Eine spezifische Lern- und Lehrsituation

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Eine spezifische Lern- und Lehrsituation
DaF bei bilingualen Studierenden: Eine spezifische Lern- und Lehrsituation
ANGELIKA GÄRTNER
On the basis of examples of language production this article will discuss the influence of
bilingualism (German dialect and Portuguese) on learning German as a foreign language. The
research participants were students of German heritage in Rio Grande do Sul, South Brazil.
1 Einleitung
Eine spezifische Lern- und Lehrsituation von Deutsch als Fremdsprache zeigt sich an einem
Ausbildungsinstitut für Deutschlehrkräfte an Schulen in Brasilien: das 1976 gegründete, von der
deutschen Zentralstelle für das Auslandsschulwesen unterstützte und an die brasilianische
Privatuniversität UNISINOS angeschlossene Instituto de Formação de Professores de Alemão
(IFPLA) ist in São Leopoldo, dem südlichsten brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul,
angesiedelt. 1 Es bildet als Zielgruppe hauptsächlich bilinguale Studierende mit Deutsch und
Portugiesisch als Mutterspra-chen aus (Born & Gärtner, 1998; Gärtner, 1996; Volkmann, 1999),
welche die deutsche Sprache in der Regel als Dialektvarietät (im Rahmen des südwestdeutschen Dialektkontinuums Rhein- bzw. Moselfränkisch - in Südbrasilien autochthon als 'Hunsrückisch'
bezeichnet, vgl. Altenhofen, 1996; Gärtner & da Cunha, 1998; Tornquist, 1992) als erste Sprache
lernten, sie als mündliches Kommunikationsmedium (Haus- und Familiensprache) benutzen und meist
nicht in ihr alphabetisiert wurden. Daher werden die Studierenden, wenn sie zuvor noch keinen
Deutschunterricht an Schulen hatten, spätestens am IFPLA mit der Diskrepanz von Dialekt und
Standarddeutsch konfrontiert. Insofern handelt es sich um eine spezifische Lernsituation, weil die
Studierenden mit deutschdialektaler Muttersprache laut Curriculum das Fach Deutsch als
Fremdsprache studieren, das für sie eigentlich das Erlernen der deutschen Standardsprache
bedeutet. Ebenso komplex stellt sich die Situation für die Lehrenden dar, die das Fach Deutsch als
Fremdsprache entsprechend den landesüblichen Vorgaben im Rahmen des
Fremdsprachenunterrichts lehren, hierbei in erster Linie die deutsche Standardsprache behandeln und
von Voraussetzungen wie vorhandenes Basisvokabular, bestehende Satz- und Äußerungsstrukturen
sowie rezeptives Wissen (vor allem z.B. im Bereich des Hörverständnisses) bei der Lerngruppe
ausgehen können. Doch dieser besonderen Lern- und Lehrsituation wird weder im Curriculum noch
systematisch im Unterricht Rechnung getragen. Von den genannten Voraussetzungen ausgehend
stellt sich bei der Analyse der Sprachproduktion beim DaF-Erwerb, wie ich sie seit einiger Zeit an
einem Corpus von Texten und transkribierten Diskursen durchführe, z.B. die Frage nach der
Verarbeitung des sprachlichen Wissens über die deutschdialektale und portugiesische Muttersprache
und der potenziellen Kontamination des Wissens über beide Sprachen. Hierzu möchte ich aus einer
Vielzahl von Beispielen die Analyse des Verbalkomplexes "wird erstaunnt" im Text einer Studentin aus
dem zweiten Semester exemplarisch vorstellen.
2 Exemplarische Analyse zur Wissensverarbeitung der Studierenden
Neben einer - lediglich als Ausgangsbasis dienenden - 'traditionellen' Fehleranalyse der
geschriebenen und gesprochenen Sprache bedarf es zunächst einer sprachwissenschaftlichen
Analyse, um Aussagen über die Wissensverarbeitung der Studierenden machen und ihren mentalen
Prozess bei der Sprachproduktion rekonstruieren zu können. Hierbei ist die Methode der funktionalpragmatischen Arbeitsrichtung von Nutzen, der eine handlungstheoretische Auffassung von Sprache
zu Grunde liegt (Ehlich, 1991; Ehlich & Rehbein, 1986) und in der Zwecke als das zentral
strukturierende Ele-ment sprachlicher Handlungsprozesse im Mittelpunkt stehen. Mit ihr wird versucht,
anhand von sprachlichen Prozeduren und Handlungsfeldern die handlungsorientierte
Wissensverarbeitung zu analysieren.
