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Jugend und Europäische Bürgerschaft: Acht Überlegungen zum
Aufbau einer europäischen Identität ¹
José Maria Pérez-Agote
Außerordentlicher Professor
Staatliche Universität Navarra
Navarra, Spanien
jose.perez.agote@unavarra.es
Einleitende Erklärung
Eines der Hauptziele der Jugend- und Bildungsprogramme der Europäischen Union auf
allen Verwaltungsebenen ist die Bildung junger Menschen in europäischer
Bürgerschaft. Die EU will damit eine gemeinsame Identität fördern, die das eigene
Einigungsprojekt legitimiert. Trotzdem kann dieses Ziel aufgrund einiger
Schwierigkeiten schwer zu erreichen sein:


Defizite im Durchführungskonzept einer europäischen postnationalen Identität;
Unwirksamkeit der Sozialisationsprozesse der Jugend in der Krise der Moderne.
Einerseits verlieren Familie und Schule zunehmend ihre Kontrolle über
Sozialisationsprozesse, und andererseits machen diese Modelle der zunehmend im Fluss
befindlichen Identität und Bürgerschaft diese Übertragung schwieriger.
Das Ziel des Artikels besteht darin, das mögliche Versagen dieser staatlichen Politik zur
Legitimierung der EU als postnationale Demokratie herauszustellen, falls diese
Politiken dieser Realität nicht Rechnung tragen.

Die Notwendigkeit eines neuen Identitätsmodells in der Europäischen
Union.
Die wachsende Entwicklung der Europäischen Union ist ein Phänomen, dessen Wesen
über solch quantitative Aspekte wie den allmählichen Anstieg der Zahl der
Mitgliedstaaten und die sich daraus ergebenden Millionen neuer Bürger hinausgeht. Die
Erweiterung ihrer institutionellen Struktur in den Bereichen Politik, Wirtschaft und
Kultur scheint einer Dynamik der qualitativen Einigung zu folgen, deren unbegrenzter
Erwartungshorizont einen intensiven Prozess zur Legitimierung des Europa-Projekts
erfordert. Aber die Fortschritte dieses Prozesses werden von den zentrifugalen Kräften
aufgehalten, die durch die Zugkraft der wirtschaftlichen und politischen Interessen der
Mitgliedstaaten erzeugt werden. Die Überwindung von Schwierigkeiten dieser Art
erfordert die Entwicklung eines neuen Zugehörigkeitsgefühls, das über die alten
Identitätsmodelle hinausgehen sollte und dessen Bezugsrahmen die Vorstellung einer
kosmopolitischen Demokratie ist, die die liberalen und „kommunitaristischen“
Definitionen seines kulturellen und moralischen Substrats miteinander versöhnen will.
Es ist offensichtlich unmöglich, ein allumfassendes Modell der europäischen Identität
auf der Grundlage der alten romantischen Vorstellungen von Volk und Nation zu
entwickeln. Es ist nicht mehr möglich, wie die ersten modernen Gesellschaften
vorzugehen, die den Staat konsolidieren wollten, indem sie dessen Grenzen mit den
Grenzen der Nation in Einklang brachten. Mit anderen Worten: traditionelle
Nationalstaaten können nicht durch einen neuen europäischen Staat ersetzt werden, der
in der Lage wäre, seine eigene nationale Identität wie die Staaten des 19. Jahrhunderts
umzusetzen. Daher verstärkt sich die Vorstellung von einer postnationalen europäischen
Identität, die alle Europäer als eigene Identität anerkennen und damit ein Gefühl der
gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Europa entwickeln, das auf institutioneller Ebene
nach dem Prinzip der Multilevel-Governance organisiert ist.

