Brasilien 1889-1985

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Brasilien 1889-1985
Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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Brasilien 1889-1985
Die vorliegenden Texte wurden in Zusammenhang mit einer Überblicksvorlesung zur
Geschichte Brasiliens "Brasilien 1500-2000. Eine tropische Geschichte in atlantischer
Perspektive" erstellt, die im Wintersemester 2002/03 von der Autorin zusammen mit a.o.
Univ. Prof. Thomas Fröschl am Institut für Geschichte der Universität Wien abgehalten
wurde. Die Autorin erarbeitete den Abschnitt von 1889 bis 2003.
1 Einleitung
Im Jahr 2000 beging Brasilien den fünfhundertsten Jahrestag seiner "Entdeckung" durch
Pedro Alvares Cabral am 22. April 1500. Wurden die fünf Jahrhunderte in offiziellen, hoch
subventionierten Feiern als gelungener Prozess einer ethnischen Vermischung dargestellt, der
zu einer " neuen tropischen Zivilisation" geführt habe, so organisierten marginalisierte
Gruppen wie amazonische Indiovölker, die nichts zu feiern hatten, Gegenveranstaltungen.
Zahlreiche Intellektuelle nahmen das Datum zum Anlass einer kritischen Selbstreflexion über
Modernität, Defizite, Ungerechtigkeiten, Utopien und notwendige Änderungen im
politischen, ökonomischen und soziokulturellen Kontext Brasiliens (vgl. Rampinelli 1999).
Der international bekannte Wissenschafter und zweimalige Staatspräsident Fernando
Henrique Cardoso (1995-2002) behauptete zu Recht, dass Brasilien kein unterentwickeltes,
sondern ein ungerechtes Land sei. Erste und dritte Welt der seit dem Zusammenbruch der
Sowjetunion viertgrößten Demokratie der Welt, dem größten katholischen Land und der
achtgrößten Volkswirtschaft liegen dicht nebeneinander.
Auch die Gesellschaft basiert auf einer Polarisierung zwischen Mangel und Privilegien. Die
Metropole São Paulo ist mit ihren 24 Millionen Einwohnern ein bedeutendes Zentrum der
Informationsökonomie und High-Tech-Lieferant für Lateinamerika. Im Bereich der
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Kommunikationstechnologie und -forschung, in der Auto-und Flugzeugindustrie verfügt
Brasilien über ein hohes technologisches Niveau. Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei cirka
100 Dollar monatlich, mehr als 60 % der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, 50% der
Einkommen fallen auf 10% der reichsten BrasilianerInnen. Zwischen der Möglichkeit des
sozialen Aufstiegs und der Hautfarbe besteht noch immer ein enger Konnex; gleichzeitig hält
sich der in den dreißiger Jahren mit staatlicher Unterstützung geformte Mythos der
konfliktfreien pluriethnischen Gesellschaft, die sich aus der indigenen Bevölkerung, den
Nachkommen europäischer und asiatischer Einwanderer sowie afrikanischer Sklaven
zusammensetzt, bis heute. Nahezu die Hälfte des 850 Millionen Hektar großen Staates sind
nutzbares Land, von dem wiederum nur etwas mehr als die Hälfte bewirtschaftet wird. Die für
die Schuldenrückzahlungen aufzubringenden Summen betragen zur Zeit etwa eine Milliarde
Euro wöchentlich. Nicht nur die ungerechte Landverteilung, die Konzentration von
Großgrundbesitz, der Rassismus, sondern auch die politische Kultur haben ihre Wurzeln in
kolonialen Strukturen, die mit anderen Mitteln in der modernen kapitalistischen
Weltwirtschaft weitertradiert werden. Auch nach 1889 spielen Parteien in der politischen
Landschaft des 1822 von Portugal unabhängig gewordenen Brasilien eine geringe Rolle;
parteipolitischer Regionalismus, Klientelismus, Korruption und autoritäre Strukturen
kennzeichnen die politische Kultur, der es oft an "good governance", einem Grundkonsens in
Bezug auf Werte, Normen und Spielregeln mangelt, obwohl die aktuelle Verfassung von 1988
diese festgelegt hat, und das positivistische Credo von "Ordnung und Fortschritt" bis heute
aufrechterhalten wird.
Habe nach Hartmut Sangmeister die koloniale Wirtschaftsorganisation dazu gedient,
Überschüsse für die Kapitalkonzentration in Portugal abzuschöpfen, so gehe die von
brasilianischen Eliten forcierte Einbindung Brasiliens in den Weltmarkt ab den neunziger
Jahren des 19. Jahrhunderts ebenfalls mit einem permanenten Abzug von Ressourcen einher,
die nun der heimischen Gesellschaft nicht mehr zur Verfügung stehen, obwohl Brasilien im
Laufe des 20. Jahrhunderts eine bedeutende wirtschaftliche Entwicklung realisierte. Die
wirtschaftliche und soziale Situation des Landes lässt sich nicht einfach als unausweichliches
Ergebnis der Wirkung außenbestimmter Faktoren oder als fatale Konsequenz der Einbindung
in das Weltmarktsystem interpretieren (vgl. Sangmeister 2000). Es sind - wie auch Fernando
Henrique Cardoso in seiner Rolle als Wissenschafter in seinem differenzierten grundlegenden
Beitrag zur Dependenzdebatte einbezog - die brasilianischen politischen und ökonomischen
Eliten für Ungleichheit und "Entwicklungs"-Defizite mitverantwortlich, die überwiegend
keine Wettbewerbseliten, sondern Rentier-Eliten waren, den Staat für zusätzliche Einkommen
nutzten und ihre Privilegien absicherten.
Brasilien nimmt in Lateinamerika aufgrund seiner Größe, seines Wirtschaftspotentials eine
Führungsrolle ein - so dominiert es im 1991 gegründeten Wirtschaftsbündnis Mercosul
(Mercosur). Dass es keineswegs Spielball großer Mächte wie der USA war, die es als
regionale Macht stets repektierten und Konflikte vermieden, sondern eine flexible,
pragmatische Außenpolitik - etwa in den Beziehungen zu afrikanischen Staaten - betrieb und
betreibt, lässt sich anhand der Beziehungen im 20. Jahrhundert veranschaulichen. Beim
Aufbau einer eigenen High-Tech-Industrie, oder jüngst in der, von der internationalen
Pharmaindustrie heftig bekämpften Produktion einheimischer Medikamente zur Bekämpfung
von AIDS, bewies Brasilien seine Machtposition. Mit der Wahl des aus den Unterschichten
stammenden Chefs der Arbeiterpartei und Mitorganisator von Metallarbeiterstreiks gegen die
Militärdiktatur von 1978, Luís Ignacio Lula da Silva, zum Staatspräsidenten Brasiliens (seit 1.
Jänner 2003) konzentriert sich Brasilien wieder stärker auf seine führende Position in
Lateinamerika. Lulas angestrebte Regierungspolitik, der unter anderem auch Frauen aus den
Favelas wie Marina Silva und Benedita da Silva angehören, markiert eine Wende
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brasilianischer Politik, die nun versucht, die Fronten zwischen "erster" und "dritter" Welt im
eigenen Land aufzuweichen.
2 Überblicksdarstellungen zur Geschichte Brasiliens
BETHELL, Leslie (Hg.), The Cambridge History of Latin America, Vols. I, II, III, V
Cambridge 1984-1986.
BERNECKER, Walther L. et. al. (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, 3
Bde. Stuttgart 1994-1996).
BERNECKER, Walther L. /PIETSCHMANN, Horst/ ZOLLER, Rüdiger, Eine kleine
Geschichte Brasiliens. Frankfurt a.M. 2000.
BRIESEMEISTER, Dietrich u.a. (Hg.), Brasilien. Politik, Wirtschaft, Kultur heute.
Frankfurt a.M. 1994.
CALDEIRA, Jorge et. al., Viagem pela História do Brasil. Rio de Janeiro 1999.
FAUSTO, Boris, A Concise History of Brazil. Cambridge 1999.
LEVINE, Robert M. , The History of Brazil. Westport, London 1999.
SCHELSKY, Detlev/ ZOLLER, Rüdiger (Hg.), Brasilien. Die Unordnung des
Fortschritts. Frankfurt a.M. 1994.
SEVILLA, Rafael /RIBEIRO, Darcy (Hg.), Brasilien. Land der Zukunft?. Bad Honnef
1995.
SKIDMORE, Thomas E. / SMITH, Peter H., Modern Latin America. New York, Oxford,
5. Aufl. 2001.
SKIDMORE, Thomas E., O Brasil visto de fora. São Paulo 1994.
WÖHLCKE, Manfred, 500 Jahre Brasilien. Die Entstehung einer Nation. Strasshof 2000.
Internetlinks:
http://lanic.utexas.edu
http://www.umich.edu/~port 150/
3 Das republikanische Brasilien
Am 15. November 1889 wurde in Brasilien die Republik ausgerufen. Die Diskussionen um
die Abschaffung der seit 1822 von Portugal unabhängigen brasilianischen Monarchie war eng
mit der Abschaffung der Sklaverei als der letzten der Welt auf britischen Druck im Jahr 1888
durch das "Goldene Gesetz" ("Lei Aurea") verbunden.
Der stärker werdende Einfluss der Republikanischen Partei, die Forderung nach einer
föderalistischen Verfassung für das geographisch und ökonomisch so heterogene Land und
die Überzeugung positivistischer Intellektueller, dass eine Monarchie in der westlichen
Hemisphäre nicht mehr zeitgemäß sei und der Modernisierung entgegenstehe, vergrößerten
das Widerstandspotential gegen die Krone der Braganças. Kaiser Pedro II. (seit 1831
beziehungsweise nach seiner Mündigkeit seit 1840 an der Macht), dankte am 16. November
1889 ab und ging ins französische Exil. Geistiger Vater der republikanischen Politik war
Benjamin Constant (1836-1881), Dozent an der Offiziersakademie und führender Positivist,
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der 1876 die Positivistische Vereinigung ins Leben gerufen hatte. Die Maximen des
Positivismus, die Grundlage der Menschheitsreligion sei die Ordnung und ihr Ziel der
Fortschritt, sind in der Flagge Brasiliens (mit den Farben grün und gelb) bis heute mit den
Schlagworten Ordem e Progresso (Ordnung und Fortschritt) festgeschrieben. Technischer
Fortschritt, Modernisierung, Industrialisierung, ökonomischer Interventionismus, eine starke
Exekutive sowie der Einfluss der Militärs in die politische Gestaltung des Staates waren
zentrale Elemente positivistischer Politik, die in Brasilien bis 1985 Kontinuität hatten. Im
lateinamerikanischen Kontext war Brasilien der Staat, der am stärksten das positivistische
französische Credo umzusetzen verstand.
4 Die Rolle der Militärs in der Ersten (Alten) Republik
Bereits in den ersten Jahren der Republik, unter der provisorischen Regierung von Marschall
Manoel Deodoro da Fonseca (1889 -1891), spielte das Militär als politische Macht eine
zentrale Rolle. Neben positivistisch beeinflussten Militärs gehörten noch Eliten des
kaiserlichen Heeres der Regierung an. Militärs bekleideten mehr öffentliche Ämter als zur
Kaiserzeit. Zentren ihrer Ausbildung waren die 1827 gegründeten juridischen Fakultäten in
São Paulo und Pernambuco sowie die Militärakademien, da es bis 1920 keine Universität in
Brasilien gab. Brasilianische Eliten hatten vorwiegend im portugiesischen Coimbra studiert,
die dort aufgebauten Netzwerke vermochten sie oftmals in Brasilien zu nutzen.
Das Militär gliederte sich in das Heer und die Marine. Die Marine betrieb in Rio de Janeiro
eine eigene Eliteschule, bis 1889 war sie eine Ausbildungsstätte für Führungsschichten des
Landes und wurde von Söhnen reicher, kaisertreu gewesener Pflanzereliten, frequentiert. Die
großteils monarchistisch orientierte Marine bildete eine Gruppe mit dem Selbstbewusstsein
einer Elite, während das Heer durch das Angebot kostenloser Ausbildung eine ideale
Aufstiegsmöglichkeit für städtische Mittelschichten, für niedere Beamten, aber auch für
freigelassene Sklaven bot. Nach dem gegen Paraguay gewonnenen Krieg (1864/65-1870)
erlebte das brasilianische Heer, dessen Stärke mit 20 000 Soldaten eher gering war, einen
finanziellen Aufschwung. Positivistische Ideen wurden vor allem von jüngeren Offizieren
übernommen, für die eine starke, diktatorische Regierung am ehesten eine stabile,
prosperierende Republik gewährleiste (vgl. Hentschke 1994).
Die bis zur Verfassung von 1891 agierende provisorische Regierung versuchte den neuen
Zeitgeist durchzusetzen. Kirche und Staat wurden getrennt, Religionsfreiheit und Zivilehe
eingeführt, der Adel abgeschafft, einige soziale Maßnahmen wie Höchstgrenzen für Preise
und Mieten durchgeführt. Allerdings schufen die Machthaber einen eigenen
Rechtsparagraphen zur Kontrolle der religiösen Praktiken von Ex-Sklaven, die als Formen der
"Hexerei" in den Strafkodex von 1890 aufgenommen und polizeilichen Repressionen
ausgesetzt wurden. Afrikanische Trommelformationen (batuques) wurden 1905 verboten. Die
Vernichtung eines Großteils der Dokumente über die Sklaverei sollte einen republikanischen
Neubeginn symbolisieren, stellt jedoch einen unwiederbringlichen Verlust für die historische
Forschung dar.
5 Die brasilianische Verfassung von 1891
Die Verfassung des Jahres 1891 wurde stark vom Finanzminister Rui Barbosa geprägt und
orientierte sich an der Verfassung der USA. Diese hatten die Republik 1890 anerkannt und
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1891 ein beiderseitiges Handelsabkommen mit Brasilien geschlossen, seinem wichtigsten
Kaffeelieferanten seit 1865. Großbritannien, noch immer die führende ausländische
Wirtschaftsmacht in Brasilien, entschloss sich erst im Mai 1891 zur Anerkennung der neuen
Republik. Brasilien wurde als ein föderalistischer Bundesstaat (República dos Estados Unidos
do Brasil) mit 20 Teilstaaten (die früheren Provinzen) umgestaltet.
Die Teilstaaten erhielten umfangreiche Kompetenzen, sie konnten ihre eigene Steuerpolitik
verfolgen, ein eigenes Militär aufstellen, ihre Einwanderungspolitik gestalten. Die
Gewaltenteilung wurde durch einen Obersten Gerichtshof als Judikative, ein
Abgeordnetenhaus und einen Senat als Legislative sowie dem Präsidenten als Exekutive
bestimmt. Die während der Kaiserzeit (1822-1889) durch den brasilianischen Herrscher
symbolisierte vierte, ausgleichende Gewalt (poder moderador) wurde theoretisch obsolet,
praktisch jedoch durch das Militär ausgeübt, das sich als Ordnungsmacht begriff und
regelmäßig intervenierte. Da in Brasilien bis heute Parteien regional verankert sind, da keine
Partei auf nationaler Ebene dominierte und dominiert, reklamierte das Militär am Beginn der
Republik den Anspruch, eine national integrierende und ordnende Kraft zu sein.
Der Artikel 1 der Verfassung legte das Heer als permanente nationale Institution fest, die das
Vaterland verteidigt. Der Artikel 3 definierte den Plan einer neuen, strategisch besser
gelegenen Hauptstadt im Landesinneren. Dies wurde erst 1960, mit der Anlage der Hauptstadt
Brasília, eingelöst, die Rio de Janeiro als Hauptstadt (1763-1960) ablöste. Das in der
Verfassung festgelegte Wahlrecht verdeutlicht die elitären Demokratievorstellungen: Das
Wahlrecht erhielten lediglich alle lese- und schreibkundigen Männer über 21 Jahren mit
Vermögen. Bei einer sehr hohen Analphabetenrate von 85% waren bei den
Präsidentschaftswahlen des Jahres 1891 nur 2,2% der Bevölkerung wahlberechtigt. Der
Präsident wurde für 4 Jahre gewählt (vgl. Zoller 2000, vgl. Wöhlcke 2000).
6 Der Bürgerkrieg als Beispiel politischer und geographischer
Heterogenität
Die Macht des Militärs und divergierende politische Auffassungen (Monarchisten gegen
Republikaner) kennzeichneten der Erste (Alte) Republik (1889-1930). Obwohl die Phase der
Transition unblutig verlaufen war, eskalierten rivalisierende politische Vorstellungen um die
Gestaltung der Republik. Man dachte an die Konzeption eines zentralistisch-autoritären
Staates mit stark positivistischer Prägung oder an einen föderativ, repräsentativ-demokratisch
und liberal regierten Staat, wie es die Verfassung vorgesehen hatte. Während der
Präsidentschaft des Militärs Floriano Peixoto (1891-1894) brach ein Bürgerkrieg aus (18931895). Er nahm im südbrasilianischen Staat Rio Grande do Sul durch einen Aufstand seinen
Ausgang (Revolução Federalista), den ein ehemaliger kaiserlicher Politiker vom
uruguayischen Exil aus gegen den Gouverneur des Staates anführte.
Anhand des Konfliktes wird die Heterogenität der politischen Vorstellungen und der soziogeographischen Konstellationen sehr deutlich, wobei abgesehen vom Gegensatz Republikaner
- Monarchisten drei Interessensgruppen unterschieden werden können: Die erste Gruppe
bildeten die liberalen und föderativen republikanischen Eliten: die Plantagenbesitzer des
reichen Kaffeestaates São Paulo, die positivistischen Eliten der Hauptstadt Rio de Janeiro und
des Staates Minas Gerais, des führenden Produzenten von Milchprodukten. Eine zweite
Gruppe bildeten die in zwei Lager gespaltenen politischen Eliten im Staat Rio Grande do Sul
(die gaúchos), die ihre besondere regionale Identität und ihre kulturellen wie ökonomischen
Bindungen zu Teilen Argentiniens und Uruguays hervorhoben. In Rio Grande do Sul
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dominierte die Viehzucht, dorthin richteten sich die ersten größeren Gruppen europäischer
Einwanderer, denen die Etablierung einer autonomen Bauernschaft gelang. Die Eliten Rio
Grande do Suls, in dem die republikanische Partei des Positivisten und Gouverneurs Julio de
Castilhos dominierte und sich gegen eine monarchistische Opposition durchsetzte, pochten
auf größere Autonomie. Eine dritte Gruppe bildete die monarchistische Marine. Der
Marineminister führte die Flotte in eine Revolte gegen den Staatspräsidenten Floriano Peixoto
an und blockierte von September 1893 bis März 1894 den Hafen von Rio de Janeiro. Diese
Blockade scheiterte nach einem halben Jahr durch das Eingreifen der USA, die auf dem
Prinzip der Freiheit der Schifffahrt bestanden. Floriano Peixoto ließ den Aufstand der
Opposition in Rio Grande do Sul gegen Castilhos niederschlagen und wurde zum "Retter der
Republik" stilisiert, gleichzeitig jedoch aufgrund seines autokratischen Führungsstils als
"eiserner Marschall" bezeichnet. Der Bürgerkrieg endete schließlich unter der Präsidentschaft
des Paulistas Prudente José de Morais (1894-1898) im Jahr 1895 mit der Entscheidung für die
Verfassung von 1891. Er leitete auch eine Phase ziviler Präsidenten ein, die bis 1910 dauerte
(vgl. Hentschke 1994).
7 Der Krieg von Canudos
Die Zerstörung der im Sertão im Staat Bahia gelegenen Stadt Canudos im Jahr 1897 gibt ein
Beispiel für die rivalisierenden politischen Konzepte am Beginn der brasilianischen Republik.
Das Massaker an den Bewohnern von Canudos wurde überregional durch die literarische
Verarbeitung in Euclides da Cunhas Werk "Os Sertões" (1902) (dt.: "Krieg im Sertão") sowie
in Mario Vargas Llosas Roman "El guerra al fin del mundo (1981) (dt. "Der Krieg am Ende
der Welt" 1987) bekannt.
Anfang der 1890er Jahre erlangte im Sertão der fanatische Wanderprediger Antonio
Conselheiro (=Ratgeber), mit wirklichem Namen Antonio Maciel, Popularität, weil er das
Evangelium und das nahe Ende der Welt predigte, Dorfkirchen instandsetzte und alle
offiziellen Autoritäten ablehnte. Er weigerte sich zudem, Zölle und Steuern zu zahlen. 1893
erreichte er mit seiner Gefolgschaft von Landlosen, entlaufenen Sklaven und vertriebenen
Indios nach zwanzigjähriger Wallfahrt das Dorf Canudos. Sie begannen mit dem Bau einer
Kirche und der Pflege von Friedhöfen, deren Instandhaltung seit 1889 in der
Verantwortlichkeit des Staates lag, was lokale Großgrundbesitzer sowie die katholische
Kirche gegen ihn aufbrachte. Canudos wurde Anziehungspunkt für Taglöhner, die von
Fazenden geflohen waren; 1895 war es bereits auf 25 000 Einwohner angewachsen. Am 21.
November 1896 eröffnete die brasilianische Zentralregierung den Krieg gegen Canudos mit
dem Argument, eine monarchistische Sekte beseitigen zu müssen. 12 000 Soldaten aus 18
brasilianischen Bundesstaaten wurden in vier Militärexpeditionen in Marsch gesetzt. Die
Waffen für Canudos kamen aus den deutschen Waffenwerken Krupp und vermutlich auch aus
den österreichisch-ungarischen Skoda-Werken, die in jenen Jahren ein großes Kontingent von
Waffen nach Brasilien exportierten. Nach einem fast einjährigen Widerstand fiel die Stadt am
5. Oktober 1897. Die Bewohnerschaft wurde fast zur Gänze ermordet. Nachrichten des
Massakers erreichten auch Europa: Die Berliner "Vossische Zeitung" schrieb am 8. Oktober
1897 auf der ersten Seite: "Die brasilianische Regierung läßt offiziell verkünden, ihre
Truppen hätten die Stadt Canudos im Staate Bahia genommen und den Führer der Fanatiker,
Conselheiro, gefangen. Bestätigt sich diese Nachricht - und sie tritt diesmal in sehr
bestimmter Form auf -, so kann sich die Republik zu dem Erfolge beglückwünschen, denn
noch vor wenigen Tagen waren die Regierungstruppen vor Canudos zurückgeschlagen
worden. Die sogenannte Fanatikerbande gefährdete ernstlich die Republik, sie stand mit der
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monarchistischen Partei in engen Beziehungen." (zit. nach da Cunha 2000, S. 757). Bis heute
lebt Canudos, an dessen Stelle sich heute ein Stausee befindet, im kollektiven Gedächtnis der
Region nördlich von Bahia fort und wird gelegentlich bei religiösen Messen thematisiert.
7.1 Euclides da Cunhas "Krieg im Sertão"
Das Massaker an den Bewohnern von Canudos ging rasch in die brasilianische
Historiographie durch das 1902 publizierte Buch des Militäringenieurs Euclides da Cunha
(1866-1901) "Krieg im Sertão" ein, der als Kriegsberichterstatter und Journalist die Stadt
bereiste und mit seinem Buch eine detaillierte sozio-geographische Schilderung des für ihn
völlig unbekannten, kargen und semiariden Sertão, einer lebensfeindlichen Landschaft und
seiner Bewohner bot. Euclides da Cunha klagte die Armee des vorsätzlichen Massenmordes
an, weil die junge Republik über einen rückständigeren Teil ihrer eigenen Bevölkerung mit
gnadenloser Gewalt hergefallen war.
Das von Zeitgenossen zur Bibel der Nation erkorene Buch wurde ein Bestseller aufgrund
seiner Mischung aus einfühlsamer Geschichtsschreibung und Dichtung. Es gilt bis heute als
klassisches Grundwerk brasilianischer Literatur. Zudem bündelt es Stimmungen der
Jahrhundertwende: "Os Sertões" ist eine Selbstkritik der Nation durch die Beschreibung einer
für brasilianische Intellektuelle unbekannten Region und ein wichtiges Beispiel nationaler
Selbsterkundung. Es stellt den Beginn einer brasilianischen intellektuellen Bewegung dar, die
auf die Überwindung der Europafixiertheit zielte, sich mit der eigenen Bevölkerung im
Hinterland zu befassen und sie in eine Nationalkultur einzugliedern begann. Der Sertanejo,
der Bewohner des Hinterlandes, wurde zumindest theoretisch aufgewertet. Euclides da Cunha
bewertet die Mestizen und Mulattenbevölkerung zwar als "Nachzügler", aber nicht mehr als
Makel für die Entwicklung des brasilianischen Volkes. Das Werk bot damit eine Möglichkeit
der Überwindung des Selbsthasses, des Minderwertigkeitskomplexes der BrasilianerInnen,
lediglich Kolonisierte und Imitatoren europäischer Kunst und Kultur zu sein. Euclides da
Cunha fragte zudem auch nach der Position und der Zukunft Brasiliens im internationalen
Konkurrenzkampf der europäischen Mächte und der USA (vgl. da Cunha 2000, S. 757ff.).
8 Die europäische Einwanderung als bedeutender
gesellschaftlicher Veränderung in Brasilien
Faktor
Im Jahre 1808 hatte das portugiesische Kolonialreich seine Grenzen für Einwanderer geöffnet
und diese ein Dezennium später zu fördern begonnen. Der 25. Juli 1824, der "dia de colono",
symbolisiert für die heutige deutschbrasilianische Bevölkerung den Beginn "deutscher"
Einwanderung. Die Gründung des Dorfes São Leopoldo in der südbrasilianischen Provinz später dem Staat - Rio Grande do Sul ist auf die Bestrebungen der Tochter des
habsburgischen Kaisers Franz I., Leopoldine, zurückzuführen, die in deutschen Staaten und
der Habsburgermonarchie heftig die Werbetrommel für die Einwanderung etwa von
entlassenen Soldaten und von Landwirtefamilien rührte. Die Besiedelung auf einer
stillgelegten Hanfpflanzung hatte neben ökonomischen Gründen auch politisch-militärische
Funktion der Grenzsicherung zur Provinz Cisplatina, dem heutigen Uruguay. Die 1824 und
1825 eskalierenden Grenzkonflikte zwischen Argentinien und Brasilien führten zur
Unabhängigkeit Uruguays im Jahr 1828. Im Jahr 1835 wurde auf Vorschlag des
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brasilianischen Kongresses eine Gesellschaft zur Propagierung der Einwanderer gegründet
(vgl. Prutsch 1996).
8.1 Einwanderer als Sklavensubstitut
Europäische Einwanderer dienten als Sklavensubstitut. Schon 1823 schrieb José Bonifacio,
einer der heftigen Befürworter der Abolition, dass noch vor Ende der Sklaverei die
Einwanderung weißer Europäer gefördert werden müsse, um die Produktivität der Plantagen
zu gewährleisten. Die Einwandererwerbung war an alle politischen Projekte zur Abolition
geknüpft und spiegelte die Vorstellung wider, dass "weiße Arbeitskraft" effizienter als
schwarze wäre; zudem verkörperte sie zunehmend die von sozialdarwinistischen Theorien
geprägte Fortschrittsidee. Die verstärkte Einwanderungswerbung ab 1850 beruhte auf der
vom Senator Nicolau Vergueiro realisierten Idee, ab dem Ende des transatlantischen
Sklavenhandels im Jahr 1850 europäische Migrationswillige für die expandierende
Kaffeewirtschaft Brasiliens zu gewinnen. Zwischen 1830 und 1850 waren noch über 400 000
Sklaven nach Brasilien transportiert worden. Zu den ersten größeren Einwanderergruppen
gehörten Schweizer und Deutsche, die in der Provinz São Paulo und in Küstengebieten
siedelten. Das anfängliche Projekt der Regierung, Einwanderer neben Sklaven auf den
Plantagen arbeiten zu lassen, scheiterte oftmals, weil sich die Einwanderer massiv zur Wehr
setzten (vgl. Hofbauer 2000, vgl. Maxwell 2000).
8.2 Die Rolle der Einwanderungspropaganda
Falta de braços (Mangel an Arbeitskräften) bildete ab 1850 ein Leitthema der brasilianischen
Ökonomie. Nicht nur der Kaiser, ab 1889 die Bundesregierung, sondern auch die
Staatsregierungen und private Siedlungs- und Eisenbahngesellschaften betrieben - zunächst
vor allem durch britische Kredite - Kolonisationspolitik, in dem sie vorzugsweise Arbeiter für
Fazenden sowie Landwirtefamilien mittels Netzwerken von Agenten und Subagenten in
Europa anwarben. Dort wurden meist bereits Arbeitsverträge unterzeichnet, den
Auswanderern die Passagekosten vom europäischen Ausschiffungshafen bis zu den
jeweiligen brasilianischen Häfen vorgestreckt. Pro angeworbenem Auswanderer kassierten
die Agenten Kopfgeld. Auch Schifffahrtsgesellschaften engagierten Personal, das in
Gaststätten, Reisebüros, Bahnhöfen, mittels Plakaten, Zeitungsannoncen und Werbezetteln,
die sie in Gebetbücher steckten, für die Auswanderung warb. Die Wanderungswerbung war
gerade für Schifffahrtsgesellschaften lukrativ, weil die Schiffe mit Kaffee beladen nach
Europa fuhren und auf dem Rückweg Einwanderer als Zwischendeckpassagiere mitnahmen.
Europäische Staaten mussten aufgrund der immer größeren Abwanderungszahlen
Maßnahmen gegen die Auswanderungspropaganda ergreifen. Die Agenten nützen auch
ethnische Konflikte aus, um mit ihrer Werbung Erfolg zu haben.
Die Berichte des Brasilienreisenden Thomas Davatz über die schlechten Arbeitsbedingungen
in den Fazenden und tropische Kranken bewirkten, dass von 1859 bis 1896 Preussen die
Immigration
seiner
BewohnerInnen
nach
Brasilien
verbot.
Die
Auswanderungspropagandisten agierten verstärkt in der österreichisch-ungarischen
Monarchie und der Schweiz. Um 1893 gab es im österreichischen Galizien einen Prozess
gegen Propaganda, weil Agenten behauptet hatten, Brasilien sei eine von Kronprinz Rudolf,
dem 1889 verstorbenen Sohn Kaiser Franz Josephs, beherrschte Provinz, wohin der Kaiser
selbst die Auswanderung empfehle. Ein anderer Werbetrick gab vor, dass Kaiserin
Leopoldine von Habsburg nach ihrem Tod mit Unterstützung des Papstes den polnischen
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Bauern Land vermacht habe. Es kam nicht selten vor, dass Auswanderer schließlich in
Regionen oder Staaten landeten, in die sie gar nicht zu migrieren beabsichtigten (vgl. Prutsch
2000). Ein österreichischer Auswanderer berichtete an das österreichische Wanderungsamt:
"Im Frühjahr 1925 fuhren wir 8 österreichische Familien mit dem Dampfer Flandria des
königl[ich] holl[ändischen] Lloyd von Amsterdam ab. Von den Agenten der Gesellschaft in
Wien wurden uns verschiedene Annehmlichkeiten auf der Bahnfahrt und am Schiffe
versprochen, doch war das Gegenteil der Fall.. [In Sao Paulo] kamen hernach auch zwei
angebliche ungarische Fazendenarbeiter in den Saal, welche das Leben und den Verdienst auf
den Kaffeefazendas belobten (Lockvögel). Es wurde uns nun gesagt, die österr[eichischen]
und deutschen Familien können auf eine deutsche Kolonie im Süden des Staates Sao Paulo
[...] [wir] kamen [...] auf einer Kaffeefazenda an der Grenze des Minas Saraes [sic] an. Kein
Mensch auf dieser Fazenda sprach deutsch." (vgl. Prutsch 1996).
