Tom Clancy`s Net Force 1

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Tom Clancy`s Net Force 1
Das Buch
Man schreibt das Jahr 2010: In der dreidimensionalen Welt des
Internet bewegen sich zwielichtige Gestalten unterschiedlichster
Couleur, die das World Wide Web nutzen wollen, um ihre dunklen
Machenschaften durchzuziehen. Auf diese besondere Form des
organisierten Verbrechens ist die Net Force spezialisiert, eine
Untereinheit des FBI. Sie ist dem New Yorker Ray Genaloni, Kopf
eines Verbrechersyndikats, das kurz vor dem Durchbruch in die
Legalität steht, ebenso ein Dorn im Auge wie dem Russen
Wladimir Plechanow, der die Zeit gekommen sieht für die
Verwirklichung seines großen Plans. Um die Net Force von seinen
Manipulationen im World Wide Web abzulenken, läßt Plechanow
Steve Day, den Kommandanten dir Net Force,, ermorden. Die
Vorgehensweise der Killer, die der von Tschetschenien aus
operierende Russe dafür angeheuert hat, trägt scheinbar die
Handschrift Genalonis. Alex Michaels, der als engster Mitarbeiter
Days zum kommissarischen Kommandanten der Net Force ernannt
wird, läßt sich zunächst täuschen und wird zur Zielscheibe von Ge nalonis Killer - >The Selkie< alias Mora Sullivan.
Die Autoren
Tom Clancy, geboren 1947 in Baltimore, begann noch während
seiner Tätigkeit als Versicherungskaufmann zu schreiben und legte
schon mit seinem Roman Jagd auf Roter Oktober einen Bestseller
vor. Mit seinen realitätsnahen und detailgenau recherchierten
Spionagethrillern hat er Weltruhm erlangt. Tom Clancy lebt mit
seiner Familie in Maryland.
Von Tom Clancy ist im Heyne-Verlag erschienen: Gnadenlos
(01/9863), Ehrenschuld (01/10337).
Steve Pieczenik ist von Beruf Psychiater. Er arbeitete während der
Amtszeiten von Henry Kissinger, Cyrus Vance; und James Baker
als Vermittler bei Geiselnahmen und Krisenmanager. Steve
Pieczenik ist Bestsellerautor von psychologisch angelegten
Polit-Thrillern.
Von Tom Clancy und Steve Pieczenik liegen im Heyne-Verlag
vor: Tom Clancy's Op-Center (01/9718), Tom Clancy's Op-Center:
Spiegelbild (01/10003), Tom Clancys Op-Center: Chaostage
(01/10543).
TOM CLANCY und STEVE PIECZENIK
TOM CLANCY'S
NET FORCE 1
INTERMAFIA
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Heiner Friedlich
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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HEYNE ALLGEMEINE REIHE
Nr. 01/10819
Titel der Originalausgabe
TOM CLANCY'S NET FORCE
Umwelthinweis:
Das Buch wurde auf
chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Redaktion: Verlagsbüro Dr. A. Gößling und O. Neumann GbR, München
4. Auflage
Copyright ©1998 by Netco Partners
Copyright ©1999 der deutschen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1999
Umschlagillustration: John Harris/Arena/Agentur Schlück
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Druck und Bindung: Presse-Druck Augsburg
ISBN 3-453-14746-4
http://www.heyne.de
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1
Dienstag, 7. September 2010, 23 Uhr 24
Washington, D.C.
»Alles in Ordnung, Commander«, erklärte Boyle. »Wir sind
soweit.«
Steve Day trat aus dem kühlen, klimatisierten Restaurant, aus
dem die köstlichen Düfte der ausgezeichneten italienischen Küche
drangen, in die schwüle Herbstnacht hinaus. Auf dem Bürgersteig
erwartete ihn Boyle, sein Leib wächter, der jetzt in ein Funkgerät
sprach. Die Limousine stand bereit, aber Boyle war ein besonders
umsichtiger junger Mann und zählte zu den besten Leuten des FBI.
Erst auf seine Anweisung hin öffnete sich die elektrisch verriegelte
Fondtüre mit einem Klicken. Nicht ein einziges Mal richtete er
währenddessen den Blick auf Day.
Day nickte dem Fahrer zu. Der Mann war neu. Wie lautete
noch sein Name? Larry? Lou? So ähnlich jedenfalls. Er stieg ein
und ließ sich auf den lederbezogenen Sitz gleiten. Seine Laune war
hervorragend. Ein Menü mit sieben Gängen und drei
verschiedenen Spitzenweinen hob seine Stimmung immer.
Umbertos Restaurant war neu und verdiente mindestens vier
Sterne. Aber gegenwärtig war es noch in keinem Führer
verzeichnet, und Day hoffte, daß das noch lange so blieb. Bis jetzt
war so gut wie jedes unbekannte Restaurant mit anständigem
Essen, das er aufgespürt hatte, kurz darauf >entdeckt< worden was bedeutete, daß man kaum noch einen Tisch bekam.
Zwar war Day der Leiter der Net Force, deren Gründung in den
geheimen Machtzirkeln noch immer Tagesgespräch war, aber
wenn reiche Senatoren aus der Provinz oder noch wohlhabendere
ausländische Diplomaten vor einem auf der Liste standen, zählte
das nicht viel. In dieser Stadt wußten selbst die Restaurantbesitzer,
mit wem sie sich gut stellen mußten. Mit Sicherheit genoß ein
Offizier von so niedrigem Rang wie Day dabei nicht die oberste
Priorität, zumindest nicht im Augenblick.
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Trotzdem war das Essen köstlich gewesen. Pasta al dente,
Soße, die einem die Arterien verklebte, Shrimps, Salat und ein
erfrischendes Eis. Day fühlte sich angenehm gesättigt und leicht
beschwipst. Ein Glück, daß er nicht fahren mußte.
In diesem Moment piepste sein Pager.
Boyle ließ sich neben Day auf den Sitz gleiten, schloß die Tür
und klopfte mit dem Knöchel gegen die kugelsichere
Lexan-Trennscheibe.
Der Fahrer ließ den Motor an, während Day den Pieper vom
Gürtel löste.
In der oberen rechten Ecke der kleinen LCD-Anzeige des
Virgil - die Abkürzung stand für Virtual Global Interface Link blinkte ein Telefonzeichen. Als er das Symbol berührte, erschien
eine Nummer auf dem Schirm. Marilyn rief von zu Hause aus an.
Er warf einen Blick auf die Zeit anzeige. Kurz nach elf. Offenbar
war sie früher als erwartet von dem DAR-Treffen
zurückgekommen.
Diese
Quasselsitzungen
dauerten
normalerweise bis nach Mitternacht. Er grinste, während er
zweimal auf die Nummer tippte und auf die Verbindung wartete.
Das Virgil war ein faszinierendes Spielzeug. Kaum grö ßer als
eine Schachtel Zigaretten - auch wenn er das Rauchen vor über
zwanzig Jahren aufgegeben hatte, wußte Day noch, wie groß eine
Schachtel war -, kombinierte es Computer, GPS-Einheit, Telefon,
Uhr, Radio, Fernseher, Modem, Kreditkarte, Kamera, Scanner und
sogar ein kleines, drahtloses Fax in einem Gerät. Mit Hilfe des
GPS (des Global Positioning System) konnte man überall auf der
Welt seine Position bestimmen. Als ranghoher FBI-Beamter besaß
Day ein Virgil, das im Gegensatz zu den im Handel erhältlichen
Modellen für den zivilen Gebrauch nicht mit einem künstlichen
Ungenauigkeitsfaktor versehen war und daher bis auf fünf Meter
genau arbeitete. Über einen hochdigitalisierten, abhörsicheren
Kanal, der so eng war, daß er als >Rohr< bezeichnet wurde, ließ
sich mit jedem beliebigen Telefon oder Computer Verbindung
aufnehmen. Selbst ein Experte im Dechiffrieren von Codes hätte
eine Ewigkeit gebraucht, um in das Rohr einzudringen. Mit der
richtigen Kennung ermöglichte das Gerät Day Zugang zu den gewaltigen Datenbanken der Großrechner von FBI und Net Force.
Wenn ihm danach gewesen wäre, hätte er mit einer Prise des
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Puderzuckers auf dem Käsekuchen, den er zum Dessert verspeist
hatte, den Fingerabdruck des Kellners auf seinem Teller bestäuben
und überprüfen lassen können. Noch bevor er sein Mahl beendet
hätte, wären ihm dessen Identität und Lebensgeschichte bekannt
gewesen.
Es war ein Vergnügen, in der Zukunft zu leben, kaum ein
Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende. Wenn 2010 solche Wunder
bereithielt, was war dann erst in zwanzig oder dreißig Jahren zu
erwarten? Darauf freute er sich schon. Angesichts des
medizinischen Fortschritts bestand auch. eine reelle Chance, daß er
diese Zeit tatsächlich erleben würde.
»Hallo, Steve«, drang es aus dem Lautsprecher des Virgil.
»Hallo, Marilyn. Was gibt's?«
»Nichts Besonderes. Wir sind früher fertig geworden, , und da
wollte ich wissen, ob du Lust auf ein spätes Abendessen hast.«
Er grinste. Da die Kamera nicht eingeschaltet war, konnte sie
sein Lächeln nicht sehen. »Ich komme gerade von Umberto und
habe so viel gegessen, daß es für die nächsten zwei Wochen
reichen sollte.«
Sie lachte. »Verstehe. Kommst du nach Hause?«
»Bin schon unterwegs.«
Day besaß eine Eigentumswohnung in der Stadt, aber meistens
verbrachte er die Nacht in seinem Haus auf der anderen Seite des
Flusses. Die Kinder waren zwar erwachsen, doch Marilyn und der
Hund freuten sich, wenn sie ihn regelmäßig zu Gesicht bekamen.
Er schaltete das Virgil aus und klipste es wieder an den Gürtel,
was nicht ganz einfach war. Zunächst mußte er die Schnalle um
ein paar Löcher weiter stellen, dann verschob er das paddelförmige
Galco-Holster mit der SIG .40 ein wenig nach vorn, damit es sich
nicht in die rechte Hüfte bohrte. Natürlich hätte er auch einen der
neuen drahtlosen Kicktaser verwenden können, die den
Feuerwaffen angeblich überlegen waren, doch er traute ihnen nicht
recht. Auch wenn er seine Ernennung politischen Gründen verdankte - sein gegenwärtiges Amt hatte er durch die vielen Jahre im
Einsatz verdient. Nichts, fand er, ging über seine altmodische
Pistole.
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Die Waffe zu verschieben half. Weil er schon dabei war, löste
er die Klettverschlüsse an den Seitenteilen der KevIarweste und
stellte sie ebenfalls etwas lockerer ein.
Boyle neben ihm konnte das Grinsen kaum unterdrükken.
Day schüttelte den Kopf. »Sie haben gut lachen. Wie alt sind
Sie - dreißig? Drei- bis viermal pro Woche im Fitneßraum,
stimmt's? Wir alten Schreibtischhengste haben keine Zeit, uns in
Form zu halten.«
So schlecht war seine Verfassung auch wieder nicht.
Fünfundachtzig Kilo bei knapp einem Meter fünfundsiebzig, das
waren zwar ein paar Pfunde zuviel, aber immerhin war er im
letzten Juni zweiundfünfzig geworden, und da hatte man ein
Anrecht auf ein paar wohlverdiente Pölsterchen.
Die schmale Straße, die sie entlangfuhren, war eine Abkürzung
zur Schnellstraße und verlief hinter den neuen Vierteln mit
Sozialwohnungen. Dieser Teil der Stadt wirkte düster und trostlos.
Die Straßenlaternen waren zerbrochen, ausgeschlachtete
Autowracks säumten die Straße. Wieder einmal hatte sich ein
ganzes Viertel im Handumdrehen in einen Slum verwandelt. Noch
bevor der erste Anstrich trocken war, hatte der Niedergang schon
eingesetzt. Seiner Meinung nach bedurfte das gegenwärtige
Sozialsystem dringend einer Reform, aber das war nichts Neues.
Auch wenn vieles besser geworden war - es gab immer noch
Menschen, die an der Zukunft nicht teilhatten. In Washington
existierten Straßen, auf denen er sich nach Einbruch der
Dunkelheit auch mit Waffe, kugelsicherer Weste und Virgil nicht
hätte aufhalten wollen. In seiner gepanzerten Limousine fühlte er
sich etwas sicherer ...
Ein fürchterlicher Knall riß ihn aus seinen Gedanken.
Schlagartig wurde das Innere der Limousine in grelles,
orangefarbenes Licht getaucht. Der Wagen verlor auf der
Fahrerseite die Bodenhaftung, schien eine Ewigkeit lang auf zwei
Rädern zu fahren, bis er schließlich zurückkippte und hart auf der
Straße aufschlug.
»Was zum Teufel ...?«
Boyle hielt die Pistole bereits in der Hand, als das Heck der
Limousine ausbrach. Der Wagen schleuderte und rammte einen
Laternenpfahl aus Glasfaser, der abknickte und auf das Auto
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stürzte. Ein klirrender Regen von Glassplittern ergoß sich über den
Kofferraum.
Day sah einen massigen, schwarz gekleideten Mann aus der
schwülen Nacht auf den Wagen zurennen. Trotz der tief in die
Stirn gezogenen Mütze war unter dem blonden Haar eine Narbe zu
erkennen, die quer über die rechte Augenbraue verlief. Auf seinem
Gesicht lag ein Lächeln.
Hinter der Limousine schien sich etwas zu bewegen, doch als
Day sich umwandte, konnte er nichts entdecken.
»Weg hier!« brüllte Boyle. »Schnell weg!«
Der Fahrer gab Gas. Der Motor heulte auf, die Reifen
quietschten, doch der Wagen rührte sich nicht von der Stelle. Der
Gestank verbrannten Gummis erfüllte die Luft.
Day drückte an seinem Virgil den Knopf für das codierte
Notsignal und griff nach der Waffe, als der Mann in Schwarz die
Limousine erreichte und mit einem metallischen Geräusch etwas
an die Tür drückte. Dann wandte er sich ab und rannte in die
Dunkelheit zurück.
»Raus!« schrie Boyle. »Er hat eine Haftmine an der Tür
angebracht! Um Gottes willen, raus hier ...!«
Day packte den Türgriff auf der Fahrerseite, stieß die Tür auf
und hechtete hinaus. Nach einer improvisierten Schulterrolle
landete er unsanft auf dem Boden.
Eine Maschinenpistole bellte mehrmals auf. Mit metallischem
Geräusch gruben sich die Kugeln in die Limousine.
Day rollte sich herum und hielt nach Deckung Ausschau.
Nichts. Keine Möglichkeit, sich zu verstecken!
Als er zum Wagen zurücksah, schienen sich die Sekunden
quälend zu verlangsamen. Boyle sprang feuernd aus dem Auto,
orangefarbene Zungen färbten die Dunkelheit, doch es wirkte wie
eine Filmszene in Zeitlupe.
Boyle zuckte zusammen, als die Kugeln gegen seinen Körper
schlugen und von seiner Brust abprallten.
In einem Winkel seines Gehirns war Day bewußt, daß die
meisten Maschinenpistolen mit Pistolenmunition funktionierten.
Solche Geschosse konnten die Westen, die er und Boyle trugen,
nicht durchschlagen. Doch wenn der Gegner auf den Kopf zielte ...
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Blut und Gehirnmasse spritzten aus Boyles Schläfe, als die
Kugel austrat.
Verdammt! Was um Gottes willen ging hier vor? Wer waren
diese Leute?
Der Motor der Limousine heulte unaufhörlich, weil der Fahrer
noch immer vergeblich versuchte zu fliehen. Abgase stiegen Day
in die Nase. Der Gestank nach verbrannten Reifen mischte sich mit
dem stechenden, säuerlichen Ge ruch seiner Angst, die ihn zu
überwältigen drohte.
Da zündete die Mine an der rückwärtigen Tür der Limousine.
Die Druckwelle trieb das Glas der Scheiben in alle Richtungen.
Auch Day wurde von ein paar Scherben getroffen, bemerkte es
jedoch kaum.
Der hintere Teil des Wagendaches wurde ein Stück weit
aufgerissen, ein faustgroßes Loch öffnete sich. Beißender; bitterer
Rauch ergoß sich in einer heißen Welle über ihn.
Wie eine Puppe hing der Fahrer mit dem Oberkörper aus dem
Fenster.
Tot. Der Fahrer und Boyle waren tot. Natürlich würde Hilfe
kommen, aber er konnte nicht länger warten, sonst wäre er
ebenfalls ein toter Mann.
Day kam auf die Beine, lief zwei, drei Schritte, schlug einen
Haken nach rechts, dann wieder nach links. Vor fünfunddreißig
Jahren, in seiner High-School-Zeit, war er so über das Footballfeld
gerannt.
Um ihn herum ging ein Kugelhagel nieder, der ihn jedoch
größtenteils verfehlte. Eine Kugel zerrte an seinem Jackett und
durchschlug den Stoff unter dem linken Arm. Wut stieg in ihm auf.
Das Jackett war aus Hongkongseide und hatte sechshundert Dollar
gekostet.
In diesem Moment traf ihn ein Projektil direkt über dem
Herzen gegen die Brust. Wie die meisten Agenten legte er die
Traumaplatte aus Titan nie an, sondern begnügte sich mit einer
dreifachen Lage Kevlar, die er in die Trauma tasche über dem
Herzen stopfte. Deshalb war der Aufprall unglaublich schmerzhaft.
Er hatte das Gefühl, als hätte man mit einem Hammer direkt gegen
sein Brustbein geschlagen.
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Aber das war jetzt gleichgültig. Es zählte nur, daß er auf den
Beinen war, sich bewegte ...
Vor ihm tauchte eine schwarze Gestalt auf, die aus einer Uzi
feuerte. Trotz der Dunkelheit und benebelt von Angst, entging Day
nicht die unförmige Kampfweste unter der schwarzen Jacke. Man
hatte ihn gelehrt, zuerst auf die größte Masse zu zielen, aber das
war in diesem Fall sinnlos. Die SIG .40 würde seinem Gegner
nicht mehr Schaden zufügen als die 9-mm-Kugeln der Uzi bei ihm.
Im Laufen hob er die SIG und richtete sie so, daß der
leuchtende Tritiumpunkt des Zielgeräts auf die Nase des Mannes
zeigte. Sein Blickfeld verengte sich, bis er nur noch das Gesicht
vor sich sah. Der grüne Nachtsichtpunkt tanzte auf und ab, doch er
feuerte, so schnell er den Abzug betätigen konnte, drei Schüsse
hintereinander ab.
Der Angreifer ging zu Boden, als wären seine Beine plötzlich
weggeklappt.
Sehr gut! Er hatte einen von ihnen erledigt, eine Lücke
geschaffen. Es war wie beim Football, wo er vor einer Ewigkeit
Quarterback gewesen war.
Jetzt durch die Lücke, schnell, bis zur Grundlinie!
Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung, und als er
nach links sah, entdeckte er einen weiteren, ebenfalls schwarz
gekleideten Mann, der mit beiden Händen eine Pistole hielt und
bewegungslos wie eine Statue dastand. Er wirkte so gelassen, als
absolvierte er eine Übung auf dem Schießstand.
Day fühlte, wie sich seine Eingeweide verkrampften. Ihn
überkam der Drang, gleichzeitig wegzulaufen, zu schießen und
seinen Darm zu entleeren. Die Kerle waren Profis. Das war keine
Bande, die eine Brieftasche stehlen wollte, hier ging es um einen
gezielten Mordanschlag. Und die Männer verstanden ihr
Handwerk ...
Es war sein letzter Gedanke.
Die Kugel traf ihn zwischen die Augen und löschte alles andere
aus.
Vom Rücksitz des Volvo-Kombi aus blickte Michail Rushjo
auf die Leiche von Nicholas Papirossa, der im Laderaum hinter
ihm auf der Seite lag. Die Decke, die man über ihn gelegt hatte,
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konnte nicht verhindern, daß der Geruch des Todes die Luft
erfüllte. Rushjo schüttelte seufzend den Kopf. Armer Nicholas. Sie
hatten gehofft, daß es keine Verluste gäbe, aber das hoffte man
immer. Der dicke Amerika ner war nicht so alt und langsam
gewesen wie erwartet. Sie hatten ihn unterschätzt, und das war ein
Fehler gewesen. Allerdings hatte Nicholas selbst die
Informationen über den FBI-Commander beschafft, deshalb war
es. vielleicht gerecht, daß er das einzige Opfer war. Dennoch
würde Rushjo ihn vermissen. Sie hatten sich lange gekannt, genauer gesagt, seit ihrer Zeit beim Auslandsgeheimdienst, dem
SRV. Das war fünfzehn Jahre her. In diesem Geschäft eine
Ewigkeit.
Morgen hätte Nicholas seinen zweiundvierzigsten Ge burtstag
gefeiert.
Winters, der Amerikaner, fuhr den Wagen, während Gregori
Smeja auf dem Beifahrersitz auf russisch etwas vor sich hin
murmelte.
Mit diesen Namen waren sie nicht geboren worden, vielmehr
hatten sie sich einen Spaß damit erlaubt. Rushjo hieß >Gewehr<,
Nicholas hatte sich >Zigarette< genannt und Gregori das russische
Wort für >Schlange< gewählt. Nicht einmal der Amerikaner
verwendete seinen echten Namen.
Rushjo seufzte erneut. Vorbei war vorbei. Nicholas war tot,
aber die Zielperson ebenfalls. Daher war der Verlust zu verwinden.
»Alles okay da hinten?« fragte der Amerikaner.
»Mir geht's gut.«
»War nur'ne Frage.«
Der Amerikaner behauptete, er stamme aus Texas. Entweder
sagte er die Wahrheit, oder er ahmte den texanischen Akzent
hervorragend nach.
Rushjo blickte auf die Pistole, die neben ihm auf dem Sitz lag.
Mit dieser Waffe hatte er den Mann erledigt, der Nicholas getötet
hatte. Es handelte sich um eine 9mm-Beretta, eine italienische
Waffe. Ein schönes, gut gearbeitetes Stück, aber für Rushjos
Geschmack zu groß, zu schwer, zu laut. Der Rückstoß war zu
stark. Zuviel Kugel. In seiner Zeit als Speznas war er für mokrij
Dela - >schmutzige Arbeiten< - zuständig gewesen. Dabei hatte er
eine kleine PSM, eine 5,45-mm-Pistole, verwendet. Deren
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Patronen waren vielleicht halb so groß wie die der italienischen
Waffe, und auch die Pistole selbst war viel kleiner. Natürlich hatte
er sie vom Waffenschmied etwas frisieren lassen, aber für seine
Zwecke war sie stets ausreichend gewesen. Nie hatte sie ihn im
Stich gelassen. Auch diesmal hätte er sie vorgezogen, aber das war
nicht in Frage gekommen. Es mußte so aussehen, als wäre ein
Einheimischer für den Mord verantwortlich. Wenn man die Waffe
eines russischen Killers gefunden hätte, so hätte das einen Aufruhr
ausgelöst, von dem Tote erwacht wären. Schließlich waren die
Amerika ner nicht dumm.
Stirnrunzelnd sah er auf die Beretta. Die Amerikaner waren
von Größe fasziniert - je größer, desto besser. Manchmal feuerten
ihre Polizisten das gesamte Magazin einer Faustfeuerwaffe mit
achtzehn oder zwanzig großka librigen Patronen von hoher
Durchschlagskraft auf Kriminelle ab, ohne auch nur ein einziges
Mal zu treffen. Offenbar begriffen sie nicht, daß ein Schuß aus
einer kleinkalibrigen Waffe in der Hand eines Experten wesentlich
effektiver war als ein Magazin voller Elefantentöter in der Hand
eines ungeübten Idioten.
Viele amerikanische Polizeibeamte waren offenbar nur Trottel.
Die Israelis dagegen kannten den feinen Unterschied. Der Mossad
rüstete seine Agenten immer noch standardmäßig mit.22er-Waffen
aus, die mit den kleinsten im Handel erhältlichen Patronen geladen
wurden. Trotzdem war, wie jeder wußte, mit dem Mossad nicht zu
spaßen.
Zumindest war der FBI-Mann einen ehrenvollen Tod
gestorben. Er hatte einen von ihnen mit sich genommen, womit
nicht zu rechnen gewesen war. Dreimal hatte er Nicholas in den
Kopf getroffen. Einmal hätte als Zufall durchgehen können, aber
drei Treffer - das war wohldurchdacht gewesen. Der Mann hatte
erkannt, daß der Körper seines Angreifers geschützt war, und
deshalb auf den Kopf geschossen. Wäre er ein wenig schneller
gewesen, hätte er diesem ersten Anschlag auf sein Leben entgehen
können.
Auf dem Vordersitz mu rmelte >die Schlange< vor sich hin,
laut genug, daß Rushjo es hören konnte. Er knirschte mit den
Zähnen. Für Gregori, die Schlange, empfand Rushjo keinerlei
Sympathie. 1995 war er mit den Armee-Einheiten in Rushjos
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Heimat Tschetschenien einmarschiert, um dort zu morden und zu
vergewaltigen. Natürlich war er Soldat gewesen und hatte nur
Befehle befolgt, und langfristig gesehen war ihre jetzige Mission
wichtiger als die Wut Rushjos auf die Schlange. Also würde er sie
ertragen. Aber irgendwann würde die Schlange einmal zu oft die
schöne Tapferkeitsmedaille erwähnen, die ihr für den Einsatz in
Tschetschenien verliehen worden war. Sollte das kurz vor dem
Ende ihrer Mission geschehen, wenn Gregori Smeja nicht mehr
unentbehrlich wäre, dann würde er sich bei seinen Vorfahren
einfinden. Mit einem Lächeln auf den Lippen würde Rushjo den
Trottel erwürgen. Aber nicht heute. Vor ihnen lag noch viel Arbeit,
es war ein weiter Weg bis zum Ziel. Er brauchte die Schlange; das
war Gregoris Glück.
Alexander Michaels schlief nur halb, als der kleine Monitor auf
dem Nachttisch neben seinem Bett aufleuchtete. Er fühlte das
Licht durch die geschlossenen Lider dringen, drehte sich um und
öffnete die Augen.
Der blaue Bildschirmhintergrund der Net Force erschien.
»Alex? Wir haben eine Meldung mit Priorität eins.«
Michaels blinzelte, während er stirnrunzelnd auf die
Zeitanzeige in der rechten oberen Ecke des Monitors blickte. Kurz
nach Mitternacht. Er träumte wohl. Was, verdammt noch mal ...
»Alex? Wir haben eine Meldung mit Priorität eins.«
Die Stimme des Computers war weiblich, heiser und sehr sexy.
Egal, was sie sagte, es klang immer, als wollte sie einen
auffordern, mit ihr ins Bett zu steigen. Das Persönlichkeitsmodul,
einschließlich der Stimme, war von Jay Gridley programmie rt
worden, der sich damit einen Scherz hatte erlauben wollen. Jay
war ein hervorragender Techniker, aber seine Kochkünste waren
seinen Witzen bei weitem vorzuziehen. Obwohl ihn die Stimme
sehr irritierte, verkniff Michaels es sich, den Jungen um eine
Änderung zu bitten. Diese Genugtuung gönnte er ihm bestimmt
nicht.
Der stellvertretende Kommandeur der Net Force rieb sich über
das Gesicht, fuhr sich mit den Fingern durch das kurzgeschnittene
Haar und setzte sich auf. Die kleine, bewegungsempfindliche
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Kamera auf dem Monitor folgte ihm. Solange er keine
anderslautenden Anweisungen gab, würde sie Bilder senden.
»Okay, ich bin jetzt wach. Bitte Verbindung herstellen.«
Das durch seine Stimme aktivierte Voxax-System gehorchte
dem Befehl, und das angespannte Ge sicht von Assistant Deputy
Commander Antönella Fiorella erschien. Sie wirkte wacher, als er
sich fühlte, aber da sie diese Woche Nachtdienst hatte, war das
kein Wunder.
»Tut mir leid, daß ich Sie wecken muß, Alex.«
»Kein Problem, Toni. Was gibt's?«
Einen Anruf mit Priorität eins tätigte sie nur im äußersten
Notfall.
»Commander Day wurde ermordet.«
»Was?!«
»Sein Virgil hat ein Alarmsignal abgegeben, auf das die
Washingtoner Polizei reagierte. Doch als sie am Ort des
Geschehens eintraf, waren alle schon tot - Day, sein Leibwächter
Boyle und der Fahrer der Limousine, Louis Harvey. Sieht nach
Bomben und Maschinenpistolen aus. Etwa vor zwanzig Minuten.«
Michaels sagte ein Wort, das er in Anwesenheit von Damen
ansonsten tunlichst vermied.
»Ganz recht«, gab Toni zurück. »Ich kann Ihnen nur beipflichten.«
»Ich bin unterwegs.«
»Den Ort teilt Ihnen Ihr Virgil mit.« Eine kurze Pause trat ein.
»Alex? Beachten Sie die Verhaltensregeln für Anschläge.«
Die Ermahnung war überflüssig, aber er nickte. Wurde ein
hoher Bundesbeamter angegriffen, hatten die Angehörigen seiner
Einheit davon auszugehen, daß möglicherweise weitere Anschläge
geplant waren. »Verstanden. Ende.«
Das Bild seiner Assistentin verschwand. Zurück blieb der blaue
Net-Force-Schirm. Er schlüpfte aus dem Bett, ging zur Kommode
und begann, Kleidungsstücke herauszuzerren.
Verdammt, Steve Day war tot ...
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Mittwoch, B. September, 0 Uhr 47
Washington, D.C.
Die roten und blauen Lichter der Streifenwagen tauchten die
Straße in grellbunte Farben wie im Karneval. Angesichts der
zirkusähnlichen Geschäftigkeit, die sich hier entwickelte, erschien
die Beleuchtung durchaus angemessen. Obwohl es gegen ein Uhr
morgens ging, standen Dutzende von Menschen auf der Straße und
mußten durch Polizeibeamte und ein reflektierendes Absperrband
zu rückgehalten werden. Aus den nahegelegenen Gebäuden starrten
weitere Schaulustige herüber. Es gab auch einiges zu sehen: eine
durch eine gewaltige Explosion zerstörte Limousine, Unmengen
von Patronenhülsen und auch drei Leichen.
Wirklich keine schöne Gegend, um zu sterben, dachte Toni
Fiorella. Andererseits war kein Ort gut genug, um in einem
Kugelhagel aus Maschinenpistolen den Tod zu finden.
»Agentin Fiorella?«
Toni verdrängte ihre Gedanken über die Sterblichkeit des
Menschen und sah den Police Captain an. Sein Gesicht wirkte
völlig zerknittert. Offenbar hatte man ihn aus dem Bett geholt. Er
war gut fünfzig Jahre alt, fast kahl und wirkte äußerst unglücklich.
Tote FBI-Beamte sozusagen im eigenen Vorgarten zu finden,
während man Dienst hatte, war eine üble Sache. Ganz, ganz übel.
»Ja?«
»Meine Männer sind von der ersten Befragung zu rück.«
Toni nickte. »Lassen Sie mich raten. Niemand hat etwas
gesehen.«
»Sie sollten zur Polizei gehen«, gab der Captain säuerlich
zurück. »Sie haben einen Blick fürs Detail.«
»Hier gibt es ganz bestimmt jemanden, der mit Haftbefehl
gesucht wird.« Toni wies mit einer Geste auf die Menge.
Der Captain nickte. Er kannte das Verfahren. Wenn ein
Polizeibeamter getötet wurde, spielte es keine Rolle, für welche
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Behörde er arbeitete - man tat alles, um den Täter zu finden. Dabei
war es Routine, sich kleine Drogenhändler oder sogar
Verkehrssünder mit zu vielen Strafzetteln wegen Falschparkens
vorzuknöpfen. Alles wurde versucht, wenn es auch noch so
aussichtslos erschien. Polizistenmörder durften nicht ungestraft
davonkommen.
Als Toni aufblickte, sah sie, wie eine nagelneue Chrysler-Limousine direkt vor der Polizeiabsperrung zum Stehen kam.
Zwei Männer - der Leibwächter und der Fahrer -stiegen aus und
überprüften die Menge mit Blicken. Dann nickte der Leibwächter
dem Fahrgast im Fond zu.
Alex Michaels erschien. Als er Toni bemerkte, ging er auf sie
zu. Er hielt seine Marke hoch und wurde von den Polizisten
durchgelassen, die die Straße abriegelten.
Eine Welle von Gefühlen stieg in Toni auf, wie stets, wenn sie
Alex an einem Tag zum erstenmal sah. Mitten in diesem Blutbad
herrschte Raum für ein wenig Freude, Be wunderung, sogar Liebe.
Alex' Gesicht wirkte nicht grimmig, sondern gelassen wie
immer. Nie würde er seine Regungen zeigen, obwohl sie wußte,
daß er litt. Day war sein Freund und Mentor gewesen, und sein
Tod mußte Alex tief getroffen haben, auch wenn er es niemals
zugegeben hätte, nicht einmal ihr gegenüber.
Vielleicht gerade ihr gegenüber nicht ...
»Toni.«
»Alex.«
Während sie den Tatort besichtigten, schwiegen beide.
Alex ging in die Hocke, um Steve Days Leiche zu untersuchen.
Für einen Augenblick bemerkte Toni eine leichte Anspannung in
seinem Gesicht, ein flüchtiges Zusammenpressen der Kiefer. Das
war alles.
Er erhob sich und ging zu dem Wagen, um die anderen
getöteten Beamten und das zerstörte Auto zu inspizieren.
Immer noch suchten FBI- und Polizeibeamte mit Scheinwerfern und Videokameras den Straßenbelag ab. Kriminaltechniker zogen Kreidekreise um leere Patronenhülsen auf
Straße und Gehweg und hielten die Position jeder einzelnen Hülse
fest, bevor sie sie einsammelten. Später würde man die
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Beweisstücke einem Dampf mit hoher Haftwirkung aussetzen,
einem feinen Nebel aus Zyanoacrylatester, mit dem sich bei
richtiger
Vorgehensweise
sogar
Fingerabdrücke
auf
Toilettenpapier feststellen ließen. Die Methoden, mit denen sie
anschließend auf biologische Aktivität untersucht werden würden,
waren so effizient, daß sich damit ein Keim in einem Ozean
aufspüren ließe. Dennoch bezweifelte Toni, daß man auf
verwendbare Spuren oder DNS-Rückstände stoßen würde. So
einfach war es selten, vor allem dann nicht, wenn ein Verbrechen
so gut geplant worden war wie dieses hier.
Nachdem er sich alles angesehen hatte, wandte sich Alex ihr
zu. »Was haben wir bis jetzt?«
»Soweit man es zu diesem Zeitpunkt beurteilen kann, handelt
es sich um einen Mordanschlag, dessen Ziel Commander Day war.
Durch eine Bombe unter einem Kanaldeckel wurde die Limousine
gegen einen Laternenmast geschleudert. Danach wurde die
rückwärtige Tür aufgesprengt, vermutlich durch eine Haftmine.
Die Fahrgäste wurden von mehreren Angreifern getötet. Aus der
Anordnung der Hülsen geht hervor, daß es drei oder mehr Schützengewesen sein müssen. Porter wird sich um die ballistischen
Untersuchungen kümmern, aber er ist sich jetzt schon recht sicher,
daß 9mm-Kaliber, mehrere Maschinenpistolen und zumindest eine
Faustfeuerwaffe zum Einsatz kamen.«
Ihre Stimme klang gleichmütig, als gäbe sie einen Spielstand
bekannt. Toni stammte aus einer temperamentvollen italienischen
Familie aus der Bronx, wo man das Herz auf der Zunge trug und
lachte und weinte, wenn einem danach zumute war. Es fiel ihr
schwer, jedes Gefühl aus ihren Worten zu verdrängen - sie hatte
Steve Day und seine Frau gemocht. Aber es war ihr Job.
»Boyle und Day haben das Feuer erwidert. Boyle gelang es,
zwölf Schüsse abzufeuern, Day hat drei abgegeben. Porter hat
einige deformierte Kugeln aus Handfeuerwaffen gefunden, deren
Form darauf hindeutet, daß sie von einem Material abgeprallt sind,
das härter ist als Kevlar. Er wird die Formen durch den Computer
laufen lassen, um sicherzugehen, aber ... «
Alex unterbrach sie. »Die Mörder waren durch eine Panzerung
geschützt, vermutlich Keramik- oder Microfaserplatten, wie das
Militär sie verwendet. Was noch?«
19
»Hier drüben.«
Sie führte ihn zu einem Fleck hinter Days Leiche. Die Leute
des Coroners waren damit beschäftigt, den Körper in einem
Plastiksack zu verstauen, doch Alex widmete weder ihnen noch
seinem toten Freund einen Blick. Er war jetzt ganz Profi. »Days
Munition wurde hier, dort und da drüben gefunden.« Toni deutete
auf kleine Kreidekreise auf der Straße, nur wenige Meter
voneinander entfernt, und ging ein paar Schritte weiter. »Hier
befindet sich ein kleiner Fleck aus geronnenem Blut, und dort, in
schrägem Winkel dahinter, sind Spritzer von Blut und
Gehirnmasse.« Sie wartete, während er die Verbindung herstellte.
Er enttäuschte sie nicht. »Jemand hat trotz der Panzerung
einem der Mörder einen Treffer verpaßt. Day wußte, daß man auf
den Kopf zielen muß. Aber die Täter haben die Leiche
mitgenommen.«
»Die Washingtoner Polizei hat Straßensperren errichtet ...«
Er winkte ab. »Hier waren Profis am Werk, die lassen sich
nicht mit Straßensperren fangen. Sonst noch etwas?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das ist zunächst alles, bis
wir die Laborwerte bekommen. Noch haben sich keine Zeugen
gemeldet. Es tut mir leid, Alex ...«
Er nickte. »Schon gut. Steve - äh, Commander Day hat lange
Zeit die Abteilung gegen Organisierte Kriminalität geleitet. Lassen
Sie das System arbeiten, Toni. Ich will alles über die Menschen
wissen, mit denen Day in dieser Position je gesprochen hat, und
über jeden, der auf ihn wütend sein könnte. Außerdem will ich
über sämtliche laufenden Untersuchungen informiert werden. Das
hier sieht nach einem Anschlag der neuen Mafia aus. Es ist ihr Stil,
aber wir dürfen nichts übersehen.«
»Ich habe schon mehrere Teams darauf angesetzt. Jay Gridley
geht das System durch.«
»Gut.«
Alex starrte auf die Straße, aber seine Augen schienen etwas zu
sehen, das Millionen Meilen entfernt lag. Am liebsten hätte Toni
die Hand ausgestreckt und seinen Arm berührt, um ihm zu helfen,
den Schmerz zu ertragen, der ihn so unerwartet getroffen hatte,
doch sie hielt sich zurück. Zeit und Ort waren denkbar ungeeignet
für eine solche Ge ste, das war ihr klar. Sie wollte nicht, daß sich
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eine Tür vor ihr schloß oder er sich von ihr abwandte, wenn sie
versuchte, ihn zu trösten. Er war ein guter Mensch, aber verschlossen, ein Mann, der darauf achtete, niemanden zu nahe an sich
heranzulassen. Wenn sie jemals diesen eisernen Vorhang
durchdringen wollte, dann nur mit größter Vorsicht und unter
Aufbietung all ihres Feingefühls. In ihrem tiefsten Inneren war ihr
bewußt, daß es unfair gewesen wäre, sich dazu des Todes seines
Freundes zu bedienen.
»Ich fahre mit Porter ins Labor.«
Er nickte nur.
Michaels fand sich mitten auf einer heruntergekommenen
Straße in einer ebenso schrecklichen Nacht wieder, die von dem
Gestank nach verbranntem Schießpulver, heißen Kamerascheinwerfern und dem Hauch des Todes erfüllt war.
Verzerrte Geräusche drangen aus den Funkgeräten der Polizisten,
während Kriminalbeamte den Tatort untersuchten und die
murmelnde Zuschauermenge von gelangweilten Streifencops
zurückgehalten
wurde.
In
der
Ferne
zischte
eine
Magnetschwebebahn vorüber; sie war mit hoher Ge schwindigkeit
nach Baltimore unterwegs.
Steve Day war tot.
Richtig begriffen hatte er diese Tatsache noch nicht. Zwar hatte
er die Leiche gesehen, wußte, daß das Licht hinter Days Augen
erloschen und nichts als eine leblose Hülle, eine leere Form
zurückgeblieben war - das hatte er mit dem Verstand erfaßt. Aber
sein Gefühl reagierte nicht darauf. Es war nicht das erstemal, daß
ein Mensch, den er kannte, starb. Manche hatten ihm
nahegestanden. Erst Tage, Wochen, Monate später wurde einem
die Realität bewußt, wenn man erkannte, daß sie nie wieder
anrufen, schreiben, mit einem lachen oder mit einer Flasche Champagner vor der Tür stehen würden.
Jemand hatte einem wertvollen Menschen das Lebenslicht
ausgeblasen, als wäre er ein Streichholz gewesen. Alex Michaels
fühlte in diesem Augenblick nichts als brennende Wut. Der
Mörder würde dafür bezahlen, dafür sorgte er, und wenn es das
letzte wäre, das er in seinem Leben tat!
21
Er seufzte. Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Die Mörder
waren inzwischen weit weg. Die Befragungen in der
Nachbarschaft würden nichts unmittelbar Nützliches ergeben. Die
Killer versteckten sich nicht in einem dieser heruntergekommenen
Gebäude. Selbst eine fotografisch genaue Beschreibung der Täter
würde ihnen nicht viel helfen, weil die Kerle mit Sicherheit nicht
aus dieser Gegend stammten. Die Öffentlichkeit wußte nicht, daß
professionelle Killer nur selten gefaßt wurden. Neun von zehn
verhafteten Auftragsmördern wurden von ihren Auftraggebern ans
Messer geliefert, aber das schien Michaels bei einer Opera tion auf
dieser Ebene höchst unwahrscheinlich. Die Verantwortlichen
mußten wissen, daß sich die Behörden nicht damit zufriedengäben,
die Ausführenden einzusperren. Bei einer solchen Aktion lieferten
sie niemanden aus. Falls tatsächlich die Mafia dahintersteckte und
die Bosse nervös wurden, dann verschwänden die Schützen
allenfalls in einem abgelegenen Steinbruch. Und diejenigen, die
die Hin richtung ausführten, würden ihnen höchstwahrscheinlich
folgen.
Die Net Force verfügte über das Beste an Technologie, das es
auf diesem Planeten gab, besaß das schnellste aller Computernetze
und einen unglaublichen Reichtum an Daten. Die Agenten vor den
Online-Rechnern wie auch die Männer im Einsatz zählten zur Elite
von FBI und NSA, wa ren Spitzenleute der führenden
Universitäten, Amerikas oder stammten aus den oberen Rängen
der Polizei- und Militärbehörden. Aber all das würde n ichts helfen,
wenn die Mörder nicht einen Fehler begangen hatten. Die Net
Force benötigte eine Bresche, in die sie schlagen konnte. Michaels
war lange genug im Geschäft, um sich darüber im klaren zu sein,
auch wenn es ihm nicht gefiel.
Doch selbst Profikiller waren nicht unfehlbar. Von Zeit zu Zeit
begingen auch sie Fehler. Und sollte es hier nur den kleinsten
Schwachpunkt geben, selbst einen so winzigen, daß er nur mit dem
Elektronenmikroskop zu erkennen wäre, dann würde Alex
Michaels nötigenfalls das ganze Sonnensystem in Bewegung
setzen, um ihn auszunutzen.
Sein Virgil piepste.
»Ja?«
»Alex? Walt Carver.«
22
Michaels seufzte einmal mehr. Walter S. Carver, der Direktor
des FBI. Er hatte diesen Anruf erwartet. »Ja, Sir.«
»Es tut mir leid wegen Steve. Gibt es schon etwas zu berichten?«
Michaels informierte seinen Chef, soweit er selbst im Bilde
war.
»In Ordnung«, meinte Carver anschließend. »Um 7 Uhr 30
haben wir eine Besprechung mit dem Präsidenten und der
Nationalen Sicherheit im Weißen Haus. Stellen Sie einen Bericht
zusammen. Sie übernehmen die Präsentation.«
»Ja, Sir.«
»Übrigens - ab jetzt leiten Sie die Net Force kommissarisch.«
»Sir, ich ...«
Carver schnitt ihm das Wort ab. »Ich weiß, ich weiß, aber ich
brauche jemanden auf diesem Posten, und das sind Sie. Es mag
den Anschein haben, als bedeutete mir Steves Tod nichts, aber die
Net Force trägt für mehr als das Schicksal eines einzelnen Mannes
Verantwortung, so wichtig er auch gewesen sein mag. Alle rücken
nach, Ihren alten Job übernimmt Toni. Der Präsident muß das noch
abzeichnen, aber in wenigen Tagen dürften Sie als Commander
bestätigt werden.«
»Sir ...«
»Ich brauche Sie, Alex. Sie werden mich doch nicht im Stich
lassen?«
Michaels starrte auf das Virgil. Ihm blieb keine andere Wahl,
also schüttelte er den Kopf. »Nein, Sir. Ich werde Sie nicht im
Stich lassen.«
»Gut. Ich sehe Sie also heute morgen. Versuchen Sie, noch
etwas zu schlafen, damit Sie bei der Präsentation nicht wie ein
Zombie aussehen. Es gelten die Verhaltensregeln für den Fall von
Mordanschlägen, verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Gehen Sie nach Hause, Alex.«
Michaels starrte auf seine Limousine, vor der sein Leibwächter
und der Fahrer postiert standen. Beide sahen ihn erwartungsvoll
an. Ihm blieben noch etwas mehr als sechs Stunden, um die
Präsentation für den Präsidenten der Vereinigten Staaten und
dessen knallharte Sicherheitsberater vorzubereiten, von seinem
23
eigenen Chef ganz zu schweigen. Schlafen? Das kam natürlich
nicht in Frage.
Er schüttelte den Kopf. Kaum glaubte man, die Dinge unter
Kontrolle zu haben, holte einen das Leben sofort auf den Boden
der Tatsachen zurück. Du denkst, du hast die Sache im Griff, alter
Junge? Hier hast du eine Nuß zu knacken: Dein direkter
Vorgesetzter ist soeben ermordet worden, vermutlich von der
Mafia, und du wurdest gerade befördert. Morgen sollst du vor dem
mächtigsten Mann der Welt einen Vortrag halten, der vermutlich
über deine weitere Laufbahn entscheiden wird. Wie fühlst du dich
dabei?
»Beschissen«, sagte er laut.
»Wie bitte?« erkundigte sich ein Verkehrspolizist, der in der
Nähe stand.
»Nichts.«
Er ging zu seinem Wagen.
»Nach Hause, Commander?« fragte der Fahrer.
Commander.
Der Chauffeur wußte bereits von der Beförderung. Auch gut.
Eines war jedenfalls sicher, seine neue Stellung würde er nutzen,
um diese Angelegenheit aufzuklären. Steve war sein Freund.
Falsch. Steve war sein Freund gewesen.
Er würde nicht nach Hause fahren, egal, wie müde er war.
»Nein. Ins Büro.«
24
3
Mittwoch, 8. September, 11 Uhr 19
Grosny, Tschetschenien
Wladimir Plechanow rieb ein wenig von dem allgegenwärtigen
Staub von der Innenseite des Fensters und blickte auf die Stadt
hinab. Trotz Klimaanlage und ungeachtet der Be mühungen seiner
Reinigungsfrau, die einmal in der Woche kam, schien auf allem
eine Puderschicht zu liegen, die so fein war wie Talkum, aber viel
dunkler. Im Moment bestand diese Schicht nur aus Schmutz. Er
erinnerte sich an eine Zeit, als alles mit dem Ruß aus den
Krematorien bedeckt gewesen war, in denen die Überreste von
Soldaten, Zivilisten und russischen Invasoren verbrannt worden
wa ren. Das war lange her, fast zwanzig Jahre, doch jetzt, da er
älter wurde, verbrachte er mehr Zeit mit seinen Erinnerungen, als
möglicherweise gut für ihn war. Nun ja, auch wenn ihm noch
einiges blieb, wofür es sich zu leben lohnte, auch wenn die
Aussichten für die Zukunft gut waren - ein gelegentlicher Blick
zurück war wohl gestattet.
Von seinem Eckbüro im sechsten Stock der Computerabteilung
des Gebäudes der Wissenschaften, in dem sich früher kurzfristig
das militärische Hauptquartier befunden hatte, bot sich ihm eine
wundervolle Aussicht. Vor ihm lag die neue Brücke über die
Sunsha im Zentrum der Stadt. In weiter Ferne erkannte man die
massigen Pipelines von Makatschkala, durch die die immer
kostbarer werdende schwarze Flüssigkeit zu den wartenden
Tankern im Kaspischen Meer floß. Und da drüben waren die
Überreste der Kasernen, in denen Tolstoi als junger Soldat Dienst
getan hatte. Am Horizont zeichnete sich die Sunsha-Kette des gewaltigen Kaukasus ab.
Die Stadt war nicht übel. Von einem Dorf konnte man längst
nicht mehr sprechen, denn schließlich lebte unterdessen fast die
Hälfte der gesamten Bevölkerung des Landes hier. Aber mit einer
25
dreiviertel Million Einwohnern war die Stadt nicht allzu groß, und
sie lag in einer wunderschönen Landschaft.
Öl war immer noch der Treibstoff für Grosnys Wirtschaft, doch
es ging immer mehr zur Neige. Es verschwand so schnell, daß es
sich nicht einmal hätte ersetzen lassen, wenn jeden Tag
zehntausend Dinosaurier gestorben und umgehend verrottet wären.
Nicht einmal in einem Spielberg-Film mit allen Spezialeffekten
war so etwas vorstellbar. Tag und Nacht spien die Fackeln der
Raffinerie Rauch und Flammen gen Himmel, aber in nicht allzu
ferner Zukunft würden sie erlöschen. Tschetscheniens Wirtschaft
benötigte eine neue Grundlage, und für die würde er, Wladimir
Plechanow, sorgen. Auch wenn er als Russe geboren war - er war
durch und durch Tschetschene ...
Der Klang des Telefonprogramms in seinem Computer hielt
Plechanow davon ab, weiter über seinen großen Plan zu sinnieren.
Er wandte dem Fenster den Rücken zu und trat zur offenen Tür
seines Büros. Mit einem Lächeln, das für seine Sekretärin Sascha
bestimmt war, schloß er sie leise, aber bestimmt, bevor er sich der
hochmodernen
Workstation
zuwandte.
»Computer,
Lautstärkedämpfung ein.«
Summend befolgte das Gerät den Sprachbefehl. »Lautstärkedämpfung aktiv«, erfolgte die Rückmeldung.
Plechanow nickte der Maschine zu, als könnte sie seine Geste
sehen und verstehen. Das war nicht der Fall, aber wenn er es
gewünscht hätte, hätte man den Computer darauf programmieren
können.
»Ja?« fragte er auf englisch. Über diese Leitung war kein
Bildempfang möglich, das war ihm sehr recht. Die Verbin dung
war so sicher wie das beste Verschlüsselungsprogramm des
russischen Militärs. Er wußte das, weil er selbst das Programm im
Auftrag der russischen Armee geschrieben hatte. Es war höchst
unwahrscheinlich, daß jemand, der ihr Gespräch belauschte, auch
nur annähernd über die Mittel verfügte, um den Code zu knacken.
Einige Mitarbeiter der Net Force mochten dazu in der Lage sein,
aber die waren - im Moment jedenfalls - anderweitig beschäftigt.
Trotzdem sprach er englisch, weil Sascha keine zwei Worte dieser
Sprache verstand. Genauso unwahrscheinlich war, daß jemand, der
zufällig vorüberkam, des Englischen mächtig war.
26
»Der Job ist erledigt«, sagte die Stimme aus einer Entfernung
von Tausenden von Kilometern. Michail, der sich aus Spaß Rushjo
nannte - Michail, >das Gewehr< also. Ein gewalttätiger Mensch,
aber loyal und sehr fähig. Das richtige Werkzeug für diese
Mission.
