Die „Wahre Liebe“ im Konflikt mit sozialen Normen. Zur Affektpoetik

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Die „Wahre Liebe“ im Konflikt mit sozialen Normen. Zur Affektpoetik
Nastasja S. Dresler (2014): „Wahre Liebe“ im Konflikt mit sozialen Normen.
In: Helikon. A Multidisciplinary Online Journal, 3. S. 152–172.
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„Wahre Liebe“ im Konflikt mit sozialen Normen:
Zur Affektpoetik des Melodrams in Rainer Werner
Fassbinders Angst essen Seele auf und seine Rezeption
von Douglas Sirks All That Heaven Allows
Nastasja S. Dresler
Abstract
The debate about human emotionality, unreasonableness and weakness is a traditional motif
of producing art. An especial impressive and convincing demonstration of affective states
from fear to happiness achieves the medium of the film. As coefficients of that medial strength
are considered the options of a dynamic image, the close-up of the facial expression as quiet
as the point-of-view-shot, which puts the viewer in the point of view of the protagonist.
Referring to the genre of the melodrama, which deals exemplary with the actor’s emotional
world, this analysis seeks to make clear the specific generation of affective images provided
by the medium of the film. The works Angst essen Seele auf by Rainer Werner Fassbinder
and All That Heaven Allows by Douglas Sirk are building the centre at this junction. In his
melodramas Sirk reflects on the bourgeoisie stamped by double standard and illustrates the
gender and generation conflict on the wealthy outskirts as well as the lack of familial stability and racist tendencies in order to create a Hollywood production with emphatic social
critical traits. How this concept influences the apparently contrary producing of Fassbinder
should be shown in the following. As cult figure of the 60’s generation and the women´s
liberation he portrays a damaged society ruled by technology and utilitarism, dreaming of
love and happiness. A closer look at the affective poetics of Fassbinder and Sirk and their
connection is to be carried out after a try to define the melodramatic genre in general. Here
the central motif and its medial realization are presented to explain the coherence between
narrative content and aesthetic means.
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Zusammenfassung
Die Auseinandersetzung mit menschlicher Emotionalität, Unvernunft und Schwäche ist ein
traditionelles Motiv des Kunstschaffens. Eine besonders eindrückliche und überzeugende
Wiedergabe von affektiven Zuständen von Angst bis Freude leistet das Medium des Films.
Als Faktoren dieser medialen Stärke gelten dabei die Möglichkeiten der Bilddynamik, der
Großaufnahme der Gesichtsmimik sowie die Bildeinstellung, welche den Zuschauer in die
Perspektive des Protagonisten versetzt. Anhand des Genres des Melodrams, das die Gefühlswelt seiner Akteure beispielhaft verarbeitet, soll die eigentümliche filmische Erzeugung von
Affektbildern evident werden. Die Werke Angst essen Seele auf von Rainer Werner Fassbinder
und All That Heaven Allows von Douglas Sirk stehen dabei im Mittelpunkt der folgenden
Darstellung. Sirk reflektiert in seinen Melodramen die Doppelmoral des Bürgertums. Er
illustriert die Geschlechter- und Generationenkonflikte in der reichen Vorstadt sowie die
familiäre Instabilität als auch vorherrschende rassistische Tendenzen und kreiert damit ein
sozialkritisches Stück im Hollywoodgewand. Wie sich diese Konzepte auf die scheinbar
konträre Schaffenswelt Fassbinders niederschlagen, ist aufzuzeigen. Als Kultfigur der Emanzipationsbewegung der 68er Jahre porträtiert er eine beschädigte Gesellschaft, beherrscht
durch die Technisierung ihrer Lebenswelt und das Utilitätsprinzip, während ihre Mitglieder
zugleich die Sehnsucht nach wahrem Glück und Liebe verspüren. Die nähere Betrachtung einer Affektpoetik bei Sirk und Fassbinder erfolgt im Anschluss an einen allgemeinen
Bestimmungsversuch des melodramatischen Genres. Hierbei werden jeweils das zentrale
Motiv und seine mediale Umsetzung präsentiert, um die Kohärenz zwischen narrativem
Gehalt und ästhetischem Mittel ersichtlich zu machen.
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Einführung
Die Verhandlung von Gefühlen, menschlicher Fallibilität und Unvernunft hat in den
Künsten Tradition. Als ein besonders affektives Medium gilt seit seinen Anfängen der Film.
Emotionale Erschütterungen wie Angst, Wut, Freude und Trauer vermag dieses Medium
in seinen Darstellungen besonders eindrücklich zu transportieren. Bertolt Brecht reflektiert
diesen Umstand mit seiner Aussage, jeder Kinobesucher habe an der Kasse das Recht, bei
der Vorstellung in seinen niedrigsten Instinkten angesprochen zu werden.1
Der bemerkenswerte Effekt der Vermittlung affektiv aufgeladener Erfahrung gründet
sich dabei auf die grundsätzliche Bewegtheit des Bildes.2 Der amerikanische Philosoph Noël
Carroll benennt zwei weitere visuelle Merkmale, welche die Affekte von ihrer Repräsentation
zum Erlebnis transferieren: Zum einen wird jene Übertragung durch die Großaufnahme des
Gesichts, das Close-Up, befördert. Zum anderen leistet dies der point-of-view-shot, d.h. die
Einstellung, welche den Zuschauer in die subjektive Perspektive einer Figur versetzt und
unweigerlich mit anderen aus diesem Blickwinkel kommunizieren und seine Rolle unvermittelter erfahren lässt. Durch diese Mittel der nahen Aufnahme und Subjektivierung wird
die Distanz zu den Emotionen der Darsteller verringert und der Affekttransfer begünstigt.3
Dabei sind jene Affektbilder immer in eine Narration eingebettet und durch diese vorbereitet bzw. eingeleitet.4
Allerdings sind nicht alle Gattungen gleichermaßen auf die Verarbeitung von Gefühlen
ausgerichtet. Die Genese von Affektbildern soll im Folgenden anhand eines Genres untersucht werden, welches das Operieren mit emotionalen Zuständen und deren Visualisierung
als Kernstrategie wählt. Melodramen von Rainer Werner Fassbinder und Douglas Sirk –
Werke, die in völlig unterschiedlichen Entstehungskontexten zu betrachten sind – sollen
die Besonderheit ihrer Art sowie ihres Mediums im Allgemeinen illustrieren. Das Melodram
von Fassbinder wird zeigen, wie die Affektgesten als soziale Gesten zu verstehen sind. Sie
haben keine psychologische oder ästhetische, sondern eine gesellschaftliche Bedeutung und
sind durch das Milieu bedingt. Der augenscheinliche Kontrast zu Sirks Produktionen soll,
durch das Aufzeigen seiner Elemente als Inspirationsquelle, aufgehoben werden.
Das melodramatische Genre als Paradigma für Affektbilder
Vor der eingehenderen Auseinandersetzung mit den benannten Werken seien zunächst auch
allgemeinere Merkmale des Melodrams sowie deren geschichtliche Voraussetzung näher
bestimmt. Als Mittelklassenstück thematisiert das Melodram traditionell Weltanschauung
und Werte des Kleinbürgertums und dessen patriarchalische Ordnung, wie auch an den
späteren Beispielen belegt werden soll. Im Zentrum der Handlung steht häufig eine heroische Frauengestalt mit ihren Lieben und Leiden, das kleine private Glück als Refugium
vor den Widrigkeiten des Alltags oder auch das Verhältnis von Moralität und Sentimentalität.5 Offengelegt wird die Prägung der täglichen sozialen Interaktion durch die Zwänge
der bürgerlichen Ideologie und ihre Autorität über das Denken, Fühlen und Handeln ihrer
Koch, Getrud: Zu Tränen gerührt. Zur Erschütterung im Kino. In: Herding, Klaus und Bernhard
Stumpfhaus (Hg..): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin 2004, S. 563.
2
Vgl. Elsaesser, Thomas: Melodrama: Genre, Gefühl oder Weltanschauung? In: Frölich, Margrit et al. (Hg.):
Das Gefühl der Gefühle. Zum Kinomelodram, Marburg 2008, S. 11–35, hier S. 11.
3
Vgl. Koch 2004, S. 568f.
4
Vgl. Ebd., S. 569.
5
Vgl. Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse, 2. Aufl. Paderborn 2008, S. 37.
