Liebe Predigthörerinnen, liebe Predigthörer
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Liebe Predigthörerinnen, liebe Predigthörer
Johannes 15, 25-16, 4 Exaudi, 24. Mai 2009 KAUFMANNSKIRCHE AM ANGER Liebe Predigthörerinnen, liebe Predigthörer. Menschen kommen. Sind angekommen. In ihrer Konfirmationskirche. In der Kaufmannskirche am Anger. Damals waren sie 14. Damals, das ist das Jahr 1959. das Jahr 1949. Das Jahr 1944. Und wie sie hier Konfirmationsgottesdienst gefeiert haben, so feiern wir heute Konfirmationsjubiläum. Gold. Diamanten. Eisern. Wir fragen erwartend: Wer kommt? Wen werden wir wiedererkennen? Was ist aus uns geworden. Wer kommt nicht mehr? Wer kann nicht mehr kommen? Und dass wir uns wiedersehen. Wer hätte gedacht, dass wir uns wiedersehen, um uns an unsere Konfirmation zu erinnern? Einst blickten wir voraus auf das Leben. Heute blicken wir zurück auf unser Leben. Einst sollte es steil, bunt und turbulent sein. Heute erinnern wir den Schleudergang des Lebens. Gute Tage. Böse Tage. Fließt das Erinnern in Lyrik: „Alles, was wahr ist, kann leise sein. Leise reifen die Früchte. Blätter fallen still. Sacht friert der See ein – Tod kommt wie Schlaf. Zeugung ist schweigend. Sonnenlicht schreit nicht. Niemand hört es, wenn der Schnee vergeht. Alle Gräser kommen aus der Erde – stumm. Wenn sich Blüten öffnen, dröhnt es nicht. Alles, was wahr ist, kann leise sein.“1 Bestätigen was der Lyriker Heinz Kahlau formt: „Alles, was wahr ist, kann leise sein.“ Ist es ruhiger um uns geworden. Einsamer auch. Die Eltern brauchen uns nicht mehr. Die Kinder sind aus dem Haus. Wenn da die Enkel nicht wären. Aber alles ist anders. Der Abstand ist größer. Die Pause wird notwendig. Das große Ausatmen. Mehr und mehr Selbstverständliches versteht sich nicht mehr von selbst. Die große Ruhe am Ende der Zeit. Die Pause ist das Thema. „Einmal ausruhen, nichts aufnehmen, nichts annehmen, nichts gutheißen, schlechtheißen, in Zusammenhang bringen. Vielmehr nur da sein, wie am lateinischen Ufer, wenn auch ohne Sand zwischen den Fingern, ohne Wellen im Blick. Oder doch Wellen, die alten Gezeiten, das immer Gleiche, nicht gerade heutige, die schöne lange Weile, sie misslingt und misslingt und misslingt. Komm Trost der Nacht, aber gerade in der Nacht stehen sie da, reißen dir die Lider auf, verlangen die Zeugenaussage, von dir, ja gerade von dir.“2 „Pause“ überschreibt Marie Luise Kaschnitz das Epigramm. Der Abbruch jäh. „Die schöne lange Weile, sie misslingt“. Das Fragment bleibt. Luther benennt diese Lebenswahrheit trefflich in der Hauspostille 1544, da ist er 61 alt, seit 23 Jahren in der Reichsacht, also öffentlich entwürdigt, das heißt schutzlos und rechtlos. Er schreibt: „... wenn ihr erschrocken, blöd, ellend und armselig seyd, bedes, für den leuten und in ewrem hertzen für euch selb“3. Lebensmomente in denen die Wahrheit über uns uns selbst bewusst wird. Schemenhaft. Das Scheitern. Die Würdelosigkeit. Erschrecken, ohne dass wir darüber reden. Zu wem auch. Eilen zurück zu dem Leben, das alle leben. Denn wir wollen leben, wo alle leben. Wie die Kinder sich wohlfühlen, wenn sie den Weg gehen, den alle Kinder gehen. Und es schmerzt „zurückgelassen zu werden“. Der Theologe Ernst Käsemann schreibt: „Die Situation des Glaubens ist die Anfechtung, zurückgelassen zu werden ...“4 Also nicht mehrheitsfähig. Der Weg nicht dort, wo alle gehen. Und das unterscheidet die 1959 konfirmierten von den 1949 konfirmierten. Hier war in der Lebenswelt des Jahres 1959 erscheinen der entwürdigende ideologische Erziehungs- und Bildungsweg der totalitären Diktatur des Proletariats. Chri-stinnen und Christen, die „die Anfechtung, zurückgelassen zu werden ...