Statistik: Ausgaben der
Einwanderungswerbung
Jahr
1884
1888
1905
Zentralregierung
Zentralregierung
977.061 Milreis
3, 853.281 Milreis
194.278 Milreis
und
des
Staates
Sao
Paulo
für
Ausgaben von Sao Paulo
374.287 Milreis
2, 893.168 Milreis
3, 172.489 Milreis
8.3 Einwanderer für die Kaffeefazenden
Als besonders effizient für die Anwerbung von europäischen Einwanderern erwies sich die
Praxis, die der Staat (vor 1889 Provinz) São Paulo von 1884 - vier Jahre vor der Abolition der
Sklaverei - bis zum Jahre 1926/27 anwandte: nämlich Landwirtefamilien mit mindestens drei
arbeitsfähigen Personen zwischen 12 und 50 Jahren die Überfahrt vorzustrecken; diese war
über einen Zeitraum von fünf bis acht Jahren abzuzahlen. Die Familien wurden als Kolonisten
oder als Plantagenarbeiter auch aufgrund der geringeren Flexibilität bevorzugt, denn sie
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hielten in Krisenzeiten länger in der Kolonie bzw. in den Plantagen durch als individuelle
Arbeiter. Die brasilianische Verfassung von 1891 regelte zudem die staatliche Eigeninitiative
der Einwanderungsförderung. Eine zweite Möglichkeit waren Rufkarten ("Cartas de
Chamada"). Der Staat gestattete Landwirten, beim Staatssekretariat für Ackerbau um solche
Karten für namentlich genannte Verwandte und Bekannte anzusuchen und sie zu bezahlen.
Das Budget São Paulos sah riesige Ausgaben für Werbung vor, da Brasilien ab den siebziger
Jahren des 19. Jahrhunderts in den USA und in Argentinien zwei starke Konkurrenten der
Einwanderungswerbung besaß und zudem mit einem schlechten Image zu kämpfen hatte:
dem des ausbeuterischen Fazendasystems, den Gelbfieberepidemien und des für Zentral- und
Nordeuropäer schwer erträglichen Klimas. Da São Paulo bis zur Jahrhundertwende konstant
in die Kaffeeproduktion und Ausweitung seiner Plantagen investierte, benötigte es eine immer
höhere Anzahl außerbrasilianischer Arbeitskräfte. 1887 waren 60 - 70 000 Einwanderer (vor
allem Italiener und Italienerinnen) in São Paulo, dagegen nur mehr 50 000 Sklaven, 1888
hatte sich ihre Zahl um 10 000 verringert. 1878 hatte São Paulo lediglich 9, 2% der
gesamtbrasilianischen Einwanderung erhalten, 1901 bereits 84 % (vgl. Prutsch 1996).
Die KaffeearbeiterInnen arbeiteten zunächst vorwiegend nach dem Parcería-System, nach
dem die Hälfte des geernteten Kaffees abgegeben werden musste, danach bis in die sechziger
Jahre des 20. Jahrhunderts nach dem sogenannten "Colonato-System"; das heißt sie betreuten
eine festgesetzte Anzahl von Kaffeebäumen nach einem bestimmten Monatslohn, durften
daneben aber einen kleinen Landstreifen zwischen den Kaffeereihen zur Subsistenz
bewirtschaften. Der Vorteil dieses Systems bestand in Zeiten der Kaffeeabsatzkrise in der
Gebundenheit an die Familie; die zusätzlich angebauten Nahrungsmittel halfen über Zeiten
mit niedrigen Preisen für die cash-crop Kaffee hinweg und ermöglichte ihnen sogar durch den
Verkauf der produzierten Nahrungsmittel, Land zu erwerben. Mit dem Zusammenbruch des
Kaffeemarktes im Jahre 1929 wurden viele "colonatos" Besitzer kleinerer Fazenden. Das
"Glück" der Kaffeearbeiterfamilie hing von deren Gesundheit, dem "Goodwill" des
Fazendeiros, den Ernten und vom Kaffeeweltmarktpreis ab. Plantagenbesitzer wandten auch
oftmals die Praxis an, den Landerwerb der Pächter durch hohe Lebensmittelpreise im
fazendaeigenen Kaufhaus (der venda) oder durch Kreditzinsen von 12% für die geleisteten
Subsidien zu verhindern. Das Verlassen der Fazenda vor Abzahlung der Schulden war bei
hoher Strafe verboten (vgl. Stolcke 1989).
8.4 Einwanderer als Landwirte
Die sich nach europäischen Modellen orientierenden politischen Eliten Brasiliens (wie auch
Argentiniens) versuchten, die oktroyierte und selbstempfundene Rückständigkeit im
Zusammenhang mit der beginnenden Nationalstaatsbildung ab dem zweiten Drittel des 19.
Jahrhunderts durch eine forcierte Immigrations- und Siedlungspolitik zu überwinden. Sie
sollten die "brachen" Gebiete des über acht Millionen Quadratmeter großen Landes besiedeln.
Gleichzeitig drängten die Einwanderer die indigene Bevölkerung in die weniger fruchtbaren
Gebiete zurück und dezimierten sie. Einwanderer sollten der Modernisierung, dem Fortschritt
und der "Rassenverbesserung" dienen. Bis zur Jahrhundertwende kam es wiederholt zu
blutigen Zusammenstössen zwischen Kolonisten und Indios (in den Quellen werden sie meist
als Botokuden bezeichnet, die als Synonym für alle "wilden Indianer" galten und denen
Kannibalismus zugeschrieben wurde). Die der Landwirtschaft zugedachten Familien sollten
die ihnen zugeteilten Lose in der Größe von 25 ha ("Kolonien") bewirtschaften, die sich um
ein Koloniezentrum gruppierten, entlang von Eisenbahnlinien lagen oder oftmals Kilometer
von einander entfernt verstreut angeordnet waren. Auf diesen Ländereien, die bis zu einer
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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bestimmten Frist abzuzahlen waren, standen im Idealfall bescheidene Kolonistenhäuschen.
Saatgut und Werkzeuge wurden ebenfalls meist kostenlos bis zur ersten Ernte vorgestreckt. In
den brasilianischen Südstaaten, wo die Kaffeeplantagenwirtschaft eine marginale Rolle
spielte, entwickelten sich durch staatliche und private Kolonisation Dörfer und Städte auf
kleinbäuerlicher Grundlage neben den Viehfazenden. Da diese weniger Arbeitskräfte als die
monokulturellen Kaffeefazenden benötigten, bedeuteten die Kolonien der deutsch-,
italienisch- und polnischsprachigen Siedler keine wirtschaftliche Konkurrenz. Diese
transferierten auch ihre Siedlungsformen nach Brasilien
8.5 Landgesetzgebung in Brasilien seit 1850
Die brasilianischen Einwanderer waren beim Erwerb von Land weit weniger bevorzugt als die
Einwanderer in den USA. Dort ermöglichte das Lincoln-Gesetz des Jahres 1862, die
Homestead-Act, jeder Familie den Besitz von 65 Hektar. Es legalisierte den Besitz der
Familien, die in den Westen (frontier) gezogen waren und schuf damit eine grosse Gruppe
freier Bauern. Diese mussten sich lediglich verpflichten, ihr Grundstück für mindestens fünf
Jahre hindurch zu bebauen. In Brasilien verhinderte die Institution der Fazenda mit ihrer
handelskapitalistischen Produktionsweise innerhalb einer sklavenhaltenden Gesellschaft die
Entwicklung eines freien Bauerntums auf breiter Basis und damit die Entstehung einer
ländlichen Mittelschicht. Da die Fazenda exportorientiert war und für internationale Märkte
produzierte, übersprang sie oftmals lokale Interessen. Am 18. September 1850 wurde das
Landgesetz (Lei de Terras) verabschiedet, das die Möglichkeit des Landerwerbs durch
Inbesitznahme beendete. Die Preise für neues Land wurden viel höher angesetzt als der Wert
es schon legalisierten Eigentums, notarielle Eintragungen waren teuer. Das Gesetz machte es
einem brasilianischen Bauern praktisch unmöglich, seinen Besitz rechtlich zu beurkunden.
Ehemalige Sklaven und Landarbeiter nahmen das Brachland einfach durch Bebauung in
Besitz, ohne Titel dafür vorweisen zu können, bis sie von den europäischen Einwanderern
oder brasilianischen Behörden vertrieben wurden. Diese Politik zeigt deutlich den Glauben
der brasilianischen Regierung an die Inferiorität der einheimischen Bevölkerung. Auch
europäischen Einwanderern wurde der Kauf freien Landes gleich nach Ankunft in Brasilien
erschwert, sie mussten oft 30 Jahre lang Raten abzahlen. Von Landspekulanten erwarben
nicht wenige Einwanderer Land, das jene nicht besaßen (vgl. Galeano 1983, vgl. Novy 2001).
8.6 Herkunft der Einwanderer
Die Einwanderer stammten zunächst vor allem aus deutschen Kleinstaaten, ab 1871 dem
Deutschen Reich, der Schweiz, der österreichisch-ungarischen Monarchie, aus Italien,
Spanien, Portugal, aus dem Libanon, Syrien und ab 1908 aufgrund von
Regierungsvereinbarungen auch zunehmend aus Japan, sodass sich heute die größte
japanische Bevölkerungsgruppe außerhalb ihres Heimatlandes in Brasilien befindet. Von den
1890er Jahren an bis 1914 nahm Österreich-Ungarn die fünfte Stelle unter den
Einwanderungsstaaten ein.
Die italienische Einwanderungsbewegung, die ab 1888 auch durch die rascheren
Transportmittel und geringeren Transportkosten massiv einsetzte und jährlich etwa 50 000
Auswanderer nach Brasilien brachte, war besonders gut organisiert. Nicht wenige pendelten
für ein halbes Jahr nach Brasilien oder Argentinien, zahlten dort ihre Ersparnisse auf eigene
Banken, die das Geld nach Italien transferierten und kehrten wieder zurück
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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(Schwalbenwanderung). Die von den Auswanderern erwirtschafteten Geldreserven
unterstützen die heimischen europäischen Volkswirtschaften. Die Rolle der italienischen und
spanischen Einwanderung, die Existenzbewältigung im Aufnahmeland und der
Sprachwechsel wurde im Jahr 2002 in einer der beliebten Fernsehserien (der Telenovelas)
unter dem Titel Esperanza (Hoffnung) thematisiert. Der italienische Einwanderer Francisco
Matarazzo gilt bis heute als Symbol gesellschaftlichen Aufstieges durch Mobilität. Nachdem
er sich zuerst in Schweineschmalzerzeugung, in Getreideproduktion und -handel, durch
Textilfabriken und in der Metallindustrie Reichtum erwirtschaftet hatte, avancierte er nicht
nur zum reichsten Brasilianer, sondern war um 1910 der größte lateinamerikanische
Industrielle seiner Zeit. Die Einwanderungspolitik wirkte sich deutlich auf das
Bevölkerungswachstum aus. 1905 hatte Brasilien 20 Millionen Einwohner, 1930 bereits 30
Millionen. Im Laufe der Alten Republik (1889-1930) waren in jeder Dekade eine halbe bis
eine Million Menschen nach Brasilien immigriert. Das Jahr 1913 bildete mit 192.683
Einwanderern den Höhepunkt der Brasilienwanderung. Zwischen 1884 und 1939 wurden
offiziell knapp über 4 Millionen Einwanderer registriert. In Rio de Janeiro und Sao Paulo
lebten um 1914 bereits jeweils eine Million Menschen. Die europäischen und asiatischen
Einwanderer spielten eine bedeutende Rolle im Kaffeeboom Sao Paulos und der Besiedlung
Südbrasiliens.Sie veränderten nicht nur das ethnische Gesellschaftsgefüge eminent, sondern
trugen auch wesentlich zur Urbanisierung, zum Aufbau einer verkehrstechnischen
Infrastruktur bei, sie transferierten Kapital, Technologie, kulturelle Codes ihrer
Gesellschaften, politische Ideologien und gesellschaftstheoretische sowie sozialrechtliche
Modelle (wie den Anarchosyndikalismus) in den größten lateinamerikanischen Staat (vgl.
Caldeira 1999, vgl. Bernecker 2000, vgl. Zoller 2000).
Transfer gesellschaftlicher Konzepte und kultureller Codes
Von den im Jahre 1900 im Staat São Paulo registrierten Arbeitern waren 92%
AusländerInnen, davon 81% ItalienerInnen. Diese dominierten auch in der Textilwirtschaft.
Viele waren ursprünglich als KaffeearbeiterInnen gekommen. 1920 waren in Brasilien 300
000 IndustriearbeiterInnen registriert. Vor allem durch die italienischen und spanischen
EinwandererInnen wurden anarcho-syndikalistische, gewerkschaftliche Ideen und Konzepte
transferiert. Aufgrund der fehlenden einheimischen Arbeiterschicht konstitutierten sich keine
radikalen Bewegungen. Streikerfolge konnten durch ethnische Konflikte gemindert werden.
Eine Ausnahme war der Streik für die Durchsetzung des 8-Stunden-Tages, den 10 000
Arbeiter unterstützten. Eine Arbeiterpartei gab es in Brasilien seit 1890 (vgl. Hall 1975).
Da die Einwanderer in den Gebieten, in denen sie siedelten, eine schwach ausgeprägte
Infrastruktur und meist keine religiösen und schulischen Einrichtungen vorfanden, brachten
sie ihre Geistlichen und Lehrer mit, beziehungsweise gründeten eigene Schulen. Neben
ethnischen Konflikten, die ins Aufnahmeland transferiert wurden, manifestierten sich auch
religiöse Konflikte - etwa zwischen Protestanten und Katholiken -, in der "Neuen Heimat".
Mit den Einwanderern aus dem Osmanischen Reich und Japan erhöhte sich der Grad der
Plurikonfessionalität. Das Fehlen brasilianischer Institutionen förderte die Bildung von
sprachlichen Enklaven, die die Bundesregierung durch pluriethnische Koloniebildungen
vermeiden wollte. Die Bildungs- und Nationalisierungspolitik der ersten Regierung von
Getúlio Vargas (1930 - 1945) legte ihr Augenmerk auf eine rasche Etablierung schulischer
Institutionen, die Nationsgefühl und Identität formen sollten (vgl. Gertz 1980).
Einwanderervereine hatten neben ihren Hauptaufgaben, Ersatzfunktion für verlorengegangene
Bindungen zu sein und Traditionen aufrechtzuerhalten, oftmals auch die Tendenz, einen
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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Wertekanon kulturellen Überlegenheitsgefühls gegenüber der einheimischen Bevölkerung zu
kultivieren, das auch zur Bewältigung der psychisch belastenden Situation diente, die Heimat
meist aus ökonomischen Gründen verlassen zu haben (vgl. Prutsch 1996).
8.7 Brasilien als Einwanderungsland für österreichische MigrantInnen
(1875-1942)
In der österreichisch-ungarischen Monarchie stellte die Auswanderung zwischen 1880 und
1918 eine wahre "Massenbewegung" dar. Um 1900 stand sie an erster Stelle aller
Auswanderungsstaaten in Europa. Im Laufe des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten
Weltkrieges wanderten über 3, 5 Millionen Menschen aus der k.u.k. Monarchie aus.
Statistiken wurden ab 1875 geführt. Schon in den europäischen Seehäfen, in denen sich die
Auswanderer einschifften (Triest, Hamburg, Bremen, Le Havre etc.), aber auch in den
brasilianischen Häfen wurden in die Statistiken oft falsche Eintragungen gemacht,
Einwanderer wurden nach ihrer Sprache kategorisiert. Sprach jemand deutsch, wurde er
oftmals unabhängig von seiner staatlichen Zugehörigkeit als "Deutscher" eingestuft. Manche
Österreicher gaben dann selbst an, Deutsche, das heißt Deutschsprachige zu sein. Das
deutsche Reichskommissariat für Auswanderungswesen kannte beispielsweise nur drei
Schemata der Zuordnung: Böhmen, Ungarn und sonstige Österreicher. Deserteure umgingen
oft die Behörden, hatten falsche Pässe bei sich.
Während die k.u.k. Armee, Industrie und Großgrundbesitzer großes Interesse an einer
möglichst effizienten Einschränkung der Auswanderung hatten, wurde sie von
Landesbehörden und den Regierungen in Wien und Budapest oftmals als eine Möglichkeit der
"Lösung" sozialer und wirtschaftlicher Probleme gewertet. Denn die Auswanderungswilligen
kamen meist aus jenen Kronländern, die gerade von den Auswirkungen der Industrialisierung
und Modernisierung betroffen waren. Wanderten in den 1870er und 1880er Jahren
Österreicher aus Böhmen, aus Mähren, aus Tirol, Oberösterreich und der Steiermark aus, so
kamen die Migranten der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg vor
allem aus Südtirol, dem Trient und den sogenannten Armenhäusern der
Habsburgermonarchie, aus Dalmatien, Galizien und der Bukowina, wo zwischen 70 und 80%
der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig waren. Aufgrund des besonderen Erbrechts in
Galizien betrug die Grundstücksgröße der Ländereien oft nur ein Hektar. Galizien und die
Bukowina wiesen zudem einen hohen Grad an Analphabeten und eine schwache Infrastruktur
auf. In diesen Gebieten fielen nun die Propagandastrategien der sogenannten
Auswanderungsagenten, das heißt von Personen, die von Schifffahrts- und
Siedlungsgesellschaften in den USA und Lateinamerika bezahlt wurden und in Europa
auswanderungswillige Personen anwarben, auf fruchtbaren Boden.
Auswanderungsinteresse hielt in der Ersten Republik Österreich (1918-1938) an. Bis 1926/27
profitierten Auswanderungswillige von den vorgestreckten Passagen des Staates São Paulo.
Waren es unmittelbar nach Kriegsende ehemalige k.u.k. Armeeangehörige, zählten abgebaute
Staatsangestellte, Beamte und Industriearbeiter zum Gros der Migranten. Sie zählten zu den in
Brasilien
nicht
bevorzugten
Berufsgruppen,
was
ihnen
die
Bezeichnung
"Zylinderhutkolonisten" einbrachte. Viele der für Kaffeeplantagen abgeworbenen
MigrantInnen scheiterten relativ rasch aufgrund der harten und ungewohnten
Arbeitsbedingungen und klimatischen Verhältnissen, sie wanderten in die urbanen Zentren ab.
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Von 1921 (ab diesem Jahr wurden Statistiken geführt) bis 1937 wanderten über 75 000
ÖsterreicherInnen nach Übersee aus, davon fast 14 000 nach Brasilien (31. 000 gingen in die
USA, 11 000 nach Argentinien). Der größte Teil der Auswandernden in der Ersten Republik
verließ das Land aus sozioökonomischen Gründen in der Annahme, dass das "geschrumpfte"
Österreich auch in weiterer Zukunft nicht die Stabilität zur Schaffung einer Existenzgrundlage
bieten könne und dass die Arbeitslosigkeit kein vorübergehendes Problem darstelle. Ein
wesentlicher Faktor waren die Aktivitäten der Agenten von Regierungen, Schifffahrts- und
Siedlungsgesellschaften, die das Auswanderungsinteresse durch falsche Informationen
erhöhten, indem sie die Erwartungshaltung von einem raschen wirtschaftlichen und sozialen
Aufstieg verstärkten. Ein Drittel der Brasilienwanderer wählte die vorteilhafte Form der
geschlossenen oder Gruppen-Wanderung. Die oft gewaltige Diskrepanz zwischen den durch
Mythen genährten Vorstellungen und der Realität konnte meist erst durch eine sehr lange
physisch und psychisch belastende Durststrecke in den Fazenden, Kolonien oder urbanen
Zentren bewältigt werden. Zu geringe Bargeldreserven für die Finanzierung der Investitionen
im Land oder für die Rückreise führten in vielen Fällen zu einer Verlängerung der
Aufenthaltsdauer, denn Auswanderung wurde auch bei einer solchen Distanz nicht durchwegs
als definitive Migration geplant. Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Anschluß
Österreichs an Deutschland im März 1938 (mit diesem Datum enden die Statistiken)
migrierten 15 513 Personen aus Österreich nach Brasilien. Der Migrationsstrom hörte
allerdings nicht auf, denn vereinzelt ab 1934, verstärkt zwischen 1938 und 1942, kamen trotz
der immer stärker antisemitisch orientierten Immigrationspolitik Brasiliens politisch verfolgte
jüdische Hitlerflüchtlinge nach Brasilien. (vgl. Prutsch 2000, vgl. Prutsch 1996).
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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8.7.1 Die "Aktion Gamillscheg"
Diese erste Auswanderungsaktion wurde unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges vom
ehemaligen k.u.k. Rittmeister Othmar Gamillscheg konzipiert, um seinen Kollegen, der von
wirtschaftlicher Not betroffenen Offizieren zu helfen. Er griff handelspolitische Motive der
deutschnational geprägten, österreichischen Kolonialgesellschaft auf. Sie war 1902 gegründet
worden und hatte versucht, Auswanderung von Deutschsprachigen aus der Monarchie mit der
Gründung von handelspolitischen, genossenschaftlich organisierten Kolonien zu verbinden
und so neue Absatzmärkte zu schaffen. Sein Enthusiasmus, einer Gruppe zum erträumten
Erfolg zu verhelfen und damit das eigene, angeschlagene Selbstwertgefühl zu heben,
entfachte ein Auswanderungsfieber, das ansteckend wirkte und irrationale Hoffnungen
erweckte. Ein Gesetz vom 6. Februar 1919, das vorläufig keine Stellungspflicht festlegte,
beendete zudem die bürgerlich-rechtliche Ausnahmestellung von Offizieren. Gamillscheg
gründete Ende 1918 sein Unternehmen "Neue Heimat" und hatte bis Mai 1919 bereits 1000
Personen (davon waren 400 ehemalige Armeeangehörige) angeworben. Da Brasilien
Landwirtefamilien den Vorzug gab, und Offiziere großteils unverheiratet waren (man
benötigte eigene Dispens, um heiraten zu können), warben Mitglieder der GamillschegAktion in Zeitungsartikeln interessierte Frauen an, die mit ihnen das Brasilien-Abenteuer
wagen würden (vgl. Prutsch 1996, vgl. Doppelbauer 1988).
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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Um seine Auswanderung zu finanzieren, wurden mit Hilfe des "Silbernen Kreuzes" (einer
Hilfsaktion für Militärpersonen) zwei Spendenaktionen in den Niederlanden, in
Großbritannien, Schweden und der Schweiz durchgeführt. Im Mai 1919 unternahm
Gamillscheg eine Studienreise nach Brasilien. Während er mit brasilianischen
Regierungsstellen und Siedlungsgesellschaften um Ländereien verhandelte, fuhren die ersten
beiden Gruppen - des Wartens müde - aus Wien bereits los, da Gamillscheg positive Berichte
über seine Verhandlungserfolge nach Wien gesandt hatte, die vage Zugeständnisse als
Beschlüsse darstellten. Nachdem der dritte Transport von 300 Personen im Oktober 1919 von
Triest abgefahren war, unterzeichnete Gamillscheg überstürzt mit einer Regierung von Sao
Paulo einen Vertrag über die Bearbeitung der Kaffeefazenda "Boa Vista" bei Corumbathay.
Nach einer sechsmonatigen Lehrzeit wurden den Kolonisten Lose in Aussicht gestellt.
Schriftlich fixierte Erinnerungen eines Mitgliedes illustrieren die Vorstellung von Brasilien
und die Reaktionen der brasilianischen Behörden: Denn bei ihrem Aufenthalt in der
Immigrationsbehörde im Paulistaner Stadtteil Braz erregten die Gagisten "in ihrer
halbmilitärischen Kleidung der schlecht umgearbeiteten Uniformen, den schweren Stiefeln,
Wickelgamaschen und feldgrauen Reithosen Aufsehen. Bei der Zollrevision nahm man ihnen
zahlreiche Militärwaffen ab. Dass in Brasilien portugiesisch gesprochen wurde, hatten viele
erst auf dem Schiff erfahren. Bereits nach den ersten Arbeitstagen der Gamillscheg-Mitglieder
auf der verwahrlosten, inmitten eines Buschwaldgebietes liegenden Fazenda Boa Vista waren
die Auswanderer an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gestoßen. Ein Teil wanderte rasch in
größere Städte ab, während bis Anfang 1920 neue Siedler - insgesamt waren es 850 - nach
Brasilien kamen. Ein Problem stellte für die Organisation der Frauenmangel dar - bei der
ersten ausgewanderten Gruppe vwaren von fast 400 Personen nur 72 Frauen und 20 Kinder.
In der Zeitung "Der Auswanderer", dem Propagandaorgan einiger österreichischer
Auswanderervereine, warb Gamillscheg per Annonce Ende 1919: "Die ersten Tage bisher in
der Kolonie verlaufen recht zufriedenstellend, die Mitglieder inclusive der Frauen sind voll
Arbeitslust, fügen sich zu 90% willig und gern meiner manchmal recht strengen Leitung,
deren Notwendigkeit im Interesse unseres Gedeihens sie einsehen (...) Frauen müssen kochen,
waschen und wenn sie dies nicht können, es noch vorher lernen (...) Sie werden in kürzester
Zeit unter uns Junggesellen einen Mann finden."
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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Die militärischen Mitglieder der Aktion Gamillscheg geben auch ein gutes Beispiel dafür,
dass Auswanderer ihre Erinnerungen als "kulturelles Gepäck" in das Aufnahmeland
mittrugen. Denn noch im Jahr 1921 begingen die Gamillscheg-Kolonisten in den
Kaffeeplantagen von São Paulo den Geburtstag von Kaiser Franz Joseph in ihren Uniformen,
die sie als Symbol ihrer Identität mitgebracht hatten. Als Migranten transferierten sie
kulturelle Codes, die an Gedächtnisinhalte gekoppelt und oft mit den Gefühlen von
"Heimweh" wie Nostalgie verbunden sind (vgl. Doppelbauer 1988, vgl. Prutsch 1996).
8.7.2 Auswanderungsinteresse in der Nachkriegszeit
Die gescheiterte Aktion Gamillscheg, das gesteigerte Auswanderungsinteresse, von dem auch
Vereine und Agenten profitierten, die uninformierte, finanzschwache Österreicher zu einer
voreiligen Migration überredeten, machten staatliche Kontrolle in Österreich notwendig.
Nicht nur die heimgekehrten Soldaten zählten zur Menge der 130 000 Arbeitslosen der frühen
Nachkriegszeit, sondern auch eingewanderte deutschsprachige Verwaltungsbeamte aus allen
Teilen der ehemaligen Habsburgermonarchie, die ins Zentrum der neugegründeten Republik
Österreich, nach Wien strömten. Da der extrem verkleinerte Staat den Verlust des alten
Wirtschaftsraumes, die Rückkehr auf Friedensproduktion, die Kriegszerstörung zu bewältigen
sowie den nach 1918 überdimensionierten Apparat von Verwaltungsbeamten, von
Angestellten bei Post, Bahn und Banken zu reduzieren hatte, vergrößerte diese Situation das
Heer der Arbeitslosen und Stellungsuchenden. Die Politik des Stellenabbaus wirkte sich auch
auf die Auswanderung aus. Die im Februar 1920 gegründete amtliche Auskunftsstelle für
Auswanderer wurde 1921 als Wanderungsamt dem Bundeskanzleramt unterstellt. Das
Wanderungsamt beriet in Auswanderungsfragen, über die notwendigen Dokumente und
Barmittel, Auswanderungsziele und Arbeitsangebote. Die Errichtung der österreichischen
Gesandtschaft in Rio de Janeiro im Jahr 1925 zeigt, dass Brasilien als Aufnahmeland für
Österreicher in der Zwischenkriegszeit Bedeutung erlangt hat. Das Jahr 1925 bildete auch den
Höhepunkt der Brasilienwanderung. 56, 5 Prozent der Überseewanderer wählten Brasilien als
neues Heimatland, das damit die USA für zwei Jahre vom ersten Platz der
Einwanderungsländer verdrängte. Dieser Höhepunkt der Brasilienwanderung hängt mit der
restriktiven Einwanderungspolitik der USA zusammen, die im Jahr 1924 die Einwanderung
drastisch limitierten.
8.7.3 Migrationspolitik und -kontrolle in der Zwischenkriegszeit
Die österreichische Wanderungspolitik der Nachkriegsjahre verfolgte im allgemeinen keine
klare Linie. Sie traf in Einzelfällen gebotene Maßnahmen, subventionierte im Regelfall
Auswanderungsprojekte nicht, um im Falle des Scheiterns keine Verantwortlichkeit
übernehmen zu müssen. Doch galt die Auswanderung bis Mitte der 1920er Jahre als ein
akzeptiertes, wenn nicht letztes Mittel zur Entlastung des Arbeitsmarktes. Um an die
begehrten Freipassagen des Staates Sao Paulo zu kommen, trugen sehr viele österreichische
Passwerber in ihre Passanträge mit Unterstützung der österreichischen Beamten den Beruf
"Landwirt" ein, ohne welche zu sein. Diese Angaben bildeten dann die Grundlage der
Statistik, die die berufliche Ausbildung der Auswanderer festhalten sollte. Allerdings
betrieben Arbeiter oftmals kleine Hausgärten oder und verfügten über landwirtschaftliche
Kenntnisse.
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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Auch nach 1920 erreichten geschlossene Auswanderungsorganisationen nach Brasilien
dasselbe Schicksal wie die Aktion "Neue Heimat" von Gamillscheg. Der
"Kolonisationsverband für Arbeiter und Angestellte", dessen Mitglieder vor allem aus den
Industrie-Krisenregionen der Steiermark kamen, warb 1926/27 für Cananea, eine der
Paulistaner Küste vorgelagerte Insel mit subtropischem Klima. Die klimatischen
Bedingungen, Malaria, mangelnde landwirtschaftliche Eignung
und die geringen
Absatzmöglichkeiten ließen die aus dem steirischen Mur- und Mürztal kommenden
Industriearbeiter scheitern. 1931 lebte noch eine Familie dort.
Vor der Auswanderung war an alle Mitglieder des Vereins in Österreich ein Rundschreiben
ergangen, dass sämtliche Papiere und Pässe der Steirer auf Landwirt oder landwirtschaftliche
Arbeiter zu lauten haben. Die Anwerbung war auf privater Initiative in Brasilien erfolgt. Denn
die Paulistaner Regierung hatte gleich nach Kolonisationsbeginn die Subventionen
zurückgenommen, da sie die ÖsterreicherInnen als sogenannte Zylinderhut-Kolonisten
einstufte und ein zweites "Gamillscheg-Desaster" verhindern wollte. Die aus den Kolonien
mit schlechten Böden und abgewirtschafteten Plantagen abgewanderten Familien zogen meist
in lokale urbane Zentren, die auch durch zunehmende innerbrasilianische Migration wuchsen
und der Baubranche zu Konjunktur verhalfen. 120 Wiener Bauarbeiter bekamen 1929 auch
Arbeitsverträge für Belo Horizonte, was die Wiener Presse mit Kritik wertete. Sie verurteilte
es, "fähige Bauarbeiter in die Gluthölle Brasiliens" zu schicken, während in Wien Häuser
verfallen". Die Temperatur in Brasilien wurde in der Presse mit 60-70 Grad Celsius
angegeben. Die Weltwirtschaftskrise, die sich 1930 auch auf Brasilien auswirkte, bewirkte
eine Einstellung vieler urbaner Bauvorhaben. Die gebotenen Unterstützungen der
brasilianischen Regierung für Kolonisten, die geschickte Propaganda, die den Glauben vom
Mythos des "Goldlandes Brasilien" verbreitete, die hohen Wachstumsraten in Brasilien und
vor allem die bis 1927 bezahlten Freipassagen des Staates São Paulo ermöglichten vielen
ÖsterreicherInnen bis Ende der zwanziger Jahre die Auswanderung nach Brasilien, die sie
sonst nicht hätten finanzieren können. Eine Schiffspassage kostete um 1928 600 bis 800
Schilling, das entsprach 2 bis 3 Monatslöhnen eines Industriearbeiters. So stellte das
Wanderungsamt für das Jahr 1923 fest, dass nur ein Drittel der fast 2000 ausgewanderten
Personen die Passagen selbst finanzierte (vgl. Prutsch 1996).