1
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Angehörigen, Konformismus und Gehorsam, Ablehnung von Andersartigem, stereotypes
Urteilen sowie Tugendideale von Pflicht und Ordnung.6 Es gibt dabei nur ein EntwederOder, keine Schattierungen oder Kompromisse bei der Wahl zwischen Gut und Böse,
Richtigem und Falschem. Die Tugend des Einzelnen wird durch Konfrontation mit scheinbar aussichtslosen Dilemmata auf die Probe gestellt.7
Die Positionierung des Melodrams zu diesen Umständen ist jedoch nicht eindeutig: Das
Genre kann als ein Plädoyer für die Privatsphäre gegenüber dem Interesse der Öffentlichkeit
gelesen werden.8 Es stellt einerseits gesellschaftliche Normen an den Pranger und stärkt die
individuelle Erfüllung – insbesondere für die Frau. Andererseits mystifiziert es aber auch
die patriarchalische Ordnung in ihrer Schicksalshaftigkeit, indem es auf eine ausgleichende
Gerechtigkeit mit Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen referiert und so die Welt
in ihrer Erscheinung legitimiert.9 Die gesellschaftlichen Zwänge werden als aktuell unüberwindbar präsentiert,10 der Frau zum Trost eine Identifikationsbrücke angeboten.11
Die meist weibliche Betrachterin12 baut so eine intimere Beziehung zum Werk auf,
indem sie mit Situationen konfrontiert wird, welche sie mit ihrem persönlichen Leben vergleicht und in die sie sich einfühlen kann.13 Die Empathie ist jedoch nochmals in ihrer
Funktionalität zu differenzieren: Das psychische Moment der mitleidvollen Traurigkeit
ist zu unterscheiden von dessen sentimentalem Genuss. Während ersteres Phänomen ein
Produkt natürlicher zwischenmenschlicher Solidarität ist und auch bei der Präsentation fiktiver Figuren aktiviert werden kann, hat letzteres eine ästhetische Bedeutung im Rahmen
der Unterhaltungsintention.14
Der dargestellte gesellschaftliche Zwang, dem die weibliche Protagonistin im Melodram
unterliegt, stärkt ihre Handlungsoption dem lustvoll Verwerflichen nachzugehen, um der
Enge ihres Lebens zu entfliehen, wenn auch durch das Überschreiten von gesellschaftlichen
Grenzen. Der Konflikt, der aus der Entscheidung zwischen Gefühl und Selbstverwirklichung einerseits, und gesellschaftlicher Norm und Anerkennung andererseits erwächst,
bringt die Protagonistin in ein moralisches und emotionales Dilemma, das der Betrachter
empathisch nachvollziehen kann.15 Die Familie dient als Ort der Sublimierung der Krisen.
Der Widerstreit zwischen Gesellschaft und fühlendem Individuum wird hier verhandelt. Die
in die Konfliktsituationen involvierten Figuren befinden sich dabei stets in der Opferrolle,
das Böse existiert nicht im Individuum, sondern ist als gesellschaftssystemischer Effekt zu
betrachten.16 Seit den 1980er und 90er Jahren behandeln die melodramatischen Produktio Vgl. Faulstich 2008, S. 38.
Vgl. Elsaesser 2008, S. 12.
8
Vgl. Ebd. 2008, S. 14.
9
Vgl. Faulstich 2008, S. 38.
10
Vgl. Firaza, Joanna: Die Ästhetik des Dramenwerks von Rainer Werner Fassbinder. Die Struktur der Doppelheit,
Frankfurt am Main 2002, S. 63.
11
Vgl. Lange, Sigrid: Einführung in die Filmwissenschaft, Darmstadt 2007, S. 95.
12
Vgl. Faulstich 2008, S. 36.
13
Vgl. Kleinhans, Chuck: Melodrama and the Family under Capitalism. In: Marcia Landy (Hg.): Imitations
of Life. A reader on Film & Television Melodrama, Detroit 1991, S. 200.
14
Vgl. Kappelhoff, Hermann: Tränenseligkeit. In: Brütsch, Matthias et al. (Hg.): Kinogefühle. Emotionalität
und Film, Marburg 2005, S. 40.
15
Vgl. Lange 2007, S. 93f.
16
Vgl. Cargnelli, Christian: Sirk, Freud, Marx und die Frauen. Überlegungen zum Melodram. Ein Überblick.
In: Ders. u. Palm, Michael (Hg.): Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film,
Wien 1994, S. 14.
6
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nen jedoch nicht mehr vordergründig gesellschaftliche Außenseiter: Mit den dramatischen
und emotionalen Instrumenten des Melodrams ausstaffiert wurden schließlich die Darstellungen historischer Ereignisse und Katastrophen.17
Das genuin Melodramatische ist demnach also, so lässt sich zusammenfassen, traurig wie
leidenschaftlich, und widersetzt sich im Kampf für die Gefühle den, unter Umständen von
Männern beherrschten, sozialen Konventionen.18 Im pejorativen Sinne wird das Melodram
oft mit einer Unwahrscheinlichkeit der Handlung, einer Überspitzung seiner dramatischen
Ironien und fehlender Authentizität des Pathos assoziiert.19 Das Gefühlskino, auch als Liebesfilm bzw. Romanze eingeordnet, verhandelt im Gegensatz zu anderen Genres nicht nur
ein anderes Thema, andere Motive und adressiert nicht nur ein anderes Publikum, sondern
ist auch gekennzeichnet durch eine eigene Ästhetik:20 Dramatische Konflikte werden in
phänomenalen Aspekten wie Farbe, Dekor und Musik symbolisiert, wie auch anhand der
anstehend zu diskutierenden Affektbilder exemplifiziert werden soll.21
Die Handlung des Melodrams hat hingegen eine recht einfache Struktur. Häufig wird
eine Frau aus den Händen eines Bösewichtes gerettet. Modifiziert wird diese Formel durch
diverse variable Personenkonstellationen: Die weibliche Hauptfigur muss sich zwischen
zwei Männern entscheiden, zwei Frauen kämpfen umgekehrt um einen Mann, eine Tochter
versucht sich von ihrem Vater zu emanzipieren etc. Eine beliebte Abwandlung bietet auch
der Generationenkonflikt. Gemein ist all diesen Spielarten die angesprochene Fokussierung
auf das Schicksal einer Frau und ihrer Liebe in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Handlung
ist grundsätzlich einsträngig, episodisch und spannungsaufbauend. Typisch ist die 3- bzw.
5-Akt-Struktur. Die Personen unterliegen einer Typisierung. Wichtig für die Inszenierung
ist der Ausdruck der in einer Familie herrschenden Intimität. Als Schauplatz dient hierfür
häufig der Innenraum.22 Das Happy End ist oft konstruiert mit einem deus ex machina, der
die Errettung in letzter Minute erbringt.23
Das Melodram ist kein hermetisches Genre, sondern speist seine Merkmale auch in
andere Gattungen wie Western, Krimi oder Musical ein. Es bedienen sich im Grunde fast
alle Filmrichtungen melodramatischer Elemente. Diese Tatsache kann wohl auch aus dem
allgemeinen Entstehungskontext des Films heraus verstanden werden. Der Stummfilm war
darauf angewiesen, mit emotionsgeladenen, visuellen und akustischen Mitteln seinen Plot
zu transportieren.24
Eine exakte Gattungsbestimmung über seine Etymologie ist wenig aufschlussreich:
mélos bedeutet im Altgriechischen ‚Lied‘, dráma ‚Handlung‘. Die musikalische Begleitung
des Plots ist allerdings kein Spezifikum des Melodrams, wenngleich hier der Musik in der
Vertiefung der Emotionalität natürlich eine entscheidende Bedeutung zukommt. Diese
Bezeichnung für eine besonders rührselige Erzählung blickt jedoch auf eine längere Entwicklung in der Literatur- und Theatergeschichte zurück.25
Vgl. Elsaesser 2008, S. 25.
Vgl. Faulstich 2008, S. 37.
19
Vgl. Elsaesser 2008, S. 12.
20
Vgl. Faulstich 2008, S. 36.
21
Vgl. Cargnelli 1994, S. 14.
22
Vgl. Faulstich 2008, S. 37f.
23
Vgl. Elsaesser 2008, S. 12.
24
Vgl. Lange 2007, S. 93.
25
Ebd.
17
18
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Historische Wurzeln
In sozialgeschichtlicher Hinsicht können Melodramen als ein Produkt der Zeit nach dem
Aufstieg des Bürgertums betrachtet werden. Die Entstehungsgeschichte fällt in eine Phase
des Bewusstseins von versäumten Möglichkeiten und zerplatzten Emanzipationsversuchen,
in der gesellschaftliche Umstände in ihrer Naturgegebenheit resignativ konsolidiert werden.
Das melodramatische Genre kann in diesem Kontext auch als Orientierung für Zu-kurzGekommene gelesen werden, die für die fehlenden realen Chancen mit einer Darbietung
emotionaler Ekstase getröstet werden.26
Gemäß der Klassifikation des Filmwissenschaftlers Thomas Elsaesser hat das populärkulturelle, bürgerliche und antifeudale Genre im engeren Sinn seine Wurzel im sentimentalen
Roman des 18. Jahrhunderts und im romantischen Drama.27 Die Bindung an die Familie
als zentralen Schauplatz und die Austragung des Konflikts „weibliche Neigung versus Sitte“
kennen wir bereits aus dem bürgerlichen Trauerspiel. Als Vorreiter im 19. Jahrhundert sind
Charles Dickens, Honoré de Balzac oder Victor Hugo zu nennen.28
Das Vorgehen der sentimentalen Literatur durch das Erwecken von Gefühlen moralisches Handeln und Denken zu beeinflussen, war für den melodramatischen Film vorbildhaft.
Ihre Erzählformen wecken mit den ästhetischen Effekten im Betrachter emotionale Regungen und verhelfen so mit der Paarung von Aktion und Pathos zum Entschlüsseln der im
Stück angelegten moralischen Qualitäten. Mit den verschiedenen Affektqualitäten werden
Wertkonflikte ausgetragen. Der Text ist Instrument der Regulierung und intendiert die Realisierung moralischer Weisungen mittels der Fiktion. Zentrales Moment des Konflikts im
Roman des 19. Jahrhunderts ist vor dem Hintergrund der demokratischen Revolutionen
das Gefühl sozialer Ungerechtigkeit. Die melodramatische Struktur hat somit die demokratischen Normen zu stärken.29
Die starke emotionale Färbung ist als melodramatisches Merkmal nicht nur in entsprechenden Roman- und Lyrikformen im England und Frankreich des 18. Jahrhunderts,
sondern auch im populären Musiktheater angelegt. Körperlichkeit wird gemeinhin unterstrichen durch pantomimische Aktionen. Dank der Überzeichnung und somit Intensivierung
von Charakterzügen und Konfliktsituationen werden moralische und unmoralische Kräfte
polarisiert und konturiert. Moralische Bestrebungen werden dabei eng mit den Affekten
verknüpft. Diese drei Eigenschaften von Körperlichkeit, Typisierung der Narration sowie
Engführung von Moral und Gefühl haben dann auch im Spielfilm des 20. Jahrhundert ihre
Anwendung gefunden.