»Gut. Ich hatte nichts anderes erwartet. Irgendwelche
Probleme?«
»Nicholas hat uns unerwartet verlassen.«
»Wie bedauerlich«, erwiderte Plechanow. » Er war ein
tüchtiger Angestellter.«
»Ja.«
»Na schön. Haben Sie das neue Quartier bezogen?«
»Ja.«
Auch wenn die Verbindung verschlüsselt war, ließen sich alte
Gewohnheiten nicht so leicht ablegen. Ihre Spetsnaz-Tage waren
lange her, aber die Erinnerung saß tief. Plechanow wußte, daß sich
das Versteck in San Francisco befand, also gab es keinen Grund
dafür, es laut auszusprechen. Sollte durch ein Wunder eine
Aufnahme dieses Ge sprächs in den Besitz eines aufstrebenden
Mathematik- und Computergenies gelangen, dem durch ein noch
größeres Wunder die Entschlüsselung gelang - was hätte er schon
bekommen? Ein harmloses Gespräch zwischen zwei nicht
identifizierten Männern, das über so viele Satelliten und Relais
übertragen wurde, daß es sich unmöglich zurückverfolgen ließ.
Die Themen waren so allgemein, so vage, daß sie nahezu
bedeutungslos wurden. Ein Job? Jemand namens Nicholas war
gegangen? Ein Umzug? Dahinter konnte nichts stecken.
»Gut. Gehen Sie weiter vor wie geplant. Ich werde mich mit
Ihnen in Verbindung setzen, wenn weitere Arbeit nötig wird.« Er
zögerte einen Augenblick, dann wurde ihm klar, daß er noch etwas
sagen mußte. Der Kommunismus war tot, und das war gut so, aber
die Werktätigen brauchten zu ihrer Zufriedenheit immer noch
Anerkennung. Ein guter Manager wußte das. »Sie haben gute
Arbeit geleistet. Ich bin zufrieden mit Ihnen.«
»Danke.«
Damit war das Gespräch beendet.
Plechanow lehnte sich im Stuhl zurück. Der große Plan wurde
genau wie vorgesehen realisiert. Wie bei einem Schneeball, der
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den Abhang hinunterrollte, war der Anfang klein, aber am Ende
würde die Lawine so gewaltig sein, daß niemand sie noch
aufzuhalten vermochte.
Er drückte den Knopf der Gegensprechanlage auf dem
Schreibtisch, wartete ein paar Sekunden und wiederholte den
Vorgang. Immer noch keine Antwort. Er seufzte. Schon wieder
war die Sprechanlage defekt. Wenn er Tee wollte, mußte er
aufstehen, um es Sascha persönlich mitzuteilen. Er war auf dem
Weg, der mächtigste Mann der Welt zu werden, und trotzdem
gezwungen, in einem, Büro zu arbeiten, in dem nicht einmal die
einfachsten Geräte funktionierten. Er schüttelte den Kopf. Das
würde sich bald ändern.
Doch dies war die unwichtigste der Veränderungen, die
bevorstanden ...
Mittwoch, 8. September, 7 Uhr 17
Washington, D.C.
Alexander Michaels hatte sich schon besser gefühlt. Während
sein Chauffeur den Wagen auf die Pennsylvania Avenue 1600
zusteuerte, ging er noch einmal die Papierausdrucke durch und
versuchte, seine Gedanken zu ordnen, so gut es ging. Die
Limousine war vorne und hinten durch die grauen
Regierungswagen der Leibwächter abgeschirmt. Deren Fahrer und
Passagiere trugen genügend Stahl am Leib, um einen kleinen
Krieg zu führen. Das Re glement war sehr strikt bezüglich der
Maßnahmen, die im Falle der Ermordung eines hohen
Bundesbeamten zu ergreifen waren. Die Entstehungsgeschichte
dieser Schutzmaßnahmen reichte bis zu Abraham Lincoln zurück.
Den meisten Menschen war nicht bewußt, daß die Ermordung des
Präsidenten nicht das einzige Ziel von Booth und seinen
Mitverschwörern gewesen war.
Michaels war bereits mehrfach im Weißen Haus gewesen,
allerdings stets zusammen mit Steve Day. Bis jetzt hatte er nie
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selbst auf dem heißen Stuhl gesessen - doch nun führte er die
gesamten Informationen mit sich, über die das FBI verfügte. Das
Material war auf eine kleine Disk kopiert worden, die eine
Kapazität von mehreren Gigabyte besaß und sicher in einem
codierten Plastikbehälter verwahrt wurde. Sie konnte sofort in das
mehrfach gesicherte System des Weißen Hauses geladen werden.
Und sollte ihm etwas zustoßen, würde jeder, der versuchte, den
Behälter der Disk aufzubrechen, eine Überraschung erleben. Zehn
Gramm Thermoflex würden genügend Hitze erzeugen, um
Behälter und Disk schmelzen zu lassen, ganz zu schweigen von
den Fingern jeder Person, die so dumm war, beide anzufassen.
Das Sicherheitssystem des Weißen Hauses bestand aus
mehreren Spezialcomputern, die keinerlei Verbindung zur
Außenwelt besaßen. Außerdem würden die neuesten Antivirenund Säuberungsprogramme dafür sorgen, daß seine Informationen
dort sicher aufgehoben waren.
Aber er war müde, hatte zuviel Kaffee getrunken und sehnte
sich nach einem Bett - weit weg von allem, um ein fach die nächste
Woche durchzuschlafen.
Pech gehabt. Dafür wirst du nicht bezahlt.
Das Virgil piepste.
»Ja?«
»Alex? Sind Sie fertig?«
Der Direktor des FBI. »Ja, Sir. Ich werde in etwa fünf Minuten
eintreffen.«
»Gibt es etwas Neues, das ich wissen sollte?«
»Nichts von Bedeutung.«
»In Ordnung. Ende.«
Als der Konvoi das westliche Tor erreichte, stieg Alex aus und
ließ sich von den Metalldetektoren, den Bombensuchhunden und
einem Spezialscanner überprüfen. Bei diesem Gerät handelte es
sich um eine Neuentwicklung, mit der sich auch Feuerwaffen und
Messer aus Keramik oder Plastik aufspüren ließen. Er gab seinen
Taser ab und erhielt eine Empfangsbestätigung und einen
Besucherausweis. Schließlich überprüften die Marines am Tor als
letzte Sicherheitsmaßnahme seine Identität. Der Lageraum, in dem
die Besprechung stattfinden sollte, befand sich im älteren Teil des
Gebäudes, im Stockwerk unter dem Oval Office.
29
Als er aus dem engen Aufzug stieg, wurde sein Ausweis von
zwei weiteren Marines kontrolliert. Auf dem Weg zum Lageraum
grüßten ihn drei Geheimdienstagenten in Zivil. Zwei von ihnen
kannte er, einer der beiden war während Alex' Zeit in Idaho beim
FBI gewesen.
»Guten Morgen, Commander Michaels«, sagte der alte
Bekannte.
»Hallo, Bruce.« Alex fühlte sich noch immer unbehaglich,
wenn er mit dem Titel >Commanden angesprochen wurde. Für den
neuen Posten hatte er sich nie besonders interessiert, und ganz
bestimmt hatte er ihn nicht um den Preis von Steve Days Tod
haben wollen. Das Gute daran war, daß ihm als Commander alle
Möglichkeiten offenstanden, um Days Mörder zu ergreifen. Und
genau das hatte er vor.
Alex ließ seinen Daumenabdruck von einem letzten Scanner
überprüfen. Endlich öffnete sich vor ihm die Tür zum
Besprechungsraum.
FBI-Direktor Carver saß bereits an einem langen Tisch, dessen
ovale Form an das Büro im Stockwerk über ihnen erinnerte. Er
trank Kaffee aus einer Porzellantasse. Links von ihm stand
Assistant Director Sheldon Reed vom Büro für Nationale
Sicherheit und telefonierte über ein Virgil. Eine Sekretärin
mittleren Alters in Tweedrock und weißer Seidenbluse saß etwas
abseits an einem kleinen Tisch. Vor ihr lag zwischen einem
sprachgesteuerten, nicht vernetzten Aufnahmegerät und einem
Computer ein Stenoblock. Ein Marine in Ausgehuniform goß aus
einer silbernen Kanne Kaffee in eine Tasse, ohne auch nur einen
Tropfen zu verschütten. Dann stellte er das dampfende Getränk
rechts von Carver auf den Tis ch. Das mußte Alex' Platz sein. Mit
Sicherheit wußte der Soldat, daß er den Kaffee schwarz trank.
Versiegelte Ordner; die Ausdrucke jenes Berichts enthielten, den
Michaels bei sich trug, lagen vor jedem Stuhl auf dem Tisch.
Carver gönnte Alex ein geschäftsmäßiges Lächeln und deutete
mit dem Kopf auf den Platz neben sich. Als er sich eben setzen
wollte, öffnete sich die Tür, und der Präsident kam mit seinem
Stabschef, Jessel Leon, herein.
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»Guten Morgen, Gentlemen, Mrs. Upton.« Der Präsident
nickte der Sekretärin lächelnd zu. »Mein Terminka lender ist voll,
kommen wir daher gleich zur Sache. Walt?«
»Mr. President, gegen Mitternacht wurde Steve Day, der
Commander der Net Force des FBI ermordet. Alex Michaels
kennen Sie - er hat Days Posten übernommen. Er wird Ihnen den
Vorfall schildern, soweit das nach dem aktuellen Stand der
Ermittlungen möglich ist.«
»Nette Art, an eine Beförderung zu gelangen«, meinte der
Präsident mit einem Nicken in Michaels' Richtung. Seine Stimme
klang nervös. Befürchtete er, das nächste Opfer zu werden? »Ich
bin bereit, lassen Sie hören.«
Michaels holte tief Atem und versuchte, so ruhig wie möglich
zu bleiben. Er ging zu dem Computer, öffnete die codierte
Diskhülle, die er mitgebracht hatte, und übergab den Inhalt der
Sekretärin. Sie legte die Disk in das Gerät ein und ließ das
Virenprüfprogramm ablaufen, was kaum fünf Sekunden dauerte.
»Der Computer erwartet Ihre Sprachbefehle«, teilte Mrs. Upton
ihm dann mit.
»Danke«, gab Michaels zurück. »Computer, Bild ein,
bitte.«
Ein holografischer Projektor an der Decke schaltete sich ein.
Mitten auf dem Tisch erschien ein dreidimensionales Bild des
Tatorts, wie er vor kaum acht Stunden von einem
Polizeihubschrauber aus fotografiert worden war.
Michaels begann mit seiner Erläuterung, schilderte die
Explosion, den Angriff, sprach von den Toten und von dem
Attentäter, der vermutlich ums Leben gekommen war. Dabei ging
er systematisch vor und ließ sich Zeit. Während er sprach, ließ er
den Computer weitere Bilder zeigen. Nach zehn Minuten hielt er
inne und blickte die Umsitzenden an. »Gibt es bis hierher
Fragen?«
»Wurden letzte nacht ungewöhnliche Aktivitäten im Umfeld
von Bundesbeamten beobachtet?« erkundigte sich der Präsident.
Eine vernünftige Frage - wer mochte der nächste sein?
»Nein, Sir.«
»Niemand hat die Verantwortung übernommen? Keine
terroristische Vereinigung?«
31
»Nein, Mr. President.«
»Was wissen wir über die Bomben?« fragte Reed.
»Bei der Ladung unter dem Kanaldeckel handelte es sich um
eine Panzerabwehrmine der US-Army. Den Sprengstoffmarkern
zufolge gehörte sie zu einer Charge, die während des Golfkriegs
im Irak gelegt worden war. Vermutlich wurde sie von einem
Bauern mit einem Metalldetektor ausgegraben und auf dem
Schwarzmarkt verkauft. Vielleicht hat sie aber auch ein
Quartiermeister beis eite geschafft, bevor sie überhaupt in den Irak
gelangte. Das läßt sich heute nicht mehr in Erfahrung brin gen.
Die Haftmine an der Tür war nicht gekennzeichnet«, fuhr
Michaels fort, »aber unser Labor ist der Meinung, daß sie aus
Restbeständen der israelischen Marine stammte und etwa fünf
Jahre alt war.«
»Vermutlich kann man die Dinger auf jeder mittelgro ßen
Waffenmesse kaufen«, kommentierte Reed. Er lächelte, um
klarzustellen, daß es sich um einen Scherz handelte. Auch er klang
nervös. Nicht wirklich geängstigt, aber beunruhigt. Auch das war
verständlich.
Michaels ging nicht auf die Bemerkung ein. »Keine Fingerabdrücke oder DNS-Rückstände auf den vorgefundenen
Patronen, die alle identisch waren. Bei den Kugeln in den Körpern
der Opfer und im Wagen handelt es sich offenbar um serienmäßige
Federal 147, 9mm-Luger FMJ mit abgeflachter Spitze, geeignet
für
Pistolen
und
Maschinenpistolen
mit
Unterschallgeschwindigkeit. Die Extraktionsmarken auf den
Hülsen zeigen, daß beide Arten von Waffen verwendet wurden.
Den Markern nach zu urteilen, die bis jetzt im Schießpulver
gefunden wurden, sind die entsprechenden Chargen nach Chicago,
Detroit, Miami und Fort Worth gegangen.«
»Na dann, viel Glück«, meinte Reed. »Vermutlich liegen die
Waffen inzwischen auf dem Meeresgrund.«
»Also schön, soviel zu den nackten Tatsachen«, erklärte der
Präsident. »Wie wäre es mit einer Theorie? Wer steckt dahinter,
Mr. Michaels? Und wer könnte das nächste Ziel sein?«
»Computer, Bild zwölf«, befahl Michaels.
Von oben erschien eine weitere Holoprojektion, die eine
andere, bei Tageslicht aufgenommene Szene zeigte.
32
»Das ist ein FBI-Archivbild vom Schauplatz der Ermordung
von Thomas >Big Red< O'Rourke in New York im September
vergangenen Jahres. Die Angriffsmethode weist eine
bemerkenswerte Ähnlichkeit auf. Unter der gepanzerten
Limousine dieses irischen Gangsters ging eine Bombe hoch, die
Türen wurden mit Haftminen gesprengt, O'Rourke und seine
Leibwächter durch mehrere Salven aus 9mm-Pistolen und
Maschinenpistolen getötet.«
»Es gab doch noch weitere Morde dieser Art, nicht wahr?«
erkundigte sich der Präsident.
»Ja, Sir. Im letzten Dezember starb Joseph DiAmmato von der
Dixie-Mafia in New Orleans auf ähnliche Weise und im
vergangenen Februar Peter Heitzman in Newark. Die Abteilung
für Organisierte Kriminalität des FBI nimmt an, daß die Morde auf
Anweisung von Ray Genaloni, dem Oberhaupt der fünf Familien
New Yorks, erfolgten, aber die Ermittlungen laufen noch.«
»Das heißt, Sie haben noch keine konkreten Ergebnisse«,
folgerte Reed.
»Nichts, womit ein Bundesstaatsanwalt vor Gericht gehen
könnte, das ist richtig.«
Der Präsident nickte. »Es sieht also so aus, als hätten wir es mit
der Mafia zu tun, korrekt? Kein Hinweis auf terroristische
Aktivitäten?«.
Michaels wählte die nächsten Worte äußerst vorsichtig. »Auf
den ersten Blick liegt diese Möglichkeit nahe, Sir.«
Carver mischte sich ein. »Gestatten Sie, Alex?«
Michaels nickte. Er war froh, seinem Chef das Feld überlassen
zu können, und hoffte nur, daß man ihm seine Er leichterung nicht
allzu deutlich anmerkte.
»Commander Day leitete mehrere Jahre lang die Abteilung für
Organisierte Kriminalität des FBI«, erklärte Carver. »Während
dieser Zeit verhaftete man die Mitglieder der Hälfte der großen
New Yorker Familien. Davon wie derum wurde die Hälfte
verurteilt und hinter Gitter gebracht. Genalonis Vater und sein
älterer Bruder gehörten zu denen; die ins Gefängnis kamen. Die
Mafia würde we gen Steves Tod in der Tat keine Träne vergießen,
und sie hat ein langes Gedächtnis.«
33
»>Rache schmeckt kalt am besten<«, warf der Präsident ein.
»Ist das nicht ein sizilianisches Sprichwort?« Er wirkte etwas
entspannter als zuvor. Auf ihn hatte es die Mafia nicht abgesehen.
Mit einem Blick auf seine Armbanduhr erhob er sich. »Ich
unterbreche diese Besprechung nur ungern, Gentlemen, aber ich
habe noch andere dringende Geschäfte. Es hat den Anschein, daß
wir es hier mit der Mafia zu tun haben, und ich kann nicht
erkennen, in welcher Form die nationale Sicherheit bedroht ist.« Er
blickte Reed an, der den Kopf schüttelte. Hauptsache, eure eigenen
Hintern sind nicht in Gefahr, dachte Michaels.
»Okay, Walt, ich lege großen Wert darauf, daß diese Sache
aufgeklärt wird. Halten Sie mich auf dem laufenden. Gentlemen ...
Mrs. Upton ... «
Damit entschwanden der Präsident und sein Stabschef.
Carver trat zu Michaels, der noch immer neben dem Computer
stand. »War doch gar nicht so schlimm, oder?«
»Nein, Sir.«
»Gut so. Wir werden Genaloni die Hölle heiß machen. Der
Kerl wird nicht mal mehr pinkeln können, ohne daß ihn jemand
aus der Kloschüssel heraus beobachtet. Lassen Sie Ihre
Computerleute Nachforschungen anstellen.«
»ja, Sir.«
»Sprechen Sie mit Brent Adams von der Abteilung für
Organisierte Kriminalität, er wird die Anweisung erhalten, mit
Ihnen zusammenzuarbeiten. Wir machen uns hier nicht
untereinander Konkurrenz. Ich erkläre Sie für zuständig. Der
Präsident der Vereinigten Staaten hat soeben gesagt, wir sollen die
Sache aufklären, und für mich hörte sich das nicht nach einer Bitte
an.«
»Nein, Sir.«
»Das ist alles. Ich erwarte einen täglichen Lagebericht. Falls
sich etwas Neues ergibt, auch öfter. Fällt Ihnen sonst noch etwas
ein?«
»Nein, Sir. Wir werden Sie ständig informieren.«
»Gut so.«
Erst, als er wieder im Auto saß und das Weiße Haus in sicherer
Entfernung hinter ihm lag, gönnte sich Michaels ein wenig
Entspannung. Auf dieser hohen Ebene barg jede Handlung ein
34
großes Risiko. Lieber wäre er draußen im Feld geblieben oder
hätte neue Agenten ausgebildet. Alles war besser als solche
Spielchen mit Politikern und Sicherheitsberatern. Ein falscher
Schritt, ein Wort zur unrechten Zeit, und man zählte für den Rest
seines Lebens Büroklammern. Jetzt hatte er sein persönliches Ziel
als Befehl von oberster Stelle vorliegen: Finde heraus, wer Steve
Day ermordet hat!
Finde es heraus, sonst ...
In Ordnung, kein Problem. Genau das hatte er vorgehabt. Die
Mittel dafür standen ihm zur Verfügung.
35
4
Mittwoch, 8. September, 9 Uhr 30
Quantico, Virginia
Toni Fiorella übte im kleinen Fitneßraum Djurus, als zwei
FBI-Rekruten aus der Anfängerklasse hereinkamen. Etwa ein
Dutzend Personen trainierten bereits, hoben Gewichte, schwitzten
auf den Fitneßrädern oder droschen auf einen der Sandsäcke ein.
Die meisten von ihnen waren Agenten, Übungsleiter oder Beamte
vom Ausbildungszentrum. Üb licherweise blieben Trainees in
ihrem eigenen Kraftraum, was Toni sehr recht war. Denn die
Neulinge, die zumeist gerade ihr Jura - oder Wirtschaftsstudium
absolviert hatten, hielten sich häufig für allwissend und waren der
Meinung, ihre Anwesenheit sei eine Ehre für das FBI.
Mit leicht gebeugten Knien schob sie den rechten Fuß in einen
Ausfallschritt vor, wobei der größte Teil ihres Körpergewichts auf
dem vorderen Fuß lag. Mit beiden Händen führte sie wischende
Bewegungen nach rechts und links aus, um die Körpermitte vor
einem imaginären Angreifer zu schützen. Unvermittelt zuckte ihr
rechter Ellenbogen in einer kurzen, konzentrierten Bewegung nach
oben gegen den Kopf des nicht vorhandenen Gegners. Mit der
linken Hand schlug sie sich gegen den eigenen Ellenbogen, um einen Aufprall zu simulieren, dann ließ sie die linke Hand unter den
rechten Arm gleiten und wehrte einen Schlag des fiktiven Gegners
ab. Fausthiebe mit rechts und links beendeten die erste Hälfte des
ersten Djuru, bei dem es sich um eine relativ einfache Sequenz
handelte.
Einer der Neulinge, ein großer, muskulöser Mann in blauen
Radlerhosen aus Spandex und dem passenden TShirt der
FBI-Trainees hatte Toni beobachtet. Er kicherte und sagte etwas zu
einem Freund.
Der andere, ein kleiner, untersetzter Mann, dessen Ge sicht
unter den buschigen Augenbrauen leicht schwammig wirkte,
lachte ebenfalls.
36
Ungerührt führte Toni ihren letzten Hieb mit der Linken zu
Ende und senkte den Arm zur Hüfte. Dann trat sie mit dem linken
Fuß vor, um nun alle Bewegungen spiegelverkehrt auszuführen.
Days Tod hatte sie stärker getroffen als erwartet, und Alex'
Gemütsverfassung belastete sie gewaltig. Sie war in den
Kraftraum gegangen, um Frustration abzubauen, weil sie nicht an
Alex herankam. Aber das Training hatte noch keine große
Wirkung gezeigt, weshalb sie nicht besonders gut aufgelegt war.
Sie beendete die zweite Sequenz von Schritten und Schlägen
und wechselte erneut auf die rechte Seite, um mit dem zweiten
Djuru zu beginnen. Im Bukti gab es acht kurze Muster, die
sogenannten Djurus. Viele festgelegte Kampfabläufe, die Sambuts,
und zahllose freie Techniken beruhten auf diesen einfachen
Routinebewegungen.
>Spandex< und >Augenbraue< hatten sich voreinander
aufgebaut und waren zum Sparring übergegangen. Obwohl Toni
wußte, daß sie sich auf ihre eigenen Ubungen hätte konzentrieren
sollen - ihr Guru hätte sie wegen mangelnder Aufmerksamkeit
getadelt -, beobachtete sie aus den Augenwinkeln, wie die beiden
hin und her tänzelten. >Spandex< wirbelte die Füße herum, wobei
er hauptsächlich auf den Kopf seines Gegners zielte, während
>Augenbraue< zurückwich und die Tritte seines Gegenüber abwehrte oder ihnen auswich. Dabei stieß er Kiai aus, jene gutturalen
Schreie, die beim Karate die Konzentration erhöhen sollen.
Vermutlich bevorzugte >Spandex< einen koreanischen Stil,
während Toni bei >Augenbraue< eher auf eine japanische oder
Okinawa -Technik tippte. Beide Männer schienen fit zu sein, doch
>Spandex< war offenbar der Bessere. Sie sah ihn grinsen. Dann
sprang er, um seinen Gegner mit einem Kick zu treffen.
Wie in einem schlechten Actionfilm, dachte Toni. Während sie
so tat, als nähme sie die beiden nicht wahr, absolvierte sie ihre
Bewegungen weiterhin in gleichmäßigem Rhythmus. Doch ihr
Gesichtsausdruck verriet sie: Es gelang ihr nicht, ein Lächeln zu
unterdrücken, und das entging >Spandex< nicht.
Und es gefiel ihm ganz und gar nicht.
Mit einer kurzen Verbeugung gab er >Augenbraue< zu
verstehen, daß er fertig war, und wandte sich Toni zu. »Gibt's was
37
zu lachen, Ma'am?« Sein Südstaatenakzent war unverkennbar.
Vermutlich stammte er aus Alabama oder Mississippi.
Ma'am. Man konnte ihm nicht unterstellen, daß er unter
Verfolgungswahn litt, denn Toni lachte tatsächlich über ihn, auch
wenn sie es zu verbergen suchte. Um der Wahrheit die Ehre zu
geben - sie bemühte sich nicht sonderlich, diskret zu bleiben.
Tatsächlich gelang es ihr kaum, das Überlegenheitsgefühl unter
Kontrolle zu halten, das sie jedesmal überkam, wenn sie eine der
anderen östlichen Kampftechniken sah. Jeder hielt sein eigenes
System für besser, da bildete sie keine Ausnahme.
Toni war ohnehin fast am Ende ihrer aktuellen Sequenz
angelangt, deshalb blieb sie stehen. Ihr war klar, daß sie in ihrem
alten schwarzen Trainingsanzug, den Ringerschuhen und dem
verschwitzten Stirnband nicht sonderlich eindrucksvoll wirkte. Mit
einer Größe von einem Meter fünfundsechzig und einem Gewicht
von sechzig Kilo war sie fast dreißig Zentimeter kleiner und vermutlich dreißig Kilo leichter als >Spandex<. Aber sein Ton gefiel
ihr nicht.
»Nein, es gibt nichts zu lachen.«
»Tatsächlich? Ich dachte, mein Kampfstil hätte Sie vielleicht
belustigt.«
»Nein, er ist nicht komisch.« Damit wollte sie sich abwenden.
>Augenbraue< hielt den Momentfür gekommen, sich
einzumischen. »Mein Freund hat einen schwarzen Gürtel zweiten
Grades.« Mit einer Handbewegung schien er ihre Kampftechnik
für null und nichtig erklären zu wollen. »Ich wette, er könnte Ihnen
einiges beibringen.«
»Da bin ich sicher«, gab Toni zurück. Wie man sich falsch
bewegt zum Beispiel, dachte sie. Doch sie hielt den Mund und
griff nach ihrem Handtuch. Am besten, sie ging unter die Dusche.
Solange die beiden Primitivlinge ihre Muskeln spielen ließen und
sich als Machos aufbliesen, würde sie sich sowieso nicht
konzentrieren können. Sie hatte mehrere Brüder und wußte, daß
sich Testosteron ebensowenig aufhalten ließ wie eine Springflut
bei Vollmond. In Kürze würden die beiden anfangen, auf den Boden zu spucken und sich im Schritt zu kratzen - soweit das hier
drinnen möglich war.
38
Wenn die Männlichkeit solcher Kerle angekratzt war, handelte
man sich als Frau nur Ärger ein, das hätte sie inzwischen wissen
müssen,
»Was war das für ein kleines Tänzchen, das Sie da hingelegt
haben?« erkundigte sich >Spandex<. >Augenbraue< und er
grinsten einander an.
Kleines Tänzchen. Ein starkes Stück.
Sie wandte sich den beiden zu. »Das war ein Djuru. Die
Kampftechnik nennt sich Pukulan Pentjak Silat Bukti NegaraSerak.«
>Spandex< grinste über das ganze Gesicht. »Hört sich eher wie
ein thailändisches Gericht mit Erdnußsoße an. Besitzen Sie einen
Rang darin?«
»Bei uns gibt es keine Gürtel. Man ist entweder Schüler oder
Lehrer. Ich bin Schülerin.«
»Nun, sieht auf jeden Fall ganz nett aus«, gab >Spandex<
großmütig zu. »Obwohl ich nie davon gehört habe.«
Ganz nett.
Toni lächelte. Normalerweise ließ sie sich von überheblichen
Männern einiges gefallen. Herablassung stand ganz oben auf der
Liste, weil sie damit so reichlich bedacht wurde. Sie war erst
siebenundzwanzig, eine Frau und dazu Italienerin. Alle diese
Eigenschaften wurden gern kommentiert und boten häufig Anlaß
zu Scherzen über die Mafia. Warum sich Männer ihr gegenüber so
verhielten, war ihr bis jetzt ein Rätsel geblieben. Nicht alle
Männer, nicht immer, aber es kam doch so häufig vor, daß der
Umgang mit dem anderen Geschlecht für sie manchmal ein
Argernis darstellte. Viel zu oft, wie ihr schien.
Wäre sie besserer Laune gewesen, hätte sie lächelnd den Kopf
geschüttelt, sich abgewandt und den Jungs ihren Spaß gegönnt.
Aber im Augenblick war sie nicht besonders milde gestimmt. Sie
hatte eine lange, schlimme Nacht hinter sich, und der Tag
versprach noch schlimmer zu werden. Sie hatte keine Lust auf das
Spiel, das die beiden anzettelten, und sah keinen Grund, es sich
gefallen zu lassen.
»Tut mir leid, daß Ihre Bildung so beschränkt ist«, erwiderte
sie deshalb.
39
>Spandex< legte die Stirn in Falten. Er begriff, daß sie ihn
beleidigt hatte. »Wie bitte?«
Toni lächelte noch aufreizender. »Welchen Teil haben Sie denn
nicht verstanden?«
»Hören Sie, Ma'am, es gibt keinen Grund, pampig zu werden.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Sie besitzen also einen
schwarzen Gürtel, richtig?«
»Stimmt.«
»Dann hören Sie mir mal gut zu. Warum kommen Sie nicht her
und versuchen, mir eins zu verpassen? Dann zeige ich Ihnen, wozu
mein kleines Tänzchen gut ist.«
>Spandex< und >Augenbraue< wechselten einen Blick. Ihr
war klar, warum >Spandex< zögerte. So oder so zöge er den
kürzeren. Wenn er sie verprügelte, stünde er als brutaler Rohling
da, der über eine kleine Frau herfiel. Verdrosch sie ihn, würde
seine Männlichkeit leiden.
»Lieber nicht, Ma'am. Ich bin ein sehr gut ausgebildeter
Kämpfer und will Ihnen nicht weh tun.«
»An Ihrer Stelle würde ich mir deswegen keine Sorgen
machen. Es erscheint mir höchst unwahrscheinlich, daß dieser Fall
eintritt.« Toni wußte, wie fragwürdig ihr Verhalten war. Ihr Guru
wäre zutiefst verärgert gewesen, wenn er gesehen hätte, wie sie
diesen Burschen provozierte. Aber sie konnte nicht anders. Der
Kerl war in eine Wolke von Arroganz gehüllt wie ein heißes
Würstchen an einem Wintertag in der Bronx in Dampf.
Der andere zog eine buschige Augenbraue hoch und blickte
>Spandex< an. »Das kriegst du schon hin, du mußt ja nicht fest
zuschlagen. Zeig ihr einfach ein paar Kniffe.«
>Spandex< grinste. Offenbar bot sich hi m hier eine Gelegenheit zur Selbstdarstellung, da konnte er nicht widerstehen.
»Also gut, Ma 'am.«
Er kam näher. In einer Entfernung von etwa drei Metern
begann er mit kurzen Schritten zu tänzeln wie ein Pferd und schob
sich vorsichtig näher heran: Die eine Hand hielt er hoch erhoben,
die zweite etwas niedriger. »Sind Sie bereit?«
Fast hätte Toni gelacht. Warum schickte er nicht gleich ein
Telegramm? »Aber ja.«
40
Er war schnell - und cleverer, als er wirkte. Diesmal versuchte
er keinen der angeberischen, albernen Fußtritte hoch in der Luft,
sondern sprintete los, hielt plötzlich inne und machte mit dem
rechten Fuß einen Ausfallschritt. Da bei zielte er mit einem
schnellen, harten Schlag auf ihre Brust. Gut gezielt und völlig im
Gleichgewicht - ein Treffer an dieser Stelle würde keinen großen
Schaden verursachen, falls es ihr nicht gelänge, ihn abzuwehren.
Mit der anderen Hand deckte er sich.
Perfekt.
Vermutlich erwartete er, daß sie zurückwich und parierte, aber
das war nicht ihre Art von Silat, zumindest nicht in dieser
Situation. Mit geöffneten Händen wehrte sie den Schlag ab und
setzte den linken Fuß nach vorne auf ihn zu. Sie duckte sich unter
seinen ausgestreckten Arm und schwang ihren rechten Ellenbogen
in die Rippen unter seiner Achsel. Der Treffe r klang erfreulich
hohl und setzte ihn für einen Augenblick außer Gefecht.
Der Gute wirkte einigermaßen verblüfft.
Schon befanden sich ihre Füße in Position. Basis ...
Blitzschnell packte sie von hinten mit der linken Hand seine
linke Schulter. Winkel ...
Gleichzeitig griff sie mit der Rechten in einer diagonalen
Aufwärtsbewegung nach seiner Stirn, hielt den Ellenbogen dann
senkrecht. Hebel ...
Nun stieß sie seine linke Schulter nach vorne, nur um sie sofort
wieder rückwärts nach unten zu reißen, während sie gleichzeitig
seinen Kopf nach hinten zog.
Basis, Winkel, Hebel. Wenn man alle drei Elemente richtig
kombinierte, funktionierte diese Technik immer. Ausnahmslos.
Sie hatte alle drei richtig zusammen eingesetzt.
>Spandex< ging zu Boden wie ein Baumriese, der von einer
Kettensäge gefällt wurde. Er schlug mit dem Rücken flach auf die
Matte. Jetzt hätte sie ihn mit Knien und Ellenbogen bearbeiten
können. Statt dessen trat sie zwei Schritte zurück. Schließlich
wollte sie ihn nicht verletzen, sondern nur in Verlegenheit bringen.
Von seinem Schlag bis zu ihrem Rückzug hatte die ganze
Sequenz keine zwei Sekunden in Anspruch genommen.
Er rollte auf die Beine und ging wutschnaubend auf sie los.
»Miststück!«
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Auch gut, damit war die >Ma'am< wohl begraben.
Wahrscheinlich plante er eine seiner bevorzugten Angriffssequenzen, eine Kombination aus Tritten und Fausthieben,
Scheinattacken und Schwüngen, worauf schließlich der
vernichtende Treffer folgen sollte. In Punktkämpfen erledigte er
seine Gegner vermutlich reihenweise auf diese Art. Wenn sie ihm
freie Bahn ließ, konnte es gefährlich werden.
Sie gab ihm keine Chance.
Als er in einem Scheinangriff eine linke Gerade schlug, wehrte
sie mit beiden Händen ab, indem sie seinen Arm direkt über dem
Ellenbogen in die Zange nahm. Dann drehte sie sich um ihre
eigene Achse und warf sich mit dem gesamten Gewicht auf ein
Knie. Ihr Gegner schlug ein Rad. In einigen Kampfsportarten
lernte man auch ein wenig Ringen und wie man richtig fiel.
>Spandex< hatte davon offensichtlich keine Ahnung.
Er vollführte einen halben Salto und krachte mit dem oberen
Rücken so hart auf die Matte, daß ihm die Luft wegblieb. Diese
einfache Übung gehörte immer noch zum ersten Djuru. Warum
kompliziert, wenn es auch anders ging?
Toni kam auf die Füße und wartete, ob er einen dritten
Angriffsversuch unternehmen würde.
Doch so dumm war >Spandex< nicht. Als er diesmal auf die
Beine kam, bedeutete er ihr mit einer Geste, daß er genug hatte.
Die Lektion war beendet, er wußte, wann er seinen Meister
gefunden hatte.
Toni fühlte sich ausgezeichnet, obwohl sie wußte, daß sie sich
eigentlich hätte schämen sollen. Sie warf einen Blick auf die Tür
des Kraftraums.
Alex Michaels lehnte an der Wand und beobachtete sie.
Michaels ging auf sie zu. Er war nicht schlecht in Form, er lief
fast jeden Tag fünf bis sechs Kilometer, fuhr etwas Rad, und in
seinem Haus stand ein Bowflex-Gerät, mit dem er Krafttraining
absolvierte. Aber seine Ausbildung beim Militär und in der ersten
Zeit bei der Net Force, als er Mann gegen Mann gekämpft hatte,
lag lange zurück. Computerfreaks wurden in der realen Welt nur
selten mit Gefahrensituationen konfrontiert. In den meisten
Kämpfen würde er sich vermutlich wacker schlagen, solange er es
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mit nur einem Gegner zu tun hatte. Trotzdem hätte er sich ungern
mit dem Riesen angelegt, der sich soeben von der Matte
aufrappelte. Nachdem Alex beobachtet hatte, wie Toni den armen
Burschen einem Frisbee gleich herumgewirbelt hatte, verspürte er
nicht die geringste Lust, es mit ihr aufzunehmen. Aus ihrer Akte
wußte er, daß sie eine Kampfsporttechnik beherrschte, auch wenn
seine Informationen ansonsten eher mangelhaft waren. Die
Effektivität der Technik war tatsächlich erstaunlich.
»Sehr interessant, das nennt man also Silat? Wo haben Sie das
gelernt?«
Toni fuhr sich mit einem Handtuch über das Gesicht. »Als ich
etwa dreizehn war, lebte eine kleine alte Frau aus
Holländisch-Indonesien bei uns in der Nähe. Sie hieß Susan
DeBeers. Sie war in den Sechzigern, pensioniert und vor kurzem
Witwe geworden. Am liebsten saß sie auf der Stufe vor dem
Gebäude auf der anderen Seite der Straße, rauchte eine kleine
geschnitzte Meerschaumpfeife und genoß die Frühlingssonne. An
einem Samstag fanden vier Jungs von einer Gang, sie müßten
ihren Platz haben. Sie stand auf, um zu gehen, war ihnen aber nicht
schnell genug. Deshalb wollte einer von ihnen die Sache mit einem
Tritt beschleunigen.«
Sie warf sich das Handtuch über die Schulter. »Diese Kerle
waren zwischen achtzehn und zwanzig, trugen Messer und
angefeilte Schraubenzieher in den Taschen. Ich wartete gerade auf
den Bus und beobachtete die Szene. In nerhalb von vielleicht
fünfzehn Sekunden war alles vorüber. Bis heute kann ich nicht
genau sagen, was eigentlich geschah. Diese kleine, alte,
spitzbäuchige Frau, die rauchte wie ein Schlot, drosch auf die vier
Gangster ein, daß sie durch die Luft flogen wie Tennisbälle. Dabei
nahm sie nicht einmal die Pfeife aus dem Mund, geschweige denn,
daß sie ins Schwitzen geraten wäre. Alle vier landeten im
Krankenhaus. Daher beschloß ich, bei ihr Unterricht zu nehmen.«
»Hatte sie denn eine Schule?«
»Nein. Ein paar Tage später, als ich genügend Mut gefaßt
hatte, ging ich über die Straße zu ihr und fragte, ob sie mich
unterrichten würde. Sie nickte nur und meinte: >Na türlich<. Bis
zum Ende meiner Collegezeit, als ich nach Washington zog,
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trainierte ich bei ihr. Immer, wenn ich meine Familie besuche,
arbeite ich mit ihr.«
»Die Jüngste kann sie nicht mehr sein«, warf Michaels ein.
»Inzwischen ist sie zweiundachtzig, aber ich würde mich noch
immer nicht mir ihr anlegen wollen.«
»Sehr beeindruckend.«
»Es handelt sich um einen höchst wissenschaftlichen
Kampfstil, der auf Hebelwirkung und Winkeln beruht. Man geht
davon aus, daß man es mit mehreren Gegnern zu tun hat, die alle
größer und stärker sind als man selbst. Daher steht die Technik im
Vordergrund und nicht die Muskelkraft, was mir sehr
entgegenkommt. Normalerweise kommen Frauen darin nicht allzu
weit, aber der Ehemann von Guru DeBeers war häufig auf Reisen.
Deshalb war es wichtig, daß sie sich schützen konnte.« Sie
unterbrach sich. »Aber ich will Sie nicht mit meinem esoterischen
Gerede von Kampftechniken langweilen.«
»Nein, das interessiert mich sehr. Worin besteht der Unterschied zu Boxen oder Judo?«
»Nun, die meisten dieser Kampftechniken stammen aus
Ländern mit einer alten Zivilisation. Das chinesische Kung-Fu, das
koreanische Taekwondo, das japanische Jiu Jitsu. Sie haben
gemeinsam, daß die Techniken schon seit Hunderten, ja seit
Tausenden von Jahren verfeinert werden. Dabei sind einige
besonders häßliche Dinge spiritualisiert worden. In der Zivilisation
wird der Kampf auf Leben und Tod nicht gern gesehen. Das soll
nicht heißen, daß ein Meister in diesen Künsten nicht gefährlich
ist. Ein guter Kung-Fu- oder Karatekämpfer kann einem den Kopf
des Gegners auf dem Tablett präsentieren, wenn dieser ihm nicht
gewachsen ist.«
»Mir scheint, da höre ich ein >Aber< heraus.«
Toni lächelte. »Silat kam zum großen Teil erst vor zwei oder
drei Generationen aus dem Urwald. Es gibt Hunderte von
Stilrichtungen, obwohl die meisten von ihnen erst in der
Öffentlichkeit praktiziert werden, seit Indonesien 1949 unabhängig
wurde. Hier geht es um das ursprüngliche Ziel, den Angreifer zu
verkrüppeln oder zu töten. Zivilisation hat dabei keinen Platz.
Alles ist auf eine möglichst tödliche Wirkung ausgerichtet. Wenn
eine Technik versagte, bedeutete dies den Tod des Kämpfers,
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zumindest aber blieb er verkrüppelt, so daß dieser Stil nicht
weitergegeben wurde.«
»Interessant.«
Erneutes Lächeln. »Was Sie hier gesehen haben, war Bukti,
eine einfache Sache. Serak, die übergeordnete Kunst, ist eine ganz
andere Spielklasse. Da wird es wirklich haarig. Jede Menge
Waffen kommen zum Einsatz - Stöcke, Messer, Schwerter,
Dreizacke, sogar Feuerwaffen.«
»Ich dachte, Sie wären ein nettes italienisches Mädchen aus der
Bronx. Erinnern Sie mich daran, falls ich mich einmal mit Ihnen
anlegen möchte.«
»Alex?«
»Ja?«
»Legen Sie sich nicht mit mir an.« Sie lachte. »Also, was ist
los? Sie sind doch nicht gekommen, um zuzusehen, wie ich
Rekruten verprügle, oder?«
»Nein, es geht ums Geschäft. Wir haben ein neues Problem.
Jemand hat soeben den Hauptserver der Net Force in Frankfurt in
die Luft gejagt.«
»Sie meinen den Server der CIA?«
»Richtig. Nachdem die Net Force nur innerhalb der USA
operiert - es sei denn, es handelt sich um Notfälle auf internationaler Ebene und der Präsident gibt seine Einwilligung -,
meinte ich selbstverständlich den Horchposten der CIA.«
Das brachte ihm ein Schmunzeln ein. »Sie haben wohl die
Gründungsurkunde auswendig gelernt.«
»Was wollen Sie damit sagen, stellvertretender Commander
Fiorella? Die Net Force würde niemals etwas Ille gales tun.«
Das Schmunzeln wurde zu einem breiten Lächeln. Irgendwie
gefiel es Alex, sie zum Lachen zu bringen. Der Gedanke, daß eine
FBI-Einheit, die Computernetze überwachen sollte, ihre Tätigkeit
auf die Vereinigten Staaten beschränkte, war völlig absurd. Das
Netz kannte keine Grenzen, es reichte um die ganze Welt. Zum
größten Teil davon hatte man von jedem beliebigen Ort aus
Zugang, aber gewisse Systeme waren aus geringer Distanz leichter
zu erreichen. Von Zeit zu Zeit war die CIA bereit, der Net Force
ihren Namen zu leihen, im Gegenzug für bestimmte Leistungen,
die der Geheimdienst selbst nicht erbringen konnte. Schließlich
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war der CIA jede Tätigkeit innerhalb der Vereinigten Staaten
untersagt - obwohl jeder wußte, daß sie sich nicht daran hielt.
»Geben Sie mir Zeit, mich kurz frisch zu machen, dann komme
ich mit«, sagte Toni.
46
5
Mittwoch, 8. September, 16 Uhr
Sarajewo
Eine Panzerabwehrgranate traf das Gebäude hinter Colonel
John Howards Net-Force-Einsatztruppe, kaum sechs Meter über
ihren Köpfen. Beim Aufprall explodierte das Geschoß und riß
einen schwarzen Krater in das achtzig Jahre alte Bauwerk. Ein
Hagel von Ziegeltrümmern und Glassplittern ging auf das halbe
Dutzend Soldaten nieder, das hinter einem aufgerissenen
Metallcontainer in Deckung gegangen war. Ein nicht
ungefährlicher Niederschlag, aber das war im Augenblick
Howards geringste Sorge. Sie mußten den Mistkerl mit dem
Granatwerfer erledigen, und zwar so schnell wie möglich.
»Reeves und Johnson, links herum!« befahl Howard leise. Es
gab keinen Grund zu schreien: Alle Männer trugen Helme mit
integrierten LOSIR-Funksystemen. Selbst wenn er geflüstert hätte,
hätten sie ihn laut und deutlich gehört. Die auf Sicht arbeitenden
taktischen Kommunikationseinheiten besaßen eine relativ geringe
Reichweite und funktionierten im Grunde nur, wenn man die
Person, mit der man sprach, tatsächlich sehen konnte. Andererseits
war es für den Gegner unmöglich, den Funk mit Hilfe von Richtantennen abzuhören, es sei denn, er befand sich ebenfalls in
Sichtweite. Genau deswegen kam dieses System zum Einsatz.
»Odom und Vasquez, Feuerschutz geben! Chan und Brown nach
rechts! Auf meinen Befehl ... drei ... zwei ... eins ... jetzt!«
Odom und Vasquez eröffneten aus ihren Heckler &
Koch-Sturmwaffen das Feuer. Mit ungeheurer Zerstörungskraft
jagten
die
vollautomatischen
Schnellfeuergarben
von
9mm-Patronen aus den Magazinen der Maschinenpistolen, von
denen jedes hundert Schuß faßte ...
Reeves und Johnson wandten sich nach links und rannten
geduckt über die Straße, wo sie hinter einem großen
Sattelschlepper in Deckung gingen. Das Fahrzeug war schon lange
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nicht mehr funktionsfähig. Die Reifen waren im Feuer
geschmolzen, das Metall von Fahrerhaus und Anhänger von alten
Kugellöchern gezeichnet und durch Ruß und Grafitti verunstaltet.
Chan und Brown liefen nach rechts, ebenfalls Schüsse
abgebend, während sie im Zickzack die Todeszone durchquerten.
Die Kampfanzüge des Teams boten Schutz vor den meisteft
Waffen, über die die Einheimischen verfügten. Westen und Hosen
aus hochfester Microfaser enthielten Taschen mit überlappenden
Keramikplatten, von denen Pistolen- und Gewehrkugeln
abprallten, sofern es sich nicht um Heißgeschosse handelte. Helme
und Stiefel waren aus Kevlar mit Titaneinlagen. Eine doppelte
Keramikbeschichtung
schützte
die
stoßgesicherten
Recheneinheiten auf ihrem Rücken. Die se taktischen Computer
verschlüsselten Funk- und Satellitennachrichten, erstellten mit
Hilfe von Infrarot- und Ultraviolett-Teleskop-Scannern und
Bewegungssensoren Geisterdisplays mit Geländekarten in ihren
Spezialbrillen und sorgten sogar für eine sofortige Polarisierung in
den Visieren der Helme. Die Net-Force-Anzüge waren nicht so
schwer wie die übliche Armeeausrüstung, da man auf Filter und
Bioprojektile verzichtet hatte. Für diese Art von Sturmangriff, die
in einem Tag vorüber war, benötigte man nicht die gesamte
Infanterieausstattung. Dennoch hatte selbst jetzt jeder Kämpfer
etwa zehn Kilo zu schleppen.
Howard sprang auf, schob seine Thompson-Maschinenpistole
über den Rand des Containers und gab mehrere Feuerstöße auf das
Schlupfloch ab, in dem sich der Bursche mit dem Granatwerfer
versteckt hielt. Seine Tommy entsprach in keinster Weise dem
Stand der Technik. Es handelte sich um ein antikes Stück aus dem
Jahre 1928, das während der Prohibition einem Sheriff in Indiana
gehört hatte. Howards Urgroßvater war als Schwarzem damals
offiziell die Polizeilaufbahn verwehrt geblieben, aber der weiße
Sheriff, für den er arbeitete, besaß einen Blick für gute Leute
gleich welcher Hautfarbe. Daher verdiente dieser Schwarze inoffiziell zwanzig Jahre lang als Vertreter des Gesetzes gutes Geld,
auch wenn er nie einen Ve rtrag in die Hand bekommen hatte. Als
der Sheriff starb, vererbte er dem alten Howard seine Tommy. In
jenen Tagen nannte man sie >Chicagoer Schreibmaschine< ...
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Jetzt ist keine Zeit für Nostalgie, John! Duck dich!
Der Mann mit dem Granatwerfer war in Deckung geblieben,
aber jemand, der sich mit ihm im Treppenhaus aufhielt, erwiderte
aus einer kleinkalibrigen Waffe das Feuer. Patronen schlugen
scheppernd gegen das schwere Metall des Containers, dessen
zerschundene Wände immer noch dick genug waren, die Kugeln
abzuhalten. Trotz seiner Panzerung war Howard dankbar dafür.
»Feuer im Loch!« meldete Reeves Stimme durch den Lärm der
Schüsse über Funk.
Die Granate, die Reeves in das Treppenhaus geworfen hatte,
zündete. Schrapnells schlugen gegen den Container. Rauch und
Staub und der Gestank verbrannten Sprengstoffs hüllten Howard
ein.
Zwei Sekunden vergingen, ohne daß ein Schuß gefallen wäre.
»Sauber!« brüllte Johnson.
Colonel Howard erhob sich und erwiderte Johnsons Grinsen,
indem er den Daumen nach oben reckte und lächelte. Seine
Männer - beziehungsweise: fünf Männer und eine Frau - suchten
mit schußbereiten Waffen die Straße und die Gebäude nach
weiteren Zielen ab, die ihnen gefährlich werden konnten. Nur ein
völlig vertrottelter Ein heimischer hätte diesen Moment gewählt,
um den netten Amerikanern zuzuwinken.
Howard tippte auf das flache Pad an seinem Helm, so daß sich
das Display aufbaute. Eine digitale Zeitanzeige blinkte auf.
Normalerweise ließ er das Display ausgeschaltet, wenn die Sache
brenzlig wurde. Er hatte keine Lust, auf Phantome zu schießen, die
sein Computer erzeugte. Bei ausreichender Erfahrung ignorierte
man die Anzeigen angeblich, aber es war erstaunlich, wie viele gut
ausgebildete Soldaten auf Hitzesignale oder blinkende
Zeitanzeigen auf dem Display vor ihren Augen schossen, wenn
ihnen echte Kugeln um die Ohren pfiffen.
»Gute Arbeit, Leute, aber jetzt laßt uns hier verschwinden. In
sechs Minuten müssen wir am Treffpunkt sein.«
Das Team setzte sich in Bewegung.
Plötzlich verblaßten die Männer, die Straße, die Gebäude,
wurden geisterhaft durchsichtig und verschwanden dann ganz.
»Meldung mit höchster Priorität, John«, erklärte eine
militärisch knappe Stimme.
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Howard blinzelte und schob das virtuelle Band seufzend von
seinen Augen.
Er befand sich in seinem Büro im Hauptquartier der Net Force.
Bei dem Feuergefecht in Sarajewo hatte es sich um eine
Computersimulation, nicht um ein echtes Scharmützel gehandelt.
Wenn ein dringender Anruf wartete, konnte er es sich nicht leisten
weiterzuspielen. »Durchstellen«, wies er den Computer an.
Kopf und Schultern von Alexander Michaels, dem zivilen
Commander der Net Force, erschienen über Howards Schreibtisch.
Howard nickte dem Hologramm zu. »Commander Michaels.«
» Colonel. Ich möchte Sie bitten, sich um eine gewisse Situation zu kümmern.«
»Sie sprechen von der Explosion in Deutschland?«
»Ja.«
»Meine Leute sind auf dem laufenden. Geht es um eine
Infiltrierung?« Howards Stimme verriet Interesse.
»Nein, nicht in Frankfurt, dafür ist es zu spät. Aber ich habe
alle Horchposten und lokalen Netze in Alarmbereitschaft versetzt,
das gilt insbesondere für Europa. Ich emp fehle Ihnen, dafür zu
sorgen, daß ihre Spezialeinheiten ein satzbereit sind.«
»Meine Einheiten sind immer einsatzbereit, Commander.«
Howard spürte selbst, wie steif das klang, aber daran ließ sich
nichts ändern. Es fiel ihm schwer, Befehle von einem Zivilisten
entgegenzunehmen, einem Mann, dessen Vater zwar Berufssoldat
gewesen war und es beim Heer bis zum Unteroffizier gebracht
hatte, der selbst jedoch nie gedient hatte. Natürlich, der Präsident
der Vereinigten Staaten war auch Oberbefehlshaber der
Streitkräfte, obgleich der gegenwärtige Amtsinhaber niemals
Soldat gewesen war, aber er war klug genug, seinen Generälen
freie Hand zu lassen. Steve Day war von der Marine gekommen,
und das war schlimm genug gewesen, aber wie er Alexander
Michaels einschätzen sollte, war Howard noch völlig unklar.