8.7.4 Die Lebensverhältnisse der ÖsterreicherInnen
Zwischen 3 und 6 000 ÖsterreicherInnen - die Statistiken sind vage und Melderegister wurden
erst ab 1934 geführt - lebten als Geschäftsleute, Gewerbetreibende, Handwerker oder
Angestellte bei deutschen Firmen in São Paulo und Rio de Janeiro, wo sie einen Teil des
unteren und schließlich gehobeneren Mittelstandes bildeten. Anfangs übten wenige
schichtkonforme Berufe aus. Da für akademische Berufe Nostrifikationsprüfungen in
portugiesischer Sprache verlangt wurden, gaben eingewanderte Architekten oft den Beruf
"Maurer" an, Ärzte gaben sich als "Krankenpfleger" aus und legten ihre Prüfungen später ab.
Die brasilianischen Reallöhne waren zwar niedriger als die österreichischen
Durchschnittslöhne, die Einwandernden genossen aber Steuerfreiheit. Allerdings fehlten
zunächst die seit 1918 in Österreich errungenen sozialpolitischen Sicherheiten und
arbeitsrechtliche Möglichkeiten. Streikbeteiligung konnte die Ausweisung zur Folge haben.
Die schlechte Quellenlage läßte exakte Angaben über Zahl und räumliche Verteilung der
ÖsterreicherInnen in den brasilianischen Bundesstaaten nicht zu. Außerdem ordneten die
deutsch-brasilianischen Publikationen oftmals Österreicher zur "volksdeutschen Gruppe".
Gerade in den Österreicher-Vereinen manifestierte sich auch der Transfer politischer
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Ideologien, die politische Kontroversen und Konflikte auslösten. Ab 1933, als der "Volksbund
für das Deutschtum im Ausland" massiv nationalsozialistisches Propaganda- und
Schulmaterial an deutsche Firmen und Schulen in Brasilien zu versenden begann, zeigte sich
das politische Bekenntnis zur alten Heimat Deutschland deutlich in den symbolischen
Instrumentarien. Auf Sportplätzen der Turnvereine wurden Hakenkreuzfahnen gehisst. Auch
der 1913 gegründete österreichische Verein Donau, mit ca. 1000 Mitgliedern ein bedeutendes
Kommunikationszentrum für die in São Paulo lebenden Österreicher und ÖsterreicherInnen,
bekannte sich ab 1935 immer deutlicher zum Deutschtum und zu nationalsozialistischen
Ideen, er behielt aber das Symbol des Stephansdomes als Emblem auf den
Vereinsmitteilungen bei. 1935 spaltete sich eine proösterreichische Gruppe von der Donau ab
und gründete den Verein "Babenberg".
8.7.5 Die österreichische Brasilienwanderung in den dreißiger Jahren
Die Weltwirtschaftskrise stellt eine deutliche Zäsur in Migrationspolitik- und verhalten dar.
Die Auswanderung aus Österreich nach Brasilien verringerte sich deutlich. Zwischen 1930
und 1937 betrug sie nur mehr 13,4% der Überseewanderung. Im Jahr 1930 war Brasilien,
bedingt durch das rapide Fallen der Kaffeepreise (Kaffee machte 70% des Exportes aus), die
Weltwirtschaftskrise, Importsenkungen und geringen Zolleinnahmen, bankrott. Es baute
daher notwendigerweise eine importsubstituierende Wirtschaft auf und entwickelte sich durch
die Etablierung des Estado Novo im Jahre 1937 zu einer Modernisierungsdiktatur, zu deren
Zielen die Verbreitung eines gesamtbrasilianischen Identitätskonzeptes zählte. Das Projekt
der Nationalstaatsbildung sah unter anderem vor, dass in Betrieben zwei Drittel aller Arbeiter
und Angestellten Brasilianer sein mussten. Innerbrasilianische MigrantInnen, die in die Städte
abwanderten, machten Migration aus Europa nicht mehr nötig. Die Einwanderungsgesetze
wurden verschärft. In Österreich ging die Auswanderung deutlich zurück. Im Jahr 1931 wies
die österreichische Arbeitslosenstatistik 334 000 Arbeitslose auf, 1933 mehr als eine halbe
Million. Die Industrieproduktion verringerte sich, die Inlandsverschuldung stieg um das
Dreifache. Die österreichische Regierung sah für die Bewältigung der gravierenden
wirtschaftlichen Einbrüche und der Massenarbeitslosigkeit nun nicht mehr Auswanderung,
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sondern Kurzarbeit und innenkolonisatorische Projekte vor. Diese passten auch besser in das
Konzept des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß, der Reagrarisierung und Entproletarisierung
der Arbeiterschaft propagierte, um "gesunde" Besitzverhältnisse auf dem Land zu schaffen
und den Bevölkerungsrückgang einzudämmen (vgl. Prutsch 1996).
Vor diesem Hintergrund ist es doppelt erstaunlich, dass die einzig wirklich erfolgreiche
geschlossene Gruppenwanderung von Österreichern nach Brasilien zwischen September 1933
und Jänner 1938 abgewickelt wurde. In diesem Zeitraum migrierten in vierzehn Transporten
fast 800 Personen, großteils Tiroler Landwirtefamilien nach Santa Catarina (in die Nähe von
Joacaba), wo der ehemalige Landwirtschaftsminister Andreas Thaler für sie Ländereien
ausgewählt hatte. Über 63 % der Brasilienwanderer in diesem Zeitabschnitt gehörten zur
Organisation Thalers.
8.7.6 Das Projekt Thaler - Dreizehnlinden
Von 1927 bis 1933 hatte der ehemalige Landwirtschaftsminister Andreas Thaler bei der
österreichischen Regierung vergeblich interveniert, um Subventionen für seine
Auswanderung zu erhalten. Denn er hatte sich zum Ziel gesetzt, den vom Tiroler Erbrecht des
Erstgeborenen, den von hoher Arbeitslosigkeit, vom Preisverfall für landwirtschaftliche
Produkte und 1933 von der 1000-Mark-Sperre Adolf Hitlers Betroffenen in Lateinamerika
eine Existenz zu sichern. 1931 demisionierte er, um den Aufbau einer genossenschaftlich
organisierten Siedlung katholischer Landwirte- und Handwerkerfamilien in einen Staat zu
leiten, wo die "Wahrung des Volkscharakters" (Tradition, Glauben, Bräuche) und der Sprache
nicht durch Assimilationsdruck gefährdet sei. Arbeiter waren als Kolonisten eher
unerwünscht, weil sie zu unerfahren seien. Die Ländereien für Thaler hatte Walther von
Schuschnigg ausgesucht, der mit der Gamillscheg-Aktion nach Brasilien gekommen und im
westlichen Santa Catarina konsularische Agenden für Deutschland übernommen hatte.
Der Auswanderungsplan wurde von Thaler und Schuschnigg mit einem kulturmissionarischen
Anspruch versehen, da Schuschnigg weitere Immigrationsschübe italienischsprachiger Siedler
in der dortigen Region verhindern wollte und Thalers Kolonisationsprojekt als
Verbindungsglied zwischen dem deutschsprachigen Siedlungsgebiet in Rio Grande do Sul
und jenem in Santa Catarina wertete. Daß Andreas Thaler trotz erheblicher politischer
Widerstände in Österreich sein großangelegtes Projekt Dreizehnlinden (Treze Tilias), das für
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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10 000 Personen konzipiert war, verwirklichen konnte, liegt in seiner Freundschaft zu
Bundeskanzler Dollfuß begründet, der ihm eigenmächtig die Hälfte des Jahresbudgets für
Siedlungswesen, (500 000 S, heute 2,9 Millionen Euro) für Landerwerb, Reise und technische
Ausrüstung zur Verfügung stellte, mit der Auflage, die Geräte in Österreich zu erwerben. "Die
Aktion ist eine ‚Führer-Aktion' [...] eine genauerer Projektüberprüfung kann daher nicht
stattfinden [...]da die Aktion lediglich auf das dem Herrn Bundesminister Thaler
entgegengebrachte Vertrauen des Herrn Bundeskanzlers aufgebaut ist." (vgl. Prutsch 1996).
Thaler war für die Verwendung der Gelder niemandem Rechenschaft schuldig. Die erste
Gruppe kam im Oktober 1933 mit 80 000 kg Gepäck nach Brasilien. Die gewährte
Geldsumme reichte nicht aus. Denn Thaler benötigte aufgrund großzügiger Darlehen für
finanzschwache SiedlerInnen, den raschen Aufbau kultureller und infrastruktureller
Einrichtungen in der Kolonie, für überteuerte Landkäufe und -reservierungen, wegen sehr
hoher Investitionen in Maschinen und Geräte eine neuerliche Subvention von 357 000
Schilling. Der Siedlungsaufbau wurde anfänglich straff genossenschaftlich organisiert,
Arbeitsleistungen wurden zur Hälfte in Gutscheinen ausbezahlt, Prämien für Akkordarbeit
gewährt. Nach Protesten gab Thaler dieses Prinzip zugunsten von Reprivatisierung und
Verpachtung auf, die SiedlerInnen erhielten Land zugeteilt. Bis in die achtziger Jahre fristete
der Ort mit seinem Nebenweiler Dollfuß ein kärgliches Dasein, da die Straße nach Joacaba
schlecht und damit der Absatz für landwirtschaftliche Produkte erschwert war.
Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich versuchte dieses mit Hilfe der in
Brasilien aktiven NSDAP die Kolonie zu annektieren und plante eine Siedlungsaktion
Sudetendeutscher in diesem Gebiet. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs, Probleme der
gesetzlichen Legitimierung dieses Annexionsversuches, Widerstände in der Kolonie sowie
der Abbruch der brasilianischen diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ließen die
Vereinnahmung scheitern. Andreas Thaler war 1939 bei einem Hochwasser ums Leben
gekommen. Im Jahr 1959 konnte die seit 1933 mit der Verwaltung und Abwicklung der
Transporte betraute österreichische Auslandssiedlungsgesellschaft in Innsbruck aufgelöst
werden, nachdem sie einen Ablösebetrag von 400 000 S von der brasilianischen Regierung
erhalten hatte. In den vierziger Jahren hieß Dreizehnlinden "Papuan", da der nation-buildingprocess und die Politik gegen ehemalige Bewohner der Achsenmächte zu zahlreichen
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Namensänderungen von Einwandererdörfern geführt hatte. 1961 wurden in Treze Tilias die
restlichen Besitztitel vergeben. Heute ist es mit ca. 5000 Einwohnern ein prosperierendes
Munizip, das auch aufgrund der Subventionen der Tiroler Landesregierung, kontinuierlicher,
temporärer Migrationen zwischen Tirol und der Ortschaft und der gestiegenen Attraktivität
als exotisches Tourismusziel in den letzten Jahren profitieren konnte.
9 Die Sklaverei in Brasilien
Sklaverei ist nicht nur ein ökonomisches Phänomen, sondern steht mit spezifischen
Sichtweisen der Welt in Zusammenhang. In ihnen sind Begriffe wie Abhängigkeit, Macht,
Gewalt, soziale Außenseiter oder Fremde enthalten (vgl. Hofbauer 2000, S. 42f.). Im Laufe
von 400 Jahren importierte Brasilien mehrere Millionen afrikanischer Sklaven und
Sklavinnen zunächst für die Zuckerrohrplantagen (engenhos). Der Sklavenhandel war ein
lukratives Geschäft; das Halten von Sklaven galt lange als Zeichen des Reichtums und
bedeutete einen "sozialen Wert". Die Sklaven stellten keineswegs eine homogene "soziale
Klasse" und ethnische Gruppe dar. Die Zwangsintegration in die Kolonialgesellschaft
bedeutete einen tiefen Einschnitt in das Leben und die kulturellen Traditionen der Sklaven
und Sklavinnen, die nicht nur oftmals die Sprache ihrer Herrn lernen, sondern auch
vordergründig die katholische Religion praktizieren mussten. Die Kirche stellte die Institution
der Sklaverei nicht in Frage. SklavInnen gleichen ethnischen Ursprungs wurden an
verschiedene Sklavenherren verkauft. Ebenso gab es eine Art von "interner
Sklavenhierarchie". Das von extremen körperlichen Anstrengungen geprägte Leben der
Plantagensklaven unterschied sich wesentlich von demjenigen der privilegierteren
Haussklaven, die im Herrenhaus (casa grande) arbeiteten. Den in urbanen Zentren arbeitenden
Leihsklaven boten sich die besten Chancen, einen Sklavenfreibrief (carta de alforria) zu
erhalten. Der Sklavenalltag war allerdings nicht immer von ständiger physischer
Gewaltausübung gekennzeichnet, sondern auch oftmals durch ein paternalistisches SchutzAusbeutungs-Verhältnis geprägt.
Viele Sklaven entzogen sich dem unmenschlichen Arbeitssystem durch Flucht, die
durchschnittliche Überlebensdauer eines Sklaven im 17. und 18.Jahrhundert betrug cirka
sieben Jahre. Es bildeten sich mehrere Widerstandsdörfer bzw. "Sklavenrepubliken"
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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(Quilombos), von denen der Sklavenstaat Palmares (im 17. Jahrhundert) in Pernambuco mit
30 000 Einwohnern als Symbol des Widerstands im kollektiven Gedächtnis der
afrobrasilianischen Einwohner Brasiliens besonders verankert blieb. Nach jahrzehntelanger
Resistance gegen die Regierungstruppen wurde er von einem 6000 Mann starken Heer
schließlich zerstört. Die Sklaverei wurde auch von den Quilombos und afrobrasilianischen
Religionen nicht in Frage gestellt. Der Prozeß der Abschaffung der Sklaverei (Abolição)
setzte mit der Unabhängigkeit Brasiliens 1822 ein, da Großbritannien ihre Anerkennung an
die Bedingung der Abolition knüpfte. 1850 wurde der Import von Sklaven effektiv verboten;
das "Lei do Ventre Livre" von 1871 bestimmte, dass alle Kinder von Sklavinnen als Freie
geboren werden. Das "Goldene Gesetz" vom 13. Mai 1888 kam zu einem Zeitpunkt, als die
Sklaverei ökonomisch ihre Relevanz verloren hatte; "lediglich" eine halbe Million Sklaven
wurde nun in die Freiheit entlassen. Der Sklavenfreibrief sowie die Abolition änderten das
Leben der Sklaven meist nicht radikal, die befreiten Sklaven arbeiteten oftmals bei denselben
Herren als Lohnarbeiter weiter (vgl. Hofbauer 1995, Hofbauer 2000, vgl. Hofbauer 2002, vgl.
Carneiro 1966, vgl. Viotti da Costa 1997).
10 Stadt und Stadtsanierung in der Belle Époque
Die zum Teil aus Kaffeefazenden abgewanderten Einwanderer, freigelassene Sklaven und
brasilianische Migranten strömten um die Jahrhundertwende in die Städte und beschleunigten
den Urbanisierungsprozess. Afrikanische, europäische, asiatische Kulturen sowie zahlreiche
innerbrasilianische kulturelle Ausdrucksformen beeinflussten sich gegenseitig. Die
städtischen Zentren São Paulo, Rio de Janeiro und Porto Alegre orientierten sich städtebaulich
an europäischen Mustern. Der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Pereira Passos, leitete 1903
gemäss der Losung "Rio zivilisiert sich" ("O Rio civiliza-se") ein an die urbanistischen
Maßnahmen des französischen Baron Haussmann angelehntes, umfangreiches Projekt der
Stadtsanierung ein, dem große Teile der kolonialen Häuser, die vor allem von Unterschichten
bewohnt waren, zum Opfer fielen.
Die arme Bevölkerung wurde gezwungen, auf die Hügel (morros) um Rio zu ziehen; den
ersten Siedlungen mangelte es an Strassen und Wasserleitungen. Die Favelas breiteten sich
seit der Jahrhundertwende kontinuierlich aus. Städtisches Symbol der Modernisierung
während der Präsidentschaft von Rodrigues Alves war die neuerrichtete Avenida Central
(heute Avenida Rio Branco). Die Sanierung von Bauten wurde mit Gesundheitsprojekten
gekoppelt. Gegen die autoritär verordnete Pockenimpfung setzte sich ein Teil der
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Bevölkerung heftig zur Wehr. Der berühmte brasilianische Arzt Oswaldo Cruz avancierte
zum Pionier der Bekämpfung von Epidemien. Im zweiten Dezennium des 20. Jahrhunderts
finanzierte die US-amerikanische Rockefellerstiftung Projekte zur Malaria- und
Gelbfieberbekämpfung in Rio de Janeiro und im Amazonasgebiet. Noch stärker als Rio de
Janeiro versuchte die als Stützpunkt zwischen den Kaffeeplantagen und dem Hafen Santos
groß und reich gewordene Stadt São Paulo die Stadtplanung von Paris nachzuahmen. Die
koloniale Struktur wurde weitgehend ruiniert (vgl. Velloso 1996).
11 Importe aus Europa versus nationale Eigenständigkeit
Europa bot bis zum Ersten Weltkrieg die Referenzkulturen für die brasilianischen Eliten.
Intellektuelles Vorbild war Frankreich; Französisch galt als Sprache der brasilianischen
Oberschichten und des Bildungsbürgertums, bis in die 1940er Jahre wurden
französischsprachige Texte in Zeitschriften abgedruckt. Auch die Mode der "Belle Époque"
Brasiliens griff auf französische und britische Vorbilder zurück, obwohl der Kleidungsstil den
tropischen Temperaturen keineswegs entsprach. 1897 wurde die Brasilianische Akademie für
Literatur (Academia Brasileira de Letras) nach dem Vorbild der Academie Française
gegründet, ihr erster Präsident, Machado de Assis, zählt zu den bedeutendsten brasilianischen
Autoren. In den Kaffeehäusern wie dem berühmten Papagaio der Rua Ouvidor, deren Fin de
Siècle Flair und Gepräge sich wie das vieler Strassen im ehemals kolonialen Zentrum nicht
erhalten hat, trafen sich die Schriftsteller und Bohemiens, pflegten akademische Rituale, die
in Karikaturen der vielen, oft kurzlebigen Zeitschriften festgehalten wurden. Die Kaffees
bildeten die Schnittpunkte zwischen öffentlichem und privatem Raum. Die Strassen waren
Orte der Populärkultur, der Feste, der Capoeira (dem von den Sklaven importierten SpielTanz-Sport-Kampf-Ritual). Die Orientierung an außerbrasilianischen Vorbildern führte zu
einem steigenden Nationalismus und der Suche nach einer Nationalkultur. Ein ausgeprägtes
Beispiel des "Hurrapatriotismus" lieferte der Schriftsteller Afonso Celso mit seinem Text
"Warum bin ich stolz auf mein Vaterland?" (1900). Als Modelle der intellektuellen Distanz
von der alten Kolonialmacht boten sich zunächst die tropische Natur und die indianischen
Kulturen der Vergangenheit an; wie Exponate im Nationalmuseum für naturkundliche und
ethnographische Sammlungen verdeutlichten. Das Kultivieren des Nationalen, die
Rekonstruktion einer idealisierten Vergangenheit sowie der Kult des Schönen der
Jahrhundertwende, der Unterschichtenelend verdeckte, wurde von Lima Barreto 1911 im
Werk "O triste fim do Policarpo Quaresma" (Das traurige Ende des Policarpo Quaresma"
karikiert.
11.1 "Das traurige Ende des Policarpo Quaresma" als Beispiel eines
literarischen Hauptwerkes
Der Roman zählt heute zu den Schlüsselwerken des brasilianischen Selbstverständnisses,
dessen Autor im Rahmen der 500-Jahr-Gedenkfeiern im Jahr 2000 gewürdigt wurde. Mit der
Figur des Protagonisten beschreibt der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Mulatte
Barreto (1881-1922), der einen Beamtenposten bekleidete und nie in die brasilianische
Akademie für Literatur aufgenommen wurde, einen aufrechten Patrioten, der unermüdlich
brasilianische Rückständigkeit zu überwinden und die Nachlässigkeit der Verantwortlichen in
der Verwaltung aufzudecken versuchte. Die Romanfigur Quaresma ging in ihrer
Vaterlandsliebe soweit, anlässlich der Verfassung von 1891 die Einführung der Sprache des
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Tupi-Guarani anzuregen, da Quaresma das brasilianische Portugiesisch als kolonialen Import
wertete: die indigene Bevölkerung hingegen sei das Ideal des Brasilianertums, das keine
ausländischen Beimischungen enthalte.
Es waren lange philosophische Spaziergänge [...] Nach längstens einer Stunde pflegte er
wieder in der Bibliothek zu sein und sich in die Zeitschriftenbände des HistorischGeographischen Instituts zu vertiefen, in die Chronik des Fernão Cardim, in die Briefe des
Paters Nóbrega, in die Jahrbücher der Nationalbibliothek [...]. Er studierte die Indianer [...].
Um seine Beweggründe recht zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass für den Major
nach dreissig Jahren des patriotischen Meditierens, der Studien und Reflexionen nunmehr die
Zeit der Ernte anbrach. Seine grosse Vaterlandsliebe und seine schon immer gehegte
Überzeugung, dass Brasilien das erste Land der Welt sei, nahmen nun praktische Gestalt an
und trieben ihn zu bedeutsamen Unternehmungen [...]. Es [Brasilien, Anm.U.P.] hatte alle
Klimazonen, alle Früchte, alle Bodenschätze, alle Nutztiere, die besten Ackerböden, die
tapfersten, gastfreundlichsten, klügsten und sanftesten Menschen der Welt – was brauchte es
weiter? Nur Zeit und ein wenig mehr Ursprünglichkeit. Wenn ihn also auch keine Zweifel
mehr an der Zukunft Brasiliens plagten – die an der Ursprünglichkeit seiner Sitten und
Gebräuche waren keineswegs verflogen (Baretto 2001, S. 26,S.27)
12 Politik und Ökonomie um 1900
Die ökonomische und politische Struktur veränderte sich in der "Alten Republik" (bis 1930),
die um 1905 20 Millionen Einwohner zählte, wenig. Das liberal-konservative, elitäre System
wurde von den Staatspräsidenten und mächtigen Gouverneuren von São Paulo und Minas
Gerais sowie von einer kleinen Beamtenschicht getragen, die ihre Ausbildung in den
juridischen Fakultäten von São Paulo und Pernambuco (gegründet 1827) genossen. Die Macht
der Kaffeepflanzer-, Export- und Finanz-Eliten wurde durch ein ausgeklügeltes System
politischer Patronage geregelt und auf lokaler Ebene von den ansässigen Notablen, den
sogenannten Coroneis (Oberste der Nationalgarde) ausgeübt, die gleichzeitig oftmals über
Großgrundbesitz verfügten. Der Coronelismo war durch fehlende Gewaltenteilungen,
Wahlfälschungen, parteiische Gesetzesanwendungen und Attacken gegen politische Gegner
und durch Klientelismus charakterisiert. Bis 1930 spricht man von einer Politik der
Gouverneure, wobei meist die beiden wirtschaftlich mächtigsten Staaten São Paulo
(Kaffeewirtschaft) und Minas Gerais (Milchwirtschaft) die Staatspräsidenten stellten. Diese
Praxis ging als "Kaffee mit Milch (café com leite) - Politik" in die brasilianische Geschichte
ein. Trotz akzelerierter Urbanisierung und Industrialisierung in einigen Regionen blieb
Brasilien bis in die sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ein agrarisch geprägter
Staat, obwohl es 1907 bereits über 600 000 Industriearbeiter zählte. 1917 lähmte ein erster
Generalstreik, der höhere Löhne und Sozialleistungen forderte, die Wirtschaft São Paulos.
Von den über 17 Millionen Einwohnern lebten um 1900 noch zwei Drittel am Land.
Die wichtigsten Exportgüter Brasiliens (Quelle: Zoller 2000, S. 228).
Zeitraum
Zucker
Kautschuk
1891-1900
1901-1910
1911-1920
6,0
1,2
3,0
15,0
28,2
12,1
Kaffee
64,5
51,3
63,0
25
Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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1921-1930
1,4
2,6
69,6
Brasiliens außenwirtschaftliche Abhängigkeit mit exportorientierter Wirtschaft und semifeudalen Plantagenstrukturen blieb stark. Großbritannien dominierte bis zur
Jahrhundertwende zwar noch die Wirtschaftspolitik, lieferte Konsumgüter, besaß
Handelsprivilegien, hatte den größten Anteil an der Konstruktion von Eisenbahnen und
Telegraphennetzen und genoss wichtige Privilegien beim Abbau von Mineralien. Die
Handelsbeziehungen mit den USA, den Hauptabnehmern des brasilianischen Kaffees,
erlebten einen deutlichen Aufschwung und wurden von Brasilien in ihren politischen
Interessen und Bestrebungen der Dominanz der westlichen Hemisphäre unterstützt. An der
Seite der USA versuchte der größte lateinamerikanische Staat, seine Position als führende
Macht in Lateinamerika zu stärken.
12.1 Kaffeeanbau
Mit Hilfe seiner Kaffeeproduktion erreichte der Staat São Paulo eine ökonomische
Vormachtstellung, die sich auch im Industrialisierungsprozess verdeutlichte. Seine Interessen
wurden durch die Staatspräsidenten Prudente de Morais (1894-1898) und Campo Salles
(1898-1902) gefördert, die beide die Kaffeepflanzeroligarchie unterstützten. Der sich seit
1870 in jeder Dekade verdoppelnde Kaffeeexport bescherte Brasilien auch vier Jahrzehnte
ökonomischen Wachstums und Prosperität. Zwischen 1875 und dem Ende der zwanziger
Jahre kontrollierte der Staat São Paulo 70% des Weltkaffeemarktes. Die Staatseinnahmen
waren allerdings weitgehend von Importzöllen abhängig. Die Plantagenwirtschaft, die
landwirtschaftlichen Kolonien in Südbrasilien machten einen Ausbau der Infrastruktur (von
Strassen, Eisenbahnen, Telegraphenleitungen) notwendig, die - wie die Märkte - großteils von
den Briten finanziert wurden, die auch die Kreditmärkte beherrschten. Als der Weltmarktpreis
aufgrund der brasilianischen Überproduktion einbrach, verwendete der Staat São Paulo als
weltgrößter Produzent Auslandsanleihen, um die Ernten aufzukaufen und die Exporte zu
limitieren. Dadurch provozierte er Preiserhöhungen. Schließlich verhängte Staat São Paulo für
fünf Jahre einen Anbaustopp für neue Plantagen. Das Abkommen von Taubaté im Februar
1906 zwischen der Bundesregierung und den wirtschaftlich dominanten Regierungen von
Rio, São Paulo und Minas Gerais legte die Stützung des Kaffeepreises fest. Sie beschlossen,
eine Anleihe von 15 Millionen Pfund Sterling für den Kauf von Kaffee in Brasilien
aufzunehmen und ihn nur um 32 Milreis (bis 1927 die brasilianische Währung) pro Sack zu
verkaufen. Nunmehr wurde öffentliches Geld der Bundesregierung direkt zur Stützung des
Kaffeepreises mittels Spekulationen verwendet (vgl. Novy 2001).
12.2 Kautschuk
Neben dem Kaffee, der um die Jahrhundertwende 75% des Weltmarktproduktion ausmachte,
gerät die Kautschukproduktion am Amazonasgebiet in einen Boom. Sie war der letzte
weltmarktorientierte Rohstoffzyklus Brasiliens (nach dem Brasilholz, Zucker, Gold und
Kaffee). Der aus Gummibäumen im Amazonasgebiet gewonnene Rohstoff stellte um 1890
nach Kaffee das zweitwichtigste Exportprodukt Brasiliens dar. Kautschuksammler spielten
bei den Grenzstreitigkeiten zwischen Brasilien und Bolivien eine Rolle. 1899 hatten
brasilianische Kautschuksammler, die im Zuge des Kautschukbooms nach Westen
vorgedrungen waren und dort die bolivianische Autorität über das Territorium von Acre nicht
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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anerkannten, zunächst die Unabhängigkeit an. Die etwa 60 000 Brasilianer strebten die
Angliederung des Gebietes an Brasilien an, das 1903 auch von Außenminister Baron von Rio
Branco (1845-1912) gewonnen werden konnte. (vgl. Caldeira 1999).
Vor dem Ersten Weltkrieg beherrschte Brasiliens Kautschuk den Weltmarkt. Ein
Kautschukbaron ließ sich 1989 in Manaus ein prächtiges Opernhaus, das Teatro Amazonas,
mit italienischem Marmor bauen. Die Konkurrenz südasiatischer Plantagen reduzierte
Brasiliens Produktion bis 1918 auf 25%. In den zwanziger Jahren spendete die Regierung des
Bundesstaates Pará dem US-amerikanischen Autokonzern Ford aus Detroit 10 000 km zur
Produktion von Naturkautschuk für die Herstellung von Autoreifen. Innerhalb weniger Jahre
entstand im Amazonasgebiet mit Fordlândia eine Industriestadt mit 8000 Arbeitern. Nach
dem Eintritt Brasiliens auf der Seite der USA im zweiten Weltkrieg wurde die
Kautschukproduktion bis zur Herstellung synthetischen Gummis angekurbelt.
12.3 Marschall Rondôn - Ansätze einer indigenen Politik
Die gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten für die schwarze und indigene Bevölkerung
waren äußerst gering. Die indigene Bevölkerung diente - aus ihrem historischen und
kosmogonischen Kontext gelöst - als Matrix für die Suche nach den eigenen Wurzeln.
Ansätze einer indigenen Politik setzte der aus Mato Grosso stammende Militär Cândido
Rondon durch. Von der Regierung beauftragt, im Bundesstaat Mato Grosso zwischen 1892
und 1910 Telegraphenleitungen zu installieren, hatte er regelmäßig Kontakt mit der indigenen
Bevölkerung, die er zu respektieren lernte. Morrer se preciso for, matar um índio, nunca, war
seine Maxime (lieber sterben, als einen Indio töten). Rondon organisierte Expeditionen im
Gebiet des heutigen nach ihm benannten Territoriums Rondônia. 1910 wurde auf seine
Anregung hin die brasilianische Indianerschutzbehörde (Serviço de Proteção ao Indio, SPI)
gegründet. Die einzige Strategie, um die indigene Bevölkerung zu schützen, bestand für ihn in
der Demarkation von Territorien durch die Regierung als Nationalparks. 1952 setzte er die
Gründung des ersten brasilianischen indigenen Nationalparks im Gebiet von Xingú durch.
13 1922 - Woche der Modernen Kunst, feministische Bewegung
Der Erste Weltkrieg beeinflusste nicht nur ökonomisch Brasilien, der Zusammenbruch des
Vorbildes Europa wirkte sich auch psychologisch aus. Es beschleunigte die
Nationsbestrebungen und die Suche nach eigenem, kreativem Potential. Zu den Pressure
groups zählten die jüngere Generation positivistisch geschulter Offiziere (tenentes), die mit
einer nationalen Neuorientierung und Überwindung sozialer Rückschrittlichkeit die
Missstände im eigenen Land zu überwinden trachteten, sowie auch eine Gruppe der
modernistischen Avantgarde um Oswald de Andrade und Mário de Andrade.
Das Jahr 1922 war für Brasilien in vielerlei Hinsicht herausragend: 1922 feierte Brasilien den
100. Jahrestag seiner Unabhängigkeit von Portugal. Symbolische Bedeutung für die
Distanzierung vom Vorbild Europa erhielt die durch private Mäzene finanzierte Woche der
Modernen Kunst in São Paulo von 11. bis 17. Februar 1922, die im Teatro Municipal als
Festival mit MusikerInnen, LiteratInnen, MalerInnen und Bildhauern begangen wurde. Sie
erteilten der Orientierung an portugiesischem und französischem Kulturkolonialismus eine
Absage. Die Woche der Modernen Kunst wurde nicht zufällig in der boomenden
Industriestadt abgehalten, in der soziale, feministische
Bewegungen, neue Formen
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politischen, kulturellen und künstlerischen Ausdrucks die Formen traditioneller bürgerlicher
Politik und deren Kulturvorstellungen zu konkurrenzieren begannen. Die künstlerische
Selbstdarstellung während der Semana de Arte Moderna entlud ein starkes Protestpotential.