Bei dem Versuch des frühen Melodrams, den Verlust traditioneller moralischer Werte
mit der Etablierung demokratischer Grundsätze zu kompensieren, gibt es keine Referenz mehr auf eine versöhnende kosmische, göttliche Ordnung wie in der Tragödie. Im
Melodram werden (profane) individuelle und (system-)immanente Probleme verhandelt.
Die demokratisch organisierte Gesellschaft konstituiert sich im Hier und Jetzt ohne transzendente Bezüge. Mit der Befreiung aus sakralen Legitimationen und Hierarchien wird
Lange 2007, S. 93f.
Vgl. Cargnelli 1994, S. 13f.
28
Lange 2007, S. 93f.
29
Vgl. Decker, Christof: Hollywoods kritischer Blick: Das soziale Melodrama in der amerikanischen Kultur
1840- 1950, Frankfurt am Main/New York 2003, S. 9–14.
26
27
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die Innerlichkeit neu bewertet. Emotionaler Überschwang ist auch ohne metaphysische
Behaftung möglich. Der Gefühlshaushalt erhält die Autorität zur Rechtfertigung sozialer Normen. Die metaphysische Bindungskraft wird durch eine affektive Fundierung der
Moral substituiert,30 wie es bereits durch die moral-sense-Theorie postuliert worden war.
Diese beinhaltete die Vorstellung, richtiges Handeln erzeuge ein moralisches Gefühl.31 Es
mag schon paradox klingen, dass der geistes- und kulturgeschichtliche Hintergrund dieses
Genres eine Begründung der Norm durch einen menschlichen Sinn verlangt, der jedoch
zugleich zum Konfliktauslöser wird. Denn der Maßstab richtet sich danach, was sich gesellschaftlich schickt und was nicht und gerade nicht nach dem, was ihre Mitglieder ihrem
Empfinden nach wollen und wünschen.
Das Melodram hat aber auch Elemente der Tragödie aufgenommen. Die Narration
kreist um Schuld und Schicksal, menschliche Verfehlung und Größe, als auch Entsagung
und Erfüllung. Ethische und psychologische Dichte der Werke spiegeln sich hier genauso
in der ästhetischen Überfrachtung.32 Der Unterschied zwischen Tragödie und Melodram
ist jedoch der, dass der Tragödienheld sich seines Schicksals bewusst ist und droht zwischen
den konfligierenden Kräften zerrieben zu werden. Die leidenden Charaktere im Melodram
hingegen haben kein Wissen von diesem Umstand und seinem sozialen Ursprung. In der
Tragödie spielt sich der Konflikt im Menschen ab, im Melodram zwischen Menschen bzw.
zwischen Menschen und Dingen. Die Tragödie befasst sich mit der Natur des Menschen,
wohingegen das Melodram sich mit ihren Gewohnheiten und Sitten auseinandersetzt.33
Zuletzt sei angeführt, dass im Gegensatz zu den Tragödienhelden die Opfer des Melodrams,
abgesehen von ihrer Hilflosigkeit, makellos sind. Beiden ist aber wiederum gemein, dass die
entscheidende Erkenntnis zu spät kommt.34
Das melodramatische Genre und seine beschriebenen Wurzeln sind maßgeblich für die
gesamte Filmgeschichte. Der Anfang des mehraktigen Erzählkinos seit Mitte der 1910er
Jahre ist grundsätzlich bestimmt durch die Orientierung am bürgerlichen Drama bzw.
Melodram. Es behandelte das hierfür spezifische Sujet der (scheiternden) Lossagung der
Frau von den Zwängen der Gesellschaft. Das Gefühlskino pendelt zwischen Gehorsam und
Befreiung, Unschuld und Begierde, Gut und Böse.35 Schauspielerinnen, wie der dänische
Filmstar Asta Nielsen, verkörperten beispielhaft, was Frauen ersehnten: Selbstbestimmung –
auch im Umgang mit ihren Leidenschaften und Triebwünschen, die jedoch mit den sozialen
Normen des bürgerlichen Milieus bis dato kollidiert war. Das Filmmelodram wurde daher
auch mit großer Skepsis betrachtet. Zur Bewahrung der gesellschaftlichen Moral wurden
zensierende Maßnahmen ergriffen.36
Nach diesen allgemeinen Gattungsspezifika und ihren historischen Bedingungen soll
nun anhand zweier thematisch eng verknüpfter Werke auf einen Konflikt eingegangen
werden, der für das Melodram typisch und das Untersuchungsvorhaben einer Affektpoetik
mustergültig ist.
Decker 2003., S. 34f.
Elsaesser 2008, S. 12.
32
Vgl. Lange 2007, S. 94.
33
Vgl. Mulvey 1987, S. 77.
34
Vgl. Elsaesser 2008, S. 13.
35
Vgl. Faulstich, Werner: Filmgeschichte, Paderborn 2005, S.43.
36
Vgl. dazu Faulstich 2005, S. 42–44.
30
31
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All That Heaven Allows (1955): Affektpoetik bei Douglas Sirk
Douglas Sirk wird gemeinhin als ein politisch linksorientierter von Bertolt Brecht beeinflusster Filmemacher betrachtet, der das Amerika unter Eisenhower und die Paradoxien des
Bürgertums enthüllte.37 Seine Filme reflektieren die amerikanische weiße Gesellschaft in
einer Phase des Kalten Kriegs einerseits und des Wirtschaftsbooms andererseits. Er beleuchtet Geschlechter- und Generationenkonflikte in der reichen Vorstadt und entlarvt das
klaustrophobische Moment der sozialen Welt mit ihrer Doppelmoral, familiären Instabilitäten und rassistischen Tendenzen.38 Er ist hiermit repräsentativ für eine häufig festzustellende
Tendenz der 1950er Jahre neurotische Familien zu thematisieren, die in und an der Pracht
der Eigenheime und ihrem zu hoch gegriffenen Wunsch nach Selbstverwirklichung zerbrochen waren. Vor dem Hintergrund des Sieges im Zweiten Weltkrieg und des Aufschwungs
produzierte die amerikanische Filmindustrie nun paradoxerweise Geschichten von psychischem Elend.39
Starken Einfluss erfährt das Werk auch durch die im Amerika der 1950er Jahre beliebte
Psychoanalyse.40 Die Verhandlung der Rolle der Frau erlebt ihre Blüte durch zeitgleiche in
diesem Kontext zu verstehende feministische Ansätze, welche die Funktion des Melodrams
als Verarbeitung weiblicher Desillusionierung und Verbitterung erforschen und auch für das
Verständnis von Sirks Werk von Relevanz sind. Dargestellt wird nach deren Lesart gemeinhin, wie das Männliche in seiner Kriegslust in die politikferne Familie eindringt und das
harmoniebedürftige Weibliche unterdrückt. Zum Überleben der Familie und des häuslichen Refugiums, so lautet der hypothetische Lösungsansatz, muss der Mann zur Besinnung
gebracht werden und es müssen Kompromisse geschlossen werden. Die Wiederherstellung
der familiären Ordnung kann nur durch eine Vaterfigur geleistet werden. Die phallozentrische, gewalttätige Kultur steht aber durchwegs im Konflikt mit dem Ideal des intakten
Familienlebens. Die einzige hieraus hervorgehende Einsicht kann in der Unversöhnlichkeit der Widersprüche liegen. Die Wirkung des Unbewussten im Mann ist unüberwindbar:
Seine Kastrationsangst, mit den Worten Sigmund Freuds gesprochen, als Angst vor dem
Verlust der Männlichkeit, bleibt eine natürliche Determination des Geschehens.41 Inwiefern
ein solcher Interpretationsansatz allerdings auf das vorliegende Werk anwendbar ist, bleibt
nicht nur aufgrund der abweichenden Personen- und Handlungskonstellation fragwürdig.
Dass Sirk mit seiner Erzählung den feministischen Forschungen jedoch ein ertragreiches
Analysebeispiel bietet, steht außer Frage. Auch er präsentiert uns eine Protagonistin, deren
persönliche Wünsche mit den – eben mitunter patriarchalisch geprägten – gesellschaftlichen
Erwartungen nicht konform gehen.
Wie aus der Schilderung seiner geschichtlichen Umstände hervorgehen sollte, bediente
sich der Filmemacher hier eines Genres, welches auf eine lange Tradition der Sozialkritik
zurückblicken darf. Neben der distanzlosen Gefühlsbetontheit baut das für das HollywoodKino fruchtbar gemachte Melodram auf eine lineare Narration und nicht auf epische oder
anti-aristotelische Grundsätze und entfernt sich somit von der Avantgarde. Mit seinem
ästhetischen Spektakel in Form einer professionellen Besetzung, künstlicher Bilder mit
Vgl. dazu Cargnelli 1994, S. 11–13.