2.1 Der Verbalkomplex "wird erstaunnt" Der Schreibanlass zur Analyse der Sprachproduktion ist
die Erzählung einer Bildgeschichte. In ihrem schriftlichen Text erzählt die Studentin, dass ein Vater
und sein Sohn während des Hausbrandes versuchen, die wichtigsten Gegenstände aus den Flammen
zu retten. Plötzlich hat der Sohn den Einfall, den Brand für seine Zwecke auszunutzen und die schon
herausgebrachten Schulhefte mit den schlechten Noten durch ein Fenster in das brennende Haus
zurückzuwerfen. Dabei erwischt ihn sein Vater:
Diese Arbeiten nihmt er und wirft alle in das Feuer. In dieser Moment kommt sein Vater nochmal aus
dem Haus und wird erstaunnt als er sieht was Marcos an machen ist. (Cós.2bdt)
Bei dem vom Standarddeutschen abweichenden Verbalkomplex wird erstaunnt sind mehrere Lesarten
möglich. Die sich zunächst anbietende hat einen engen Bezug zum Portugiesischen. Es könnte sich
um eine Lehnübersetzung handeln, nämlich aus fica surpreso oder fica espantado. Das komplexe
Verb ficar hat neben seiner räumlichen Funktion der "Lokalisierung einer Sache, die ihren Ort nicht
verändert" (Hundertmark-Santos, 1998, S. 231), - in der Bedeutung von bleiben - auch eine
"abstrakte" Funktion, und zwar in Verbindung mit dem Partizip II; ficar bezeichnet dann eine
"Zustandsveränderung bzw. den Eintritt eines neuen (psychologischen) Zustandes oft als emotionale
Reaktion auf irgendein Ereignis" (ibd.). Es dient hierbei als Auxiliarverb, das vom angeschlossenen
Partizip und seiner Bedeutung dominiert wird (vgl. Cunha & Cintra, 1985, S. 483). Im Präsens wird
ficar im Deutschen in der Regel mit einer Form von sein + Partizip II als 'Zustands'-Passiv ('sein'Passiv) oder mit der aktiven Präsens-form des Partizips wiedergegeben. Im Fall von fica surpreso
bzw. espantado müsste die Übersetzung er staunt, er ist überrascht o.ä. lauten - je nach Wortwahl des
deutschen Ausdrucks aus den Symbolfeldern staunen oder überraschen und ihrer semantischen und
morphosyntaktischen Verwendung.
Rekonstruierbar ist der mentale Prozess insofern, als die Studentin im Moment der Textproduktion
möglicherweise (noch) nicht über dieses sprachliche Wissen verfügte oder es nicht anwenden konnte.
Sie war sich allerdings eines Vorgangs im Geschehen und als Folge einer gewissen
Zustandsveränderung beim Vater bewusst und beabsichtigte, genau dies zu versprachlichen. Hier
schließt sich die zweite Lesart an, wobei es notwendig ist, die Semantik und den Gebrauch des
deutschen Verbs werden näher zu untersuchen. Nach Redder (1992) kann das Verb werden,
entsprechend seinem Kontext, vier verschiedenen Prädikationstypen (Vollverb, Modalverb,
Auxiliarverb, Ko-pulaverb) zugeordnet werden. Für die Analyse am Textbeispiel steht die Verwendung
von werden zusammen mit dem Partizip II im Mittelpunkt, "gewöhnlich als Auxiliar zur Bildung des
(Vorgangs-) Passivs" (Redder, 1999, S. 295) gebraucht. Doch bei der Verwendung von wird erstaunnt
steht möglicherweise ein anderes Konzept im Vordergrund, nämlich werden im Sinne eines
'Zustands'-Passivs, welches das Resultat einer Zustandsveränderung bezeichnet. Hier kommt der
Semantik von werden, einem verbalen "modalitätsbezeichnenden symbolischen Ausdruck aus dem
Symbolfeld" (Redder, 1999, S. 304), eine wichtige Bedeutung zu. Entsprechend dem
handlungstheoretischen Modell, das zwischen Wirklichkeit (=P1), ihrer mentalen Widerspiegelung im
Kopf der Sprechenden/Schreibenden und der Rezipierenden (=P2) und der sprachlichen Realisierung
bzw. Verbalisierung (=p) unterscheidet (vgl. Ehlich & Reh-bein, 1986, S. 96), ist werden "als Mittel zur
Geltendmachung des P2-Bereiches" (Redder, 1998, S. 300) anzusehen und dient zur Verbalisierung
"mit einem Blick auf einen Modalitätsumschlag des Handelns" (ibd.). Es leistet somit einen Beitrag zur
Vermittlung von Handlungsentschluss und Handlungswirklichkeit. Dies trifft auf den Ausdruck wird
erstaunnt zu. Es wurde die Wirklichkeitsveränderung im Bereich P1 und P2 vollzogen, wodurch es zu
einem Modalitätsumschlag kommt: Im Mittelpunkt steht der Vater, der gerade aus dem Haus kommt
und über die Aktivität seines Sohnes, nämlich das Zurückwerfen der Schulhefte in die Flammen,
erstaunt ist. Zunächst steht am Anfang des Satzes eine Umfokussierung und somit ein
Perspektivenwechsel (von Sohn zu Vater), was durch den Konjunktor und weitergeführt wird. Die
Modalität schlägt hier um, weil es zu einer Zustandsveränderung beim Vater kommt, die durch eine
Tatsache hervorgerufen wird, welche die Verfasserin mit dem anschließenden, durch den Subjunktor
als eingeleiteten Nebensatz darstellt: "[...] und wird erstaunnt als er sieht was Marcos an machen ist."