»Das habe ich nie bezweifelt, Colonel.«
»Tut mir leid, Commander. Bei uns herrscht Alarmstufe zwei,.
das heißt, innerhalb einer Stunde könnte ich meine zehn
Spitzenteams in der Luft haben. Sollten wir auf Alarmstufe eins
gehen, würde es nur halb so lange dauern.«
»Ich hoffe nicht, daß es soweit kommt.«
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»Jawohl, Sir«, gab Howard zurück, obwohl er sich genau das
Gegenteil wünschte. Je eher seine Teams die Gele genheit
erhielten, ihr Können bei einem realen Einsatz unter Beweis zu
stellen, desto besser. Als Kämpfer brauchte man ab und zu einen
Krieg oder zumindest einen Polizeieinsatz.
»Ich halte Sie auf dem laufenden«, erklärte Michaels. »Ende.«
»Sir.«
Howard war nicht weiter beunruhigt. Seine Computerspezialisten waren in den Netzen unterwegs. Falls Michaels Leute
überhaupt einen Vorsprung hatten, konnte er nicht allzu groß sein.
Am besten schickte er sie gleich an die Arbeit, um sicherzugehen, daß sie nichts übersahen. Er griff erneut nach dem
Sprechgerät.
Wenn er online ging, benutzte Plechanow immer noch seine
altmodische Ausrüstung - Helm und Handschuhe -, obwohl diese
für die neueren Systeme nicht erforderlich waren. Moderne
Holoprojektoren deckten das gesamte Ge sichtsfeld mit einem
einfachen Augenband ab, das nicht breiter als ein Bleistift war.
Inzwischen las die Software hinter der Holokamera des Computers
mit den Fingern gegebene Befehle ebenso einwandfrei wie die mit
den besten Handschuhen. Aber er mochte die Handschuhe, weil er
daran gewöhnt war. Mit der neuen Tastaturanordnung Dvorak, die
Qwerty zum Großteil ersetzt hatte, hatte er sich auch noch nicht
angefreundet.
Ganz gleich, was man sagen mochte: Was die Muskeln in
fünfundvierzig Jahren gelernt hatten, ließ sich nicht einfach
löschen und ersetzen, nur weil eine neue Methode effizienter war.
Mit einem Wink rief er das Web auf und befahl: >Olympic
Pensinsula Trail.<
Sein Gerät produzierte das virtuelle Bild eines Regenwaldes
einer gemäßigten Klimazone. Ein schmaler Pfad führte durch hohe
Douglasfichten und dichten Farn, unter denen Teppiche
verschiedener Pilze wucherten. Die Sonne des frühen
Julinachmittags fiel schräg durch das dichte Dach der Nadelbäume
und Erlen und tauchte den Wald in helle und dunkle Abschnitte.
Das Summen der Insekten und das Gezwitscher der Vögel erfüllte
51
die warme Luft, die hier im Schatten der Bäume noch nicht
unangenehm heiß war.
Plechanow trug praktische Wanderkleidung: Khakihemd und
-Shorts, Kniestrümpfe aus Polypropylen, Wanderstiefel mit
Waffelsohle sowie einen Südwester. Der massive Wanderstab war
so groß wie er selbst. Ein kleiner Rucksack enthielt Regenumhang,
Wasserflasche, eine Plastiktüte mit Trekkingmischung, Kompaß,
Taschenlampe, Streichhölzer, Erste-Hilfe-Ausrüstung, Schweizer
Armeemesser und ein Mobiltelefon mit Navigationseinheit für
Notfälle. Zwar hatte er nicht vor, sich von dem Pfad zu entfernen,
aber es war bestimmt nie verkehrt, Vorsorge zu treffen.
In seinem Rucksack befand sich auch das kleine Paket, das er
überbringen sollte.
Dem Lauf eines Baches folgend, lauschte er dem Ge räusch des
kalten, klaren Wassers, das über die glatten Steine plätscherte. In
Vertiefungen, in denen die Strömung weniger stark war, entdeckte
er kleine Fische. Er genoß den Duft der Fichten, die
humusdurchsetzte Erde unter seinen Wanderstiefeln, den
menschenleeren Pfad, den er ganz für sich hatte.
Nachdem er eine Weile zügig marschiert war, hielt er an, um
Wasser zu trinken. Während er sich ausruhte, warf er einen Blick
auf die Uhr. Es handelte sich um ein Stück, das sich seit über
fünfzehn Jahren in seinem Besitz befand, eine analoge Taschenuhr
russischer Herkunft mit mechanischem Uhrwerk. Seine Molnija
war groß und schwer, bestand zum Großteil aus Stahl und besaß
eine Unruh mit achtzehn Steinen. Auf der Rückseite waren
Hammer, Sichel und Stern eingraviert, während auf dem
aufklappbaren Deckel ein Bild des Kremls prangte. Das Modell
war zur Erinnerung an die russischen Siege im Zweiten Weltkrieg
herausgebracht worden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte
Rußland, das unter einem chronischen Mangel an Bargeld litt,
alles, was nicht niet- und nagelfest war, an jeden verkauft, der
dafür bezahlte. Solche Uhren waren regelrecht verschleudert
worden. Ein analoger Chronometer von dieser Qualität, der noch
dazu so unempfindlich war, hätte im Westen mit Leichtigkeit das
Zehnfache gekostet, wenn es solche Stücke dort überhaupt
gegeben hätte, was nicht der Fall war.
52
Er drückte einen Knopf, so daß der Deckel aufsprang, und warf
einen Blick auf die römischen Ziffern. Fast war es Zeit für das
Treffen, das an dem großen Felsen an der Küste stattfinden sollte.
Er ließ den Deckel zuklappen.
Eile war geboten. Am Felsen - einem massiven Block verwitterten Gesteins nordwestlich von Seattle, wo der Pazifik und
die Straße von Juan de Fuca an Cape Foulweather
aufeinandertrafen - würde Plechanow sein Päckchen einem Kurier
übergeben. Dieser würde es - zumindest bei diesem Szenario - mit
einem Fischkutter zu einem dicken Mann transportieren, der
Zugang zu bestimmten Systemen besaß. Als Gegenleistung für das
Päckchen mit Wertgegenständen - in diesem Fall handelte es sich
um >binäre< Edelsteine, die sich verkaufen ließen - würde der
Dikke eine kleine Anzahl elektronischer >Schneebälle< in Bewegung setzen. Einige davon würden ihren Bestimmungsort aber
wie harte Eisklumpen erreichen, ohne ihre Größe zu verändern,
andere jedoch zu wahren Lawinen werden. Das hing ganz von dem
Zweck ab, den man damit erreichen wollte.
Ein kleines Tier kreuzte den Pfad direkt vor Plechanow. Der
Farn bebte, als das Wesen darin verschwand. War es ein
Kaninchen gewesen oder ein Waschbär? Plechanow lächelte.
Diese Reise war einer seiner liebsten Ausflüge, weil sie sich so
grundlegend von der Realität unterschied. Eine Wanderung auf
einem Waldweg war von Computernetzen so weit entfernt wie der
Mond von der Erde. Welche Ironie!
Dabei kam ihm in den Sinn, welche große Bedeutung diese
Technologie in letzter Zeit für ihn gewonnen hatte. Ein Großteil
seiner Tätigkeit spielte sich in der virtuellen Realität oder in
Computersystemen ab, aber natürlich nicht alles. Manchmal
erforderte die reale Welt reale Aktionen.
Die physische Zerstörung des CIA-/Net-Force-Postens in
Deutschland war ein Beispiel dafür. Primitiv, aber notwendig. Ließ
man sich zu sehr auf elektronische Manipulationen ein, bestand
das Risiko, den Gegner zu warnen, wenn man es mit solch
hervorragenden Programmierern wie den besten Hackern von Net
Force zu tun hatte. Dagegen konnte jeder durchgedrehte Radikale
eine Bombe werfen. Von Zeit zu Zeit mußte man die Methode
wechseln.
53
Die Software - und Virenangriffe, die er auf Systeme in den
unabhängigen Staaten des Commonwealth, in den baltischen
Staaten und in geringerem Umfang in Japan und Korea plante, um
die Leute ein bißchen zu verwirren, würden von ganz anderer
Qualität sein.
Bald schon würden Hunderte von Programmierern und
Systemtechnikern schwitzend und fluchend darum kämp fen, das
Chaos zu beseitigen. Wenn es soweit war, würden seine
Fähigkeiten heiß begehrt sein. Niemand konnte eine
Angelegenheit besser in Ordnung bringen als ein Mann, der wußte,
wo der Fehler lag, weil er ihn selbst verursacht hatte.
Der Pfad wand sich nach links, dann wieder nach rechts und
führte schließlich aus dem Wald heraus auf eine sandige Ebene,
die hie und da durch Flecken von Riedgras und anderem,
verkümmertem Gewächs unterbrochen wurde. Die Brandung
schlug gegen die felsige Küste, die nur etwa einen Kilometer von
hier entfernt war. Draußen auf dem Meer entdeckte er den
Fischkutter, der in sicherer Entfernung vom Ufer vor Anker
gegangen war. Ein schnittiges Motorboot mit hohem Bug löste
sich von dem größeren Schiff und hielt auf die Küste zu.
Unterwegs zu ihm, um die Fracht, die er bei sich trug, abzuholen
und seinen Auftrag auszuführen. Der Himmel wurde grau, als
Nebel aufkam, und ein eisiger Hauch lag in der Luft. Genau
passend für dieses Szenario.
Hier wurde seine virtuelle Macht sehr deutlich, die Fähigkeit,
solche Visionen heraufzubeschwören, doch diese Begabung war
nur wirklich eines seiner zahlreichen Talente.
Er lachte laut. Es war ein gutes Gefühl, Herr der Lage zu sein.
Sehr bald aber würde er sich noch viel, viel besser fühlen.
54
6
Dienstag, 14. September, 11 Uhr 15
New York City
Ray Genaloni legte den Hörer vorsichtig auf die Gabel zurück.
»Nur eine Frage: Ist diese Leitung nicht angeblich abhörsicher?«
erkundigte er sich, ohne die Stimme zu heben. Genausogut hätte er
über das Wetter sprechen können, als er mit der Hand auf die
blinkende rote Diode des kleinen elektronischen Abhördetektors
wies, der an die Basisstation des Telefons angeschlossen war.
»Das da sieht mir nicht besonders sicher aus.«
Luigi Sampson, seine rechte Hand und als Vizepräsident von
Genaloni Industries - dem mehr oder weniger le galen Teil seines
Tätigkeitsfeldes - für die Sicherheit zu ständig, zuckte die Achseln.
»FBI. Die Burschen besitzen Geräte, die im Handel nicht
erhältlich sind.«
Genaloni biß die Zähne zusammen und begann, m
i stillen
langsam bis zehn zu zählen.
Eins ...zwei ... drei ...
Einen Großteil seiner vierzig Jahre hatte er schwer darum
gekämpft, sein Temperament in den Griff zu bekommen.
Zumindest gelang es ihm inzwischen etwas besser als früher .
... vier ... fünf ... sechs ...
Vor zwanzig Jahren hatte auch Little Frankie Dobbs mit den
Achseln gezuckt, als Ray sich über einen Vorfall ärgerte. Dafür
hatte er ihm mit einem Louisville Slugger den Schädel
eingeschlagen und den Trottel getötet. Nicht nur, daß die
Blutspritzer seinen Neunhundert-Dollar-Anzug ruiniert hatten, er
hatte auch noch seinen Vater um Verzeihung bitten müssen, weil
Little Frankie eine wichtige Position innegehabt hatte und zudem
noch der Sohn eines alten Freundes gewesen war .
... sieben ... acht ... neun ... zehn.
»Also gut.« Ray wurde etwas ruhiger, obwohl die Wut in
seinem Bauch noch immer heiß brannte, Solange er sich nichts
anmerken ließ, war alles in Ordnung. Die Sache mit Little Frankie
lag lange zurück. Er hatte nicht die Absicht, auszurasten und sich
zu Dummheiten hinreißen zu lassen. Schließlich hatte er ein
Studium in Harvard abgeschlossen und stand an der Spitze eines
großen Unternehmens, ganz zu schweigen davon, daß er
Oberhaupt der Familie war und deren Geschäfte wahrnahm. Er
würde ganz ruhig bleiben und versuchen herauszufinden, wo das
Problem lag.
»Also, Lou, wer steckt hinter dieser Sache?« fragte er
Sampson, der auf der Couch auf der anderen Seite des
Schreibtisches saß, und deutete mit der Hand auf das Tele fon.
»Die Net Force des FBI«, gab dieser zurück.
Genaloni rückte den Windsorknoten seiner zweihundert Dollar
teuren Seidenkrawatte zurecht. Ruhig und gelassen, so gehörte es
sich. Ganz ruhig. »Die Net Force? Die befassen sich mit
Computern, damit haben wir nicht viel zu tun.«
Sampson schüttelte den Kopf. »Jemand hat letzte Woche in
Washington ihren Boß umgelegt, deshalb haben sie sich an uns
gehängt.«
»Sollte ihn jemand von uns erledigt und vergessen haben, mich
davon zu unterrichten?«
»Wir haben nichts damit zu tun, Boß.«
»Würdest du mir dann bitte erklären, warum sie uns
verdächtigen?«
»Weil jemand den Verdacht auf uns lenken will. Wer auch
immer den Kerl vom FBI eliminiert hat, er hat sich dabei unserer
Vorgehensweise bedient«, erklärte im Luigi Sampson.
»Warum sollte jemand wollen, daß das FBI denkt, wir hätten
einen von ihnen umgebracht? Schon gut, ich kenne die Antwort.
Bleibt die Frage, wer ein Interesse daran hat, uns diese Sache
anzuhängen.«
Genaloni lehnte sich in seinem Massagestuhl zurück.
Viertausend Dollar hatte ihn das Stück gekostet, unter dessen
bewußt abgetragen aussehendem braunen Leder sich zahlreiche
Motoren verbargen, die von modernster Elektronik gesteuert
wurden. Der Sessel summte, als Sensoren seinen Körper vermaßen
und wogen. Federn und Polster stellten sich so ein, daß die
Lendenwirbelsäule optimal gestützt wurde. Als Vierzehnjähriger
56
hatte er sich bei einer Mutprobe den Rücken verletzt, als er aus
zwanzig Metern Höhe von einem Kai in den East River
gesprungen war. Das war in zweifacher Hinsicht dumm von ihm
gewesen: einmal wegen der Höhe, und dann wegen des verschmutzten Wassers. Er hatte Glück gehabt, daß er sich keine
Hepatitis geholt hatte, während er in dem verseuchten Wasser,
wild um sich schlagend, gegen das Ertrinken kämpfte. Seither
bereitete ihm sein Rücken immer wieder Probleme.
»Ich weiß es nicht, Ray. Wir haben unsere Leute darauf
angesetzt, aber bis jetzt gibt es keine Hinweise.«
»Verstehe. Bleibt an der Sache dran. Findet heraus, wer uns da
Kummer bereiten will. Sobald du etwas weißt, gibst du mir
Bescheid. Nachdem ich meinen eigenen Telefonen nicht trauen
kann, mußt du Selkie eine Nachricht übermitteln. Sag ihm, er soll
sich bereithalten.«
»Wir können die Angelegenheit intern regeln, Ray. Ich habe
Leute dafür.«
» Tu mir den Gefallen, Lou. Ich bin der Boß, weißt du noch?«
Sampson nickte. »In Ordnung.«
Nachdem er gegangen war, drückte Ray eine Taste an seinem
Sessel. Motoren liefen an, um den schmerzenden Rücken zu
massieren. Dieses Problem kam ihm äußerst ungelegen. Seine
legalen Geschäfte brachten inzwischen mehr ein als die illegalen.
Einige Übernahmen und Unternehmenszusammenschlüsse standen
an, und er wollte nicht das FBI im Nacken haben, während er
daran arbeitete. Derjenige, der hinter dieser Sache stand, hatte
einen Fehler gemacht, einen schweren Fehler. Noch eine Generation, und seine Familie war nicht weniger respektabel als jede
andere, die ihr Vermögen Vorfahren verdankte, welche ihre
Karriere vor langer Zeit als Gangster begonnen hatten. Seine Enkel
würden mit den Kennedys, den Rockefellers und den Mitsubishis
verkehren, ohne daß ein Schatten von Skandal und Illegalität auf
sie fiele. Der Zweck heiligte die Mittel. Die Ehrbarkeit war es
wert, ein paar Leute zu töten, die einem den Weg dorthin
versperren wollten.
57
Dienstag, 14. September, 8 Uhr 15
San Francisco
Michail Rushjo stand an einer Straßenecke in Chinatown und
betrachtete ein Schaufenster mit lebenden weißen Enten. Die Tiere
schienen ihm nicht weniger interessant zu sein als die anderen
Sehenswürdigkeiten der Stadt. Er war mit den berühmten Trolleys
gefahren, die seiner Ansicht nach maßlos überschätzt wurden,
hatte den Coit Tower in der Ferne gesehen und an der Fisherman's
Wharf fritierte Krabben gegessen. In einer berühmten Bar hatten
Frauen mit silikongefüllten Brüsten nackt getanzt, und zahlreiche
homosexuelle Pärchen gingen händchenhaltend durch die Straßen
und taten Dinge, wofür sie bei ihm zu Hause im Gefängnis
gelandet wären.
Und jetzt beobachtete er die Enten, die ihr Leben als
Abendessen beschließen sollten und im Schaufenster eines
chinesischen Lebensmittelgeschäftes hin und her watschelten. Ein
aufregendes Leben.
Er lächelte vor sich hin. Er war kein dummer Bauer, der zum
erstenmal in die Großstadt kam, sondern ein Mann von Welt. In
Moskau, Paris, Ro m, Tel Aviv, New York und Washington D.C.
hatte er einige Zeit gelebt, doch keiner dieser Orte war ihm zur
Heimat geworden. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als auf
seinem kleinen Bauernhof außerhalb Grosnys zu sein. Rushjo
träumte davon, im Morgengrauen aufzustehen und an einem
eisigen Wintertag, wenn der Boden noch dick von Rauhreif
bedeckt war, hinauszugehen und Holz für den Ofen zu hacken. Das
war die richtige Arbeit für einen Mann. Er würde die Ziegen, Hühner und Gänse füttern, die Kuh melken und sich dann die Hände
über dem Feuer wärmen, während Anna in duftendem Gänsefett
die Eier für sein Frühstück briet ...
Er wandte sich von den friedlichen Tieren ab, die nicht ahnten,
welches Schicksal sie erwartete. Fünf Jahre war es her, daß Anna
ihn verlassen hatte, ein Opfer des Krebses, der ihr Leben so schnell
vernichtet hatte. Zumindest war sie nicht unter Schmerzen
gestorben, denn er verfügte über gute Verbindungen und hatte
Mittel dagegen besorgt. Doch geheilt werden konnte sie nicht,
58
obwohl die besten Ärzte des Landes darum bemüht waren; dafür
hatte Plechanow gesorgt. Für den Rest seines Lebens stand Rushjo
in dessen Schuld für das, was er in Annas letzten Lebenstagen für
ihn getan hatte.
Sein Traum war unerfüllbar. Den Bauernhof gab es noch, sein
Bruder bearbeitete das Land, aber Anna war von ihm gegangen,
und so bedeutete er ihm nichts mehr. Nicht das geringste.
Er setzte sich in Bewegung, ohne allzusehr auf mögliche
Gefahren zu achten. Chinesen und Touristen passierten ihn,.
während er die Auslagen der Geschäfte studierte. Hier gab es
importiertes Messing, dort hatte sich ein Laden auf Stereoanlagen
und Kleincomputer spezialisiert, daneben verkaufte man Schuhe.
Mit Annas Tod hatte er alles verloren. Nach einer düsteren Zeit
der Trostlosigkeit, an die er sich kaum noch erinnerte, hatte
Plechanow ihm seinen alten Wunsch ins Ge dächtnis gerufen, dem
Land zu Wohlstand zu verhelfen. Plechanow hatte ihm einen Weg
aufgezeigt, wie er dies erreichte, nämlich indem er das tat, was er
am besten beherrschte: mokrij dela, schmutzige Arbeit. Bevor
Anna krank geworden war, hatte er nichts mehr davon wissen
wollen, sich aus dem Geschäft zurückgezogen. Aber danach? Was
bedeutete es schon? Ein Ort war für ihn so gut wie der andere.
Plechanow zufriedenzustellen war Grund genug für ihn, einen
Auftrag auszuführen. Nein, zu dem Leben, das er früher geführt
hatte, konnte er nicht mehr zurück. Nie wieder.
Das Kommunikationsgerät, das Plechanow ihm besorgt hatte,
summte an seinem Gürtel. Rushjo blickte sich wachsam um, seine
gesamte Aufmerksamkeit auf einen möglichen Beobachter
konzentrierend. Falls ihm jemand gefolgt war, konnte er ihn
zumindest nicht entdecken. Einerseits hatte in dieser Stadt
niemand Grund, ihn zu beschatten, ja auch nur zu ahnen, daß er
existierte. Andererseits überlebte man in seinem Beruf nicht lange,
wenn man unvorsichtig war. Plechanow wollte, daß er überlebte,
also tat er alles, was dazu notwendig war.
Er löste das Kommunikationsgerät vom Gürtel. Nur drei
Menschen kannten seine Nummer: Plechanow, Winters, der
Amerikaner, und Gregori die Schlange.
»Ja?«
»Ich habe einen neuen Auftrag für Sie«, sagte Plechanow.
59
Obwohl keine Sichtverbindung bestand, nickte Rushjo dem
Sprecher zu. »Ich verstehe.« .
»Ich setze mich später mit Ihnen in Verbindung, um Sie über
die Details zu informieren.«
»Ich bin bereit.«
Plechanow unterbrach die Verbindung, und Rushjo klipste das
Kommunikationsgerät wieder an seinen Gürtel und schob es
zurecht. Er war an das Gewicht einer Waffe an der Hüfte gewöhnt.
Selbst eine leichte Waffe war schwerer als dieses kleine Gerät.
Aber im Augenblick trug er keine. Schließlich befand er sich nicht
in Tschetschenien oder Rußland, wo er Beamter war. Und in
diesem Land trugen normalerweise nur Polizisten oder
Regierungsbeamte Waffen. Das galt besonders hier, in dieser
Stadt. Waffen waren hier verboten. In irgendeinem Park stand
sogar eine Statue aus eingeschmolzenen Gewehren. Nun, auch
ohne eine Pistole am Gürtel fühlte er sich nicht schutzlos. Er
kannte ein Dutzend Arten, jemanden mit den bloßen Händen oder
einem Stock und ähnlichen Mitteln, die gerade zur Verfügung
standen, zu töten. Darin war er Experte. Wenn er sie brauchte,
würde er sich eine Waffe besorgen, aber solange er nicht arbeitete,
war dies nicht erforderlich.
In einem Land voller Schafe ist auch ein zahnloser Wolf
König.
Ein Auftrag. Gut so. Er war bereit, er war immer bereit.
Die Sicherheitsleitung piepste. Mora Sullivan lächelte, als sie
mit der Hand über das Telefon fuhr, um sie zu aktivie ren. Die
abgeschirmte Einheit funktionierte drahtlos, Sendungen und
eingehende Nachrichten wurden automatisch codiert. Das Signal
wurde ein Dutzend mal hin und hergeschickt. jeder neue Anruf
durchlief nach einem Zufallsmu ster verschiedene Wege im Netz
und über die Kommunikationssatelliten, so daß es unmöglich war,
den Standort -der Einheit zu identifizieren. Die Ubertragung der
Worte wurde verschlüsselt, ohne einen codierten Empfänger
konnte der binäre Code nicht übersetzt werden.
Geschwindigkeit, Höhe, Timbre und Rhythmus der Stimme
wurden vom Computer elektronisch verändert, so daß sie am
anderen Ende der Verbindung wie ein Fernsehsprecher aus dem
60
Mittelwesten mit einem tiefen Baß klang. Der Hörer stellte sich
einen kräftigen Mann mittleren Alters vor, der mit Zigaretten und
Alkohol nicht immer vorsichtig umgegangen war. Das Codiergerät
war so gut, daß der Ein druck ganz natürlich wirkte. Selbst das
beste Lesegerät hätte Schwierigkeiten gehabt, sie anhand dieses
Stimmusters zu identifizieren. Aber so weit würde es niemals
kommen.
»ja?«
»Wissen Sie, wer hier spricht?«
Luigi Sampson, die rechte Hand von Genaloni. »Ich weiß, wer
Sie sind.«
»Wäre es Ihnen möglich, in nächster Zukunft eine
Dienstleistung für uns zu erbringen?«
»Ich kann mir die Zeit dafür nehmen.«
»Gut. Wenn Sie sich, sagen wir, die nächste Woche über
bereithalten würden, erhalten Sie den üblichen Vorschuß unter
Anrechnung auf Ihr Honorar.«
Selkie lächelte. Die Gebühr dafür, daß sie sich in Bereit schaft
hielt, betrug fünfundzwanzigtausend Dollar pro Tag, unabhängig
davon, ob sie einen Auftrag erledigte oder nicht.
Einhundertfünfundsiebzigtausend Dollar nur dafür, daß sie zur
Verfügung stand, falls jemand ein Ziel auswählte - das war kein
schlechtes Geschäft. Das Honorar für den Job selbst hing von
dessen Umfang und Gefährlichkeit ab und fing bei einer
Viertelmillion an. Wenn der Kunde ein Ziel bestimmte, zog sie
den Vorschuß von der Gesamtsumme ab. Gierig war sie nicht.
Zudem war Genaloni einer ihrer besten Klienten. Allein im
vergangenen Jahr hatte er ihr zwei Millionen eingebracht. Noch
sechs bis acht Monate, und sie wäre in der Lage, sich aus dem
Spiel zurückzuzie hen. Die zehn Millionen, die sie sich als Ziel
gesetzt hatte, waren schon fast erreicht. Damit konnte sie eine
Million Dollar Zinsen pro Jahr ausgeben, ohne das Kapital anzutasten. Mit noch nicht einmal dreißig Jahren würde sie so reich sein,
daß sie gehen konnte, wohin sie wollte, tun konnte, was immer ihr
beliebte. Niemand würde ahnen, wie ihr frü heres Leben
ausgesehen hatte, niemand würde in der zierlichen rothaarigen Irin,
der Tochter eines IRA-Mannes, der ohne einen Pfennig in der
Tasche gestorben war, Selkie vermuten, den höchstbezahlten
61
unabhängigen Killer dieser Welt. Unabhängig von ihrer
gegenwärtigen Identität hatte sie bereits für die nötigen
Dokumente und EDV-Nachweise gesorgt, die sie für ihr neues
Leben brauchte. Sollten ihre Herkunft und ihr Reichtum jemals
hinterfragt werden, würde sie mit Leichtigkeit jeder Uberprüfung
standhalten.
Daß ihr Vater sie bereits als Kind den Umgang mit Messern,
Feuerwaffen und Bomben gelehrt hatte, hatte sich als sehr nützlich
erwiesen. Vermutlich wäre er von einigen ihrer Auftraggeber nicht
begeistert gewesen, aber sein Kampf war nicht der ihre. Nachdem
die Briten beschlossen hatten, Irland sich selbst zu überlassen,
hatte das alte Chaos seine Bedeutung verloren, auch wenn sich die
Beteiligten weigerten, das .einzusehen. Eine so tief verwurzelte
Tradition ließ sich nicht einfach auslöschen, nur weil die Ursache
beseitigt war.
Gott sei Dank war ihre Mutter eine nüchterne Schottin
gewesen, die ihre sieben Kinder gelehrt hatte, den Pfennig zu
ehren.
Sullivan lächelte erneut. Von ihrer Mutter hatte sie auch ihren
nom de morte. Spät in der Nacht, wenn der Fernseher nur noch
Schneetreiben zeigte und aus dem Radio nichts als ein Knistern
drang, hatte sie ihren Kindern die alten Geschichten von Magie,
Flüchen und Zauberern erzählt. Die Selkies waren das
Robbenvolk, das die Were genannte Fähigkeit besaß, die Gestalt
von Menschen anzunehmen. Das Bild hatte ihr immer gefallen, der
Gedanke, anders zu erscheinen, als man in Wirklichkeit war.
Niemand kannte ihre wahre Identität. Nur ein einziges Mal
hatte ein Klient sie von Angesicht zu Angesicht gesehen, und
dieser Mensch weilte nicht mehr unter den Le benden. Sie war ein
Mörder ohne Gesicht, den die meisten für einen Mann hielten, und
der beste Killer, den es gab.
Darauf wäre ihr Vater stolz gewesen, dessen war sie sich
sicher.
Wie es schien, sollte sie bald wieder auf die Jagd gehen.
62
7
Donnerstag, 16. September, 6 Uhr 15
Washington, D.C.
Einer der Gründe, warum Alex Michaels mit seinem Häuschen
so zufrieden war, lag in der Größe der dazugehörigen Garage. Sie
bot genug Raum für zwei Fahrzeuge, so daß er ausreichend Platz
für sein Hobby fand. Seit einem Monat bestand es aus einem
dreizehn Jahre alten Plymouth Prowler. Dessen Vorgänger war ein
77er MG Midget gewesen, den er anderthalb Jahre lang restauriert
hatte. Er hatte die Arbeit genossen und einen netten Gewinn
herausgeholt, aber was das Design betraf, so konnte der kleine
englischeWagen dem Prowler nicht das Wasser reichen. Das vom
le gendären Tom Gale in den frühen neunziger Jahren des
vergangenen 20. Jahrhunderts für Chrysler entworfene Modell war
vier Jahre später in Produktion gegangen.
Der zweisitzige Roadster, im Grunde ein aufgerüsteter
Straßenkreuzer, zeichnete sich vor allem durch seine glänzende,
intensive Farbe aus, die als Prowler-Lila bekannt war. Da das
Modell für einen Klassiker zu neu war, besaß es alle Vorteile einer
Limousine wie Airbags, Servoscheibenbremsen, Servolenkung, ja
sogar eine elektrisch versenkbare Heckscheibe. Im Grunde aber
handelte es sich um ein Spielzeug für große Kinder mit manueller
Gangschaltung und Vorderreifen, die kleiner als die Hinterreifen
waren. Die Vorderräder traten deutlich unter den kaum
angedeuteten Kotflügeln hervor, und der Tachometer war direkt
auf die Lenksäule montiert.
Für die Blütezeit der Straßenkreuzer in den späten vierziger
und den frühen fünfziger Jahren war er zu spät geboren, und die
Rebellenfilme, in denen sie eine wichtige Rolle spielten, galten
schon als Oldies, als er 1970 zur Welt kam. Dafür hatte ihm sein
Großvater Geschichten erzählt, hatte von den Eisenhower-Jahren
gesprochen, als er einen grau grundierten und getunten 32er-Ford
besessen hatte. Im Sommer nahm er damit jeden Sonntag morgen
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an den Rennen über eine Viertelmeile teil, die auf den rissigen
Betonbahnen eines aufgegebenen Flughafens stattfanden. Vor
Michaels geistigem Auge beschwor er überladene Chevys,
Mercurys und Dodges herauf, die manchmal zwanzig von Hand
aufgetragene Schichten bonbonroter Metallicfarbe trugen und
deren Radkappen man >Monde< oder >Spinner< nannte. Er zeigte
dem Jungen Stapel alter Magazine mit Straßenkreuzern, deren
Papier mit der Zeit brüchig geworden und vergilbt war. Doch auf
den verblichenen Bildern waren immer noch die Autos zu
erkennen, von denen er sprach. Glücklich lächelnd, erzählte er
seinem Enkel von improvisierten Rennen, die Freitag nachts
mitten in der Stadt an jeder Ampel stattfanden, von
Drive-in-Kneipen und Rock-and-Roll-Musik, die über Mittelwelle
aus den Radios dröhnte. Damals kostete der Liter Benzin fünf
Cent, und niemand, der etwas auf sich hielt, ging zu Fuß, wenn er
fahren konnte.
Manche Kinder träumten davon, Cowboys im Wilden Westen
zu sein und in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts
zu leben, aber Michaels hatte immer James Dean und die fünfziger
Jahre vorgezogen ...
Er lächelte vor sich hin, während er den cremigen grauen
Entfetter auf seinen Handflächen verrieb und dann über die
gesamten Hände verteilte. Das Zeug besaß einen durchdringenden,
parfümierten Geruch und erinnerte ihn an Großvater Michaels, der
ihn gelehrt hatte, Autos zu reparieren, seit er vierzehn gewesen
war.
In der Werkstatt des alten Mannes hätte man vom Fuß boden
essen können, so sauber war sie, und das Werkzeug lag stets
griffbereit in einer großen roten Rollkommode. Der älte Mann
baute einen Motor aus, zerlegte ein Getriebe oder montierte das
Heck eines Fahrzeugs ab, ohne daß sich eine Spur von Öl oder
Schmiere auf dem Betonboden der Werkstatt fand, wenn er damit
fertig war. Er war ein Künstler gewesen.
Den Prowler hatte er nicht mehr erlebt. Mit Siebzig war er
einem Herzanfall erlegen. Doch Michaels war sicher, daß sein
Großvater, abgesehen von einigen Einschränkungen, mit seiner
neuesten Erwerbung zufrieden gewesen wäre. Der Wagen besaß zu
viele Kinkerlitzchen für den Geschmack des alten Mannes - von
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Airbags und Servoeinrichtungen hatte er nie viel gehalten -, aber
im Grunde war er ein analoges Gerät in einer digitalen Welt.
Außerdem sah der Wagen wie die alten Straßenkreuzer aus und
fuhr sich gut, auch wenn Michaels bis jetzt nicht viel Gelegenheit
gehabt hatte, das auszuprobieren.
Auf der Werkbank lagen einige Motorteile. Die Ein spritzanlage
war dringend reparaturbedürftig, vielleicht mußte er sie sogar
ersetzen. Der letzte Besitzer hatte offenbar versucht, sie selbst
wieder instand zu setzen. Leider konnte der Mann das eine Ende
eines Schraubenziehers nicht vom anderen unterscheiden.
Mit einem roten Lumpen rieb Alex sich die Schmiere von der
Hand. Als er damit fertig war, warf er den Lappen in einen
stählernen Abfalleimer. Wenn es um Selbstentzündung ging, hatte
sein Großvater keinen Spaß verstanden, auch wenn Michaels der
Gedanke weit hergeholt schien, daß ein Tuch, mit dem er sich die
Hände gesäubert hatte, in Flammen aufgehen sollte. Die restliche
Schmiere dürfte er unter der Dusche loswerden ...
Es klingelte. Merkwürdig. Das mußte bereits der Fahrer sein.
Er war früh dran, vor einer halben Stunde hatte er ihn nicht
erwartet. Nachdem die Vorschriften für den Fall eines
Mordanschlages einige Tage lang galten, mußte es sich um
jemanden handeln, der befugt war, sich seinem Haus zu nähern,
andernfalls hätten ihn die Wachposten aufgehalten.
Er trat zur Sprechanlage. »Larry?«
»Nicht, daß ich wüßte«, antwortete eine weibliche Stimme.
»Toni?«
»Ja.«
»Kommen Sie zur Garage, ich lasse Sie herein.« Er drückte den
Knopf, der das elektrische Gartentor öffnete. Als Toni um die
Ecke bog, betätigte er den Türöffner der Garage.
»Hm. Das ist also das neue Auto?«
Er grinste. »Wie es leibt und lebt.«
Sie kam in die Garage und legte eine Hand auf den rechten
hinteren Kotflügel. »Sieht großartig aus.«
»Ich würde Sie gerne zu einer Spritztour einladen, aber der
Kleine ist gerade nicht online.« Er wies auf die Teile auf seiner
Werkbank.
»Einspritzdüsen verstopft?« erkundigte Toni sich.
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Offenbar war ihm die Uberraschung am Gesicht abzule sen.
Bevor er noch etwas sagen konnte, zuckte sie die Achseln. »Ich
bin in einem Haus voller Jungen aufgewachsen. In unserem Viertel
waren Autos ein wichtiges Statussymbol. Meine Brüder bastelten
ständig an irgendeinem Schrottwagen herum, um ihn zum Laufen
zu bringen. Da bei habe ich ein bißchen was gelernt. Ist das ein
V8?«
»Ein V6. Ein 3,5-Liter 24-Ventiler mit einfacher obenlie gender
Nockenwelle. Bringt trotzdem bei fünftausendneunhundert
Umdrehungen gute zweihundert PS auf die Straße. Das hier ist
kein Kraftpaket, das einer Corvette die Türen abreißen würde wie
der Dodge Viper, flitzt aber trotzdem ganz nett.« Sie war hart im
Nehmen, schön und verstand etwas von Autos. Das war eine
Mischung, die vie le Männer bei Frauen schätzten, ihn selbst nicht
ausgenommen.
Gefährliches Terrain, Alex. Halte dich fern.
»Lassen Sie es mich wissen, wenn er wieder fährt.«
»Das werde ich tun. Was führt Sie so früh zu mir?«
»Es zeichnen sich einige Entwicklungen ab ...«,begann sie.
Das.Telefon klingelte. »Einen Augenblick«, meinte Alex mit
einem Nicken zu Toni, während er zu dem Apparat an der Wand
ging. Den Anrufer würde er so schnell wie möglich abwimmeln.
»Hallo?«
»Rat mal, wer dran ist.«
»Susie! Wie geht's dir?«
»Prima, Papa. Mama hat gesagt, ich soll dich anrufen und mich
bei dir für die Skates bedanken.«
Einen Augenblick lang hatte Alex keine Ahnung, wovon seine
Tochter sprach, dann überkam ihn Panik. Gestern war ihr
Geburtstag gewesen. Mein Gott, wie hatte er das vergessen
können? Und von welchen Skates sprach sie? Hatte Megan sie für
ihn gekauft? Das wäre ganz neu.
»Wie war die Feier, Schätzchen? Tut mir leid, daß ich nicht da
sein konnte.«
»Super. Alle meine Freunde waren da, außer Lori, aber die
hatte Grippe, deshalb war das okay. Sogar dieser blöde Volltrottel
Tommy war hier.«
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Michaels grinste. Susie war sieben, nein acht, und in der Wahl
ihrer Worte nie zimperlich gewesen. Tommy mußte ihr neuester
Schwarm sein, denn je abfälliger sie von einem Jungen redete,
desto mehr mochte sie ihn. Er fühlte einen Stich im Magen, und
Traurigkeit überkam ihn. Boise war weit weg von Washington
D.C. Er verpaßte die wichtigste Zeit in Susies Leben.
»Wie geht es deiner Mutter?«
»Gut. Sie bereitet gerade das Frühstück vor. Wir konnten
länger schlafen, weil heute Lehrerkonferenz ist. Willst du mit ihr
sprechen?«
Plötzlich fiel Michaels ein, daß Toni noch in der Garage stand.
Er warf einen Blick in ihre Richtung, aber sie war vor dem Auto in
die Hocke gegangen und untersuchte die vorderen Federbeine.
Dabei spannte sich die Hose über ihrem festen Po. Er senkte den
Blick. Über den Hintern seiner Assistentin nachzudenken, während
er mit seiner Tochter sprach, ging wirklich zu weit.
»Nein, ich rede später mit ihr, Schätzchen. Richte ihr viele
Grüße von mir aus.«
»Tue ich. Wann kommst du mich wieder besuchen, Daddy?«
»Bald, mein Kleines, sobald ich mich hier freimachen kann.«
»Es gibt wohl eine Krise, was?«
Einen Augenblick lang fragte er sich, wie sie darauf kam, doch
das Rätsel löste sich schnell. »Mami hat gesagt, du hast eine Krise,
deswegen kannst du nicht zu meiner Party kommen. Sie meint, es
gibt immer eine Krise.«
»Das stimmt wohl, Kleine. Über Langeweile kann ich mich
nicht beklagen.«
»Ich muß weg. Die Mikrowelle hat gepiepst, das heißt, die
Waffeln sind fertig. Ich liebe dich, Daddy.«
»Ich dich auch, meine Susie. Grüß bitte deine Mama von mir.«
»Bis dann.«
Er hängte auf. Wie er sie vermißte! Sogar Megan vermißte er,
obwohl die Scheidung seit über drei Jahren amt lich war. Die
Trennung war nicht seine Idee gewesen. Und selbst nach der
Scheidung hatte er noch gehofft, daß sie irgendwie wieder
zusammenkämen, ihre Probleme lösen würden ...
67
Er wandte seine Aufmerksamkeit erneut Toni zu, die sich
erhoben hatte und gerade über den Motorraum beugte. »Meine
Tochter war am Apparat«, erklärte er und trat neben sie.
»Haben ihr die Skates gefallen?«
Verwirrt blinzelte er sie an, während sie sich aufrichtete und
ihn ansah. »Sie haben die geschickt?«
»Ich ... ja. Sie steckten bis über beide Ohren in Arbeit, daher ja, ich war's. Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht im geringsten. Sie haben mir
das Leben gerettet. Ich weiß gar nicht, wie ich das vergessen
konnte. Ihre Mutter hätte mir die Hölle heiß gemacht. Danke,
Toni.«
»Ich bin Ihre Assistentin. Es ist mein Job, dafür zu sorgen, daß
Sie einen guten Eindruck hinterlassen.«
Nuü, er hatte sie wegen ihrer Qualifikation eingestellt, und sie
leistete hervorragende Arbeit. Aber in letzter Zeit war sie immer
wichtiger für ihn geworden.
Schlagartig wurde ihm bewußt, daß kaum ein halber Meter
zwischen ihnen lag. Sie war eine attraktive Frau und roch frisch
und anziehend. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen.
Aber er war ihr Vorgesetzter, und eine solche Umarmung konnte
leicht mißverstanden werden. Vor allem, weil seine Gefühle im
Augenblick nicht gerade platonisch zu nennen waren.
Tatsächlich? fragte eine innere Stimme. Vielleicht hast du ja
gar keine Angst davor, daß deine Umarmung mißverstanden wird?
Vielleicht gefällt es ihr ja?
Plötzlich verspürte er das dringende Bedürfnis, sich erneut die
Hände abzuwischen. Er wandte sich ab, ging ein paar Schritte und
griff nach einem sauberen Putzlumpen. »Also, was gibt es?«
Toni durchfuhr die Enttäuschung wie ein Stich. Sie hatte seine
Erregung gespürt. Einen Augenblick lang hatte. sie erwartet, er
würde die Hand nach ihr ausstrecken. Sie hatte den Atem
angehalten. Ja ... Ja, tu's!
Doch dann ... Statt dessen hatte Alex sich abgewandt, um die
sauberen Hände mit einem Lumpen zu reinigen. Sein Verhalten
war wieder streng geschäftsmäßig geworden.
68
Verdammt noch mal. Wilde Fantasien schossen ihr durch den
Kopf, sie sah, wie sie beide sich in seinem verrückten lila Auto
leidenschaftlich liebten ...
Du träumst zuviel, Toni.
Auf jeden Fall war es eine gute Idee gewesen, seiner Tochter
ein Geburtstagsgeschenk zu schicken. Seine Dankbarkeit war
ehrlich gewesen, das hatte sie deutlich gespürt.
»Welche möchten Sie zuerst hören - die schlechte Nachricht
oder die katastrophale?«
»Mein Gott.«
Donnerstag, 16. September, 7 Uhr 35
Quantico
»Colonel? Ich glaube, es ist Zeit, die Pferde zu satteln«, sagte
Michaels.
»Sir?« John Howards Muskeln spannten sich schlagartig,
während er sich in seinem Bürosessel aufrichtete und vorbeugte.
»Der CIA-Horchposten in der amerikanischen Botschaft in der
Ukraine hat eine codierte Nachricht aufgefangen. Offenbar ist ein
physischer Angriff auf die dortige Station geplant, der vermutlich
in den nächsten Tagen stattfinden soll. Wir möchten Sie um zwei
Dinge bitten. Einmal benötigen wir einen Trupp Ihrer besten
Leute, um die Marines in der Botschaft zu unterstützen und einen
eventuellen Angriff abzuwehren. Zweitens, und das ist der
wichtigere Punkt, käme es uns sehr gelegen, wenn Sie
herausfänden, wer hinter der Sache steckt, während Sie darauf
warten, daß es knallt.«
Howard grinste in den leeren Bildschirm. Aber sicher doch!
»Wird man es in der Ukraine nicht, äh, mißbilligen, wenn wir dort
alle herumspazieren und Terroristen ja gen?«
»Offiziell ja. Offiziell werden Sie und Ihre Truppe die
Botschaft, die zum Territorium der Vereinigten Staaten gehört,
69
nicht verlassen. Inoffiziell wird Ihnen die dortige Regierung nicht
ins Gehege kommen. Für diese Operation gilt Dad Tee.«
Howard grinste erneut. DADT war ein Akronym für Don't Ask,
Don't Tell, eine Strategie des bewußten Wegsehens, die schon
lange existiert hatte, bevor der Begriff unter der Clinton-Regierung
populär geworden war. Das bedeutete, daß das Gastland vorgab,
von nichts zu wissen, solange er und seine Männer sich nicht bei
einem eklatanten Fehler erwischen ließen. Wenn er nicht vor
laufender CNN-Kamera das Capitol niederbrannte oder den Präsidenten ermordete, war alles in Butter.
»Meine Teams sind in dreißig Minuten in der Luft,
Commander Michaels.«
»Überstürzen Sie nichts, Colonel, lassen Sie sich ruhig ein bis
zwei Stunden Zeit. Während wir miteinander sprechen, wird die
notwendige Information auf Ihren S & TComputer
hinuntergeladen. Ihr Kontaktmann an der Botschaft ist Morgan
Hunter, der Chief des CIA-Postens, aber die Leitung der Operation
liegt bei Ihnen.«
»Sir.«
Als er aufgehängt hatte, konnte Howard das Gr insen nicht
mehr unterdrücken. Endlich ging es ins Feld, war Schluß mit den
virtuellen Aktionen. Das hier war die Realität.
Sein Atem beschleunigte sich, und er verspürte einen
plötzlichen Drang, zur Toilette zu gehen. Er war wieder in seinem
Element.
»Es geht los«, verkündete er in den leeren Raum hinein.
»Es geht los!«
70
8
Donnerstag, 16. September, 8 Uhr 15
Washington, D.C.
Jay Gridley bereitete sich in seinem Büro auf einen Ausflug ins
Netz vor.
Der Cyberspace entsprach nicht der Vorstellung, die man in
alten Filmen fand, soviel war Gridley klar, aber zur Darstellung
der virtuellen Realität bediente man sich sehr wohl der Welt der
Bilder. Den Wünschen des Anwenders waren so gut wie keine
Grenzen gesetzt. Auf dem Markt fanden sich Hunderte
kommerzieller Standardmasken, von Metropolen mit ihren
Verkehrswegen über alte Westernstädte bis zu Raumflügen. Das
Netz selbst bot Zehntausende von Shareware-Szenarios. Häufig
war die beste Software umsonst zu haben. Man lud sie herunter
oder arbeitete mit Timeshare und programmierte sich im Netz, was
das Herz begehrte. Wenn man nicht fand, was man suchte, erstellte
man sich sein eigenes Transportmittel. Dazu mußte man kein
Programmierer sein, jeder Trottel konnte das bewerkstelligen. Sich
im Netz seine Software zu stricken war heutzutage einfacher, als
nach Zahlen zu malen.
Gridley hatte einige bevorzugte Reisen, die er immer wieder
unternahm, wenn er seine VR-Ausrüstung anlegte und online ging.
Mit einer Bewegung des Fingers aktivierte er den Befehlsmodus.
Das Netz erwachte zum Leben. »Dodge Viper, Bayern«, befahl er.
Eine Bergstraße in einer etwas klischeehaften deutschen
Landschaft erschien. In einem RT/10 Viper, einem schwarzen,
offenen Roadster, der mit breiten weißen Rennstreifen verziert
war, fuhr er die steilen Hänge hinauf und hinunter. Bald würde er
den Grenzübergang erreichen. Er schaltete vom sechsten in den
fünften Gang und gab Gas. Lä chelnd genoß er den Fahrtwind, der
an seinem langen schwarzen Haar zerrte. Schon immer war er ein
Fan der alten James-Bond-Filme gewesen. »Gridley. Jay Gridley«,
71
klang allerdings nicht so eindrucksvoll, wie er sich das gewünscht
hätte ...
Vor ihm tauchte der Grenzübergang auf. Hinter einer
schwarzgelb gestreiften Schranke, die die Straße versperrte, stand
ein Soldat in Uniform, der eine Maschinenpistole schräg vor dem
Körper hielt.
Gridley schaltete herunter und bremste, was der Roadster mit
einem tiefen Grollen quittierte, bevor er zum Stehen kam.
»Die Papiere bitte.«
Leichter Geruch nach Zigarettenrauch mischte sich mit
billigem Rasierwasser und altem Schweiß.
Gridley lächelte, griff in die Tasche seines Smokings -wenn
schon james Bond, dann richtig - und zückte seinen Paß.
Irgendwann mußte er sich eine Beifahrerin programmieren,
damit das Szenario komplett war. Vielleicht eine heißblütige
Rothaarige oder eine rassige dunkle Brünette. Eine Frau, die Angst
vor der Geschwindigkeit hatte, sie aber dennoch erregend fand. Ja,
das war es ...
In der Realität verschaffte ihm ein elektronisches Paßwort
Zugang zu einem Gate Server im Netz, Bits binärer
Hexadezimalcodes flossen pulsierend von einem System ins
andere, doch die Bilder der virtuellen Realität waren
unvergleichlich ansprechender.
Ein flüchtiger Blick, dann reichte ihm der Posten an der Grenze
mit einem knappen Nicken den Paß zurück. Die Schränke hob
sich. Gridley kannte den Weg, es gab nie Pro bleme.
Hinter der nächsten Biegung verwandelte sich die Ge birgsstraße plötzlich in eine Autobahn, auf der der Verkehr mit
mehr als hundertsechzig Kilometern pro Stunde dahinbrauste. Er
betätigte das Gaspedal und beschleunigte, erster Gang ... zweiter ...
dritter ... vierter ... Erst als der Motor im fünften Gang sein
maximales Drehmoment erreicht hatte, schaltete er in den
sechsten, um im Strom der Personen- und Lastwagen
mitzuschwimmen.
James Bonds alter Aston-Martin, der später durch einen BMW
ersetzt worden war, hätte nie mit dem Viper mithalten können,
dessen
Spitzengeschwindigkeit
etwa
zweihundertsechzig
Kilometer pro Stunde betrug. Der 8Liter/10-Zylinder-Motor
72
erreichte dieses Tempo in unglaublich kurzer Zeit, eine Rakete auf
Rädern.
Sein Programm lief ohne Probleme, er ließ sich im Netstream
treiben. Der Anblick der Autobahn gefiel ihm. Er hätte nach
Belieben auch auf eine ruhige Wanderung an einem Bach oder
eine Fahrradtour in Frankreich umschalten können. Doch ein so
abrupter Programmwechsel hätte ihm den Spaß verdorben.
Vor ihm kündigte ein Schild eine Ausfahrt an: >CyberNation<.
Gridley runzelte die Stirn. In letzter Zeit war er geradezu von
Informationen über dieses virtuelle >Land< überschwemmt
worden, das nicht nur Touristen, sondern auch Bürger aufnahm.
Die unbekannten Programmierer boten Computerfreaks, die bereit
waren, in ihr Land >auszuwandern<, eine ganze Reihe von
Privilegien an. Dazu mußte man allerdings seine elektronische
Staatsbürgerschaft aufgeben und die ihres Landes annehmen, was
ihm absurd erschien. Er selbst hatte sich noch nicht näher mit dem
Thema befaßt, doch der Gedanke schien ihm interessant. Irgendwann in seiner reichlich bemessenen Freizeit würde er der Sache
auf den Grund gehen.
Er warf einen Blick auf die Analoguhr im Armaturenbrett Digitalanzeigen kamen für dieses Kraftpaket nicht in Frage.
Ein schnittiger Jaguar passierte den Viper. Gridley lä chelte.