Vgl. Lange 2007, S. 95.
39
Vgl. Elsaesser 2008, S. 22.
40
Vgl. Cargnelli 1994, S. 14.
41
Vgl. Mulvey 1987, S. 76f.
37
38
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außerordentlich sinnlichen Oberflächen, Studioaufnahmen oder der romantischen Musik
hatte auch Sirk sich schließlich vom anfänglich maßgeblichen Brecht‘schen Realismus als
auch vom Neorealismus abgewandt.42 Trotz dieser populärkulturellen Elemente wird Sirk
jedoch allseits attestiert, substanzielle Filme im Rahmen der Hollywood-Konventionen
geschaffen43 und überhaupt dem Genre des Melodrams dazu verholfen zu haben, für wissenschaftliche Analysen attraktiver zu werden und akademischen Respekt zu verdienen.44
Sirks Melodramen karikieren sogar ihr eigenes Genre: Die Plots der Hollywood-Produktionen werden durch parodistische Elemente und stilistischen Exzess, wie der Inszenierung
durch Farbe und Musik, in ihrem stereotypen Charakter kritisiert. Mittel der Distanzierung
bescheinigen Sirks Werken subversives Potential. Deutlich werden wird dies noch an späterer Stelle der Beispielanalyse.
Individuelle Gefühle und persönliches Glück im Konflikt mit sozialen Normen:
Regulierung des Gefühlshaushalts als zentrales Sujet in Sirks All That Heaven Allows
Nach dem Tod ihres Mannes verspürt Cary Scott (Jane Wyman) weiterhin das Bedürfnis
nach einer Partnerschaft und ein sexuelles Verlangen. Zwar erwartet die Gesellschaft nicht
mehr die traditionelle Solidarität einer Witwe von ihr, doch werden Vorstellungen von sexueller Zügelung im Alter, speziell bei Frauen, an sie herangetragen. Als sie eine Liaison mit
ihrem wesentlich jüngeren Gärtner Ron Kirby (Rock Hudson) beginnt, wird ihr gemeinsames Auftreten nicht nur aufgrund des Altersunterschiedes, sondern auch seines niedrigeren
sozialen Status’ wegen abgelehnt. Da Ron handwerklich arbeitet, zählt seine Schuldbildung
wenig, zumal er nicht wohlhabend ist und keine Aufstiegschancen ins bürgerliche Milieu
hat. Carys beste Freundin Sara sorgt sich um ihr Glück, welches sie nicht außerhalb der
oberen Mittelschicht und ihrer sozioökonomischen Umwelt realisiert sehen kann.45 Cary ist
allerdings nicht weiter interessiert an anderweitigen Bekanntschaften, wie mit dem farblosen hypochondrischen alten Harvey oder dem unangenehm zudringlichen Howard. Ersterer
kann ihr zwar materielle Sicherheit bieten, doch erschöpft sich hierin nicht ihre Erwartung
an ein erfülltes Leben. Mit Ron erfährt sie wirkliche Liebe, Zärtlichkeit und Zuneigung,
mag sie auch unter dem Druck ihres Umfelds leiden, das sich über ihre Verletzung von
Klassenschranken empört. In seinem für sie hergerichteten Mühlenhaus auf dem Land
finden Ron und Cary fernab des vornehmen Wohnens zueinander. Im Gegensatz zu der in
der Stadt herrschenden Oberflächlichkeit, trifft sie hier auf warmherzige Freunde. In seiner
Ablehnung der gemeinschaftlichen Erwartungen hat Ron den Charakter eines Helden im
romantischen Roman. Er ist frei von Standesdünkel und sucht einfach die Bindung zu einer
Frau, die er lieben und der er Geborgenheit schenken kann.
Schließlich macht Ron seiner Angebeteten einen Heiratsantrag. Nachdem das Paar
jedoch auf einer Feier bittere Sticheleien erfahren muss, der Sohn Ned seiner Mutter droht,
von weiterem Kontakt mit ihr abzusehen und die Tochter Kay auf die gesellschaftliche
Ächtung mit einem Tränenausbruch reagiert, beschließt Cary ihre Beziehung zu beenden.
Als die Tochter dann an Weihnachten ihre eigene Verlobung kund tut und ihr Sohn erklärt
Vgl. Elsaesser 2008, S. 16.
Klinger, Barbara: Melodrama and Meaning. History, Culture, and the Films of Douglas Sirk, Bloomington/
Indianapolis 1994, S. 11.
44
Vgl. Klinger 1994, S. 12.
45
Vgl. Byars, Jackie: All that Hollywood allows. Re- eading Gender in 1950s Melodrama, London 1991, S. 150f.
42
43
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für ein in Aussicht gestelltes Stipendium nach Paris gehen zu wollen, bereut sie ihre Entscheidung und fürchtet die drohende Vereinsamung. Carys Arzt diagnostiziert sodann
psychosomatische Beschwerden und versucht sie zu einer Aussöhnung mit Ron zu motivieren. Als Cary während Rons Abwesenheit zur Mühle fährt und unverrichteter Dinge
umkehrt, sieht dieser, von der Jagd zurückkehrend, noch ihren Abgang und stürzt bei dem
Versuch ihr hinterher zu eilen einen Hang hinab. Cary wird über den Unfall verständigt
und besucht ihn umgehend. Der Arzt stellt eine Gehirnerschütterung des Bewusstlosen fest.
Cary wird seine Pflege übernehmen und schmiegt sich in der letzten Szene an die Seite des
Erwachenden mit den Worten, sie sei nun zu Hause angekommen.
Wenn die Protagonistin schließlich doch eine Entscheidung zwischen zwei Männern
treffen muss – zwischen ihrem verstorbenen Mann bzw. einem adäquaten Ersatz und dem
Gärtner, zwischen dem Leben als Witwe oder Gesellschafterin und dem Leben in erneuter
Blüte – dann muss sie sich für eine Lebensform und Gesellschaft entscheiden. Die „richtige“
Entscheidung soll sie erst nach einer schicksalhaften Wendung treffen, die zur Hilfsbedürftigkeit Rons führt. Hiermit untergräbt Sirk das glückliche Ende: Nur ein willkürlicher,
beliebiger Vorfall in der Logik der Erzählung ermöglicht der Heldin aus der zugeordneten
Rolle auszubrechen.46 Die Ironie des Schicksals verhindert dazu ein wirkliches Happy End,
denn Rons Unfall vereint das Paar zwar schlussendlich, doch der Unfall wirft einen Schatten auf die vermeintlich akzeptierte Liebe. Mit Rons Einschränkung wird die Überwindung
sexueller Tabus in einer Zivilisation erst recht unmöglich. Das Objekt ihres Begehrens wird
auf die kindliche Abhängigkeit von ihrer Pflege herabgesetzt.47 Diese ausstehende Erfüllung
des Happy Ends illustriert beispielhaft den subversiven Zug im Werke Sirks.48 Welch starke
Beeinträchtigung der glückliche Ausgang tatsächlich erfährt, soll bei der Diskussion von
Fassbinders Anlehnung deutlich werden.
Sirks Vorgehen zur Realisierung des Primärmotivs:
Korrespondenz zwischen farblicher Gestaltung und narrativem Gehalt
Intention und Aussage der Erzählung werden durch ästhetische Mittel entsprechend kommuniziert. Eine zentrale Rolle für die Darstellung der Gemütserregungen und Gestaltung
von Affektbildern spielt in All That Heaven Allows der Farbeinsatz. Er macht semantische
Implikationen lesbar. Besonders Carys Kampf gegen die Ideologien der Gesellschaft und
ihre Emotionen wird durch den Farbeinsatz Ausdruck verliehen, wenngleich dieser bisweilen auch unnatürliche Züge annimmt.49
Sirks Umgang mit Farbe entspricht dabei nicht der gängigen Filmpraxis in Hollywood.
Üblicherweise erfüllt die Farbe zwei Funktionen: Entweder schafft sie einen Realismus
und ermöglicht die Verständigung von Handlung und Charakteren oder sie dient einer
spektakulären Ästhetik, welche sich die Narration unterordnet (beispielweise in Fantasy-,
Abenteuer- oder Historienfilmen), was im Konflikt mit dem Anspruch eines realistischen
Dramas steht. All That Heaven Allows bricht mit den üblichen Regeln des narrativen Primats,
Vgl. Schatz, Thomas: The Family Melodrama. In: Landy, Marcia (Hg.): Imitations of Life. A reader on Film
& Television Melodrama, Detroit 1991, S. 159.
47
Vgl. Mulvey 1987, S. 78f.
48
Vgl. Elsaesser 2008, S. 17.
49
Vgl. Haralovich, Mary Beth: All That Heaven Allows: Color, Narrative Space, and Melodrama. In: Lehman,
Peter (Hg.): Close Viewings. An Anthology of New Film Criticism, Tallahassee 1990, S. 57f.