Zu den Protagonisten zählten der Schriftsteller und Musiktheoretiker Mário de Andrade
(1893-1945), der Schriftsteller Graciliano Ramos (1892-1953), die Malerin Anita Malfatti
(1896-1964) und der Komponist Heitor Villa-Lobos (1887-1959). Sie hatten um 1910 noch
europäische Kunstströmungen wie Dadaismus, Surrealismus, Expressionismus und
Futurismus rezipiert, doch entwickelten sie einen eigenen, sehr heterogenen brasilianischen
Modernismus, der sogar Züge eines xenophoben Kulturnationalismus trug. Der 29jährige
Mário de Andrade, der Vater der brasilianischen Moderne, forderte im Namen aller Künstler
das Recht auf Selbstbestimmung der ästhetischen Werte, die Aktualisierung der
brasilianischen Kunst sowie die Bildung eines kreativen Nationalbewusstseins. Europa hatte
als Kristallisationspunkt der Referenzkulturen somit seine Vormachtstellung eingebüßt (vgl.
Williams 2001). Am 7. September 1922 wurde in Rio de Janeiro die Internationale
Ausstellung zum 100. Jahrestag der Unabhängigkeit eröffnet. Sie war eine Leistungsschau
brasilianischer Industrie und wurde von 3, 6 Millionen Besuchern gesehen. Auch die
Ausstellung vermittelte, dass Brasilien nicht länger die Belle Epoque in Paris nachzuahmen
brauchte, um international beachtet zu werden.
1922 war auch ein Schlüsseldatum für die feministische Bewegung Brasiliens, die von der
Biologin Bertha Lutz (1894-1976), einer Paulista, entscheidend gefördert und geprägt wurde.
Bertha Lutz studierte während des Ersten Weltkriegs an der Pariser Sorbonne Biologie und
kehrte 1918 nach Brasilien zurück, wo gerade die englische Frauenbewegung rezipiert wurde.
Im selben Jahr publizierte sie in der Zeitung "Revista Semana" einen kritischen Artikel gegen
männliche Macht und die diskriminierende Behandlung von Frauen. 1919 gründete sie die
Liga der Intellektuellen Emanzipation der Frauen (Liga para a Emancipação Intelectual da
Mulher, später Federação Brasileira para o Progresso Feminino) und organisierte 1922 den
Ersten Internationalen Feministinnenkongress, an dem auch die US-Repräsentantion Carrie
Chapman Catt teilnahm. Als primäre Ziel der Politik wurde das Frauenwahlrecht definiert.
Bertha Lutz avancierte zudem zu einer der renommiertesten Erforscherinnen amazonischer
Frösche und Kröten und arbeitete am Museu Nacional in Rio de Janeiro. 1921 konstituierte
sich übrigens die erste Frauenfußballmannschaft Brasiliens; sie wurde während der Diktatur
des Estado Novo aufgelöst. 1932 wurde schließlich während der provisorischen
Regierungszeit von Getúlio Vargas das Frauenwahlrecht per Dekret beschlossen.
13.1 Macunaíma von Mário de Andrade
In seinen literarischen Texten sucht der brasilianische Schriftsteller und Schlüsselfigur der
"Modernistas" Mário de Andrade nach neuen Erzähltechniken und einer Erneuerung der
portugiesischen Sprache. Ein herausragendes Beispiel gibt der 1928 publizierte Roman
Macunaíma, der alle innovativen Züge der modernistischen Poetik erstmals in sich vereinte.
Idee und Titel entlehnte Andrade dem Reisebericht des deutschen Ethnologen Theodor KochGrünberg aus den Jahren 1911 bis 1913 im Grenzgebiet zwischen Brasilien und Venezuela
"Vom Roroima zum Orinoco". Koch-Grünberg hatte während dieser Reise zahlreiche
Märchen und Legenden gesammelt. Macunaíma
(= großer Bösewicht) war ein
Stammeshäuptling und Gott der Taulipang- und Arekuná-Indianer. Als vielschichtige
Persönlichkeit war er ehrlich, verlogen, feige und mutig zugleich, eine Mixtur, "der Held ohne
jeden Charakter" ("O Herói Sem Nenhum Caráter"), wie der Untertitel des Buches lautet. Er
sollte den brasilianischen Menschen mit all seinen Vorzügen und Nachteilen darstellen, der
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noch dazu ein brasilianisches Portugiesisch spreche, das sich von den starren
Sprachregelungen
Portugals
distanziere.
Macunaíma,
ein
Beispiel
für
Hybridisierungsprozesse in Brasilien und im lateinamerikanischen Kontext, gehört bis heute
zum Kanon der Standardwerke brasilianischer Literatur (vgl. Ertler 2002).
14 Entdeckung des barocken Erbes
Im Laufe der zwanziger Jahre spielten nicht nur die Modernisten um Mário und Oswaldo
Andrade eine wichtige Rolle, es kristallisierte sich auch eine konservative Richtung um den
Folkloristen Gustavo Barroso heraus. Beide Bewegungen konzentrierten sich auf das
koloniale Erbe der brasilianischen Vergangenheit, das sie als Beginn einer brasilianischen
Volkskunst werteten. Für die Gruppe um Gustavo Barroso, einem Journalisten aus Ceará,
entstanden die barocken Juwele in Minas Gerais genau zu dem Zeitpunkt, an dem die
europäische Kunst zu einer brasilianischen mutierte. Zudem symbolisierten die barocken
Bauwerke für Barroso noble luso-katholische koloniale Vergangenheit.
Der Kulturpolitiker Barroso, der Anfang der 1930er Jahre mit Plinio Salgado zur Leitfigur der
faschistischen integralistischen Partei avancierte, erhob den Neokolonialismus zu einem
bedeutenden architektonischen Stil der Zwischenkriegszeit. 1922 überzeugte er den
Präsidenten Epitácio Pessoa (1919-22), das erste historische Nationalmuseum zu gründen. Zu
Ostern des Jahres 1924 pilgerte die links-liberale Gruppe von Modernisten, unter ihnen
Oswald de Andrade und Mário de Andrade nach Ouro Preto und anderen kolonialen Städten
in Minas Gerais, um die "verlorene Vergangenheit" wieder bewusst zu machen und dadurch
die Moderne zu verstehen. Der Konflikt zwischen Traditionalisten und Modernisten
beherrschte die Kulturpolitik der zwanziger und dreißiger Jahre (vgl. Williams 2001). Im Jahr
1928 publizierte Oswald de Andrade sein "Kannibalistisches Manifest" (Manifesto
Antropófago). Er benützte in ironischer Form die Metapher des amerindischen Kannibalen
und empfahl, in kannibalistischer Manier die wertvollsten, bereicherndsten Teile der
europäischen Kultur einzuverleiben, sie zu transformieren, sich anzueignen und den Rest zu
verwerfen.Helden europäischen Geisteslebens wie Johann Wolfgang von Goethe waren zu
entmythifizieren. "Tupi or not tupi" war für ihn die entscheidende Frage.
15 Politische Manifestationen gegen das Establishment 1922-30
Am 5. Juli 1922 organisierten junge Militärs (tenentes) einen Aufstand in der Festung
Copacabana in Rio de Janeiro, der sich gegen die, von älteren Offizieren unterstützte
Regierung und gegen die militärische Hierarchie richtete. Die sozialrevolutionäre Bewegung
der tenentes kritisierte die Korruption, Wahlschwindel, die soziale Rückständigkeit, regionale
Disparitäten und fehlende Sozialpolitik für die BrasilianerInnen, die unter der Armutsgrenze
lebten. Sie plädierten deshalb - basierend auf ihrem elitären Machtverständnis - für eine
Revolution von oben nach unten sowie für eine modernistische Erziehungsdiktatur mit einer
fähigen Technokratenbürokratie. Diese durch Demonstrationen und kleine revoluciones,
durch Sabotageakte auf Fabriken und Bahnlinien sowie zum Teil durch blutige Aufstände
agierende Erneuerungsbewegung wird als tenentismo bezeichnet. Die 1924 in São Paulo von
tenentes mitgetragene dreimonatige Revolution war von Frustration gegen das herrschende
Regime und die rudimentäre Sozialstruktur geprägt, Arbeiter trugen sie kaum mit. Der
während der Revolution aus der Stadt geflohene Gouverneur ließ sie einen Monat lang mit
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Artillerieflugzeugen ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung bombardieren (vgl. ILA, Juli
2001).
15.1 Die Coluna Prestes
Die sich aus der Stadt Sao Paulo zurückziehenden Revolutionstruppen von 6000 Soldaten des
Jahres 1924 zogen Richtung Westen. Die Hälfte von ihnen erreichte Mato Grosso. 1925
schlossen sich Militärs aus Rio Grande do Sul den Aufständischen aus São Paulo unter der
Führung von Luis Carlos Prestes (1898-1990) sowie andere militärische Gruppen an. Diese
cirka 2000 Personen zählende Kolonne von Prestes (Coluna Prestes) zog binnen zweier Jahre
über 25 000 km durch 13 brasilianische Bundesstaaten (Goias, Maranhão, Piauí, Ceara, Rio
Grande do Norte, Paraíba, Pernambuco, Bahia), wurde immer wieder von Regierungstruppen
verfolgt. Die übriggebliebenen 600 Überlebenden setzten im Februar 1927 nach Bolivien
über, wo sie um Asyl ansuchten. Während ihres "langen Marsches" durch das brasilianische
Hinterland wurde vielen Tenentes ländliches Elend und die Kluft zwischen boomenden
Industriestädten mit einer selbstbewussten Arbeiterschaft und dem Hinterland besonders vor
Augen geführt. Alle herausragenden Sprecher der militärischen Untergrundbewegung bis zum
Revolutionsjahr 1930 stammten aus dieser Kolonne von Prestes. Dieser konvertierte zum
Marxisten und Kommunisten, emigrierte über die uruguayische Hauptstadt im Jahre 1931 in
die Sowjetunion, wo er bis 1935 blieb. Carlos Luis Prestes zählte bis 1945 zu den
unermüdlichen Oppositionellen gegen die 1930 einsetzende Vargas-Regierung (vgl. Zoller
2000).
16 Die Weltwirtschaftskrise
Die Weltwirtschaftskrise von 1929 fiel in die Präsidentschaftsperiode von Washington Luis
(1926-1930). In den USA bewirkte sie einen Rückgang der Industrieproduktion um 30% und
zeitigte auch massive Auswirkungen in Brasilien. 1930 fielen Brasiliens Terms of Trade um
37,8%, das Importvolumen verringerte sich um über 60%. Die Währungsreserven wurden
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aufgezehrt, die Zinsen für die großzügig gewährten britischen, US-amerikanischen Anleihen
konnten nicht mehr zurückgezahlt werden. 1930 war Brasilien, dessen Exporte zu 60 bis 70%
aus Kaffee bestanden, bankrott. Der vielzitierte Satz "O café da para tudo" ("der Kaffee
kommt für alles auf"), hatte seine Gültigkeit verloren. Aufgrund von Fabrikschließungen
wurden zwei Millionen BrasilianerInnen arbeitslos. Massiv von der Krise war der
Kaffeeexport betroffen; der Preis pro Sack sank von August 1929 bis Jänner 1930 auf ein
Zehntel und konnte von der Regierung nicht mehr gestützt werden. Wurden auf dem
nationalen Markt im Jahr 1929 für einen Sack Kaffee noch 67, 3 Pfund Sterling bezahlt, so
waren es 1932 nur mehr 26, 2 Pfund. Die Krise von 1929 und die Schwäche der
internationalen Geldgeber USA, Großbritannien und Frankreich bewirkten eine ökonomische
und politische Neuorientierung (vgl. Zoller 2000, vgl. Novy 2001).
17 Die Revolution von 1930
Trotz vorprogrammierter Widerstände und entgegen der politischen Praxis engagierte sich der
brasilianische Staatspräsident Washington Luis (1926-1930), ein Paulistaner, für einen
Präsidentschaftskandidaten des eigenen Bundesstaates, für Júlio Prestes. Als
Oppositionskandidat trat mit Unterstützung des Staates Minas Gerais der Südbrasilianer
Getúlio Vargas, Gouverneur von Rio Grande do Sul gegen Prestes an. Mit ihm sollte erstmals
ein Politiker aus Rio Grande do Sul an die politische Spitze gelangen. Der Jurist Getúlio
Vargas (1883-1954) stammte aus einer wohlhabenden Viehzüchterfamilie aus São Borja, aus
Rio Grande do Sul an der argentinischen Grenze. Er war vom positivistischen Kreis von Júlio
de Castilhos beeinflusst und hatte sich politische Erfahrungen in der bundesstaatlichen
Regierung als Finanzminister in der Regierung Washington Luis geholt (1926 bis 1928). Ab
1928 war er Gouverneur des südlichsten Bundesstaates. Vargas wurde von jungen tenentes
unterstützt sowie von einer politisch heterogenen Gruppe um die sogenannte Alianca Liberal.
Als Júlio Prestes am 1. März 1930 mit Stimmenmehrheit - die Wahlbeteiligung lag bei 5, 7%
- die Wahlen gewann, warf ihm die Opposition die Fälschung des Wahlresultates vor. Die
Ermordung des an der Seite von Vargas aufgestellten Kandidaten für das Amt des
Vizepräsidenten war nur das äußere Signal für die Revolution, deren Zentren in Rio Grande
do Sul, in Minas Gerais und im Nordosten Brasiliens lagen. Der konservative Militär Pedro
Aurelio Gois Monteiro, einer von Vargas Mitstreitern, setzte den Beginn der Revolution exakt
am 3. Oktober 1930, um 17 Uhr 15 an, einem Zeitpunkt, wo in den Kasernen aufgrund des
Schichtwechsels von Tag- auf Nachtwache am wenigsten Aufmerksamkeit gegeben war. Die
revolutionären Truppen setzten sich - mit wenigen Tagen Zeitdifferenz -brasilienweit an
verschiedenen Orten in Bewegung. Das Oberkommando in Rio de Janeiro setzte den
Präsidenten Washington Luis ab, um die Macht des Militärs aufrechtzuerhalten. Am 1.
November zog Getulio Vargas, der praktisch kaum militärische Erfahrung hatte, als
Kommandant einer siegreichen "Revolution von oben" in Rio de Janeiro ein. Die Rebellen
banden ihre Pferde an den Obelisken am Ende der Avenida Rio Branco und reklamierten
damit das Symbol der bürgerlichen Republik für sich.
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Die Flagge, die sie mit sich führten, schenkte Vargas im November, am Tag der Flagge, dem
Historischen Museum. Diese Liebe für Symbolik und Inszenierungen hat Vargas im Laufe
seiner Regierung noch besonders entfaltet. Am 3. November 1930 übernahm Vargas die
Macht. Die Weltwirtschaftskrise von 1929, an deren Bewältigung die Regierung Washington
Luis scheiterte, war der auslösende Faktor einer langen Unzufriedenheit und Kritik an der
politischen Spitze.
18 Die Innen- und Wirtschaftspolitik von Vargas
Vargas beendete die Erste beziehungsweise Alte Republik und leitete die Neue Republik ein,
die von 1930 bis 1945, seiner ersten Regierungszeit, von einer staatsinterventionistischen,
zentralistischen Nationalisierungspolitik geprägt war. Einige seiner Revolutions-Mitkämpfer
und Studienkollegen bekleideten wichtige Ämter in der neuen Regierung: Pedro Aurelio Gois
Monteiro wurde Chef des Generalstabes, Eurico Gaspar Dutra Kriegsminister (1936-1945),
Filinto Müller Chef der politischen Polizei (1933-1942), Mauricio Cardoso, der Großonkel
Fernando Henrique Cardosos Justizminister (1931-1932), Oswaldo Aranha wurde Botschafter
in den USA (1934-37), danach Aussenminister (1937-1945). Gois Monteiro und Filinto
Müller waren Bewunderer europäischer Faschismen, Oswaldo Aranha hingegen war proamerikanisch und demokratisch gesinnt. Am 11. November 1930 wurde die Verfassung der
Ersten bzw. Alten Republik außer Kraft gesetzt, Vargas vereinigte die Autorität des Staates
auf seine Person. Sein sozial- und wirtschaftspolitisches Programm war auf alle möglichen
Koalitionspartner und Gruppierungen zugeschnitten. Zu den bedeutendsten politischen
Strategien während seiner Regierung zählte es, sich die Unterstützung der unterschiedlichsten
Gruppen zu versichern, sie gegeneinander auszuspielen und durch geschicktes Lavieren den
größtmöglichen Vorteil herauszuholen, ohne sich selbst auf eine Position festzulegen. Durch
Lohnerhöhungen für Militär- und Marineangehörige, durch Erhöhung der Importzölle,
50%ige Schuldenreduktionen in der Landwirtschaft und den Aufbau einer verstaatlichten
Industrie sicherte Vargas seine Position in Industrie, Landwirtschaft und Politik. Durch die
importsubstituierende, staatliche gelenkte Wirtschaftpolitik versuchte Brasilien die
außenwirtschaftliche Abhängigkeit zu reduzieren und die verheerenden Folgen der Krise von
1929 zu überwinden. 1930 stellte Vargas auch kurzfristig die Zahlungen der
Auslandsschulden ein. Das Primärgüter-Exportmodell sollte abgelöst und die Industrie zu
einem wesentlichen Faktor der Modernisierung aufgebaut werden, damit Brasilien zu den
kapitalistischen Staaten aufschließen könne. Trotz der Hoffnungen vieler Liberaler, die
politische Neuorientierung würde zu einer Demokratisierung führen, schlug die Provisorische
Regierung die positivistische Linie eines autoritär nationalistischen Staates ein. Föderale
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Prinzipien wurden zurückgenommen. Vargas ließ den Kongress, die Parlamente der
Einzelstaaten (assembleias estaduais) und Gemeindevertretungen schließen und ersetzte die
Gouverneure der Bundesstaaten durch Interventoren. Für 1933 waren Wahlen für eine
Konstituente festgesetzt, deshalb wurde rasch 1932 das Frauenwahlrecht eingeführt, um die
Zahl der Wähler und Wählerinnen zu erhöhen. Durch den Verlust der finanziellen Autonomie
büssten die Staatsregierungen deutlich an Macht ein. Seit 1931 durften sie auch keine
ausländischen Anleihen mehr aufnehmen. Die Bundesregierung behielt sich die absolute
Kontrolle über den Außenhandel vor. Die zentrale Bank, die Banco do Brasil, erhielt das
Monopol über den Kauf und Verkauf von Devisen. Grosse Industriezweige wie der Bergbau,
die Energiegewinnung wurden staatlich gefördert und kontrolliert. Ende der dreißiger Jahre
hatte Brasilien bei der Konsumgüterproduktion fast die Selbstversorgung erreicht. Da Vargas
Konzept der Nationsbildung und Modernisierung langfristig gedacht und konzipiert war,
wurden in einer Verfassunggebenden Versammlung von 1933 eine Verfassung für 1934
konzipiert. Die am 16. Juli 1934 verabschiedete Verfassung, die sich auch an der
österreichischen und portugiesischen orientierte, bestätigte Vargas als Präsidenten für die
Amtsperiode zwischen 1934 und 1938. Somit hatte er seine Position an der Staatsspitze
gesichert.
18.1 Die Politik der Kaffeevalorisierung
Die zentralistische Politik traf einflussreiche Staaten, wie den Kaffeestaat São Paulo
besonders stark, da nun die politische Macht der Kaffeeplantagenoligarchie beschnitten wurde
- etwa die Politik der Kaffeepreisstützung mit öffentlichem Geld. Die Kaffeeproduzenten
hatten sich trotz des Verbots der Neuanlage von Plantagen über die Regelung hinweggesetzt.
1931 entschied die provisorische Regierung von Getúlio Vargas, die jahrelang gelagerten
Kaffeeüberschüsse zu übernehmen und nahm dafür auch Kredite auf. Nachdem Versuche,
Kaffeebohnen als Heizmaterial für Lokomotiven oder als Grundstoff für die Plastikerzeugung
fehlgeschlagen waren, entschloss sich die Bundesregierung zur Verbrennung des
überschüssigen Kaffees. Von 1931 bis 1944 wurden insgesamt 78 Millionen Tonnen des nicht
absetzbaren Kaffees vernichtet. 1933 entstand das Brasilianische Kaffee-Institut (Instituto
Brasileiro de Café). 1929 stammten noch über 70% der internationalen Kaffeeproduktion aus
Brasilien. Sie fiel in der Folge auf 45, 5% im Jahr 1953. Diese radikale Lösung der
Vernichtung von Kaffeeüberschüssen verringerte die Abhängigkeit Brasiliens von der
Kaffeeproduktion als Devisenquelle.
19 Die Revolution in São Paulo
Der Verlust an politischer und ökonomischer Autonomie der Kaffeepflanzer entlud sich im
Staat São Paulo in einer zweiten Revolution im Juli 1932. Sie wurde durch den Tod von vier
Studenten bei Anti-Regierungs-Demonstration im Mai 1932 ausgelöst. Minas Gerais und Rio
Grande do Sul unter seinem Interventor Flores da Cunha unterstützten die Paulistas, die auch
das Radio erstmals als Propagandamedium in ihrer Kriegserklärung an die Zentralregierung
einsetzten. Der Paulistaner Grossindustrielle Roberto Simonsen, Vorsitzende der
Industriellenvereinigung von São Paulo, unterstützte die Waffenproduktion. Getúlio Vargas
ließ - wiederum mit Hilfe seines Freundes und Revolutionskameraden von 1930, Gois
Monteiro - die Revolution niederschlagen. Der Widerstand der ohnehin durch die massive
Kaffeekrise geschwächten Wirtschaftseliten war gebrochen. Nach einem Luftangriff auf
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Truppen São Paulos durch die Truppen der Zentralregierung nahm sich der brasilianische
Flugpionier Alberto Santos Dumont im Juli 1932 das Leben.
20 Die kommunistische Partei, die Nationale Freiheitliche Allianz
Die Kommunistische Partei Brasiliens wurde 1922 gegründet und von Russland unterstützt.
Mit dem Eintritt des fast mythischen Anführers der Coluna Prestes der Jahre 1925 bis 1927,
Luís Carlos Prestes, verbreiterte die Partei ihre Basis, übte wiederholt an der Macht des
britischen und US-amerikanischen Kapitals in Brasilien Kritik und wurde von der VargasRegierung attackiert. Prestes beschuldigte die tenentes, ein vages Programm der Bourgeoisie
für die Bourgeoisie formuliert zu haben. 1934 wurde die nationalistische, gemäßigte
Parteienallianz Aliança Nacional Libertadora (ANL) gegründet und bot Prestes die
Ehrenmitgliedschaft an. 1935 kam Prestes mit seiner deutschen jüdischen Frau Olga Benário
aus der Sowjetunion zurück. Ende 1935 organisierten die Kommunisten und die kurz zuvor
verbotene links-liberale Aliança Nacional Libertadora einen von der Sowjetunion
unterstützten Aufstand, der sofort von der Regierung Vargas niedergeschlagen wurde.
Kommunisten und führende Mitglieder der ANL flohen ins Exil. Olga Benário und die Frau
eines anderen deutschen Kommunistenführers wurden 1936 wurde vom Chef der politischen
Polizei, Filinto Müller, ins Deutsche Reich ausgeliefert, wo sie in einem Konzentrationslager
umkamen. Diese Auslieferung wurde von den demokratischen Staaten heftig kritisiert. Prestes
wurde 1936 verhaftet und zu 46 Jahren Gefängnis verurteilt, im Frühjahr 1945 allerdings
amnestiert. Vargas ging in der Folge vehement gegen linke und linksliberale Gruppen mit
staatsterroristischen Mitteln (Folter, Gefängnis) vor. Filinto Müller, ein Bewunderer Adolf
Hitlers, bekam besondere Vollmachten. Um diesen links-liberalen Aufstand
niederzuschlagen, nahm Getúlio Vargas die Hilfe der Bewegung der Integralisten in
Anspruch. Die Kommunistische Partei und die Partei der Integralisten waren die einzigen
modernen Programmparteien Brasiliens im zwanzigsten Jahrhundert.
21 Die Partei der Integralisten
Die ökonomische und politisch-ideologische Krise förderte 1932 die Etablierung der
integralistischen Partei (Açao Integralista Brasileira) des Lehrers und Journalisten Plinio
Salgado. Salgado nahm an der Woche der Modernen Kunst 1922 in São Paulo teil; sein 1926
veröffentlichtes Buch "Der Fremde" war innerhalb weniger Wochen vergriffen. Unter
Berufung auf "eigene brasilianische Wurzeln" wandte sich Salgado gegen die "wachsende
Überfremdung von außen", gegen den atheistischen Kapitalismus und propagierte die
Loslösung von kulturellen Vorbildern kapitalistischer Staaten. Der Integralismus wollte eine
dynamische, antidemokratische Bewegung sein. Salgado untermauerte ihn mit dem Konzept
eines christlichen Synkretismus, einer ganzheitsbezogenen Weltvorstellung mit faschistischen
Elementen. Nach der angestrebten Auflösung der korrupten Parteien plante er die Beseitigung
regionaler,
sozioökonomischer
Unterschiede
durch
eine
"national-korporative,
ständestaatliche Ordnung". Der Glaube an Gott, das Vaterland und die Familie waren die
Säulen des integralistischen Systems. Salgado verteidigte einen ökonomischen
Antisemitismus. Nach ihren militärischen Uniformen wurde die paramilitärische, nach dem
Führerprinzip organisierte Bewegung der Integralisten auch Grünhemden genannt; als Gruß
entlehnten sie das Wort "Anauê" aus der Tupi-Sprache ("Du bist mein Bruder"), als Symbol
verwendeten sie das Sigma-Zeichen, das die Welt als unteilbares Ganzes versinnbildlichte.
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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Die Bewegung fand im katholischen Klerus ihre Stütze. 1933 organisierten die Integralisten
ihren ersten Aufmarsch in São Paulo, 1934 gründeten sie ihr Journal "A Offensiva". Im selben
Jahr beteiligten sich bereits 4000 Menschen an Aufmärschen, 1935 zählten sie nach eigenen
Angaben 400 000 Mitglieder in Brasilien. Im selben Jahr unterstützten sie Vargas gegen die
links-liberale Aliança Nacional Libertadora. In der DDR-Forschung wurde lange Zeit
diskutiert, ob die Integralisten finanzielle Unterstützung von der NSDAP erhielten. Die
Integralisten unterhielten Kontakte zu NSDAP, wandten sich aber gegen die
Charakterisierung ihrer Bewegung als brasilianische Variante des Nationalsozialismus, da sie
vor allem die These der völkischen Überlegenheit ablehnten und den Mestizen (caboclo) als
Symbol der neuen Rasse hochstilisierten. Die Integralisten entwarfen ebenfalls ein
hierarchisches Bild der Ethnien und argumentierten rassistisch. Viele Deutschbrasilianer, die
mit dem seit 1933 in Brasilien propagandistisch aktiven Nationalsozialismus sympathisierten,
hatten als brasilianische Staatsbürger keinen Zugang zur NSDAP und schlossen sich den
Integralisten wegen Parallelen in der Konzeption an, ebenso viele Kinder von Italienern der
starken Immigrantenbevölkerung von São Paulo, die für Mussolini sympathisierten. Einer der
einflussreichsten Integralisten war der konservative Modernist Gustavo Barroso. Bis zum
Jahre 1938 versicherte sich Vargas der Unterstützung der faschistischen Integralisten gegen
die linksliberalen Gruppierungen (vgl. Benzaquen de Araújo 1987, vgl. Sanke 1966, vgl.
Trindade 1988).
22 Das Projekt eines "Neuen Brasilien" 1930-1937
Mittels eines riesigen Verwaltungsapparates, neuer Institutionen und Ministerien, durch
Sozial- und Infrastrukturpolitik sollte die agrarische Gesellschaft auch im "Hinterland" erfasst
werden (marcha para oeste). Vargas setzte auf eine soziale Mobilisierung der Bevölkerung,
die gleichzeitig gefördert und kontrolliert wurde. Brasilien sollte durch eine intensive
Bildungs- und Wissenschaftspolitik, sowie durch Schul- und Universitätsgründungen
modernisiert werden, um möglichst viele Adressaten einer identifikatorischen Kulturpolitik
zu schaffen. Zudem benötigte Vargas für sein "political engineering" Intellektuelle, da er in
positivistischem Sinne von der Lösbarkeit ökonomischer und sozialer Probleme mittels einer
kompetenten Technokratengeneration überzeugt war. Wissen und Kultur wurden zum
Machtfaktor des Estado Novo. Neue Medien wie Radio und Film wurden als Distributoren
des nationalen Projektes eingesetzt. Institutionen und politische Inszenierungen dienten
erstens der Konstruktion kollektiver Identität und einer "imaged community"; zweitens sollten
sie durch die Unterbindung sozialer Konflikte und die Verwischung gesellschaftlicher
Disparitäten den ökonomischen Modernisierungsprozess beschleunigen. Zum Projekt von
Vargas und seinem Erziehungs- und Gesundheitsminister Gustavo Capanema zählte die
Schaffung eines neuen, gesunden brasilianischen Menschen als Stütze des Staates und eines
brasilianischen Identitätsgefühls, der Brasilidade (vgl. Hentschke 1996, vgl. Williams 2001,
vgl. Prutsch 1999).
22.1 Sozialpolitik - Frauenpolitik
Zu den ersten Maßnahmen der Provisorischen Regierung zählte die Gründung des Arbeits-,
Industrie- und Handelsministeriums am 26. November 1930. Die aufstrebende
Industriearbeiterschaft der urbanen Zentren wollte Vargas durch eine Sozialgesetzgebung als
treue Anhänger der neuen Politik gewinnen und gleichzeitig durch die staatliche Kontrolle der
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Gewerkschaften befrieden. Die neuen Arbeitsgesetze legten gesetzlich geregelten Urlaub,
Mindestlöhne für Arbeiter, Pausen, Richtlinien für Frauen- und Kinderarbeit, den AchtStunden-Tag, medizinische Versorgung, Stellen zur Regelung von Konflikten sowie
Maßnahmen zur sozialen Fürsorge fest. Jeder Arbeiter/jede Arbeiterin erhielt einen
Berufsausweis (carteira profissional). Das 1932 durchgesetzte Frauenwahlrecht wurde 1933
erstmals ausgeübt. Der Anteil von Frauen bei höherer Schulbildung stieg an. 1937 betrug der
Anteil von Frauen in Bildungsstätten bereits 47%. Frauen durften ohne Einwilligung ihrer
Ehemänner jedoch nicht länger als 6 Monate arbeiten; bei Heirat ging ihr Eigentum in das der
Ehemänner über. Bis in die 1970er Jahre blieb die Regelung aufrecht, dass Frauen für
Auslandsreisen die schriftliche Bestätigung ihrer Ehemänner benötigten und kein Bankkonto
auf ihren Namen eröffnen durften. Mit Ausnahmen galt für Frauen das Verbot der Nachtarbeit
(vgl. Levine 1997, vgl. Besse 1996). Die Gewerkschaften mussten vom Arbeitsministerium
genehmigt sein und wurden von ihm besteuert. Diese Steuerregelung gab der Regierung eine
wirksame Kontrolle über die Gewerkschaften. Regierungsbeamte hatten das Recht, bei
Versammlungen anwesend zu sein. Politische Agitation in Gewerkschaften war untersagt,
deren Führer durften nur geborene Brasilianer sein. Auf nationaler Ebene entstand der
Gewerkschaftsbund der Industriearbeiter. Diese rigide Politik hielt Streiks in Grenzen.
Aufgrund der Wirtschaftskrise wurdeninländische Arbeiter bevorzugt. Ein "Zweidrittelgesetz"
von 1930 bestimmte, dass in Handel und Industriebetrieben zwei Drittel der Arbeiter und
Angestellten geborene Brasilianer sein mussten. Ausländer, die mit Brasilianern verheiratet
waren und seit 10 Jahren in Brasilien lebten, wurden geborenen Brasilianern gleichgestellt,
Nostrifikationsprüfungen für Immigranten erschwert. Ab 1934 gestaltete sich die
Einwanderungsgesetzgebung zunehmend restriktiver und orientierte sich an US-Gesetzen.
Der Einwandererstrom durfte jährlich nicht mehr die Grenze von 2% der Gesamtzahl von
Einwanderern einer Nation in Brasilien überschreiten.