Das Bürgerschaftsprinzip ist das Herzstück des Modells der europäischen
Identität.
Aus der Perspektive der Politiktheorie liegt das Problem der Legitimierung eines
postnationalen Europas in der Bildung eines „demos“, das das Gewicht einer
kosmopolitischen Demokratie zu tragen in der Lage ist. Mit anderen Worten: eine
erfolgreich verwirklichte Legitimität erfordert die Erfüllung der Forderung, eine
Gemeinschaft von Bürgern zu schaffen, die in den sich aus diesem Aufklärungsprojekt
ergebenden Prinzipien verwurzelt sind. Solche Prinzipien müssen jedoch in
Abhängigkeit vom in jeder Hinsicht erreichten Entwicklungsgrad umformuliert werden,
der von diesen Gesellschaften in einer Position der reflexiven Moderne oder - wie sie
ebenfalls bezeichnet wurde - zweiten Aufklärung erreicht wurde.
In der Praxis werden diese Prinzipien zu einem einzigen zusammengefasst: dem Prinzip
der Bürgerschaft. Die klassische Ausformung von Bürgerschaft hat zwei grundlegende
Bedeutungen, die das Individuum als Mitglied der Gesellschaft definieren. Im
legalen/formalen Sinn bezieht sie sich auf die Beziehung zwischen dem Individuum und
dem Staat in einem Katalog von Rechten und Pflichten, die im allgemeinen mit der
Staatsbürgerschaft gleichgesetzt werden, während sie sich im substantiellen Sinne auf
den Katalog der politischen, zivilen und sozialen Rechte bezieht, die von der
Gesellschaft anerkannt und für alle Mitglieder aufrechterhalten werden.
Die von der EU seit den 1990ern geförderte Politik zur europäischen Bürgerschaft
basiert auf dieser Interpretation, wobei das prioritäre Ziel die Weiterentwicklung des
sozialen Zusammenhalts und das aktive Engagement der Bürger ist, wie sie in der
Erklärung von Bologna (1999) und der Strategie von Lissabon (2000/2005) ausgeführt
sind. Die unterschiedlichen Programme, Projekte, Weißbücher und Berichte, in denen
diese Leitlinien angewendet werden, fanden ihren Höhepunkt im Programm „Europa für
Bürgerinnen und Bürger“ (2007/2013), mit dem die aktive europäische Bürgerschaft
gefördert werden sollte. Diese Vorstellung ist der Ausdruck der institutionellen
Reaktion der EU auf die Notwendigkeit, ihre Legitimierung durch Entwicklung eines
„demos“ zu starken, wie dies in der Einführung zum Programm in zwei der vier
allgemeinen Ziele klar eingeräumt wird.
Darin heißt es:

„ein Verständnis für eine europäische Identität entwickeln, die auf gemeinsamen
Werten, gemeinsamer Geschichte und gemeinsamer Kultur aufbaut“

„bei den Bürger/innen ein Verständnis für die gemeinsame Verantwortung für
die Europäische Union fördern“.

