet er in Gegensatz dazu und engagierte sich in der Mittwochsgesellschaft, einer
nationalkonservativen Gruppe hoher Beamter und Wissenschaftler. Bei
einem Erfolg des Attentats am 20. Juli 1944 hätte er wohl ein Ministeramt
übernommen. Bereits im Sommer 1943 versuchte er Heinrich Himmler
davon zu überzeugen, an Hitler vorbei mit den Westmächten Friedensverhandlungen aufzunehmen. Nach dem Scheitern des Attentates wurde
er im Juli 1944 verhaftet, im Oktober zum Tode verurteilt und im Februar
1945 gehenkt.
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Tantchen
Fräulein Margarete Boethke, geboren ca. 1865, Schwester
des Richters am Reichsfinanzhof Wilhelm Boethke, der gemeinsam mit
Hans Arlt, ebenfalls Richter am Reichsfinanzhof, das Handbuch des
Steuerrechts (1932) herausgegeben hat. „Die Schwester von Arlt stand
meiner Mutter sehr nahe und hat in der uneigennützigsten und energischen
Weise zahlreiche Schritte bei maßgebenden Partei- und anderen
Dienststellen unternommen, um mein durch meine Abstammung stark
gefährdetes Schicksal zu erleichtern. Sie tat all diese Schritte in
Übereinstimmung mit Dr. Arlt“ (Grabower Oktober 1945). Über diese
Freunde wurde eine Verbindung zu M. Sesselmann, Wohnungsnachbar von
Hans Arlt, hergestellt. Sesselmann setzte sich mehrfach nachdrücklich bei
verschiedenen Dienststellen in München und Berlin für Grabower ein,
sodass die Deportationen ins Vernichtungslager im letzten Augenblick
verhindert werden konnten. Grabower und Sesselmann lernten sich erst nach
dem Krieg persönlich kennen. Fräulein Boethke unterstüzte Grabower
während seiner Zeit in Theresienstadt. Sie erlebte das Ende des Krieges in
Mecklenburg. Grabower 1947: Fräulein Boethke ist gestern in seltener
Frische hier eingetroffen und hat die Zügel der Regierung energisch in die
Hand genommen. So steht zu hoffen, dass noch etwas aus mir wird.
Biografische Reflexionen
Grabower 1953: Tantchen ist, wenn ich sie besuche, zweimal die
Woche geistig frisch und aufgeschlossen. Es ist mir das psychologisch
nicht ganz klar, denn die alten, immer noch lebenden Klatschweiber
vom Reichsfinanzhof erzählen immer die schauerlichsten Dinge, die
sie gesagt haben soll.
Grabower September 1953: Ich habe aus Theresienstadt die
Disposition einer Reihe von Vorträgen mitgebracht, die ich dann auch
auf den damals fünf Schulen meines Oberfinanzbezirkes und bei
sonstigen dienstlichen Gelegenheiten hielt: sehr viel über Goethe, die
Antike, und vor allem über Deutsche und Juden. Die Mehrzahl dieser
Vorträge hielt ich in Theresienstadt und im Nürnberger Bezirk. Da
wieder vor Zöllnern, Steuer- und sonstigen Beamten. Die verschiedenen Reaktionen waren besonders interessant.
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Biografische Reflexionen
131er:
Auf der Grundlage des Artikel 131 Grundgesetz beschloss der
Deutsche Bundestag bei nur zwei Enthaltungen im Jahre 1951, dass Beamte, die
nach dem Ende des zweiten Weltkrieges aus dem öffentlichen Dienst entfernt
worden waren, wieder eingestellt werden konnten bzw. gewährte ihnen
Pensionsansprüche, wenn sie in den Entnazifizierungsverfahren nicht als
Hauptbeschuldigte oder Belastete eingestuft worden waren.
Die Einstufung als Mitläufer oder Minderbelastete war damit kein Ausschlussgrund mehr. Bis Ende August 1949 wurden in der Westzone in mehr als 6
Millionen Verfahren fast 1.700 Personen als Hauptbeschuldigte, 23.000 als
Belastete, 150.000 als Minderbelastete und 1,6 Millionen als Mitläufer eingestuft.