22.2 Bildungs- und Gesundheitspolitik
1930 gründete Vargas das Bildungs- und Gesundheitsministerium, das unter dem Minister
Gustavo Capanema zu einer zentralen Institution ausgebaut wurde. Gustavo Capanema (19001985), Enkel des Österreichers Wilhelm Schüch de Capanema, der mit Leopoldine von
Habsburg nach Brasilien kam und die erste Telegraphenlinie in Brasilien 1855 installiert
hatte, wurde 1934 Bildungs- und Gesundheitsminister. In seinen Bereich fielen nicht nur die
Gesundheitsversorgung und medizinische Forschung, sondern auch die gesamte Bildungs-,
Kultur- und Kunstpolitik. Capanema sah in einer öffentlichen Bildungspolitik das beste
Vehikel für soziale und kulturelle Veränderungen. Getúlio Vargas brachte sich kaum selbst
aktiv in Kultur- und Kunstdiskussionen ein.
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Die Nationspolitik zielte auf das Schulwesen, die wichtigste Institution für die Schaffung von
Selbst- und Fremdbildern neben Kirche, Presse und Vereinen. Die Regierung begann mit dem
Aufbau brasilianischer Schulen und griff in das Schulsystem der fremdsprachigen
Privatschulen der Einwanderer (deutsche, italienische, polnische Ethnien etc.) ein, die oftmals
ihr Schulmaterial und ihre Subventionen vom Ausland erhielten. Im Jahre 1934 gab es etwa
2000 deutsche Schulen. 1930 wurden diese Subventionen beschränkt; das
Erziehungsministerium griff in die sprachliche Gestaltung des Unterrichts ein. Die Fächer
Geschichte und Geographie durften nur mehr in portugiesischer Sprache unterrichtet werden.
Brasilianische Geschichte und Portugiesisch waren verpflichtend, um die junge Generation zu
patriotischen Bürgern heranzuziehen. Der Bildungsminister etablierte nicht nur ein
Sekundärschulwesen, sondern auch ein Netz von berufsbildenden Schulen. Richtige
Ernährung, Körperhygiene und Sport waren wesentliche Bestandteile für die Schaffung eines
"neuen, brasilianischen Menschen". Während des Estado Novo (1937-1945) wurde Sport
durch den Einfluss der Militärs auf die Konzeption des Unterrichts verstärkt auf Disziplin und
Wehrhaftigkeit ausgerichtet. Widerstand gegen die neue Körperkultur kam von Seiten der
katholischen Kirche, dem einflußreichen Partner des Regimes. Fußball wandelte sich in den
dreißiger Jahren vom Eliten- zum Massensport. Der bekannte Fußballclub von Fluminense in
Rio de Janeiro, der auch Konzertreihen organisierte, zwang die schwarzen Mitspieler, ihre
Gesichter mit Reispulver einzureiben, um die Regelung, nur weiße Spieler zu engagieren, zu
umgehen.
22.3 Universitätspolitik
Im Jahr 1920 wurde die erste brasilianische Universität in Rio de Janeiro gegründet, die nicht
lange Bestand hatte. 1931 wurde das erste Universitätsgesetz beschlossen. 1934 erfolgte die
staatliche Gründung der Universität von São Paulo, der größten in Brasilien. Die 1935
errichtete Universität in Rio de Janeiro diente vor allem der Etablierung einer politisierten
Intellektuellenschicht als Stütze des Regimes. 1934 reiste der Rektor der neuen Universität
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von São Paulo, Theodoro Ramos, nach Deutschland, um etablierte und junge - meist jüdische
- WissenschafterInnen anzuwerben. Sie waren vom NS-Regime zwangspensioniert worden,
bzw. hatten aufgrund des grassierenden universitären Antisemitismus nicht die Chance auf
eine universitäre Laufbahn gehabt. Der Landwirtschaftssekretär des Staates São Paulo
engagierte Agronomen, Geologen, Botaniker und Radiologen. Sie leisteten
Grundlagenforschung, bauten Infrastrukturen auf. Deutsche bauten das erste zoologische
Department in São Paulo auf, waren führend in Agrarforschung und Biochemie. Deutsche
ImmigrantInnen etablierten die Psychologie und Vorschulerziehung. Emigranten halfen auch
beim Ausbau privater Forschungsorganisationen, wie dem Forschungszentrum und
Schlangeninstitut Butantã in São Paulo, das führend in der Entwicklung von Gegengiften war.
Die Politik, europäische Immigranten für die brasilianische Forschung anzuwerben, wurde bis
1941 fortgesetzt. 1939 wurden etwa die französischen Anthropologen Roger Bastide und
Claude Levi-Strauss nach Brasilien geholt. Bastide führte in den 1950er Jahren im Rahmen
eines von der UNESCO angeregten Projektes Studien zur Eingliederung der schwarzen
Bevölkerung in die brasilianische Gesellschaft durch. 1941 immigrierte der Wiener Chemiker
Fritz Feigl nach Brasilien und baute die Laboratorien von Orquima zur Nutzung
brasilianischer Naturressourcen auf. Sie geben ein gutes Beispiel des Pragmatismus dieser
Vargas-Regierung, trotz Bevorzugung der eigenen Bevölkerung und einer zunehmend
restriktiven und antisemitischen Einwanderungspolitik europäische jüdische Intellektuelle ins
Land zu holen, sie einzugliedern und dem System nutzbar zu machen. Hier wird auch die
Rekonzeptualisierung jüdischer Stereotypen deutlich: Juden brächten Geld, Wissen und
Technologie - und das zu einem niedrigen Preis. (vgl. Prutsch 1999, vgl. Schwartzman 1994,
vgl. Lesser 1994b). Die Universität von São Paulo behielt während des Estado Novo - auch
aufgrund der Distanz zum Machtzentrum Rio - eine größere Autonomie bei als diejenige von
Rio, deren Lehrende in das Nationalstaats-Projekt eingebunden und damit stärkerer Kontrolle
unterworfen waren.
22.4 Wiederaneignung des historischen Erbes
Ein wichtiger Bereich von Gustavo Capanemas Bildungs- und Erziehungsministerium war
Kulturmanagement zur Betreuung des kulturellen und historischen Erbes, das im
Nationalstaatsprojekt legitimationsstiftend eingesetzt wurde. So gründete Capanema 1937 den
nationalen Dienst des historischen und künstlerischen Erbes sowie das Nationalmuseum der
Schönen Künste. Ein eigens gegründetes Institut wurde beauftragt, eine brasilianische
Enzyklopädie zu verfassen. 1937 gründete man ein Nationales Institut des Buches (Instituto
Nacional do Livro), das bedeutende Texte brasilianischer Schriftsteller und Historiker wieder
auflegte und kanonbildend wirkte. Zu bedeutenden Elementen der Propaganda und Erziehung
gehörten der Lehrfilm und das Radio. Beim Aufbau blickte man in die USA und Richtung
Europa, um die brauchbarsten Elemente herauszufiltern. Mit dem Radio als Medium sollten
Bevölkerungsschichten erreicht werden, die im Hinterland Brasiliens lebten. 1937 wurde auch
ein nationales Filminstitut gegründet. Zu den ersten Lehrfilmen zählten ein Bericht über die
Feiern des Unabhängigkeitstages und die Entdeckung Brasiliens ("O descobrimento do
Brasil"). Der Staat wertete Kulturmanagement als öffentlichen Auftrag (vgl. Williams 2001).
22.5 Einbindung von Intellektuellen und Künstlern
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Da Gustavo Capanema überzeugter Katholik und ein Freund vieler Modernisten der
zwanziger Jahre war, band er sie und einige katholische Reformpolitiker in seine
Kulturpolitik ein. Der Schriftsteller Carlos Drummond de Andrade wurde Capanemas
Kabinettschef, der südbrasilianische Schriftsteller Augusto Meyer wurde Chef des nationalen
Buch-Institutes, der Paulista Mário de Andrade war wichtiger Kulturkonsulent, der
Komponist Heitor Villa-Lobos Konsulent für Musikerziehung, Oscar Niemeyer avancierte
zum Stararchitekten. Der Staat fungierte als wichtiger Auftraggeber für Künstler und
Intellektuelle und schuf sich ein Staatskünstlertum, das am Nationsprojekt mitwirkte. Bis zum
Beginn des Estado Novo wurden auch politisch linksorientierte Intellektuelle akzeptiert.
Capanema distanzierte sich auch von europäischen Totalitarismen oder Faschismen. Das vom
Urbanisten Lúcio Costa und dem Architekten Oscar Niemeyer 1940 errichtete Bildungs- und
Gesundheitsministerium wurde zu einem architektonischen Symbol des neuen Brasilien.
Ende der dreißiger Jahre hatte die Vargas Regierung ein großes Netzwerk von miteinander
verbundenen Institutionen gegründet, die Kultur managten: philosophische, wissenschaftliche
und literarische Produktion, Kunst, Denkmalpflege, intellektuellen Austausch, Förderung der
Massenmedien sowie geistige und körperliche Erziehung. Viele dieser Institutionen wurden in
die Organisation von Feiern, von patriotischen Gedenktagen eingebunden, die Feiern selbst
wurden wieder verfilmt bzw. über Radio kommentiert. Es gab durchaus Rivalitäten zwischen
den Ministerien und Instituten. Begriff sich das Bildungs- und Gesundheitsministerium von
Gustavo Capanema als Hort demokratischer und liberal-reformerischer Kräfte, so erwies sich
das Justizministerium, dem die Propagandabehörden unterstanden, als Zensor kultureller
Produktion (vgl. Schwartzman 1994, vgl. Williams 2001).
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22.6 Gilberto Freyre und der Mythos der "Rassendemokratie"
Der aus Recife stammende Soziologe und Historiker Gilberto Freyre (1900-1987) galt als
junger Starintellektueller der Vargas-Zeit. Im Gegensatz zu vielen anderen Söhnen der
Oberschicht hatte er seine Ausbildung nicht in Europa, sondern in den USA (Columbia
University) genossen, zudem war er Protestant. Seine Dissertation "Social Life in Brazil in the
Middle of the 19th Century" bildete die Grundlage für seine späteren soziologischen, von
seinem Lehrer Franz Boas beeinflussten, Arbeiten. 1926 gründete er in Recife den ersten
Regionalistischen Kongress, wo er ein Programm einer an die Gegebenheiten der
unterschiedlichen Regionen orientierten, brasilianischen Nationalliteratur aufstellte. Im Laufe
der dreißiger und vierziger Jahre entwarf er eine brasilianische Melting-pot-Theorie, die er
nach 1945 wenig modifizierte. In seinen Werken beschäftigte er sich mit dem lusitanischen
Erbe, den Transfers afrikanischer Kulturelemente durch die SklavInnen aus verschiedensten
afrikanischen Staaten sowie dem Kulturtransfer durch europäische und asiatische
Einwanderer. Sie hätten aus Brasilien den plurikulturellen Staat schlechthin geformt, der
besser als jeder andere Staat in Lateinamerika mit seinen Minderheiten umgehen könne. 1934
organisierte Freyre den ersten Kongress für Afrobrasilianische Studien, bei dem auch
Strategien für eine größere Akzeptanz der afrobrasilianischen Religion des Candomblé
diskutiert wurden. Die Anthropologen um Freyre brachten die Bedeutung der schwarzen
Bevölkerung in Brasilien erstmals intensiv in eine Diskussion ein. Freyres 1933 geprägter
Begriff der "ethnischen Demokratie", der egalitäre ethnische Hybridisierung vorgab, jedoch
dem typischen Muster kultureller Hierarchien entsprach, bildete einen festen Bestandteil des
offiziellen brasilianischen Selbstverständnisses, das auch erfolgreich in die USA exportiert
wurde. Der von Freyre formulierte und dem Selbstbild der Vargas-Jahre entgegenkommende
Mythos der "Rassendemokratie" wurde etwa durch Schulbücher bis in die sechziger Jahre
tradiert, die vermittelten, dass die SklavInnen in Brasilien im allgemeinen gut behandelt
worden seien und dass sie schon in Afrika in Sklaverei gelebt hätten. Der Mythos verhinderte
zudem eine kritische Auseinandersetzung mit dem Erbe der ehemaligen
Sklavenhaltergesellschaft Brasiliens, wo sich im Gegensatz zur viel rassistischer agierenden
Gesellschaft in den USA keine Bürgerrechtsbewegung etablierte. Bis heute versteht sich die
brasilianische Gesellschaft als gewaltlos und konfliktfrei (vgl. Hofbauer 1995, vgl. Freyre
1990).
22.6.1 Gilberto Freyres "Herrenhaus und Sklavenhütte"
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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Mit seinem historisch soziologischen Erstlingswerk "Herrenhaus und Sklavenhütte" ("Casa
grande e senzala" 1933) schuf Freyre eine Art "Ursprungsmythos" (Hofbauer 1995, S. 91) der
Nation. Er konzentrierte sich auf die Analyse der Haussklaverei und beschrieb euphemistisch
die Rolle der Mulattinnen als Geliebte und Kinderfrauen; die soziale und ökonomische Rolle
der Plantagensklaverei ließ er außer acht. Was "Casa grande e senzala" so bedeutend machte,
war die Abkehr von positivistischen und sozialdarwinistischen Sichtweisen hin zu einer
(idealisierten) Interpretation der Frauen afrikanischen Ursprungs. In seinen Analysen arbeitete
er stark mit Klischees und Zuschreibungen von Charaktereigenschaften für bestimmte
Ethnien. Die "Sinnlichkeit der Indianerinnen" und das "Ungestüm der portugiesischen
Herren" begünstigten für Freyre die Rassenmischung und Anpassung an die neue Umwelt. In
der Mestizierung lag für Freyre die Chance, soziale Differenzen zu überwinden.
Machtverhältnisse stellte Freyre allerdings nicht in Frage, die Sklaverei wurde als notwendig
im "großartigen Projekt" der Portugiesen in der Zivilisierung Brasiliens angesehen (vgl.
Freyre 1992, S. 244).
23 Brasilien unter Eurico Gaspar Dutra
1946 bis 1951 regierte Eurico Gaspar Dutra, Vargas' ehemaliger Kriegsminister, Brasilien,
das 1946 eine neue Verfassung erhielt - sie blieb mit häufigen Änderungen bis 1967 in Kraft.
Die Verfassung stellte Meinungsfreiheit, die individuellen Bürgerrechte und die
Gewaltenteilung wieder her. Die Amtszeit des Präsidenten wurde um ein Jahr auf 5 Jahre
ohne Wiederwahl verlängert. Die Einzelstaaten erhielten wieder ihre Autonomie. Nach dem
Zweiten Weltkrieg flauten die Beziehungen zu den USA ab, doch ökonomisch versuchten die
Vereinigten Staaten nach wie vor Brasilien als Markt für ihre in Kriegszeiten aufgeblähte
Produktionskapazität, für überschüssige Güter zu erhalten. Zum Imperativ der amerikanischen
Außenpolitik - auch gegenüber Lateinamerika - wurde die Eindämmung des Kommunismus
erklärt, dem der "American Way of Life" als vorbildliche gesellschaftliche Organisationsform
entgegenzuhalten war. 1947 wurde der Rio-Vertrag (Rio Treaty) abgeschlossen und die
panamerikanische Solidarität zu einer geeinten westlichen Front gegen den Kommunismus
umgemünzt. Ende der vierziger Jahre erlebte Brasilien eine Wirtschaftskrise und hoffte, von
den Wirtschaftsinvestitionen zu profitieren, welche die USA gegenüber Europa im MarshallPlan anwandten. Die 1950 gegründete "Joint-Brazil-United States Economic Development
Commission" arbeitete in der Folge umfassende Wirtschaftspläne für Brasilien aus.
24 Zweite Regierungszeit Vargas 1951-54
1951 kehrte Getulio Vargas als demokratisch gewählter Präsident auf die politische Bühne
zurück und versuchte wirtschaftspolitisch auch an den Estado Novo anzuknüpfen. Die
politischen Konstellationen bewirkten nicht nur eine intensive Allianz mit den USA, die
Brasilien auch für eine ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
vorschlugen. Sie machten Brasilien auch zum bevorzugtesten Staat in Lateinamerika für die
USA. Brasilien wurde der verlässlichste lateinamerikanische Verbündete der UNO, die größte
Militärmacht in Lateinamerika und blieb wichtigster Rohstofflieferant der USA. Trotz des
US-Druckes weigerte sich Vargas jedoch, an der Seite der USA in den 1950 begonnenen
Korea-Krieg (1950-1953) einzutreten. Der Staat übernahm wieder stärker planerische
Funktionen: 1952 gründete Vargas die Entwicklungsbank BNDE (Banco Nacional do
Desenvolvimento Económico), bis heute Brasiliens wichtigste Entwicklungsbank, ein Jahr
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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später die bis heute zu 51% verstaatlichte Öl-Gesellschaft Petrobrás - ein wichtiger Financier
brasilianischer Kulturpolitik (wie Filme, Architektur, Museen, Austellungen). Der Industrie
gewährte Vargas Kredite. Vargas hoffte noch immer auf die US-Investitionen. Im Jahr 1953,
als sich die Wirtschaftskrise massiv auf die Handelsbilanz und auf Investitionen auswirkte,
reisten Vargas' Tochter Alzira und Ihr Gatte Ernani do Amaral Peixoto in die USA, um die
Zahlung der versprochenen Subventionen und Kredite zu erwirken. 1953 hatte ein schwerer
Frost 40% der Kaffee-Ernte zerstört und die Preise an der New Yorker Warenbörse
hochschnellen lassen. Vargas ließ den Exportmindestpreis nun mit 10 Cent unter dem des
gehandelten Preises festsetzten, was einen Boykott der Kaffeemakler gegenüber Brasilien
auslöste; diese bevorzugten nun Kaffee der afrikanischen Staaten. Vargas' Entscheidung
erhöhte das Zahlungsbilanzdefizit Brasiliens noch mehr. In der Folge wurden
Werbekampagnen lanciert, um zum Konsum von brasilianischem Kaffee anzuregen ("Ask
your grocer for the good neighbor coffee.)" Auch gegenüber der Arbeiterschaft praktizierte
Vargas eine ähnliche Politik wie im Estado Novo, indem er sie "von oben" zu mobilisieren
versuchte. Auf die Verteuerungen der Lebenserhaltungskosten und auf Reallohneinbußen
reagierten die Arbeiter aber mit Streiks. Denn die versprochenen Minimal-Lohnerhöhungen
um 100% hatte Vargas nach Protesten der Militärs und Industriellen wieder
zurückgenommen, nach neuerlichen Protesten doch eingeführt. "Er versuchte,
Unversöhnliches zu versöhnen, die vormoderne mit der modernen Gesellschaft, die er als
Übergangsfigur beide gleichermaßen verkörperte. Sein Scheitern nahm bereits das Ende des
populistischen Paktes vorweg, den nur sein Selbstmord auf Zeit verlängern half." (Hentschke
1996, S. 571, vgl. Prutsch/Zeyringer 1997).
24.1 Mythisierung eines Populisten - Vargas' Selbstmord
Den Vorwürfen der Opposition nach aufgedeckten Korruptionsaffären, Spannungen mit der
Armee und deren Rücktrittsforderungen nach einem missglückten Attentat auf den
prominenten Vargas-Gegner Carlos Lacerda, der Vargas praktisch politisch zu Fall gebracht
hatte, entzog sich Vargas am 24. August 1954 durch Selbstmord. Er erschoss sich und
hinterließ eine begonnene Rede, die als Abschiedsbrief an die brasilianische Bevölkerung
gewertet wurde. Er beendete den an die brasilianische Bevölkerung gerichteten Text, in dem
er die internationalen Mächte anklagte, gegen sein Regime gekämpft zu haben, das soziale
Freiheit gebracht habe, mit den Sätzen: "I have given you my life. I gave you my life. Now I
offer you my death. Nothing remains. Serenely, I take my first step on the road to eternity and
I leave life to enter history." Diese Entscheidung, aus dem Leben zu gehen, passte zum
Mythos und verstärkte ihn. Vargas, der mit Inszenierungen gearbeitet hatte, inszenierte sich
nochmals. Der Selbstmord stilisierte ihn zum nationalen Märtyrer und soldatischen Kämpfer
für das Vaterland hoch. Als die Nachrichten von Vargas Selbstmord in den Zeitungen
abgedruckt wurden, stürmten aufgebrachte Brasilianer den Präsidentenpalast, andere setzten
die Verlagsgebäude der Zeitungen "O Globo" und "Diário de Notícias" in Brand. Der liberale
Demokrat Carlos Lacerda entzog sich den Attacken der Vargas-Verteidiger durch Flucht ins
Ausland. (vgl. Levine/Crocitti 1999, S. 222f.).
25 Die Regierungen Kubitschek und Goulart
Juscelino Kubitschek (1956-1961), Nachkomme einer tschechischen Einwandererfamilie,
Mitglied des Partido Democrático Social, vertrat ein ambitioniertes Fortschrittsprogramm mit
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Bau von Strassen und Kraftwerken, definierte Entwicklungsprogramme für den Nordosten,
das Armenhaus Brasiliens. Die Maßnahmen erinnerten an den kulturellen und politischen
Nationalismus der zwanziger Jahre. Sein "Neues Brasilien" sollte Selbstbewusstsein und
Modernität vermitteln, um das Attribut, ein "Schwellenland" zu sein, loszuwerden. "50 Jahre
Entwicklung sollten in fünf " zu erreichen sein. Kubitschek stützte die Industrieproduktion.
Blieb der traditionelle Sektor in den Händen einheimischer Unternehmer, so wurde die
Entwicklung des modernen Industriesektors wesentlich von Filialen ausländischer Mächte
getragen (vgl. Hentschke 1996). Die Politik der Produktionszuwächse - das
Wirtschaftswachstum war dreimal größer als in den übrigen lateinamerikanischen Staaten wurde mit der Modernisierung großer Ländereien verbunden. Um eine Landreform, eine
Politik der Reduktion von Großgrundbesitz zu umgehen, setzten Modernisierungstheoretiker
der fünfziger Jahre auf die Technisierung der Landwirtschaft, um aus den daraus
erwirtschafteten Gewinnen auch die Subsistenz treibenden und für lokale Märkte
produzierenden Bauern unterstützen zu können. 1959 gründete Kubitschek die
Regionalentwicklungsbehörde für den Nordosten Brasiliens (SUDENE). Die Krönung seiner
Entwicklungsziele bildete das Großprojekt der Hauptstadt Brasília im Hochland zwischen
Goiás und Minas Gerais auf 1060 Metern, deren Planung in der Verfassung von 1891
verankert und 1956 im Kongress diskutiert wurde. Die Investitionen von Juscelino
Kubitschek führten zwar zu steigender Wirtschaftsleistung, gleichzeitig zu einem
Schuldenberg. Die Regierungen Jânio Quadros, der nur 7 Monate im Amt blieb und João
Goulart (1961-1964), dem ehemaligen Arbeitsminister unter Vargas, versuchten die Krise mit
unpopulären Sparmassnahmen, wie Geldabwertung, Kürzung von Subventionen,
Regierungsausgaben und Steuererhöhungen zu verringern. Zudem kündigte Goulart eine
Agrarreform und politische Reformen wie das Wahlrecht für Analphabeten und die
Legalisierung von Bauernorganisationen an, gegen die sich die politisch konservativen Eliten
stellten. 1964 erreichte die Inflation mit 100% einen historischen Höhepunkt. Externe
Investoren, allen voran die USA, übten massiven Druck auf die Regierung aus, unter
anderem, weil sie private Ölfirmen verstaatlichte und gegenüber Kuba eine von den USA
unabhängige Position verteidigte. Die Streitkräfte stürzten Goulart schließlich 1964 und
übernahmen als Korporation die Macht.
25.1 Fussball, Musik und Theaterkultur
1956 fand die erste Fußballdirektübertragung im brasilianischen Fernsehen statt, sie wurde
von einer Million Menschen gesehen - Brasilien hatte damals circa 55 Millionen Einwohner und zum nationalen Ereignis hochstilisiert. 1950 hatte Brasilien das Fernsehen als erstes Land
in Lateinamerika und sechstes weltweit eingeführt - noch vor Österreich. Rüdiger Zoller
schreibt treffend, dass Radio und Fernsehen Brasilien einten, bevor es ein umfassendes
Straßennetz gab. 1958 wurde Brasilien erstmals Fußballweltmeister in Schweden. Die Spieler
Pelé, der zwei Tore schoss, und Garrincha stiegen zu Stars auf; zudem hatte man bewusst die
Mannschaft " brasilianisiert", das heißt, den Vorrang weißer Spieler relativiert.
Die demokratischen fünfziger Jahre führten zur Entwicklung eines neuen Musikstiles, der
"Bossa Nova", einer Mischung aus traditionellen Sambarhythmen und dem Spiel zwischen
Solisten und Begleitung sowie musikalischen Einflüssen des US-amerikanischen Jazz und
seiner instrumentalen Begleitung durch Klavier, Schlagzeug und Violine. Zu den großen
Vertretern der Bossa Nova zählen João Gilberto, Tom Jobim und Sérgio Mendes. In den
Satellitenstädten von Rio de Janeiro und São Paulo bildete sich die "Jovem Guarda", die eine
brasilianische Form des Rock und Roll etablierte. Ihre wichtigsten Vertreter waren Roberto
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und Erasmo Carlos, Tim Maia und Jorge Ben. Roberto Carlos, der sich in São Paulo
etablieren konnte, avancierte zu einem brasilianischen Idol, zum Plattenbestseller und
Filmschauspieler. In São Paulo betrieb die Nationale Studentenvereinigung (União Nacional
dos Estudantes, UNE) ein Kulturzentrum (Centro Popular de Cultura) mit einer
Theatergruppe. Die Studentenvereinigung sollte im Widerstand gegen die Militärdiktatur eine
wichtige Rolle spielen. Zu den Autoren der Theatergruppe zählte Augusto Boal, der während
der Militärdiktatur ins Exil fliehen mußte. Die US-Kulturpolitik der vierziger Jahre mit ihren
Investitionen in Kinotechnik sowie europäische Spezialisten verhalfen dem brasilianischen
Kino der fünfziger Jahre zu Aufschwung. Das Cinema Novo brachte Regisseure wie Gláuber
Rocha hervor. Sein Film "Terra em Transe" gewann 1967 einen Preis auf dem Filmfestival
von Cannes. Theaterautoren wie Nelson Rodrigues, die bürgerliche Doppelmoral entlarvten,
wurden international bekannt.
25.2 Afrobrasilianische Kulturen und Studien
Im Jahr 1948 wurde von Hafenarbeitern aus Salvador de Bahia die Karnevalsgesellschaft
"Söhne von Gandhi" (filhos de Gandhi) als eine der ältesten Karnevalsgesellschaften (=
Afoxé, auch ein Rhythmusinstrument) gegründet. Sie zählt heute 9000 Mitglieder. Die
westafrikanische Religion des Candomblé als Form von "kulturellem Widerstand" konnte sich
erstmals freier entfalten. Zwar war er in den vierziger Jahren bereits toleriert worden, seine
Anhänger bekannten sich jedoch offiziell zum Katholizismus. In den fünfziger Jahren
etablierten sich zudem die Sambaschulen. Deren Präsidenten übten oftmals gleichzeitig die
Kontrolle über das 1946 verbotene und beliebte Glücksspiel "Jogo do Bicho" aus und spielten
im Drogenhandel wichtige Rollen. Die Samba-Schulen in den Favelas (Armutsvierteln)
wurden in ein kriminelles Umfeld verstrickt. Der Karneval, eine wichtige Möglichkeit der
Demonstration sozialen Zusammengehörigkeitsgefühls, wurde nun systematisch vermarktet
und subventioniert (vgl. Hofbauer 1995).
1951 gab die brasilianische Regierung eine englischsprachige Broschüre heraus, die die
friedlichen interethnischen Beziehungen im Vergleich zu den USA, die eine Politik der
Apartheid betrieben, hervorhob. Im selben Jahr verbot das erste brasilianische
Antidiskriminierungsgesetz von Afonso Arinos die Diskriminierung der schwarzen
Bevölkerung, nachdem ein brasilianisches Hotel einer afro-amerikanischen Sängerin die
Beherbergung verweigert hatte. Die Bevorzugung "weißer" Arbeitskräfte wurde etwa durch
Inserate kaschiert, die "Personen mit gutem äußeren Erscheinen" suchten (Hofbauer 1995, S.
97). In den fünfziger Jahren führte der ehemalige französische Emigrant und Anthropologe
Roger Bastide mit seinem brasilianischen Kollegen Florestán Fernandes im brasilianischen
Industriezentrum von São Paulo eine UNESCO-Studie über die Integration von schwarzen
Brasilianern in verschiedene Bereiche sozialen Lebens durch. Für die UNESCO war Brasilien
als Modell für eine andere Beziehung zwischen Ethnien als etwa in den USA besonders
interessant, sie regte deshalb Studien über interethnische Beziehungen an. Die Soziologen Fernandes begründete die "Escola Paulista de Sociologia" - bewiesen durch ihre Arbeiten,
dass Hautfarbe sehr wohl ein wesentlicher ideologischer Faktor zur Absicherung alter
Machttverhältnisse sei, ebenso wurde die historische Kontinuität von Rassismus deutlich;
Vorurteile seien im kapitalistischen System jedoch neu definiert worden (vgl. Ianni 1988, S.
159-175). Auch der bedeutende brasilianische Anthropologe Arthur Ramos wies in einer, von
der UNESCO finanzierten Studie nach, dass dunklere Haut einen niedrigeren sozialen Status
bedeute, auch wenn die "Rassen"segregation in Brasilien nie US-amerikanische Ausmaße
erreichte. Die Studie brachte erstmals soziologisch geprägte Interpretationsweisen zum
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Durchbruch und stellte Freyres harmonisierenden Mythos der Rassendemokratie" in Frage.
Florestán Fernandes brachte die fehlende Bewältigung des historischen Erbes auf den Punkt:
"In Brasilien herrscht das Vorurteil, daß es kein (Rassen-) Vorurteil gibt" (Hofbauer 1995, S.
95, vgl. Levine 1997, S. 18f.) Die US-amerikanische "Black-Power-Bewegung" der
sechziger Jahre wurde durch brasilianische Sportler und Musiker auch nach Brasilien
transportiert.
25.3 Der Bau von Brasília
Brasília verkörperte den Traum des modernen, urbanen Brasiliens. Die Konstruktion der
neuen Hauptstadt im Grenzgebiet zwischen Goiás und Minas Gerais durch den Urbanisten
Lúcio Costa und den Stararchitekten Oscar Niemeyer hatte zunächst einheimischen Firmen
Grossaufträge beschert. Der Grundriss, der sich über städtebauliche Regeln hinwegsetzte,
gleicht einem Flugzeug, dessen Rumpf eine fünf Meter lange Monumentalachse bildet. Sie
mündet in den Platz der drei Gewalten (Praça dos Tres Poderes) - er vereinigt Parlament,
Präsidentenpalast und das Oberste Gericht. Die Ministerien und Verwaltungsgebäude wurden
von den Wohnbereichen strikt getrennt angelegt. Die Siedlungen der durch den Bau
hinzugezogenen Arbeiter wuchsen rasch zu ärmlichen Satellitenstädten heran. Das
Entwicklungskonzept, durch die neue Hauptstadt das dünn besiedelte Hochland ökonomisch
attraktiver zu machen, funktionierte nicht, da internationale Firmen die strategisch besser
gelegenen urbanen Zentren an den Küsten vorzogen. 1960, im Jahr der Einweihung,
symbolisierte der Platz der drei Gewalten ein neues, selbstbewusstes und demokratisches
Brasilien, dessen Verfassung vier Jahre später durch die einsetzende Militärdiktatur wieder
abgeändert wurde.
26 Die Militärdiktatur 1964-1985
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Die seit 1963 von den Militärs diskutierten Pläne der Entmachtung von João Goulart aufgrund
seines "zu linksgerichteten und populistischen politischen Stils" wurden am 1. April 1964
realisiert. Das Militär übernahm für 21 Jahre die Macht. Der Putsch wurde zwar von den USA
unterstützt; US-Präsident Jimmy Carter prangerte allerdings Mitte der siebziger Jahre die
Menschenrechtsverletzungen in Brasilien heftig an.