Er trat das Gaspedal durch. Selbst im sechsten Gang spürte er
den Ruck, als der Wagen beschleunigte. Der Jaguar schien
stillzustehen. Als er vorüberflog, fiel ihm das angespannte Gesicht
des Fahrers auf. Er grinste. Der Jaguar besaß keinerlei Reserven
mehr, während der Viper sich noch nicht einmal in der Nähe des
roten Bereichs auf dem Tacho befand. Auf Wiedersehen,
Freundchen!
Das Hochgefühl hatte sich noch nicht gelegt, als er knapp einen
Kilometer vor sich einen Unfall entdeckte. Ein großer
Sattelschlepper war umgekippt. Der Anhänger lag auf der Seite
und versperrte sämtliche Fahrbahnen in seiner Fahrtrichtung der
Autobahn. Es hatte sich bereits ein Stau von einem halben
Kilometer Länge gebildet, der rasch wuchs.
Mist!
Er trat auf das Bremspedal - ganz vorsichtig, denn es handelte
sich zwar um modernste Scheibenbremsen, aber auf ABS hatte er
73
verzichtet. Schließlich war er keine alte Frau. Er schaltete herunter.
Glücklicherweise war das Bremsverhalten des Viper genauso
überzeugend wie seine Beschleunigung. Er kam hinter einem
großen Mercedes zum Stehen, dessen Insassen durch ihre Hüte
auffielen. Im Rückspiegel erkannte er den Jaguar, der hinter ihm
anhielt.
Das virtuelle Unfallbild bedeutete, daß jemand die Systemverbindung blockierte, die er benutzte. Ob das Zufall oder
Absicht war, ließ sich nicht sagen.
Auf der anderen Seite der Autobahn heulte eine Sirene auf,
während das Blaulicht der Polizei - besser gesagt, der
Systembetretner - erschien, die den Vorfall untersuchen wollte.
In seiner Fahrtrichtung war der Verkehr inzwischen vollständig
zum Stillstand gekommen. Gridley sprang über die niedrige Tür
des Viper; glücklicherweise ließ ihm der Smoking ausreichend
Bewegungsfreiheit. Er würde sich kurz zu den Cops gesellen,
vielleicht fand er heraus, was geschehen war. Einem
amerikanisierten Thai im Smo king sollte das nicht allzu schwer
fallen, vor allem, wenn er gerade James Bond war ...
Tyrone Howard schlug der Wind ins Gesicht, das nur durch
eine altmodische Fliegerbrille geschützt war, während er durch das
Netz reiste. Auf jede andere Ausrüstung hatte er verzichtet,
obwohl die schwere Harley Davidson XLCH mit mehr als
hundertsechzig Stundenkilometern dahinbrauste. Die Maschine
war ein Klassiker, der. inzwischen nicht mehr gebaut wurde.
Selbst wenn er sich solch ein Motorrad hätte leisten können, war er
noch lange nicht alt genug, um es auch fahren zu dürfen. Das war
der Vorteil der virtuellen Realität: Man konnte sich Dinge erlauben, die in der realen Welt undenkbar waren.
Er befand sich in L.A. und war soeben einem Auffahrunfall
ausgewichen, der die Autobahn von Hollywood Richtung Norden
zum Großteil blockierte. Gerade als er sich dem Tal näherte,
erinnerte ihn eine Stimme an die Zeit, die er eingestellt hatte. Sein
Vater befand sich auf dem Heimweg, und er hatte nur ein paar
Minuten, bevor er sich erneut auf den Weg machen mußte. Er
durfte Tyrone nichts über das Ziel seiner Reise oder Ähnliches
sagen, weil das geheim war, aber zumindest konnten sie sich
74
voneinander verabschieden. Es war seinem Daddy nicht gelungen,
seine Aufregung zu verbergen. Schade, daß Mom in Birmingham
war und ihre Schwester besuchte. Es würde ihr leid tun, daß sie
Dad verpaßt hatte.
Er bog mit dem Motorrad in eine Ausfahrt, schaltete herunter
und rollte auf einen Parkplatz. Als er die Fliegerbrille hochschob,
die aus dem Ersten Weltkrieg stammte, nahm er damit das
VR-Band von den Augen, so daß er sich plötzlich in der Realität,
in seinem Zimmer, wiederfand. Er blinzelte. Die Wirklichkeit
schien immer so ... blaß im Vergleich zur virtuellen Realität. Als
wäre sie die Imitation.
Gerade noch rechtzeitig. Er hörte, wie sich die Haustür öffnete.
»Tyrone?«
»Hey, Dad!«
Tyrone erhob sich, wobei er fast über die eigenen Füße
gestolpert wäre. Mein Gott! Ständig stieß er etwas um oder
rutschte aus. Sein Großvater Carl behauptete, sein Vater sei mit
dreizehn nicht anders gewesen: Wenn er einen drei Meter breiten
Gang entlangging, war er angeblich mindestens neunmal gegen
beide Wände gelaufen. Tyrone wollte kaum glauben, daß sein
Vater so tolpatschig gewesen war. Noch weniger konnte er sich
vorstellen, daß er selbst einmal anders sein würde.
Als er glücklich das Wohnzimmer erreicht hatte, ohne größere
Schäden angerichtet zu haben, sah er sich seinem Vater gegenüber,
der die übliche Kleidung der Net Force trug: Hemd und Hose in
neutralem Grau, dazu schwarze Stiefel, die so blank poliert waren,
daß man sich darin spie geln konnte. Hinter seinem Vater entdeckte
er Master Sergeant Julio Fernandez in der Tür, der die gleiche
Kleidung trug.
»Hallo, Tyrone«, begrüßte er ihn.
»Hi, Sarge. Wie geht's?«
»Für einen alten Latino nicht schlecht«. Fernandez grinste. Er
hatte zur gleichen Zeit wie Colonel Howard seinen Abschied von
den regulären Streitkräften genommen. Die beiden kannten sich
seit zwanzig Jahren und waren zur gleichen Zeit zur Net Force
gestoßen. Sein Vater hatte ihm erzählt, der Sergeant meine, wenn
der Cölonel für Zivilisten arbeiten könne, wolle er sich auch nicht
zu fein dafür sein. Allerdings haßte Fernandez Computer, was
75
Tyrone etwas merkwürdig fand. Schließlich befaßte sich die Net
Force hauptsächlich damit.
»Ich wollte nur vorbeikommen, um mich zu verabschieden«,
erklärte sein Vater. »Mit deiner Mutter habe ich bereits telefoniert.
Sie kommt mit dem Flug um achtzehnhundert. Du wirst also ein
paar Stunden allein sein. Schaffst du das?«
Tyrone grinste. »Keine Ahnung, Papa. Mir wird ganz schön
mulmig, wenn ich mir vorstelle, daß ich nach der Schule so lange
allein sein werde. Ich könnte verhungern oder vor Langeweile
umkommen.«
»Das Leben ist sehr hart. Wenn ich mich nicht ganz irre, hat
Mrs. Townsend für heute den Fahrdienst übernommen.«
»Stimmt.« Diese Woche war Rick Townsends Mutter an der
Reihe, nächste Woche die Mutter von Arlo Bridger, die Woche
danach seine Mutter. Dieser Fahrdienst war we sentlich
angenehmer, als mit dem Bus zur Schule fahren zu müssen. Dieses
Jahr fing sein Unterricht später an, das hieß, daß er erst um acht
Uhr dort sein mußte.
Sein Vater grinste ihn an. Dann kam er auf ihn zu, um ihn in
die Arme zu schließen. »Ich weiß nicht, wann ich zurück sein
werde. Paß gut auf deine Mutter auf. Wenn die Situation es
erlaubt, rufe ich an.«
»Ja, Sir.«
Sein Dad wandte sich ab. »Na dann, Sergeant. Es geht los.«
»Sie sind der Colonel, Colonel.«
Ein letztes Mal drückte sein Vater seine Schulter, bevor er
dann auf dem Absatz kehrtmachte und zur Tür marschierte.
Tyrone fühlte eine plötzliche Kälte in der Magengrube. Sein
Dad verriet nie, ob eine Mission gefährlich war oder nicht, aber
daß er nach Hause kam, obwohl er keine Ausrüstung zu holen
brauchte, nur um sich eine ganze Minute lang von Tyrone zu
verabschieden, war Grund genug, nervös zu werden.
Wo schickte die Net Force seinen Vater hin? Welche Ge fahren
mochten ihn dort erwarten?
76
Donnerstag, 16. September, 21 Uhr 15
Grosny, Tschetschenien
Plechanow saß in seinem Büro vor dem Computer. Die angrenzenden Räume, ja vermutlich das gesamte Stockwerk, waren
verlassen. Die Regierung konnte sich keine Nachtschicht leisten,
ganz im Gegensatz zu Plechanow, der sich diesen Luxus jederzeit
hätte erlauben können. Einer der Vorteile, die ein Computerexperte
seines Formats genoß, war, daß sich elektronisches Geld so leicht
stehlen ließ. Allerdings durfte man nicht zu gierig werden. Eine
Million hier, eine Million dort, das summierte sich.
Seine Kommunikationssoftware hatte die Fühler ausgestreckt
und ihn mit dem Gewehr verbunden. Ihre Verhandlungen waren
nahezu abgeschlossen.
»Ist die Vorgehensweise klar, Michail?«
»Da, alles klar.«
Plechanow runzelte die Stirn. Es war nachlässig von Rushjo,
ein russisches Wort zu verwenden, auch wenn die Chancen, daß
jemand es hörte, eins zu zehn Millionen standen. Dennoch,
Plechanow haßte es, ein überflüssiges Risiko einzugehen. Aber
jetzt war nicht der Augenblick, um darüber zu sprechen.
»Die Anweisungen bezüglich Kleidung, Hardware und der
Fahrzeuge finden Sie in der Sicherheitsdatei. Entnehmen Sie Ihre
finanziellen Mittel dem zweiten Konto. Hier gelten keine
Einschränkungen, wichtig ist, daß Sie gute Arbeit leisten.«
»Genau«, erwiderte Rushjo. »Was zählt, is t gute Arbeit.«
»Sonst noch etwas?«
»Nein, ich glaube, das ist alles.«
»Viel Erfolg bei der Jagd.«
»Danke.«
Nachdem die Verbindung getrennt worden war, lehnte
Plechanow sich im Stuhl zurück und dachte über den nächsten
Schritt nach. Tausend kleine Einzelheiten waren zu bedenken,
wenn der Plan funktionieren sollte. Ein Anruf hier, eine
bruchstückhafte Information dort, ein paar Worte, die zum
richtigen Zeitpunkt in ein einflußreiches Ohr geflüstert wurden:
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All dies trug dazu bei, die Lawine durch ihre eigene Masse in
Schwung zu halten.
Alles lief nach Plan.
Donnerstag, 16. September, 5 Uhr 15
San Francisco, Kalifornien
Rushjo fühlte sich ein wenig besser. Es war immer gut, eine
Aufgabe zu haben, einen Auftrag, der zu erledigen war, auch wenn
er dabei unter Druck geriet. Mit seinen Liefe ranten hatte er sich
bereits in Verbindung gesetzt: Die Ausrüstung, die er für die
nächste Stufe benötigte, konnte in weniger als einem Tag montiert
werden. Rushjo hatte gewußt, wie die nächste Phase aussehen
würde, auch wenn der Plan nur vorläufig gewesen und erst durch
den Anruf bestätigt worden war. Das hatte ihm einen Vorsprung
verschafft, denn er genutzt hatte.
jetzt mußte er die Schlange und den Texaner informie ren. Das
war eine heikle Angelegenheit, vielleicht komplizierter als die
Ermordung des FBI-Beamten, aber nicht so gefährlich. Diesmal
hatten sie das Gesetz auf ihrer Seite.
Zumindest in gewisser Weise.
Donnerstag, 16. September, 12 Uhr mittags
Washington, D.C.
Commander Michaels betrachtete stirnrunzelnd den jungen
Mann, der ihm auf der anderen Seite seines Schreibtisches
gegenübersaß.
»Also gut, Jay, was genau bedeutet das?«
78
Gridley schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht, Chef. Ich bin ein
halbes Dutzend große Straßen, also Datenautobahnen, abgefahren,
und überall stieß ich auf Karambolagen. Auf einige andere bin ich
erst gar nicht gekommen. Die Be seitigung stellte für die Polizei,
ich meine, die Systembetreuer kein großes Problem dar. Der
Unfall in Australien war allerdings ziemlich ekelhaft. Insgesamt
verlief alles re lativ unkompliziert, aber der Verkehrsfluß wurde
überall behindert.«
»Keine gefährliche Sabotage? Die Aktion war nicht auf ein
bestimmtes System beschränkt?«
Jay schüttelte den Kopf. »ja und nein. jeder Vorfall für sich
betrachtet war relativ unbedeutend, aber alle Unfälle
zusammengenommen, waren die Auswirkungen gravierend. Zeit
ist Geld, besonders in den kommerziellen Netzverbindungen.
Aufgrund der Verzögerungen wurden bedeutende Beträge
umgeleitet. Falls ein großer Teil davon in einer Tasche gelandet
ist, könnte sich der Betreffende eine Insel in der Karibik kaufen
und sich dort zur Ruhe setzen, wenn er das möchte. Kann ich mir
aber nicht vorstellen. Soweit wir im Moment wissen, hat niemand
von dem Chaos profitiert, es sei denn, er wäre unserer
Aufmerksamkeit entgangen.«
Jay brach ab, blinzelte und starrte ins Leere, als wäre er in
Trance gefallen.
»Jay?«
»Entschuldigung. Soweit ich das im Moment beurteilen kann,
waren alle Systeme gleichermaßen betroffen, etwa ein Dutzend
Links. Ich habe meine Spürhunde darauf angesetzt, bisher jedoch
ohne Erfolg. Wer auch immer das Programm geschrieben hat, er
versteht sein Handwerk, denn es gelang ihm, eine ganze Reihe von
Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen. Und wir sind die einzigen,
die ihn dabei erwischt haben.«
Gridley lächelte. Offenbar stimmte ihn diese Tatsache
zufrieden.
»Die Net-Force-Systeme sind also nicht betroffen?«
»Nein. Er hat es versucht, aber unsere Sicherungen haben
funktioniert. Der Bursche ist nicht so schlau, wie er denkt.
Offenbar weiß er nicht, mit wem er es zu tun hat. Wir werden ihn
erwischen.«
79
Völlig grundlos, wie ihm schien, keimte plötzlich ein
schlimmer Verdacht in Michaels auf. Es sei denn, er wollte uns in
Sicherheit wiegen. »In Ordnung. Finden Sie heraus, wer hinter der
Sache steckt. Halten Sie mich auf dem laufenden.«
»Alles klar, Chef.«
Gridley erhob sich und schlenderte zur Tür hinaus. Als er
verschwunden war, lehnte Michaels sich im Stuhl zu rück, um über
die Situation nachzudenken. Seit Steve Days Tod wurde er das
Gefühl nicht los, daß etwas nicht stimmte. Ohne einen bestimmten
Verdacht äußern zu können, verstärkte sich sein Eindruck immer
mehr, daß die Net Force ins Schußfeld geraten war. Vielleicht war
es nur die Paranoia, die zu seinem Job gehörte. Falls sein
unbestimmtes Gefühl ihn jedoch nicht trog, wenn wirklich jemand
Net Force schaden wollte, wer war das? Wichtiger noch - warum?
Er wedelte mit der Hand über seine Kommunikationseinheit.
Toni meldete sich aus dem Büro nebenan. »ja?«
»Hallo, Toni. Gibt es etwas Neues?«
»Tut mir leid, Alex. Nein.«
Days Ermordung hing wie eine dunkle Gewitterwolke über der
Einheit: düster, drohend, voller Spannung.
Er wollte etwas zu seiner Assistentin sagen, hielt sich dann
aber zurück. Kein falscher Alarm, er hatte schon genug Probleme:
die Untersuchung des Mordes, die Lage in der Ukraine, die
Probleme im Netz. Besser, er behielt seinen unbegründeten
Verdacht für sich, solange dieser sich nicht weiter erhärtete.
80
9
Freitag, 17. September, 5 Uhr 01
Luftraum über Nordeuropa
Colonel John Howard lehnte sich im Sitz des Jetliners zurück
und nickte Sergeant Fernandez zu, der neben ihm saß. Es war
sicher einer der intelligentesten Züge in der Ge schichte der Net
Force gewesen, mehrere Boeing 747 zu leasen und für schnelle
taktische Flüge umzubauen. Die Jumbos stellten einen gewaltigen
Fortschritt gegenüber den alten Militärtransportern dar, in denen
man so durchgerüttelt wurde, daß man jeden einzelnen Knochen
spürte. In diesen Maschinen, die aus kaum mehr als einer Aluminiumhaut bestanden, war der Lärm so ohrenbetäubend gewesen,
daß es nahezu unmöglich war, sich zu unterhalten, geschweige
denn, einen klaren Gedanken zu fassen. Abgesehen vom Komfort
für die Passagiere gab es einen höchst praktischen Grund für diese
Entscheidung: Eine zivile 747 konnte an Orten landen, wo schon
der bloße Versuch, einen amerikanischen Militärtransporter auf
den Boden zu bekommen, ihnen einen Stinger Missile im Cockpit
eingebracht hätte.
»Also gut, Julio, gehen wir es noch einmal durch.«
Der Sergeant schüttelte den Kopf. »Ich bitte den Colonel um
Verzeihung ...«
»... was etwas ganz Neues wäre«, unterbrach Howard.
»... aber ohne respektlos sein zu wollen, muß ich feststellen,
daß der Colonel offenbar ein Gedächtnis wie ein Sieb hat«, schloß
Fernandez, ohne sich um Howards Kommentar zu kümmern.
»Danke für Ihre Meinung als Neurologe, Dr. Fernandez.« Mit
einer Geste forderte Howard ihn auf zu sprechen. »Schießen Sie
los.«
Der andere seufzte. »Wie Sie wünschen, Sir. Die Ukraine ist
ungefähr so groß wie Frankreich und hat zweiundfünfzig
Millionen Einwohner. Der Präsident ist gewählt. Das Partament
nennt sich Werchowna Rada und besteht aus vierhundertfünfzig
81
Abgeordneten. Die amerikanische Botschaft befindet sich in der
Hauptstadt Kiew, das von den Einheimischen >Kyyiv<
geschrieben wird, und zwar in der Jurija Kozubinskoho 10. Bevor
die Ukrainer die Kommunisten 1991 zum Teufel jagten, gehörte
das Botschaftsgebäude der Kommunistischen Partei und
beherbergte
das
Hauptquartier
ihres
Jugendverbandes.
Gegenwärtig arbeiten hundertneunundachtzig Amerikaner und
zweihundertvierundvierzig ukrainische Staatsangehörige für die
Botschaft.«
Howard lächelte vor sich hin: Der Sergeant erzählte die
Geschichte immer wieder anders.
»In Kiew leben drei Millionen Einwohner auf einer Flä che von
fünfundvierzig mal vierundvierzig Kilometern. Die Stadt liegt am
Dnjepr, der ins Schwarze Meer mündet. Um diese Jahreszeit ist es
noch sehr heiß, allerdings häufig bedeckt und regnerisch. Die
Bevölkerung setzt sich aus fünfundsiebzig Prozent Ukrainern und
zwanzig Prozent Russen zusammen. Der Rest besteht aus Juden,
Belorussen, Moldawiern, Polen, Armeniern, Griechen und
Bulgaren. Sie selbst mitgerechnet, dürften sich drei Personen
afrikanischer Abstammung im Land aufhalten, wobei auch Krimtataren und Mongolen relativ dunkel sein können. Die Leute
werden auf der Straße zusammenlaufen, um Sie zu sehen, Sir.«
Howard wies diesen Einwand mit einer Geste zurück. Während
der Hälfte der Reise hatte der Sergeant versucht, ihn davon zu
überzeugen, daß er sich auf keinen Fall selbst an der Operation
beteiligen sollte. Vielmehr wäre es besser, wenn der Colonel die
Aktion von der Botschaft aus per Funk und über Satellit leitete.
»Weiter.«
»Die Stadt liegt sieben Zeitzonen vor Washington. Untergrundbahn und Straßennetz sind annehmbar, Radiound
Fernsehsender lausig. Bis Mittag kann man CNBC Su perstation
empfangen, nach sechs Uhr abends CNN. In den großen Hotels
gibt es das Wall Street Journal und die New York Times von
gestern, wenn man bereit ist, dafür die Hälfte seiner Pension
auszugeben. Sollten Sie die Absicht haben, eine öffentliche
Toilette aufzusuchen, nehmen Sie am besten Ihr eigenes
Toilettenpapier mit, Sie werden es brauchen.
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Die Währung nennt sich Griwna, und der offizielle
Wechselkurs zum Dollar beträgt zwei zu eins. Wenn Sie das
Wasser ein paar Sekunden laufen lassen, können Sie ohne
Bedenken darin baden. Trinken sollten Sie es ungekocht allerdings
nicht, wenn Sie sich keine bakterielle Infektion oder
Darmparasiten einfangen wollen. Die Strahlungswerte sind nach
Tschernobyl fast wieder normal. Verzichten Sie aber auf Pilze,
Beeren oder Wild aus der Region, sonst können Sie unter
Umständen nachts auf eine Lampe zum Lesen verzichten.
Wer nach dem Genuß von Alkohol Auto fährt und dabei
erwischt wird, landet mit großer Wahrscheinlichkeit im Gefängnis,
es sei denn, er gerät an die Miliz. Dann wird man vermutlich auf
der Stelle erschossen. Die Ein heimischen saufen wie die Löcher,
aber sie gehen zu Fuß, wenn sie einen Rausch haben. Wer
betrunken fährt, ist erledigt.
Noch immer sprechen viele Menschen Russisch, aber die
Amtssprache ist inzwischen Ukrainisch. Der nützlichste Satz, den
Sie sich merken sollten, lautet: >Probetschte, di tscholowitschi
tualet«<.
»Das heißt?«
»>Entschuldigen Sie, wo ist die Herrentoilette?«<
Howard grinste und schüttelte den Kopf. »Weiter.«
Fernandez redete weiter, aber Howard hörte nur halb zu. Was
auch immer der Sergeant von seinem Gedächtnis halten mochte, er
beherrschte den Stoff. Es ging ihm nur darum, ihn noch
gründlicher aufzunehmen. Sicher war sicher.
Leider hatte der Sergeant recht, wenn er meinte, er sollte sich
nicht in den Straßen von Kiew herumtreiben. Während einer
Chinareise waren ihm die Menschen in Scharen nachgelaufen, die
ihn anstarren oder gar berühren wollten. In-manchen Kulturen galt
Schwarz nicht nur als eine andere Hautfarbe, sondern löste einen
regelrechten Schock aus. Angesichts der Aufmerksamkeit, die er
erregen würde, könnte er sich unmöglich unauffällig bewegen. Der
Gedanke, daß er in einem Kommandoraum der Botschaft mit dem
Chef des CIA-Postens plauderte, während seine Teams ein
Terroristennest ausräucherten, war ihm allerdings gründlich
zuwider. Bevor er zur Net Force gegangen war, war er Soldat
gewesen, ein Praktiker also, und er wollte auch jetzt nicht mehr
83
Zeit hinter einem Schreibtisch verbringen, als unbedingt
erforderlich.
»... Waffen und Infrarotausrüstung werden um 9 Uhr 45
Ortszeit per Diplomatenpost eintreffen. In diesem Fall sollte man
allerdings eher von Diplomatenfracht sprechen. FedEx übernimmt
die Lieferung. Das ist doch nett, was meinen Sie? Keine Bomber wir schicken die Ladung per Fed-Ex an unsere Feinde, sie
unterschreiben, und wir lassen das Ganze hochgehen.«
Howard gab einen Laut von sich, um zu zeigen, daß er nicht
eingeschlafen war. Wie konnte er verhindern, daß er in der
Botschaft festsaß? Verkleidung? Make-up? Es war seine
Operation, da wollte er nicht untätig herumsitzen.
Vielleicht gelang es den Einheiten, die Lage zu klären, so daß
er nur noch beim Finale eingreifen mußte, falls es dazu überhaupt
kam. Es mußte einen Weg geben. Er hatte schon zu oft untätig
herumsitzen müssen, während andere kämpften ...
»... die Kriminalität hat stark zugenommen. Es wird nicht
empfohlen, sich nachts allein in dunklen Gassen herumzutreiben.«
Fernandez grinste. »Vermutlich könnten die dortigen Gauner einen
Schock davontragen, wenn sie sich mit einem von uns anlegen und
plötzlich einen Laserzielpunkt im Gesicht tragen. Ein Blick in die
Mündung einer H & K-Maschinenpistole könnte sehr lehrreich für
sie sein.«
»Wir wollen uns nicht mit Einheimischen anlegen, wenn es
sich irgendwie vermeiden läßt, Sarge, nicht einmal mit den
Verbrechern. Das hier ist eine chirurgische Operation. Wir werden
wie mit dem Skalpell arbeiten, kein unnötiger Schaden. Vorfälle,
die sich nicht geheimhalten lassen, kä men dabei denkbar
ungelegen.«
»Selbstverständlich, Sir. Ich werde dafür sorgen, daß die Jungs
sich nicht öfter in Bars herumprügeln, als unbedingt erforderlich.«
Howard grinste und schüttelte erneut den Kopf. Mit Julio
Fernandez, der einem den Rücken freihielt und zur Seite stand, war
man bestens gerüstet. Vor einem Computer, mit dem ein
Sechsjähriger spielend umging, geriet der Sergeant ins Schwitzen,
aber wenn es hart auf hart kam, war er nicht zu schlagen. Mit dem
Wurfmesser konnte er eine Fliege an die Wand nageln und ihr mit
jeder beliebigen Feuerwaffe die Augen herausschießen.
84
Einige ungewaschene ukrainische Radikale würden früh genug
herausfinden, daß es ein gewaltiger Fehler gewesen war, die
Botschaft der Vereinigten Staaten zu bedrohen.
Freitag, 17. September, 13 Uhr 25
New York City
Flankiert von zwei Leibwächtern, verließ Luigi Sampson,
Sicherheitschef von Genaloni Industries, ein chinesisches
Restaurant im Zentrum der Stadt. Trotz seiner italienischen
Abstammung und seiner beruflichen Position zeigte er eine
deutliche Vorliebe für die chinesische Küche. Zum Mittagessen
hatte er scharf gewürztes Huhn, Hartweizennudeln, süßsaures
Schweinefleisch, Zitronenente und weiße Krabben in Erdnußsoße
verzehrt und das Ganze mit zwei Bier und drei Tassen Tee
hinuntergespült.
Während er auf den Wagen mit dem Fahrer zuschlenderte, der
im Parkverbot vor dem Restaurant wartete, säuberte Sampson mit
einem Zahnstocher sein Gebiß. Speisebröckchen flogen durch die
Luft und landeten auf dem Gehweg.
In der unauffälligen einfarbigen Limousine auf der anderen
Seite der Straße tauschte Rushjo einen Blick mit Win ters, dem
Fahrer, bevor er sich an Gregori die Schlange wandte, der im Fond
saß. »Sind wir so weit?«
»Ich bin fertig«, antwortete die Schlange.
»Dann los.«
Alle drei trugen identische dunkle Anzüge von mittlerer
Qualität, schwarze, glänzend polierte Lederschuhe und dunkle
Sonnenbrillen. Die Haare hatten sie sich extra kurz schneiden
lassen. Zudem war jeder von ihnen mit Ausweisen und
Dienstmarken ausgestattet, die sie als Special Agents des FBI
auswiesen. Die Papiere waren selbstverständlich gefälscht, aber
von einer guten Qualität, die auch Tests, bei denen das Material
zerstört wurde, standhalten würde.
85
Das Nummernschild ihres Fahrzeugs war gegen das eines
Wagens ausgetauscht worden, der im Moment auf dem Parkplatz
des FBI ganz in der Nähe stand.
Für Rushjo wirkte die Schlange selbst in dieser Verkleidung
immer noch wie ein großer dummer Russe, aber das ließ sich nicht
ändern. Außerdem bestand in seinen Augen kaum ein Unterschied
zwischen vertrottelten Russen und verblödeten Amerikanern.
Da Winters am besten fuhr und dies sein Land war, übernahm
er das Steuer.
Rushjo rückte die Pistole in dem Holster hinter der rechten
Hüfte zurecht. Die SIG .40 war eine nüchterne, flache schwarze
Kampfwaffe deutscher Herstellung, sehr teuer und besonders
zuverlässig. Viele FBI-Leute waren damit ausgerüstet.
Sie wirkten tatsächlich wie Bundesagenten. Sogar die
Schlange.
»Also gut. Es geht los.«
Rushjo und Gregori stiegen aus dem Wagen und schickten sich
an, die Straße zu überqueren.
Die Leibwächter bemerkten sie sofort. Einer von ihnen sagte
etwas zu Sampson, der den Zahnstocher aus dem Mund nahm, und
den sich nähernden Männern entgegengrinste. Er lachte und
machte eine Bemerkung zu seinen Bodyguards, die Rushjo
allerdings nicht hören konnte. Worum es ging, war nicht schwer zu
erraten. Diese Männer hegten keinerlei Sympathien für die eigene
Bundespolizei.
Als Rushjo und die Schlange das Trio fast erreicht hatten,
begrüßte sie Sampson: »Hallo, Jungs. Ihr seid vom FBI, was?«
Grinsend sah er die beiden Leibwächter an, um zu überprüfen, ob
er sie mit dieser cleveren Bemerkung gebührend beeindruckt hatte.
Genauso hatten Plechanow und Rushjo sich das vorgestellt.
Wenn man den Leuten das bot, was sie erwarteten, überlisteten sie
sich selbst, ohne daß man ein Wort zu sagen brauchte.
»Luigi Sampson?« Lange genug hatte Rushjo den Akzent des
Mittelwestens geübt. »Ich bin Special Agent Arnold, dies hier ist
Special Agent Johnson.« Mit der Linken hielt er die Hülle mit
Ausweis und Marke empor, genau wie die echten Agenten, die
stets darauf achteten, daß ihre Waffenhand frei blieb. Er nickte der
Schlange zu, die die Leibwächter anfunkelte.
86
Die Ausweise mochten gefälscht sein, aber die Namen waren
echt. Arnold und Johnson waren tatsächlich Beamte des New
Yorker FBI.
»Wir möchten Sie bitten mitzukommen, um ein paar Fragen zu
beantworten.«
»Uberhaupt kein Problem, Jungs.« Sampson wandte sich an
den Leibwächter, der direkt neben ihm stand. »Überprüfung!«
Der Bodyguard tippte Befehle in einen kleinen Taschencomputer ein. Nach einem Augenblick meldete er: »Sind auf der
Liste.«
»Ruf die Anwälte und den Boß an und gib ihnen Bescheid.«
Mit Daumen und Mittelfinger schleuderte Samp son den
Zahnstocher in die Luft. »Federal Plaza, dritter Stock, stimmt's?«
»Dreiundzwanzigster Stock, Mr. Sampson. Sie wissen doch
Bescheid«, erwiderte Rushjo.
Sampsons Grinsen wurde immer breiter. Er hielt diesen
oberflächlichen Test für ausreichend. Was für ein Trottel, vor
allem, weil er sich für so besonders schlau hielt. Klu gen Menschen
war stets bewußt, daß es immer wieder neue Situationen gab,
Dummköpfe aber glaubten, sie wüßten alles.
»Ich unterstütze meine Regierung immer gern bei ihrer Arbeit.
Gehen,wir.« Als Sampson im Fond des Wagens neben der
Schlange saß, fragte er: »Also, worum geht's, Leute?«
Während Winters anfuhr, fiel Rushjo auf, daß einer der
Leibwächter auf die Straße trat, um die Nummer des Wagens zu
notieren. Gut so. Er sah Sampson an. »Sie arbeiten für den
Genaloni-Clan. Sie haben eigenhändig sechs Menschen getötet
und sind für den Tod von mehr als einem Dutzend anderer
verantwortlich. Sie und Ihre Leute sind an Drogenhandel,
Prostitution, Glücksspiel und anderen illegalen Aktivitäten
beteiligt, die ich jetzt nicht alle aufzählen kann, so zahlreich sind
sie.«
»Wow! Das ist Verleumdung, Agent, weil es ganz sicher nicht
stimmt. Ich bin als Sicherheitsbeauftragter für ein legales
Unternehmen tätig. Sie sollten wirklich besser vorsichtig sein,
wenn Sie keinen Prozeß am Hals haben möchten. Unsere
Rechtsanwälte sind nämlich nicht sehr ausgelastet.«
87
»Sie gehören zum kriminellen Abschaum, und dafür werden
Sie sehr bald bezahlen«, erklärte Rushjo.
Sampson lachte. »Wenn Sie mir das nachweisen wollen,
wünsche ich viel Spaß, mein Freund. Das haben schon ganz andere
Leute versucht.« Er lehnte sich im Sitz zurück. Seine Gesichtszüge
wurden hart. »Zum Abendessen bin ich wieder auf freiem Fuß.«
» Da irren Sie sich.«
»ja? Schön dumm, wenn Sie das glauben.«
»Nein, Sie sind dumm, wenn Sie denken, wir wären vom FBI.«
Ungläubig starrte Sampson sie an. Furcht machte sich auf
seinem Gesicht breit, als die Schlange ihre Waffe zog und sie ihm
in die Seite preßte.
»Ganz besonders dumm wäre es, wenn Sie eine unbedachte
Bewegung unternähmen.« Der russische Akzent war
unüberhörbar.
»Mein Gott!« stieß Sampson aus.
»Ich fürchte, der wird dir auch nicht helfen, Freundchen«, warf
Winters ein.
»Verdammt noch mal, was geht hier vor? Wer sind Sie? Was
wollen Sie?«
»Wir legen einen vergifteten Köder für die Wölfe aus«, gab
Rushjo zurück.
Der Gangster runzelte die Stirn. Er verstand nichts, aber er
würde nicht viel Zeit haben, sich deswegen zu sorgen. Das
Schicksal hatte mit kalten Knochenfingern in die Lostrommel
gegriffen und ...
... Luigi Sampsons Nummer gezogen.
88
10
Freitag, 17. September, 14 Uhr 30
New York City
Ray Genaloni war so wütend, daß er jemanden mit den bloßen
Händen hätte umbringen können. Doch das einzige Ziel, das sich
ihm bot, war der Überbringer der schlechten Nachricht, einer von
Luigis Leibwächtern, der vor seinem Schreibtisch stand. Ihn zu
ermorden hätte ihn nicht weitergebracht. Daher zügelte Ray sein
Temperament, auch wenn er sich dabei fühlte wie ein Topf mit
kochendem Wasser, auf den man einen Deckel preßte.
»Ich bitte um Verzeihung, Donald, aber was genau willst du
damit sagen, daß >das FBI ihn nicht hat<?« fragte Genäloni.
»Wir haben die Anwälte hingeschickt, aber das FBI behauptet,
sie hätten Luigi nicht verhaftet.«
»Aber du und Randall, ihr seid vom Gegenteil überzeugt?«
»Wir kamen gerade aus dem >Chens<. Sie waren zu zweit, ein
dritter Mann saß im Wagen. Luigi erkannte sie sofort, und Randall
und ich wissen auch, wann wir es mit FBI-Leuten zu tun haben.
Ihre Ausweise waren in Ordnung, und ihre Namen sind auf der
Liste des New Yorker Büros. Der Fahrzeughalter ließ sich über die
Nummer nicht feststellen, aber über unsere Polizeikontakte fanden
wir heraus, daß das Nummernschild blanko für den New Yorker
FBI-Fuhrpark ausgestellt worden ist. Die haben ihn sich
geschnappt, soviel ist sicher.«
»Aber warum erzählen sie dann unseren Anwälten, sie wüßten
nicht, wo er steckt?«
Donald schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
Endlos scheinende fünfzehn Sekunden lang hüllte Ge naloni
sich in Schweigen. Der Leibwächter schwitzte vor sich hin. Gut so.
»Das ist alles. Such dir irgendwo eine Be schäftigung«, sagte er
schließlich.
Genaloni rührte sich nicht von der Stelle, nachdem der
Leibwächter verschwunden war. Er starrte auf die Wand. Was,
89
zum Teufel, hatte das FBI vor? Warum legten sie ihm
Daumenschrauben an? Luigi würde dichthalten, dem konnte man
drohen, solange man wollte, ohne daß er etwas verriet. Zu
behaupten, er sei nicht verhaftet worden, war allerdings eine neue
Variante. Und zwar eine, die ihm gründlich mißfiel. Die hatten
etwas vor, und was auch immer das war, es gefiel ihm, verdammt
noch mal, überhaupt nicht.
Na gut. Mantel und Degen waren angesagt? Kein Problem. Die
Waffe, die ihm zur Verfügung stand, war scharf genug, er mußte
nur zupacken. Diesen Mist werden wir ganz schnell in den Griff
bekommen.
Er griff nach dem Hörer. »Verschlüsselung, Code 2435,
Sonnenschein.«
»Verschlüsselt«, meldete das Telefon.
Er gab eine Nummer ein.
Diesen Mist werden wir ganz schnell in den Griff bekommen.
»Ich verstehe.« Mora Sullivan wußte, daß ihre Stimme sie
nicht verriet.
Mit einer Handbewegung unterbrach sie die Telefonverbindung, erhob sich und begann mit kontrollierten Schritten
auf- und abzugehen.
Drei Schritte in die eine Richtung, eine Kehrtwendung, drei
Schritte zurück, immer wieder, während sie den Auftrag im Geiste
durchging. Selkie war nicht der Typ, der herumsaß und still
meditierte. Wenn die Jagd es erforderte, konnte sie sich völlig
ruhig verhalten, doch in diesem Stadium arbeitete ihr Kopf am
klarsten, wenn sie auf den Beinen war, sich bewegte, Straßen
erforschte, nach Auswegen suchte, plante.
Sie konnte sich in alles, in jeden verwandeln, die Welt stand ihr
offen, aber diese Mission würde gefährlich werden. Hier gab es
keinen Raum für Irrtümer. Fast immer enthielten die Aufträge ein
wenig Spielraum für den Fall, daß ihr ein kleiner Fehler unterlief.
Zwar überließ sie nie bewußt etwas dem Zufall, doch gelegentlich
passierte selbst ihr ein Irrtum. Winzig kleine Fehler, keine breiten
Spuren, die einen Verfolger auf ihre Fährte gebracht hätten, aber
dennoch kam es von Zeit zu Zeit vor, daß ihr etwas entging.
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Details, die sie erst bemerkte, wenn es nicht mehr in ihrer Macht
stand, etwas daran zu ändern. Obwohl sie die Beste war.
Schritt, Schritt, Schritt, Kehrtwendung ... Bisher waren
niemandem diese kleinen Fehler aufgefallen, die sie unwissentlich
hinterlassen hatte, weil die meisten Menschen gar nicht auf den
Gedanken kamen, danach zu suchen. Und inzwischen waren diese
Spuren verwischt, bereits zu Flecken der Vergangenheit geworden,
zu kleinen schwarzen Punkten, die dem bloßen Auge keinerlei
Angriffsflä che lieferten.
Doch diesmal ...? Diesmal mußte sie sozusagen unter dei Linse
eines Mikroskops agieren. Polizeibeamte stellten einen Sonderfall
dar, egal welcher Organisation sie angehörten, denn die Polizei
schützte zuerst einmal die eigenen Leute. Die Botschaft war
simpel: Zwar konnte man ungestraft eine ganze Reihe von
Verbrechen begehen, doch die Ermordung eines Polizisten zählte
nicht dazu. Wer sich darauf einließ, landete ganz oben auf einer
Liste, von der er erst gestrichen wurde, wenn er verhaftet oder
getötet worden war, wobei letzteres wahrscheinlicher war. Selkie
war sich dessen bewußt, schließlich hatte ihr Vater mit dem Le ben
dafür bezahlt, einen Polizisten niedergeschossen zu haben. Die
Beamten, die ihn damals festnahmen, hatten ihn hingerichtet. Und
für seine Henker war es nicht das geringste Problem gewesen, den
Racheakt dann auch zu rechtfertigen.
Schritt, Schritt, Schritt, Kehrtwendung ...
Die Zielperson zu töten war nicht das eigentliche Problem,
vielmehr der leichte Teil des Auftrags. Ein Mörder, dem
gleichgültig war, ob er ums Leben kam oder verhaftet wurde,
konnte so gut wie jeden, angefangen mit dem Präsidenten, vor deri
Augen der Öffentlichkeit erledigen.
Doch ungestraft davonzukommen, das war eine andere Sache.
Ihre Flucht würde unter den Augen der fähigsten Organisation zur
Verbrechensbekämpfung stattfinden, die es weltweit gab.
Spielraum bliebe diesmal nicht. Jeder Fehler würde sich rächen.
Den kleinsten Hinweis würde man aufspüren, unter die Lupe
nehmen, analysieren, testen, weiterverfolgen.
Der Gedanke erschreckte und faszinierte sie zugleich. Selkie
liebte den Kick des Risikos. Mora Sullivan genoß Adrenalin wie
andere einen guten Wein. Sie hätte sich je derzeit zur Ruhe setzen
91
und den Rest ihres Lebens ohne finanzielle Sorgen verbringen
können. Sobald man einmal einige Millionen besaß, brauchte man
im Grunde nicht mehr. Sie hatte ein Ziel und würde es erreichen,
weil sie ihre Ziele immer erreichte. Aber sie kannte sich gut genug,
um zu wissen, daß das Spiel für sie ebenso wichtig war wie der
Gewinn. Dieser Auftrag stellte eine Herausforderung dar. Bis jetzt
hatte sie niemals einen FBI-Agenten eliminiert, geschweige denn
den Leiter einer ganzen Unterein heit.
Schritt, Schritt, Schritt, Kehrtwendung.
Der Plan mußte peinlich genau überprüft werden, jeder Schritt
verlangte ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie brauchte Zeit, um
sicherzugehen, daß sie nichts übersehen hatte. Nichts.
Bevor sie aufbrach, würde sie sich eine neue Identität
besorgen. Sie würde zu einer Frau werden, die nach Washington,
D.C. gehörte, die Grund hatte, sich in der Nähe des Zieles
aufzuhalten, die jeder Überprüfung standhielt, falls es notwendig
werden sollte.
Lächelnd hielt sie inne. Haut und Muskeln spannten sich unter
dem Einfluß des Adrenalins, das durch ihre Adern jagte und sie in
einen Zustand der Euphorie versetzte.
Schließlich war sie ein Geschöpf des Were. Ihr Aussehen zu
verändern war für sie so einfach wie für andere das Wechseln der
Kleidung. Sie konnte sich in jedes beliebige Wesen verwandeln.
Die Metamorphose von Selkie hatte begonnen.
Samstag, 18. September, 16 Uhr 19
Los Angeles
Auf einem Rollband am Flughafen von Los Angeles näherte
sich Rushjo der Autovermietung. Wenn man dem Pilo ten Glauben
schenken durfte, hatte die Außenluft nahezu Körpertemperatur
erreicht. Dem Kalender nach mochte es Herbst sein, aber der
Sommer hatte das Land noch fest im Griff - als er an der Ostküste
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an Bord der Maschine gegangen war, hatte eine ähnliche Hitze
geherrscht.
Der Auftrag in New York war gut gelaufen. Weniger als
vierundzwanzig Stunden nach seiner Entführung gab es keinen
Luigi Sampson mehr.
Das war nicht ganz richtig, überlegte er, denn die Ein zelteile
des Gangsters befanden sich als halb flüssige, schmierige Substanz
in einem großen, mit Glas ausgekleideten Vorratstank, der eine
besonders aggressive Säure enthielt. Die Schlange hatte die Leiche
in Stücke hacken müssen, die so klein waren, daß sie durch die
Öffnung eines Überdruckventils auf dem Behälter paßten. Sein
Onkel war Metzger gewesen, und bevor Gregori Soldat geworden
war, hatte er ihm jeden Sommer im Geschäft geholfen. Der Tank
enthielt eine ätzende Flüssigkeit, die in einer Fabrik in New Jersey
zur Metallbearbeitung verwendet wurde. Die Lösung, die den
Gangster rasch verschwinden lassen würde, fand normalerweise
nur in kleinen Mengen Verwendung. Zuerst würden die Arbeiter
den anderen der beiden Vorratstanks leeren, und bis sie zum
zweiten vorgedrungen waren, würde der verschiedene Luigi
Sampson nur noch als organische Verunreinigung bemerkbar sein.
Das einzige, was vielleicht auffiele, wenn die Säure über die
abgeklebten Stahlplatten gesprüht wurde, wäre eine leichte
Verfärbung.
Zwar handelte es sich um eine extrem aggressive Säure, doch
um ganz sicherzugehen, hatte die Schlange dem Toten das Gebiß
herausgeschlagen. Winters, der Amerikaner, hatte die Zähne, mit
Popcorn vermischt, von der Fähre nach Staten Island ins Wasser
fallen lassen, während er scheinbar die vielen Möwen fütterte, die
dem Schiff stets folgten.
Die FBI-Tarnung war ebenfalls vernichtet worden: Ausweise
und Kleidung hatten sie verbrannt, die Asche in einer Toilette
hinuntergespült. Die Marken waren flach gehämmert in einer
Schrottpresse gelandet. Den Wagen hatten sie an die
Autovermietung zurückgegeben, wo sie ihn mit einem zweiten
Satz falscher Papiere gemietet hatten, nachdem sie die
ursprünglichen Nummernschilder wieder angebracht hatten. Die
gereinigten Waffen waren in einem Paket mit der Aufschrift
>Gesteinsproben< an ein großes Postfach gegangen, das auf den
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Namen einer nicht existie renden Person in Tucson, Arizona,
angemietet worden war. Dort würden sie bleiben, bis der
Mietvertrag auslief oder die Post versuchte, den Besitzer des
Pakets aufzufin den. In jedem Fall würden bis dahin Monate
vergangen sein. Das Material ließe sich ohnehin nicht wieder
verwenden.
Ein zweites Mal würde der Trick nicht funktionieren, der
Genaloni-Clan war jetzt gewarnt. Aber das war auch nicht nötig.
Zwar bestand die entfernte Möglichkeit, daß man den
Leibwächtern Fotos der echten Agenten vorlegte, die Rushjo und
Smeja zu sein vorgegeben hatten, aber das war höchst
unwahrscheinlich. Genalonis natürliches Mißtrauen gegenüber den
Behörden würde sich verstärken. Selbst wenn er ihnen Glauben
schenken sollte - was nicht der Fall war -, würde er sich nicht an
sie um Hilfe wenden, wenn es darum ging, seinen Mann
aufzuspüren. Der Gangsterboß würde sich nicht weiter mit den
Bundesbehörden einlassen, und da diese ihrerseits genug am Hals
hatten, würden sie die Angelegenheit schnell vergessen.
Das FBI dachte, Genaloni habe einen seiner eigenen Leute
erledigt. Genaloni wiederum nahm an, das FBI habe es auf ihn
abgesehen. Die erste Hypothese war falsch, die zweite würde sich
als richtig erweisen. Dem Bericht zufolge, den Plechanow ihm zur
Verfügung gestellt hatte, war Geduld keine von Genalonis
Tugenden. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde er überstürzt
handeln. Und wenn er es nicht tat, würde Rushjo das für ihn
übernehmen - zu mindest würde es danach aussehen.
Einen Feind mit einem anderen Problem abzulenken war ein
alter, aber immer noch funktionierender Trick. Plechanow kannte
sich in der Geschichte aus, und er war ein Meister der
Manipulation. Solch einen Mann hatte man im Kampf gern an
seiner Seite - als Gegner war er furchterregend.
Rushjo und sein Team würden der Net Force und dem
Gangsterclan, die sie aufeinandergehetzt hatten, weitere
Nadelstiche versetzen, Kleinigkeiten, die die Atmosphäre immer
weiter aufheizen würden. Mehr war dafür nicht nötig.
Früher oder später brach das stärkste Kamel zusammen, wenn
man auch nur einen einzigen Strohhalm mehr auf seinen Rücken
lud.
94
Es war Rushjos Aufgabe, die Halme zu besorgen.
Sonntag, 19. September, 2 Uhr 30
Kiew
John Howard ging der örtliche CIA-Chef auf die Nerven.
Morgan Hunter war etwa fünfundvierzig. Sein Haar war ergraut,
aber dem Sitz seines Anzugs und der Geschmeidigkeit seiner
Bewegungen nach zu urteilen, war er immer noch in ziemlich
guter Form. Er gehörte dem Geheimdienst seit mehr als zwanzig
Jahren an, hatte in Chile und Beirut gearbeitet, war dann nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion in Moskau tätig gewesen, bevor
er schließlich in der Ukraine landete. Man hätte also davon
ausgehen können, daß er sein Geschäft verstand.
»Tut mir leid, Colonel, ich weiß nicht recht, was ich Ih nen
sagen soll. Keine unserer Kontaktpersonen unter den örtlichen
Radikalen weiß von dieser Sache, wenn man von den ersten
Berichten absieht. Es ist uns nicht gelungen, die Urheber
aufzuspüren.«
»Die Uhr läuft, Mr. Hunter.«
Sie hielten sich in einem kleinen Besprechungszimmer im
Keller auf, das man Howard für diese Operation zur Verfügung
gestellt
hatte.
Konventionelle
Telefone,
Computer,
Fernsehbildschirme und andere Geräte füllten Tische und Wände.
Der CIA-Mann lächelte überlegen. »Das ist mir bewußt,
Colonel, schließlich haben wir die Sache ins Rollen gebracht.
Vielleicht erinnern Sie sich, wir haben die Berichte an Ihre
Organisation weitergeleitet - eine Organisation, die sich mehr oder
weniger auf unsere Einladung hier aufhält, Sir. «
Howard wollte gerade antworten, als Julio Fernandez den
Raum betrat und den Colonel unerwartet zackig grüßte. »Sir, es
könnte sein, daß wir eine Spur gefunden haben.«
»Schießen Sie los, Sergeant.«
95
Fernandez warf einen Blick auf Hunter und sah dann seinen
kommandierenden Offizier an. Howard gelang es nur mit Mühe,
ein Grinsen zu unterdrücken. Sein Blick sprach Bände. Soll ich
wirklich reden, solange diese Flasche dabei ist, Sir?
Hunter, dem dies nicht entging, biß die Zähne zusammen.
»Sir, Lucy, also Lucy Jansen, von Team drei, nun, sie hat sich
mit einem der Burschen auf der kurzen Liste angefreundet.« Er
reichte Howard die Liste, auf der ein Name rot eingekreist war.
»Der Kerl spricht Deutsch, sie auch, das bot den beiden ein
gemeinsames Thema. Sie hat hier in einer Bar, äh, Kontakt
aufgenommen, und nach fünf oder sechs Wodkas hat der Bursche
was von einem alten, durch Drähte ausgelösten Granatwerfer
erzählt, den er schon sehr bald einsetzen will.«
Howard war aufs äußerste angespannt. »Sprechen Sie weiter.«
»Lucy ist an dem Kerl dran. Sie will sich in ein paar Stunden
mit mir in Verbindung setzen.«
Howard blickte Hunter an.
Der zuckte die Achseln. »Könnte etwas sein. Vielleicht will
aber auch nur ein Besoffener bei einem Mädchen Ein druck
schinden.«
Howard nickte. »Stimmt. Aber der Kerl steht auf Ihrer Liste.«
Er wandte sich erneut an Fernandez. »Halten Sie mich auf dem
laufenden.«
»Jawohl, Sir.« Ein zackiger Gruß, dann wandte Fernandez sich
ab und verschwand.
»Mal sehen, ob ich mehr über diesen Mann herausfinden
kann.« Hunter deutete auf die Liste.
»Gute Idee.« Howard zögerte einen Augenblick. Es hatte
keinen Sinn, sich mit dem CIA-Mann anzulegen. »Tut mir leid
wegen vorhin. Ich kämpfe noch mit der Zeitverschiebung.«
»Schon in Ordnung, Colonel. Ist uns allen schon passiert. Ich
bin genauso scharf auf diese Burschen wie Sie. Wenn wir gute
Arbeit leisten, werden wir sie schnappen.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr.«
Die beiden Männer lächelten einander erneut an, doch diesmal
wärmer.
Vielleicht handelte es sich um falschen Alarm, aber Ho ward
glaubte nicht daran. Ganz plötzlich spürte er ein Kribbeln im
96
Bauch. Das war es. Diese Spur würde sie in die Höhle der
Terroristen führen.