46
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ohne jedoch diesen Anspruch aufzugeben.50 Sirks Melodram operiert jenseits stilistischer
Schranken. Es macht zwar mitunter auf orthodoxe Weise Ideen und Weltanschauungen
sichtbar, nutzt aber auch die Fähigkeiten der Farbe für sich selbst zu wirken und sich von
der Dominanz der Erzählung abzukoppeln.51
Der symbolisch aufgeladene Einsatz der Farbe vollzieht sich unter anderem durch
die Lichtdramaturgie. Diese illustriert den emotionalen Aufruhr von Cary. Ihre Welt ist
geteilt in die Welt der Einsamkeit, Kälte und Gängelung in Blau und Gelb und in die Welt
des warmen, weichen Orange und Rot von Hoffnung, emotionaler Freiheit und sexueller
Befriedigung. Das Licht changiert demnach abhängig von der Situation. Innen- und Außenraumlicht mit kühler und warmer Tönung konkurrieren auch oft innerhalb von Räumen um
die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Sie stiften in ihrer Unverträglichkeit Verwirrung und
können als Andeutungen auf Carys psychische und emotionale Probleme gelesen werden.52
Nicht nur die Lichtinszenierung, sondern auch die Requisiten setzen die Andeutungen
um. Carys Haus ist in kühlem, geschmackvollem Grau eingerichtet, während die Möbel bei
Ron aus warmen Holz sind. Carys rotes Kleid kann als Symbol für ihr sexuelles Interesse
stehen. Als Kay ihrer Mutter an Weihnachten berichtet, dass sie heiraten wird, trägt sie auch
ein rotes Kleid. Das Rot symbolisiert auch hier wieder den Eros. Cary selbst hingegen trägt
nun schwarz und sieht sich am Ausleben ihrer Wünsche gehindert. 53 Da das Rot aber nicht
nur eine akzentuierende Funktion hat, sondern auch anderweitig in ihrer zufälligen, natürlichen Gegebenheit, beispielsweise in Kleidungsstücken anderer Figuren, auftaucht, wird mit
der Konvention des symbolischen Farbeinsatzes gebrochen.54
Angst essen Seele auf (1973/74): Affektpoetik bei Rainer Werner Fassbinder
Fassbinders Wirken ist untrennbar mit den Bewegungen des Neuen Deutschen Films
der 1960er Jahre verknüpft. Als die Konkurrenz des Fernsehens eine Flaute des deutschen
Kinomarktes und die Forcierung des in politischer und ästhetischer Hinsicht anspruchslosen kommerziellen Serienfilms bewirkt hatte, rief auf den Oberhausener Kurzfilmtagen
1962 eine Gruppe junger Filmemacher den Neuanfang des Kinos aus. Dieser sollte in einer
Substitution des populären Genrekinos durch ein Autorenkino mit neuen ästhetischen
Akzenten erfolgen, wobei die Tradition gelungener deutscher Produktionen bewahrt werden
sollte. Das Spektrum der Sujets reichte von der Erfassung der kapitalistischen Lebenswelt
über Betrachtungen von Rassismus und Holocaust bis hin zu Literaturverfilmungen. Die
sich als sozialkritisch verstehende neue Kunstfilmschmiede wirkte sich auch in den 70er
Jahren auf Fassbinders Schaffen aus.55 Dieser kam ursprünglich aus der Theaterszene,
belegte jedoch seine Vielseitigkeit nicht nur als Verfasser von Bühnenstücken, Hörspielen
und Drehbüchern, sondern auch als Schauspieler. Dabei scheute er auch nicht den Kontakt
mit dem Fernsehen.56 Als besonders prägend erwiesen sich das realistische Theater einer
seits und das Ritualtheater andererseits – bis hin zu experimentellen und avantgardistischen
Vgl. Haralovich 1990, S. 61f.
Vgl. Ebd., S. 70f.
52
Vgl. Haralovich 1990, S. 67f. oder Mulvey 1987, S. 78.
53
Vgl. Byars 1991, S. 202f.
54
Vgl. Haralovich 1990, S. 67f.
55
Vgl. Faulstich 2005, S.176f.
56
Vgl. Faulstich 2005., S. 178.
50
51
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Formen.57 Im engeren Sinne rezipierte er Brechts episches Theater, Artauds Theater der
Grausamkeit und Fleißers Milieu-Theater.58 Die Gründung des sogenannten antitheaters in
seiner frühen Schaffensphase beruhte zunächst auf dem Anliegen, Akzente gegenüber dem
Film zu setzen und kippte dann um in den Plan, selbst Filme zu gestalten, wie sie bis dato
nicht anzutreffen waren.59
Fassbinders Schaffensgrundsätze deuten auf seine Qualifikation, affektive Regungen
illustrieren zu können, hin. Trotz der unbestreitbaren Nähe zu Brecht empfand er dessen
künstlerische Grundsätze zeitweise zu kopflastig. Der Zuschauer sollte bei der Betrachtung
des Werks hingegen Gefühle entwickeln und diese aus dem Kino mit auf die Straße nehmen.
Auch das Ende der Geschichte solle der Rezipient, laut Fassbinders Meinung, selbst erfinden.
Er selbst bietet keine Antworten, sondern stellt Frage auf Frage.60 Sein Anspruch war es, dass
der Film nicht nur Film ist, nicht nur eine Geschichte, sondern dass er lebendig werden und
den Zuschauer dazu anregen sollte über sein Leben und über das soziale Umfeld nachzudenken.61 Porträtiert wird eine Gesellschaft, die durch ihre Beherrschung durch Technisierung
und das Utilitätsprinzip beschädigt ist, in der massenmediale Quantität über kultureller
Qualität steht und deren Mitglieder, von Verbrechern und Terroristen über Geschäftsmänner bis zu Hausfrauen, gleichermaßen an unerfüllten Träumen und Sehnsüchten hängen.62
Er verzichtete jedoch darauf, sich alter Klischees der Kulturindustrie zu bedienen. In
all seinen Themen internalisieren die Opfer ihre Unterdrückung, indem sie sich falschen,
gesellschaftlich vorgegebenen Vorstellungen anschließen oder sich eine Führungsperson
wünschen, die das Richtige an ihrer Stelle tut. Die meisten Menschen wollen nach seiner
Auffassung gesagt bekommen, was sie denken sollen, wie sie fühlen sollen, wollen sich geliebt
wissen und träumen vom guten Leben und Macht.63 Den Unterdrückenden kommt dabei
allerdings auch oft eine Opferrolle zu, wenn auch nicht, wie mit einem Vorgriff festzustellen
ist, in diesem Stück: Während die Hauptfiguren in Angst essen Seele auf stets die Zuneigung
des Betrachters für sich gewinnen, bleiben die übrigen Personen unverbesserlich.64
Nach Fassbinder scheint das Leben also sprichwörtlich die Hölle zu sein – ohne glückliche Familien, Beziehungen und Freundschaften. Allerdings entspricht seine Welt auch nicht
uneingeschränkt der Wirklichkeit. Sie wirkt immer etwas aufgebauscht und befremdlich.
Seine Szenen sind Darstellungen des schlimmsten Falls. In unserer Welt mag es also mehr
Liebe geben als in der Fassbinders, aber immer noch nicht genügend. Er kann und will die
bessere Gesellschaft nicht benennen, sondern nur die Wichtigkeit einer Vorstellung von
ihrer Notwendigkeit betonen. Das Werk Angst essen Seele auf ist ein Beispiel für Fassbinders
Wirklichkeitsbezug. Es hat dabei auch einen märchenhaften, unrealistischen Zug: Es soll die
Zuschauer in ihre eigene, innere Realität befördern und sie diese erleben lassen.65
Vgl. Firaza 2002, S.7.
Vgl. Ebd., S. 66f.
59
Vgl. Ebd., S. 11.
60
Vgl. McCormick, Ruth: Fassbinder´s Reality. In: Landy, Marcia (Hg.): Imitations of Life. A reader on Film
& Television Melodrama, Detroit 1991, S. 585.
61
Vgl. Rauscher, Andreas: Angst essen Seele auf. In: Thomas Koebner (Hg.): Filmklassiker. Beschreibungen
und Kommentare, 3. Durchges. und erw. Aufl. Ditzingen 2003, S. 422.
62
Vgl. McCormick 1991, S. 580.
63
Vgl. Ebd., S. 580.
64
Vgl. Rauscher 2003, S. 421.
65
Vgl. Wiegand, Wilfried: „Ich weiß über nichts als über den Menschen Bescheid“. Rainer Werner Fassbinder
über sich und seine ersten zwanzig Filme. In: Fischer 2004, S. 294.