Möbel und Bücher
Grabower 1946: Bei meinem Wechsel an den Reichsfinanzhof
München übertrug die Berliner Speditionsfirma den Auftrag in
München an die Firma Carl Schad. Diese Firma hat mich dann bei
meinen verschiedenen Transporten innerhalb der Stadt betreut. Da ich
unter die Nürnberger Gesetze fiel, wurde ich aus meiner Wohnung
vertrieben und musste dann noch eine Reihe von Umzügen
bewerkstelligen.
Bei allen diesen Umzügen war Herr Josef Zehetbauer in einer Weise
um mich und meine Möbel besorgt, wie ich es mir besser nicht hätte
vorstellen können. Er kannte natürlich meine Verhältnisse und nahm
einen Teil meiner Möbel auf den Namen einer arischen Bekannten auf
das Lager der Firma kurz vor meiner Evakuation. Ich stellte bei meiner
Rückkehr fest, wie treu und umsichtig Herr Zehetbauer für meine bei
der Firma gelagerten Sachen gesorgt hatte. Es ist mir durch seine
Energie und Hilfsbereitschaft gelungen, einen Teil meiner Bücher aus
dem Raum wegzubringen, aus dem ich kurz darauf abgeführt wurde.
Dass ich jetzt einen Teil meiner Möbel und meines wissenschaftlichen
Aktenmaterials überhaupt besitze, habe ich nur ihm zu verdanken. Ich
höre zu meinem Erstaunen, dass er Pg war. Ich habe das nicht für
möglich gehalten und wenn ein Mensch unter Beweis gestellt hat, dass
er nur äußerlich Pg war, so hat es Zehetbauer durch diese menschliche
und sachliche Sorge für mich und meine Sachen getan.
Biografische Reflexionen
ev. Pfarrer
Martin Wittenberg, geboren 1912
Grabower 1946: Wittenberg hat in den Jahren von 1937 bis zu meinem
Abtransport ins KZ Mitte 1942 auf das Treueste zu mir gehalten. Gerade die
Unterhaltungen im kleinen Kreise ließen mich seine Gesinnung, seinen
Charakter und sein Verhalten auf das Genaueste erkennen. Als evangelischer
Pfarrer stand er dem Nationalsozialismus an sich ablehnend gegenüber.
Seine ganze Weltanschauung war mit dem Nationalsozialismus unvereinbar. Er
machte hieraus nie einen Hehl. Dass er in eine Gliederung des Nationalsozialismus, die SA eintrat, kann an dieser Einstellung natürlich nichts ändern.
Er tat das als Student, weil er es tun musste und weil er weiter studieren wollte.
Wie wenig er Gebrauch von dieser SA-Tätigkeit machte, ergibt sich bereits
daraus, dass ich damals nichts davon gewusst habe. Unter diesen Umständen
versteht es sich von selbst, dass er nach meiner Rückkehr aus dem KZ im Juli
1945 zu den ersten gehörte, der mit seiner Familie Verbindung mit mir
aufnahm.
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Judenälteste
Jakob Edelstein, 1903-1944, in Galizien geboren, während des ersten
Weltkrieges Übersiedlung nach Brünn, zionistisch erzogen, ab 1933 Leiter
des Palästina-Büros in Prag, nach dem deutschen Einmarsch zuständig für die
Auswanderung der Juden; mehrere Auslandsreisen mit Genehmigung
deutscher Stellen, um die Emigration der Juden zu beschleunigen, wollte die
Deportation der Juden nach Polen verhindern - „Jüdische Arbeit zur Rettung
jüdischen Lebens“. Ende 1941 nach Theresienstadt, dort erster Vorsitzender
des Ältestenrates, Anfang 1943 entlassen, Ende 1943 nach Auschwitz
deportiert; am 20. Juni 1944 erschossen, nachdem er zuvor die Hinrichtung
seines 12jährigen Sohnes Ariel und seiner Frau Miriam hatte ansehen
müssen.
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Biografische Reflexionen
Blockwart
Georg Lohner, geboren 1893, seit 1937 Parteigenosse.