Die Entwicklung des neuen Identitätsmodells hängt von einem
entsprechenden Konzept ab, das in den Sozialisationsprozessen den neuen
Generationen von Europäern erfolgreich vermittelt werden kann.
Das Prinzip der aktiven europäischen Bürgerschaft enthält einen Katalog von zentralen
Konzepten, die wir mit Durkheims Worten als moralische Sozialisationsprozesse
betrachten könnten, die in die Hände der europäischen Jugend- und Bildungspolitik
gelegt wurde. Die vom Prinzip der aktiven Bürgerschaft bestimmte politische und
moralische Sozialisation will die geeigneten Kompetenzen und Kenntnisse vermitteln,
damit junge Menschen zu engagierten und mündigen Bürgern werden, die sich
demokratischen Werten entsprechend verhalten. Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit,
Toleranz, Solidarität, Verantwortung, Teilhabe und Kooperation sind die am höchsten
geschätzten Werte aus diesem Katalog, der die Bürgerschaft ausmacht und der
europäischen Identität Bedeutung verleiht.
Das neue Modell der postnationalen Identität muss parallel zu den alten zugegebenermaßen sehr widerstandsfähigen - Modellen der nationalen Identität
wachsen und sich ihnen aufzwingen. Daher sollte sein Konzept sich nachdrücklich mit
einem Aspekt befassen, der bisher kaum beachtet wurde und dessen Einbeziehung von
entscheidender Bedeutung ist. Es ist das Zugehörigkeitsgefühl, das die Bindung in jeder
nationalen oder kollektiven Identität herstellt. Seine Entwicklung konfrontiert uns mit
zwei Schwierigkeiten: der Umsetzung auf der postnationalen Ebene und den ihm
innewohnenden irrationalen Aspekten.
Zum postnationalen Zugehörigkeitsgefühl gibt es bekannte Vorschläge für dessen
Ausprägung wie beispielsweise die Loslösung der Zugehörigkeit von einem Territorium
- die sich derzeit aus den individuellen Rechten ergibt und von der nationalen
territorialem Bürgerschaft abgekoppelt wird (Soysal, 1994) oder die transnationale
Zugehörigkeit, die im Bereich der internationalen Migration verwendet wird (Bauböck,
1994; Zanfrini, 2007). Wie das Prinzip der engagierten und mündigen Bürgerschaft
bewegen sie sich jedoch alle auf der gleichen Niveau der Rationalität - verweisen im
Grunde auf Rechte und Pflichten - und des Kognitivismus - sie betrachten also die
Ausübung solcher Rechte und Pflichten auf der Grundlage der rationalen Kenntnis.
Alle diese Fälle vernachlässigen die irrationalen und affektiven Aspekte, welche die
kollektive Identität zusammenhalten und ohne die es keine nachhaltigen verpflichtenden
Bindungen gibt. Kurz gesagt: die manchmal unbekannte Herausforderung im Projekt für
eine postnationale europäische Identität bedeutet, dass man diese Last der irrationalen
Gefühle und Emotionen mit anspricht, die zusammen mit ihren symbolischen
Ausprägungen Identitätsbindungen herstellen. Ebenso wie die korrekte Wahrnehmung
des Prozesses der primären Sozialisation, bei dem das Individuum die grundlegenden
Elemente seiner Persönlichkeit und Kultur erwirbt, ein familiären Beziehungen
innewohnendes affektives Klima erfordert, sollten die im Grundsatz rationalen
Prinzipien, auf denen die postnationale europäische Identität aufgebaut werden soll,
auch tief verwurzelte Gefühle der Verantwortung auslösen. Das erfordert die
Entwicklung von neuen Sozialisationsstrategien, die ein neues kollektives Gedächtnis
verbreiten, mit dem ein aktualisiertes Bündel der mythischen, rituellen und
symbolischen Elemente weitergegeben wird, die eine Reproduktion von kulturellen
Identitäten erleichtern.

Die spezifischen Szenarien, die für die Sozialisation junger Menschen in der
postnationalen
europäischen
Identität
über
Schüler/Studentenaustauschprogramme der EU erzeugt werden, beleuchten die
praktischen Grenzen dieses Identitätsmodells.
Mobilitätsprogramme schaffen eine paradoxe Sozialisationssphäre, welche die Relevanz
von emotionalen Bindungen in der kulturellen Zugehörigkeit aufzeigen. Einerseits
werden die Prozesse des Ansprechens und der Anerkennung des ANDEREN insoweit
angeregt, wie zu direkten Kontakte zwischen Studenten mit unterschiedlichen
nationalen Identitäten ermutigt wird. Andererseits ist die Tendenz, eine Barriere
zwischen der Aufnahmegemeinschaft und ausländischen Studentengruppen
aufrechtzuerhalten, ausgesprochen bedeutsam. Zahlreiche Berichte beschreiben die
Schwierigkeiten, mit denen Studenten im Programm bei ihrer Interaktion mit der
lokalen Bevölkerung und bei der Bildung von Gruppen mit transnationalen Charakter,
mit ihrer Beteiligung konfrontiert sind.
Generell teilen alle beteiligten jungen Menschen die rationalen Überzeugungen und
Werte, die im Prinzip des engagierten und mündigen Bürgers enthalten sind. Trotzdem
ist diese Gemeinsamkeit nicht ausreichend, um die jungen Menschen, die miteinander
den Raum auf einem Universitätscampus teilen, auch dazu zu befähigen, gemeinsame
soziale symbolische Bereiche zu bilden. Die relative Isolierung, in der das Leben
ausländischer Studenten stattfindet, macht es ihnen jedoch leichter, einen eigenen Raum
zu schaffen und damit die zwischen ihnen bestehenden kulturellen Schranken zu
überwinden und die eigenen expressiven und affektiven Bedürfnisse zu erfüllen.
Deshalb sollten Mobilitätsprogramme von ergänzenden Maßnahmen begleitet werden,
die junge Menschen dazu ermutigen, die sie trennenden Schranken zu überwinden und
damit die Entwicklung einer europäischen Identität voranzutreiben.