57
58
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Die Figuren im Film sind entwurzelt, sie erfahren in ihren amourösen Beziehungen
Gewalt und Unterdrückung, und ihre individuellen Visionen zerbrechen an den einengenden sozialen Umständen. Mit diesen narrativen Motiven bemüht Fassbinder besonders
typische Merkmale des Melodrams. Lange Zeit als Hausfrauengenre missachtet, wird das
Melodram in den 1970er Jahren zunehmend von neomarxistischen angelsächsischen Filmwissenschaftlern und auch von Fassbinder wiederentdeckt und in den filmästhetischen
Diskurs eingereiht.66 Die Tradition des Genres, von den Opfern der Geschichte und gesellschaftlichen Irrläufen zu berichten, fügt sich auch in Fassbinders grundsätzliche Skepsis
gegenüber teleologischen Konzeptionen.67 Eine weitere Rechtfertigung für die melodramatische Struktur seiner Filme ergibt sich auch aus deren Leitmotiv: Fassbinder verhandelt
Lebensgeschichten mit Beziehungsgeflechten, welche – zugespitzt formuliert – per se Melodramen sind.68 Er stellt den sadomasochistischen Zug des sozialen Miteinanders heraus,
indem er Schmerz und Liebe untrennbar verbindet. Das Melodram verhandelt das Leben als
Qual und Fassbinder zieht aus dieser Identifizierung den Umkehrschluss: Solange die Qual
ist, ist man noch am Leben.69
Bei seiner Realisierung affektpoetischer Konzeptionen im Rahmen melodramatischer
Werke hat sich Fassbinder maßgeblich durch Sirk inspirieren lassen. Er begründet sein
Gefallen an dessen Produktionen und am Hollywood-Kino im weiteren Sinne damit, dass
die Geschichten simpel, geradlinig und spannungsgeladen seien. 70 Die Filme verhandelten
Sorgen und Sorgenfreiheit. Es sei keine Kunst, aber unterhaltsam und dies, so Fassbinder,
fehle dem deutschen Film. Er schätze die Natürlichkeit und Trivialität der Erzählungen
und die Abwesenheit von Konstruktion und Firlefanz. Sirks Filme zeichnen sich dadurch
aus, dass man, anders als bei deutschen Filmemachern, seine Menschenliebe spüre. Da sein
Vorbild dabei aber seinen Protagonisten gegenüber nicht kritiklos ist, könne das Werk auch
nicht als Kitsch verschmäht werden. Sollte es als solcher kategorisiert werden können, wie
Fassbinder sagt, so vermöge es nichtsdestoweniger mehr Wahrheit zu transportieren als die
offizielle Kunst mit ihren vermeintlich glaubwürdigen Anliegen, Wirklichkeit auszudrücken.71
Sirk vermochte es alle Möglichkeiten, die die Hollywood-Produktionen bieten, auszuschöpfen und dabei gleichzeitig deren Propaganda, Glück durch Konsum und Materialismus
zu erlangen, zu unterlaufen. Dies geschah auf eine sehr subtile, ungreifbare Art. Es gibt zwar
ein Happy End, doch die Menschen sind trotzdem nicht glücklich, wie das Beispiel von All
That Heaven Allows zeigt. Die Aussichtslosigkeit der utopischen Wünsche der Individuen
steht dabei von vornherein fest. Bei der Präsentation der unrealistischen Sehnsüchte seiner
Figuren geht er jedoch sehr sensibel vor ohne sie zu entblößen. Fassbinder ist berührt von all
dieser Enttäuschung und Desillusionierung, der Ambivalenz und Zweifel der gebrochenen
Vgl. Cargnelli 1994, S. 11–13.
Vgl. Firaza 2002, S. 63.
68
Vgl. Sparrow, Norbert: „Ich lasse die Zuschauer fühlen und denken“. Rainer Werner Fassbinder über
Douglas Sirk, Jerry Lewis und Jean- Luc Godard. In: Fischer, S. 405.
69
Vgl. Firaza 2002, S. 63.
70
Nach Thomsen, Christian Braad: „Hollywoods Geschichten sind mir lieber als Kunstfilme“. Rainer Werner
Fassbinder über naives Kino und Politik im Film. In: Fischer 2004, S. 233f. Im Folgenden abgekürzt: Thomsen (1).
71
Vgl. dazu Wiegand 2004, S. 284- 288.
66
67
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Charaktere.72 Sie veranlassen ihn zu der Aussage, Sirk habe die zärtlichsten ihm bekannten
Filme mit Tränen, Blut und Liebe gemacht.73
Er versuchte sich an der Naivität des Hollywood-Regisseurs zu orientieren, an welcher
es dem europäischen verkopften Kunstfilmemachers mangelte. Dabei wollte Fassbinder sein
Vorbild nicht kopieren, sondern seinen Film als etwas Eigenständiges etablieren.74 Er strebte,
laut Wiegand, einen deutschen Hollywood-Film an, der schön und wunderbar und trotzdem nicht bestätigend, sondern kritisch sei. Dieser wäre dann nicht als Kunstfilm, sondern
als eine Art Volkskunst einzuordnen.75 Während das amerikanische Melodram sich auf die
Vermittlung von Gefühlen beschränkte, wollte Fassbinder hingegen, wie bereits angeklungen ist, den Zuschauer darüber hinaus zum Reflektieren eigener Gefühle bewegen.76 Mit
den Deutschlandporträts sollte demnach auch bewiesen werden, dass Hollywoodstil und
Autorenkino sich nicht gegenseitig ausschließen.77 Bei allem Pessimismus bleibt zuletzt auch
bei ihm der Funken Hoffnung, den er bei Sirk so schätzte, und Momente des Humors und
der Zärtlichkeit, die verlauten lassen, dass noch nicht alles verloren ist.78
Für Angst essen Seele auf nutzt Fassbinder nach dem Vorbild von Sirk das Melodram als
Plattform sozialer Kritik. Den Verstoß gegen Alters- und Klassengrenzen, wie er bei Sirk
präsentiert wurde, spitzte dieser noch durch ethnische Differenzen zu.79 Mit der Übersetzung von Sirks melodramatischen Motiven in den Kontext der deprimierenden Münchener
Vorstadt Anfang der 1970er Jahre gelingt Fassbinder die Verbindung von privaten, intimen
Aspekten einer außergewöhnlichen Liebe mit den sozialen Umständen der Gesellschaft.
Das melodramatische Sujet einer grenzüberschreitenden Liebe wird hier in ein realistisches
Setting der ‚kleinen Leute‘ transferiert und mit Elementen einer Milieustudie gekoppelt.80 Während Sirk allgemein versucht die Spießigkeit einer amerikanischen Kleinstadt
freizulegen, verweist Fassbinder allerdings konkret auf die gesellschaftlichen Ursachen der
Voreingenommenheit.81
Aus einer streng katholischen, großbürgerlichen Familie stammend fühlte sich Fassbinder vom Proletariat – den von ihm als ‚Unterprivilegierte‘ Bezeichneten – und ihren
Problemen angezogen. Während die meisten das Proletariat aus einer bürgerlich gefärbten Perspektive betrachten, wollte er eine authentischere Wiedergabe des Proletarischen
liefern und aufzeigen, was bei den kleinen Leuten wirklich passiert.82 Besonders mit der
Präsentation von Menschen aus dem Arbeitermilieu meinte er die Mechanismen ergründen
zu können, welche das alltägliche Zusammenleben der Menschen bestimmten. In diesem
Umfeld agieren die Menschen weniger kopfgesteuert, sondern natürlicher.83 Oftmals wird
Vgl. Firaza 2002, S. 63.
Nach Cargnelli 1994, S. 12.
74
Vgl. dazu Thomsen (1) 2004, S. 233- 235.
75
Wiegand 2004, S. 297.
76
Vgl. Sparrow 2004, S. 405.
77
Vgl. Lange 2007, S. 95.
78
Vgl. McCormick 1991, S. 580.
79
Vgl. Elsaesser, Thomas: Rainer Werner Fassbinder, Berlin 2001, S. 445.
80
Vgl. Rauscher 2003, S. 420ff.
81
Vgl. Jansen, Peter W. und Schütte, Wolfram (Hg.) in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche
Kinemathek: Rainer Werner Fassbinder, Frankfurt am Main 1992, S. 166.
82
Vgl. Grant, Jacques: Der Sinn der Realität. Rainer Werner Fassbinder über Händler der vier Jahreszeiten,
Die bitteren Tränen der Petra von Kant und Angst essen Seele auf. In: Fischer, S. 313f.
83
Vgl. Spaich, Herbert: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk, Weinheim 1992, S. 238.
72
73
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dem Produzenten vorgehalten, seine proletarischen Melodramen hätten einen fatalistischen
Charakter. Die Entwicklung eines Klassenbewusstseins des Helden bringt keine Lösung der
Situation. Allerdings werden gerade durch diesen unbefriedigenden schicksalhaften Ausgang
beim Publikum umwälzende Gedanken geweckt.
Die Grundzüge der Geschichte aus Angst essen Seele auf finden sich bereits in einem
anderen Werk angelegt. In Der amerikanische Soldat (1970/71) erzählt das später aus Liebeskummer Suizid begehende Zimmermädchen:
Das Glück ist nicht immer lustig. In Hamburg gab‘s ‘ne Putzfrau, die hieß Emmi und war
schon so 60 oder 65, und eines Tages fing‘s auf ihrem Heimweg unheimlich zu regnen an,
und da geht sie in ‘ne Kneipe, und das ist so ‘ne Gastarbeiterkneipe, und sie setzt sich hin und
trinkt ‘ne Cola. Und plötzlich fordert sie einer auf, mit ihr zu tanzen. Und der ist unheimlich groß und hat wahnsinnig breite Schultern. Und sie findet ihn schön und tanzt halt mit
ihm. Und dann setzt er sich zu ihr und redet mit ihr. Und er sagt, daß er keine Wohnung hat,
und da bietet ihm Emmi an, daß er mit zu ihr kommt. Ja, und zu Hause dann, da hat er mit
ihr geschlafen und ‘n paar Tage später hat er gesagt, sie soll‘n heiraten. Und da ham sie halt
geheiratet. Und plötzlich wurde Emmi ganz jung, von hinten sah sie aus wie 30 oder so, und
ein halbes Jahr ham die gelebt wie wahnsinnig und warn unheimlich glücklich. Ham immer
Feste gefeiert und so. Und eines Tages war Emmi tot, ermordet. Und an ihrem Hals, da warn
so Abdrücke von einem Siegelring. Die Polizei hat ihren Mann verhaftet. Der hieß Ali, und
auf dem Ring war ein A. Aber er hat gesagt, er hat noch viele Freunde, die heißen Ali und alle
haben einen Siegelring. Da ham sie alle Türken verhört in Hamburg, die Ali heißen. Aber
viele warn wieder zurück in die Türkei, und die anderen ham nichts verstanden.84
Fassbinder war zu dieser Geschichte durch eine Zeitungsmeldung angeregt worden. Zur
selben Zeit wurde seine Begeisterung für Sirks All that Heaven Allows geweckt. Er konzipierte zunächst ein Remake des Films mit dem Titel Des Menschen Himmelreich. Hier sollte
das Verhältnis einer reichen Witwe zu ihrem Chauffeur beschrieben werden. Schlussendlich siegte in diesem Entwurf die konventionsgerechte Vernunft der Witwe gegenüber den
Gefühlen, so dass sie der Liebe zu entsagen beschließt. Dieses Ende vertrug sich jedoch
nicht mit seiner Anfangsidee, dass der Mann seine Frau schließlich ermorden sollte und so
entwickelte er eine Geschichte, die zunächst den Titel Alle Türken heißen Ali tragen sollte,85
mit dem Verweis auf ebendieses deutsche Klischee.86 Der letztlich gewählte Titel des Films
Angst essen Seele auf entspringt einem Kommentar Alis zu Emmis Äußerung von Bedenken.