Da Regimewechsel in Brasilien (1889, 1930, 1945) meist ohne blutige Konflikte, sondern
durch Gesetzesnotstände vor sich gingen, mit denen neue Regierungen gerechtfertigt wurden,
wird in Brasilien der "Mythos der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Gewaltlosigkeit" bis
heute weitertradiert. Mit dem Machtwechsel von 1964, der zunächst erstmals von einer
breiteren Bevölkerungsschicht befürwortet worden war, entfaltete sich die institutionalisierte
Gewalt (violencia institucional) in Brasilien in besonderem Maße; staatlicher Terrorismus, die
Verfolgung Oppositioneller nahmen rapid zu. Mit der Unterzeichnung des Ersten
Institutionellen Aktes (AI-1) am 9. April 1964, der die Verfassung veränderte und
einschränkte, die parlamentarische Immunität aufhob und Abgeordnetenmandate auf Bundes-,
Staats-, und Kommunalebene einziehen konnte, wurden die neuen politischen Spielregeln
festgelegt. Am 11. April wurde Humberto de Alencar Castelo Branco (1964-1967) zum ersten
Präsidenten der Militärdiktatur gewählt.
Die Diktaturen der Militärs Humberto de Alencar Castelo Branco (1964-1967), Artur da
Costa e Silva (1967- 1969), Márcio de Souza e Mello (1969), Emílio Garrastazu Médici
(1969-1974), Ernesto Geisel (1974-1979) und João Baptista Figueiredo (1979-1985) bauten
auf dem Administrationsapparat der Vargas-Regierungen auf und etablierten eine neue
Generation von regimeabhängigen Technokraten und Bürokraten. Die Jahre demokratischer
Erfahrungen in Brasilien waren zudem kurz. Vom Tenentismo der dreißiger Jahre hin zur
Militärdiktatur bestand eine Kontinuität in ideologischer Hinsicht: der Zeitabschnitt von 1964
bis 1985 ist von einer Politik des militärischen Selbstverständnisses als Ordnungsmacht und
als Elite geprägt. Der Ex-Tenente Juárez Távora rechtfertigte den Putsch von 1964 mit den
Worten: "1930 verhielten wir uns zurückhaltend, indem wir nicht die direkte Kontrolle der
Regierung übernahmen. Wir planten, Zivilisten an die Regierung zu bringen und sie zu
beeinflussen. Es war eine Illusion." (Hentschke 1996, S. 584f.). 1964 wollten die Militärs die
Regierung dominieren. Ihre Vertreter kamen aus der 1949 gegründeten Obersten Kriegsschule
(Escola Superior de Guerra). Sie verbanden einen tradierten militärischen Wertekanon mit
Fortschrittsgläubigkeit, progressive Konzepte mit einem messianischen Sendungsbewusstsein,
die nur durch die Gewährleistung der "inneren Sicherheit" und der Ausschaltung politischer
Widerstände wie potentieller kommunistischer Verschwörungen durchführbar seien. Den
Kommunismus, der seit dem Sieg der kubanischen Revolution von 1959 als besonders
virulent angenommen wurde, erklärten die Militärs zum Hauptfeind und Verantwortlichen
eines "revolutionären, subversiven Krieges" gegen die innere und äußere Sicherheit. Die USA
waren in den ersten Jahren der Militärdiktatur ein verlässlicher Verbündeter gegen die
"kommunistische Bedrohung". 1965 brach Brasilien die Beziehungen zu Kuba ab. Für die
elitäre Führungsgruppe von Techno- und Bürokraten, Unternehmern und Militärs blieb der
Hauptteil der brasilianischen Bevölkerung eine weit entfernte, wenig greifbare Realität, ein
potentieller Hort von Subversion und Opposition.
26.1 Gewalt, Terror, Verlust von Bürgerrechten
Einige Tage nach der Machtübernahme rollte bereits eine Welle der Gewalt durch das Land:
cirka 50 000 Oppositionelle bzw. Verdächtige, unter ihnen Gewerkschaftsführer,
oppositionelle Politiker, Führer katholischer und kommunistischer Organisationen,
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studentischer Gruppen wurden bis 1979 interniert, 300 fanden den Tod; zahlreiche gingen ins
Exil. Über 9000 Staatsbedienstete und Offiziere wurden entlassen, hochrangige Politiker ihrer
politischen Rechte beraubt. Oscar Niemeyer, bis heute erklärter Kommunist, ging ebenfalls
seiner politischen Rechte verlustig. Terror und Gewalt waren ein zentraler Bestandteil der
Regime bis 1985 und erlebten ihre Höhepunkte zwischen 1969 und 1973. Namenslisten von
Verschwundenen veröffentlichte die Erzdiözese von São Paulo in ihrer Bestandsaufnahme der
Menschenrechtsverletzungen ab 1964 in der Publikation "Brasilien: Niemals wieder" ("Brasil:
nunca mais"). Mehr als die Hälfte der Ermordeten waren StudentInnen oder Schüler der (zum
überwiegenden Teil weißen) Mittelschicht. Nach den ersten Phasen der Gewalt und
ökonomischen Fehlschlägen polarisierten die Militärs mit der Einführung des Zweiten
Institutionellen Aktes (AI-2) vom Oktober 1965 die politische Landschaft. Sie schufen ein
Zweiparteienwesen "von oben", um Einflüsse familiärer lokaler Interessen auf die politischen
Parteien auszuschließen. Dem Lager der bedingungslosen Unterstützer des Regimes (die
Regierungspartei), die durch Ämter und Gelder belohnt wurden, stand das oppositionelle
demokratische Lager (Movimento Democrático Nacional, MDP) gegenüber. Der Zweite
Institutionelle Akt AI-2 ermöglichte die völlige Einschränkung persönlicher Freiheit und die
Ausrufung des Belagerungszustandes ohne Zustimmung des Kongresses. Die
Regierungspartei der Aliança Renovadora Nacional (Arena), die sich aus ehemaligen
Mitgliedern der Parteien União Nacional Democrática und Partido Social Democrático
zusammensetzte, bildete die Machtzentrale. Die Präsidenten gingen jeweils aus einem kleinen
Kreis der militärischen Elite hervor, da die Direktwahl des Präsidenten mit dem Ersten
Institutionellen Akt vom 9. April 1964 außer Kraft gesetzt worden war. In den Jahren 1968
bis 1973 erlebte Brasilien die härteste Phase der Diktatur mit weiteren Säuberungswellen. Der
im Dezember 1968 beschlossene unbefristete Fünfte Institutionelle Akt (AI-5) ermöglichte
dem Präsidenten Costa e Silva die bislang größte Machtkonzentration, indem er über Teile der
Legislative verfügte. Er konnte Richter absetzen, die politischen Rechte jedes Staatsbürgers
für die Dauer von zehn Jahren aussetzen und Disziplinarverfahren anhängen. Die Verfassung
wurde aufgehoben; künstlerische, kulturelle Entfaltungsmöglichkeiten waren mit dem AI-5
massiv eingeschränkt (vgl. Caldeira 1999).
26.2 Geheimdienste und paramilitärische Gruppen
1964 wurde der zentrale militärische Geheimdienst (Serviço de Segurança Nacional, SNI)
gegründet, dem Präsidenten unterstellt und als "Hilfsmittel zur effizienteren Ausübung der
exekutiven Gewalt" in das Gesamtkonzept der "Doktrin der Nationalen Sicherheit und
Entwicklung" gestellt, das bereits in der 1949 gegründeten Eliteschule des Militärs (ESG)
erarbeitet worden war. Der SNI übernahm Nachrichtenbeschaffung und Gegenspionage. Zwei
Leiter des SNI, João Batista Figueiredo und Emilio Médici, wurden zu Präsidenten Brasiliens
gewählt. Heer, Marine und Luftwaffe entwickelten ihre eigenen Geheimdienste, auch die
Abteilungen des SNI arbeiteten bis Ende der sechziger Jahre für sich. Jeder Bürger konnte ein
potentieller Spitzel eines Nachrichtendienstes sein. Mit der Eskalation der politischen Gewalt
im Jahr 1968 erfolgten der Ausbau der Sicherheitsdienste und erhebliche Verschärfungen in
der Gesetzgebung. Der Versammlungs- und Pressefreiheit wurde ein Ende gesetzt. Die
Institutionellen Akte 14 und 15 gaben 1969 die Todesstrafe frei. 1969 und 1970 wurde ein
Flugblatt verteilt, auf dem auf einer Seite die Nationalhymne abgedruckt war, auf der
Rückseite ein Sicherheitskatalog mit 10 Hinweisen zur Denunziation auffälliger Mitbürger
und Mitbürgerinnen. Seit 1971 konnten Inhaftierungen vorgenommen werden, ohne dass der
Betroffene die Gründe seiner Verhaftung erfuhr. Zivile Polizeiformationen - wie die DOPS
(später DEOPS, Abteilung für politische und soziale Ordnung) - wurden aufgebaut, genossen
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weite Autonomien, bewegten sich zum Teil in der Illegalität, kämpften gegeneinander und
zettelten Verschwörungen an, um ihre Vorgangsweise gegen "Subversion" und
Demokratisierungstendenzen zu legitimieren. Die 1969 gegründete paramilitärische
Formation von Sao Paulo nannte sich Operação Bandeirantes (Oban) und entlehnte ihren
Namen von den Paulistaner Sklavenjägern des 17. Jahrhunderts. Ihre Finanzierung erfolgte
auch durch internationale Unternehmen wie Ford und General Motors. Neben militärischen
und zivilen Polizeiorganisationen agierten rechtsradikale Untergrundorganisationen. Zu
Beginn der siebziger Jahre waren über 70 Organisationen der Geheimdienste im Einsatz. Um
Folterungen zu verschleiern, legten die Geheimdienste ihre Opfer nicht selten auf die Strasse,
um Schiessereien und einen Tod im Kampf vorzutäuschen (vgl German 1991, vgl. Caldeira
1999).
26.3 Die Wirtschafts- und Technologiestrategien der Militärdiktatur
Die Militärdiktatur rühmte sich ihrer Wirtschaftskompetenz aufgrund der industriellen
Produktionskapazität. In den ersten beiden Regierungsjahren wurde durch eine Kombination
von Ausgabenkürzung und Steuererhöhung das Haushaltsdefizit verringert, die Mindestlöhne
sowie viele Preise waren durch eine automatische, periodische Indexierung angepasst, um den
Brasilianern das Leben mit der Inflation zu erleichtern. Während der Regierung Costa e Silva
vollzog sich ein Wechsel zu einer expansiveren Wirtschaftspolitik durch Grossaufträge, die
sich rasch in höheren Wachstumsraten niederschlug. Das auch im Ausland rezipierte und als
Modellfall in der Entwicklungspolitik diskutierte brasilianische Wirtschaftswunder der Jahre
1969 bis 1973 (Milagre brasileiro) resultierte aus der engen Verquickung zwischen dem Staat
als Hauptauftraggeber, Unternehmer und Investor in oftmals überdimensionierte Projekte und
den von ihm abhängigen staatlichen und privaten Unternehmen, die langfristige und günstige
Kredite, Subventionen und Aufträge erhielten. Damit führten die Militärs die unter Getúlio
Vargas begonnene staatsinterventionistische Wirtschaftspolitik fort. Die Zuwendungen an
abhängige Betriebe waren wiederum nur durch Auslandsanleihen finanzierbar, die zu höherer
Verschuldung führten. Die Bereiche Telekommunikation, Agro-Industrie, Bauunternehmen,
Chemie-, Stahl- und Autoindustrie sowie die Herstellung von Haushaltsgeräten profitierten
besonders von Investitionen. 1970 hatte die Wirtschaft ein Wachstum von 8,3 %, 1973 sogar
von 14% zu verzeichnen. Parallel zum Wachstum stieg die Auslandsverschuldung. Betrug sie
1970 noch 5,2 Milliarden US-Dollar, so waren die Schulden im Jahr 1979 auf 49,9 Milliarden
Dollar gestiegen. Seit 1968 stiegen die Importe von Maschinen und Konsumgütern;
Agrargüter machten allerdings noch immer einen Grossteil der Exporte aus. Brasilien begann
ab Mitte der sechziger Jahre mit dem massiven Anbau von Soja und produzierte intensiviert
Orangensaft für den Export. Das in überdimensionierte Projekte im Rahmen der "Nationalen
Integration", eine Freihandelszone in Manaus, Industrieanlagen im Amazonasgebiet,
Staudämme (Itaipú in Südbrasilien) für die Energiegewinnung, sowie für die Ausweitung des
Beamtenapparates geflossene Geld fehlte im Sozial- und Bildungsbereich. Ebenso errichteten
die Militärs die Raketenbasis Alcântara in Maranhão, die aufgrund ihrer Äquator-nahen Lage
als weltweit beste geschätzt wird, da die Raketen auf eine ideale Umlaufbahn gebracht
werden können. Die USA haben massives Interesse daran, die Basis ab dem Jahr 2003 zu
mieten.
Die Erdölkrise von 1973 und die rapide Preissteigerung bewirkten eine Reduktion der
brasilianischen Erdölförderung - und damit Einkommensverluste.
Auch Brasilien investierte in die Entwicklung alternativer Brennstoffe und produzierte
Alkohol aus Zuckerrohr (Proálcool) durch die Petrobrás. 1988 fuhren 80% der neu gefertigten
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Autos mit Alkohol. Heute sind ca 10% der Autos in Brasilien mit Alkohol betrieben. Der
Prozentsatz schwankt, weil bei erhöhten Zuckerpreisen die Plantagenbesitzer den Zucker
wegen besserer Erträge lieber an die Spirituosenerzeugung abliefern, als an die
Treibstofferzeuger.
26.3.1 Kernenergie und Rüstungspolitik
Der 1974 gewählte Präsident Ernesto Geisel, ein ehemaliger Manager von Petrobrás,
investierte in friedliche und militärische Nutzung der Kernenergie, um seinen Traum der
starken Militärmacht Brasilien, die führend in der Produktion nuklearer Waffen werde, als
Teil der nationalen Entwicklungsstrategie zu verwirklichen. Nachdem die USA wenig
Kooperationsbereitschaft für technische Zusammenarbeit und Beratung gezeigt hatten,
schloss Brasilien mit Deutschland 1975 ein Abkommen für die friedliche Nutzung von
Atomkraft, das ihm das technisches Know How für den Bau eines Kernkraftwerkes sowie
Uran versprach. Kernenergie bedeutete zudem nach der Erdölkrise von 1973 eine alternative
Energieform zu Erdöl. Von den angestrebten drei Kernkraftwerken ist eines noch im Bau (in
Angra dos Reis). Die Kosten stiegen auf astronomische 13 Milliarden Dollar und brachten
nicht die angestrebte Energieleistung. Die Militärs investierten in Programme zur Herstellung
von Atomwaffen und experimentierten damit. Heute betont Brasilien, keine Atomwaffen zu
besitzen. Den Atomwaffensperrvertrag von 1968 für eine atomwaffenfreie Zone in
Lateinamerika ratifizierte Brasilien nicht, erst 1994 wurde der Vertrag von Tlatelolco zur
Ächtung von Atomwaffen in Lateinamerika unterzeichnet, seit 1996 ist Brasilien Mitglied der
Nuclear Suppliers Group (NSG). Auch der weltmachtpolitische Gesichtspunkt und die
traditionelle Konkurrenz zu Argentinien spielte in der Aufrüstungsfrage eine wichtige Rolle.
Brasilien exportierte Kriegsgerät in den siebziger Jahren für den libysch-ägyptischen
Grenzkrieg und ab 1980 für den Golfkrieg. Die Atompolitik Brasiliens, die zur Abwendung
von den USA und zur Hinwendung zu Deutschland führte, ist ein gutes Beispiel für eine
aktive
Außenpolitik.
Als
der
US-Präsident
Jimmy
Carter
1977
die
Menschenrechtsverletzungen in Brasilien anklagte, kündigte Brasilien das während der
zweiten Regierungsperiode von Getúlio Vargas im Jahr 1952 unterzeichnete
Militärabkommen.
26.4 Land ohne Menschen für Menschen ohne Land
1970 begann die Regierung Médici mit der Konstruktion der Transamazônica-Strasse, um den
"leeren Raum" Amazonas zu erobern und damit eine Landreform zu umgehen. Die geplante
5000 km lange Trasse quer durch Brasilien (von Westen nach Osten), die das
Amazonasgebiet als Besiedlungsmöglichkeit attraktiver gestalten sollte, wurde nie ganz
fertiggestellt und war auch nie zur Gänze befahrbar; in den achtziger Jahren war die BR - 364
zum Teil vom Regenwald überwachsen. Circa 1200 km asphaltierte Straße im südlichen Teil
Amazoniens blieb befahrbar und ist auf Satellitenaufnahmen als Schnitt durch den Amazonas
deutlich erkennbar. Der Straßenbau leitete eine massive, staatlich gelenkte Binnenmigration
ein.
Die "Eroberung" großer Regenwaldgebiete durch MigrantInnen, durch oftmals illegale
Diamanten- und Goldsucher (garimpeiros), durch Kleinbauern und Viehfazendeiros
beschleunigte die Reduktion des Waldbestandes. 80% des abgeholzten Gebietes im Staat
Rondônia erfolgten nach dem Bau der Transamazônica. Das parallel zum Straßenprojekt
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formulierte Wachstumspol-Programm (Polamazonia) richtete die ökonomischen Interessen
auf die territoriale Aufteilung der Peripherie und führte zur Errichtung zahlreicher
Rinderfarmen und zur Landspekulation. Die Produktion von Holzkohle, der Bergbau, die
Energiegewinnung durch hydroelektrische Großkraftwerke sind zusätzlich für die
Dezimierung des tropischen Baumbestandes verantwortlich. Die Einwohnerschaft des Staates
Rondônia stieg seit den siebziger Jahren von 100 000 auf 1, 5 Millionen Menschen. Der Staat,
dessen Namen auf Cândido Rondon, Begründer der Indianerschutzbehörde zurückgeht, greift
- obwohl viele Kleinbauern aufgrund der geringen landwirtschaftlichen Eignung des Gebietes
abwanderten -, mittels illegaler Rodungen weiterhin in das fragile Ökosystem ein und
gefährdet die Lebensgrundlage von indigenen Stämmen. Von den cirka 1500 Stämmen, die in
Amazonien vor 500 Jahren lebten, sind heute noch über 200 (z.B. tukanos, suruí, EnaweneNawé etc.) existent. In den durch die Transamazônica erschlossenen Gebieten spielen sich
Konflikte zwischen Kleinbauern, nationalen und internationalen Unternehmen der
Holzextraktion, den Sojaproduzenten und Viehfazenden ab.
1970 unterstützten die USA Brasilien technisch bei dem Projekt RADAM (Radar na
Amazônica), das Radaraufnahmen im Amazonasgebiet im Umkreis der TransamazônicaStrasse machte. Brasilianer wie US-Amerikaner erhielten ausgezeichnete Informationen über
Ressourcen im Amazonasgebiet. Das Programm RADAM wurde 1985 eingestellt.
26.5 Fussball und Karneval als Elemente der Identität
Da die Diktatur durch Repression und Gewalt, elitäre Politik und verfehlte
Wirtschaftsprogramme wenig Identifikationsmöglichkeiten zu bieten hatte, das kulturelle
Leben durch Exilierungen und Zensur eingeschränkt war, bot sich Fußball als zentrales
identifikatorisches Element an. 1970, im Jahr der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko,
verbuchte die Militärdiktatur von Médici einen politischen Erfolg, da sie im wiedereröffneten
Parlament nach manipulierten Wahlen die Mehrheit bekam. Das Fußballteam, das nach
modernsten psychologischen Methoden trainiert wurde, mußte sich von der Diktatur
vereinnahmen lassen: es sollte Brasilien nun ins Zentrum der Weltöffentlichkeit lenken und
Imageverbesserung garantieren. Eine Parallele bietet die Weltmeisterschaft von 1978 in der
Hauptstadt des diktatorischen Argentinien, in Buenos Aires. Die Phase der Vorbereitung, die
Investitionen des brasilianischen Militärs in Medientechnik, um die Spiele via Satellit und in
Farbe zu übertragen, machen die Verquickung zwischen Politik, Sport und Medien deutlich.
1970 verfügten bereits über 40% der brasilianischen Haushalte über einen Fernsehapparat.
Mit Pelé, dem Star des Fußballteams, wurde Brasilien nach dem gewonnen Endspiel gegen
Italien zum dritten Mal Weltmeister. Der Empfang des siegreichen Teams in der Hauptstadt
Brasília wurde zum medialen Ereignis.
Im Jahr 1965 produzierte die Sambaschule Salgueiro ihre erste Langspielplatte. Der Karneval,
für den die ersten Tribünen und 1983 schließlich ein eigenes Stadion in Rio de Janeiro (das
sambódromo) errichtet wurden, avancierte zu einem großen medialen und touristischen
Geschäft.
26.6 Aussenpolitik in der Militärdiktatur
Während der gesamten Phase der Militärdiktatur lag die Außenpolitik in Händen von
Zivilisten. In der brasilianischen Außenpolitik gab es immer wieder markante Kurswechsel.
1964 begann eine Phase der "speziellen außenpolitischen Allianz" mit den USA in der
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gemeinsamen Bekämpfung des Terrorismus. Der brasilianische Botschafter in Washington,
Juracy Magalhães, prägte den Ausdruck, was gut für die USA sei, sei auch gut für Brasilien.
Ende der sechziger Jahre konzentrierte sich Brasilien auf das große nationale Projekt einer
aufsteigenden Weltmacht, die sich in die "entwickelte" Welt integriere. 1969 unterzeichneten
die Militärs den La-Plata-Becken-Vertrag, einen Vorläufer des 1991 unterzeichneten
Wirtschaftsbündnisses der Mercosur/Mercosul-Verträge in Asunción zwischen Brasilien,
Argentinien, Paraguay und Uruguay. Die Beziehung mit den USA wurde - wie
propagandistisch zu Vargas' Zeiten - als eine Freundschaft unter gleichen gewertet. Ernesto
Geisel hingegen kritisierte die imperialistischen Attitüden der USA und demonstrierte das
brasilianische Interesse Mitte der siebziger Jahre, eine Führungsposition in der "Dritten Welt"
zu spielen. Nachdem US-Präsident Jimmy Carter die Menschenrechtsverletzungen in
Brasilien angeklagt hatte, kündigten die Militärs im Jahr 1977 das seit 1952 (während der
zweiten Regierungszeit von Vargas beschlossene) bestehende Militärabkommen. 1978
unterzeichnete Brasilien mit Bolivien, Ecuador, Guayana, Kolumbien, Peru, Surinam und
Venezuela einen Kooperationsvertrag über den Amazonas, um etwaige US-Interessen zu
unterbinden. Gegenüber dem ehemaligen Mutterland Portugal behielt Brasilien die gute
Beziehungen bei, gewährte Politikern nach dem Übergang von der Diktatur zur Demokratie
Asyl, unterstützte dann aber die Unabhängigkeitsbestrebungen der portugiesischen Kolonie
Angola, die 1975 unabhängig wurde. Während des Falkland-Krieges im Jahr 1982 zwischen
Argentinien und Großbritannien positionierten sich die USA an der Seite des Nato-Partners
Großbritannien. Brasilien unterstützte Argentinien und warb nun für eine atomwaffenfreie
Zone im Südatlantik. Anfang der achtziger Jahre kritisierte Brasilien bereits die USamerikanische Kuba-Politik und verweigerte sich den Wünschen der USA bei der Kontrolle
des Drogenhandels. Brasiliens Außenpolitik ist ein Beispiel für dessen Machtposition in
Lateinamerika. Brasilien ließ sich in seiner Außenpolitik nie von den USA lenken
beziehungsweise instrumentalisieren, die es als Großmacht in Lateinamerika respektierten,
auch, indem sie stets Konfrontationen vermieden. Brasilien betrieb auch nie eine dezidiert
anti-US-amerikanische Außenpolitik. Bis heute stehen die USA als Handelpartner und
Kreditgeber an erster Stelle, gefolgt von Deutschland (seit dem Nuklearvertrag von 1975).
26.7 Sozial- und Bildungspolitik
Das auf die Zusammenarbeit mit einer Wirtschaftselite zugeschnittene monolithische Konzept
der Militärdiktatur vernachlässigte den Hauptteil der brasilianischen Bevölkerung wie
Angestellte und Arbeiter, die einen bedeutenden Anteil der Steuerleistung erbrachten. Es
verbesserte kaum die Situation der Bauern und Landarbeiter. Die Regierungen strebten die
Gewinnung neuen Landes im Amazonasgebiet an, um einer Agrarreform und damit
Konfrontationen mit den Agrareliten als wichtigen Trägern des Regimes auszuweichen. Eben
so wenig integrierte die Militärdiktatur die pauperisierten Migranten in den Großstädten,
obwohl sie mit den Versprechen, eine radikale Verbesserung bestehender sozialer
Gegebenheiten zu garantieren, die Herrschaft angetreten waren. Die soziale Problematik war
für die Militärs nicht durch Umverteilung, sondern über den Weg der Erschließung neuer
Ressourcen lösbar. Die Bekämpfung materieller Notstände trat zudem hinter die Bekämpfung
der "Subversion" zurück.1970 überwog erstmals der Prozentsatz der urbanen Bevölkerung:
56% der Brasilianer lebten in Städten.
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Seit 1964 wurden mehrere Stadtplanungsprojekte initiiert, die als zentralisiertes Machtmittel
ebenfalls eine Legitimationsfunktion für die Regierungen fungierten und Experimentierfelder
technokratischer Träume waren. Entpolitisierte Experten wurden eingestellt. U-Bahnbauten,
großangelegte Straßenzüge wie die Avenida Paulista im Zentrum der Metropole São Paulo,
sich überkreuzende Stadtbahnen, Hochhäuser und Einkaufsmärkte veränderten das Stadtbild,
öffentliche Räume wurden reduziert.(vgl. ILA, Juli 2001, vgl. Novy 2001). Städtische Armut,
Kriminalität und Drogenhandel stiegen seit den siebziger Jahren kontinuierlich. Der Anteil
der bäuerlichen Bevölkerung ging auf 47% zurück. Allerdings startete man
Alphabetisierungskampagnen auf dem Land.
26.8 Fernando Henrique Cardoso als Dependenztheoretiker
Der von 1964 bis 1968 im chilenischen Exil lebende und bei der CEPAL arbeitende
brasilianische Soziologe und Politikwissenschafter Fernando Henrique Cardoso
veröffentlichte mit Enzo Faletto 1969 eines der ersten Bücher zur Dependenztheorie, das die
entwicklungspolitische Diskussion der siebziger Jahre mitprägte: "Abhängigkeit und
Entwicklung in Lateinamerika" (dt. Frankfurt am Main 1976). Cardoso hatte in den fünfziger
Jahren seine Dissertation über "Sklaverei und Kapitalismus im südlichen Brasilien" verfasst.
1968 kam er nach Brasilien zurück, erhielt einen Lehrstuhl an der Universität von São Paulo
und gründete 1969 das Forschungsinstitut Centro Brasileiro de Análise e Planejamento
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(Cebrap), ein bis heute bedeutendes Zentrum zur Analyse und Planung sowie Sammelpunkt
kritischer Intellektueller, das auch von Organisationen wie der Ford-Foundation gestützt
wurde.
Sein mit dem chilenischen Soziologen Enzo Faletto verfasstes Buch gilt als eines der
komplexesten zur Dependenztheorie, die in den siebziger Jahren als kritischer, auch von
marxistischen Theorien beeinflusster Ansatz zu Modernisierungstheorien Bedeutung erlangte.
Die Dependenztheorie stellte Entwicklungsoptimismus in Frage. Cardoso und Faletto
untersuchten die durch die Einbindung lateinamerikanischer Staaten in kapitalistische
Prozesse hervorgerufenen strukturellen Abhängigkeiten (der Zentrum-Peripherie-Diskurs der
Weltsystemtheorie fließt hier ein). Den Entwicklungsbegriff reduzieren Cardoso und Faletto
nicht auf ökonomische Komponenten, sondern stellen den politischen Charakter von
Transformationsprozessen in den Vordergrund. Zudem wehren sie sich gegen Dichotomien,
dass Entwicklung immer die Moderne und Unterentwicklung die Traditionen bedeute. Auch
Entwicklung und Abhängigkeit stellen für Cardoso keinen Widerspruch dar.
Entwicklungsdefizite sind für Cardoso ein Resultat eines komplexen Systems, dass großteils
von externen Faktoren (Bindung an den Weltmarkt), aber auch von internen Faktoren abhängt
(von Interessensbündnissen heimischer Gruppen, die auch nach außen - durch wirtschaftliche
Verflechtungen - über gute Netzwerke verfügen). Dies lässt sich eben sehr gut am Beispiel
der Wirtschaftspolitik der brasilianischen Militärs darstellen. Durch starke Berücksichtigung
interner historischer und soziopolitischer Faktoren erweist sich Cardosos Ansatz als eine sehr
plurikausale Argumentation.
26.9 Die Schuldenkrise von 1982
1982 erreicht die internationale Verschuldungskrise, die auch zum Kollaps der mexikanischen
Währung führte, in Brasilien ebenfalls dramatische Ausmaße (sie betrug 70 Milliarden Dollar
und zwei Jahre später 91 Milliarden Dollar): Inflation und Arbeitslosigkeit stiegen, die Löhne
sanken, die Einkommensschere weitete sich beträchtlich.
Brasilien erhöhte die Exporte und schränkte die Importe ein. Trotzdem griff nun der
Internationale Währungsfonds ein und verlangte eine Änderung der protektionistischen,
autoritären und paternalistischen Wirtschaftsstrategie, die Entstaatlichung der Wirtschaft und
die Adaptierung der brasilianischen Wirtschaft an globale Strategien. Die Rechnung der
Militärs, große staatliche Entwicklungsprojekte würden das Land reformieren, die Wirtschaft
florieren lassen und die Unpopularität des Regimes übertünchen, gingen aufgrund der
Überdimensioniertheit, der politischen und unternehmerischen Verflechtungen und
Korruption nicht auf. 1983 war der Staat nicht mehr in der Lage, beschäftigungslosen
Arbeitern Unterstützungen zu zahlen, da die dafür budgetierten Gelder für Administration
aufgewendet wurden. Ebenso bediente sich der Staat der Einkünfte der
Pensionsversicherungsfonds. 1983 hatten 50% der Bevölkerung einen Anteil von 12,2% des
Inlandskapitals. Ebenso erhöhte sich der Anteil der Kapitalflucht enorm. Zwischen 1976 und
1985 wurden circa 10 Billionen Dollar legal außer Landes transferiert. Unter dem letzten
Militärdiktator Joao Baptista Figueiredo brachen die Fronten auf, die illegal agierende
Opposition gewann an Macht. In den achtziger Jahren hatte die brasilianische
Wirtschaftspolitik des "autarken Modells", der Importsubstituierung ihr Ende gefunden.
26.10 Militärischer Widerstand gegen die Diktatur
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Der bewaffnete Kampf von städtischen Guerillagruppen begann sich 1964 zu formieren und
orientierte sich auch an den Strategien des 1967 in Bolivien ermordeten Kubaners
argentinischer Herkunft, Ernesto Ché Guevara. Eine der aktivsten Guerilla-Gruppen nannte
sich VAR-Palmares (Vanguarda Armada Revolucionaria - Palmares)
- nach dem
berühmtesten "Staat" entflohener Sklaven des 17. Jahrhundert, dem Quilombo Palmares. Die
Entführung des US-amerikanischen Botschafters Charles Elbrick im Jahr 1969 durch die
Guerilla-Gruppen Ação Libertadora Nacional und MR- 8 ( (Movimento Revolucionário 8 de
Outubro) führte zur Zerschlagung der Guerilla. Der Anführer der ALN, Carlos Marighela,
wurde 1969 erschossen. Guerillos überfielen Banken, verübten Bombenanschläge, entführten
Flugzeuge nach Kuba bzw. entführten Diplomaten, um die Enthaftung von Gefangenen zu
erpressen. Die kleinen Guerillagruppen um Marighela dienten der Regierung als Alibi für die
Zerstörung studentischer Opposition.