97
11
Sonntag, 19. September, 11 Uhr 05
Washington, D.C.
Als das Telefon klingelte, hielt Alex Michaels sich gerade in
der Garage auf. Er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon,
wer ihn anrief. An einem schmierigen Lumpen wischte er sich die
Hände ab, bevor er nach dem Hörer griff.
»Ja?«
»Daddy!«
»Hallo, Kleines, wie geht es dir?«
»Super. Also, abgesehen davon, daß ich beim Skaten
hingefallen bin und der eine Knieschützer kaputtgegangen ist.«
Wie ein Stich,fühlte Michaels die plötzliche Sorge. »Aber dir
ist nichts passiert?«
»Mir nicht, aber von dem Knieschützer ist nicht viel übrig.«
»Besser so, als daß du dich verletzt.«
»Hat Mami auch gesagt.«
Im Hintergrund hörte er Megans Stimme. »Laß mich mal kurz
mit Daddy sprechen, Schatz.«
Michaels fühlte, wie sich ihm der Magen beinahe umdrehte.
Ihm wurde eiskalt.
»Mami will mit dir reden.«
Er holte tief Atem. »Na klar, gib sie mir.«
»Bye, Daddy.«
»Bye, Kleines.«
Die Zeit schien sich ins Unendliche zu dehnen. Ganze
Weltalter verstrichen, während Zivilisationen verfielen und
untergingen ...
»Alex?«
»Hallo, Megan. Was ist los?«
»Susie, warum machst du Mami nicht eine Tasse Kaffee?«
Michaels schien sich im freien Fall zu befinden.
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Ein Augenblick verstrich. »Alex, ich weiß, daß deine Arbeit für
dich an erster Stelle steht, aber für deine Tochter bist du noch
immer ihr ein und alles. Kannst du dich für ihr Theaterstück
freimachen und herkommen?«
Die Auseinandersetzungen vieler Jahre standen ihm plötzlich
wieder vor Augen, frisch verheilte Wunden schienen aufzureißen,
Wunden, die zumindest in seinem Herzen nie wirklich geheilt
waren. Er wollte eine erneute Konfrontation vermeiden. »Das ist
im Oktober, stimmt's?«
»Du hast es nicht vergessen, welch ein Wunder.«
Ihr Sarkasmus traf ihn immer noch mit unerbittlicher Härte.
Vermutlich war Days Tod bis dahin aufgeklärt, wenn nicht,
würde der Fall zumindest nicht mehr so brandheiß sein, daß er
nicht die Zeit fände, seiner Tochter zuzusehen, wie sie mit ihrer
Klasse ein Theaterstück aufführte. »Ich komme.«
»Bist du sicher?«
»Ich habe gesagt, ich komme.« Immer wieder gelang es ihr, ihn
mit einem scheinbar harmlosen Satz in Rage zu bringen, ohne auch
nur die Stimme zu heben. Bist du sicher? Wenn sie ihn einen
dreckigen Lügner genannt hätte, wäre es auch nicht schlimmer
gewesen.
Eine unbehagliche Pause entstand. Im letzten Jahr ihrer Ehe
hatten diese Momente des Unbehagens alles beherrscht. Dabei
hatte mehr Resignation als Wut darin gelegen. Das unvermeidliche
Ende ihrer Beziehung hatte sich wie ein Gletscher auf sie
zugeschoben, der langsam, aber unaufhaltsam alles zermalmte,
was auf seinem Weg lag.
»Hör mal, ich muß dir noch etwas sagen«, fuhr sie fort. »Ich
habe jemanden kennengelernt und wollte, daß du es von mir
erfährst.«
Die Kälte in Alex' Bauch wurde zu gefrorenem Sauerstoff, der
so eisig war, daß es ihm den Atem verschlug. Als er seine Stimme
wiedergefunden hatte, kostete es ihn alle Kraft, einen gelassenen,
lockeren Ton zu finden, der milde Neugier ausdrückte. »Kenne ich
ihn?«
»Nein. Er unterrichtet an Susies Schule, allerdings nicht in
ihrer Klasse.«
»Schön. Herzlichen Glückwunsch.«
99
»Wir haben nicht vor zu heiraten, Alex, wir treffen uns nur hin
und wieder. Du hast doch bestimmt auch ab und zu ein
Rendezvous, oder?«
Er wartete einen Augenblick zu lange, bevor er antwortete.
»Natürlich.«
»Mein Gott, Alex.«
Auch dieses Gespräch war ihm aus langen Jahren vertraut. Seit
er und Megan sich getrennt hatten, hatte er nichts mit einer
anderen Frau gehabt. Ein paarmal hatte er daran gedacht,
schließlich fielen ihm attraktive Frauen immer noch auf,
manchmal hatte er sogar ein paar Hirngespinste gehegt, aber
umgesetzt hatte er seine Fantasien nie. Wo der Traum endete,
wartete die harte Wirklichkeit auf ihn, das Risiko. Außerdem
vermißte er Megan noch immer, trotz allem, was vorgefallen war.
Sie war seine große Liebe gewesen, und daran würde sich auch
nichts ändern. Ein Anruf von ihr, und er würde Haus, Auto und
Job aufgeben und zu ihr eilen. Früher war ihm das nicht bewußt
gewesen, inzwischen schon.
Zu spät, natürlich. Sie würde ihn nicht zu sich rufen.
Schließlich waren sie geschieden, und sie war mit einem anderen
Mann zusammen. Vielleicht schlief sie sogar mit ihm.
Der Gedanke, daß Megan nackt neben einem anderen lag, mit
ihm lachte, ihn liebte, Dinge mit ihm tat, die einst ihm vorbehalten
gewesen waren, verursachte ihm Übelkeit. Am liebsten hätte er
sich übergeben. Am schlimmsten war der Gedanke, daß sie den
anderen begehrte und ihn nicht. Zu wissen, daß es ihr Spaß
bereitete ...
Michaels schüttelte den Kopf. Diese Gedanken waren
destruktiv. Er hatte nicht länger das Recht, so zu fühlen -wenn er
es denn je besessen hatte.
»Ich muß weg. Sag Susie, daß ich sie liebe.«
»Alex ... «
»Auf Wiedersehen, Megan. Paß auf dich auf.«
Sanft legte er den Hörer auf die Gabel und betrachtete das lila
Auto, mit dem er jetzt jede freie Minute verbrachte.
Normalerweise gelang es ihm, seine Gefühle für Megan unter
Kontrolle zu halten. Solange er beschäftigt war und keine
Gelegenheit zum Nachdenken hatte, war alles in Ordnung. Aber
100
wenn er ihre Stimme hörte, ihr Bild vor sich sah, wurde der
Schmerz unerträglich.
Vielleicht gab es einen Zauber, der all das Häßliche, das
zwischen ihnen stand, auslöschte, vielleicht gab es Worte, die die
Zeit zurückbringen würden, als es noch keine Susie gegeben hatte,
oder die Tage, in denen sie ein fröhliches, dickes Baby gewesen
war, das in einem großen alten Haus in Idaho herumwatschelte.
Diese Worte mochte es geben - aber Alex Michaels hatte sie
bisher nicht gefunden.
Sonntag, 19. September, 11 Uhr 15
Washington, D.C.
Toni Fiorella hatte soeben ein Telefongespräch mit ihrer
Mutter beendet. Sie telefonierten jeden Sonntag morgen
miteinander, doch nach zwanzig, spätestens dreißig Minuten
wurde ihre Mutter immer nervös. »Das hier muß dich ein
Vermögen kosten, Kleine«, hieß es dann.
Immer wieder hatte Toni ihrer Mutter erklärt, daß sie sich
selbst ein paar Stunden Ferngespräche zwischen Washington und
der Bronx pro Monat leisten konnte, aber die Botschaft schien
nicht recht anzukommen. Mama lebte noch in den Tagen, in denen
Ferngespräche ein Luxus gewesen waren, zu dem man nur bei
Geburts- oder Todesfällen griff. Höchstens, daß man kurz einmal
aus dem Urlaub anrief. Sich einen Computer anzuschaffen und per
E-Mail oder Voxtrans zu kommunizieren kam schon gar nicht in
Frage. Von diesen Dingen hielt Mama nichts.
Eine Viertelstunde lang wirtschaftete Toni in der Küche herum,
spülte die Teller vor und stellte sie in die Maschine, wischte die
Arbeitsflächen und den Hackblock und fegte den Boden. Die
Wohnung war klein, aber die Küche größer, als bei Apartments
dieser Art üblich, und der Vinylboden wirkte wie echtes Holz. Ein
hübscher Raum.
Als sie den Besen wegstellte, klingelte das Telefon.
101
Rief ihre Mutter noch einmal an?
»Hallo?«
»Subcommander Fiorella?«
»ja?« Die Stimme klang vertraut, aber sie konnte sie nicht recht
einordnen.
»Hier ist Jesse Russell. Wir haben uns vor einigen Tagen, äh,
kennengelernt ... «
Ein Südstaatenakzent. Gleich hatte sie es ... >Spandex<.
»Ma’am?«
Erst durch seine Nachfrage wurde ihr bewußt, daß sie laut
gedacht hatte. Die Röte stieg ihr ins Gesicht. Nur gut, daß die
Bildübertragung ausgeschaltet war. »Entschuldigen Sie, Mr.
Russel. Vergessen Sie es. Was kann ich für Sie tun?«
»Nun, Ma'am, ich möchte mich für den Vorfall im Kraft raum
entschuldigen. Ich wollte vor Barry eine Show abzie hen.
Anscheinend habe ich dabei mein Gehirn ausgeschaltet. Ich hätte
mich nie so verhalten dürfen. Es war dumm, und es tut mir leid.«
Toni grinste. Sehr schön. Wunder gab es immer wieder. Ein
Arschloch, das sich entschuldigte. Und nachdem sie sich auch
nicht gerade korrekt verhalten hatte, konnte sie seine
Entschuldigung gnädig annehmen. »Ist schon in Ord nung, Mr.
Russen, vergessen Sie es.«
»Nein, Ma'am, das werde ich bestimmt nicht so bald. Ich habe
mich gefragt, ob Sie vielleicht bereit wären, mir irgendwann etwas
von Ihrer Kampftechnik beizubringen? Ich meine, ohne daß Sie
mich gleich aufs Kreuz legen.«
Toni kicherte. Vielleicht war er gar nicht so übel. Er besaß
einen gewissen Charme. »Wir treffen uns bestimmt mal im
Kraftraum.«
»Wissen Sie, Miß Fiorella, wenn Sie mir sagen, wann Sie
wieder trainieren, würde ich mich für eine Weile loseisen. Der
Unterricht ist ziemlich intensiv, aber ab und zu haben auch wir
Freizeit:«
Toni überlegte einen Augenblick. Wollte der Bursche mit ihr
anbändeln, oder interessierte er sich wirklich für Silat? Ein
Vorwissen in einer anderen Kampfsportart war manchmal ein
Hindernis, aber nicht immer. Schließlich erzählte ihr Guru ihr
102
ständig, daß sie Schüler brauche. Wenn man die Kunst nicht lehre,
werde man niemals ein Guru.
»Manchmal trainiere ich vormittags, meistens aber in der
Mittagspause, von zwölf bis eins. Wenn Sie Lust haben, schauen
Sie vorbei.«
»Ja, Ma 'am, ich habe Lust.«
»Lassen Sie doch >Ma'am< und >Miß Fiorella< beiseite. Ich
heiße Toni.«
»Meine Freunde nennen mich Rusty«, gab er zurück. »Danke.
Sind Sie am Montag im Kraftraum?«
»Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert.«
»Dann sehen wir uns dort, Ma'am. Ich meine, Toni.«
Als sie den Besen wegräumte, ertappte sie sich bei einem
Lächeln. >Spandex< ... Russell hatte sich vor und nach ihrem
Kampf im Kraftraum wie ein typischer dummer Macho verhalten.
Dieser Anruf glich jedoch einiges wieder aus, immer
vorausgesetzt, daß nicht etwas anderes dahintersteckte. Die
meisten Menschen verdienten eine zweite Chance. Sie hatte ja,
weiß Gott, selbst genügend Dummheiten begangen, die ihr später
leid getan hatten, und war nur zu froh gewesen, wenn ihr dann
verziehen worden war. Die Menschen waren in der Lage, sich zu
ändern, sagte sie sich. Außerdem sah er nicht schlecht aus.
Sie fühlte sich wie eine Verräterin. Russell konnte niemals
Alex ersetzen, nie. Alex war der Mann, den sie wollte. Und wenn
sie hart genug daran arbeitete, würde er früher oder später auch
Gefühle für sie entwickeln.
Aber ein FBI-Rekrut war auch nicht schlecht. Möglicherweise
riß das Alex sogar aus der Gleichgültigkeit, und er entdeckte, daß
Toni nicht so übel aussah. Schaden konnte es nicht.
103
Sonntag, 19. September, 11 Uhr 15
Washington, D. C.
Jay Gridley ließ den kraftvollen Motor des Viper aufheulen.
Ein Geruch von verbranntem Gummi stieg auf, als er die
Kupplung losließ und die Auffahrt zur Autobahn hinaufbrauste.
Warum nicht? In der virtuellen Realität brauchte er keine neuen
Reifen.
In den letzten Tagen hatte er einen Großteil seiner Zeit damit
verbracht, im Netz zu surfen und nach weiteren blockierten
Straßen Ausschau zu halten, war jedoch bis jetzt auf nichts
Auffälliges gestoßen. Natürlich gab es Verkehrsstaus, hier und da
einen Auffahrunfall, aber das war normal.
Er fuhr auf der 405 auf den Flughafen von L.A. zu, als ein
schwarzer Jugendlicher auf einer schweren Maschine
vorüberbrauste. Der Bursche auf der Harley fuhr mindestens
hundertzwanzig. Gridley grinste ihm hinterher. Den Jungen kannte
er, auch wenn die virtuelle Person etwas älter und muskulöser
wirkte.
Er schaltete in den nächsten Gang und fühlte, wie der Motor
weicher lief, bevor er das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat.
Der riesige V-10 grollte, heulte auf, und der Verkehr um ihn
herum schien stehenzubleiben.
In wenigen Sekunden beschleunigte er den Sportwagen von
neunzig auf hundertdreißig Stundenkilometer.
Born to be wild. Wer nicht fahren konnte, sollte es bleiben
lassen.
Als er den schwarzen Jungen auf dem Motorrad erreicht hatte,
hielt er sich auf gleicher Höhe. Grinsend betätigte er die Hupe.
In Wirklichkeit kommunizierten die beiden im Netz über eine
Echtzeit-Online-Verbindung, wie vielleicht zwanzig Millionen
andere Anwender, die Tag für Tag das riesige kommerzielle Netz
nutzten. Wenn die Software Szenarios wie dieses hier zuließ, war
die visuelle Darstellung der virtuellen Realität allerdings ein
besonderes Vergnügen.
»Hallo, Tyrone!«
104
Weiße, regelmäßige Zähne leuchteten auf, als der Junge ihn
angrinste. »Hi, Jay! Was treibst du hier?«
»Ich will nachsehen, ob es irgendwo Schwierigkeiten gibt.«
»Bin dabei.«
»Vorne rechts ist eine Raststätte. Sollen wir da anhalten und
eine Tasse Kaffee trinken? Ich muß dich was fragen.«
»Klar, nopro, Jay.«
Der Junge gab Gas und legte sich flach auf das Motorrad. Der
Luftstrom zerrte an seiner Kleidung und fuhr ihm durch das dichte,
krause Haar, als er davonstob. Gridley ließ ihn vorfahren.
>Nopro<? Jay überlegte einen Augenblick. Sollte das >no
problem< heißen?
Eigentlich war er noch gar nicht so alt, aber er hatte den
Anschluß verloren. Der Slang, der in seiner Jugend üblich gewesen
war, klang für jemanden in Tyrones Alter völlig überholt.
>Nopro< stand für sein >cool< oder für das >null Problemo<
seines Vaters. Die Sprache unterlag einem ständigen Wandel.
Manchmal vollzog sie dabei eine Wendung um dreihundertsechzig
Grad. Aus >cool< wurde >heiß< und >geil<, das von >kraß< und
>megakraß< abgelöst wurde, bevor man wieder zu >cool<
zurückkehrte. Unmöglich, damit Schritt zu halten.
Mit achtundzwanzig fühlte er sich wie ein Dinosaurier, wenn er
mit einem Jungen wie Tyrone sprach. Er schüttelte den Kopf.
Kinder, die sich im Netz auskannten, sahen und hörten Dinge,
die einem Erwachsenen entgingen, und Gridley wollte alle
Möglichkeiten nutzen. Es ging darum, das Problem zu lösen, nicht
um persönlichen Ehrgeiz.
Er setzte den Blinker und bog in die Ausfahrt ein. Wenn die
Entwicklung in dieser Geschwindigkeit fortgesetzt werden könnte,
würde das, was er im Netz trieb, so überholt sein wie in Stein
gegrabene Runen, wenn Tyrone erst einmal sein Alter erreicht
hatte.
105
12
Sonntag, 29. September, 22 Uhr 45
Washington, D.C.
Es war ein ruhiger Sonntag abend. Die Herbstluft war immer
noch warm und feuchtschwül. Bis auf ein Licht, das in einem
Schlafzimmer im ersten Stock brannte, herrschte in Alexander
Michaels' Haus Dunkelheit. Ein beiger Regie rungswagen mit
schwarzen Reifen, in dem zwei FBI-Beamte saßen, parkte auf der
dem Haus gegenüberliegenden Stra ßenseite. Die Männer
versuchten erst gar nicht, sich zu verstecken, und das war gut so.
Selbst wenn das Wort >Polizei< in roten Neonlettern auf dem
Dach des Fahrzeugs geblinkt hätte, wären sie kaum auffä lliger
gewesen.
Aus dem Autoradio drang leise Countrymusik, während die
beiden Beamten auf einem magnetischen Brett, das an der
Instrumententafel befestigt war, Schach spielten. Von Zeit zu Zeit
warf einer von ihnen einen Blick auf Michaels' Haus und
inspizierte die Straße hinsichtlich sich nähernder Fahrzeuge oder
Fußgänger.
Allzu belebt war die Gegend an einem Sonntag um diese Zeit
nicht. Die meisten Bewohner des Viertels mußten am Montag früh
aufstehen und zur Arbeit gehen und waren daher zu Hause, lasen
oder sahen fern, taten, was auch immer die obere Mittelschicht in
den eigenen vier Wänden treibt, wenn der nächste Tag ein
Arbeitstag ist.
Wie merkwürdig mußte es sein, jeden Tag aufzustehen, um ins
Büro zu gehen. Sie fragte sich, wie ein Mensch ein solches Leben
ertrug - eine Arbeit zu tun, die man haßte, für Menschen, die man
verabscheute. Wie konnte man sich selbst zu einem Leben ohne
Freude, ohne Leidenschaft, ohne wirkliche Befriedigung zwingen?
Millionen, ja Milliarden von Menschen brachten dies fertig, aber
es blieb ihr ein Rätsel, wie. Lieber wollte sie tot sein, als so dahin
zu vegetieren wie die meisten anderen. Wo lag der Sinn?
106
Der Wagen eines privaten Wachdienstes, an dessen Türen die
Logos von Mercury Protection Systems prangten, die sofortigen
Schutz durch bewaffnete Sicherheitskräfte versprachen, rollte
langsam die Straße hinunter. Der uniformierte Fahrer nickte den
beiden FBI-Beamten zu, als er sie passierte. Die Agenten
erwiderten den Gruß.
Eine ruhige Straße in einer Wohngegend. Alles wunderbar
durchschnittlich: Mami, Papi, zwei oder drei Bälger, Hund, Katze,
Hypothek, Friede, Freude, Eierkuchen. Nichts, was nicht
wohlgeordnet und trostlos langweilig gewesen wäre.
Nicht ganz. Etwas war nicht ganz so, wie es schien ...
Selkie schlenderte den Gehweg entlang, der zu Michaels' Haus
auf der westlichen Straßenseite führte. Im Moment befand sie sich
noch etwa achtzig Meter südlich davon. Den Wagen der Beamten
hatte sie bereits mit einem Fernglas von zwölffacher Vergrößerung
inspiziert. Das winzige Nachtteleskop gehörte zu den israelischen
HighTech-Elektronikartikeln, die im Werk von Bethlehem hergestellt wurden. Die Gläser waren so hervorragend, daß sie die
Schachspieler eingehend hatte studieren können, wogegen die sie
aus dieser Entfernung unmöglich entdecken konnten, wenn sie
nicht selbst zu einem Teleskop griffen.
Das Richtmikrofon in ihrer Handtasche stammte von Chang
BioMed in Beaverton, Oregon, einer hundertprozentigen
Motorola-Tochter, und war so leistungsfähig, daß sie schon aus
einer Entfernung von einhundert Metern die leise Country-Musik
aus dem Polizeiwagen vernommen hatte. Es war als Hörhilfe
getarnt, während das Teleskop wie eine kleine Haarspraydose
aussah. Nur bei einer eingehenden Überprüfung hätte man die
Geräte identifizieren können.
Nun, ob eingehend oder nicht, ihre Handtasche würde sie
ohnehin von niemandem untersuchen lassen.
Als sie sich bis auf fünfzig Meter genähert hatte, bemerkte sie,
wie die Agenten in ihre Richtung sahen und sich dann wieder auf
ihr Schachspiel konzentrierten: Am liebsten hätte sie gelächelt,
doch sie ließ sich nichts anmerken. Die beiden hatten sie gesehen
und als unwichtig abgetan.
Nicht ohne Grund. Den Beamten bot sich der Anblick einer
alten, gebeugten Frau, die mindestens siebzig war. Auf einen
107
Stock gestützt, humpelte sie langsam dahin, während ihr kleiner
champagnerfarbener Pudel, den sie an einer ausziehbaren Leine
führte, ein gutes Stück vor ihr hersprang und den gepflegten Rasen
des Seitenstreifens untersuchte.
Den Hund, einen hervorragend ausgebildeten, kastrierten
Rüden, hatte sie vom Not-The-Brothers-Zwinger im Norden des
Staates New York gemietet. Eintausend Dollar pro Woche kostete
das Vieh, aber es war jeden Penny wert.
Der Pudel schnüffelte an einer Zierkirsche, die direkt neben
dem Bürgersteig stand, hob das Bein und bewässerte den Stamm.
»Brav, Scout.« Es befand sich niemand in der Nähe, doch
jeder, der Selkies brüchige Stimme gehört hätte, hätte sie sofort als
alte Frau identifiziert, die in ihrem Leben zu hart gearbeitet und zu
viele Zigaretten geraucht hatte.
Sie trug ein knöchellanges Kleid aus bedruckter Baumwolle,
eine dünne Strickjacke und feste, bequeme Schnürschuhe über
schwarzen Kniestrümpfen. Das weiße Haar lockte sich zu einer
kräftigen Dauerwelle. Anderthalb Stunden hatte es gedauert,
Latexmaske und Make-up aufzulegen, aber dafür wirkte es selbst
am hellichten Tag aus einer Entfernung von einem Meter noch
echt. Das Gehen bereitete ihr offenbar Schmerzen - ihre rechte
Hüfte taugte nicht mehr viel -, aber für ihren braven Scout nahm
sie diese Mühsal auf sich, damit er an jedem Baum und Busch
herumschnüffeln und die Geruchsmarken seiner Vorgänger
auslöschen konnte.
Ihr war heiß, ihr Gesicht juckte, und der Gestank nach Latex
und Gesichtspuder war kaum zu ertragen, aber das ließ sich nicht
ändern.
Selkie war vollkommen klar, was ein Beobachter in ihr sehen
mußte: eine arthritische Großmutter, die ihr Schoßhündchen
spazierenführte, bevor sie zu Bett ging. Ihr Heim befand sich nur
drei Blocks von hier entfernt. Sie hatte die Wohnung etwas
überstürzt gemietet, sich dabei aber ihrer aktuellen Verkleidung
bedient. Wenn man sie anhielt -was höchst unwahrscheinlich war
-, besaß sie eine Adresse, die ihre Anwesenheit rechtfertigte. Ihr
Stammbaum war besser als der des Hundes. Mrs. Phyllis
Markham, Rentnerin, war einundvierzig Jahre lang als
Buchhalterin für die Regierung des Staates New York in dessen
108
Hauptstadt Albany tätig gewesen. Letzten Oktober war ihr Gatte
Raymond verschieden. Daraufhin war Phyllis nach Washington
gezogen, wo sie in ihrer Freizeit die heißgeliebten Museen
besuchte. Kennen Sie die neue russische Raumkapsel im >Air and
Space<? Oder den grauen Tucker aus dem Jahre 1948, der bei
irgendeinem Drogenhändler beschlagnahmt wurde?
Mrs. Markhams Tochter Sarah lebte in Philadelphia, ihr Sohn
Bruce war Geschäftsführer bei einem Dodge-Händler in Denver.
Ihre Biografie war perfekt, jede EDV-Überprü fung würde ihre
Geschichte bestätigen. Mit monotoner, heiserer Stimme würde sie
ihr Gegenüber mit ihrem Le benslauf zu Tode langweilen. Waffen,
die sie hätten verraten können, trug sie nicht bei sich, wenn man
von den getarnten Elektronikgeräten absah, die niemand erkennen
würde.
Abgesehen von dem etwa einen Meter langen, handgearbeiteten Stock, auf den sie sich scheinbar stützte und der aus
glatt poliertem und liebevoll eingeöltem Hickoryholz bestand.
Cane Masters, eine kleine Firma in Incline Village in Nevada, war
der Hersteller, ein Unternehmen, das sich auf die legale Produktion
von Waffen für Kampfsportarten spezialisiert hatte. Ein Experte und das war Selkie -konnte jemanden durch gezielte Schläge mit
einem solchen Spazierstock in eine tote Masse verwandeln, ohne
auch nur ins Schwitzen zu geraten:
Ein Gangster, der zu dem Schluß kam, diese müde, hilflose alte
Oma sei ein leichtes Opfer, beging einen schweren Fehler, der
tödlich sein konnte, wenn sie es wollte.
Als sie das Haus ihrer Zielperson passiert hatte, flüsterte sie so
laut, daß zwar der Hund, nicht aber die Agenten es hören konnten:
»Scout, absetzen.«
Der kleine Pudel war wirklich hervorrragend ausgebildet. Er
blieb stehen, hockte sich hin und hinterließ ein kleines Häufchen
auf dem Gras neben dem Bürgersteig. Mühselig ging die alte
Dame halb in die Hocke und sammelte die Hinterlassenschaft in
einem eigens dafür bestimmten kleinen Behälter aus Karton und
Plastik auf. »Braver Scout!« Diesmal sprach sie so laut, daß auch
die Beamten sie hören konnten. Dann schlurfte sie weiter, offenbar
ohne sich um die jungen Männer zu kümmern, die in dem Wagen
auf der anderen Straßenseite Schach spielten. Sie hätte wetten
109
können, daß sie vor sich hin grinsten. War es nicht witzig, wie
Omas kleiner Liebling den Rasen versaute?
Ob die Wachen ständig hier postiert waren, wußte sie nicht vermutlich nicht, aber das war nicht weiter wichtig. Zwei Männer
in einem parkenden Wagen stellten keine besondere Bedrohung
dar, vor allem deshalb nicht, weil sie genau den Eindruck von ihr
gewonnen hatten, den sie vermitteln wollte. Morgen früh würde
man sie erneut hier antreffen, ebenso morgen abend; mindestens
die gesamte nächste Woche würde sie diesen Rhythmus einhalten,
bis Abend- und Nachtschicht sie als harmlos eingestuft hatten.
Mrs. Phyllis Markham, Rentnerin nach einundvierzig Jahren in der
Buchhaltung der Staatsregierung in Albany, war nur einer von
vielen unbemerkten Schatten, die im Leben der Zielperson
auftauchten. Dazu gehörte auch eine Zeitarbeiterin, die demnächst
ihre Tätigkeit im zivilen Verbindungsbüro der Marines in
Quantico aufnehmen würde. Der Taco-Tio-Imb ißwagen, an dem
einige FBI-Beamte aßen, würde eine neue Fahrerin bekommen.
Wenn nötig, standen ihr noch ein halbes Dutzend weitere
Möglichkeiten zur Verfügung. Wenn sie ihr Ziel noch eine Weile
beobachtet hatte, würde sie sich für die beste entscheiden.
Falls Phyllis Markham die Aufgabe übertragen wurde, die
Zielperson zu eliminieren, würde der Mann vermutlich innerhalb
der nächsten ein bis zwei Wochen aus ungeklärter Ursache
friedlich in seinem Bett sterben. Die alte Dame konnte nach
Erledigung des Auftrags um das Haus herumgehen und die
Beamten, die ihr Ziel bewachen sollten, passieren, ohne daß
jemand Verdacht schöpfte.
Bis man bemerkte, daß ihr Opfer tot war, befand sich der Pudel
wieder in seinem Zwinger im Norden des Staates New York, und
die alte Dame gab es nicht mehr.
»Laß uns um den Block gehen, und dann ab nach Hause, Scout,
was meinst du?«
Der Zwergpudel wedelte mit dem Schwanz. Was für ein nettes
Tier! Wie hieß es auf dem T-Shirt? Je besser man die Menschen
kennenlernte, desto mehr schätzte man Hunde ...
110
Montag, 20. September, 8 Uhr 17
Kiew
Colonel Howard hatte gerade sein H & K-Sturmgewehr
auseinandergenommen und wieder zusammengebaut. Für eine
Waffe dieser Größe war das Gewehr höchst beeindruckend: Es
verschoß
mit
gewaltigem
Lärm
vollautoma tisch
7,62mm-Nato-Munition. Die Hülsen wurden mit solcher Wucht
herausgeschleudert, daß jeder, der sich in einer Entfernung von
zehn bis zwanzig Metern rechts hinter dem Schützen aufhielt, es
riskierte, durch eine rotierende Hülse ein Auge zu verlieren.
Manchmal flogen sie so schnell, daß ein Pfeifen zu vernehmen
war, wenn sie durch die Luft schnitten.
Howard wischte das überschüssige Trockenfett von der Waffe
und legte sie auf den Tisch zurück. Vielleicht sollte er auch seine
Faustfeuerwaffe reinigen?
Er zog die Smith & Wesson 66 aus dem Holster und betrachtete sie. Der sechsschüssige .357er-Revolver aus rostfreiem
Stahl besaß einen 4-Zoll-Lauf und einen speziell für ihn
angefertigten Craig-Spegel-Griff aus Holz. Den Vorschriften für
die Zweitwaffe entsprach er nicht so recht -die meisten Teams
verwendeten taktische H & K-USP-Pistolen aus besonders
widerstandsfähigem Kunststoff, die mit Laserzielgeräten und
Schalldämpfern ausgestattet waren. Ihre Magazine enthielten mehr
als doppelt so viele Patronen wie der alte Trommelrevolver. Aber
die Smith & Wesson war ein Talisman, dem er vertraute. An
einem guten Tag traf er damit ein Ziel in Menschengröße aus einhundert Meter Entfernung. Außerdem kam es nie zu Ladehemmungen, wie es bei automatischen Waffen manchmal der Fall
war. Er entriegelte die Trommel und überprüfte die Kammern.
»Wenn Sie so weiterputzen, können Sie damit steril operieren,
Sir.«
Er sah Fernandez an. »Wissen Sie, ein weniger nachsichtiger
Vorgesetzter hätte Sie schon vor Jahren auf Nimmerwiedersehen
im Knast verschwinden lassen.«
»Ja, Sir. Ihre Geduld ehrt Sie.«
Howard schüttelte den Kopf.
111
»Null-acht-eins-acht, Sir.«
Der Commander zog die Brauen hoch. »Ich hatte nicht die
Absicht, nach der Uhrzeit zu fragen, Sergeant.«
»Nein, Sir. Selbstverständlich nicht, Sir.«
Howard grinste erneut, während er die Trommel seines
Revolvers einrasten ließ und die Waffe ins Holster schob. Nun gut,
er war nervös. Sie hatten einen Hinweis auf einen Ort erhalten, an
dem sich um 11 Uhr 30 die Führer der Gruppe versammeln
wollten. Es war der Soldatin gelungen, den Betrunkenen in einen
leeren Raum zu schleppen, in dem er längst nicht so viel Spaß
hatte, wie er gehofft hatte. Es war relativ leicht gewesen, die
Information aus ihm herauszubekommen.
Das hieß, daß Howard und seine Leute eine Stunde eher vor
Ort sein mußten, nämlich bis 10 Uhr 30. Bis zu den Lagerhäusern,
wo das Treffen stattfinden sollte, fuhr man zwanzig Minuten.
Wenn sie die doppelte Zeit einrechneten - falls es einen Stau gab plus einer halben Stunde für Faktor X, dann mußten sie um
null-neun-hundert aufbrechen. Die meisten seiner Leute hatten sich
bereits am Ausgangspunkt außerhalb des Botschaftsgeländes
versammelt.
Damit blieben mindestens vierzig Minuten, bevor sie in Aktion
traten.
Die Zeit glich einer klebrigen Masse. Zäh zogen sich die
Minuten dahin.
Glücklicherweise würde Howards Anwesenheit kein Problem
darstellen. Ein Bus stand zur Verfügung, wie ihn die Arbeiter im
Pendelverkehr zu den Industrieanlagen der Gegend benutzten. Er
würde das Gelände gemeinsam mit Fernandez in einer Limousine
verlassen, und der Bus würde ihn dann aufsammeln. Er konnte am
Gang sitzen, wo man ihn von außen nicht bemerken würde, selbst
wenn jemand einen Blick durch die Scheibe warf. Nachdem alle
etwa fünfundzwanzig Passagiere für ihn arbeiteten, war das
Problem damit gelöst. Die Kampfausrüstung wartete an Bord des
Busses auf sie. Während der Fahrt würden seine Soldaten zivile
Overalls tragen und damit nicht von Bauarbeitern zu unterscheiden
sein, die sich zu ihrer Arbeitsstelle im Lagerhausbezirk am Fluß
begaben. Theoretisch dürfte es keine Probleme geben. CIA-Chef
Hunter hatte die festgelegte Route geplant, die örtliche Polizei war
112
angewiesen, sie zu ignorieren. Eigentlich sollte alles wie am
Schnürchen laufen.
Für Howards Nervosität gab es deshalb eigentlich keinen
Grund, aber das war ihm egal. Zweimal war er bereits auf der
Toilette gewesen, und ein dritter Besuch schien mehr als
wahrscheinlich. Allein bei dem Gedanken an Nahrung wurde ihm
flau im Magen. Er war ganz zittrig von dem Kaffee, den er
getrunken hatte. Auch wenn keine große Schlacht im Dschungel
bevorstand, würden vermutlich Kugeln fliegen und Menschen
sterben. Die Verantwortung dafür lag allein bei ihm, und er wollte
die Sache auf keinen Fall verderben.
»Null-acht-zwei-zwei, Sir.«
Diesmal verzichtete Howard darauf, seinen Sergeant
zurechtzuweisen. Sie kannten einander zu gut. Er nickte, griff nach
einem der H & K-Magazine und überprüfte es. Zu voll durfte es
nicht sein, sonst verklemmt en sich die Patronen, was eine
Katastrophe gewesen wäre. Allerdings hatte er sie schon zweimal
gezählt, und es war unwahrscheinlich, daß sich seit dem letztenmal
etwas verändert hatte.
Er fühlte sich wie auf dem Behandlungsstuhl eines Zahnarztes.
Die Zeit schien stehengeblieben zu sein.
113
13
Montag, 20. September, 9 Uhr
Grosny, Tschetschenien
Wladimir Plechanow saß auf einem bemoosten Felsen unter
einem alten Baum, trank kühles Wasser aus einer Feldflasche und
genoß die Morgensonne, die in einem schrägen Strahl durch das
dichte Dach der Fichten fiel. Tief atmend, nahm er den
durchdringenden Geruch in sich auf, den der Saft der immergrünen
Bäume verströmte. Ameisen liefen am Stamm der Douglasfichte
auf und ab, eifrig bemüht, die kleisterähnliche Ausscheidung zu
vermeiden. Eines der Insekten wagte sich zu nah heran und blieb
im Harz kleben.
Während er das verzweifelt um seine Freiheit kämpfende Tier
beobachtete, sann Plechanow darüber nach, daß in ein paar
Millionen Jahren möglicherweise ein menschenähnliches Wesen
ein Stück Bernstein finden würde, in das eine Ameise
eingeschlossen war. Man würde sich fragen, wie das Tier
dorthingelangt war.
Mit einem Lächeln beugte er sich vor und befreite die
Gefangene vorsichtig mit dem Fingernagel, woraufhin sie eilig
entschwand. Was dachte diese Ameise wohl - falls sie überhaupt
denken konnte -, was hielt sie von dem riesigen Finger, der aus
dem Nichts aufgetaucht war, um ihr das Leben zu retten? Würde
sie ihren Freunden von der Hand eines riesigen Gottes erzählen,
die plötzlich aufgetaucht war, um sie aus einer tödlichen Falle zu
befreien?
Die Ankunft des Ukrainers riß ihn aus den Gedanken. Der
Mann trug eine kurze Wanderhose, Stiefel und ein enges T-Shirt,
wirkte sportlich und war muskulös. Auf dem weichen Boden
waren seine Schritte nicht zu vernehmen, doch seine Bewegungen
wirkten unbehaglich. Als er Plechanow erblickte, nickte er.
»Ich grüße Sie«, sagte er auf russisch.
114
Der Ältere erwiderte daraufhin den Gruß in der gleichen
Sprache.
Der Ukrainer blieb neben Plechanows Felsen stehen und
blickte sich um. »Interessante Bilder.«
Plechanow schraubte die Wasserflasche wieder zu und
verstaute sie erneut im Rucksack, der auf dem Felsen neben ihm
lag. »Ich verbringe schon in der Wirklichkeit genug Zeit in der
Zivilisation, warum sollte ich sie mit in die virtuelle Realität
nehmen?«
»Ein bißchen zu ruhig für meinen Geschmack«, erklärte der
Ukrainer. »Aber jeder nach seinem Gusto.«
»Setzen Sie sich.«
Der Ukrainer schüttelte den Kopf. »Ich muß gleich zu rück.«
Plechanow zuckte die Achseln. »Haben Sie Neuigkeiten für
mich?«
»Die Amerikaner haben den Schlupfwinkel der Terroristen
entdeckt, die den Angriff auf die Botschaft in Kyyiv geplant
haben, und werden demnächst ganz sicher reagie ren.«
Plechanow betrachtete die den Stamm entlangeilenden
Ameisen. »Hat auch lange genug gedauert. Vielleicht sollten
unsere Hinweise in. Zukunft weniger diskret ausfallen.«
Jetzt war es an dem Ukrainer, die Achseln zu zucken. »Ich
verstehe nicht, warum wir den Angriff nicht zugelas sen haben.«
Plechanow lächelte breit. »Weil es doch völlig sinnlos ist, ein
so solides ukrainisches Gebäude zu beschädigen. Warum sollten
wir Ihre Staatsfinanzen durch die Reparatur unnötig strapazieren?
Warum eigentlich das Risiko ein gehen, daß unbeteiligte
Landsleute von Ihnen ums Leben kommen?«
»Die Verschwörer gehören ebenfalls zu meinen Landsleuten.«
»Aber man kann sie kaum unbeteiligt nennen. Diese Fanatiker
sind eine bis zum Platzen mit Sprengstoff gefüllte Zeitbombe, die
früher oder später hochgegangen wäre und in ihrer Umgebung
ebensoviel Schaden angerichtet hätte wie an ihrem eigentlichen
Ziel. Solche Faktoren müssen aus dem Weg geräumt werden, und
das werden die Ame rikaner für uns übernehmen. Ihre Zeit und ihr
Geld sind für die Aufdeckung der Verschwörung draufgegangen.
Außerdem hat sie die Sache nervös gemacht. Um ähnliche Vorfälle
zu vermeiden, werden sie noch mehr Zeit und Geld für den Schutz
115
ihrer Botschaften aufwenden. Das heißt, wir schlagen mehrere
Fliegen mit einer Klappe, mein Freund. Spielen Sie noch Billard?«
»Da.«
»Dann wissen Sie ja, daß es wenig bedeutet, wenn man einen
einzelnen Ball einlocht, besonders, wenn dies zu einem frühen
Zeitpunkt des Spiels geschieht. Es sei denn, man verschafft sich
dadurch eine günstige Position für den nächsten Schuß.«
»Das ist richtig.«
»Wenn wir das Spiel gewinnen wollen, müssen wir bei jedem
neuen Zug unsere nächste Position im Auge behalten.«
Der Ukrainer verneigte sich leicht - eine militärische Bewegung, an der fast nur der Kopf beteiligt war. »Wie immer haben
Sie recht, Wladimir.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muß
zurück.«
Plechanow hob eine Hand und wies auf den Pfad. »Bit te. Es
war mir eine Freude, Sie zu treffen.«
»Ich melde mich später.«
»Das ist nicht erforderlich, aber ich danke Ihnen trotzdem.«
Nachdem der Ukrainer verschwunden war, betrachtete
Plechanow eine Weile die Ameisen, dann sah er auf seine Uhr. Es
blieb ihm noch Zeit, bevor er zurück mußte. Vielleicht sollte er
sich einen kurzen Spaziergang auf dem Seitenpfad gönnen, der ihn
schon immer interessiert hatte? Ja, warum nicht. Die Dinge liefen
in der Tat besser als im günstigsten Szenario, das er sich ausgemalt
hatte.
Montag, 20. September, 7 Uhr
Washington, D.C.
Alexander Michaels saß im Heck des Hausbootes und beobachtete einen braunen Pelikan, der nach Fischen tauchte. Soweit
er wußte, lebten Pelikane im Salzwasser, aber er mochte diese
Vögel und hatte sie daher in sein Szenario aufgenommen. Er trieb
auf einem Fluß im südlichen Lousiana, besser gesagt auf dem
116
breiten Bayou, dessen bräunliches Wasser träge auf den Golf von
Mexiko zuströmte, der unsichtbar in der Ferne lag. Ein kleines,
flaches Boot aus grün eloxiertem Aluminium näherte sich aus
einem Seitenkanal und vertrieb mit seinem durchdringend dröhnenden Außenbordmotor den tauchenden Pelikan. Michaels erhob
sich und lehnte sich gegen die Reling, um die Ankunft des Bootes
abzuwarten.
Im Heck des stumpfnasigen Bootes, eine Hand am Steuerhebel
des Motors, saß Jay Gridley. Er drosselte die Kraft stoffzufuhr, bis
der Motor spuckend und gurgelnd zum Stehen kam und ließ das
kleine Boot herumschwingen, so daß es langsam seitlich gegen das
Heck des Hausbootes trieb. Metall rieb gegen Glasfiber, während
Gridley Michaels ein Nylonseil zuwarf, der es auffing und an
einem Messingbeschlag unterhalb der Reling befestigte, woraufhin
Gridley die kurze Leiter zum Hausboot langsam hinaufkletterte.
»Bitte an Bord kommen zu dürfen, Käpt'n.«
»Erlaubnis erteilt.« Michaels schüttelte belustigt den Kopf.
Oben auf dem Deck sah sich der junge Mann prüfend um.
»Merkwürdig, ich hätte Sie eigentlich in Ihrem Prowler vermutet.«
Michaels zuckte die Achseln. »Das würde mir in der Realität
den Spaß verderben. Dort würde der Wagen niemals so gut laufen
wie hier.«
»Stimmt auch wieder. Auf jeden Fall ist die Szenerie nicht
übel. Ein kommerzielles Programm?«
»Ja.« Es bereitete Michaels ein gewisses Unbehagen, das
zuzugeben, aber die virtuelle Realität an sich hatte ihn nie
besonders fasziniert, obwohl er als Computerexperte sehr wohl in
der Lage gewesen wäre, selbst ein Programm zu schreiben.
Natürlich war es interessanter, auf dem Deck eines großen
Hausbootes unter moosbewachsenen Zypressen dahinzutreiben, als
Befehle über eine Tastatur einzugeben. Seine Leidenschaft war die
virtuelle Realität dennoch nicht, ungeachtet der Position, die er bei
der Net Force innehatte. Diese Gleichgültigkeit mochte
merkwürdig wirken, aber er sah sich als Handwerker, der sein
Werkzeug schließlich auch nicht liebte. Man bediente sich eines
Hammers oder einer Säge, um die Arbeit zu erledigen, und damit
basta. In seiner kargen Freizeit beschäftigte er sich daher kaum mit
dem Netz.
117
Mit der Hand deutete er auf einen Liegestuhl. »Nehmen Sie
Platz.«
»Danke.«
»Bis jetzt sind alle Nachforschungen im Sande verlaufen«,
erklärte Jay, als er sich niedergelassen hatte. »Die Hinweise führen
in alle möglichen Richtungen. Hochinteressante Sache.«
»Was heißt das im Klartext?«
»Das heißt, daß es mehr als eine Quelle gibt. Wir haben es
nicht mit einem Solisten zu tun, wie ursprünglich angenommen,
sondern mit einem ganzen Orchester. Im Gegensatz zu den
Initiatoren sind die Firewalls, auf die wir gestoßen sind, jedoch
überall identisch.«
Michaels verstand genug von Computern, um zu wis sen, was
das bedeutete. »Wir haben es also mit einem ein zelnen
Programmierer beziehungsweise einem Team zu tun, dessen
Software weit verbreitet ist.«
»Richtig.« Jay blickte zu einer riesigen Eiche hinauf, deren
Zweige bis tief über den Bayou herabhingen. Auf einem
gewaltigen Zweig räkelte sich eine rotbraune Königsschlange.
»Muß man hier übrigens auf Südstaatenakzent umschalten?«
Michaels grinste. »Kennen Sie den Stil des Programmie rers?«
»Nein. Bei den Firewalls handelt es sich um kommerzielle
Standardsoftware, die jeder installieren könnte, aber die Wege
dorthin ähneln sich bei aller Unterschiedlichkeit auf gewisse
Weise. Irgendwie schwingen sie im gleichen Rhythmus. Wir
haben es mit einem einzigen Dirigenten zu tun, der das Orchester
leitet, da würde ich mein Gehalt darauf verwetten.«
»Keine große Überraschung.«
Vor dem treibenden Boot tauchte an beiden Ufern des Bayou
eine kleine Stadt auf, deren Hälften durch eine Zugbrücke
verbunden waren. Weiter flußabwärts stapften zwei verwittert
aussehende Krabbenfischer gegen die träge Strömung auf die
Brücke zu, die sich mit einem warnenden Hupton zu heben
begann. Zu beiden Seiten der unterbrochenen Straße staute sich der
Verkehr hinter rot-weiß gestreiften Schranken.
Michaels erhob sich und ging zum Führerhaus an der
Backbordseite des Hausbootes . Er warf die Maschinen an, winkte
118
dem Brückenwart zu und beschleunigte die Fahrt, wobei er auf das
Ufer zuhielt, um den sich nähernden Fischkuttern auszuweichen.
»Die Brücken in diesem Szenario sind wohl etwas niedrig«,
meinte Jay, der hinter ihm stand.
»Das gilt nicht uns, sondern den Krabbenfischern.«
In Wirklichkeit ging es um die Umleitung eines mehrere
Gigabyte umfassenden Datenstromes von einem Knoten auf einen
anderen Server. Dieser Vorgang wurde notwendig, wenn große
Datenmengen gleichzeitig ohne Unterbrechung übertragen werden
mußten. Die Zugbrücke war ein anschauliches Bild dafür.
Als sie sich weit genug von Brücke und Fischkutter entfernt
hatten, steuerte Michaels das Hausboot wieder in die Mitte des
Bayou und stellte die Maschinen ab, so daß sie erneut
dahintrieben. Dann kehrte er zum Heck zurück. Normalerweise
hätte er sich stärker auf den Kanal konzentriert, in dem er sich
aufhielt, aber er hatte dieses Szenario zum Teil deshalb gewählt,
weil die breite, gerade Wasserstraße nicht seine volle
Aufmerksamkeit verlangte.
»Wir überprüfen die Handschrift auf Ähnlichkeiten, aber es
gibt Hunderttausende von professionellen Programmierern«,
erklärte Gridley.
»Vorausgesetzt, es handelt sich überhaupt um einen Profi und
nicht um einen besonders talentierten Amateur«, gab Michaels zu
bedenken.
Gridley schüttelte den Kopf. »Der Kerl ist zu gut, als daß es
sich um ein Kind oder jemanden handeln könnte, der nur
herumspielt.«
»Klingt einleuchtend. Halten Sie die Augen weiter offen. Gibt
es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«
»Nichts von Bedeutung. Unsere Leute halten überall nach
weiteren Problemen Ausschau. Kennen Sie Tyrone Howard?«
»Den Sohn des Colonel?«
»Ja. Ich habe über Netmail mit ihm gesprochen. Er wird sich
bei seinen Freunden erkundigen, ob ihnen etwas aufgefallen ist.
Die Jungs treiben sich viel im Netz herum, sie wollen sogar
CyberNation überprüfen.«
»CyberNation?«
119
»Ein neuer Ort in der virtuellen Realität. Angeblich ein ganzes
Online-Land.«
»Interessant. Gibt es Anlaß zur Beunruhigung?«
»Vielleicht irgendwann einmal, aber ich glaube nicht, daß es
etwas mit unserem aktuellen Problem zu tun hat. CyberNation hat
mit Sicherheit nicht den Commander aus dem Weg geräumt, und
ich glaube auch nicht, daß diese Leute etwas mit der Sabotage im
Netz zu tun haben.«
»Wie gehen wir also weiter vor?«
»Wenn der Bursche seine Methode nicht ändert, dürften wir
ihn ziemlich schnell erwischen.«
»Rechnen Sie damit?«
»Nein. Mich würden sie nicht kriegen - und dieser Kerl ist fast
so gut wie ich.«
Michaels lachte.
»Es ist schwer, bescheiden zu sein, wenn man ein Genie ist«,
erklärte Gridley und blickte auf die Uhr. »Oh. Ich ma che mich
besser auf die Socken, in einer halben Stunde findet eine virtuelle
Personalversammlung statt. Mit diesem Gefährt hier brauche ich
wahrscheinlich doppelt so lange wie sonst.« Er deutete auf das
grüne Boot, wies dann je doch mit dem Kopf auf das Ufer des
Bayou. »Glücklicherweise habe ich als denkender Mensch mein
Auto hinter der nächsten Biegung abgestellt.«
Michaels löste die Leine, während Gridley in das Boot
hinunterstieg und den Außenbordmotor anließ.
»Bye-bye, Louisiana!« brüllte er dabei.
Alex blickte dem jungen Computergenie nach, während
Gridley auf das nächstgelegene Ufer zufuhr, wo an einem kleinen
Steg ein rotes Viper-Cabriolet parkte. Am Steg angekommen, legte
er die Leine um einen Poller. Dann kletterte er aus dem Boot,
wandte sich um, winkte in Richtung Hausboot und ging zu seinem
Wagen.
120
Montag, 20. September, 11 Uhr 50
Kiew
Um 11 Uhr 30 sollte das Treffen der Terroristen planmäßig
beginnen, doch Howard hatte zwanzig Minuten Spielraum
gelassen, falls jemand zu spät kam. Diese Spanne war verstrichen.
Achtzehn Männer und drei Frauen hielten sich in dem Lagerhaus
auf. Keiner von ihnen hatte offen eine Waffe getragen. Mehrere
waren in lange Mäntel gehüllt, und mindestens drei schleppten
Koffer für Musikinstrumente mit sich. Der Form nach handelte es
sich dabei um ein Cello, einen Kontrabaß und ein großes
Blasinstrument, vermutlich eine Tuba.
Howard wäre allerdings höchst überrascht gewesen, wenn
diese Koffer tatsächlich etwas enthielten, womit sich ein Musiker
auf der Bühne zeigen würde. Wahrscheinlicher war, daß sich
Pistolen, Sturmgewehre und ein Granatwerfer, vielleicht sogar ein
paar Granaten oder anderer Sprengstoff darin befanden. Da der
Angriff auf die Botschaft von diesem Areal aus erfolgen sollte,
war es gut möglich, daß in dem Gebäude bereits vor der Ankunft
der Terroristen andere Waffen deponiert worden waren.