In einem Interview aus dem Jahre 1973 erklärte Fassbinder, er plane nun weniger pessimistische Filme zu drehen und habe hierfür folgendes Konzept im Kopf:
Es handelt sich um eine ältere deutsche Frau, die um die sechzig ist, und einen jungen türkischen Gastarbeiter. Die heiraten, und eines Tages wird sie ermordet. Man weiß nicht, wer der
Mörder ist, ob es ihr Mann war oder einer seiner türkischen Kollegen. Ich hab die Geschichte
schon einmal in einem Film verwendet, sie wird nämlich in Der amerikanische Soldat vom
Spaich 1992, S. 264.
Vgl. Ebd., S. 264- 266.
86
Vgl. Elsaesser 2001, S. 446.
84
85
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Zimmermädchen in einer einzigen langen Einstellung, wo das Mädchen auf dem Bett sitzt,
erzählt. Aber ich will die Geschichte nicht so erzählen, wie sie wirklich stattgefunden hat. Ich
will dem jungen Türken und der alten Deutschen die Möglichkeit geben zusammenzuleben.
[…Es geht] mir darum zu zeigen, wie man sich wehren kann und es trotzdem irgendwie
schafft. Heute glaub ich eher, dass man, wenn man diese deprimierenden Verhältnisse nur
reproduziert, sie damit verstärkt. Deshalb sollte man eher die herrschenden Verhältnisse so
durchschaubar darstellen, dass sie bewusst werden, und zeigen, dass sie überwunden werden
können.87
Die Geschichte des Zimmermädchens modifizierte Fassbinder noch. Emmis geplante
Ermordung sollte darin nicht mehr berücksichtigt werden.88 Während Der amerikanische
Soldat eine individuelle Liebestragödie vorstellt, verhandelt Angst essen Seele auf darüber
hinaus Alltagserfahrungen wie die Diskriminierung von Minderheiten. Inwiefern Fassbinder dabei eine Überwindung des Pessimismus gelingt, soll sich an späterer Stelle mit der
Betrachtung des vermeintlichen, aber immerhin hoffnungsvollen Happy Ends nach dem
Vorbild Sirks klären.
Individuelle Gefühle und persönliches Glück im Konflikt mit sozialen Normen:
Regulierung des Gefühlshaushalts als zentrales Sujet in Fassbinders Adaption
Der das Geschehen bestimmenden Not und Verzweiflung wird mit simplen Dialogen
Ausdruck verliehen. Ebenso unspektakulär sind die Ereignisse und so verdankt sich die
Intensität des Werks primär dem Verständnis, welches der Zuschauer für die Begebenheiten
mitbringt.89 Die Geschichte beginnt mit einer Begegnung zwischen Emmi Kurowski (Brigitte Mira) und dem jungen Marokkaner und Automechaniker Ali (El Hedi Ben Salem)
in einer hauptsächlich von Ausländern besuchten Kneipe. Nach einem gemeinsamen Tanz
bringt er sie nach Hause und verbleibt die Nacht dort. Als Ali wenig später bei Emmi einzieht, drängt der Vermieter wieder auf dessen Auszug, da er keine Untermieter gestattet.
Die beiden beschließen darum zu heiraten und sind damit ein untragbarer Skandal in den
Augen der Nachbarn und Kolleginnen sowie Emmis Kindern und ihrem Schwiegersohn –
gespielt von Fassbinder selbst.
Emmi erfährt fortan, ebenso wie die reiche Witwe aus All That Heaven Allows, Ablehnung
von ihrer Umgebung. aufgrund ihres Verhältnisses zu Ali. Sie droht bald an der Gehässigkeit
zu zerbrechen. Die Beschreibung des Wunschs nach einem bescheidenen Glück ist repräsentativ für Fassbinders Porträtieren gesellschaftlicher Randgruppen.90 Nach Katzelmacher
(1969) war Angst essen Seele auf der zweite mit dem Thema des Rassismus befasste Film.
Der bornierte Fremdenhass hat seinen Ursprung jedoch nicht nur in Vorurteilen,
sondern auch im Neid auf Emmis persönliches, so unkonventionelles Glück.91 Sie erschrickt
allerdings zunächst selbst über das, was sie tut, und ist nicht unbefangen, als sie das erste Mal
morgens neben Ali aufwacht.92 Das Glück unterprivilegierter Menschen, wie Ausländer aus
rassistischer Perspektive, wird hier als Unmöglichkeit abgehandelt – auch nach einer augen Thomsen 2004, S. 263f.
Vgl. Elsaesser 2001, S. 446.
89
Vgl. Rauscher 2003, S. 420.
90
Vgl. Jansen/Schütte 1992, S. 165f.
91
Vgl. Spaich 1992, S. 268f.
92
Vgl. Jansen/Schütte 1992, S. 166.
87
88
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scheinlichen Veränderung der Situation. Nach der Rückkehr aus einem Urlaub, mit dem
das Paar Abstand gewinnen wollte, scheint das Umfeld wie geläutert. Die scheinbare Sinneswandlung entspringt allerdings reinen Nützlichkeitserwägungen. Der Kaufmann möchte
das Paar in Anbetracht der Konkurrenz des Supermarktes nun gerne als Kunden sehen, die
Nachbarinnen sind äußerst freundlich, da sie Emmis großen Keller benötigen, ihr Sohn
besucht sie, um sie für die Kinderbetreuung zu gewinnen und die Kolleginnen nehmen
sie wieder in ihren Pausenkreis auf, nachdem sie ein neues Feindbild in der jugoslawischen
Mitarbeiterin aufgetan haben.
Mit der äußerlichen Harmonie tritt zwischen Emmi und Ali jedoch plötzlich Fremdheit ein. Ali besucht wieder regelmäßig die Wirtin und ehemalige Geliebte Barbara. Nun
wird sichtbar, wie Fassbinder hier die einfache Einschränkung einer Liebe, wie sie auch
bei Sirk anzutreffen ist, durch gesellschaftliche Umstände übersteigt und diese zugleich in
ihrer Ambivalenz zu einer Bedingung macht. Die Belastbarkeit von Paar-Beziehungen wird
besonders dann strapaziert, wenn gerade der äußere Druck weicht. Die Liebe zwischen den
beiden lebt vom nötigen Zusammenhalt und so ermöglichen Belastungen erst eine Liebe,
obwohl diese den gesellschaftlichen Voraussetzungen nach unmöglich zu sein scheint: Die
Ehe zwischen Ali und Emmi ist solange intakt, wie das Paar sich gegen die Vorbehalte
und Diskriminierungen seitens ihrer Nachbarn zur Wehr setzen muss. Mit zunehmender
Akzeptanz hingegen verschlechtert sich die Bindungskraft in der Beziehung. Hinzu kommt
auch, dass durch die enorme seelische Energie, die bislang aufgewendet werden musste, das
Paar psychisch wie emotional erschöpft und der neuen Krise nicht mehr gewachsen ist. Ein
möglicher Neuanfang wird mit dem Ende offengelassen.93 Zugleich kann der Verlauf der
Beziehung aber auch entscheidend durch das nun fehlende Moment der Identitätsstiftung
und Selbstkonstituierung durch die Beobachtung von außen motiviert sein. Fassbinders
grundsätzliche Haltung könnte aber auch den Schluss nahelegen, dass das anfängliche Harmonieren nur als ein Resultat der Unfähigkeit miteinander zu kommunizieren zu betrachten
ist. Diese Annahme würde Fassbinders These bestätigen, emotionale Beziehungen seien per
se unharmonisch.94
Das Verbleiben einer kleineren Hoffnung anstelle eines Happy Ends nach dem Vorbild
von Sirk wird mit der letzten Szene zum Ausdruck gebracht.95 Bei einem Versöhnungsversuch in Barbaras Kneipe kollabiert Ali. Im Krankenhaus diagnostiziert der Arzt ein
durchgebrochenes Magengeschwür, welches symptomatisch für die unter Stress stehenden
ausländischen Arbeiter sei. Zwar räumt dieser ein, dass er sich wieder erholen würde, doch
eine dauerhafte Heilung stellt er der am Bett stehenden Emmi nicht in Aussicht. Diese
beschließt nun jedoch mit neuem Zusammenhalt und Mut der Prognose zu trotzen. Hier
geht Fassbinders Planung auf, mit einem offenen Ausgang den Pessimismus zu entschärfen.