Das Modell der auf dem Prinzip der Bürgerschaft beruhenden
postnationalen
europäischen
Identität
beinhaltet
zwei
grundlegende
Voraussetzungen, die jeweils ihre eigenen inneren Widersprüche enthalten.

Die Vorstellung einer postnationalen Demokratie als politische Einheit, die
durch das Prinzip der Multilevel-Governance strukturiert ist.
Diese Voraussetzung enthält einen Widerspruch hinsichtlich der politischen Ziele des
Europa-Projekts. Die Vorstellung von Europa als postnationaler Demokratie wird in
erster Linie von den Verfechtern des kosmopolitischen Projekts der zweiten Moderne
vertreten. Obwohl der dem Aufklärungsprojekt und dessen Verteidigung der
Rationalität innewohnende Universalismus seit seiner ersten Formulierung durch den
Zweig der Aufklärung, der Kants kosmopolitische Metaphysik ablehnte, immer wieder
infrage gestellt wurde, versuchen die heutigen Erben des Moderne-Projekts eine Formel
zu liefern, die sowohl Universalismus als auch Partikularismus in sich vereint.
Die Theoretiker der zweiten Moderne versuchen damit, die Gültigkeit der universalen
demokratischen Werte, die der Theorie der Bürgerschaft zugrundeliegen, mit der
Achtung der Kultur- und Identitätsrechte jeder Gemeinschaft zu verbinden, deren
Eigenarten nach den Vorstellungen eines multikulturellen Ansatzes nicht einer wie auch
immer gearteten Forderung nach universeller Gültigkeit untergeordnet werden kann.
Trotz der Betonung von Toleranz und Anerkennung des Anderen in der heutigen
Formulierung des kosmopolitischen Projekts wird es von einer Vielzahl von Haltungen
des Multikulturalismus, der Postmoderne und der unterschiedlichen Politiken des
Andersseins weiterhin angegriffen. Daher lehnen die politischen Optionen, die diese
politische und moralische Philosophie gemeinsam haben, die kosmopolitische
Definition der Ziele des Europa-Projekts als postnationale Demokratie ab, weil sie der
Auffassung sind, dass sie durch ihren ethnozentrischen Universalismus kompromittiert
ist.

Die EU-Institutionen und die Nationalstaaten vertrauen auf die Fähigkeit der
Sozialisationsvermittler, dass sie junge Menschen dazu ermutigen, das Identitätsmodell
anzunehmen. Das Bildungssystem, das die meisten EU-Programme für Jugend und
Bildung umsetzt, ist der Haupttreuhänder dieses Vertrauens.
Der pädagogische Optimismus der Moderne zeichnet sich durch sein unbegrenztes
Vertrauen in die Transformationskraft der Bildung aus. Bildungssysteme stellen diese
Kraft in den Dienst des Staates, der neben anderen Verwendungen diese Kraft auch als
Gelegenheit betrachtet, das Bewusstsein seiner Bürger zu formen. Daher diente von
Anfang an das aufgeklärte Bildungssystem dazu, eine Gesamtheit von Bürgern zu
formen, die mit dem Nationalstaat durch patriotische Bindungen verknüpft waren, die
diesem Legitimität verliehen. Die EU teilt dieses Vertrauen in die Bildung als
Instrument, um dieses neue Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln, durch das die
kosmopolitische politische Gemeinschaft zusammengehalten wird. Damit hofft sie, den
Mangel an Legitimität zu überwinden, den sie bei den Bürgern Europas und
insbesondere unter jungen Menschen feststellt, die in Umfragen sich selbst rational mit
den demokratischen Werten der europäischen Bürgerschaft identifizieren, EUInstitutionen und Politiker jedoch als eine Realität betrachten, die mit ihrem eigenen
Leben wenig zu tun hat. Das ist auch der Grund, weshalb die EU darauf besteht, über
Bildungsprogramme auf die Prozesse zur Sozialisation der Jugend Europas
einzuwirken. Aber das Bildungssystem, das es eigentlich nie verstanden hat, eine
umfassende Effektivität in der Sozialisation zu erreichen, ist gegenwärtig mit einer
Krise konfrontiert, deren Schwere ein fast unüberwindliches Hindernis darstellt, wenn
die Ziele des europäischen kosmopolitischen Projekts erreicht werden sollen.