“ nicht ertrugen, verließen das Land, verließen die Kirche. Christinnen und Christen, die im totalitären Staat eingemauert wurden, haben in dem Satz des Neutestamentlers Ernst Käsemann – „Die Situation des Glaubens ist die Anfechtung, zurückgelassen zu werden ...“ – ein Selbstverständnis ihres Lebenswegs entdeckt. Und Christinnen und Christen die alt werden, werden in der „Anfechtung, 1 2 3 4 H. Kahlau, Bögen. Ausgewählte Gedichte 1950–1980, 1981., S. 71 Marie Luise Kaschnitz, Steht noch dahin. Neue Prosa, 1970., S. 35 Martin Luther, Am Sonntag Exaudi, Hauspostille 1544, WA 52, S. 313 Ernst Käsemann, Art. Geist und Geistesgaben im NT, RGG3 II 1958, Sp. 1278 2 zurückgelassen zu werden ...“ Wahrheit über das Alter wahrnehmen. Wer geht mit mir den Weg der Eisernen Konfirmation? Das 4. Evangelium erzählt vom Weg Jesu zu den Menschen und von dem Abschied Jesu von dem Weg, den Jesus mit seinen Jüngern gegangen ist. Der Weg Jesu ist aber zugleich ein Abschiedsweg vom Vater und ein Heimweg zum Vater. Da ist aber auch der Abschied der Menschen von den zurückgelassenen Menschen. Die drei Wege sind gezeichnet durch die schmerzende Spur. Gekennzeichnet durch das Zurückgelassenwerden. Aber die zurückgelassen werden sind jeweils die Geliebten. Wo die Zurückgelassenen gefangen sind in den schmerzenden Brüche allen sichtbaren Glücks, da werden sie nicht wahrnehmen, dass sie Geliebte sind. Denn Glauben heißt für den 4. Evangelisten die tröstende Spur des unsichtbaren Glücks zu erkennen. Das generationsübergreifende Prinzip des Beistands, der Fürsprache und des Trostes wird in der Abschiedsrede als der „Geist der Wahrheit“ benannt, der den Zurückgelassenen Heimat als unsichtbares Glück öffnet. „Wenn aber der Tröster kommen wird, den ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, der wird Zeugnis geben von mir. Und auch ihr seid meine Zeugen, denn ihr seid von Anfang an bei mir gewesen. Das habe ich zu euch geredet, damit ihr nicht abfallt. Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen. Es kommt aber die Zeit, dass, wer euch tötet, meinen wird, er tue Gott einen Dienst damit. Und das werden sie darum tun, weil sie weder meinen Vater noch mich erkennen. Aber dies habe ich zu euch geredet, damit, wenn ihre Stunde kommen wird, ihr daran denkt, dass ich's euch gesagt habe. Zu Anfang aber habe ich es euch nicht gesagt, denn ich war bei euch.“5 Dietrich Bonhoeffer schreibt in der unentrinnbaren Schmerzspur seiner Gefängnisgedichte von dem universalen Stoff aus dem der Geist des Vaters gewebt ist. Der Stoff der „Christen und Heiden“ unentrinnbar nahe kommen soll. Mit „Juli 1944“ datiert stehen da zwei Sätze Bonhoeffers auf einem Zettel: „Menschen gehen zu Gott in ihrer Not. Menschen gehen zu Gott in seiner Not.“6 Hier ist es wieder nach einer langen Pause als hörte ich wieder das Echo von dem, was ich gelesen – „Komm Trost der Nacht“ – „Wenn aber der Tröster kommen wird, den ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, der wird Zeugnis geben von mir.“ Und es war mir wieder als wäre ich nach Hause gekommen „getröstet wunderbar“. Frei und gewürdigt als Mensch. Ja, alles ist wahr. Der Friede Gottes bewahre unsere Herzen und Sinne und die Herzen und Sinne der Völker in Christus Jesus unserem Herrn. Amen. © Thomas M. Austel 2009 5 6 <thomas.austel@ekmd.de> Jo 15, 26 – 16, 4 Jürgen Henkys, Dietrich Bonhoeffers Gefängnisgedichte, Berlin 1986, S. 58