Durch den hier temporalen Subjunktor wird der Zeitpunkt des Umschlags angegeben und durch den
vom als-Nebensatz abhängigen zweiten Ne-bensatz ("was Marcos an machen ist") auch der Grund
erläutert.
Eine andere mögliche Lesart ist die Passivkonstruktion im Sinne des 'Vorgangs'-Passivs, das im
Deutschen durch eine Form von werden + Partizip II gebildet wird. Das 'Vorgangs'- bzw. werdenPassiv ist das prozessuale, nicht agens-orientierte Genus verbi (Zifonun, Hoffmann & Strecker 1997,
1792ff.). Von Bedeutung ist hierbei der prozessuale Charakter, d.h. die Darstellung eines Vorgangs,
der durch das Passiv ausgedrückt wird. Diese Hypothese eines Vorgangs ist schon auf Grund des
Kontextes und des Inhalts der Erzählung an dieser Stelle auszuschließen. Der Vater wird nicht durch
jemanden oder etwas erstaunt, sondern er selbst handelt auf Grund der o.g. Ereignisse: Es kommt zu
einer Zustandsveränderung, die zwar durch einen Vorgang ausgelöst wurde, aber eben nicht durch
ihn selbst, sondern durch seinen Sohn bzw. dessen Handlung. Auch spielt die Weiterführung der
Erzählung mit als eine wesentliche Rolle an dieser Stelle (s.o.). Insofern ist davon auszugehen, dass
es sich hier - abgesehen vom unkorrekten passivischen Gebrauch des Verbs erstaunen - einerseits
traditionell-grammatisch gesehen möglicherweise um eine Verwechslung zwischen 'Zu-stands'- und
'Vorgangs'-Passiv handelt, das sich lediglich in der Verwendung der Verben sein oder werden
unterscheidet; dass aber andererseits, wie die funktional-pragmatische Analyse gezeigt hat, das
mentale Konzept der Studentin für die eventuell bewusste Verwendung von werden von großer
Relevanz ist.
Bei der Bildung des Verbalkomplexes wird erstaunnt ist demnach ein mentales Konzept vorhanden,
das sich lediglich in der für die deutsche Sprache gewählten Bildung als abweichend erwies.
Möglicherweise kontaminiert die Studentin ihr Wissen aus der deutschdialektalen und portugiesischen
Sprache bei der Produktion der Abweichung.
Eine vergleichbare Verarbeitung von deutschdialektalem und portugiesischem Sprachwissen liegt bei
den in Texten und Diskursen der Studierenden häufig vorkommenden 'Verlaufsformen', d.h. in mit
Präposition verbundenen nominalisierten Infinitivkonstruktionen, vor. Auch hier werden
Wissensbestände zur portugiesischen Gerundiumform und zur deutschen umgangssprachlich
gebrauchten Verlaufsform kontaminiert und in Texten korrekt oder inkorrekt verwendet (Zum Beispiel:
"Allen waren sie an warten. Der Vater sah es als er am nochwas rausbringen war; Auf den Boden
liegt der Vater, sehr froh mit den Beinen in der Luft das Buch an lesen.").
3 Ausblick
Um die Lehre besser auf die spezifische Zielgruppensituation ausrichten zu können, bedarf es
zunächst dieser sprachwissenschaftlichen Untersuchungen der Sprachproduktion der Studierenden
zur Feststellung ihres Sprachstandes sowie ihres negativen als auch positiven Transfers aus dem
Wissensbestand über die deutsche und die portugiesische Sprache, aber auch der Rekonstruktion
mentaler Prozesse. Ebenso notwendig ist die Miteinbeziehung verschiedener
sprachwissenschaftlicher Bereiche in die Lehre wie der Kontrastiven Linguistik (Deutsch vs.
Portugiesisch sowie Dialekt vs. Standarddeutsch), Text- und Diskursanalyse (besonders unter
funktional-pragmatischen Gesichtspunkten), Analysen der Dialektvarietäten des Rhein- und
Moselfränkischen und des "Hunsrückischen" Südbrasiliens.
Ziel hierbei ist, die erlangten Erkenntnisse auf ähnliche Situationen nicht nur in Südbrasilien, sondern
auch übergreifend auf vergleichbare Konstellationen im Ausland oder gar Inland, wo dialektale
Sprachkenntnisse eine Rolle spielen, anwenden zu können.
Anmerkungen
São Leopoldo ist der Ankunftsort der ersten deutschen Immigranten. Nach Rio Grande do Sul
wanderten zwischen 1824 und 1917 etwa 50.000 bis 75.000 Deutsche (Altenhofen 1996; da Cunha,
1995) aus. Ungefähr ein Viertel der über 9 Millionen Gaúchos sind heute deutscher Abstammung
Literaturverzeichnis
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