26.11 Zivilgesellschaftlicher Widerstand
Durch die Reglementierung von Politik und Wirtschaft blieb zunächst das kulturelle Feld als
Vehikulationsmöglichkeit von Unzufriedenheit und Widerstand übrig. In den ersten Jahren
der Militärdiktatur und beeinflusst durch die internationale achtundsechziger Bewegung
boomten noch Musik, Kino und Theater, bis Zensur und Verbote des Jahres 1968 (unter Costa
e Silva) mit der beginnenden Eskalation politischer Fronten den kulturellen Äußerungen die
Kritikmöglichkeit nahmen. 1967 fand noch das Dritte Festival der Música Popular Brasileira
in São Paulo statt. 1968, mit der Einführung des Institutionellen Aktes (AI-5) entschlossen
sich die beiden berühmten Vertreter der von Mittelschichten sehr geschätzten Musikrichtung
des Tropicalismo, Caetano Veloso und Gilberto Gil, für eine Flucht nach London, wo sie mit
Vertretern der westlichen Beat- und Rock-Szene zusammenarbeiteten (vgl. Walger 1992).
Obwohl die Kreativität und die Ausdrucksmöglichkeiten der brasilianischen Theaterszene
durch die Vorzensur der Texte sowie durch weitere Zensurschritte nach den Premieren
ständig offiziell beschnitten, obwohl Karrieren zerstört wurden, blieb das
Widerstandspotential des Theaters hoch. Es stellte eine der wichtigsten Formen
zivilgesellschaftlichen Widerstandes während der Militärdiktatur dar. 1971 flüchtete auch der
Theaterregisseur und -autor Augusto Boal nach Verhaftung und Folter zunächst nach
Argentinien, dann ins portugiesische und schließlich ins französische Exil, wo er 1981 das
Erste Internationale "Theater der Unterdrückten" (Teatro do Oprimido) gründete; 1986 kehrte
er wieder nach Brasilien zurück. Die zentrale Botschaft des Theaterkonzeptes von Boal war,
die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung zu vermitteln, die nur mit der Abschaffung
von gesellschaftlichen Unterdrückungsstrukturen einhergehen kann (vgl. Brenneis 2003).
Zu den heftigen Kritikern der Militärregierung 1964 zählte der ehemals konservativ
katholische österreichische Immigrant Otto Maria Carpeaux, der zum bedeutendsten
brasilianischen Literaturkritiker avancierte. Er wurde wiederholt mit Redeverbot belegt. Im
Jahr 1968 geriet das Begräbnis eines, bei einer Demonstration in Rio de Janeiro erschossenen
Studenten zum Protestmarsch von über 100 000 Menschen gegen die Militärdiktatur. Der
studentische Widerstand formierte sich. In São Paulo bekämpften sich im selben Jahr
Studenten der philosophischen Fakultät der Universidade de São Paulo (USP), seit ihrer
Gründung im Jahre 1934 ein Hort der Liberalität und Regierungskritik, mit Studenten der
rechten Universidade Mackenzie. Die USP hielt sich als Ort des Widerstandes. In geheimen
Treffen las man Texte, die durch die Zensur verboten worden waren. Der Widerstand brachte
im Musiksektor die Entwicklung des brasilianischen Protestsongs hervor, der sich auch gegen
die Rock and Roll-Epigonen richtete. Die Lieder des Sängers Chico Buarque, der einige Jahre
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bis 1971 im italienischen Exil verbrachte, wurden regelmäßig verboten. 1975 wurde die
Vorzensur aller Zeitungsartikel festgelegt. Der Estado de São Paulo füllte die zensurierten
Stellen mit Gedichten. Ab 1974 (unter der Diktatur Geisel) institutionalisierte sich der
studentische Widerstand. Illegale Gremien wurden organisiert, Streiks und Proteste auf den
Unicampuses veranstaltet. 1976 getrauten sich die Studenten mittels eines Protestmarsches in
São Paulo erstmals seit 1968 wieder auf die Straße. 1977 konstituierte sich die seit 1964
aufgelöste União Nacional de Estudantes und agierte in der Illegalität. Zur Galionsfigur des
katholischen Widerstandes avancierte der Bischof von Recife, Dom Helder Câmara; 1970
prangerte er im Fußballstadion von Paris vor 10 000 Menschen die Folterungen politischer
Gefangener an. Bis 1977 wurden ihm öffentliche Medienauftritte untersagt. 1985 musste er
seinen Posten auf Anweisung des Vatikan verlassen (vgl. Caldeira 1999).
26.11.1 Gewerkschaftliche Bewegungen, Arbeiterpartei
Das Jahr 1978 war durch eine Fülle von Streikwellen gekennzeichnet. Die
Metallarbeitergewerkschaft ABC organisierte im Industriegürtel von São Paulo, in dem 45%
der Industrieproduktion konzentriert sind, ihren ersten Streik, der die Autoproduktion
kurzfristig lahm legte. Mit der Organisation der Streiks legte Luis Ignácio Lula da Silva, seit
1. Jänner 2003 Präsident Brasiliens, den Grundstein zu seiner politischen Karriere. Der
zweimalige Chef die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) hatte sie mitbegründet.
Für sein Engagement wurde Luis Ignácio Lula da Silva im Jahr 1988 der KreiskyMenschenrechtspreis in Wien verliehen. Aus dem Streik entwickelte sich die Neue
Gewerkschaftsbewegung, einer der wesentlichen Motoren der Redemokratisierung und des
Widerstandes gegen die Diktatur; die Bewegung vermochte sich aus der staatlichen
Umklammerung zu lösen. 1979 waren bereits mehr als drei Millionen Arbeiter im Streik.
1983 wurden die unabhängige Arbeitergewerkschaft CUT sowie die gemäßigtere
Confederação Geral dos Trabalhadores (CGT) gegründet und von einzelnen Unternehmern
unterstützt. Die Gewerkschaftsbewegungen zielten aus der Widerstandsposition auf die
politische Notwendigkeit eines Parteizusammenschlusses. Von der legalen Opposition
während der Militärdiktatur konnten sie sich keine Unterstützung erwarten. Nach
Kontroversen um ihre Gestaltung einigten sich ehemalige Guerilleros, kommunistische und
marxistische Intellektuelle sowie Mitglieder sozialer Bewegungen im Jahr 1979 zur Gründung
der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) als einer "Partei des Alltagslebens". Die
Beibehaltung von Basisarbeit, die soziale Veränderungen von "unten nach oben" erwirke,
zählte zu den wichtigsten Agenden. Viele der PT-Aktivistinnen kamen aus den Elendsvierteln
und aus christlichen Basisgemeinden. Die Arbeiterpartei unterstützte auch die
Landlosenbewegung von Anfang an und thematisierte das Problem der Landverteilung. Das
Modell PT hat internationales Interesse hervorgerufen. Zwischen der durch die
Wirtschaftspolitik der Militärs gestärkten Arbeiterschaft und den neuen sozialen und
bürgerlichen Bewegungen entstand ein Oppositionsblick, der vor dem Hintergrund der
Schuldenkrise von 1980 das Ende der Diktatur beschleunigte (vgl. Wolf 1994).
26.11.2 Frauenpolitik im Widerstand
Widerstand formierte sich auch in den Basisgemeinden der Kirche, wo sich die Schwarzen-,
Frauen-, Landarbeiter- und Stadtviertelbewegungen trafen. Die US-amerikanische
Frauenbewegung hatte Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre auch die brasilianische
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feministische Diskussion beeinflusst. 1978 wurde in São Paulo der erste brasilianische
Frauenkongress abgehalten, zwei Jahre später der zweite; die Forderungen beinhalteten trotz
der Heterogenität der Gruppen die rechtliche Gleichstellung mit Männern. Themen wie
Asymmetrien der Geschlechterverhältnisse, sexistische Verhaltensweisen, strukturelle
Gewalt, die Negation der Arbeitsleistung im reproduktiven Bereich, die Familienplanung und
Abtreibung wurden diskutiert; die Frauen forderten aber auch die uneingeschränkte politische
Amnestie. In verschiedenen Städten wurden ab 1980 Frauenzentren, Notrufgruppen (SOSMulher) sowie Frauenpolizeistellen in großen urbanen Zentren nach dem Motto "Wer liebt,
der tötet nicht" eingerichtet. Nach der Vorkämpferin der brasilianischen Frauenbewegung,
Bertha Lutz, wurde ein politischer Kongress benannt. Während sich die feministisch
orientierten Gruppen eher aus der städtischen Mittelschicht rekrutierten und akademisch
gebildet waren, formierten sich die Frauen der Unterschichten auf der Ebene der Stadtviertel,
um Sanierungen, Gesundheitsversorgung und Kindergärten zu erkämpfen, Fortbildungskurse
zu organisieren und Volksapotheken einzurichten. 1983 wurde das Frauennetzwerk "rede
mulher" gegründet, das im Kultur- und Bildungsbereich vielfältige Initiativen, von
Theateraufführungen bis zu Radiosendungen startete. Viele gesellschaftliche Forderungen der
Frauenbewegung wurden als antizipatorischer Akt in die Verfassung von 1988 aufgenommen,
sie werden in der sozialen Wirklichkeit allerdings nur in Ansätzen eingelöst. Gerade die
Alltagserfahrung armer Frauen ist nach wie vor stark von struktureller und sexueller Gewalt,
von sozialer und ethnischer Diskriminierung geprägt, was sich im Lohnniveau und dem
Zugang zu Bildung manifestiert (Caipora 1991, Rott 1994). 1997 hatten Frauen 7% der Sitze
in der Deputiertenkammer und 7,4% im Senat.
26.11.3 Afrobrasilianische Kultur in der Militärdiktatur
1978 trafen sich verschiedene "schwarze Gruppen" in São Paulo zur Gründung einer
"Geeinten Schwarzen Bewegung gegen Rassendiskriminierung" (Movimento Negro
Unificado Contra a Discriminação). Die schwarze Bewegung, die sich zum Teil bewußt zu
reethnisieren beginnt, entwickelt sich zur breiten Plattform gegen fast fünfhundertjährige
Unterdrückung, gegen Rassismus und neokoloniale Ausbeutung. Im Jahr war 1975 zog zum
ersten Mal die von der US-amerikanischen "Black Power"-Bewegung beeinflusste
afrobrasilianische Karnevalsgruppe (bloco afro) von Ilê Aiyê aus. Ihre bewußt auf das
afrikanische Erbe und die Bewahrung schwarzer Identität ausgerichteten Veranstaltungen mit
Rasta-Look und afrikanischen Gewändern provozierte die Kritik der bürgerlichen Presse, die
ihr kommunistische Absichten unterstellte (vgl. Walger 1992, vgl. Hofbauer 1995).
1979 wurde in Salvador de Bahia, einem ehemaligen Zentrum des Sklavenhandels, die
afrobrasilianische Musikgruppe und Kulturvereinigung Crupo Cultural Olodum gegründet.
Die Musik von Olodum (= Allmächtiger), die stark von Perkussionsinstrumenten geprägt ist,
hat identifikatorische Funktion und wurde in Verbindung mit Olodums sozialem Engagement
ein positiver integrierender und politischer Faktor in der schwarzen Bewegung Bahias. In
seinen Räumen beherbergt Olodum auch ein Zentrum von SOS Racismo. Olodum präsentiert
sich nicht nur musikalisch offen für externe musikalische Einflüsse - die Gruppe arbeitete
etwa mit dem Sänger Paul Simon zusammen -, sondern akzeptiert auch andere Ethnien in
ihrer Organisation. Durch die Wahl der Themen im Karneval Bahias und in ihren Liedern
aktiviert Olodum das Interesse für die Wiederaneignung des historischen Erbes durch den
Rekurs auf Helden der schwarzen Bewegung wie Nelson Mandela, Desmond Tutu und den
legendären König des Widerstandsbollwerkes Palmares des 17. Jahrhunderts, Zumbi. Das
Datum seines Todes, der 20. November, erlangte als Gedenktag mittlerweile mehr Bedeutung
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als der 13. Mai, der Jahrestag der Abolition der Sklaverei im Jahr 1888, weil Rassismus
Kontinuität hat. Afrobrasilianisches Selbstbewusstsein erlebte im Laufe von dreißig Jahren
einen deutlichen Aufschwung. Noch Anfang der fünfziger Jahre hatte es einer Samba-Schule
in Rio de Janeiro widerstrebt, sich zum Thema "Zumbi dos Palmares" als Sklaven zu
verkleiden. Afrobrasilianische Musik ist stark mit Religion verwoben. Der Umbanda-Kult
wurde als Anknüpfungspunkt politischer Interessen genutzt: in den siebziger Jahren mehrten
sich die Umbanda-Großveranstaltungen trotz Kritik einiger katholischer Würdenträger (vgl.
Walger 1993, vgl. Hofbauer 1995).
26.11.4 Die Landlosenbewegung
Anfang der achtziger Jahre begannen sich soziale Bewegungen zu formieren, wie die
Landlosenbewegung (Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra (MST), heute die
bestorganisierte soziale Organisation Brasilien. 1984 wurde im Bundesstaat Paraná ein erstes
Treffen abgehalten, 1985 fand der erste nationale Kongress mit 1600 Delegierten statt. In den
folgenden Jahren entwickelte sich der MST in Rio Grande do Sul zu einer politisch
bedeutenden Gruppierung. Im Jahr 1991 wurde sein soziales Engagement durch die
Verleihung des alternativen Nobelpreises gekrönt, den er mit der Kommission für
Landpastoral der katholischen Kirche teilte. Ihr Hauptziel, eine Landreform mit Reduktion
des Großgrundbesitzes und Besiedlung brachen Landes, das sind 120 Millionen Hektar, d.h.
mehr als die Hälfte des nutzbaren Landes, durchzusetzen, verbindet sie mit einem Konzept
nachhaltiger Landwirtschaft.
26.12 Redemokratisierung - Ende der Diktatur
Präsident Ernesto Geisel, der als Vertreter der "weichen Linie" (linha branda) galt, obwohl er
1975 aufgrund von Stimmengewinnen der Oppositionspartei in den Kongresswahlen von
1974 Verfolgung und Folter hatte intensivieren lassen, leitete eine politische Öffnung ein. In
einem 1993 geführten Interview mit brasilianischen Historikern betonte er allerdings die
Sinnhaftigkeit von Folter in gewissen Situationen, etwa zur Geständniserpressung. Sein
Nachfolger Figueiredo erließ im August 1979 ein umfassendes Amnestiegesetz zugunsten von
Oppositionellen, das einen wichtigen Schritt der Öffnung darstellte. Im Jahr 1982 wurden
direkte Gouverneurswahlen zugelassen. Im Jänner 1984 wurde anlässlich einer
Massenversammlung in São Paulo am Jahrestag der Stadtgründung die Direktwahl des
Präsidenten (Diretas já!) festgelegt, obwohl die Militärs das Ausmaß der Feierlichkeiten durch
Zensur und Kooptierung von Organisatoren einzuschränken trachteten. 300 000 Brasilianer
nahmen an der Versammlung teil. Das Militär scheiterte mit der Durchsetzung seines
Kandidaten in einem manipulierten Wahlmännergremium. Tancredo Neves, Kandidat der
Opposition und ehemaliger Mitarbeiter von Vargas, gewann die Wahlen am 15. Jänner 1985,
starb jedoch vor der Amtsübernahme. Als Nachfolger und erster Präsident der Neuen
Republik, in die in ökonomischer, sozialer und rechtlicher Hinsicht hohe Erwartungen gesetzt
wurden, fungierte der als Vizepräsident vorgesehene José Sarney (1985-1989); er hatte
während der Militärdiktatur hohe Ämter bekleidet. Der Einfluss diktatorischer Politik
erschwerte den Übergang zu wirklich demokratischen Verhältnissen. Am 5. Oktober 1988
wurde die bis heute gültige Verfassung verabschiedet. Sie beschnitt die Macht der Regierung,
stärkt Parlament und Justiz, dezentralisiert die Macht zugunsten der Gemeinden. Das
Wahlrecht wurde auf 16 Jahre herabgesetzt, das Streikrecht ausgebaut. Die Verfassung enthält
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das Recht jedes Bürgers, kostenlos in die über ihn von staatlichen Stellen angelegten Akten
Einsicht zu nehmen. Sie respektiert zudem erstmals theoretisch das nationale Naturerbe wie
das Amazonasgebiet oder den Pantanal im Bundesstaat Mato Grosso. Mit den Naturräumen
wurde auch der Schutz der 215 indigenen Völker mit ihren 330 000 Menschen in der
Verfassung festgeschrieben. Die Verfassung verbot auch die Pressezensur und setzte die
Amtsdauer des Präsidenten auf fünf Jahre fest (vgl. Zoller 2000, vgl. Caldeira 1999).
26.13 Das Erbe der Diktatur
Die zivilen Organisationen waren im Gegensatz zu Argentinien nach Ende der Militärdiktatur
nicht stark genug, um eine systematische Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen
während der Diktatur zu fordern. Obwohl Brasilien mit umfangreicheren Amnestien schon
während der Diktatur eine Ausnahme im Vergleich zu anderen Militärdiktaturen in
Lateinamerika darstellte, war der Putsch von 1964 kein Gegenstand gerichtlicher
Untersuchung. 1987 wurde erstmals ein höherer Offizier des Mordes an drei Oppositionellen
angeklagt.
Da das Militär nach wie vor Schlüsselpositionen in den Ministerien für Armee, Luftwaffe,
Geheimdienst und dem Obersten Generalstab einnimmt, da pensionierte Offiziere
Spitzenpositionen der Wirtschaft besetzen und Brasilien in der Rüstungsindustrie bedeutend
ist, setzten Umdenkprozesse spät ein (vgl. Heinz 1991). Im Jahr 1992 beklagte der
brasilianische Schriftsteller Ignacio Loyola Brandão noch, dass die brasilianische
Historiographie zwar über die Militärdiktatur schrieb, doch aussparte, was sich hinter den
Fassaden abspielte. Die durch die Diktatur hervorgerufene Selbstzensur habe das
revolutionäre Potential der sechziger Jahre gerade bei StudentInnen verschüttet (Brandão
1992). Zum Thema der Zensur brasilianischer Tageszeitungen, ihrer Rolle als Sprachrohr der
Militärdiktaturen und ihrer Haltung, aus vorauseilendem Gehorsam ihre Ausgaben noch vor
der Kontrolle staatlicher Zensoren gleich selbst zu zensurieren, sind Publikationen entstanden,
deren Ergebnisse die mediale Öffentlichkeit nicht allzu transparent machen will (vgl.
Medienmanipulation, in: ILA, September 2002).
Eine TV-Dokumentation des
Mediengiganten "Rede Globo" thematisierte unter dem Titel "Rebellische Jahre" die Diktatur
und den studentischen Widerstand Anfang der neunziger Jahre. Mitte der neunziger Jahre
änderte sich die Forschungslandschaft zugunsten einer größeren Transparenz und besseren
Zugangs zu Dokumenten. Ein bedeutender Schritt in diese Richtung wurde durch die Familie
des 1996 verstorbenen Ernesto Geisel gemacht. Seinen seit dem Jahr 2000 öffentlich
zugänglichen Nachlass von über 20 000 Dokumenten bewahrt die renommierte
Forschungsinstitution Fundação Getulio Vargas auf (vgl. Castro/D'Araujo 2002 a+b). Im Jahr
1995 wurden unter der Präsidentschaft Fernando Henrique Cardosos staatliche
Entschädigungen beschlossen und 1996 an 112 Angehörige der Opfer ausbezahlt; erstmals
fanden in diesem Jahr keine militärischen Feierlichkeiten zum Jahrestag des Militärputsches
von 1964 statt.
27 Der Estado Novo 1937-1945
Im Jahre 1938 hätte es in Brasilien Wahlen gegeben, nach der Verfassung hätte Vargas aber
nicht mehr kandidierten dürfen. Da er sein Nationsbildungskonzept, das die Einbindung der
verschiedensten politischen Gruppen und sozialen Schichten verlangte, nur durch seine
Person gewährleistet sah, zielte er auf die Etablierung diktatorischer Verhältnisse. Deshalb
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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täuschte er aufgrund von gefälschten Unterlagen eine kommunistische Verschwörung vor
(Plan Cohen). Er liess im Oktober 1937 den Kriegszustand ausrufen und am 10. November
1937 den Kongress von der Militärpolizei auflösen. Dieses Datum leitete die Ära des Estado
Novo (Neuen Staates) ein. Viele Politiker und Intellektuelle der ersten Phase der VargasRegierung - wie Jorge Amado - gingen ins Exil. Der linke Schriftsteller Graciliano Ramos
verbrachte die Zeit im Gefängnis.
Am 10. November 1937 setzte Vargas durch einen Staatsstreich die Verfassung von 1934
außer Kraft, verbot alle Parteien und machte sich zum Diktator des Staates. Da Vargas seit
Ende 1937 Exekutive und Legislative in seiner Person vereinigte, wurde die brasilianische
Rechtspraxis undurchsichtig und willkürlich. Vargas regierte nun mittels Regierungsdekreten.
Die Bundesstaaten wurden weiterhin von Interventoren regiert. Die Zentralisierungspolitik
erlebte einen weiteren Höhepunkt. In einem symbolischen Akt wurden in Rio de Janeiro alle
Flaggen der Bundesstaaten verbrannt (Queima das Bandeiras), damit deren Identität und
individuellen Rechte zugunsten einer gesamtbrasilianischen aufgegeben werde.
Die Grundzüge der Verfassung des Neuen Staates wurden von Finanzminister Francisco
Campos ausgearbeitet, der sich Anleihen vom portugiesischen gleichnamigen Modell Salazars
und beim polnischen Staat holte. Weder kann man das Regime als totalitär, noch faschistisch
im Sinne des italienischen Faschismus oder des deutschen Nationalsozialismus bezeichnen,
doch sind Gemeinsamkeiten zu katholischen, ständestaatlichen Diktaturen der dreißiger Jahre
zu finden: Autoritarismus, Antikapitalismus, Antiparlamentarismus, faschistische
Ordnungsvorstellungen, Korporatismus, Versuche der Etablierung einer Massenbewegung,
Rassismus. Die Vargas-Regierung reichte nicht in Bereiche des privaten Lebens, verzichtete
auf Parteien. Nur ein Teil der Regierungsmitglieder waren Militärs. Bis zur klaren
außenpolitischen Orientierung an den USA ab Anfang der 1940er Jahre waren einige Politiker
an der Macht, die große Sympathien mit den Regierungen Adolf Hitler und Benito Mussolini
hegten: Polizeipräsident von Rio, Filinto Müller, Chef des Propagandadepartements Lourival
Fontes und der Chef des Generalstabes Pedro Aurelio Gois Monteiro. Ein Ausspruch Gois
Monteiros über seine politischen Vorbilder zeigt zudem die Komplexität der Anlehnungen an
außerbrasilianische Modelle: 1937 erklärte er, dass es seinen Vorbildern Mussolini, Hitler,
Stalin, Mustafa Kemal Pascha, Roosevelt und Salazar" gelungen sei, neue staatliche Organe
und Institutionen zu schaffen und so den Staat in die Lage zu versetzen, die innere Krise zu
überwinden" (vgl. Bernecker et.al. 1996, 61).
Vargas ließ sich als paternalistische Führerfigur feiern, die Administration wurde durch eine
Technokratengeneration ausgeweitet und geleitet. Klientelismus und Nepotismus waren Teil
des Systems. Im März und Mai 1938 versuchten die mittlerweile illegalen Integralisten
zweimal, Vargas zu entmachten und griffen wenig erfolgreich den Präsidentenpalast an. Ihr
Chef, Plinio Salgado ging ins portugiesische Exil. Die Etablierung des Estado Novo
verursachte im demokratischen Ausland, vor allem in den USA und in Großbritannien, heftige
Kritik (vgl. Capelato 1998, vgl. Rocha 1998).
27.1 Politik gegen deutschsprachige Einwanderer
Die Kulturpolitik des Estado Novo verwischte ethnische Disparitäten und versuchte, einen
idealisierten kulturellen Mix verschiedenster Einflüsse nach dem Prinzip des Melting Pot zu
kreieren. Schon am 10. November 1937 wurde der fremdsprachige Unterricht für Kinder
unter 12 Jahren verboten. Im Gesetz vom 4. Mai 1938 wurden Fremdsprachen aus den
Lehrplänen gestrichen, Lehrer und Schulleiter durften nur mehr geborene Brasilianer sein. Ein
Dekret vom 18. April 1938 verbot die politische Betätigung von Ausländern. Diese
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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Gesetzgebung richtete sich erstmals gegen politische Agitationen der seit 1931 in Brasilien
bestehenden NSDAP, die kulturelle Identität der deutschbrasilianischen Bevölkerung zu
schützen vorgab. Das Deutsche Reich sandte NS-Schulmaterial und Propagandamaterial für
deutsche Firmen sowie Zeitungen und UFA-Filme nach Brasilien. Deutsche Schulen, Turn-,
Gesangs- und Geselligkeitsvereine hissten Hakenkreuzflaggen und benützten NS-Symbole
zur Dekoration von Vereinsheimen. Die NSDAP zählte in Brasilien 5000 Parteimitglieder,
Vereine waren Ziele ihrer Gleichschaltung; nicht wenige - politisch und wirtschaftlich
führende - Kreise der deutschbrasilianischen Einwanderer sympathisierten mit der
nationalsozialistischen Ideologie aus der Distanz, engagierten sich vor allem wegen der
räumlichen Abgeschiedenheit und politischem Desinteresse jedoch kaum und distanzierten
sich offiziell von ihr. In der deutschbrasilianischen Presse war das Wiedererstarken
Deutschlands allerdings 1933 bejubelt worden. Die Erinnerung an die antideutschen
Ressentiments während des Ersten Weltkriegs, in den Brasilien nach der Torpedierung von
vier brasilianischen Schiffen durch deutsche U-Boote eingetreten war, waren noch präsent.
Zwischen der Abteilung der NSDAP in Brasilien und dem deutschen Außenamt (der
Wilhelmstrasse) gab es zudem ständig Differenzen wegen offizieller und subversiver
politischer Aktivitäten, die 1938 auch zu ernsten diplomatischen Spannungen mit Brasilien
führten (vgl. Gertz 1980, vgl. Hilton 1981, vgl. Gaudig/Veit 1997).
27.2 Immigrationspolitik zwischen Antisemitismus und Akzeptanz
Die neue politische Linie Brasiliens war ein deutliches Signal für den steigenden
Assimilierungsdruck gegenüber Einwanderern. Die restriktive Einwanderungsgesetzgebung
ab Mai 1938 machte die Eintrittskarten nach Brasilien sehr teuer und gewährte fast
ausschließlich Landwirten und landwirtschaftlichen Arbeitern Visen. Die Organisation der
"gelenkten Einwanderung" (imigração dirigida) übernahm das Departamento Nacional de
Imigração. Nationen wurden nach dem Grad ihrer Assimilierbarkeit eingestuft; die
Immigrationspolitik richtete sich gegen asiatische ImmigrantInnen. Im Jahr 1945
unterzeichnete Getúlio Vargas jedoch wieder ein Dekret, das die "weiße" europäische
Einwanderung stimulieren sollte, um die "vorteilhaftesten Eigenschaften in der ethnischen
Zusammensetzung unserer Bevölkerung aufrecht zu erhalten und weiter zu entwickeln" (zit.
n. Hofbauer 1995, S. 91). Trotz der immer antisemitischeren Immigrationsgesetze, die
Politiker und einflussreiche Gruppen beruhigen sollten, die antijüdische und eugenische
Konzepte vertraten, kamen bis 1942 aufgrund von gefälschten Touristenvisen und teuer
erkauften Rufkarten, sowie durch Einladungen durch die Regierung Emigranten, vor allem
jüdische Flüchtlinge, ins Land. Zwischen 1933 und 1941 immigrierten zwischen 15 und 19
000 deutschsprachige Flüchtlinge, von denen zwischen 80 und 90% jüdisch waren, cirka 1500
waren ÖsterreicherInnen. Schon im Juni 1937 hatte die brasilianische Regierung in geheimen
Depeschen angeordnet, dass Immigranten, die ihre jüdische Zugehörigkeit angeben, Visa zu
verweigern seien. Einwanderer, die 300 US-Dollar nachweisen konnten, bekamen problemlos
ein Visum. Von den 3000 Visen für christliche "Nicht-Arier", die Papst Piux XII. vermittelte,
wurden lediglich 170 vergeben. Eine spektakuläre Aktion gelang dem katholischen
Philosophen Hermann Matthias Görgen, der 1934 von Deutschland nach Österreich emigriert
war und mit einer Gruppe von 45 deutschen und österreichischen Flüchtlingen nach Brasilien
floh. Aufgrund des diplomatischen Verhandlungsgeschicks des ehemaligen österreichischen
Gesandten in Brasilien, Anton Retschek, wurde die österreichische Exilgruppe "Comité de
Proteção dos Interesses Austríacos no Brasil" von der brasilianischen Regierung im Jahr 1943
als offiziöse Vertretung der Österreicher anerkannt und durfte Identitätspapiere ausstellen.
Mittels kleiner, auf Portugiesisch gedruckter Broschüren wie "Österreich wird
60
Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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wiederauferstehen" versuchten ihre Mitglieder, die brasilianische Öffentlichkeit für die
Wiedererrichtung eines unabhängigen Österreich zu sensibilisieren. Nach Argentinien nahm
Brasilien die zweitgrößte Gruppe von politisch und "rassisch" verfolgten EmigrantInnen auf
(vgl Lesser 1994b, Exil 1994)
27.2.1 Stefan Zweig im brasilianischen Exil
Prominentester österreichischer Emigrant in Brasilien wartefan Zweig. Dem weltberühmten
Schriftsteller, der 1936 nach dem PEN-Kongress in Buenos Aires kurz in Brasilien gewesen
war, wurde ein permanentes Aufenthaltsvisum angeboten. Er brachte insgesamt cirka ein
halbes Jahr in Brasilien zu und publizierte 1941 den kulturpolitischen Essay "Brasilien ein
Land der Zukunft" (Brasil, país do futuro). Das Buch, das die Auslagen vieler
Buchhandlungen in Rio schmückte, wurde vom Vargas-Regime beworben, von einigen
brasilianischen Intellektuellen wie Jorge Amado jedoch aufgrund seiner idealisierenden
Sichtweise als Auftragswerk angesehen.
Zweig hatte zwar kein Honorar vom Presse- und Propagandadepartement bekommen, jedoch
das Angebot der Finanzierung einer Reise nach Pernambuco sowie einen Übersetzer
akzeptiert. Lourival Fontes betrachtete das Buch als Dienst an der "Nation." Dass einer der
international erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit dem Land einen gesellschaftspolitischen
Persilschein ausstellte, musste der Estado Novo für sich nützen. Viele Zweig-Fans
interpretieren den Essay, der den harmonisierenden "Rassenmythos" von Gilberto Freyre
aufnahm, als eine Form des "wishful thinking", das mehr als Utopie eines besseren Europa
denn als populärwissenschaftliche Darstellung brasilianischer sozialer, politischer und
kultureller Gegebenheiten gewertet werden könne. Die Literaturwissenschafterin Susanne
Thimann schliesst sich den kritischen Stimmen an, indem sie bemerkt, dass die Zustände im
Estado Novo nur auf jemanden wie Zweig magisch gewirkt haben können, der keine Details
und inneren Zusammenhänge gekannt habe oder kennen wollte. Der Selbstmord Stefan
Zweigs in der Nacht vom 22. zum 23. Februar 1942 in seinem Haus in Petropolis war nicht
nur für die in Brasilien lebenden deutschsprachigen ExilantInnen ein Schock. Diktator Vargas
ordnete ihm zu Ehren ein Staatsbegräbnis an. Zweigs Werke werden bis heute - auch
aufgrund des Engagements seines brasilianischen Verlegers Koogan - in Brasilien rezipiert
(vgl. Prutsch/Zeyringer 1997, vgl. Thimann 1989).