Grabower Oktober 1945: Bekanntlich fanden im November 1938 die Pogrome,
Zerstörungen von Geschäften und Synagogen und die Verschickungen aller
Juden in die Konzentrationslager statt. Die Münchner Juden wurden ohne
Ausnahme am 8. oder 9. November abends abgeholt und dorthin gebracht. Auch
ich stand auf der Liste, ohne es natürlich zu wissen. Ich ging meiner
regelmäßigen Beschäftigung (Besuch der Staatsbibliothek) nach und hörte erst,
da ich vollkommen einsam lebte, nach Tagen von diesen Verschickungen. Jetzt
stellte ich fest, dass ich von dieser Maßnahme ausschließlich deshalb verschont
blieb, weil Lohner, mein Blockleiter, sich geweigert hatte, den Befehl meiner
Verschickung nach Dachau mir zu übermitteln. Ich weiß nicht, wie sich mein
Leben gestaltet hätte, wenn ich damals nicht diese Hilfe Lohners gehabt hätte.
Ich kenne Lohner gut genug, um folgende eindeutige Erklärung abgeben zu
können: Ich verbürge mich dafür, dass Lohner dem neuen Staate mit Leib und
Seele ein ergebener und treuer Diener sein wird.
Biografische Reflexionen
Grabower 1953: Meines Erachtens handelt es sich um Nachwirkungen der
Hitlerzeit. Er hat den Klassengedanken viel töter gemacht, als man geneigt ist,
ohne weiteres anzunehmen. Der heutige junge Arbeiter fühlt sich mit Recht
keineswegs wie sein Vater und sein Großvater als Angehöriger eines vierten,
irgendwie entrechteten Standes, sondern als durchaus gleichberechtigter
Bürger, der in Sport- und Zukunftsaussichten selbst Bürger ist. Alles das ist
selbstverständlich, aber der innere Zusammenhang mit Hitler, der auch
gleichzeitig viel getan hat, um den Intellektuellen, sogar den Kapitalisten zu
avilieren, wird noch immer nicht richtig erkannt.
Theresienstadt: Unteres Wassertor
Grabower 1956: Unser Corpsbruder P. bat mich kürzlich, Dir für alle Fälle
meinen Nekrolog zu schicken. Ich tue das hiermit und ermächtige Dich,
Kürzungen und Änderungen ganz nach Deinem Belieben vorzunehmen.
Meinen KZ-Aufenthalt und alle die Verfolgungen, denen ich im Dritten Reich
ausgesetzt war, habe ich nicht aufgenommen, weil das meine ureigenste
Angelegenheit ist. Während meines Dienstjahres (beim Militär) sagte mal
jemand von mir: „Dem Grabower ist es egal, ob er mit einem Putzer oder mit
einem Prinzen spricht.“ Ich hörte das später, habe mich bemüht, danach zu
leben.
Rolf Grabower starb am 7. März 1963.
Grabower im Februar 1948 an Julius Spanier (1880-1959, Kinderarzt in
München, 1938 Leiter des Israelitischen Krankenheimes, 1942 mit seiner Frau
nach Theresienstadt deportiert, 1945-1951 Präsident der jüdischen Gemeinde
in München): Nun waren es schon 2 ½ Jahre her, dass wir die Heimfahrt
antraten und ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht, dass Sie mehr als es den
Nerven zuträglich ist, immer wieder an die vielen Menschen denken, die von
Theresienstadt aus in die Gaskammern gingen.
Spanier antwortet: Wir sehen Sie oft im Geiste noch mit nacktem Oberkörper
von der schweren Arbeit als Maurer in die Kavalierkaserne zurückkehren. Es
ist kaum ein Tag gewesen, dass man nicht Sehnsucht empfindet nach den
wertvollen Menschen, die nach Auschwitz kamen oder in Theresienstadt
endeten. Was wir haben, ist eine örtliche Heimat, aber keine geistige. Ich weiß
nicht, ob es Ihnen nicht ebenso ergeht. Man hat viele Menschen um sich, auch
manchmal sehr liebe Menschen. Aber was einem abgeht, dass sind leider
diejenigen, die nicht mehr unter uns sind. Oft hat man nach dieser Richtung
wirklich Heimweh nach Theresienstadt. Es ist unglaublich, aber sicherlich
nicht abzustreiten. So scheußlich dort alles war, eines war eben doch schön,
oder man hat es dort noch intensiver empfunden, wenn man abends in trautem
Kreis irgendwie interessante Menschen um sich hatte, man vergaß sein
Unglück und das Nichts wird zum Erlebnis. Ich komme durch meine diversen
Ämter und Betätigungen mit hunderten hoch achtbarer Menschen zusammen,
aber es ist alles wie ein Hauch, wie eine Wolke. Man schwebt, man wird
getragen, der Fuß findet keinen festen Stand mehr. Man war schon zu lange
Objekt und es ist schwer, sein eigenes „Ich“ wieder zu finden. Mir möchte es
aber scheinen, als sei es nicht besser, wenn man auch über das weite Meer zöge.