Die Terroristen hielten sich in einem Büro im zweiten Stock
eines kleinen und ansonsten offenbar leerstehenden zweistöckigen
Lagerhauses auf. Mit Ausnahme einer Wache befand sich niemand
im Erdgeschoß. Howards Aufklärungsteam, das von Fernandez
geleitet wurde, hatte bei seiner Ankunft eine kurze Überprüfung
vorgenommen und den Mann hinter der großen Rolltür aus Metall
an der Südseite des Gebäudes entdeckt. Es wäre möglich gewesen,
unbemerkt durch einen anderen Eingang in das Lagerhaus zu
gelangen und dort Überwachungsgeräte zu installieren, aber
Howard wollte das Risiko nicht eingehen. Vielleicht hatten diese
Fanatiker Warnvorrichtungen angebracht. Auf keinen Fall wollte
er vorzeitig Alarm auslösen und sie verscheuchen.
Statt dessen hatte sein Team außerhalb des Gebäudes Kameras,
Bewegungsmelder, Parabölantennen sowie digitale Funk- und
Infrarotscanner installiert. Jeder der Ankömmlinge war beim
Betreten des Lagerhauses fotografiert worden. Die Aufnahmen
121
waren so scharf, daß eine Identifizierung möglich sein würde, falls
einer der Beteilig ten entkäme.
Das war allerdings höchst unwahrscheinlich.
Die Versuchung war groß, seine Leute die obere Tür eintreten,
ein paar Leuchtgranaten werfen und jeden erledigen zu lassen, der
nicht geblendet war, aus den Ohren blutete und außerdem noch
dumm genug war, nach der Waffe zu greifen. Aber das kam nicht
in Frage. Statt dessen hatte er seine Leute rund um das Lagerhaus
postiert, so daß sie sämtliche Fluchtwege kontrollierten. Wenn
möglich, wollte er jede Schießerei auf offener Straße vermeiden.
Doch wenn es notwendig werden sollte, war er auch dazu bereit.
Bis jetzt war es bei der einen Wache geblieben, die den
einzigen unverschlossenen Zugang zum Gebäude kontrollierte.
»Sarge.«
»Sir. «
»Glauben Sie, jemand von diesen Trampeln wäre in der Lage,
den Posten auszuschalten, ohne die Toten zu wecken?« Eine
rhetorische Frage - Howard wußte bereits, wem diese Aufgabe
oblag.
»Nun ja, Sir, ich halte das nicht für ausgeschlossen.«
»Dann sorgen Sie dafür, daß es geschieht, Sergeant
Fernandez.«
»Bin schon unterwegs, Sir.«
»Sie? Sie wollen das übernehmen? Ein mottenzerfressener,
müder alter Mann wie Sie?«
Die beiden grinsten sich an.
Von seinem Aussichtspunkt in dem Gebäude, das dem
südlichen Eingang direkt gegenüber lag, beobachtete Howard, wie
Fernandez sich der geschlossenen Rolltür näherte. Er trug keinerlei
sichtbare Waffen, nur einen schmierigen dunklen Overall, einen
zerbeulten gelben Helm und einen alten Essensträger aus Metall,
den er offenbar irgendwo hatte mitgehen lassen.
Die Parabolantennen übertrugen sein Pfeifen, als er sich der
Tür näherte. Hörte sich an wie ein Stück aus >Schwanensee<. Wie
nett.
Mit der freien Hand hämmerte Fernandez gegen die Tür.
Nach einem Augenblick klopfte er erneut, worauf die Tür bis
auf Mannshöhe emporrollte. Der unbewaffnete Po sten trat heraus
122
und ratterte Worte herunter, die Howard nicht verstand. Sein Ton
wirkte fragend und leicht gereizt.
Fernandez' Erwiderung klang vertraut.
Howard grinste. Wenn er sich nicht täuschte, hatte Fernandez
den Posten soeben gefragt, wo sich die Herrentoilette befinde.
Bevor der andere antworten konnte, sagte er einige weitere Worte,
wobei er an dem Posten vorbeideutete. Verwirrt wandte sich der
Mann um und blickte in die Richtung, in die der Sergeant
gewiesen hatte.
Ein taktischer Fehler, dieser Blick.
Fernandez holte mit dem Essensträger aus und traf den Posten
an der rechten Schläfe, der daraufhin zu Boden ging, als hätte man
ihm die Beine weggezogen. Eilig setzte der Sergeant den
Essensträger ab, packte den offenbar bewußtlosen Mann und zog
ihn ins Innere des Lagerhauses. Einen Augenblick später tauchte er
wieder auf und gab mit der Hand das Zeichen, das alles in
Ordnung war.
»A- und B-Team, vorwärts!« sagte Howard in seine taktische
LOSIR-Kommunikationseinheit. Dann griff er nach seinem
Sturmgewehr und sprintete zur Tür.
123
14
Montag, 20. September, 11 Uhr 53
Kiew
Seit dem Zeitpunkt, als Julio Fernandez den Posten ausgeschaltet hatte, waren noch keine fünfundvierzig Sekunden
vergangen, doch die beiden Sturmteams hatten bereits ihre
Positionen innerhalb des Lagerhauses bezogen. Alles war
reibungslos verlaufen.
Jetzt hieß es warten.
Es gab einen Aufzug, doch der entsprechende Stromkreisunterbrecher war betätigt worden, so daß sich der Lift nicht
von der Stelle rühren würde. Der ein zige Weg vom zweiten Stock
nach unten führte über zwei Treppenhäuser. Die Ausgangstür zu
dem einen wurde von außen durch ein Vorhängeschloß versperrt,
was im Falle eines Feuers katastrophale Folgen haben konnte.
Trotzdem ließ Howard zwei Männer zurück, die diese Tür
überwachen sollten, während andere von außen die Fenster
kontrollierten.
Das zweite Treppenhaus war breit und leicht zugänglich, die
Tür unversperrt. Auf diesem Weg waren sie hereingekommen, so
würden sie das Gebäude auch wieder verlassen wollen.
Howard postierte seine Leute so, daß sie vom Fuß der Treppe
aus nicht zu sehen waren. Niemand durfte sich zeigen, bevor er
nicht den Befehl dazu gab.
Fast hätte er selbst den Overall der bewußtlosen Wache
angelegt und sich am Haupteingang aufgestellt, wenn ihn nicht der
Sergeant daran erinnert hätte, daß diese Verkleidung höchst
unzureichend wäre, falls die Terroristen nicht unter
Farbenblindheit litten ...
»Ist ja gut, dann übernehmen Sie das eben. Was war übrigens
in dem Essensträger, mit dem Sie den Burschen erledigt haben?«
»Fünf Kilo Bleischrot, Sir, in einem netten, kleinen Ledersäckchen. Manchmal sind einfache Mittel am wirksamsten.«
124
Fernandez also zog den Overall des Postens über. Er sorgte
dafür, daß sein Gesicht im Schatten blieb. Wenn die Terroristen
aufbrachen, würde es so aussehen, als wäre unten alles in
Ordnung.
Hinter einem großen Stapel Holzkisten hatte Howard ein
Versteck gefunden, von wo aus er durch eine Lücke das untere
Ende der Treppe beobachten konnte. Der strenge Geruch des
unbehandelten Fichtenholzes und des Schmieröls, mit dem man
die Maschinenteile in den Kisten gefettet hatte, mischte sich mit
dem Geruch seines Nervositätsschweißes.
Sobald die Verschwörer das Erdgeschoß erreicht hätten,
würden sie losschlagen. Da sich die Feinde auf dem Weg ins Freie
befanden, war kaum zu erwarten, daß sie ihre Waffen offen trugen,
und wenn sie nicht übermenschlich schnell waren, bliebe ihnen
keine Zeit, sie zu ziehen. Sie sähen sicher bald ein, daß sie in der
Falle saßen und Widerstand zwecklos war. Zumindest hoffte
Howard das. Am besten wäre es, sie bekämen alle lebend. Die
Verhörspezia listen würden sie ohnehin erledigen.
Russische oder ukrainische Worte drangen von oben zu ihm
herunter, Stiefel stampften heran. Es war so weit. Er holte tief
Luft.
Versau die Sache bloß nicht, John ...
Montag, 20. September, 1 Uhr 53
San Diego
Rushjo setzte sich kerzengerade in seinem Bett auf. Sein Herz
klopfte wild. Obwohl das Motel klimatisiert war, fühlte sich seine
Haut feucht an vom Schweiß. Die Decke hatte sich in einem
dicken Knoten um seine Füße geschlungen.
Er stieß sie beiseite, schwang die Beine über die Bettkante und
erhob sich. Bis auf einen dünnen Lichtstrahl, der durch die einen
Spaltbreit geöffnete Badezimmertür fiel, lag der Raum in völliger
Dunkelheit. Sich das feuchte Brusthaar kratzend, tappte er darauf
125
zu. Das Licht hatte er nicht aus Angst vor der Dunkelheit der
Nacht brennen lassen, sondern aus pragmatischen Überlegungen
heraus, denn häufig weckte ihn der Alptraum in Räumen, in denen
er nie zuvor geschlafen hatte. Dann eine Lampe anzuschalten,
deren grelles Licht ihm den Weg zur Toilette wies, schien ihm ...
übertrieben. In den Jahren, die er in billigen Räumen verbracht
hatte, stets aufbruchbereit, hatte er seine Lektion gelernt: Ließ man
eine Lampe in der Nähe der Toilette brennen und schloß die Tür
bis auf einen Spalt, wußte man stets, daß man in der Nähe des
Lichts Erleichterung fände. Wäre er ein religiöser Mensch
gewesen, hätte er darin vielleicht eine mystische allegorische
Bedeutung entdeckt. Aber der Glaube an ein allmächtiges Wesen
exi stierte nicht in Rushjos Seele - wenn er denn so etwas wie eine
Seele hatte.
Kein Gott, der diesen Namen verdiente, hätte Anna so jung
sterben lassen.
Nicht nur über dem Waschbecken, sondern auch vor und neben
der Toilette waren Spiegel angebracht, was ihm völlig sinnlos
erschien. Wer wollte sich selbst schon beim Wasserlassen oder
beim Stuhlgang zusehen? Sein eigener Anblick überraschte ihn
immer wieder, gewöhnlich verbrachte er nicht viel Zeit damit, sich
selbst zu betrachten. Wenn man den Spiegeln Glauben schenken
wollte, war er ein durchtrainierter, aber nicht übertrieben
muskulöser Mann, der sein braunes Haar, das an den Schläfen
bereits ergraute, kurzgeschnitten trug. Er wirkte zumindest so alt
wie er war, nämlich vierzig, eher etwas älter. Selbst jetzt, vom
Schlaf getrübt, wirkten seine Augen eiskalt und wissend. Sehr
viele Menschen hatte er sterben sehen und zahlreiche Tode auch
selbst verursacht. Wenigstens arbeitete er schnell, er hielt nichts
davon, Verletzte lange leiden zu lassen.
Als Anna noch gelebt hatte, waren ihm solche Gedanken fremd
gewesen. Es hatte keine Notwendigkeit dafür bestanden,
tiefgründige Fragen hatte stets sie gestellt und häufig auch
beantwortet. Es hatte genügt, daß er ihr zuhörte, lä chelte und
nickte, wenn sie von solchen Dingen sprach. Für eine ganze Weile
nach ihrem Tod hatte er völlig in sich gekehrt gelebt, nur das
Notwendigste getan, um zu überle ben. Erinnerung, Denken,
Fühlen ließ er nicht zu. Erst als die Wunde sich zumindest
126
oberflächlich geschlossen hatte, begann er, sich mit sich selbst zu
beschäftigen. Und kehrte zu dem zurück, was er am besten
beherrschte. Doch obwohl er nichts von seinen Fähigkeiten
eingebüßt hatte, war die Freude an der Arbeit dahin. Den Stolz,
den er früher emp fand, weil er es so ausgezeichnet verstand,
andere zu töten, fühlte er heute nicht mehr. Töten war nur noch ein
Job, den er ausüben würde, bis er seinen Meister fand.
Er urinierte und schloß den Deckel der Toilette, ohne die
Spülung zu betätigen. Danach kehrte er zu seinem gemie teten Bett
zurück. Lange lag er im Dunkeln, aber der Schlaf wollte nicht
kommen. Schließlich stand er auf und schaltete das Licht an. Er
streckte sich, legte sich auf den Boden und begann mit Übungen
für die Bauchmuskulatur. Hundert Sit-ups, dann hundert
Liegestützen, noch ein Satz Sit ups und Liegestützen, ein weiterer,
bis er sich völlig verausgabt hatte. Manchmal half das, manchmal
war er danach so müde, daß er erschöpft einschlief.
Manchmal war er nur erschöpft, aber immer noch wach. Das
waren keine guten Momente.
Bedauerlicherweise aber auch keineswegs die schlechtesten.
Montag, 20. September 11 Uhr 54
Kiew
»Jetzt!« sagte Howard in sein Mikrofon, trat aus der Dekkung
und hob das Sturmgewehr bis in Hüfthöhe. »Keine Bewegung!«
brüllte er auf ukrainisch, wie es ihm Fernandez beigebracht hatte.
Einen Augenblick lang folgten alle seinem Befehl. Die
Terroristen, die sich teils im Erdgeschoß, teils auf der Treppe
befanden, erstarrten beim Anblick von über einem Dutzend
Bewaffneter in Overalls, die jetzt aus ihren Verstecken traten oder
rollten und ihre Waffen auf sie richteten.
Dann brüllte einer der Terroristen etwas, vermutlich einen
Fluch, dessen Worte Howard unverständlich blieben, und zog eine
kleine, verchromte Pistole aus der Jackentasche ...
127
Zwei Schüsse knallten, und der Mann ging blutend zu Boden.
Danach brach die Hölle los, da die meisten Terroristen
versuchten; ihre Waffen zu ziehen.
Einige erkannten, wie dumm das war und schrien: »Njet!
Njet!« Zu spät.
Howards Anweisungen an seine Leute waren eindeutig
gewesen: Nehmt sie lebend gefangen, wenn möglich, aber wenn
jemand getötet wird, dann nicht ihr ...
Die Zeit schien stehenzubleiben, dehnte sich ins Unendliche.
Wie durch einen Tunnel sah Howard die Ereignisse, die sich
zeitlupengleich in seinem schlagartig verengten Gesichtsfeld
abspielten. Er saß in der ersten Reihe, und wenn auch sein
Sehvermögen eingeschränkt sein mochte, sein Gehör arbeitete
hervorragend. Durch das Getöse der Schüsse, die in den
geschlossenen Räumen des Lagerhauses obszön laut hallten,
drangen auch überdeutlich die Schreie der Männer, das Klicken
der Abzüge, das Geräusch der Hülsen, die scheppernd auf den
grauen Betonboden fielen ...
Ein hochgewachsener, bärtiger Mann zog eine Waffe, offenbar
eine Luger aus dem Ersten Weltkrieg, aus seinem Gürtel und legte
an, was ihm mehrere Kugeln aus einer halbautomatischen Pistole
eintrug. In einer sauberen Reihe zogen sich die Einschläge quer
über seinen Körper ...
Der Mann, der auf russisch >Nein!( gebrüllt hatte, stürzte zu
Boden, wo er sich, den Kopf mit den Händen schützend, wie ein
Fötus zusammenrollte. Dabei stieß er ununterbrochen panische
Schreie aus. Die Männer auf der Treppe machten kehrt, um auf
dem Weg zu fliehen, auf dem sie gekommen waren.
Unten richtete ein dünner Mann mit schütterem Haar, dem ein
Schneidezahn fehlte, ein abgesägtes Repetiergewehr, vermutlich
eine .22er, auf Howard, der jedes Detail so deutlich wahrnahm,
daß ihm sogar der Ring am rechten Zeigefinger des Mannes
auffiel, als dieser sich am Abzug krümmte ...
Ihm blieb keine Zeit, um das Sturmgewehr zu heben und zu
zielen. Howard stach mit der Waffe nach seinem Gegner, als hielte
er ein Bajonett in den Händen, und betätigte den Abzug. Die
schwere Waffe bebte, ein-, zwei-, dreimal. Die Mündung hob sich
unter dem Rückstoß immer weiter an, so daß die erste Kugel
128
knapp über dem Solarplexus, die zweite am Halsansatz und die
dritte direkt über der hohen Stirn einschlug. Aus der
Austrittswunde am Kopf sprühte Blut, als wäre ein mit dunkelroter
Flüssigkeit gefüllter Ballon zerplatzt ...
Eine Kugel wäre genug gewesen. Eine 30er Waffe erledigt einen Angreifer zu hundert Prozent, wenn man richtig trifft. Das
kann man von keiner Faustfeuerwaffe behaupten. Eine 7.62mm
dagegen ... ,
Der dünne Mann war bereits tot, doch es schien eine Ewigkeit
zu vergehen, bevor er auf dem Boden aufschlug, eine Zeit, in der
Landmassen emporstiegen und wieder versanken, das Leben kam
und ging, Berge von der Zeit abgetragen wurden ...
Bis der Tote den Betonboden erreicht hatte, war der Kampf
vorüber.
Howard dröhnten die Ohren, und der Gestank verbrannten
Schießpulvers hing ihm in der Nase. Seine Leute begaben sich auf
die Suche nach den überlebenden Terroristen. Zwei waren die
Treppe hinaufgeflohen, hatten jedoch feststellen müssen, daß die
Ausgänge blockiert waren. Nun kamen sie mit erhobenen Händen
die Treppe wieder herunter. Der Mann, der geschrien hatte, lebte
noch. Als sich der Rauch gelüftet hatte, stellte sich heraus, daß von
den einundzwanzig Terroristen neun getötet worden waren. Sechs
waren verwundet, davon zwei so schwer, daß Howard ihnen keine
große Überlebenschance gab. Vier würden ihre Verletzungen
überleben. Die Krankentransporter der Einheit waren bereits
vorgefahren, Tote und Verwundete wurden hinausgetragen.
Von Howards Männern hatte nicht einer einen Kratzer
davongetragen. Er selbst hatte im Kampf Mann gegen Mann einen
Gegner getötet, der es auf sein Leben abgesehen hatte.
»Sir, wir sollten hier verschwinden«, mahnte Fernandez.
»Ja, Sarge. Positiv.« Howard warf einen Blick auf die Uhr.
Noch nicht einmal zwölf. Erstaunlich.
Nach Hunters Auskunft blieben ihnen etwa zehn Minuten.
Danach würden die örtlichen Behörden nicht länger so tun können,
als wüßten sie von nichts, und eingreifen müssen.
»Wir räumen das Feld«, befahl er seinen Leuten. » Übrigens ...
gute Arbeit.« Einige grinsten, aber sein Adrenalinspiegel sank
rasch, und er fühlte sich alt und müde. Eine plötzliche Depression
129
erfaßte ihn. Er und seine Leute wa ren besser ausgebildet und
bewaffnet gewesen als die anderen und hatten zudem den Vorteil
der Überraschung auf ihrer Seite gehabt. Es war keine Schlacht
gewesen, sondern ein Kinderspiel. Die sogenannten Terroristen
hatten keine Chance gehabt.
Gab es einen Grund, stolz darauf zu sein, wenn man einen
Idioten an Schlagfertigkeit übertraf oder ein Rennen gegen
jemanden gewann, der eine Bleikugel am Fußgelenk trug? Kaum.
Zumindest hatte er den Einsatz nicht verdorben, das war
immerhin etwas.
130
15
Dienstag, 21. September, 12 Uhr
Quantico
Toni Fiorella übte Sempok und Depok, Bewegungen, die es
dem Kämpfer erlaubten, zwischen stehender und sitzender
Position zu wechseln, ohne seine Verteidigung aufzugeben. Um
sie richtig auszuführen, brauchte man einen guten
Gleichgewichtssinn und viel Kraft in den Beinen. Bei ihren
Workouts achtete sie daher möglichst darauf, beides zu trainieren.
Silat wurde zum Großteil auf dem Boden gekämpft, aber das
blitzartige Aufspringen aus dem Sitzen gehörte ebenfalls zur
Ausbildung. Für die Knie bedeutete diese Übung allerdings eine
gewaltige Belastung.
Als Jesse Russel den Kraftraum betrat, war sie deshalb bereits
ziemlich außer Atem und schwitzte kräftig. Diesmal hatte er auf
Spandex verzichtet und sich für eine ausgeblichene schwarze
Trainingshose, ein übergroßes schwarzes T-Shirt und
Hallenschuhe entschieden.
»Hi.«
»Mr. Russel.«
» Rusty - bitte.«
»In Ordnung. Rusty.«
»Wie soll ich Sie während des Unterrichts nennen, um
Ihnen Respekt zu erweisen? Sensei? Si fu?«
»Wir nennen unsere Lehrer Guru«, erklärte sie.
Er lächelte. »Im Ernst?«
»Indonesiens Kultur ist stark von der hinduistischen und
islamischen Religion des Festlands beeinflußt.« Sie hob die
Augenbrauen, als er lachte.
»Ich habe mir nur vorgestellt, wie ich meinem Freund Harold
davon erzähle: >Heute war ich bei meinem Guru.< >Und? Hast du
meditiert?< >Nein, sie erklärt mir, wie man den Leuten kräftig eins
auf die Mütze gibt.«<
131
Toni lächelte. »Rusty, wollen Sie wirklich bei mir lernen?«
»Ja, Ma'am. Ich habe fünf Jahre lang Taekwondo-Unterricht
genommen und bin sicher, daß ich mich in den meisten Situationen
behaupten könnte, aber man kämpft hauptsächlich mit einer relativ
großen Distanz zum Gegner. Mit Ihrer Nahkampftechnik haben
Sie mich ziemlich kalt erwischt. Ich würde wirklich gern lernen,
wie das geht.«
»In Ordnung. Drei Dinge müssen Sie sich vor allem merken:
Basis, Winkel und Hebel. Einer der wichtigsten Grundsätze ist,
daß man stets danach trachten sollte, die Mittellinie zu
kontrollieren, also den Raum vor Ihrem eigenen Kopf und Körper
und vor dem Kopf und Körper Ihres Gegners. Ich werde Ihnen
jetzt den ersten Djuru zeigen. Sehen Sie mir nur zu, danach gehen
wir alles Schritt für Schritt durch.«
Er nickte. » Ja, Ma'am.«
Dienstag, 21. September, 12 Uhr
Quantico
Wenn Alex Michaels sich überhaupt Zeit zum Mittagessen
nahm, verzehrte er es normalerweise am Schreibtisch. Die
Abteilungssekretärin nahm die Bestellung entgegen und setzte sie
auf eine Liste, die sie an ein Feinkostgeschäft faxte. Kurz nach
zwölf Uhr wurde die Lieferung dann bei dem Posten an der
Rezeption abgegeben. Bevor das Geschäft von der Net Force als
Lieferant akzeptiert worden war, hatte man seinen Inhaber, dessen
Frau, die erwachsenen Kinder und den Boten, der die Bestellung
ausfuhr, überprüft. Trotz dieser Sicherheitsvorkehrungen hatte,
solange die Vorschriften für Mordanschläge galten, ein Agent die
Bestellung persönlich ins Geschäft gebracht und die Zubereitung
des Essens dort überwacht. Die Sicherheitsmaßnahmen waren
streng. Nicht ohne Grund: Warum sollte man jemanden
erschießen, wenn man sein Essen vergiften konnte?
132
Am liebsten aß Michaels das Spezialsandwich, zu dem er
normalerweise Kartoffelsalat bestellte, der mit köstlichen, in Dill
eingelegten Gurken zubereitet wurde.
An manchen Tagen, wenn er das Bedürfnis hatte, für ein paar
Minuten herauszukommen, verzichtete er jedoch auf Feinkost und
Net-Force-Kantine und fuhr ein paar Kilome ter zu einem neuen
Restaurant. Bei gutem Wetter nahm er das Liegerad, ein
tiefliegendes >Dreirad< mit sechzehn Gängen, das er im
überdachten Fahrradstand der Net Force abgestellt hatte.
Heute hatte das Wetter etwas aufgefrischt, es war weniger heiß
und schwül, ein guter Tag, um in die Pedale zu treten. Das Rad
war für die Straße zugelassen, aber es gab einen Rad- und Fußweg,
der hinter dem Zaun begann und direkt zum Restaurant führte. Die
Strecke war zwar doppelt so lang, aber wesentlich schöner und
sicherer. Seit Days Ermordung waren zwei Wochen vergangen,
und da es, wenn man von dem Richter absah, dessen Frau ihn
wegen einer außerehelichen Affäre mit dem Goldfischglas
beworfen hatte, keine weiteren Anschläge auf Bundesbeamte
gegeben hatte, waren die Sicherheitsbestimmungen gelockert
worden. Gegenwärtig herrschte, zumindest auf seiner Ebene,
erhöhte Wachsamkeit, aber keine Alarmstufe, die ihm vorschrieb,
sich nicht ohne Leibwächter zu bewegen.
Im Büro legte er Fahrradschuhe, Shorts und T-Shirt an,
verstaute den Taser in einer kleinen Gürteltasche, die auch seinen
Ausweis und das Virgil enthielt, und setzte den Schaumstoffhelm
auf. Dann ging er zu den Radständern, sperrte das Schloß des
Liegerads auf und schob es auf den Parkplatz. Das Gefährt hatte
ihn das Gehalt von zwei Wochen gekostet, obwohl er es gebraucht
erstanden hatte, aber das war es ihm wert. Im niedrigsten Gang
schaffte er damit jede Steigung in der Umgebung, was allerdings
nicht viel hieß. In den höheren Gängen erreichte er auf einer
ebenen Straße ohne viel Verkehr eine Geschwindigkeit von fast
sechzig Stundenkilo metern. Nun, vielleicht nicht ganz, aber
zumindest hatte er das Gefühl dahinzufliegen. Es war eine
angenehme Art, sich fit zu halten, wenn er nicht joggte, was er in
letzter Zeit nicht allzu häufig getan hatte. Sein Fit neßtraining litt
gewöhnlich zuerst, wenn er beruflich überlastet war, weil es am
133
leichtesten wegzulassen war. Schließlich konnte er auch später
noch laufen oder an Geräten trainieren.
Er ging in die Hocke und ließ sich auf dem niedrigen Sitz
nieder. Mit den Füßen schlüpfte er in die Halteschlaufen der
Pedale, legte die Handschuhe an und griff nach der Lenkstange.
Diesen Ausflug würde er ein wenig ausdehnen. Er fühlte sich
müde, und das Mittagessen diente ihm hauptsächlich als Vorwand,
damit er ein Ziel hatte. Vermutlich würde er höchstens eine
Limonade trinken und dann zurückfahren.
Nachdem er sich am Tor abgemeldet hatte, nahm er Kurs auf
den Radweg.
Er hatte einen relativ hohen Gang gewählt, obwohl das Treten
bei dieser niedrigen Geschwindigkeit dadurch sehr anstrengend
wurde. Der Schalthebel befand sich neben seiner rechten Hüfte am
Sitzrahmen, so daß er ohne Probleme herunterschalten konnte,
wenn er sich überfordert fühlte.
Unterwegs begegnete er einigen Leuten von der Basis, die in
ihrer Mittagspause joggten, und nickte ihnen zu oder winkte. Vor
ihm lief eine junge Frau in einem roten, ärmellosen Top mit dazu
passenden hautengen Shorts und einem kleinen Sportrucksack. Sie
legte ein flottes Tempo vor und war offenbar in ausgezeichneter
Form. Bewundernd beobachtete er das Spiel der straffen Muskeln
an Beinen und Po. Als er sie überholte, sah er sie im Rückspiegel
an, aber ihr Gesicht war ihm unbekannt. Hier arbeiteten eine
Menge Leute, vielleicht gehörte sie zu den Marines oder war
FBI-Rekrutin, möglicherweise auch Verwaltungsangestellte.
Denkbar war auch, daß sie aus der Stadt hergejoggt war und sich
auf dem Rückweg befand.
Trotz der Gefühle für seine Frau - besser gesagt: seine Ex-Frau
- hatte er in letzter Zeit Regungen verspürt, die sich weder durch
Sport noch durch Überstunden oder seine Spielerei mit dem
Prowler vollständig unterdrücken lie ßen.
Seufzend schaltete er in einen höheren Gang und trat kräftiger
in die Pedale. Früher oder später würde er sich wieder in den
Kampf stürzen müssen - den Rest seines Lebens wie ein Mönch zu
verbringen, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Aber der Moment war noch nicht gekommen. Er war so aus der
134
Übung geraten, daß er sich schon allein bei dem Gedanken
überfordert fühlte, eine Frau zu bitten, mit ihm auszugehen.
Der Pfad, ein gut befestigter Schotterweg, wand sich durch ein
kleines Wäldchen von Hartholzgewächsen, deren
,Blätter rasch von Grün zu Gelb- und Goldtönen wechselten,
und verlief dann hinter einem neuen Gewerbegebiet, das
hauptsächlich aus Bürogebäuden und Lagerhäusern für
Warenmakler bestand. Ein dunkelroter Gabelstapler mit einem
großen silbrigen Propangastank auf dem Rücken transportierte
hupend eine Reihe Holzpaletten zu einem großen Stapel direkt
hinter dem Maschendrahtzaun. Der Motor heulte auf, als der
Fahrer gekonnt die Gabeln senkte und zurücksetzte.
Michaels lächelte. Als Schüler an der High-School hatte er
einmal in den Sommerferien in einem Lagerhaus für Aluminium
einen Gabelstapler gefahren und Bleche und Träger auf riesigen
Tiefladern verstaut, die den weiteren Transport übernahmen.
Sobald man das Prinzip einmal verstanden hatte, war es im Grunde
ein einfacher, unkomplizierter Job. Man nahm die Ware an einem
Punkt auf und setzte sie an einem anderen ab. Solange man sie
nicht fallen ließ, war alles in Ordnung. Ein höllisches Getöse gab
es hingegen, wenn einem ein paar tausend Kilo Metall von den
Gabeln rutschten. Außerdem trug es einem den Applaus von den
anderen Lagerarbeitern ein. Ganz so, als hätte man in der Kantine
der High-School einen Teller fallen lassen. Es stimmte schon, das
Leben war nicht anders als die Schule; nur die Dimensionen hatten
sich verändert.
Vor ihm erstreckte sich eine lange Gerade: ein knapper
Kilometer bis zur nächsten Kurve. Er schaltete in den höchsten
Gang und trat kräftig in die Pedale. Durch den festen Halt, den ihm
die Fußschlaufen boten, konnte er in beide Richtungen Druck
ausüben. Schon nach einhundert Metern waren seine Beine warm,
und nach der Hälfte der Strecke brannten seine Schenkel und
Kniekehlen wie Feuer. Er warf einen Blick auf den Tacho.
Fünfzig. Nicht schlecht. Die Windschutzscheibe des Rades war
zwar anmontiert, aber ohne vollen Windschutz konnte er in seiner
relativ aufrechten Position nicht viel schneller fahren.
Er überholte einen anderen Radfahrer, der eine konstante, aber
etwas langsamere Geschwindigkeit hielt. Der Mann trug Lila und
135
Gelb und fuhr ein Schweizer Zweirad mit Kartonrahmen, das
leicht das Doppelte von dem gekostet haben mochte, was er für
das Dreirad ausgegeben hatte. Als Michaels ihn passierte, winkte
er ihm zu. Wahrscheinlich wollte der Bursche sechzig oder siebzig
Kilometer herunterreißen und sparte seine Kräfte für einen Sprint
am Ende der Tour. Selbst dann wäre er ihm noch hoffnungslos
unterlegen gewesen, wenn der Kerl ein ernsthafter Radsportler
war. Das waren lauter Verrückte.
Das Brennen wurde immer stärker, aber er trat unverdrossen
weiter in die Pedale, bis die Kurve noch etwa ein hundertfünfzig
Meter entfernt war. Dann reduzierte er das Tempo, bremste ein
wenig und nahm die Kurve schräg. Schade, daß das Gefälle nicht
größer war. Ein paar Grad Neigung mehr, und er hätte seine
Geschwindigkeit beibehalten können, aber vermutlich wollten die
Planer verhindern, daß Spaziergänger oder Jogger bei feuchtem
Wetter seitlich den Hügel hinunterrutschten. Schließlich regnete es
hier von Zeit zu Zeit.
Es tat gut, einmal herauszukommen, sich körperlich etwas zu
betätigen. Er beschloß, sich diesen Luxus öfter zu gönnen.
Dienstag, 21. September, 12 Uhr 09
Quantico
Sobald die Zielperson auf dem Dreirad außer Sicht war,
verlangsamte Selkie das Tempo, bis sie nur noch ging. Natürlich
hatte er sie gesehen, und nachdem er ein normaler heterosexueller
Mann war, mußte sie ihm in ihren engen roten Shorts aufgefallen
sein. Sie war in ausgezeichneter Form, wenngleich Laufen nicht
ihre bevorzugte Sportart war, aber wenn nötig, konnte sie ohne
Probleme ein paar Kilometer joggen.
Es war völlig unwichtig, daß ihre Zielperson sie gerade
gesehen und vermutlich auf ihren Hintern gestarrt hatte, weil
Michaels sie nie wieder in dieser Kleidung sehen würde.
136
Während er sie überholte, hätte sie ihn töten können. Öhne
Probleme hätte sie die stumpfnasige .38er-Smith & Wesson
hervorholen und ihrem Opfer alle fünf Kugeln, mit denen die
kleine Waffe bestückt war, in den Rücken jagen können, als er
nichtsahnend an ihr vorüberzog. Damit hätte sie ihn vom Rad
geholt. Danach wäre ihr Zeit geblieben, in aller Ruhe nachzuladen
und ihm noch ein paarmal in den Kopf zu schießen. Selbst wenn
jemand sie gesehen hätte - es war niemand in der Nähe gewesen -,
hätte man sie kaum aufgehalten. Mit der Smith & Wesson konnte
sie bestens umgehen. Trotz des kurzen Laufes und des schlechten
Zielrohrs war sie damit jedem IPSC-Action-Schützen gewachsen.
Der Umgang mit dem Revolver gehörte zu ihrem Job, und von
dem verstand sie wirklich mehr als jeder andere.
Aber solchen Morden mangelte es an ... Eleganz. Jeder war in
der Lage, eine Waffe auf einen anderen zu richten und
loszuballern. Einem Meister bot dieses Vorgehen keinerlei
Befriedigung. Natürlich war der Kunde König. Manche wollten,
daß der Tod des Opfers bekannt wurde, verlangten blutige Arbeit.
Einige bestanden auf einem Souvenir, wie einem Finger, einem
Ohr oder einem - normalerweise weniger sichtbaren - Anhängsel.
Folter- und Eilaufträge nahm sie grundsätzlich nicht an, aber wenn
der Kunde auf einem anatomischen Beweis als Garantie für das
Lebensende der Zielperson bestand, lieferte sie. ihn. Wenngleich
Auftraggeber, die Wert darauf legten, nur selten zu Stammkunden
wurden: Menschen, die Körperteile in Einweckgläsern sammelten,
verärgerten leicht jemanden und gingen schließlich selbst den Weg
ihrer Opfer.
Sie nickte einem entgegenkommenden Jogger zu, vermied es
jedoch, Blickkontakt aufzunehmen.
Ein guter Killer löschte seine Zielperson aus und entkam. Ein
Spitzenprofi dagegen eliminierte sein Opfer, ohne daß auch nur der
Verdacht entstand, es könne sich um Mord handeln. Das war
wesentlich befriedigender. Hinsichtlich der Todesart hatte man ihr
keine Anweisungen erteilt, daher spielte sie mit dem Gedanken, es
wie einen natürlichen Tod oder Selbstmord aussehen zu lassen. Sie
hatte die Wahl.
Wie immer.
137
16
Mittwoch, 22. September, 9 Uhr
Washington, D.C.
Als der Gong ertönte, schob Tyrone Howard sich mit dem
Strom der Schüler der untersten Klasse durch die schmuddeligen
Gänge der Eisenhower Middle School. Vor ihm rammte Sean
Hughes von hinten einen jungen und drängte ihn mit der Schulter
beiseite. Der andere wurde hart gegen die Spinde geschleudert und
drehte sich empört um, doch bevor er etwas sagen konnte,
erkannte er, wer ihn da gestoßen hatte, und entschied sich dafür,
den Mund zu halten.
Sehr vernünftig von ihm.
Tyrone verlangsamte sein Tempo, um genügend Abstand zu
halten. Hughes war ein Bulle, der nahezu einen Meter achtzig maß
und neunzig Kilo wog. Mit fünfzehn war er zwei Jahre älter als die
Mehrzahl seiner Klassenkameraden. Der Rechner des Burschen
hatte offenbar einen Hardwarefehler und war trotz intensiven
Nachhilfeunterrichts mindestens zweimal abgestürzt. Er genoß es,
Leute zu schikanieren, die schlauer waren als er - was für jeden an
der Schule zutraf, wenn man von den GGMs absah, den >geistig
geforderten Mitläufern<. Und selbst von denen waren manche
noch cleverer. Hughes hatte einen Spitznamen, den ihm allerdings
noch nie jemand ins Gesicht gesagt hatte ...
»Brontus ist heute wieder voll in Fahrt, was?«
Tyrone blickte nach links und entdeckte James Joseph Hatfield,
der ihn grinsend ansah.
>Brontus< stand für >Brontosaurier<, wie die Computerkids
§ean Hughes nannten. Tyrone wußte nicht, wer sich den
Spitznamen ausgedacht hatte, aber er paßte hervorragend. Der Kerl
war so intelligent und anmutig wie ein mit Schlaftabletten
vollgepumpter Dinosaurier.
Jimmy -Joe stammte aus den Hügeln von West Virginia. Seine
Haut war so weiß, daß .sie geradezu leuchtete, und er war sehr
138
klein. Aufgrund seiner extrem schlechten Augen konnte er keine
Kontaktlinsen tragen, sondern mußte auf dicke Brillengläser
zurückgreifen. An der Schule zählte er zu den besten Surfern im
Netz, und er hatte die ersten zehn Level von >Black Mysts of Total
Catastrophe< in einer Zeit hinter sich gebracht, die auch außerhalb
der Schule unerreicht war. Außerdem war er Tyrones bester
Freund.
»He, Jimmy -Joe. Wie schaut's mit dem DF aus?«
»DF ist okay, Tyrone.« DF stand für >Datenfluß<.
»Hör mal, ich habe mit Jay G. gesprochen. Er braucht unsere
Hilfe.«
»Jay G. braucht unsere Hilfe? Kann ich kaum glauben.«
»Stimmt aber. Jemand sabotiert die Datenautobahnen.«
»Erzähl mir was, was ich nicht weiß, Bruder. Das passiert
jeden Tag.«
»Positiv. Aber diesmal ist es anders. Da will ein Crack das
ganze Netz hochgehen lassen.«
»Im Ernst?«
»Im Ernst.«
Jimmy -Joe schüttelte den Kopf. »Komm wieder auf die Erde,
Surfer. Wenn Jay G. ihn nicht erwischt, wie sollen wir das dann
schaffen?«
Da hatte er nicht unrecht. Jay Gridley genoß bei den
Computerkids einen hervorragenden Ruf.
»Wir haben Verbindungen, die er nicht untersucht hat«, gab
Tyrone zu bedenken. »Wir können die kleineren Sachen
überprüfen.«
»Klar doch, nopro. Ich kann die AOLer kontaktieren, die
kleinen Verbindungen überprüfen, die Mini-Server. Wir könnten
Fallen stellen, Schlingen auslegen. In CyberNation kenne ich ein
paar Burschen, die Netze dort sind erste Sahne. Hast du schon
daran gedacht, dorthin auszuwandern?«
»Ich weiß ziemlich genau, was mein Dad dazu sagen würde.«
»Ganz deiner Meinung. Mein Alter würde ausrasten, aber es
hört sich trotzdem hochinteressant an. Aber diese Sache hier ist
auch heiß - wir und Jay G.«
»Ja ...«
139
Tyrone lief gegen eine Wand, die sich bedauerlicherweise als
Brontus entpuppte.
»He, du Vollidiot!«
Hastig wich Tyrone zwei Schritte zurück. Er hatte nicht
aufgepaßt. Vermutlich hatte Brontus vergessen, wo er hin wollte,
und war stehengeblieben, um es herauszufinden. Blöd, aber nicht
so blöd, wie mit voller Wucht gegen seinen Rücken zu laufen!
»Tut mir leid.«
»Das wird es«, brüllte Brontus. »Dich schlage ich zu Brei, du
kleiner Affe!«
Doch bevor er noch mehr sagen konnte, schwebte Bella donna
Wright vorbei, wie immer in eine Wolke aufregend sinnlichen
Parfüms gehüllt.
Brontus' großer dummer Schädel überließ das Denken
schlagartig einem ganz anderen Körperteil. Er drehte sich nach
Bella um - genauso wie Tyrone. In ihrem grünen Supermini, dem
rückenfreien Top und den hohen Korkplateausohlen war sie
wirklich eine Augenweide. Noch ein Jahr, und sie würde mit
Abstand das hübscheste Mädchen in der ganzen Stadt sein.
Brontus hatte ungefähr so viele Chancen bei ihr, wie er zum Mond
fliegen konnte, indem er mit den Armen wedelte, was ihn aber
nicht davon abhielt, sie anzustarren. Weiter würde er sich nicht
wagen. Bella ging gegenwärtig mit Herbie >Knochenbrecher< LeMott, dem Kapitän des Ringerteams der Epitome High School. Er
besuchte eine der oberen Klassen; und gegen ihn hatte Brontus
keine Chance. Theo Hatcher hatte sich einmal von hinten an Bella
herangeschlichen und wie zufällig eine Hand auf ihren Hintern
gelegt. Das hatte ihm sechs Wochen in einem blauen
Glasfaserverband eingetragen, den er LeMott zu verdanken hatte.
Zwei Worte von Bella in Knochenbrechers Ohr, und jeder Junge
an der Schule wäre ein verlorener Mann. Das begriff sogar
Brontus.
Jimmy -Joe packte Tyrone am Arm und führte ihn in die
Richtung, aus der sie gekommen waren. »Schwing dich, Surfer.
Wenn sein Gehirn wieder online arbeitet, müssen wir woanders
scannen!«
140
Tyrone konnte das nur bestätigen, nopro. Trotzdem war er
sauer. Er hatte keine Lust, sein Leben zu riskieren, aber früher oder
später würde er etwas gegen Brontus unternehmen müssen.
Was und wie, das waren allerdings Fragen, auf die er noch
keine Antwort gefunden hatte.
Mittwoch, 22. September, 6 Uhr früh
San Diego
Rushjo interessierte sich nicht sonderlich für das Fernsehen,
aber von Zeit zu Zeit sah er die internationalen Nachrichten, in der
Hoffnung, daß sein Heimatland erwähnt wurde. Daher lief im
Hintergrund CNN, während er in der kleinen Hotelkanne aus
abgepacktem Pulver Kaffee zauberte, der alt schmeckte, aber
immer noch besser war als nichts.
Während der Nacht hatten ihn wieder die Träume geplagt.
Nachdem er noch ein oder zwei Stunden geschlafen hatte, war er
erneut aufgewacht, und da war ihm klar geworden, daß jeder
weitere Einschlafversuch sinnlos sein würde. Bei der Armee hatte
er einen Mann gekannt, der angeblich schlafen konnte, während er
einen Teller heiße Suppe aß. So gut war Rushjo nicht, aber
während seiner Zeit als Soldat hatte er gelernt, mit einem
Minimum an Schlaf auszukommen und einzunicken, wann immer
sich die Gelegenheit dazu bot. Zwei Stunden waren ausreichend
für einen Tag.
Er nahm den Kaffee und setzte sich erneut vor den Fernseher.
In Idaho hatte irgendeine Sekte sich in einer Scheune
versammelt und diese dann in Brand gesteckt, um sich des
Fleisches zu entledigen und zu ihrem Gott zu gelangen. Rushjo
hatte keine Ahnung, ob den Gläubigen das gelungen war, aber den
Bildern nach zu urteilen, war das Fleisch gut durchgebraten.
In Frankreich hatten protestierende Studenten einen Polizeikordon vor einem Hotel angegriffen, von dem aus der
französische Präsident eine Rede halten sollte. Neun der
141
Demonstranten waren durch Gummigeschosse verwundet und ins
Krankenhaus eingeliefert worden, zwei weitere ih ren Verletzungen
erlegen...
In Indien hatte eine berschwemmung zweihundert Menschen
und etliche heilige Kühle getötet und mehrere Dörfer weggespült.
Auf der japanischen Insel Kyushu waren bei einem Erd beben
neunundachtzig Menschen durch einstürzende Ge bäude getötet
worden, die Stadt Kagoshima hatte schwere Schäden
davongetragen. Bei der Katastrophe war auch der neue
Hochgeschwindigkeitszug, der ein Ufer der Insel mit dem anderen
verband, verunglückt, als die Erde plötzlich vor ihm sechs Meter
nach unten abgesackt war. Sechzig Tote und über dreihundert
Verletzte.
Zu Tschetschenien hatte CNN nichts zu sagen.
Rushjo nippte an dem scheußlichen Kaffee und schüttelte den
Kopf. Vielleicht war es besser, daß es keine Neuigkeiten aus der
Heimat gab, wenn man bedachte, wie trostlos die Nachrichten
gewesen waren. Die Welt war ein gefährlicher Ort voller Elend.
Überall auf dem Planeten würden an diesem Tag Menschen um
ihre Lieben trauern, um die Angehörigen und Freunde, die ihnen
durch Unfall, Krankheit oder Mord entrissen worden waren. Die
wenigen Male, wo er seiner Arbeit wegen Gewissensbisse verspürt
hatte, hatte er nur Fernsehen oder Zeitung lesen oder einfach mit
jemandem sprechen müssen. Das Leben bestand aus Leid. Er war
nur ein Tropfen in einem Meer des Elends. Was bedeutete es
schon, wenn er einen Mann erledigte? Wenn er es nicht tat, dann
würde jemand anderer es übernehmen. Am Ende war das alles
nicht so wichtig.
Seine Kommunikationseinheit piepste. Den Kaffee schlürfend,
starrte er das Gerät an. Nein, es war nicht von Bedeutung. Und das
war gut so - denn er war sich sicher, daß ihm weitere schmutzige
Arbeit bevorstand.
142
Mittwoch, 22. September, 16 Uhr 45
Washington, D.C.
Nackt bis auf ein schmales Schweißband um den Kopf saß
Selkie an einem kleinen Küchentisch und untersuchte ihren Stock
auf Kerben und Rillen.
Alle paar Monate polierte und glättete sie das glänzende
Hickoryholz mit feinem Sandpapier und Ölfirnis. Das Hartholz
verkratzte leicht, und sie liebte seinen Glanz. Der Hersteller
empfahl Mineralöl für die Pflege, aber Firnis war
widerstandsfähiger und roch zudem besser.
Es nahm einige Stunden in Anspruch, wollte sie die Arbeit
richtig erledigen, aber sie hatte von ihrem Vater gelernt, ihr
Werkzeug stets in Ordnung zu halten, damit es nicht versagte,
wenn sie es benötigte. Die Burschen, die diese hölzernen Waffen
herstellten, waren Meister ihres Fachs. Von drei unterschiedlichen
Spazierstöcken abgesehen, besaß sie zwei Sätze Escrima-Stöcke
und ein eigens für sie angefertigtes Paar fünfzehn Zentimeter
langer Yawa ras.
Wenn sie keine Feuerwaffe bei sich trug, bevorzugte sie das
Custom-Combat-Modell aus Hickory. Es war etwa einen Meter
lang, von heller Farbe und besaß einen runden Schaft von knapp
drei Zentimetern Durchmesser. Das Ende des starken Griffs lief in
einen geschnitzten Flamin goschnabel aus. Für die Straße eignete
sich Hickory am besten, weil es schwerer war als die
Turniermodelle aus Walnußholz und widerstandsfähiger als Eiche.
Das gekrümmte obere Ende, das sogenannte Horn, war so scharf,
daß man damit jemanden schwer verletzen konnte. Das untere
Ende dagegen war stumpf und abgerundet. Mit einer Gummikappe
versehen, ließ sich der Stock problemlos als Gehhilfe verwenden.
Direkt unterhalb des Griffes war der Schaft mit dekorativen
Kerben verziert, die der Hand sicheren Halt boten.
Doch diesen Stock hatte sie zu Hause gelassen. Das
Schulungsmodell, das sie im Augenblick inspizierte, war mit dem
Combat in Länge und Durchmesser identisch, aber der Griff war
etwas breiter und lief weniger spitz aus. Als Stütze für eine alte
Dame, der das Gehen Probleme bereitete, eignete er sich eindeutig
143
besser. Sie wollte nicht ris kieren, daß ein scharfäugiger Polizist
das spitze Horn bemerkte und darüber nachdachte, warum die nette
Oma solch ein gefährliches Instrument benutzte.
Die Waffe schien in Ordnung zu sein, daher ging Selkie barfuß
und splitternackt in das Wohnzimmer ihrer Mietwohnung, wo sie
ihr Übungsziel aufgebaut hatte, das aus einem Stück
Aluminiumrohr von knapp vier Zentimetern Durchmesser bestand
und an einem Ende mit einem ringförmigen Beschlag versehen
war.
Das Metall hatte sie mit Biogel überzogen, einem Material, das
gerne verwendet wurde, um die Sättel von Rennrädern oder die
Innenseite von Laufschuhen zu polstern. Fensterleder, das mit
Klebeband straff befestigt war, sorgte dafür, daß das Gel nicht
verrutschte. Der Effekt war nicht ganz der gleiche wie bei Fleisch
über einem Knochen, aber für ihre Zwecke genügte es. Zu Hause
trainierte sie mit einer Wing-Tsun-Holzpuppe, die mit einem ähnlichen Material verkleidet war. Dort konnte sie von den unterschiedlichsten Winkeln aus arbeiten und ganz nach Belieben
Waffen einsetzen oder nur Hände und Füße verwenden. Aber
wenn man unterwegs war, hieß es improvisieren.
Sie stellte sich vor, wie man am Flughafen darauf reagieren
würde, wenn sie versuchte, die Holzpuppe mit dem Gepäck
einzuchecken, und grinste.
Eine dünne Nylonschnur lief von der an der Zielscheibe
befestigten Ose durch eine zweite Ose, die sie in einen Dekkenbalken geschraubt hatte, zu einer Türklinke, was es ihr
ermöglichte, die Höhe zu variieren. Augenblicklich befand sich
das Ziel auf Kniehöhe. Knie eigneten sich hervorra gend für den
Kampf mit Stöcken - ein zerschmettertes Knie beeinträchtigte die
Kampfkraft eines Gegners erheblich.
Sie näherte sich dem Ziel, atmete ein paarmal ein, um sich
vorzubereiten, und nahm die Grundposition ein. Der Stock stand
vor ihr auf dem Boden, beide Hände lagen auf dem Griff. Für
einen Beobachter hätte der Anblick, den sie bot, durchaus
interessant sein können, wären nicht alle Vorhänge zugezogen
gewesen: Eine nackte Frau, die in Schambeinhöhe einen Stock
hielt und mitten in einem Raum stand, der bis auf einen
merkwürdigen Gegenstand, der von der Decke hing, leer war. Sie
144
grinste. Schon immer hatte sie am liebsten nackt trainiert. Es hatte
etwas Ursprüngliches.
Sie reinigte ihren Geist. Geduld, Geduld ...
Dann riß sie den Stock mit einer kurzen, bogenförmigen
Bewegung der rechten Hand nach oben, ließ die Rechte in die
Mitte des Schaftes gleiten, um den Schlag gezielt zu führen und
faßte mit der linken Hand nach dem geschnitzten Teil, um dem
Hieb mehr Kraft zu verleihen.
Das Geräusch, mit dem das Holz auf die umkleidete Stange
traf, klang höchst erfreulich. Ein guter Treffer.
Sie schleuderte den Stock herum, erfaßte das Ziel mit dem
Griff, zog es zu sich heran, wirbelte dann den Stock herum und
traf die Polsterung von der anderen Seite.
Ein weiterer fester Schlag, und die Zielscheibe blieb bewegungslos in der Luft hängen.
Ja!
Sie zog den Stock erneut zu sich heran, hielt ihn wie einen
Billardstock und stieß mit der Spitze nach vorne. Diesmal traf sie
das Ziel weiter oben, so daß es nach hinten schwang.
Ja!
Auch wenn sie nur trainierte, war Selkie in ihrem Element. Sie
befand sich in der Todeszone. Einen aufregenderen Ort gab es für
sie nicht.