Im Gegensatz zum Ende von All That Heaven Allows ist hier allerdings von keiner temporären Beeinträchtigung die Rede. Das Stück behält diese Tragik weit über sein Ende hinaus.
Fassbinders Happy End ist somit kein eingeschränktes, sondern in seiner Existenz ein etwaiges und so darf auch die Tragweite der Beeinträchtigung des Glücks von Cary und Ron in
Frage gestellt werden.
Vgl. Spaich 1992, S. 268f.
Vgl. Grant 2004, S. 322.
95
Vgl. Jansen/Schütte 1992, S. 166.
93
94
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Fassbinders Vorgehen zur Realisierung des Primärmotivs: Die Unterstützung des narrativen Gehalts durch das Moment des Kamera- und Figurenblickes
An die Stelle der, für das Melodrama symptomatischen künstlichen Ästhetik, tritt bei Fassbinder das Festhalten gewöhnlicher alltäglicher Erfahrungen. Die Bildgestaltung ist auf das
Wesentliche beschränkt und deckt sich mit der benannten Schlichtheit von Handlung und
Kommunikation.96
Bei der Darstellung der Gemütsregungen verwendet Fassbinder gerne distanzierende
Mittel wie Spiegeleinstellungen und innere Rahmungen, was ebenfalls durch Sirk inspiriert ist.97 Betont wird zudem oft der Bildvordergrund. Als Ali Barbara besucht, wird er vor
dem Bett stehend zusätzlich durch eine Tür gerahmt. Die Symmetrie in der Szene betont
Wiederholung und Doppelung und schafft so eine eigentümliche Geometrie mit der möglichen Ankündigung einer Gefahr für die Protagonisten.98 Ebenso nach dem Vorbild von Sirk
beweist er hier Taktgefühl und Sensibilität: Er verschont seine Personen in dieser Liebesszene vor Situationen der Peinlichkeit. Die Darstellung ist distanziert und unsentimental.
Gerade auch die durch die Entfernung vermittelte Verlorenheit der Personen mag den Eindruck des Unheilvollen verstärken. Das Erdrückende der Welt, in welcher Ali und Emmi
gefangen sind, wird durch die Kameraperspektive durch Fenster, Gitter und Türrahmen
immer wieder unterstrichen. Beim Hochzeitsessen der beiden in einem Restaurant nimmt
die Kamera eine distanzierte Beobachterposition aus dem Nebenraum ein, was die Feierlichkeit stumpf und träge und das Paar auf verlorenem Posten erscheinen lässt. Darüber
hinaus stehen den Glücksgefühlen beim Verlassen des Standesamtes der graue Himmel, der
Verkehrslärm und eine Baustelle gegenüber.99
Die Kameraperspektive deckt sich dabei stets mit dem Standpunkt der Protagonisten, so
dass der Zuschauer sich auf die Handlungshöhe versetzt fühlt und am Schicksal der Figuren
zu partizipieren meint. Ein Wechsel der Einstellungen verhindert wiederum eine Einengung
des Zuschauers. Mit der Fixierung des Blickes auf den Bildvordergrund fühlt der Zuschauer
sich hingegen ausgegrenzt: Als Emmi und Ali nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht das
Haus verlassen und sich verabschieden, erfasst die Kamera sie frontal von der gegenüberliegenden Straßenseite aus. Ein Schwenk der Kamera nach oben demonstriert dann die weitere
stille Beobachterin der Szene, eine Nachbarin schaut den beiden zu.
Kennzeichnend für die Gestaltung ist jedoch nicht nur diese voyeuristische Perspektive, sondern auch das Austauschen von Blicken unter den Figuren, welche die emotionale
Aufladung des Bildes beträchtlich erhöhen. Zwischenmenschliche Beziehungen, angefangen
beim Kommunizieren über den Körperkontakt bis zu den sozialen Hierarchien, werden
über das Sehen und Gesehenwerden transportiert. Dabei herrscht kein Gleichgewicht zwischen diesen: Während eine Macht des Blickes im Film vorwiegend männlichen Figuren
zuteilwird, blickt demgegenüber in Angst essen Seele auf Emmi auf einen Mann wie Ali auch
als Sexualobjekt. Visuelle Verbindungen substituieren auch körperliche Berührungen, einschließlich Gewalt. Der Augenkontakt vermittelt Aggression ebenso wie Zärtlichkeit, wie
Elsaesser konstatiert.100
Vgl. Rauscher 2003, S. 421.
Vgl. Klinger 1994, S. 90.
98
Vgl. Elsaesser 2001, S. 90f.
99
Vgl. Rauscher 2003, S. 422.
100
Vgl. Elsaesser 2001, S. 92f.
96
97
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Interessant ist die Rolle des Blickes auch im Zusammenhang mit der Beziehungskrise.
An dieser Stelle sei die bereits umrissene Begründung ihrer Entstehung zu vertiefen: Der
Konformismus darf nicht nur als der belastende Druck verstanden werden, dem das Paar
ausgesetzt ist, sondern muss auch im Sinne eines Wunsches nach Zugehörigkeit und akzeptierten Gesehenwerden begriffen werden. Beide Figuren leiden zwar unter der Diffamierung
durch die Mitmenschen, mit Abebben dieser Missbilligung entstehen jedoch interne Konflikte.
Der Grund ist der, dass sie diese fremden Blicke brauchen, um ihre gegenseitige Solidarität
aufrechtzuerhalten. Wenn sie in Harmonie alleine sind, vermögen die wechselseitigen Blicke
keine gemeinsame Identität für das Paar zu stiften. Die Beobachtung durch Fremde jedoch
bereitet ein (hier masochistisches) Gefallen. Mit Verlust des Konformitätsdrucks entfällt auch
ein Unkonformitätsglück, wenn man so möchte. Somit scheitert das Paar an der fehlenden
Balance von sozialer Billigung und Missbilligung. In der Schlussszene hingegen scheint diese
wiederhergestellt – das Paradox sogar aufgehoben: Hier beobachtet der gütige Arzt das frisch
vereinte Paar. Ausschließlich der Zuschauer sieht diesen Blick im Spiegel. Er wird hier zum
gesellschaftlichen Heilmittel: Während zwischen Emmi und Ali eine Mutter-Kind-Beziehung
aufgebaut wird, fungiert der beobachtende Arzt als väterlicher Geist.101
Von entscheidender Bedeutung sind die Blicke auch in All That Heaven Allows. Sie geben
genauso Aufschluss über Emotionen und Intentionen der Figuren. Die Blicke zwischen
Cary und Ron zeigen ihr, noch nicht erloschenes, sexuelles Begehren.102 Der begehrende
Blick gegenüber Ron unterscheidet sich auch vom Blick zu Sara, der von Interesse, Enttäuschung bis hin zu Akzeptanz changiert. Mit seiner somit differenzierten Färbung vermag der
Blick auch hier den Dialog ersetzen.103
Ausblick
Der Bogen zur Veranschaulichung der Repression emotionaler Regungen durch gesellschaftliche Zwänge ließe sich noch weiter spannen bis in die gegenwärtige Filmproduktion.
So wurde das dargestellte Sujet auch in Todd Haynes Far From Heaven (2002) aufgegriffen. Auffällig ist hierbei auch in ästhetischer Hinsicht die Ähnlichkeit des Farbeinsatzes
zu All That Heaven Allows. Haynes hat einen Film geschaffen, der nicht nur den Schauplatz, sondern auch die Technik der 1950er Jahre wiedergibt und sich einer retrospektiven
Affektpoesie bedient. Im Unterschied zu dem Werk von Sirk erzählt er jedoch nicht von
einer Witwe, sondern einer verheirateten Frau die nach ihrer Einsicht in die homosexuellen
Neigungen ihres Mannes ein neues Glück mit ihrem (afroamerikanischen) Gärtner sucht.
MitFassbinders Erzählung hat Far from Heaven die Verhandlung des Rassismus gemein. Der
gesellschaftliche Druck lastet hier auch auf beiden Partnern: Die weibliche Protagonistin
wird wegen ihres Kontaktes zu einem Farbigen diffamiert. Er muss deshalb fürchten, an den
Rand gedrängt zu werden aufgrund seiner doppelten Außenseiterrolle. Ein Happy End gibt
es ganz klar nicht, auch nicht in eingeschränkter Form oder unter Vorbehalt.
Noch zahlreiche thematisch mehr oder weniger abweichende Beispiele könnten angeführt werden, um die Kompetenz des Melodrams für die Erzeugung von Affektbildern zu
Vgl. Ebd., S. 101f.
Vgl. Byars 1991, S. 202.
103
Vgl. Ebd., S. 207.
101
102
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belegen. Die hier getroffene Auswahl ist symptomatisch für ein in sämtlichen Exempeln zu
beobachtendes Grundmerkmal, das hier, dank der ästhetischen Reize sowie der in der äußerlichen Gestaltung entsprechend umgesetzten Aussagekraft und Sinndimension, besonders
eindrücklich zu Geltung kommen konnte.
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Please cite this article as: Nastasja S. Dresler (2014): „Wahre Liebe“ im Konflikt mit sozialen
Normen. In: Helikon. A Multidisciplinary Online Journal, 3. S. 152–172.