Dass damit eine der Grundfesten der ganzen Finanzverwaltung gefallen ist,
wissen alle; dass ein großer, gütiger Mensch von uns genommen wurde, ist all
den vielen bekannt, die mit ihm arbeiten oder verkehren durften. Die
Totenklage wird nicht enden, solange es ein Erinnern gibt. Er wusste darum,
dass alles, was wir tun, nur ein Anfang ist; ohne dass wir es ahnten, hat uns an
ihm der Widerschein vorweggenommener, verklärender Vollendung
fasziniert. (Ludwig Heßdörfer, 1894-1988, Nachfolger Grabowers als
Oberfinanzpräsident in Nürnberg, 1953 Abteilungsleiter im Bundesfinanzministerium, 1955-1962 Präsident des Bundesfinanzhofs)
Theresienstadt: Dresdner Kaserne
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Biografische Reflexionen
Das erste Erlebnis, dass ich mit deutschen Gefangenen in Theresienstadt hatte, bestand daran, dass mir nach der Essensausgabe, bei der ich nach dem Rechten
sah, ein Mann in mittleren Jahren nachlief, neben mir herging und mir immerfort versicherte, er sei kein Nazi. Ich dachte zunächst, es läge ein Versehen bei seiner
Eingruppierung vor, bis er mir schließlich klar machte, er sei 1933 bei der Partei eingetreten, aber nicht etwa aus Überzeugung, sondern nur, weil ihn - und er
bekam es sogar fertig, zwei Namen zu nennen - diese zum Beitritt gezwungen hatten. Ich war damals in dieser Beziehung Idealist genug, um ihm zu sagen, er
möge im Laufe der Jahre sich vom Nationalsozialismus abgewandt haben, aber es sei doch unter Männern nicht üblich, seine Vergangenheit zu leugnen. Er
erkannte nicht an, was ich sagte. Dass ich ein derartiges Gespräch in meinen folgenden Nürnberger Jahren noch viele hundert Male zu führen haben würde,
wusste ich nicht.
In Nürnberg war über 75% der OFD von den Amis (natürlich nicht von mir) wegen Zugehörigkeit zum Nationalsozialismus entlassen. Je mehr ich mir aus den
Jahren 1933 bis 1939 und 1945 ff ein Urteil über viele Nationalsozialisten bilden konnte, fasste ich es in die Worte zusammen, die ich in einem Brief der Kaiserin
Friedrich an ihre Mutter über Bismarck fand: Mann aus dem Mittelalter mit den Ansichten und Grundsätzen jener dunklen Tage, als die Meinung des Stärkeren
auch immer als die bessere genommen wurde, als alles Menschliche, Moralische, Fortschrittliche und Zivilisatorische für töricht und lächerlich und ein
christlich liberaler Geist für unpraktisch galt.
Eine ekelhafte Erinnerung besonderer Art war der Empfang von Lebensmitteln. Wir hatten bekanntlich ein J auf den Karten und erhielten auch etwas weniger.
Das störte mich nicht, da meine Tante für mich sorgte. Die Juden waren aber auf einen bestimmten Laden und bestimmte Zeiten (bei mir Sonnabend früh)
angesetzt. Wir hatten uns dann an der Wand aufzustellen und wurden von der Ladeninhaberin, mit Parteiabzeichen, herangewinkt. Ich hatte bei diesem Vorgang
ein ungutes Gefühl und jedes Mal die Sorge, dass ich mich nicht beherrschen und etwas tun könnte, woraufhin man mich sofort abführen würde. Ich bat daher die
Haushälterin meiner Tante, mir diesen Gang abzunehmen; aber auch für sie war die Atmosphäre derart, dass ich es nachher doch wieder tat. 1950 suchte ich den
Laden wieder auf. Er war zerstört, das Geschäft einige Häuser weiter wieder aufgetan. Ich fuhr hin, erkannte die Inhaberin, diesmal ohne Parteiabzeichen, wieder.