145
17
Montag, 27. September, 15 Uhr
Maintenon, Frankreich
Plechanow saß in einem alten steinernen Glockenturm in
Frankreich und balancierte eine Mauser 1898, ein Gewehr mit
langem Lauf, auf den Knien. Die Waffe wog etwa viereinhalb Kilo
und arbeitete unglaublich genau. Mit hoher Geschwindigkeit
verschoß sie 7,92mm-Patronen. Bei dem oben auf dem Gewehr
montierten M73B1-Zielfernrohr handelte es sich um ein
amerikanisches Produkt, das hauptsächlich bei der Springfield
1903 eingesetzt wurde. Die Optik hatte jedoch irgendwie den Weg
nach Deutschland gefunden - angesichts ihrer Verwendung eine
Ironie des Schicksals. Aufgrund des langen Bolzens arbeitete der
Abzugmechanismus nur langsam. Ein weiteres Handicap war, daß
das kastenförmige Magazin nur fünf Schuß faßte, doch aufgrund
der großen Reichweite würde ihm trotz die ser Trägheit
ausreichend Zeit zur Flucht bleiben.
Der Kirchturm war der höchste Punkt in dem namenlosen,
malerischen kleinen Dorf südwestlich von Maintenon und bot
einen hervorragenden Ausblick auf die heranmarschierenden
Armeen. Die amerikanischen Streitkräfte hatten spät in den
Weltkrieg eingegriffen, aber nun waren sie hier, um dem Verlauf
der Kämpfe eine andere Richtung zu geben.
Vor kurzem erst hatten Stürme der Gegend, in der er sich
befand, sintflutartige Regenfälle beschert. Die Brigade des
amerikanischen Expeditionskorps, die Plechanow beobachtete,
bahnte sich daher mühselig einen Weg durch schlammige Felder.
In ihrer Begleitung befand sich eine multinationale Ein heit, die
aus Russen, Serben, Tschetschenen, Koreanern, Japanern,
Thailändern, Chinesen und Indern bestand.
Plechanow nahm den unförmigen Helm vom Kopf und fuhr
sich mit der Hand durch das schweißnasse Haar. Er grinste. Die
historische Genauigkeit war bei diesem Sze nario etwas zu kurz
146
gekommen, da kein fernöstliches Land im Ersten Weltkrieg
Soldaten ents andt hatte. Japan und China hatten allerdings als
Verbündete der westeuropäischen Gegner Deutschlands gegolten.
Mit Sicherheit waren weder Koreaner noch Thailänder, die man
damals noch Siamesen nannte, oder Inder beteiligt, es sei denn, die
. Briten hätten ein paar Gurkhas oder bengalische Speerwerfer in
ihre Truppen integriert. Die Briten waren komische Käuze, es wäre
ihnen also durchaus zuzutrauen gewesen.
Plechanows Recherchen waren nicht allzu sehr in die Tiefe
gegangen, weil dafür im Grunde keine Notwendigkeit bestand. Als
er die Software geschrieben hatte, war ihm ein Bericht darüber
eingefallen, wie empört die Briten gewesen waren, als der Nabob
von Bengalen, ein gewisser Suraj-ud-Dowlah, 1757 Kalkutta
plünderte. Nach Ende des Gefechts sperrte der Nabob
einhundertsechsundvierzig britische Gefangene in Fort Williams in
einen kleinen, völlig überhitzten Raum. Als man sie am folgenden
Tag freilas sen wollte, waren nur noch dreiundzwanzig am Leben.
Der Rest der Briten war zum Großteil an Hitzschlag gestorben.
Das berüchtigte >Schwarze Loch von Kalkutta< war geboren ...
Achtung, Junge, nicht ins Träumen kommen. Kümmere dich
lieber um deine Aufgabe.
Plechanow stülpte sich den Helm auf den Kopf, setzte sich auf
der leeren Weinkiste zurecht, auf der er sich niedergelassen hatte,
und stützte das Gewehr auf die Brü stung unter der Öffnung in der
Turmwand. Natürlich hätte er auch den Wanderweg verwenden
können. Aber nachdem er diesmal selbst eingreifen mußte, weil es
niemanden gab, den er mit dieser Aufgabe betrauen konnte, hatte
er ein aktiveres Szenario für angebracht gehalten. Ein deutscher
Scharfschütze, der aus der Ferne feindliche Soldaten eliminierte,
schien ihm ein ausgezeichnetes Bild. Geradezu poetisch.
Er lud und nahm einen dicklichen amerikanischen Offizier ins
Visier, der trotz der militärischen Uniform wie die Karikatur eines
Börsenmaklers von der Wall Street wirkte. Selbst durch das
Teleskop betrachtet, war das Ziel aus die ser Entfernung relativ
klein. Seiner Schätzung nach mußte die Distanz etwa zweihundert
Meter betragen. Da das Teleskop auf einhundert Meter eingestellt
war, zielte er etwas höher als sonst, nämlich auf den Kopf, um
147
Spielraum zu lassen. Er holte tief Atem, hielt die Luft an und
betätigte den Abzug.
In New York City sandte ein Devisencomputer, der mit der
amerikanischen Bundesbank in Verbindung stand, die Codes der
gesamten User-IDs an alle angeschlossenen Terminals.
Noch während der dicke Amerikaner mit einer Kugel in der
Brust zusammenbrach, lud Plechanow nach und nahm ein neues
Ziel aufs Korn.
Ah, da war er ja, der Weißrusse, der mit dem Säbel in der Hand
seine Männer anführte. Plechanow richtete das Zielkreuz auf die
Kehle des Mannes, hielt den Atem an und feuerte.
In Moskau setzte der Interlink für die Handelsbilanz gegenüber
der europäischen Staatengemeinschaft aus und stürzte ab.
Der koreanische Offizier versuchte, seine Soldaten in Deckung
zu bringen. Plechanow betätigte den Repetierhebel des Gewehrs,
worauf eine weitere leere Patronenhülse zu Boden fiel, und lud
erneut. Leben Sie wohl, Mr. Kim ...
In den Kim-Elektronikwerken in Seoul kam es zu einer Verschiebung in der Steuerung der vollautomatisierten Produktion der
neuen, extrem leistungsfähigen Computerchips für Großrechner.
Die Veränderung war so minimal, daß sie den Programmierern
nicht auffiel, aber bedeutend genug, um bestimmte Pfade
innerhalb des Siliziumkreises der Chips zu verändern. Die Wirkung des Virus war zeitlich begrenzt, danach würden sich die
ursprünglichen Vorgaben von selbst wieder herstellen. Doch das
war ausreichend, um tausend Chips zu beschädigen und damit die
Großrechner, die diese später kontrollieren würden, in elek tronische Zeitbomben zu verwandeln.
Auf dem schlammigen Feld in Frankreich sah sich ein Inder
nach einem Versteck um. Tut mir leid, Punjab, alte Haut, hier gibt
es keine Deckung ...
Die dreifach abgesicherten Schaltkreise des neu installierten
computergesteuerten Verkehrsleitsystems von Bombay brachen
zusammen, und die zweihundert Hauptampeln, die dieses direkt
kontrollierte, schalteten allesamt auf Grün. Auf sämtlichen Eisenbahngleisen für Personen- und Frachtzüge standen die Signale
auf Grün. Das galt auch für die Ampeln an den Bahnübergängen.
148
Eine Kugel blieb ihm noch, die er abfeuern mußte, bevor der
Gegner zu nah heran war. Das Ziel war klar. Er schwang den Lauf
des Gewehrs nach rechts, wo der siame sische Kommandeur mit
einer Pistole fuchtelte und wild um sich schoß. Selbst wenn er
Plechanow hätte sehen können - was nicht der Fall war -, wäre ein
Treffer aus dieser Entfernung reiner Zufall gewesen. Dennoch,
Vorsicht war. besser als Nachsicht. Plechanow erinnerte sich
lebhaft an die letzten Worte des Generals John Sedgwick im
amerika nischen Bürgerkrieg. »Aus dieser Distanz würden sie nicht
einmal einen Elefanten treffen ...« hatte er über die Scharfschützen
der Südstaaten gesagt.
Plechanow grinste.
Zielen. Abdrücken ...
Die persönliche Pornosammlung des thailändischen Premierministers enthielt hauptsächlich Bilder von ihm selbst in eindeutigen Positionen mit verschiedenen Frauen, mit denen er nicht
verheiratet war, aber auch mit seiner Gattin. Diese Aufnahmen,
auf denen er leicht zu identifizieren war, luden sich nun von seinem Heimcomputer auf den Großrechner der Nachrichtenagentur
des South East Asian News Service. Zwei davon wurden statt der
vorgesehenen Bilder direkt in die stündlich gesendete Ausgabe der
SEAN NetNews eingeblendet.
Plechanow hob den Kopf. Aus der Mündung der Mauser stieg
öliger Rauch auf, der Geruch von verbranntem Schießpulver hing
in der Luft. Unter ihm liefen die feindlichen Soldaten, die immer
noch einhundert Meter von ihm entfernt waren, in Panik
durcheinander. Schließlich warfen sie sich flach auf den Boden
und sahen sich verzweifelt nach dem Feind um. Einige von ihnen
erwiderten das Feuer, doch keine der Kugeln kam auch nur in
seine Nähe.
Für heute hatte er genug Schaden angerichtet. Er schulterte das
an einem Riemen befestigte Gewehr und ging zur Treppe.
149
Montag, 27. September, 8 Uhr 11
Washington, D.C.
Überall, wo Jay Gridley im Netz hinfuhr, kreischten die Sirenen. Die virtuellen Autobahnen wimmelten nur so von
Feuerwehrfahrzeugen, Kranken- und Streifenwagen. Es herrschte
ein Gewimmel wie in einem Bienenstock. Jeder versuchte, den
Schaden zu beheben und die >Leichen< zu beseitigen. Innerhalb
weniger Minuten hatte es auf der ganzen Welt drei oder vier,
möglicherweise auch mehr große Abstürze von angeblich sicheren
Systemen gegeben.
Jay holte aus dem Viper alles heraus, was der Wagen hergab.
Wenn möglich, näherte er sich den Unfallstellen auf legale Weise,
ansonsten zeigte er sich erfinderisch. Die Sache schien sehr
häßlich. Hier hatten sie es mit dem gleichen Burschen zu tun.
Diesmal hatte er Spikes auf den Straßen verteilt. Das Muster -war
unverkennbar, unscharfe, nicht zu identifizierende Fußspuren, die
schnell in eine Sackgasse führten. Möglicherweise erkannten die
Systembetreuer vor Ort die Handschrift nicht, aber Jay war sich
ganz sicher. Auch wenn er den Terroristen nicht identifizieren
konnte, wußte er, daß es sich um dieselbe Person handelte.
Auf einem langen, relativ geraden Stück der neuen Autobahn,
die Thailand und Burma verband, hielt er den Viper an. Neben
einer verkohlten; von Polizisten umringten Limousine stand ein
Reporter, der etwas in einen kleinen Fl.Itscreen-PC eingab. Jay
kannte den Burschen flüchtig, er war ein entfernter Cousin von
ihm.
»Hallo, Chuan, wie geht's?«
» Jay? Was treibst du denn hier? Gibt es etwas, was ich wissen
sollte?«
»Nein, ich fahre nur so herum.«
Der andere blickte sich um, wobei er seinen Blick auf ein neues
Bild einzustellen schien. »Aha, dein Megaspiel mit den
Autobahnen. Du fährst also immer noch diese Rakete auf Rädern.
Wie heißt sie noch? Hatte der Name nicht etwas mit Eidechsen
oder Schlangen zu tun?«
150
»Viper. Man braucht schließlich ein Transportmittel.« Gridley
sah auf die Limousine. »Wer ist denn das Hähnchen in dem
tragbaren Grill dort drüben?«
»Ganz schönes Chaos, was? Hier haben wir unseren geliebten
Premierminister Sukho oder zumindest das, was von seiner
Karriere übrig blieb. Jemand hat das OS-Sicherheitssystem seines
persönlichen Rechners durchbrochen und sich einen Spaß mit den
häßlichen Bildern erlaubt, die er dort gefunden hat. Die landeten
nämlich bei meinen Chefs und gingen rein zufällig auf Sendung,
zumindest behaupten die Redakteure das, obwohl ich einige kenne,
die das gerne absichtlich in die Wege geleitet hätten.
Während der Sportschau erschien daher statt der Fußballmannschaft von Indonesien, die in Brasilien die Weltmeisterschaft gewonnen hat, Unser Geliebter Premierminister,
dessen bescheidene Männlichkeit gerade von einer eifrigen
Professionellen oral verwöhnt wurde, die in Bangkok unter dem
Namen >Nina der Staubsauger< bekannt ist. Zwei Bilder später
sahen unsere Zuschauer dann nicht den malaysischen
Pre mierminister Mohamad, der unter den Augen verschiedener
Würdenträger bei der Einweihung eines neuen Aufnahmestudios in
Cyberjaya ordnungsgemäß das Band durchschneidet, sondern
Sukho auf einem großen runden Bett. Er befand sich in
Gesellschaft von zwei splitternackten Prostituierten aus Bangkok,
die sich sehr um ihn bemühten. Ich glaube nicht, daß die Mädchen
mit dem alten Trottel viel Spaß hatten.« Er lächelte. »Bist du
eigentlich schon mal in Cyberjaya gewesen? In der Realität meine
ich?«
Gridleys Cousin sprach von einem dreizehn Kilometer breiten
und fünfundvierzig Kilometer langen Gebiet in Malaysia, dem
>Multimedia-Super-Korridor<, mit dessen Bau man 1997 südlich
von Kuala Lumpur begonnen hatte. Im Süden dieser Zone
befanden sich der neue internationale Flughafen und die neue
Bundeshauptstadt, Putrajaya.
»Einmal«, gab Jay zurück. »Vor etwa einem Jahr war ich dort
ein paar Tage zu einem Echtzeit -Seminar für eine neue grafische
Plattform. Ein unglaublicher Ort.«
»Es heißt, die Programmierer von CyberNation kämen von
dort.«
151
»Ja? Das habe ich noch nie gehört. Ich dachte, niemand wüßte,
woher sie stammen.«
»Gerüchte.« Der andere zuckte die Achseln. »Soviel zur
traurigen Geschichte einer politischen Karriere, die den Bach
hinuntergegangen ist. Ich muß zurück und meine Ge schichte
schreiben.«
»Hatte wohl kein großes Glück, euer Premierminister.«
»Das kann man so nicht sagen, er ist einfach zu weit gegangen.
Das hier ist nicht Amerika, wo man einem Politiker so etwas
durchgehen lassen würde. Paßt nicht in unsere Vorstellung von
Familie. Außerdem ist allgemein bekannt, daß der verstorbene
Bruder von Sukhos Frau einer der Kriegsherren der
Verbrecherorganisationen war. Es heißt, einige Neffen seiner Frau
lebten immer noch im Dschungel. Diese Leute haben keine
Probleme damit, je manden schon zum Frühstück in seine
Einzelteile zu zerle gen. Man muß bedenken, daß diese Affäre eine
große Schande für die Frau des Premiers bedeutete. Einige der
Bilder zeigten sie selbst. Ich bin mir sicher, sie wußte nichts
davon.« Er wies auf die ausgebrannte Limousine. »Wenn ich
Sukho wäre, würde ich meine Schweizer Bankkonten auflösen und
mich in einer weit entfernten Galaxie zur Ruhe setzen. Und ich
würde großen Wert darauf legen, das unter einem anderen Namen
zu tun. Wenn er eine Chance haben will, sollte er sein Vermögen
in falsche Zähne, eine neue Haarfarbe und kosmetische
Operationen investieren.«
»Sein Computer muß doch hervorragend abgesichert gewesen
sein, wenn man bedenkt, was ein Mann in seiner Position zu
verlieren hatte.«
»Sollte man meinen. Wer hier als nächster ein sabotagegeschütztes Sicherheitssystem auf den Markt bringt, ist vermutlich
ein gemachter Mann.«
»Nicht nur hier.«
»Da kann ich dir nur recht geben. Bis bald, Jay.«
»Mach's gut, Chuanny.«
Nachdem sein Cousin verschwunden war, versuchte Jay, die
Lage einzuschätzen. Thailand würde also einen neuen
Premierminister bekommen. Ob das weltweite Folgen haben
würde, ließ sich nicht sagen, aber es war klar, daß dieser Saboteur
152
seine Ziele sehr sorgfältig auswählte. Warum, wußte er nicht, aber
er hatte das deutliche Gefühl, daß keine guten Absichten
dahinterstanden.
Besser, er begab sich auf den Rückweg, sein Chef interessierte
sich mit Sicherheit für die neuesten Entwicklungen.
Unterwegs allerdings fiel ihm etwas auf.
Verdammt ...
»Alex? Ich glaube, Sie sollten sich das ansehen.«
Als Michaels aufblickte, stand Toni in der Tür.
»Im Konferenzraum.«
Er folgte ihr. Auf dem großen Schirm lief CNN. Eine Stimme
erläuterte die Bilder, die über den Monitor flimmerten.
»Bombay, von den Einheimischen Mumbai genannt, ist die
Hauptstadt von Maharastra und die führende Wirtschaftsmacht in
Westindien. Die Stadt am Arabischen Meer blickt auf eine lange
kulturelle Geschichte zurück. Hier sehen wir die viktorianischen
Fassaden der britischen Kolonialzeit, das Touristenviertel von
Colaba, das Fort im Zentrum der Stadt. Achtzehn Millionen
Menschen leben in Mumbai, die meisten von ihnen in bitterer
Armut.«
Eine Luftaufnahme der Stadt folgte. Archivmaterial.
Michaels blickte Toni an und hob die Augenbrauen. Warum
sollte er sich einen Dokumentarfilm über Indien ansehen?
»Das ist nur ein Ergänzungsbeitrag«, erklärte sie. »Der
eigentliche Bericht wird gleich fortgesetzt.« Ihre Stimme klang
grimmig.
»Modernisierungsmaßnahmen haben das 21. Jahrhundert
zumindest in bestimmte Teile von Bombay gebracht«, fuhr der
Sprecher aus dem Off fort. »Heute jedoch hat die moderne Welt
sich von ihrer häßlichsten Seite gezeigt.« Das Bild wechselte. An
einer Kreuzung waren zwei Busse ineinander gerast. Einer der
roten Doppeldecker lag auf der Seite, der andere war gegen einen
Lastwagen mit Obst gekippt. Überall auf der Straße lagen
gelblich-orangefarbene Melonen herum. Auf dem engen
Bürgersteig der schmalen Straße hatte man die Leichen aufgereiht,
während Inder weitere Tote und Verletzte aus den Bussen zogen.
Vor der Kamera tauchte ein blutüberströmter Mann auf, der wieder
und wieder dasselbe schrie. Am Straßenrand saß ein kleiner Junge
153
und starrte auf eine neben ihm liegende Frau, die offensichtlich tot
war. »In der gesamten Stadt schalteten offenbar vor wenigen
Minuten alle computergesteuerten Verkehrssignale gleichzeitig auf
Grün.«
Ein neues Bild erschien: An einer großen Kreuzung war
mindestens ein Dutzend Autos ineinander gerast und in Flammen
aufgegangen. Eine Explosion erschütterte die Szene und
schleuderte den Kameramann zu Boden. Jemand fluchte auf
Englisch: > Shit, shit, shit!«
Es folgte eine Luftaufnahme von einem Hubschrauber. Zu
Dutzenden hatten sich Personen- und Lastwagen, Motorroller und
Fahrräder zu einer kompakten Masse zusammengeschoben. Die
Stimme, die den Vorfall beschrieb, klang nicht übermäßig erregt.
»Bei einer Massenkarambolage auf dem Marine Drive kamen
mindestens fünfzig Menschen ums Leben, Hunderte wurden
verletzt. Man schätzt, daß sich die Anzahl der Todesopfer bei
Verkehrsunfällen in der Stadt insgesamt auf bis zu sechshundert
beläuft ...«
Wieder ein anderer Schauplatz: Ein Bahnhof tauchte auf, auf
dessen Gleisen wie ein ausrangiertes Kinderspielzeug ein
demolierter Personenzug lag. Zwischen die Waggons hatten sich
die Wagen eines Frachtzuges geschoben, von denen einige auf die
Seite gestürzt waren. »Offenbar aufgrund einer Fehlfunktion von
Eisenbahnsignalen stieß am Bahnhof von Churchgate ein
Personenzug der Central Railways, der, aus Goa kommend, nach
Norden unterwegs war, mit einem Frachtzug zusammen, der
Richtung Süden fuhr. Bis jetzt hat man mindestens sechzig Tote
geborgen, mehr als dreihundert- Menschen wurden verletzt. Bisher
unbestätigten Berichten zufolge sind in den Vorstädten
Elektrozüge mit Pendlern verunglückt, wobei es ebenfalls
Todesopfer gegeben haben soll. Da die Verkehrswege gegenwärtig
unpassierbar sind, wären diese Orte für uns jedoch nur auf dem
Luftweg zu erreichen.«
Die Szene wechselte zu einem zweimotorigen Flugzeug, das in
Flammen stand und um das herum Körper und einzelne
Körperteile lagen, die von zerstörten Puppen zu stammen
schienen. »Störungen bei der Flugkontrolle haben zu mindestens
vier Flugzeugunglücken geführt. Diese Maschine, die sich auf
154
einem Rundflug mit japanischen Touristen befand, raste in das
Gateway to India, ein Monument aus gelbem Basalt im Norden des
Touristenviertels Colaba. Alle vierundzwanzig Personen an Bord
fanden dabei den Tod, während an der Unglücksstelle mindestens
fünfzehn weitere Menschen durch herabstürzende Teile getötet
und Dutzende andere verletzt wurden. Unbestätigten Berichten
zufolge ist ein Jet der Air India mit zweihundertachtundsechzig
Passagieren an Bord direkt südlich der Stadt in die Back Bay
gestürzt.«
»Mein Gott«, sagte Michaels. »Was, zum Teufel, ist da
passiert?«
»Computerprogrammierer.« Tonis Stimme klang grimmig.
»Jemand soll das absichtlich getan haben?«
»So sieht es aus. Jay ist an der Sache dran, aber er ist im
Moment zu beschäftigt, um darüber zu sprechen.«
Michaels beobachtete, wie ein Rettungswagen mit laufendem
Blaulicht in einem Verkehrsstau steckenblieb. Gro ßer Gott, sie
hatten es mit einem Verrückten zu tun, einem wahnsinnigen
Mörder. Solange sie ihn nicht gefaßt hatten, war niemand vor ihm
sicher.
155
18
Montag, 27. September, 8 Uhr 41
Quantico
Bezüglich der Ermordung von Steve Day gab es keinen
wirklichen Fortschritt zu verzeichnen.
Selbstverständlich waren in den Labors Haare, Fasern und
Patronenhülsen katalogisiert worden, aber ohne die Menschen,
Kleider und Waffen, zu denen sie gehörten, war dies nutzlos.
Alex Michaels war in höchstem Maße beunruhigt. Während er
auf die Wand hinter seinem Schreibtisch starrte, war ihm klar, daß
sich daran nichts ändern ließ. Die hellsten Köpfe des FBI boten all
ihr Können auf, damit nicht der kleinste Hinweis übersehen wurde.
Wenn er ihnen im Genick saß und sie zur Eile antrieb, konnte das
nur von Nachteil sein.
Nicht, daß er keine anderen Sorgen gehabt hätte. Als
Kommandeur von Net Force hatte er sehr schnell gelernt, was es
hieß, in letzter Instanz verantwortlich zu sein. In wichtigen Fällen
hatte er persönlich dafür zu sorgen, daß es nicht zu Fehlern kam,
ganz abgesehen davon, daß er sich auch noch mit der Politik
herumschlagen mußte. Ständig mußte er die Arbeit seiner
Organisation und die Kosten, die dabei entstanden, rechtfertigen,
nicht nur gegenüber dem Chef des FBI, sondern auch gegenüber
dem Kongreß, wenn dieser gerade neugierig war, was so gut wie
immer der Fall war. Am Donnerstag mußte er vor Senator Byrds
Sicherheitsausschuß erscheinen, um Fragen zu einer Maßnahme zu
beantworten, die Day vor einem Jahr getroffen hatte. Die
Regierung war damals empört gewesen. Byrd, dem man in
Geheimdienstkreisen wegen eines Sprachfehlers den Spitznamen
>Zwitscherer< verliehen hatte, vermutete überall Komplotte. Er
war davon überzeugt, daß das Militär einen Putsch zur
Regierungsübernahme plante und daß in Deutschland eine
heimliche Wiederbewaffnung erfolgte, die die Eroberung
Osteuropas zum Ziel hatte. Die Pfadfinder hielt er für eine
156
kommunistische Organisation. Steve Day hatte er schikaniert, wo
er nur konnte, und es sah ganz danach aus, als hätte er das auch
mit Micha-, els vor.
Damit nicht genug. Aus politischen Gründen mußte er
außerdem viel Zeit für etwas aufwenden, was er schon immer
gehaßt hatte: gesellschaftliche Verpflichtungen. Seit er den Posten
übernommen hatte, war er gezwungen gewesen, an vier offiziellen
politischen Abendveranstaltungen teilzunehmen, bei denen er sich
an verkohltem Huhn und gummiartigem Lachs ergötzt hatte. Nach
dem Essen war er dafür mit Reden belohnt worden, die einen
Amphetamin süchtigen so eingelullt hätten, daß Dornröschen
dagegen hyperaktiv gewirkt hätte. Diesen Teil seiner Arbeit
verabscheute er aus tiefstem Herzen.
Zumindest mußte er sich nicht mit Baugenehmigungen
herumschlagen - das war Sache des Direktors des FBI. Angesichts
all der neuen Gebäude, die in letzter Zeit für die Net Force
errichtet worden waren, noch gebaut wurden oder geplant waren,
wäre allein das ein Vollzeitjob gewesen.
Er blickte auf den Papierstapel vor sich und auf die blin kende
Liste auf dem Monitor. Jede Menge Pflichtlektüre, Papiere, die er
abzeichnen mußte, Details, mit denen sich jeder Angestellte im
mittleren Management herumschlagen mußte, auch wenn
Wichtigeres zu tun war. Damit, daß er hier herumsaß und Löcher
in die Luft starrte, ließ sich das nicht erledigen.
Ein langer Tag lag vor ihm. Wenn er mit der Arbeit fertig war,
würde er in sein leeres Heim zurückkehren, alleine essen, die
Nachrichten anschauen, die Post durchgehen und sich durch die
Berichte in seinem Computer arbeiten. Vermutlich würde er
während des Lesens einschlafen, wie so oft. Und sollte ihm kein
Abend dieser Art blühen, dann deshalb, weil man ihn zu einer
sterbenslangweiligen Veranstaltung mit Politikern beordert hatte.
Er vermißte Megan und seine Tochter. Niemanden zu haben,
mit dem er die Tage teilen konnte, dem es wichtig war, ob er nach
Hause kam oder nicht, ob er lebte oder starb, empfand er als
schrecklich ...
Er schüttelte den Kopf. Du armer Kerl, du bist ja richtig
traurig ...
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Er kicherte. Ein Bad in Selbstmitleid war reine Zeitverschwendung, lange dauerte diese Stimmung aber nie an.
Schließlich hatte er die Arbeit, und da sollte er Probleme lösen und
nicht neue schaffen. Zum Teufel mit dem Privatleben.
Er griff nach dem ersten Blatt.
Montag, 27. September, 9 Uhr 44
New York City
»Ja, ich werde dort sein«, erklärte Genaloni kurz angebunden.
Er war verärgert, aber wie immer darum bemüht, sein
Temperament zu kontrollieren. »Bis später.«
Sorgsam legte er den Hörer auf die Gabel, obwohl er am
liebsten das Telefon aus der Wand gerissen hätte. Großer Gott,
Frauen.
Als Ehefrau war Maria vermutlich so gut wie jede andere. Sie
blieb zu Hause, kümmerte sich um die Kinder, überwachte
Dienstmädchen, Butler, Koch und Gärtner und arbeitete aktiv bei
verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen mit. Er hatte sie noch
auf dem College kennengelernt. Sie war klug und zum Zeitpunkt
ihrer Heirat eine Schönheit gewesen. Da sie viel trainierte und
einige kosmetische Operationen hinter sich hatte, war sie für ihr
Alter - ach was, für jedes Alter - immer noch sehr attraktiv.
Dümmer war sie auch nicht geworden. An seinem Arm bot sie ein
beeindruckendes Bild, keine war besser gekleidet als sie. Aber
manchmal ging sie ihm auf die Nerven. Weil sie intelligent war,
gut aussah und aus einer reichen Familie kam, glaubte sie, alles
müsse nach ihrem Kopf gehen. Von ihm verlangte sie Zeit, und
zwar besonders dann, wenn er keine hatte. Jetzt mußte er ein
Rendezvous mit Brigette, seiner jungen Geliebten, absagen, nur
um zu einer Benefizveranstaltung für irgendeine Krankheit zu
gehen. Das gefiel ihm gar nicht.
Vielleicht wußte Maria auch von Brigette und durchkreuzte
seine Pläne absichtlich.
158
Jemand klopfte gegen den Türrahmen. Als er aufsah, stand
Johnny >Hai< Benetti in der offenen Tür. Sein Spitzname paßte
hervorragend. Johnny war jung und schnell und in der Lage,
jemanden mit einem Messer, das nicht länger als sein Daumen
war, zu Hackfleisch zu verarbeiten. Außerdem hatte er an der
Universität von Cornell Betriebswirtschaft studiert.
Wenn sich jemand in der Organisation zur Ruhe setzte oder
sich aus rechtlichen Gründen aus dem Geschäft zurückzog,
ersetzte ihn Genaloni durch jemanden, der genauso hart war, aber
eine bessere Ausbildung besaß. Intelligente Menschen besaßen
gewisse Nachteile. So erwiesen sie sich häufig als übertrieben
ehrgeizig. Aber damit verstand er umzugehen. Wenn man
jemanden mit Geld überschüttete, würde er es sich gründlich
überlegen, bevor er sich mit der Gans anlegte, die die goldenen
Eier legte. Auf lange Sicht verursachten ungebildete Menschen die
größeren Probleme. Außerdem war grundsätzlich Vorsicht geboten
- man vertraute nie jemandem voll und ganz.
Bis zu Sampsons Rückkehr hatte Johnny der Hai dessen
Aufgaben übernommen.
Wenn Sampson überhaupt zurückkam. Die Sache stank, und
das gefiel Genaloni ganz und gar nicht.
»Ja?«
»Ray, wir finden einfach niemanden, der weiß, was mit Luigi
geschehen ist. Wir haben eine hübsche Summe geboten und uns
mit jedem in Verbindung gesetzt, der uns einen Gefallen schuldet.
Alles umsonst. Er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.«
»Sucht weiter.« Zumindest ein FBI-Agent würde für diese
Sache bezahlen. Allerdings konnte niemand sagen, wann die
Rechnung beglichen werden würde, denn Selkie ließ sich Zeit. Es
war sinnlos, ihn zu drängen.
Die Sprechanlage piepste.
»Was?«
»Noch einmal Ihre Frau.«
»Verdammt noch mal. Ich bin nicht hier, klar? Und mein
Handy habe ich vergessen.«
»In Ordnung, Sir.«
Genaloni schüttelte den Kopf, während er Johnny anblickte,
der ein Lächeln nicht unterdrücken konnte.
159
Mein Gott, der Kerl grinste auch noch. »Wie lange sind Sie
verheiratet, anderthalb Jahre?«
»Am vierzehnten Dezember werden es zwei Jahre«, antwortete
Johnny.
»Also immer noch in den Flitterwochen. In fünfzehn Jahren
sprechen wir uns wieder.«
Der andere grinste erneut.
Genaloni schüttelte den Kopf. Johnny war vierundzwanzig, in
diesem Alter glaubte man noch, alles zu wissen. Er selbst war alt
genug, um zu erkennen, daß er mit jedem Jahr weniger begriff.
»Verstehen Sie etwas von Geschichte?«
»Das war mein Nebenfach an der Uni.«
Diese Tatsache war Genaloni wohlbekannt, aber es schadete
nie, sich dümmer zu stellen, als man tatsächlich war. Wenn ihm
Zeit dazu blieb, befaßte er sich selbst gern mit Geschichte. »Sagt
Ihnen der Name Mary Katherine Ho rony etwas?«
Johnny überlegte. Er runzelte die Stirn. »Im Augenblick nicht.«
»Eine Ungarin. Eine Nutte, die unter dem Spitznamen >Big
Nose Kate< bekannt wurde.«
»Die Freundin von Doc Holliday?«
»Freut mich, daß man an der Uni auch Nützliches lernt. Kate
war eine versoffene, streitsüchtige Hure. Sie vögelte, soff und
prügelte sich durch den Wilden Westen, war mit Holliday, den
Earps und ein paar anderen üblen Gestalten unterwegs.«
Johnny nickte.
»Als sie mit Doc zusammen war, hätte sie ihren Job aufgeben
können, aber das seßhafte Leben war nichts für sie. Selbst wenn
Doc da war, konnte sie es nicht lassen. Der schüchterne,
unterwürfige Typ war sie nicht gerade. Ein mal holte sie ihn aus
dem Gefängnis heraus, nachdem er einem Mann mit einem
Bowiemesser den Bauch aufgeschlitzt hatte, und prügelte dabei
einen Gefängniswärter halb tot. In den achtziger Jahren des letzten
Jahrhunderts unterhielt sie ein Bordell in Tombstone, das erste in
der Stadt. In einem großen Zelt arbeitete ein Dutzend Mädchen für
sie. Der billige Whiskey floß in Strömen. Ständig kam es zu
Prügeleien und Schießereien. Außerdem verdroschen sie und Doc
sich gegenseitig, wobei er nicht immer als Sie ger vom Feld ging.
160
Nachdem Holliday an Tuberkulose gestorben war, hurte Kate
noch ein paar Jahre weiter herum. Dann heiratete sie, verließ ihren
Ehemann, zog weiter herum und führte ein wildes Leben, bis sie
schließlich in einem Pflegeheim endete. Sie starb 1940, im Alter
von neunzig Jahren.«
»Faszinierend«, erklärte Johnny mit erhobenen Augenbrauen.
»Da haben wir also diese Frau, die als Nutte arbeitet, damals
ein verdammt gefährlicher Job. Überall trieben sich Gestalten
herum, die alle Augenblicke jemanden abknallten. Eine Frau, die
Doc Holliday zur Schnecke machen konnte, einen der
skrupellosesten Killer in der Geschichte der Menschheit. In den
Gegenden, in denen sie sich aufhielt, sah niemand auch nur
zweimal hin, wenn jemand vergewaltigt und ermordet wurde:«
»Und das heißt ...?«
»Kate hat alles überlebt - ihre Arbeit, Holliday, die Mler, den
Alkohol, die Städte im Wilden Westen, alles.« Ge naloni lächelte.
»Sie starb an Altersschwäche.« Er legte eine Pause ein. »Wissen
Sie, wie man in den Vernichtungskriegen gegen die Sioux in
Dakota bei der Kavallerie sagte? >Wenn man von den Indianern
gefangengenommen wird, darf man auf keinen Fall den Frauen in
die Hände fallen.<
Eine Frau ist imstande, einem die Eier abzuschneiden, sie mit
Zwiebeln zu rösten, einem in den Hals zu stopfen und dabei
ununterbrochen zu lächeln. Die Gefängnisse sind voll von
Burschen, die ihren Frauen jeden Scheiß erzählt und sich dann mit
ihnen angelegt haben. Frauen haben viele gute Seiten, aber
vertrauen Sie niemals einer von ihnen ihr Leben an. Nie.«
»Ich werde es nicht vergessen.«
»Gut. Und jetzt finden sie heraus, wo das FBI Luigi versteckt
hat.«
Als der Junge verschwunden war, grinste Genaloni zufrieden.
Ein netter kleiner Vortrag. Er hatte schon immer gewußt, daß er
einen guten Lehrer abgegeben hätte.
161
19
Dienstag, 28. September, 18 Uhr 54
Washington, D.C.
Als Phyllis Markham verkleidet, humpelte Selkie auf das Haus
ihrer Zielperson zu, während sich der kleine Pudel an jedem Busch
und Baum des Wegs als Gießkanne betätigte.
Die Posten in Zivil waren verschwunden. Sie war enttäuscht.
Sie hatte schon Gangster, Killer und Politiker erle digt, die ständig
von einem Dutzend Leibwächter umgeben waren. Für sie
bedeutete dies eine Herausforderung. Aber ein einzelner Mann, der
nicht einmal ahnte, daß er in Gefahr war, dessen einziger Schutz
vermutlich in einer Alarmanlage in seinem Haus bestand? Das war
kein gro ßes Vergnügen.
Selkie war so gut, daß sie sich selbst neue Ziele setzen mußte.
Seit über einer Woche arbeitete sie an diesem Auftrag.
Inzwischen wußte sie alles, was sie wissen mußte, kannte jede
Gewohnheit ihrer Zielperson. Wenn er sich chinesisches Essen ins
Haus bringen ließ, bevorzugte er scharf gewürztes Huhn mit
Nudeln. Den Weg, den er morgens beim Joggen nahm, kannte sie
auswendig. Sie wußte, wo er am liebsten saß, wenn er zu einer
Wohltätigkeitsveranstaltung eingeladen war, um welche Uhrzeit er
unter einem Vorwand nach Hause ging. Seine Exfrau und seine
Tochter lebten in Idaho. Wo, war ihr ebenso bekannt wie die
Marke des Autos, an dem er in seiner Garage herumbastelte. Den
Blikken nach zu urteilen, die seine Assistentin ihm zuwarf, war sie
in ihn verliebt, auch das war ihr aufgefallen. Sie kannte seine
Größe, sein Gewicht, wußte, wo er sich die Haare schneiden ließ,
und daß er nur durch Zufall auf seinen gegenwärtigen Posten
gelangt war.
Das einzige, was sie nicht wußte, war, warum man ihn als Ziel
ausgewählt hatte.
Scout hatte etwas im Gebüsch links von sich gehört und bellte.
Vermutlich eine Katze. Sie ließ ihn ein paarmal Laut geben, dann
162
befahl sie ihm, ruhig zu sein. Er gehorchte, bebte aber am ganzen
Körper, so begierig war er, sich auf das Tier in den dichten
Büschen zu stürzen. Der Hund hatte keine Ahnung, daß er ein
Schoßtier war, er hielt sich für den Sohn eines Wolfes und
hungerte nach Beute. Sie lä chelte.
Den schlimmsten Biß ihres Lebens hatte ihr nicht etwa ein
großes Tier wie ein Schäferhund zugefügt, sondern ein Dackel, der
offenbar ebenfalls glaubte, er wäre ein weißer Wolf. Vielle icht
litten diese kleinen Biester unter mangeln dem Selbstbewußtsein
und mußten sich daher immer beweisen.
Die Zielperson schien ein netter Bursche zu sein, war re lativ
attraktiv, besaß ein sympathisches Lächeln und arbeitete hart. Für
einen Bürokraten al g er über dem Durchschnitt. Er liebte sein
kleines Mädchen dort draußen in der Pampa und hatte seit der
Scheidung kein großes sexuelles Interesse gezeigt, was vermutlich
bedeutete, daß er immer noch an der Ex-Frau hing. Offenbar war
er ein nützlicheres Mitglied der Gesellschaft als die meisten
anderen, besaß ethische und moralische Grundsätze und war
zuverlässig.
Daß sie ihn töten würde, belastete sie nicht im geringsten.
Manche Profis vermieden es, etwas über ihre Opfer zu
erfahren, vermieden jeden Kontakt, der über die Erfüllung ihres
Auftrags hinausging. Dadurch blieben sie unberührt, interagierten
nicht mit ihren Zielpersonen und betrachteten sie folglich nicht als
Menschen. Das war ihr immer albern erschienen. Wenn man
jemanden bewußt eliminieren wollte, mußte man ihn kennen. Das
war nur fair, so wurde das Opfer zumindest nicht von einem
Fremden getötet. So erwies sie den Menschen Respekt, die es
verdient hatten, zeigte eine gewisse Ehrerbietung vor der
Zielperson.
Inzwischen wußte sie genug. Der Mann war nicht übel, aber
uninteressant. Überraschungen würde es nicht geben.
»Komm weiter, Kleiner. Wir gehen.«
Widerstrebend riß sich der Hund von seiner erhofften Beute los
und setzte sich in Bewegung, wobei er sich immer wieder umsah,
nur für den Fall, daß das Tier die Deckung verließ und die Flucht
ergriff.
163
Es amüsierte sie, daß der kleine Scout den Ruf der Wild nis
vernahm.
Wann sollte sie zuschlagen? Wenn man den Zeitpunkt selbst
wählen durfte und sich nach allen Seiten hin abgesichert hatte,
mußte man sich auf sein Gefühl verlassen, um nicht zu früh zu
handeln. Zumindest, wenn der Mord perfekt sein sollte. Der Tod
dieses Mannes würde ihr eine ganze Armee von Bundesbeamten
auf den Hals hetzen, sie durfte sich also keinen Fehler erlauben.
Während sie sich dem Haus der Zielperson näherte, warf sie
einen Blick auf ihre Uhr, eine Lady Bulova mit Batterieantrieb.
Phyllis Markham trug dieses Modell, weil es ihrer geliebten
verstorbenen Mutter gehört hatte. Unmerklich verlangsamte sie ihr
Tempo, gab dem Hund Zeit, ein wenig länger an der Markierung
eines anderen Rüden zu schnüffeln.
Morgen kam die Müllabfuhr. In dieser Gegend holten die
kleinen Lastwagen zweimal pro Woche den Müll ab. An der
Rückseite der Häuser führte keine Straße entlang.
Das Tor zum Haus der Zielperson öffnete sich. Er trug eine
Tüte aus braunem Recyclingpapier. Pünktlich wie immer. An den
Abenden, bevor der Müll abgeholt wurde, wechselte er die
Kleidung, wenn er nach Hause kam und stellte dann sofort den
Abfall an die Straße.
Sie erreichte das Haus in dem Moment, als er die Tüte
abstellte. Er lächelte sie an. »Guten Abend.«
»Guten Abend, junger Mann«, gab sie mit Mrs. Markhams
Stimme zurück. »Ein schöner Abend für einen Spaziergang.«
»Ja, Ma'am«. Er ging in die Hocke und hielt dem Hund die
Rückseite seiner Hand hin, damit dieser daran schnüffeln konnte.
Das Tier wedelte mit dem Schwanz, worauf ihn die Zielperson
hinter den Ohren kraulte. »Braver Junge.«
Selkie lächelte. Mit einem einzigen Hieb ihres Stockes hätte sie
ihn auf der Stelle erledigen können, ohne daß ihm das auch nur
bewußt geworden wäre. Problemlos hätte sie ihm, während er den
Hund streichelte, den Schädel spalten, sich bücken und mit der
Nagelschere in ihrer Handtasche die Halsschlagader durchtrennen
können. Innerhalb weniger Minuten wäre er verblutet.
Andererseits könnte sie ihn auch um ein Glas Wasser bitten. Er
würde sie mit Sicherheit in sein Haus einladen. Solch ein netter
164
Mensch würde nicht zulassen, daß eine alte Dame Durst litt. Dort
könnte sie ihn eliminieren, ohne daß es auffiel. Es war zu einfach.
Sie lächelte ihr Opfer an. War dies der Moment? Sollte sie mit
ihm ins Haus gehen?
Die Sekunden verrannen, während sie das Leben dieses
Mannes in ihren Händen hielt. Das war Macht. Sie hatte alles unter
Kontrolle.
Nein, nicht heute abend. Sie hatte nicht das richtige Ge fühl.
Vielleicht morgen.
»Komm, Scout. Der nette Herr hat nicht den ganzen Abend
Zeit, mit dir zu spielen.«
Die Zielperson erhob sich und beobachtete, wie die Frau, die
ihn in Kürze töten würde, davonhumpelte. »Passen Sie auf sich
auf, Ma'am.«
»Danke, junger Mann, das werde ich. Sie auch.«
Mittwoch, 29. September, 3 Uhr 14
Irgendwo über dem Nordatlantik
Das stetige Dröhnen der riesigen Maschinen der 747 wirkte so
einlullend, daß die meisten Passagiere eingeschlafen waren. John
Howards Leselampe war eingeschaltet, aber er hatte so lange
nichts mehr in seinen Computer eingegeben, daß sich der
Bildschirmschoner eingeschaltet hatte.
»Hätten Sie gern etwas warme Milch mit Honig, Colonel?«
erkundigte sich Fernandez.
Howard sah zu dem Sergeant auf, der gerade aus dem vorderen
Teil des Flugzeugs zurückkam. »Ich arbeite nur an meinem
Bericht, Sergeant.«
»Ja, Sir. Das sehe ich. Eine detaillierte Studie über das Zen des
leeren Bildschirms?«
Howard grinste und bedeutete Fernandez, sich auf dem Sitz auf
der anderen Seite des Ganges niederzulassen. Während ihres
Rückflugs über Europa hatten sie einige Zwischenstops eingelegt,
um weitere Passagiere aufzunehmen, aber der Jet war trotzdem
165
nicht einmal halb besetzt, so daß ausreichend Plätze zur Verfügung
standen.
»Das war keine große Operation, was, Julio?«
»Ich bitte um Verzeihung, Colonel, aber wovon, zum Teufel,
reden Sie? Wir haben eine terroristische Zelle loka lisiert, ein
Dutzend bewaffneter, bombenwerfender Radikaler erledigt, die
uns unter Beschuß genommen haben, und nicht einer von unseren
Leuten ist dabei verletzt worden. Bei mir zu Hause nennt man so
etwas einen vollen Er folg.«
»Ich weiß, was Sie meinen.«
Fernandez sah sich um. In ihrer Nähe hielt sich niemand auf,
und alles in Hörweite schien zu schlafen. Er ließ den offiziellen
Ton fallen. » John, wenn Sie sagen wollen, daß es keine
historische Schlacht war, dann haben Sie recht. Aber unsere
Aufgabe war es, die Verbrecher aufzuspüren und ihnen das
Handwerk zu legen. Das haben wir getan. Wir haben unsere
Botschaft geschützt, ohne mit den örtlichen Behörden in Konflikt
zu geraten, und bringen alle unsere Jungs nach Hause, ohne daß
wir auch nur ein Pflaster auspacken mußten. Mehr kann man nicht
verlangen.«
Howard nickte. Selbstverständlich hatte Fernandez recht. Die
Parole hieß, Auftrag erledigen und ab nach Hause. Er hatte seine
Mission buchstabengetreu erfüllt, mehr wurde von einem Soldaten
nicht erwartet. Die Net Force war begeistert von ihm. Ein paar
seiner alten Freunde vom Militär, die auf dem laufenden waren,
hatten ihm bereits in codierten E-Mails gratuliert. Ein voller
Erfolg.
Warum fühlte er sich nur so unbehaglich?
Weil es zu einfach gewesen war. Es hatte sich zwar wieder
einmal erwiesen, daß eine gute Planung das A und O war, aber
wenn er es recht bedachte, hatte er nie daran gezweifelt, daß sie
gewinnen würden. Seine Leute gehörten zur absoluten Elite, sie
kamen von den SEALS, den Green Berets, den Rangers. Man
könnte sie mit nichts als einem Taschenmesser bewaffnet im
Dschungel hinter den feindlichen Linien absetzen und sich darauf
verlassen, daß sie ihre Gegner zu Hackfleisch verarbeiteten. Bei
den Terroristen hatten sie es mit völlig untrainiertem Abschaum
aus der Gosse zu tun gehabt, der zwar große Ideen besaß, aber über
166
so gut wie keine strategische und taktische Erfahrung verfügte.
Gegen diesen Müll zu verlieren wäre einigerma ßen schwierig
gewesen.
Ungefähr das sagte er Fernandez.
Der lachte.
»Was ist?«
»Ich stelle mir gerade vor, wie der Befehlshaber der britischen
Armee am Ende des Unabhängigkeitskrieges zu seinen Offizieren
sagt: >Was? Dieser völlig untrainierte Abschaum aus der Gosse,
der zwar große Ideen hat, aber so gut wie keine strategische und
taktische Erfahrung, hat soeben die Elitetruppen ihrer Majestät zu
Kleinholz verarbeitet? Wie konnten wir nur gegen diesen Müll
verlie ren?<«
Howard kicherte. Fernandez besaß einen Humor, den man bei
einem Unteroffizier, der von der Pike auf gedient hatte, nicht
vermutet hätte. Der ges telzte britische Akzent verlieh seinen
Worten eine besondere Komik. An der Be merkung war etwas
dran. Wenn die Terroristen sich nicht so ungeschickt angestellt
hätten, wäre in dem Lagerhaus möglicherweise das Blut seiner
eigenen Leute geflossen. Diese Möglichkeit bestand immer.
»Das Wesentliche ist doch, daß wir gewonnen haben, John,
auch wenn es vielleicht nicht unser ruhmreichster Sieg war. Unser
Ziel haben wir damit erreicht.«
»Ja, das stimmt. Sie haben recht.«
»Und das sagen Sie jetzt, wo ich keinen Cassettenrecorder
dabei habe? Würde mein Colonel diese Worte vor Zeugen
wiederholen? Ich kann im Handumdrehen welche wecken. Ich
habe also recht?«
»Wovon reden Sie, Sergeant? Ich kann mich an nichts
dergleichen erinnern.«
»Das hatte ich befürchtet, Sir.« Fernandez grinste. »Ich
versuche am besten, eine Mütze voll Schlaf zu bekommen.«
»Gute Nacht, Julio, und vielen Dank.«
»War mir ein Vergnügen, Sir. Falls es Ihnen ein Trost sein
sollte, ich habe das Gefühl, daß wir noch nicht am Ende dieses
Krieges stehen. Beim nächsten mal könnte alles anders aussehen.«
167
Howard beobachtete, wie sein bester Mann sich zu einer leeren
Sitzreihe begab. Ja, das stimmte. Eine kleine Schlacht machte noch
keinen Krieg.
Mittwoch; 29. September, 22 Uhr 54
Portland, Oregon
Rushjo behielt den Haupteingang von McCormicks Restaurant
im Auge. Das Lokal befand sich außerhalb des Zentrums, in der
Nähe einer der Schlafstädte im Westen der Stadt, und hatte sich
auf Fisch spezialisiert. Angeblich war das Essen ausgezeichnet,
und sein kurzer Erkundungsbesuch früher am Abend hatte diesen
Eindruck bestätigt. Zumindest war es das beste Restaurant in der
Nähe der Firma, die einige der schnellsten Chips für
Heimcomputer herstellte und ihren Sitz weiter oben an der Straße
in Beaverton hatte, einer Stadt, die nach den dort einst zahlreich
vorkommenden Bibern benannt war.
Rushjo saß in einem Mietwagen, den er auf der anderen Seite
der Straße im Schatten eines Schildes vor einem koreanischen
Reisebüro geparkt hatte. Dem optischen Maßband zufolge betrug
die Entfernung bis zum Eingang des Restaurants zweiundsechzig
Meter, ein Schuß aus dieser Entfernung war ein Kinderspiel. Er
hatte ein großes Auto mit leistungsfähigem Motor gewählt, obwohl
das für die Flucht vermutlich unbedeutend sein würde. Die Augen
weit geöffnet, blickte er durch die große Öffnung des Bushnell-HOLO -Sichtgerätes, das ihm ein nicht vergrößertes Bild der
Tür lieferte, welches von einem roten Fadenkreuz überlagert war.
Bei dem Zielgerät handelte es sich um eine der neuesten
Entwicklungen. Anders als ein Laser strahlte es keinerlei
Helligkeit nach vorne ab, die den Benutzer hätte verraten können.
Das Teleskop hatte mehr gekostet als das Repetiergewehr, auf das
es montiert war, ein 30-06Winchester-Jagdgewehr, eine
ausgezeichnete Waffe. Das Sichtgerät hatte er in einem
Waffengeschäft in San Diego erstanden, das Gewehr in
Sacramento über eine Zeitungsanzeige gefunden und gebraucht
168
erworben. In einem Steinbruch an einer alten Holzfällerstraße
westlich von Forest Grove in Oregon hatte er beides
zusammengesetzt und aufeinander eingestellt.
Mit der justierten Waffe traf er auf eine Entfernung von
einhundert Metern zuverlässig durch einen von Daumen und
Zeigefinger gebildeten Ring.