Das Auftauchen einer neuen kulturellen Lage der Jugend deutet an, dass
Sozialisationsprozesse in neuen Zusammenhängen ablaufen.
Prozesse wie Globalisierung, Migrationen, der Aufstieg der Massenmedien und
Konsumerismus gestalten die gesellschaftliche Landschaft zu einem sich im Fluss
befindlichen Medium um. Jugendkulturen durchlaufen einen Prozess der Fluidisierung
oder Post-Modernisierung, in dem Individualisierung radikalisiert wird, die
Entscheidungen für das eigene Leben diversifiziert werden, und die Strategien zur
Formulierung einer Identität sich vervielfachen. Weil die Entwicklung einer Identität
und eines Bewusstseins sich ungewissen Ereignissen öffnet, schwindet die über diese
Prozesse von traditionellen Sozialisationsinstituten ausgeübte Kontrolle.
Der Prozess der Identitätsbildung entwickelt ein zunehmend eigenständiges Wesen, das
offen ist für individuelle Wahlmöglichkeiten, die zu Instabilität und Ungewissheit
führen können. Dieses Risiko kann jedoch gelegentlich durch eine Rückkehr zu alten
Traditionen - wie religiösen Praktiken - kompensiert werden, und zwar insbesondere im
multikulturellen Kontext. Auf jeden Fall findet eine Erosion der Fähigkeiten der
Bildung statt, eine Jugend zu sozialisieren, die sich außerdem weniger von einer auf
Bürgerschaft konzentrierten Identität angezogen fühlt, die zu einer zusätzlichen Option
wird, für die man sich entscheiden kann.

Die Sozialisierungsrolle der Bildungsinstitutionen erlebt in der reflexiven
Moderne einen Niedergang.
Dieser Niedergang drückt sich in vielerlei Hinsicht aus. Gefangen in der
„Reformspirale“ wird der pädagogische Optimismus der Moderne durch
Bürokratisierung erstickt, die in der Massen-Schulbildung implizit enthalten ist, und er
leidet auch unter der Pfad-Abhängigkeit des Charismas, das den großen Projekten der
Bildungsreform zugrunde lag, die den Emanzipationsträumen und den sozialen
Veränderungen des Moderne-Projekts vorausgingen. Neue Prozesse wie die
Globalisierung und neoliberale Privatisierung der Bildung ordnen ihre Ziele der
Marktnachfrage unter. Letztendlich ersetzt die Konsumkultur die Schulkultur.
Konfrontiert mit der Massenkommunikation, die die Konsumkultur verbreitet, verlieren
Schulen ihren Einfluss über junge Menschen, die sich als Heranwachsende eher von den
Botschaften der Medien angezogen fühlen als von den Botschaften, die ihnen von ihren
Eltern und Lehrern vorgetragen werden. Die Institute der Sozialisation spalten sich auf,
wobei die Schule und die Familie in einer Situation des Kommunikationswettbewerbs
mit den Medien und der Gruppe der Gleichaltrigen stehen, was zu einer frontalen
Ablehnungshaltung der Schulbildung führen kann. Es ist ein Phänomen, das als
„Counter-learning“ bekannt ist und bei dem die Medien Botschaften vermitteln, die
kognitiv leichter zugänglich und befriedigender sind als die der abgewerteten Lehrer.
Daher besteht die Notwendigkeit, neue Sozialisationsstrategien zur Vermittlung der
Modelle von Identität und Bürgerschaft zu entwickeln, wenn dieser Niedergang sich
beschleunigt.