27.3 Die "cultura popular"
Der Estado Novo förderte die Volkskultur in unpolitischer, von Sozialkritik gereinigter Form
und versuchte deren Niveau durch Verschulung zu heben. Samba und Karneval wurden als
Ausdruck einer brasilianischen Identität sehr stark gefördert, gleichzeitig aber zensuriert und
kontrolliert. Der Karneval (carnaval) gelangte als "entrudo"-Fest durch die portugiesische
Kolonisation nach Brasilien. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich
parallel zum großen Karneval der Oberschicht der Kleine Karneval der
Unterschichtenbevölkerung. 1929 zog die erste Sambaschule, die 1917 gegründet worden
war, durch Rio de Janeiro. Mitte der dreißiger Jahre wurden die mittlerweile für die
Karnevalsumzüge charakteristischen Gruppierungen entwickelt (eine Fahnenträgerin, ein
Tanzmeister, eine Gruppe von Bahianerinnen). In der Phase des Estado Novo mussten Tage
vor dem Karneval die Sambatexter ihre Lieder abliefern, damit sie auf politische Inhalte oder
Sozialkritik untersucht wurden. Die dargestellten Themen hatten sich auf die brasilianische
61
Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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Geschichte zu beziehen. Auch auf die Kultiviertheit der Sprache wurde im Sinne der
Volkserziehung Wert gelegt; Slangausdrücke waren untersagt. Deshalb versuchte der Estado
Novo, die vielschichtige Samba (der Mittelschicht und der Favelas) in eine Schule zu pressen
und für seine Lobpreisung zu instrumentalisieren - etwa durch Sambas wie "Salve 19 de
Abril" ("Hoch lebe der 19. April", [der Geburtstag von Getúlio Vargas]). Angesichts der Fülle
unterschiedlicher Sambaformen ist dem Estado Novo ihre "Domestizierung" nicht gelungen.
Sambas wurden im staatlich geförderten Radio gespielt. Das Selbstbild einer harmonischen,
antirassistischen Gesellschaft in tropischer Natur wurde mittels Tourismusförderung nach
außen getragen. Dazu zählte auch die Capoeira, ein Kampf-Tanz-Spiel-Sport, der durch die
Sklaverei nach Brasilien importiert wurde. Er verbindet Kampf, Tanz, Gewalt und Ästhetik,
Spiel und Ernst, Ritual und Lebensphilosophie. Um die Jahrhundertwende war Capoeira noch
strafrechtlich verfolgt worden, 1937 integrierte das Erziehungsministerium sie in den
Turnunterricht. Afrobrasilianische Religionen wie Candomblé und der Umbanda-Kult, der in
"weiße" Bevölkerungsgruppen Eingang fand, erfuhren eine positive Imageveränderung. 1941
wurde der erste "Umbanda-Kongress" einberufen. Politische Manifestationen schwarzer
Bewegungen wurden vom Vargismus jedoch unterdrückt. Die 1931 gegründete und aktive
"Schwarze Brasilianische Front" ("Frente Negra Brasileira") erhielt 1936 Parteienstatus, im
Estado Novo wurde ihr offenes politisches Engagement untersagt (vgl. Hofbauer 1995, vgl.
Williams 2001).
27.4 Der Umgang mit der Sklavenvergangenheit
Im Jahr 1938 jährte sich zum fünfzigsten Mal der Jahrestag der Abolition. Arthur Ramos,
beauftragter Zeremonienmeister der Feierlichkeiten und bedeutender Anthropologe, hatte
zunächst eine soziale Studie über die Integration der schwarzen Bevölkerung in die
brasilianische Gesellschaft, die vertikale Mobilität und Lebensbedingungen vorgesehen. Da
das Ergebnis triste auszufallen drohte, wurde die Abolitionsfeier ihrer sozialen Komponente
entledigt, um lediglich die Beiträge der schwarzen Bevölkerung in der Volkskultur
herauszustellen. Vorstellungen von der Grausamkeit der Sklaverei waren durch Gilberto
Freyres Hauptwerk "Herrenhaus und Sklavenhütte" (1933) getilgt worden. Stefan Zweigs
Bemerkungen zur Sklaverei in seinem 1941 in Brasilien publizierten Buch "Brasilien ein
Land der Zukunft" ("Brasil, país do futuro") übernahmen Freyres euphemistische
Interpretationen. Auch bei seiner Selbstdarstellung im brasilianischen Pavillon der
Weltausstellung von 1939 in New York vermied der Estado Novo es, Elend, Favelas und
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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schwarze Brasilianer darzustellen. Das Bild Café des berühmten Muralisten Cándido
Portinari, das Alltagsszenen des schwarzen Landproletariats verewigte, wurde nicht in die
Ausstellung aufgenommen. Das mangelnde Interesse an einer historisch kritischen
Aufarbeitung der Sklaverei zeigte sich auch anhand der schwachen Besucherzahlen einer
großen Ausstellung von Aquarellen des Malers Jean-Baptiste Debret. Dieser war 1816 mit
einer französischen Mission von Künstlern nach Brasilien gekommen, wo er bis 1831 blieb.
Debrets Alltagsszenen brasilianischen Lebens sowie der Züchtigungen von Sklaven zählen
heute zu den wichtigsten piktographischen Quellen des 19. Jahrhunderts in Brasilien. 360 der
zwischen 1834 bis 1839 in Paris unter dem Titel "Voyage Pittoresque et Historique au Brésil"
veröffentlichten Bilder und Zeichnungen waren 1939 von einem Brasilianer erworben und
1940 mit anderen Debret-Werken aus Privatsammlungen erstmals ausgestellt worden. Da
Debret im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der an Europa orientierten brasilianischen
Maler des 19. Jahrhunderts die verschiedensten Ethnien Brasiliens darstellte, wurden seine
Kunstwerke als bedeutender künstlerischer Beitrag zur Dokumentation des pluriethnischen
Brasilien gewertet (vgl. Williams 2001). 1950 allerdings inszenierte eine Samba-Schule eine
Hommage an Debret.
27.5 Industrialisierung und Sozialpolitik
Der Staat band neben der sich formierenden Industriearbeiterschicht auch Industrielle und
nationale Unternehmer noch enger an sich. Der Anteil ausländischer Investitionen fiel, der
Nationalisierungsgrad der Unternehmen in den Bereichen Energiegewinnung, Bankensektor
und Bergbau stieg vor allem nach dem Abbruch der Beziehungen zu den Achsenmächten.
1942 verstaatlichte die Vargas-Regierung etwa das Bergbauimperium Companhia Vale do
Rio Doce, dessen staatliche Anteile 1997 unter der zweiten Präsidentschaft von Fernando
Henrique Cardoso privatisiert wurden. Die Vargas-Regierung kontrollierte die Importe. Auf
der Basis positiver Handelssalden hatte Brasilien 1945 über 800 Millionen US-Dollar
angehäuft (vgl. Hentschke 1996).
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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Die Arbeiterschaft war eine wichtige Säule des Regimes. Die 1934 festgelegten Sozialgesetze
für ArbeiterInnen wurden 1943 zur Consolidação das Leis do Trabalho (CLT) erweitert. In
der Erarbeitung dieses umfassenden Arbeitsgesetzbuches war der österreichische Immigrant
und ehemalige Mitarbeiter des Internationalen Arbeitsamtes in Genf, Rudolf Aladar Metall,
maßgeblich beteiligt. Die gesetzliche Einführung des Mindestlohnes im Jahr 1936, der 1940
erstmals ausgezahlt wurde und die Grundbedürfnisse eines Arbeiters decken sollte, ist bis
heute ein wichtiges Element im kollektiven Gedächtnis der Brasilianer in der positiven
Gesamtbewertung der Vargas-Regierung. Im Jahr 2001 betrug der "Salario Mínimo" 200
Reais, im Jahr 1940 hingegen umgerechnet über 550 Reais. Die Gewerkschaften waren im
Estado Novo allerdings noch stärkerer staatlicher Kontrolle ausgesetzt als Anfang der
dreißiger Jahre. Die einzelnen Industriezweige hatten sich syndikalistisch zu organisieren.
In den vierziger Jahren entwickelten sich Rio de Janeiro und Sao Paulo zu Metropolen. Hatte
die Weltwirtschaftskrise den Strom der europäischen Migranten gestoppt, so zogen Migranten
aus dem agrarisch strukturierten Nordosten in die boomenden Städte. Die billigen nationalen
Arbeitskräfte konnten zudem in den Städten vom Vargas-Regime besser kontrolliert werden.
1950 lebten bereits mehr als 2 Millionen Nordestinos (Bewohner des Nordostens von
Brasilien) außerhalb ihrer Heimatstaaten; sie siedelten vielfach in Favelas. Projekte des
Gesundheitsministeriums, für die Favelabewohner billige Holzhäuser aufzustellen,
funktionierten angesichts der Migrantenströme und der schlechten Löhne nicht. Getúlio
Vargas Sozialprojekt bezog die städtischen, jedoch nie die Landarbeiter ein (vgl. Weinstein
1996).
27.6 Offizielle Mythenkonstruktion: Das Presse- und Propagandadepartement
DIP
Beim Aufbau eines Propagandaapparates bediente sich Brasilien faschistischer Vorbilder. Der
Direktor
des
1939
aus
Vorgängerorganisationen
etablierten
Presseund
Propagandadepartements (Departamento de Imprensa e Propaganda, DIP), Lourival Fontes,
reiste 1937 nach Italien, um sich Anregungen für eine effiziente Institution zu holen, deren
Funktion es war, die Meinungsbildung zu manipulieren, die Medien zu kontrollieren und den
Estado Novo außenpolitisch zu vertreten. Das DIP wurde zu einer mächtigen Organisation
ausgebaut und direkt der Präsidentschaftskanzlei unterstellt. Mit seinen fünf Abteilungen "Verbreitung" nationalen Gedankensguts in Schulen und durch Feiern, Radio, Kino und
Theater, Tourismus sowie Presse - zentralisierte, koordinierte und überwachte das DIP als
oberste Zensurbehörde das kulturelle und politische Leben.
Regime-distanzierte Blätter wie der "Estado do Sao Paulo" oder der "Diario Carioca"
bekamen die Macht des DIP zu spüren, indem es ihnen für einige Tage Druckverbot erteilte,
wenn sie in ihren Artikeln zu weit gingen. Das DIP nützte auch modernste Instrumente der
Massenkommunikation wie Radio und Film. Das Radio gab es in Brasilien seit den zwanziger
Jahren und wurde in den dreißiger Jahren vom Regime zu einem Lehrmedium ausgebaut. Der
Estado Novo investierte auch in die Filmförderung. Die technische Ausstattung der
Filmstudios war allerdings bei weitem nicht so gut wie in den USA, weshalb Brasilien als
alliierter Kriegspartner der USA ab 1942 auch US-Techniker engagierte. Seine Mission trug
der Estado Novo auch über die tägliche Radiosendung, die Hora do Brasil, die sich übrigens
in demokratischer Form bis heute hält, - ins In- und Ausland. Lautsprecher, die auf den
öffentlichen Plätzen angebracht waren, übermittelten täglich zu strategisch günstiger Stunde
die offiziellen Nachrichten und ein Kulturprogramm: zwischen 19.00 und 20.00 Uhr (vgl.
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Brasilien 1889-1985 – Ursula Prutsch
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Benzaquen de Araújo 1996, vgl. Burns 1980, vgl. Williams 2001, vgl. Prutsch/Zeyringer
1997).
27.6.1 Das DIP als Konstrukteur des Vargas-Mythos
Diktaturen benötigen stärker als demokratische Regierungssysteme Symbolkonstruktionen
zur Mythosbildung. Eine zentrale Aufgabe hatte das DIP in der Konstruktion des Mythos von
Vargas als dem "gütigen Patriarchen", "Vater der Armen". Im Gegensatz zu europäischen
faschistischen Führerfiguren, die militärische Härte und Strenge vermittelten, ließ sich Vargas
meist lächelnd, immer in zivilem Gewand abbilden. Hagiographien beschrieben ihn als
Staatsmann, Redner und Mann des Herzens. Ein beliebtes Kinderbuch dieser Zeit trug den
Titel "O sorriso do Presidente" (Das Lächeln des Präsidenten). Vargas-Porträts hingen in
Geschäften, Hotels, Bahnstationen, Büros. Solche Zuschreibungen übernahmen dann oft
Vargas-Biographen der sechziger und siebziger Jahre. "Vargas was an extremely cautious
man [...]. He continued to smile amicably at everyone", beschreibt ihn der BrasilienHistoriker Frank D. Cann (vgl. Prutsch/Zeyringer 1997, S. 215). Sein Lächeln, sein Charisma,
sein Taktieren, seine intellektuelle Überlegenheit waren wiederkehrende Bilder. Das DIP gab
Schulbücher und zahlreiche Hagiographien zur Formung des Vargas-Mythos in Auftrag,
wobei auch einige europäische Intellektuelle, meist Hitler-Flüchtlinge, mitwirkten.
Herausragendes Beispiel ist der österreichische Emigrant Paul Frischauer, der die StandardHagiographie "O Presidente" verfasste. Sie wurde an Schulen, Betriebe und brasilianische
Auslandsvertretungen verteilt. Frischauer verglich darin Vargas mit dem österreichischen
Bundeskanzler Engelbert Dollfuss, der die faschistische Gefahr mittels eines diktatorischen
Regimes bannte. Er stellte Vargas als akademisch gebildeten, außergewöhnlichen Menschen
und großzügigen Politiker dar, der sich für den Frieden einsetzte.
Die Publikationen des brasilianischen Presse- und Propagandadepartements und die
Biographie von Paul Frischauer legitimierten für die brasilianische Bevölkerung nach dem
Eintritt Brasiliens an der Seite der USA in den Zweiten Weltkrieg a posteriori die
Kehrtwendung Brasiliens vom Sympathisanten faschistischer Regime hin zum solidarischen
panamerikanischen Kämpfer gegen die faschistische Bedrohung nach innen und außen.
Europäische Immigranten schrieben auch in der bedeutendsten theoretischen Zeitschrift des
Estado Novo, der Cultura Política, die ab März 1941 erschien (vgl. Benzaquen de Araújo
1996, vgl. McCann 1973, vgl. Frischauer 1944, vgl. Goulart 1990).
27.7 Brasiliens Beziehungen zu Deutschland
Zwischen 1933 und 1938 intensivierten sich die Handelsbeziehungen Brasiliens zum
Deutschen Reich, das sich vom nordamerikanischen Raum abkoppeln wollte und im
autoritären Vargas-Regime einen idealen Partner sah. Es avancierte nach den USA zum
zweitwichtigsten Importeur von Baumwolle und Kaffee. Deutschland selbst verfolgte eine
protektionistische Wirtschaftspolitik und arbeitete mit bilateralen Verträgen. Es zahlte seine
Importe nicht mit Devisen, sondern mit Blockmark. Der Handelspartner musste entweder
deutsche Mark kaufen oder in ein Land importieren, das ebenfalls mit Deutschland Handel
trieb. 1938 betrugen die deutschen Importe aus Brasilien bereits 25%. Im selben Jahr
importierte Brasilien deutsche Waffen. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erklärte Brasilien
seine Neutralität. Bis Mitte 1940 wurden weiterhin Handelsverträge zwischen Brasilien und
Deutschland abgeschlossen, die Lieferungen gingen teils - um der britischen Seeblockade im
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Krieg zu entgehen - über Italien. Diese Entwicklung verfolgten die USA besorgt (vgl. Silva
Seitenfus 1985).
27.8 Brasilien und die USA
Ab den zwanziger Jahren versuchten die USA massiv, ihren ökonomischen und politischen
Einfluss in Lateinamerika zu forcieren, um neue Märkte zu erreichen. Die 1913 gegründete
Rockefeller-Foundation finanzierte Gesundheitsprojekte, um den Lebensstandard zu erhöhen
und damit die Zahl der potentiellen KonsumentInnen in der südlichen Hemisphäre zu
vermehren. Die Inter-Amerikanischen Konferenzen von 1936 in Buenos Aires und 1938 in
Lima gaben dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt Gelegenheit, das Konzept einer
Politik der "guten Nachbarschaft" als wirksame Verteidigungsstrategie der westlichen
Hemisphäre gegenüber den totalitären Ideologien in der "Alten Welt" anzukündigen. Sie löste
die "Big-Stick-Politik" zugunsten eines Modells der politischen und ökonomischen
Integration, der Modernisierung und Stabilisierung unter US-amerikanischer Führung ab.
Dazu zählte die Etablierung eines interamerikanischen Sicherheitssystems. Statt die
unilaterale Präsenz einer paternalistisch agierenden Supermacht auszuweiten, propagierte die
Roosevelt-Politik nun das Modell einer politischen, ökonomischen und kulturellen
Zusammenarbeit von Partnern. Die US-Außenpolitik gegenüber Brasilien verfolgte mehrere
Ziele: Erstens wollten die USA den ökonomischen Rivalen Großbritannien ablösen, zweitens
Frankreich aus seiner Domäne in Bildungspolitik und Militärausbildung verdrängen. Drittens
wuchs aufgrund der aggressiven nationalsozialistischen Politik in Europa die Gefahr, dass der
Einfluss faschistischer Gruppen innerhalb der italienisch-, deutsch- und japanischsprachigen
Migrantenbevölkerung in Lateinamerika an politischem Gewicht gewinnen würde. 1939
gewährten die USA - auch aufgrund des Verhandlungsgeschickes des brasilianischen
Außenministers Oswaldo Aranha - dem lateinamerikanischen Staat Kredite im Wert von 70
Millionen Dollar. Der Chef des US-amerikanischen Generalstabs, George Marshall, besuchte
im selben Jahr Brasilien, um über den Ausbau militärischer Stützpunkte im Nordosten des
Landes zu verhandeln. Nach dem deutschen Überfall auf Frankreich im Juni 1940 und der
Ausweitung des Krieges auf Nordafrika im Sommer desselben Jahres befürchteten die USA,
dass deutsche Truppen von Nordafrika aus nach Brasilien übersetzen könnten. Im Juni 1940
schockierte Vargas die USA und Großbritannien mit einer achsenfreundlichen Rede, in der er
von den autoritären, starken Regierungen als den einzig zeitgemäßen sprach. Er näherte sich
in seiner Strategie des Lavierens nochmals an das Deutsche Reich an, um den Preis seiner
Allianz und damit die Finanzhilfe der USA zu erhöhen. Diese investierten tatsächlich
aufgrund ihrer Furcht vor einer "fünften Kolonne" verstärkt in Brasilien und in (allerdings
veraltete) Kriegsgüter.1940 übernahm Nelson Rockefeller die Leitung der neugegründeten
Organisation Office of the Coordinator of Inter-American Affairs, das in enger
Zusammenarbeit mit dem State Department (kultur-)politische mit wirtschaftlichen
Maßnahmen verband, um anti-amerikanische Ressentiments zu beseitigen und Brasilien zum
solidarischen panamerikanischen Kämpfer heranzubilden (vgl. Moniz Bandeira 1978, vgl.
Faoro 1987, vgl. Prutsch 2002).
27.8.1 Brasilien im Zweiten Weltkrieg
Zwischen Juli 1940 und Dezember 1941 erhöhten die USA ihre militärischen, technischen
und finanziellen Angebote. Zahlreiche bilaterale Verträge fixierten die außenpolitische Linie
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Brasiliens. Im Februar 1941 erklärte Vargas dem US-Amerikanischen Botschafter, dass
Brasilien im Sinne der Monroe-Doktrin die USA unterstützen würden, wenn ein nichtamerikanischer Staat den USA den Krieg erklären würde. Anlässlich der
Außenministerkonferenz amerikanischer Staaten in Rio de Janeiro im Jänner 1942, die unter
dem Eindruck des Angriffs Japans auf Pearl Harbor im Dezember 1941 und der
Kriegserklärung des Deutschen Reiches an die USA stand, brachen alle lateinamerikanischen
Staaten mit Ausnahme von Chile und Argentinien die Beziehungen zu den Achsenmächten
ab. Im Juli 1942 wurden brasilianische Handelsschiffe vor der eigenen Küste durch deutsche
U-Boote torpediert, worauf Brasilien dem Deutschen Reich und Italien am 22. August
desselben Jahres den Krieg erklärte. 1942 wurden auch diejenigen Minister demonstrativ ihrer
Ämter enthoben, die mit der Politik der Achsenmächte bis zuletzt sympathisiert hatten: der
Direktor des Presse- und Propagandadepartements Lourival Fontes und der Chef der
politischen Polizei Filinto Müller. Da in Brasilien seit August 1942 die Ausübung von
Fremdsprachen verboten war, wurde das exilpolitische und literarische Leben der
ImmigrantInnen stark eingeschränkt. Ab Jänner 1942 musste jede Reise eines Emigranten
innerhalb Brasiliens polizeilich bestätigt werden. Die Polizei kontrollierte, ob
Ausgangssperren eingehalten wurden, deutschsprechende Brasilianer wurden denunziert und
bestraft, Razzien sollten NS-Spione und Agenten aufdecken.
Die außenpolitische Einschätzung von Vargas änderte sich z.B. in Großbritannien rapid: War
er für die Briten um 1940 noch ein oligarchischer Diktator, der mit einer Handvoll "gauchos"
regierte, so wandelte er sich zum braven Pan-Amerikaner und zum beeindruckenden
politischen Talent: Der britische Botschafter Charles schrieb an Sir Anthony Eden: [Vargas]
successfully repressed communism and integralism, is brave, a persuasive orator and a genius
in the art of political manoeuvre. Der britische Botschafter Knox schrieb sogar: "Vargas'
Regime practises no doubt, corruption and some minor injustice, but of major injustice,
terrorism and persecution, I have seen no sign." (vgl. Prutsch/Zeyringer 1997, S. 211ff). Als
alliierter Kriegspartner erhielt der südamerikanische Staat umfangreiche US-Unterstützung in
Form von (Militär)-Technologie und Krediten. Es wurde nicht nur amerikanisches TrainingsAreal für Wirtschafts- und Technologieprogramme, sondern ein potentieller Markt für den
"American Way of Life". 1941 begannen die USA mit der Finanzierung des riesigen
Stahlwerkes Volta Redonda nahe Rio de Janeiro, des bedeutendsten Symbols brasilianischer
Modernisierung. Die USA erließen Brasilien 1943 auch seine Schulden. Für die USA war
Brasilien erstens ein wichtiger Rohstofflieferant für die Kriegsindustrie. 1941 verpflichteten
sich die USA, Brasilien Kriegsgerät in der Höhe von 1 Mrd. Dollar zu liefern und Kredite zu
gewähren, Brasilien verpflichtete sich hingegen, seine gesamte Produktion von Bauxit, Berill,
Eisen-Nickel, Industriediamanten, Mangan, Glimmer, Quarzen, Kautschuk, Titan etc. in die
USA zu liefern. Seit 1942 hatten die USA Militärbasen in Nordostbrasilien; in Natal trafen
sich Vargas und Roosevelt 1943.
Die Waffenbrüderschaft wirkte sich auf die brasilianische Aufrüstung aus. 1942 machten die
Militärausgaben 36,5% des Budgets der Zentralregierung aus. Mit den finanziellen und
technischen Segnungen der USA baute Brasilien seine Vormachtstellung in Lateinamerika vor allem gegenüber Argentinien - aus. Aufgrund des US-amerikanischen Drucks entzog
Brasilien auch deutschen und italienischen Firmen, angefangen von den Fluglinien Lufthansa
und LATI, die Bewilligung (vgl. Silva Seitenfus 1985).
27.8.1.1 Brasiliens aktiver Kriegseinsatz
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Seit 1942 drängten einige brasilianische Gruppen um Vargas auf einen Einsatz von Soldaten
im Weltkrieg, stießen aber bei einem Teil der brasilianischen Militärs auf Ablehnung, die
keine Einmischung der USA in Strategien der Brasilianer, noch eine militärische
Abhängigkeit von den USA wünschten. Zudem stieß der Kriegseinsatz auf die Kritik
Churchills. Andere Gruppen wünschten eine bessere militärische Ausbildung gerade gegen
das autoritäre Argentinien und gegen Bolivien. Teile der Zivilbevölkerung, wie die politisch
aktiven Studenten, hielten einen aktiven Kriegseinsatz und damit den Verlust von Menschen
für überflüssig. Vargas, Außenminister Aranha und Teile des Militärs meinten, dass man
Brasilien dafür kritisieren würde, nicht aktiv eingegriffen zu haben. Franklin D. Roosevelt
ermutigte Vargas im Februar 1943 bei ihrem Treffen in Natal zu einem militärischen
Engagement. Ab 30. Juni 1944 wurde die Força Expedicionaria Brasileira (FEB), eine
Gruppe des brasilianischen Heeres in der Stärke von 26 000 Mann, von den US-Amerikanern
ausgebildet, trainiert, ausgerüstet, einer US-Einheit eingegliedert und kam in Italien zum
Einsatz. Hatten die Brasilianer und die USA um 1940 noch einen Übergriff der Deutschen
über Nordafrika nach Brasilien befürchtet, so nahm die Allianz der beiden Alliierten nun den
umgekehrten Weg. Über 650 Brasilianer kamen in Italien um, das ihnen gesetzte Denkmal in
Rio de Janeiro wurde von Oscar Niemeyer konzipiert. Brasilien erhielt drei Viertel der
gesamten US-Militärinvestitionen für den lateinamerikanischen Raum während der
Kriegsjahre (vgl. McCann 1993).
27.9 Opposition gegen Vargas, Parteiengründung
Ab 1943 hatte sich die Opposition gegen Vargas in den Reihen der Studentenschaft vor allem
an der Universität von São Paulo (USP), aber auch in den Reihen demokratischer Brasilianer
und bei Teilen des Militärs verstärkt. Die Opposition kritisierte in einem "Manifesto dos
Mineiros" im Oktober 1943 den aktiven Kriegseinsatz Brasiliens und wies auf die
Widersprüchlichkeit hin, daß eine Diktatur propagandistisch Schlagworte wie jene des
gemeinsamen Kampfes der Demokratien gegen die Achsenmächte wiederholte. Klientelismus
und Korruption zählten zu den Kritikpunkten, da bekannt geworden war, dass der Bruder des
Präsidenten, Benjamin Vargas, Teile des US-Kriegsgerätes verscherbelte, das über
Argentinien und Spanien nach Italien, und damit zu den Kriegsgegnern gelangte. Als der Chef
des Generalstabes, Gois Monteiro, sich für liberale Ideen einzusetzen begann, spaltete er das
Militär. Seit 1943 hatte Vargas Wahlen nach Kriegsende und einen Übergang zur Demokratie
versprochen. Im Frühjahr 1945 lockerte er die Zensurbestimmungen. Der Anführer der
Coluna Prestes und prominente Vargas-Gegner, Luis Carlos Prestes, wurde ebenfalls
amnestiert und engagierte sich politisch an der Seite von Vargas. Politische Parteien wurden
wieder zugelassen, wobei Vargas gleich zwei Pateien gründete: die Sozialdemokratische
Partei (Partido Social Democrático) und die Arbeiterpartei (Partido Trabalhista Brasileiro,
PTB). Die Arbeiterschaft war diejenige gesellschaftliche Schicht, die sich am klarsten für den
Verbleib von Vargas in der Politik einsetzte ("Queremisten", von querer: wollen). 1945
konstituierte sich zudem die Kommunistische Partei neu (Partido Comunista Brasileira, PCB),
die jedoch zwei Jahre später wieder aufgelöst wurde (vgl. French 1994).
Die bürgerlich-konservativen Vargas-Gegner vereinigten sich in der Demokratischen
Nationalen Union (União Democrática Nacional). Im März 1945 gewährte Vargas Amnestien
für politische Häftlinge und rief Wahlen für Dezember 1945 aus. Bei diesen Wahlen ging der
Kriegsminister Eurico Gaspar Dutra als siegreicher Kandidat hervor. Die Kommunistische
Partei erhielt eine halbe Million Stimmen und war mit ihrem Mitgliederstand von 180 000 bis
200 000 Personen die stärkste kommunistische Partei in Lateinamerika dieser Zeit. Die
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Militärs zweifelten an Vargas' Abdankungsplänen und interpretierten die Wahlen als Versuch
des Präsidenten, im Amt zu bleiben. Ende Oktober wurde Vargas zum Rücktritt gezwungen
und zog sich in seine Heimat Rio Grande do Sul zurück, wo er einen Senatorensitz übernahm
(vgl. Zoller 2000).
Vargas' politisches Geschick des Lavierens, der durch die Medien verbreitete Mythos der
charismatischen, paternalistischen Führerfigur (Getulismo) machte ihn mit Juan Perón zu den
Meistern des Populismus in Lateinamerika. Der Mythos von Vargas ist im kollektiven
Gedächtnis der Arbeiter besonders wegen des gesetzlich festgelegten Mindestlohns - eine USamerikanische Erfindung - bis heute verankert (vgl. Weffort 1980).
27.10 Heldenverehrung und Konstruktion von Geschichte
Der Estado Novo veränderte den Festkalender. Vargas' Geburtstag, der 19. April, wurde zum
Feiertag erklärt, ebenso der 10. November, die Geburtsstunde des Estado Novo. "Die Woche
des Vaterlandes" um den Unabhängigkeitstag, den 7. September, wurde mit Aufmärschen,
Paraden gefeiert. In der "Stunde der Unabhängigkeit" versammelte der Komponist Heitor
Villa Lobos 20 000 Schulkinder, die unisono den Estado Novo und Getúlio Vargas besangen.
Die Vargas-Regierung fand unzählige Möglichkeiten, Helden der Vergangenheit zu
würdigen. Im Estado Novo kamen Revolutionäre der Inconfidência Mineira, eines
antimonarchistischen Aufstandes von 1789 zu Ehren; deren sterbliche Überreste wurden nach
Brasilien transferiert und dort im eigens 1942 errichteten Panteon der Revolutionäre bestattet,
der genau am Todestag von Tiradentes, der Leitfigur des Aufstandes, eingeweiht wurde.
Die Revolution von 1789 war für das Vargas-Regime Symbol für Patriotismus, Pflicht,
Opferbereitschaft für das Vaterland und Ablehnung regionalistischen Denkens. Vargas
entledigte den Aufstand seines ursprünglichen Kontextes und stilisierte Tiradentes und seine
Mitkämpfer zu Märtyrern am Projekt des Neuen Brasilien hoch. Frauen spielten übrigens in
der Heldenverehrung des Estado Novo keine Rolle. Zu den Helden glorreicher Vergangenheit
wurde der brasilianische Kaiser Pedro II. gemacht, der 1891 im Pariser Exil verstorben war.
In den dreißiger Jahren begann die historische Forschung sich mit den Bragancas zu
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beschäftigen. Unter dem Estado Novo wurde Pedro II. ein Platz im nationalen Gedächtnis als
Held, Patriot und Mann des Geistes geschaffen. Man repatriierte ihn und seine Gemahlin
Tereza Cristina und errichtete ihnen ein Mausuleum (1939). Der Pedro-Kult gipfelte in der
Einweihung des Imperialen Museums (Museu Imperial) in den Räumen von Pedros
Sommerresidenz in Petropolis, das 1943 eingeweiht wurde.
Im Museum wurden diverse Insignien der Bragancas ausgestellt, aber auch Objekte des 19.
Jahrhunderts, die nie in Petropolis in Verwendung waren, sondern von wohlhabenden
Familien gesponsert wurden. Museen sind bedeutende Orte nationalen Gedächtnisses und
gute Beispiele für Geschichtskonstruktion und die Positionierung von Vargas in der Reihe der
Imperatoren (vgl. Williams 2001). Die Nationalisierungspolitik benötigte das Erbe der
eigenen Vergangenheit zur Legitimierung brasilianischer Kreativität und Grösse. Unter
Vargas wurde 1937 eines der modernsten Denkmalschutzgesetze der damaligen Zeit
festgelegt: das Gesetz zum Schutz des nationalen historischen und künstlerischen Erbes
(SPHAN). Die Vargas-Regierung restaurierte die Juwele des barrocken Katholizismus von
Ouro Preto, Diamantina, Mariana und anderen Städten in Minas Gerais. Den Werken des
Bildhauermeisters Aleijandinho, eines Autodidakten, der an Lepra litt, wurde besondere
Aufmerksamkeit zuteil. Seine Arbeiten wurden aufgenommen, Gipsabdrücke wurden
angefertigt und archiviert. Zu den ersten Restaurationsprojekten des SPHAN zählte die
Jesuitenreduktion Sao Miguel in Rio Grande do Sul.
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