Ich bekam deshalb Angstgefühle wie damals. Natürlich gab es auch andere. Die Inhaberin eines Lokals dicht bei der Flachsröste in Lohhof sorgte etwas für uns.
Doch musste ich, was mir natürlich nichts ausmachte, in der Küche essen, und diesen Raum durfte ich nicht durch das Lokal betreten. Die Inhaberin erkannte
mich, als ich sie im wieder hergestellten Lokal besuchte, sofort wieder, und die beiderseitige Freude war groß.
Tucholsky hat gelegentlich etwa geäußert, dass er in seiner Jugend (1893 geb.) bis 1918 nichts vom Antisemitismus gespürt habe. Ich i.a. auch nicht. Mit zwei
Ausnahmen:
Ich spielte gerne Tennis. Nur für den Hausgebrauch; denn für Training nahm ich mir nicht die Zeit. Ich war meist in ganz kleinen Zirkeln, wo jeder den anderen
gut kannte. Eine Bekannte bat mich in ihren Club. Ich spielte dort einmal und wurde als Partner eines netten und sympathischen jungen Mädchens bestellt. Der
Name ihrer Familie war mir als der einer alteingesessenen, guten, jüdischen Familie bekannt. Wir hatten beide den Eindruck, weniger auf unsere Spieltechnik als
allgemein begutachtet zu werden, was selbstverständlich ist. Diese Begutachtung empfand ich als das Gegenteil von wohlwollend. Sie empfand es auch und
sagte in der Pause: Ich finde dies scheußlich. Meine Bekannte sagte mir nachher, obwohl ich schlecht gespielt hatte: Wir werden Sie nehmen. Meine Frage, ob
auch das junge Mädchen, die relativ gut gespielt hatte, verneint, „weil es doch jüdisch sei.“ Ich ging natürlich nicht wieder hin, glaube aber, dass wenigstens vor
1914 manchem ähnliches passiert ist. Ich fand diesen stillen, gesellschaftlichen Antisemitismus weit gefährlicher und weit wirkungsvoller als den RadauAntisemitismus. Hierher gehört ein Witz aus der Zeit vor dem Krieg: Ein junger Mann wird gefragt, warum er denn Tennis spiele, wo er offensichtlich wenig der
Veranlagung noch Lust dazu habe. Antwort: Man sehe doch, mit wem man verkehrt.
In der preußischen Armee (wohl auch in denen der anderen Staaten) war es vor 1914 üblich, dass der Einjährig-Freiwillige nach erfolgreichem Dienstjahr zwei
achtwöchige Übungen machen musste, nach erfolgreicher Übung A wurde er Vicewachtmeister oder Vicefeldwebel der Reserve, nach erfolgreicher Übung B
stand er zur Wahl zum Reserve-Offizier. Ich freute mich, dass alles ohne jede Anstände vor sich ging, wie ich damals annahm. Erst etwa zehn Jahre später erzählte
mir ein Corpsbruder, dass es wegen meines Vaters, ohne dass ich es wusste, erhebliche Schwierigkeiten gegeben hatte. Ich wurde, wie er mir erzählte, nur deshalb
gewählt, weil mich kurz vorher beim Scharfschiessen in Jüterbog der Bezirkskommandeur vor dem Offizierscorps bei der Kritik überaus freundlich gelobt hatte.
Auch die Juden verfuhren nicht immer mit dem nötigen Takt. Bekanntlich wurde vor 1914 in dem Nordseebade Borkum das eindeutige Judenlied gesungen: Und
was da kommt mit platten Füssen, die Nase krumm, die Haare kraus, die schmeißt heraus. Ich war natürlich nie dort und weiß nicht, ob das Lied auch nach 1918
gesungen wurde. Jedenfalls war ich, milde ausgedrückt, etwas verwundert, als mir sehr jüdisch aussehende gute Bekannte etwa 1919 erzählten, sie gingen hin.
Was sie dort erlebt haben, habe ich nicht gefragt.