Kurz gesagt: die Vorschläge für die Entwicklung eines europäischen
Identitätsmodells erfordern stärkeres Nachdenken über die Bedingungen,
unter denen es definiert ist, und die Situationen, in denen es angewendet
wird.
Hinsichtlich seiner Ziele muss es über die rationalen Fundamente der demokratischen
Bürgerschaft hinausgehen und Raum finden für die affektiven und emotionalen
Elemente, über die Bindungen der kulturellen Zugehörigkeit geschmiedet werden. Das
unvorhergesehene und willkürliche Wesen beider Arten von Identitätskomponenten der rationalen und der irrationalen - bereitet den Weg für die Beteiligung von
gesellschaftlichen Partnern an den Prozessen der Entwicklung und des Wandels, die sie
wie alle menschlichen Angelegenheiten betreffen.
In Bezug auf die Mittel können Bildungsinstitutionen die Ziele der politischen und
moralischen Sozialisation nicht isoliert von allen anderen Sozialisationsinstituten
verfolgen. Aber die öffentlichen Bildungspolitiken bedenken eher selten den Bedarf,
alle möglichen Stellen auf allen Regierungsebenen einzubinden. Eine postnationale
europäische Identität hat größere Umsetzungschancen, wenn sie zusammen mit den
Bildungssystemen die Medien, gesellschaftliche Bewegungen etc. einbezieht. Die EU
könnte eine politische Gemeinschaft von Bürgern schaffen, indem sie die Verbreitung
der kognitiven und rationalen Merkmale des Prinzips der Bürgerschaft von der mikrosozialen Ebene an stimuliert, auf der junge Menschen die kulturellen Identitätselemente
aus den gesellschaftlichen Praktiken des täglichen Lebens heraus bewältigen könnten.
Auf dieser Ebene kann eine Identität beispielsweise durch die nachfolgenden
Kategorien herausgebildet werden:

ein kollektives Gedächtnis, das ein Bewusstsein für die Beziehungen zwischen
der Gegenwart und der Vergangenheit entwickelt und die politischen und symbolischen
Elemente kollektiver Bindungen übermittelt;

ein Wunsch, der Beziehungen zwischen Gegenwart und Zukunft aufbaut, in der
die Konsumkultur diese auflösen kann;

Erfahrung, die kommunikative Interaktionen zu Einstellungen umgestaltet.
In einem zunehmend im Fluss befindlichen und fragmentierten gesellschaftlichen
Umfeld, in dem Bildungsinstitutionen ihre Sozialisationswirkung verlieren und die
Gesellschaft eine Sinnkrise und eine Wertekrise feststellt, die in erster Linie junge
Menschen bedroht, kann der Vorschlag, eine neue Identität zu übernehmen, diese Krise
bekämpfen, sofern die notwendigen Maßnahmen entsprechend eingeführt werden.
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¹ Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung des Aufsatzes mit dem Titel: „Youth
Population and European Citizenship”, der auf dem 1. ISA-Forum der Soziologie zu
“Sociological Research and Public Debates” RC34 “Growing Up in a Liquid World:
Youth Questions and Public Debates” [„Soziologische Forschung und öffentliche
Debatten“, RC 34 „Heranwachsen in einer Welt im Fluss: Jugendfragen und öffentliche
Debatten“], vom 5. bis 8. September 2008 in Barcelona gehalten wurde. Der
vollständige wissenschaftliche Aufsatz ist nur in englischer Sprache beim Autor
erhältlich: jose.perez.agote@unavarra.es