Er hatte erwogen, einen Schalldämpfer zu montieren, aber
nachdem das Projektil die Schallmauer durchbrechen würde, war
auf jeden Fall ein lautes Krachen zu hören, wenn es den Lauf
verließ. Außerdem würde es unter den gegebenen Umständen zu
einem Echo kommen, so daß sich die Quelle des Geräusches nicht
bestimmen lassen würde. Selbst wenn man genau gewußt hätte, wo
er sich aufhielt, wäre es nicht weiter von Bedeutung gewesen. Die
Manager der Computerfirma am Ort waren weder bewaffnet noch
durch Leibwächter geschützt. Bis jetzt war dies auch nie
erforderlich gewesen. Wenn diese Nacht vorüber war, würde es
vermutlich auch keinen Anlaß mehr dafür geben.
Bis die Polizei eintraf, würde er schon Meilen von hier entfernt
sein. Drei Fluchtwege hatte er sich eingeprägt. Alle drei
Alternativen sahen einen kurzen Halt vor, bei dem er unbemerkt
das Gewehr loswerden konnte. Er trug hauchdünne, wasserdichte
Handschuhe aus synthetischer Seide, so daß weder an dem
Teleskop noch am Gewehr Fingerabdrücke oder Spuren von
Körperflüssigkeit zu finden sein würden. Das galt auch für die
Munition, die sich in der Waffe befand.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach elf Uhr Ortszeit.
Die Gesellschaft hielt sich seit nunmehr fast zwei Stunden in dem
Restaurant auf. Die Fahrzeuge hatte man vor dem Lokal geparkt,
so daß sein Ziel ausreichend lange für ihn sichtbar sein würde.
Er senkte die Waffe.
Acht Minuten später öffnete sich die Tür des Restaurants.
Rushjo setzte die Ohrstöpsel aus Silikon ein. Der Lärm eines
Gewehrs mit hoher Durchschlagkraft im Innenraum eines Autos
konnte ungeschützte Trommelfelle leicht unwiderruflich
schädigen.
Sechs Männer erschienen. Sie redeten, lachten, ließen sich Zeit.
Rushjo hob das Gewehr. Er atmete tief ein, ließ die Hälfte der
Luft ausströmen und behielt den Rest in der Lunge. Dann
169
entsicherte er die Waffe, richtete das leuchtende Kreuz auf den
zweiten Mann in der Männergruppe, bis der Zielpunkt direkt
zwischen dessen Augen auf der Stirn lag ...
Er drückte ab.
Bei einem Gewehrschuß hört man nicht, wie die tödliche Kugel
abgeschossen wird.
Der Mann war bereits tot, bevor ihn der Schall erreicht hatte.
Rushjo legte das Gewehr auf den Boden des Fahrzeugs, ließ
den Motor an und fuhr aus dem Parkplatz des Reisebüros auf die
Straße hinaus. Um diese Uhrzeit herrschte kaum Verkehr. Als ihm
der erste Polizeiwagen begegnete, der mit eingeschaltetem
Blaulicht und heulenden Sirenen zum Restaurant unterwegs war,
befand er sich schon fast einen Kilometer vom Tatort entfernt.
Er blickte nicht zurück. Warum auch? Niemand war ihm
gefolgt.
170
20
Donnerstag, 30. September, 8 Uhr 01
Grosny
»Schon wieder ein Anruf für Sie, Dr. Plechanow«, rief Sascha
aus dem vorderen Büro. Die Sprechanlage funktionierte weiterhin
nur sporadisch, aber das war inzwischen kaum noch von
Bedeutung. »Mr. Sikes, von den Stadtwerken Bombay.«
Plechanow lächelte. Das Telefon hatte während der letzten
Tage nahezu ununterbrochen geklingelt, genau wie er es erwartet
hatte.
Seine Saat begann aufzugehen. Nachdem der Computerabsturz
in Bombay den Tod von Hunderten von Menschen zur Folge
gehabt hatte, hatten die Verantwortlichen sich mit Bertrand in
Verbindung gesetzt, dem zweitklassigen Programmierer, der ihr
Sicherheitssystem installiert hatte. Obwohl selbst Bertrand erkannt
hatte, was passiert war, konnte er nicht versprechen, daß sich ein
solcher Vorfall nicht erneut ereignen würde. Also hatte man sich
an Plechanow gewandt, wie man es von Anfang an hätte tun
sollen. Und der konnte selbstverständlich garantieren, daß ein
solcher Sabotageakt in Zukunft ausgeschlossen sein würde,
nachdem er ein neues Sicherheitssystem installiert hätte. Diese
Zusicherung fiel ihm nicht schwer. Weltweit gab es nur eine
Handvoll Programmierer, die in der Lage waren, seine
Sicherheitsvorkehrungen zu überwinden, und die Interessen des
Mannes, der sich als einziger diese Mühe machen würde, waren
mit den seinen identisch. Daher würde er Wert darauf legen, daß
das System funktionierte.
Angesichts der Beunruhigung, die solche Vorfälle auslö sten,
würden ein oder zwei weitere Manipulationen von
Verkehrssignalen in den Großstädten ausreichen, um die Mehrzahl
der Stadtverwaltungen, wenn nicht alle, Plechanow in die Arme zu
treiben. Wenn sich die Chefs der Verkehrsbetriebe der großen
Städte Asiens später im Jahr zur Jahreskonferenz im chinesischen
171
Kanton versammelten, würden die meisten von ihnen auf seiner
Seite stehen. Schließlich und endlich würde er hervorragende
Arbeit leisten, und dies zu einem besonders günstigen Preis. Damit
stünden alle in seiner Schuld. Alle wären daran interessiert, sich
mit ihm gutzustellen, um nicht das Schicksal der unglückseligen
Opfer des Terrorismus zu teilen. Denn wer außer einem
Terroristen konnte daran interessiert sein, die Computer von
Verkehrssystemen zu sabotieren? Daraus ließ sich schließlich kein
Profit schlagen.
»Hallo?«
»Wladimir? Hie r ist Bill Sikes, Verkehrsbetriebe Bombay.«
»Hallo, Bill, wie geht es Ihnen?«
»Nicht besonders. Sie wissen vermutlich von unserem
Problem?«
»Ja, leider. Eine schreckliche Sache, Bill. Es tut mir sehr leid.«
»Nun, das läßt sich nicht mehr ungeschehen machen, aber in
Zukunft soll uns so etwas nicht wieder passieren. Würden Sie uns
helfen?«
»Natürlich, Bill. Selbstverständlich werde ich Ihnen helfen.«
»Ein Anruf«, rief Sascha hinter ihrem Schreibtisch. »Aus
Korea!«
Plechanow lehnte sich im Stuhl zurück. Ein glückliches
Lächeln lag auf seinem Gesicht.
Donnerstag, 30. September, 8 Uhr 15
Washington, D.C.
Tyrone Howard traf seinen Freund Jimmy -Joe in einem
Stripclub, der den Namen >Big Tits< trug. Der Zutritt war für
Kinder verboten. Keiner von beiden war auch nur annähernd alt
genug, aber sie hatten sich die Identität eines Er wachsenen
zugelegt und kannten sich gut genug aus, um bei einer
oberflächlichen Überprüfung nicht aufzufallen. Sich in einem
öffentlichen Nachrichtenforum in einen Raum einschleichen, der
nur für Erwachsene freigegeben war, das gelang jedem Trottel.
172
Außer nackten Frauen gab es hier nichts zu sehen. Zu anderen
indizierten Räumen war der Zugang wesentlich schwieriger.
Tyrone hatte ohnehin keine Lust, ein solches Risiko einzugehen.
Wenn seine Eltern ihm auf die Schliche kämen, würde ihm das
eine Tracht Prügel eintragen. Und nachdem sein Vater mit einem
Computerfreak wie Jay G. zusammenarbeitete, bestand diese
Möglichkeit durchaus.
»Irgendwas herausgefunden, Jimmy -Joe?« fragte ihn Tyrone.
»No mucho, Spiderboy. Allerdings ziemlich viel Chaos im
FEN.«
Tyrone nickte. Im Far East Net war der DF - der Daten-. fluß in den letzten Tag miserabel gewesen, das war ihm selbst schon
aufgefallen. Dort trieb der wahnsinnige Pro grammierer sein
Unwesen.
Vor der grellen Lightshow auf der Bühne bewies eine große
blauäugige Brünette zu einem wummernden Baß dem Publikum,
daß ihr Haupthaar nicht gefärbt war. Tyro ne starrte sie an, und sie
lächelte zurück, ohne zu ahnen, daß er in Wirklichkeit ganz anders
aussah. Ihre Identität konnte natürlich genauso falsch sein.
Vielleicht war sie in Wirklichkeit ein dicker alter Mann.
Wenn man sich auf der Suche nach der Wahrheit befand, war
man in der virtuellen Realität allerdings fehl am Platz.
»Ich werde mich mal mit den Hackern in Verbindung setzen,
die ich kenne. Vielleicht finde ich einen, der uns zu den wirklich
großen Fischen führt, die kleinen interessieren in dem Fall nicht.«
»Scan und lade das runter«, gab Tyrone zurück. Die brünette
Stripperin hatte die Bühne verlassen und einer anderen Platz
gemacht. Siehe da: Belladonna Wright, wie sie leibte und lebte.
Das war Jimmy -Joes Werk: Er hatte die Bilder programmiert und
eingespeist, so daß die Frau mit Bellas Gesicht und Körper
ausgestattet war. So etwas hätte Tyrone nicht einmal in der
virtuellen Realität riskiert, nie im Leben. Wenn Knochenbrecher
dahinter kam, dann gute Nacht.
»Ich muß gehen«, erklärte er.
Jimmy -Joe grinste bis über beide Ohren und gackerte wie ein
Huhn.
173
»Genau, Mann, ich habe nicht die geringste Absicht, sechs
Wochen lang mein Knochengewebe zu regenerieren, Monkeyboy.
Erst recht nicht für eine Projektion, die nicht mal echt ist.«
»Selbst schuld. Erfährt doch keiner.«
»Zwei Worte in Knochenbrechers Ohr, und du hast einen
Knoten in deinen Armen.«
Jimmy -Joe zuckte die Achseln. »Man lebt nur einmal.« Er
wollte unbedingt dabei sein, wenn die falsche Bella das Kostüm
ablegte.
»Ich verschwinde«, wiederholte Tyrone, gönnte sich aber auf
dem Weg zur Tür einen kurzen Blick.
Vielleicht würde er in CyberNation vorbeischauen, mal sehen,
was dort los war.
Donnerstag, 30. September, 8 Uhr 15
Washington, D.C.
In seinem Viper auf der anderen Straßenseite beobachtete Jay
Gridley, wie Tyrone Howard das Striplokal verließ. Der Junge sah
ihn nicht. Er lächelte. Der Colonel hatte ihn gebeten, ab und zu
nach seinem Sohn zu sehen. Gridley hatte nichts dagegen, aber
diesen Vorfall würde er für sich behalten. Teenager waren von
Natur aus neugierig. Eine virtuelle Stripperin war deutlich weniger
gefährlich als eine Menge anderer Angelegenheiten, in die ein
Kind verwickelt werden konnte, sowohl on- als auch offline. Wenn
ein Junge im Teenageralter sich nicht für nackte Frauen in teressiert
hätte, wäre dies für seinen Vater eher Grund zur Beunruhigung
gewesen. Dies hier war völlig harmlos.
Tyrone bestieg seine Harley, startete und brauste schnell
davon.
Gridley sah ihm eine Zeitlang nach und ließ dann ebenfalls den
Viper an. Im Moment hatte er aber ganz andere Sorgen.
174
Donnerstag, 30. September, 11 Uhr 55
Washington, D.C.
Toni Fiorella machte im Kraftraum Dehnübungen, wobei sie
besonders darauf achtete, die Knie aufzuwärmen, als sie Rusty
hereinkommen sah. Er war bereits umgezogen und winkte ihr zu.
Als Schüler hatte er sich als recht talentiert erwiesen, war sehr
gelenkig, wenn er auch ein wenig zuviel Wert auf Geschwindigkeit
und Kraft legte. Keines von beiden war für Bukti Negara
erforderlich. Beim Serak mochten ihm die se Fähigkeiten von
Nutzen sein, aber dafür würde er noch Jahre brauchen, wenn er
überhaupt solange durchhielt. Bis jetzt hatte er zumindest bei
keiner Übungsstunde gefehlt, und seinen Bewegungen nach zu
schließen hatte er alleine geübt. Die körperliche Nähe bereitete
ihm nach wie vor Schwierigkeiten, er versuchte häufig, zuviel
Distanz zu halten, was seine Technik beeinträchtigte. Aber mit der
Zeit würde sich das geben.
»Hallo, Guru.«
»Fangen wir an, Rusty.«
Er nickte und stellte sich mit gespreizten Beinen in Position.
Die Hände hingen mit nach vorne gerichteten Handflächen neben
seinem Körper, während die Fingerspitzen zum Boden wiesen.
Anders als bei einigen der traditionellen japanischen
Kampftechniken mußte man hier nur eine Handvoll indonesischer
Begriffe beherrschen, um dann ihre Art des Silat praktizieren zu
können. Einer davon bedeutete en garde: >Jagah<.
Ihre Pose glich der Rustys. Ihr Guru hatte recht. Wenn man
lehrte, lernte man selbst. Bevor man etwas weitergab, mußte man
darüber nachdenken und seine Gedanken ordnen. Die zeremonielle
Verbeugung, die sie seit Jahren praktizierte, war ein gutes Beispiel
dafür. Für sie bestand sie aus einer einzigen langgezogenen,
geschmeidigen Sequenz, aber für einen Anfänger setzte sie sich
aus einer Serie kleinerer Bewegungen zusammen, von denen jede
ihre eigene Bedeutung besaß:
Am Anfang präsentiere ich mich selbst dem Schöpfer ...
Der linke Fuß kam ins Spiel, trat neben und ganz leicht vor den
rechten. Mit gebeugten Knien wurden die Hände nach links an die
175
Hüfte geführt, wobei die Handflächen nach unten gerichtet waren
und die linke auf der rechten lag.
Ich präsentiere meine Kenntnis der Kunst nach bestem Wissen...
Die Hände bewegten sich in einer bittenden Geste aneinandergelegt nach oben und nach vorne, wobei die Handflächen
nach oben zeigten, fast, als hielte man ein Buch. Die rechte Hand
ballte sich zur Faust, die linke schlang sich um die rechte, beide
kehrten zur Brust zurück.
Ich bitte den Schöpfer darum, mir all die Dinge zu offenbaren,
die meine Augen nicht sehen ...
Eine weitere Bewegung ahmte erneut das Halten eines Buches
nach, dann bedeckten die geöffneten Hände die Augen .
... und sie in mein Herz zu schreiben ...
Die Hände preßten sich in der Bewegung des Na maste, der
klassischen Geste des Gebets, zusammen, und berührten über dem
Herzen die Brust .
... bis ans Ende.
Die letzte Bewegung war eine Wiederholung der zweiten, bei
der die nach unten gerichteten Handflächen auf der linken Hüfte
ruhten.
»Bitte führen Sie Ihr Djuru aus.«
Rusty nickte und begann mit dem ersten Djuru.
Es war der einfachste aller Tänze, aber alles andere, jeder
komplizierte Ablauf entwickelte sich daraus. Eine Metapher für
das Leben, wie Toni wußte.
Donnerstag, 30. September, 12 Uhr 30
Washington, D.C.
Selkie kaufte sich in dem chinesischen Restaurant, zu dem ihre
Zielperson manchmal mittags mit dem Dreirad fuhr, eine Cola,
süßsaures Huhn und klebrigen Reis. Es war ein warmer Tag, aber
eine leichte Brise sorgte dafür, daß die Feuchtigkeit erträglich
176
blieb, und so ließ sie sich an einem der kleinen weißen,
schmiedeeisernen Tische vor dem Re staurant nieder. Diesmal trug
sie ein ausgebeultes graues T-Shirt, eine schwarze Baumwollhose
in Ubergröße, eine Baseballkappe und eine dunkle Sonnenbrille.
-Ihre Perücke war brünett und veränderte, obwohl sie zum Großteil
unter der Mütze verborgen blieb, ihr Aussehen so stark, daß sie
niemandem mehr glich, den die Zielperson zu Gesicht bekommen
hatte.
Da erschien er auch schon auf dem Dreirad, das halb liegend
gefahren wurde. Ein dünner Schweißfilm glänzte auf Gesicht und
Hals in der dunstigen Sonne.
Selkie öffnete die Kartons und leerte Huhn und Reis auf einen
Pappteller, auf dem sie beides mit den Einweg-Eßstäbchen
verrührte, bis sich Soße und Reis vermischt hatten. Ein Dutzend
andere Gäste saß ebenfalls in der Sonne und genoß das Essen, aber
sie vermied jeden Blickkontakt mit ihnen und der Zielperson.
Diese parkte das Dreirad, nahm Handschuhe und Helm ab und
hängte sie an die Lenkstange, bevor sie in das Re staurant
hineinging. Die Beine waren straff, die Muskeln angespannt von
der Fahrt. Dem Blick eines interessierten Beobachters blieb unter
den Spandex-Shorts nur wenig verborgen, und Selkie war
interessiert: Sie war keine Nonne, auch wenn sie während der
Arbeit enthaltsam lebte. Mora Sullivan konnte sich im Bett
amüsieren, wenn ihr danach war, für Selkie war das Risiko zu
groß.
Sie hatte diese Einstellung nicht immer gehabt. Ein mal, zu
Beginn ihrer Laufbahn, hatte sie ihre Zielperson in einer Bar
angesprochen. Das Opfer war ein gutaussehender Mann gewesen,
und sie war ihm ins Hotel gefolgt und hatte mit ihm geschlafen.
Eine aufregende Begegnung.
Als er zufrieden und erschöpft eingeschlafen war, hatte sie eine
schallgedämpfte 22er-Pistole aus der Handtasche gezogen und ihn
zweimal in den Hinterkopf geschossen. Er war nicht einmal
aufgewacht. Damals war sie sehr zu frieden mit sich gewesen, weil
sie ihn in den letzten Augenblicken seines Lebens glücklich
gemacht hatte. Wenn man sterben mußte, gab es Schlimmeres, als
eine leidenschaftliche Frau zu lieben, einzuschlafen und nie wieder
aufzuwachen.
177
Aber das war dumm von ihr gewesen. Sie hatte Haare und
Körperflüssigkeiten am Tätort hinterlassen, war, allerdings getarnt,
vom Hotelpersonal gesehen worden. Der Vorfall hatte keine
Konsequenzen gehabt und war längst zu,den Akten gelegt, aber
damals hatte sie sich selbst gefährlich überschätzt. Der Mann hier
wäre zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort vielleicht eine
nette Abwechslung im Bett gewesen, aber sie hatte nicht die
Absicht, ihre Freiheit aufs Spiel zu setzen, nur um sich
Sentimentalitäten hinzugeben.
Sie verzehrte ihr Huhn. Selkie hatte schon besser gegessen,
aber auch schlechter.
War heute der Tag? Sie warf einen Blick auf die Zielperson,
die Schlange stand, um ihre Bestellung aufzugeben.
Selkie lächelte.
178
21
Freitag, 1. Oktober, 7 Uhr
Kiew
In Kiew gab es mehrere anständige Restaurants, doch das
Frühstück fand in einer Privatsuite im sechsten Stock des neuen
Hilton statt, nicht weit von den lieblichen Ufern des Dnjepr, dort,
wo früher ein Theater und Geschäfte gestanden hatten. Anders als
ein öffentliches Restaurant konnte man eine solche Suite auf
elektronische Abhörgeräte überprüfen, und das war auch
geschehen. Die Fenster waren mit einfachen Vibratoren versehen,
die jeden Laserleser ausschalteten, den ein eventueller heimlicher
Beobachter aus der Entfernung auf sie richten mochte. Das
Personal hatte man fortgeschickt, die Türen waren versperrt, somit
strikte Geheimhaltung gewährleistet. Nicht, daß es wahrscheinlich
war, daß ihnen jemand nachspionierte. Niemand außerhalb dieses
Raumes ahnte auch nur, was hier vor sich ging. Aber man konnte
wirklich nicht vorsichtig genug sein.
Plechanow trug hier ein ausdrucksloses Lächeln zur Schau, das
nichts über seine Gedanken verriet. Für ihn war es nur eines von
vielen Treffen. Inzwischen waren die Mitspieler bekannte Größen,
deren Schicksal allein in seiner Hand lag.
Heute handelte es sich um Politiker, morgen würde es das
Militär sein. In ein paar Tagen würde er in einem anderen
Hotelzimmer, in einem anderen Land ähnliche Gespräche mit
Politikern und Generälen führen, sich nach allen Richtungen
absichern.
Es gab Rührei und ein ausgezeichnetes Lachsragout, dazu
Kaffee und Saft. Plechanow genoß das starke, bittere Getränk, das
so dunkel war, daß es wie Espresso wirkte. Mit solch
hervorragendem Kaffee hatte er hier nicht gerechnet.
»Haben Sie alle Ihre neuen Transfernummern?«
179
Außer ihm befanden sich noch drei Personen im Raum, zwei
Männer und eine Frau, alles demokratisch gewählte Mitglieder der
Werchowna Rada, des ukrainischen Parla ments.
»Ja«, erwiderten sie im Chor.
Plechanow nickte. Die Summe elektronischen Geldes, zu der er
den dreien Zugang verschafft hatte, war unbedeutend, ungefähr
eine halbe Million für jeden in einheimischer Währung. Für einen
Kartoffelbauern, eine Universitätsdozentin mit einer Teilzeitstelle
und einen Offizier im Ruhestand allerdings eine nicht
unbedeutende Summe. Sie war dazu bestimmt, Räder zu ölen und
Sand im Getriebe zu beseitigen, diente für Bestechungen,
Geschenke, politische Spenden, was immer erforderlich war.
Später würde viel mehr Geld fließen, die Macht neu verteilt
werden. Die se drei würden aus der nächsten Wahl als der neue
Präsident und seine beiden einflußreichsten Minister hervorgehen.
Wer von ihnen welchen Posten erhielt, mußte er noch bestimmen,
aber ihm blieb nicht allzu viel Zeit, daher wollte er die
Entscheidungsfindung so bald wie möglich abschließen.
Morgen würde er mit seinen beiden zahmen ukrainischen
Generälen sprechen, denen er ebenfalls einen höheren Rang und
mehr Prestige in Aussicht gestellt hatte. Viele Wege führten nach
oben, aber wenn man auf dem Gipfel angelangt war, fand sich die
größte Macht in den Munitionssäcken der Militärs und in den
Aktentaschen der Angehörigen der Legislative. Hatte man beides
in der Hand, war man so gut wie unbesiegbar. Wenn sich nur noch
ein einziger Faktor dazugesellte, war man für niemanden mehr erreichbar.
Schade, daß die Kirchen ihre einstige Macht eingebüßt hatten...
»Genosse Plechanow?« fragte die Frau, Ludmilla Komjakow,
deren Eltern ursprünglich aus Moskau stammten. Früher war sie in
der Kommunistischen Partei sehr aktiv gewesen. Es lag lange
zurück, daß man ihn >Genosse< genannt hatte, zumindest in dieser
Bedeutung.
»Ja?«
»Es hat einige ... Schwierigkeiten mit der Gewerkschaftsbewegung gegeben. Igor Bulawin droht, die Mitglieder zum
Streik aufzurufen, wenn die neuen Reformgesetze verabschiedet
werden.«
180
»Bulawin ist ein dummer Kosak«, sagte Rasin, ein ehemaliger
Armeeoffizier, der es bis zum Major gebracht hatte, bevor er in die
Politik ging.
»Du bist auch Kosak, Jemeljan«, erwiderte Ludmilla.
»Deswegen weiß ich es ja. Keine Sorge wegen Bulawin. Er
könnte in dem alten Auto, auf das er so stolz ist, einen tödlichen
Unfall haben. Das läßt sich leicht arrangieren.«
Plechanow blickte die Frau an. »Haben Sie auch das Ge fühl,
daß die Bedrohung durch Bulawin solch einen ... Un fall
rechtfertigt, Ludmilla?«
Sie schüttelte den Kopf. Mit vierzig war sie immer noch eine
schöne Frau. »Er stellt eine Bedrohung dar, aber ich halte es nicht
für unbedingt erforderlich, ihn umzubrin gen.«
»Der Tod ist endgültig«, erklärte Rasin.
»Da, das ist er, aber Bulawin ist ein Übel, das wir kennen.
Wenn wir ihn lebend an eine Stange in unserem Zelt fesseln,
könnte er uns noch von Nutzen sein.«
»Und wie wollen Sie ihm die Ketten anlegen? Er ist zu dumm,
um Angst vor Drohungen zu haben, er läßt sich nicht bestechen
und hat offenbar keine Leichen im Keller, die sich gegen ihn
verwenden ließen. Ich meine, wir sollten ihn erledigen.«
Der andere Mann, Demitrius Skotinos, gehörte zur griechischen Minderheit und bewirtschaftete immer noch einen
kleinen Hof auf dem Land, wo er Kartoffeln anbaute. Er schwieg.
»Vielleicht könnten wir eine Leiche in seinen Keller
schmuggeln?« schlug Komjakow vor.
Rasin schnaubte verächtlich, während Plechanow sie mit
erhobenen Augenbrauen anblickte.
»Bulawin liebt den Schnaps und die Frauen«, erläuterte sie.
»Bis jetzt ist er diskret gewesen und hat sich beherrscht, um seine
Gewerkschaftsmitglieder
nicht
abzuschrecken.
In
der
Öffentlichkeit trinkt er nicht allzuviel, ab und zu gönnt er sich ein
Stündchen mit einer Sekretärin. Männer sind Männer, die halten
das für normal. Vielleicht könnten wir ihm eine Frau liefern ... die
ihn mit Alkohol versorgt und sich auf Aktivitäten einläßt, die die
Gewerkschaftler und seine Frau für ... geschmacklos hielten? Die
Möglichkeiten sind zahlreich. Diese Frau würde natürlich über
eine holografische Kamera von hervorragender Qualität verfügen.«
181
»Pah!« meinte Rasin. »Warum schmuggeln Sie ihm nicht
gleich einen Jungen oder ein Schaf ins Bett? Alles vögeln, was
nicht niet- und nagelfest ist, das halten Frauen für die Lösung aller
Probleme.«
»Das ist vielleicht sinnvoller als die Lösung der Männer: Alles
töten, was nicht niet- und nagelfest ist.« Sie lächelte.
Plechanow gefiel ihre Reaktion. Ihr Vorschlag erschien ihm
sinnvoll. Brutale Schläger waren leicht zu finden, Subtilität selten.
Ein lebender Feind, den man in der Hand hatte, war manchmal
wertvoller als ein toter unter der Erde. Manchmal.
Zumindest wußte er jetzt, wer Präsident der Ukraine werden
würde.
Donnerstag, 30. September, 23 Uhr
Washington, D.C.
»Ich wette, du hast noch nie gesehen, wie jemand getötet
wurde, Scout.«
Für einen Augenblick unterbrach der kleine Hund sein
Schnüffeln und Pinkeln und wedelte mit dem Schwanz. Da der
Bemerkung kein Befehl folgte, begab er sich erneut ans Werk.
Als alte Frau verkleidet, bewegte Selkie sich auf die Wohnung
ihrer Zielperson zu. Sie hatte sich für diese Nacht entschieden. Die
Zielperson schlief noch nicht, was ungewöhnlich war; die
Leselampe brannte noch. Es würde ein einfacher Job werden,
sauber und schnell. Bis jemand erfuhr, daß er tot war, wäre sie
längst wieder zu Hause und würde Phyllis Markham für immer
verschwinden lassen.
Selkie bückte sich und tätschelte den Hund, wobei sie die
Leine löste. »Bei Fuß, Scout«, befahl sie.
Sie zupfte die dünnen weißen Baumwollhandschuhe zurecht,
griff nach dem Stock und richtete sich langsam und mühsam auf.
Als sie weiterhumpelte, hielt sich der Hund dicht bei ihr. Jeder, der
mehr als ein paar Meter entfernt war, mußte annehmen, daß sie ihr
182
Schoßtier immer noch an der Leine führte, vor allem, wenn man
sie schon vorher gesehen hatte. Es war so einfach, die Leute zu
täuschen.
Vor dem Haus angekommen, zwang sie sich, mehrmals tief
ein- und auszuatmen. Egal, wie oft sie solche Jobs schon erledigt
hatte, der Adrenalinrausch ließ nie auf sich warten. Ihr Herz raste,
ihre Atmung beschleunigte sich, sie fühlte sich angespannt, nervös,
ungeduldig. Sie verstand es, dieses Phänomen für sich zu nutzen,
sie liebte es geradezu. Wenn sie kein Lampenfieber mehr fühlte,
keine Schmetterlinge im Bauch, dann war es Zeit aufzuhören, egal,
wieviel Geld noch fehlte bis zu dem Ziel, das sie sich gesetzt hatte.
Allzu abgebrüht zu sein war gefährlich.
Herbstliche Düfte erfüllten die Nacht. Es roch nach Blättern
und Gras, aus einem Lüftungsschacht stieg der Geruch von
Weichspüler. Die kühle Luft liebkoste den Teil ihrer Haut, der
nicht von Make-up bedeckt war. Am Himmel glitzerten die Sterne
über den Lichtern der Stadt, Diamanten an einem nahezu klaren
Himmel. Ein Nachtfalter flatterte vorüber und hinterließ
geisterhafte Spuren in der Dunkelheit. Ihre Wahrnehmung wurde
stets nahezu psychedelisch scharf, wenn es um Leben oder Tod
ging. Auch dies war einer der Punkte, die sie so an ihrem Job
liebte.
Man lebte nie so intensiv wie beim Tanz mit dem Tod.
Ein rascher Blick zeigte ihr, daß sie weit und breit der einzige
Mensch auf der Straße war. Sie drängte Scout in das Gebüsch links
von der Eingangstür, wo er nicht zu sehen war. »Platz, Scout«,
befahl sie. »Liegenbleiben.«
Gehorsam streckte sich der Kleine. Sie hatte mit ihm geübt und
wußte, daß er diese Position mindestens eine Stunde lang halten
würde. Mehr als fünf Minuten würde sie nicht brauchen.
Selkie ging zur Tür und klingelte.
Alex Michaels lag im Bett und döste vor sich hin, den technischen Bericht auf den Knien balancierend, als ihn das Klingeln
rausriß. Er warf einen Blick auf die Zeitanzeige neben dem Bett.
Wer mochte das um diese Zeit sein?
183
Er erhob sich und warf sich einen Morgenmantel über, den er,
angesichts der Tatsache, daß er nichts darunter trug, sorgfältig
zuband.
Es klingelte erneut.
Noch im Halbschlaf, runzelte er die Stirn. Vermutlich ein
Kollege.
So? -Warum haben sie dann nicht angerufen? Schließlich hat
man im Büro deine Nummer.
Er öffnete die Nachttischschublade und nahm den Taser
heraus, der zur Ausstattung gehörte. Nicht, daß er ernsthaft
beunruhigt gewesen wäre, als er ihn in die Tasche gleiten ließ, aber
in Washington hatte es mehrere Raubüberfälle gegeben, bei denen
bis an die Zähne bewaffnete Typen an die Tür geklopft und sich
dann den Zutritt erzwungen hatten. Vorsicht war besser als
Nachsicht.
Durch den Spion sah er die alte Dame, die immer ihren Pudel
spazierenführte. Er leichtert öffnete er die Tür.
»Es tut mir so leid, daß ich Sie störe«, erklärte sie aufgeregt,
»aber Scout ist weggelaufen.« Sie hielt ihm die kleine Plastikbox
mit der aufgerollten Leine vor die Nase, aus der der
Karabinerhaken baumelte. »Ich glaube, er hat sich durch Ihr Tor
gezwängt und ist hinter das Haus gelaufen. Könnten Sie es mir
aufmachen? Ich wollte hier nicht mitten in der Nacht
herumschreien, wo doch alles schläft.«
»Natürlich. Warum gehen Sie nicht durch das Haus nach
hinten?«
»Ich möchte Ihnen keine Mühe bereiten, ich kann außen
herumgehen.«
»Kein Problem.« Lächelnd schloß Michaels die Tür hinter ihr.
»Folgen Sie mir.« Er führte sie durch das Wohnzimmer.
»Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist«, erklärte die alte
Dame hinter ihm. »So etwas tut er sonst nie. Ich glaube, er muß
etwas im Gebüsch gehört haben.«
»Alle meine Nachbarn haben Katzen. Allerdings sind die
meisten größer als Ihr Hund. Er könnte also in Schwie rigkeiten
geraten, wenn er sich mit einer von ihnen anlegt.«
Sie befanden sich bereits in der kleinen Küche und hatten die
Schiebetür aus Glas fast erreicht, als Michaels den Hund bellen
184
hörte. Das Geräusch schien von vorne zu kommen.
Wahrscheinlich hatte er die Spur der Katze verlo ren und suchte
nach Frauchen.
»Oh, da ist er ja.« Er wandte sich um - und sah, wie die alte
Dame ihren Stock einem Baseballschläger gleich über die Schulter
schwang.
Ihr Gesicht zeigte kalte Entschlossenheit.
Sie holte aus und hieb nach ihm, als wollte sie ihn in Grund
und Boden stampfen.
Mist!
Während er in der Tasche nach dem Taser fummelte, versuchte
er gleichzeitig, nach rückwärts auszuweichen, war jedoch bei
keiner dieser Aktionen besonders erfolgreich. Er stieß gegen den
Eßtisch, wo sich sein Bademantel an einem der Stühle verfing und
diesen umriß. Der Stuhl fiel zwischen ihn und die alte Frau und
rettete ihm das Le ben.
Der Stock zischte durch die Luft, aber als sie näherkam, stieß
sie mit dem Schienbein gegen den umgestürzten Stuhl und blieb
stehen.
»Fuck!«
Das Wort schien ihm ganz und gar undamenhaft, und ihre
Stimme klang plötzlich tiefer, glatter, jünger.
Michaels, der immer noch rückwärts taumelte, stieß heftig mit
dem Kopf gegen die Schiebetür. Es klang geradezu metallisch,
aber das Glas hielt ...
Die alte Frau schob den Stuhl mit dem Fuß beiseite und wollte
sich ihm nähern, um ihm mit dem erhobenen Stock den Schädel
einzuschlagen, aber jetzt hielt er den Taser in der Hand, zielte auf
sie und betätigte den Auslöser ...
Nein, nicht den Auslöser, aus Versehen hatte er das Laserzielgerät eingeschaltet! Verdammt!
Ein winziger roter Punkt erschien, aber auf der Wand neben
der Frau. Er bewegte den Taser, bis sich der zirkulie rende Punkt
auf der Brust der Alten befand ...
Sie fletschte die Zähne und schleuderte den Stock, der ihn
unter dem ausgestreckten Arm auf den Bauch traf. Schmerzhaft
war der Aufprall nicht, aber wuchtig genug, um ihn sein Ziel
185
verfehlen zu lassen. Der Laserpunkt sprang zur Seite, weg von der
Frau ...
Sie wirbelte herum und rannte davon. Als er sich erholt hatte,
war sie schon fast außer Sicht, hatte nahezu die Haustür erreicht.
Teufel, war die schnell! Tasernadeln wa ren bei einer Entfernung
von über fünf bis sechs Metern wirkungslos, wenn er aus dieser
Distanz überhaupt traf ...
Er rannte ihr nach. Wer sie war und was sie hier trieb, war ihm
völlig unklar, aber dies war sein Haus. Seine Überraschung
verwandelte sich allmählich in Wut. Was, zum Teufel, bildete sich
diese Frau ein? Wie konnte sie es wagen?
Er hörte sie etwas schreien, was er nicht verstand, aber als er
die Haustür erreichte, war sie bereits zwanzig Meter entfernt und
rannte wie ein Windhund davon. In einem Winkel seines Gehirns
wunderte er sich immer noch über die scheinbar Siebzigjährige,
die sprintete wie eine Olympiateilnehmerin, obwohl er längst
wußte, daß er eine jüngere, verkleidete Frau vor sich haben mußte.
Er begann ihr nachzulaufen, aber ihr Vorsprung war zu groß,
und sie lief zu schnell. In Bademantel und Hausschuhen hatte er
nicht die geringste Chance, sie einzuholen.
Die Gefahr war vorüber, er hatte sie verjagt. Jetzt mußte er nur
noch die Polizei holen. Sollte die doch nach ihr suchen.
Er wollte schon wieder ins Haus gehen, als er in den Büschen
ein Geräusch vernahm. Er richtete den Taser aus, schwenkte den
roten Laserpunkt auf der Suche nach einem Ziel hin und her. »Wer
ist da? Keine Bewegung, sonst schieße ich!« In diesem Moment
hätte er jeden erledigt, der ihm in die Quere kam.
Nichts.
Vorsichtig näherte er sich dem Gebüsch.
Auf dem Boden lag mit ausgestreckten Vorderpfoten der
Schoßhund der alten Dame und sah zu ihm auf. Das Tier bellte
einmal und wedelte dann mit dem Schwanz.
Michaels schüttelte den Kopf. Großer Gott!
Er bückte sich. »Komm mit, Junge. Hierher, Scout.«
Der Hund sprang auf und lief mit gesenktem Kopf und wild
wedelndem Schwanz auf ihn zu. Als er den kleinen Pudel auf den
Arm nahm, leckte das Tier ihm die Hand.
186
Stirnrunzelnd stellte Michaels fest, daß sein Atem viel zu
schnell ging. Mit einem tiefen Seufzer versuchte er, sich zu
beruhigen.
Was, zum Teufel, ging hier vor?
187
22
Donnerstag, 30. September, 23 Uhr 55
Washington, D.C.
Verdammter Mist!
Während Selkie im Fluchtauto in die Nacht von Maryland
hineinfuhr, stieg erneut Wut in ihr auf. Mit dem Ballen der rechten
Hand hämmerte sie auf das Lenkrad ein. > Mist, Mist, Mist!«
Ihr war klar, daß das reine Energieverschwendung war und
jetzt auch nicht weiterhalf. Vorbei war vorbei, der Fehler lag ganz
allein bei ihr. Der verdammte Hund hatte ihre Anweisungen genau
befolgt, aber sie hatte vergessen >ruhig< zu sagen. Wahrscheinlich
hatte er eine Katze gewittert und gebellt. Das war ganz natürlich,
schließlich hatte sie es ihm nicht verboten!
Dumm. Ein Anfängerfehler, zu einfach, als daß sie daran
gedacht hätte. Und auch wenn sie damit nur Energie
verschwendete, es ärgerte sie doch. Erneut hieb sie auf das
Lenkrad.
Es war kaum zu glauben, aber wenn einen das Glück im Stich
ließ,- dann gründlich. Ging etwas schief, dann genau im falschen
Moment. Die Ausführung ihres Auftrags war dadurch ruiniert
worden, daß der Hund genau in dem Augenblick gebellt hatte, in
dem sie zuschlagen wollte. Eine Sekunde früher wäre sie noch eine
lächelnde alte Dame gewesen, die hinter der Zielperson
herhumpelte. Eine Sekunde später hätte der Mann bewußtlos auf
dem Boden gelegen und auf den Gnadenstoß gewartet, wäre das
Spiel gelaufen gewesen.
Wenn der Hund nicht gebellt hätte. Wenn die Zielperson
keinen Taser in der Tasche gehabt hätte. Wenn ihr der Stuhl nicht
in den Weg geraten wäre ...
Wenn, wenn, wenn.
Verdammt!
Jetzt hatten sie den Hund, ihren Stock, und wenn sie nicht
unwahrscheinlich blöd waren, wußten sie, daß auf Alexander
188
Michaels ein Mordanschlag geplant war. In Kürze fänden sie
sicher die Wohnung, die sie im Viertel gemie tet hatte. Dort gab es
zwar keinerlei Hinweise auf ihre wahre Identität, aber sie wüßten
dann, daß sie ihm aufgelauert hatte. Wahrscheinlich nützte ihnen
das nicht viel, aber eines war sicher: Die Zielperson war für sie
jetzt sehr viel schwie riger zu erreichen.
Trotz der Wut zauberte dieser Gedanke ein Lächeln auf ihr
Gesicht. Natürlich würde sie ihn trotzdem eliminieren, das war
keine Frage. Die Hindernisse würden größer sein, das Risiko
ebenfalls, aber wenn sie einen Auftrag annahm, erfüllte sie ihn
auch. Immer.
Also gut - sie hatte sich eine Herausforderung gewünscht, jetzt
hatte sie sie bekommen.
Freitag, 1. Oktober, 0 Uhr 34
Washington, D.C.
Alex tat so, als wäre nichts Besonderes vorgefallen, aber Toni
durchschaute ihn. Er war verstört, auch wenn er ruhig wirkte,
während er in Freizeithose und T-Shirt herumstand, barfuß, den
Pudel auf dem Arm haltend, der Teil der Tarnung des Killers
gewesen war. Geistesabwesend streichelte er den Hund, während
die Polizisten grüßend an ihre Mützen tippten und verschwanden.
Man hatte dafür gesorgt, daß die Streifenwagen das Blaulicht
ausgeschaltet ließen, aber die Aktivitäten um Alex' Haus waren für
diese Uhrzeit dennoch höchst ungewöhnlich. Aus den Fenstern der
umliegenden Häuser sahen besorgte Nachbarn, andere standen vor
den Türen und versuchten herauszufinden, was vorgefallen war.
Toni war erleichtert, daß Alex nichts zugestoßen, daß der
Mordversuch fehlgeschlagen war. Außerdem freute sie sich, daß er
sie zuerst, vor allen anderen, angerufen hatte. Das bedeutete etwas.
Sie hatte die Untersuchung sofort an sich gezogen. Hier war
die Net Force zuständig, schließlich gehörte die Angelegenheit
zum Fall Steve Day. Die örtliche Polizei wurde nur benötigt, um
189
die Gegend nach der Frau abzukämmen, und dafür war es
vermutlich ohnehin zu spät. Unter einem Busch würde sie sich
kaum verstecken. Wenn es sich überhaupt um eine Frau handelte.
Vielleicht hatten sie es mit einem kleinen Mann zu tun, der sich
verkleidet hatte?
»Alex?«
»Hm?«
»Wir brauchen den Hund.«
Er sah auf das Tier hinunter und blickte dann Toni an. »Den
Hund? Warum das?«
»Wir müssen ihn mit einem Scanner untersuchen, um zu
überprüfen, ob er irgendwo ein Implantat trägt, anhand dessen er
sich identifizieren ließe.«
»Nein, er bleibt bei mir. Sie können mir jemanden vom Labor
schicken, der ihn hier untersucht.«
»Alex, er gehört zu m Beweismaterial.«
»Nein, ohne den Burschen hier würde ich jetzt in einem Loch
neben Steve Day liegen.« Er kraulte das Tier hinter dem Ohr. » Du
bist wirklich ein guter Junge, stimmt's, Scout?«
Toni nickte. Wenn sie ihn nicht kennen würde, hätte sie leicht
den Eindruck bekommen können, Alex habe.jede Nacht Besuch
von Killern, so ungerührt wirkte er. Aber sie kannte ihn, vielleicht
besser als er sich selbst. »Vermutlich sind wir hiermit ohnehin eine
Weile beschäftigt.« Sie hielt den Stock in die Höhe, der in
spurensicheres Plastik eingewickelt war.
»Sie hat Handschuhe getragen«, erklärte Alex. »Weiß,
vermutlich aus Seide oder Baumwolle. Den Stock hat sie mit
Sicherheit abgewischt, nachdem sie sie angelegt hat. Die
Handschuhe, meine ich.«
»Eine Überprüfung kann nicht schaden.«
Er zuckte die Achseln.
Der letzte Streifenpolizist war inzwischen verschwunden, aber
vier Beamte der Net Force waren zurückgeblie ben. Zwei der
Männer hatten an den beiden Eingängen zu Alex' Haus Position
bezogen, einer saß in einem Wagen auf der anderen Straßenseite,
der vierte stand vor der Schiebetür. Sie würden Alex jetzt immer
begleiten, bis der Fall gelöst war.
190
Toni fühlte eine Wut in sich aufsteigen, die ihr die Arbeit
erleichtern würde. Wer auch immer diese Person war, ob Mann
oder Frau, sie würde nichts zu lachen haben, wenn sie sie zuerst in
die Finger bekam. »Alles in Ord nung?«
»Ja, es war nur ein fürchterlicher Schock, diese nette alte Dame
aus der Nachbarschaft dabei zu ertappen, wie sie mir den Schädel
einschlagen wollte.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Ich habe sie seit mindestens einer Woche in der Gegend
gesehen.«
»Die Beamten, die hier während der verschärften Sicherheitsmaßnahmen Dienst taten, registrierten sie ebenfalls. Das
war kein spontaner Angriff, Sie wurden gründlich ausspioniert.«
Er nickte. »Weil ich Steve Days Amt übernommen habe.
Wahrscheinlich hatte diese Frau auch mit dem Anschlag auf ihn zu
tun.«
»Ja, der Gedanke ist mir auch schon gekommen.«
»Na gut, nehmen Sie den Stock mit ins Labor.«
»Ich kann hierbleiben, wenn Sie das möchten.«
»Nein, gehen Sie an die Arbeit, ich bin okay«
Widerstrebend verließ sie ihn. Der Anblick von Alex, der den
kleinen Hund tätschelte, verfolgte sie auf dem gesamten Rückweg
zur Zentrale.
Freitag, 1. Oktober, 7 Uhr 37
New York City
Johnny der Hai stand mit einem Blatt Papier in der Hand vor
Ray Genalonis Schreibtisch.
»Okay, was gibt's?«
»Das hier ist gerade von unserem Mann bei der Washingtoner
Polizei hereingekommen. Ich dachte, Sie würden das gerne sofort
sehen.«
191
Genaloni nahm das Papier entgegen, setzte die Lesebrille auf
und begann, es zu studieren.
Noch ehe er die ersten Worte lesen konnte, unterbrach Johnny
ihn. »Sieht so aus, als hätte eine Frau versucht, den Chef der Net
Force zu töten.«
Genaloni sah auf und blickte ihn über die Brille hinweg an.
»Versucht? Nur versucht?« Erst jetzt wurde ihm die volle
Bedeutung der Aussage bewußt. »Eine Frau? Wollen Sie damit
sagen, Selkie ist eine Frau?«
Johnny hob beide Hände, um seine Unwissenheit zum
Ausdruck zu bringen. »Das hier stammt von unserem Mann in
Washington.«
Genaloni las das Dokument. Es handelte sich um die Kopie
eines Polizeiberichts und klang reichlich mager. Viel war nicht
herauszuholen. Aber offenbar handelte es sich auch nicht um eine
Polizeiangelegenheit, vielmehr hatte sich das FBI eingeschaltet.
Genaloni schüttelte den Kopf. Eine Frau. Er wollte es kaum
glauben. Drei-, viermal hatte er mit Selkie telefoniert, aber darauf
wäre er nie gekommen. Sie klang wie ein Mann. Diese Tatsache
beunruhigte ihn mehr als der fehlgeschlagene Mordversuch, und
schon der mißfiel ihm gewaltig. Was, wenn man sie erwischt
hätte? Was, wenn sie Buch führte und es gelänge, die Verbindung
zu ihm herzustellen?
Natürlich hatte er sich früher schon mit diesem Problem
beschäftigt, es tatsächlich aber nie besonders ernstgenommen,
denn Selkie hatte seine Aufträge stets erfüllt. Eine Menge Geld
stand auf dem Spiel, also konnte er, nein sie kein Interesse daran
haben, ihn ans Messer zu liefern. Und nun? Eine üble Situation,
vor allem, wenn sie es wirklich mit einer Frau zu tun hatten.
Frauen konnte man nichts Wichtiges anvertrauen.
»Auf unserer Gehaltsliste stehen doch auch ein paar
Computerfreaks, stimmt's?«
»Hervorragende Leute.«
»Sie sollen sich an die Arbeit machen. Ich will, daß sie Selkie
aufspüren. Finden Sie sie - wenn es wirklich eine Frau ist.«
»Und dann?«
»Nichts. Finden Sie sie einfach. Wenn es soweit ist, werde ich
entscheiden, was geschieht.«
192
Johnny nickte und ging. Genaloni studierte noch einmal das
Fax. Die ganze Affäre mit Luigi und dem FBI hatte ihm von
Anfang an nicht gefallen, und es wurde von Tag zu Tag
schlimmer. Vielleicht war es an der Zeit, Luigi abzu schreiben und
die Reihen zu schließen. Dafür mußte er ihn allerdings erst finden
und, falls er geplaudert hatte, beseitigen. Selkie mußte aufgespürt
und ebenfalls eliminiert werden. Und der Mann, der das erledigte,
auch, um keinerlei Risiko einzugehen.
Mein Gott, dieser Mist hatte ihm gerade noch gefehlt. So wie
es im Augenblick aussah, würde er auf dem Weg zum
gesetzestreuen Bürger knietief durch Blut waten müssen.
Freitag, 1. Oktober, 9 Uhr 12
New Orleans
Jay Gridley schaltete vom vierten in den dritten Gang zu rück
und genoß das kraftvolle Grollen des Viper, während er das
Tempo verlangsamte, um nach rechts in die Ausfahrt einzubiegen.
An einer Ampel hielt er an, um ein paar Lastwagen vorbeizulassen,
bevor er nach rechts abbog.
Willkommen in New Orleans, der Stadt der Lebensfreude.
Laissez les bon temps rouler ...
Einem Gerücht zufolge war hier eine Gaunerei im Gange, Geld
wurde umgeleitet, und niemand wußte, wer dahintersteckte. Dem
wollte er nachgehen. Vielleicht fand er hier den Burschen, den er
suchte.
An einer weiteren Ampel schaltete er in den Leerlauf. Während
er auf Grün wartete, warf er einen Blick hinüber zum
Zeitungskiosk an der Ecke. Zeitungen und Illustrierte wellten sich
in der schwülen Hitze, die Titelseiten hingen schlaff herab. An die
Wand des Kiosks hatte man eine große bunte Landkarte mit der
Überschrift CyberNation geheftet. Damit mußte er sich
eingehender beschäftigen. Ein Mann in seiner Position sollte über
solche Dinge Bescheid wissen.
193
Eine Schlagzeile erregte seine Aufmerksamkeit. Eine
Dollarnote schwenkend, winkte er den Verkäufer heran und
deutete auf die Zeitung, die ihn interessierte. Der Mann neben dem
Kiosk trat auf die Fahrbahn, nahm Jays Geld entgegen und reichte
ihm das Gewünschte.
THAILÄNDISCHER PREMIER STIRBT BEI AUTOUNFALL, hieß es in fetten Lettern.
Wechselgeld erhielt er nicht.
Es gelang ihm, den ersten Absatz zu überfliegen, bevor die
Ampel auf Grün schaltete.
Offenbar war Premierminister Sukho mit seinem Auto von
einer Brücke gestürzt. Zum Zeitpunkt des Unglücks befand er sich
allein im Wagen. Ein merkwürdiger Vorfall.
Seine Witwe enthielt sich jeden Kommentars.
Gridley seufzte.
In der halbmondförmigen Stadt waren die Straßen von den
Autos der Einheimischen und Touristen verstopft. Die Besucher
wollten sich den Fluß ansehen, die pikanten Speisen genießen,
eventuell eine Stripvorführung in der Bourbon Street im
französischen Viertel besuchen. Wenn man eine offiziell
gesponserte Sehenswürdigkeit in der virtuellen Realität besuchte,
mußte man sich mit den Bedingungen der realen Welt
herumschlagen. Selbst im Oktober war die schwüle Hitze hier
kaum zu ertragen.
Sein Ziel war ein Viertel namens Algiers, nicht gerade die
beste Gegend, obwohl man sich seit Jahren um eine Sanierung
bemühte. Er hatte sich über den Ort informiert, und'ihm war klar,
daß er sich dort auf keinen Fall unnötig lange aufhalten wollte.
Sein Viper war so schnell, daß er damit vielen Problemen aus dem
Weg gehen konnte, aber er war kein Panzer. Können und
Schnelligkeit, das war sein Kapital. Bis jetzt war er damit den
Gaunern der virtuellen Realität entkommen, aber auch ein Experte
landete manchmal in einer Sackgasse.
Während er sich durch die engen Straßen schlängelte, behielt er
die übrigen Verkehrsteilnehmer und die Fußgänger im Auge, die
an den Straßenecken herumlungerten und Bier aus Flaschen mit
langen Hälsen tranken. Andere griffen zu unbekannten
Flüssigkeiten, deren Behälter in Papiertüten verborgen blieben. In
194
diesem Viertel waren die meisten Gesichter schwarz oder
zumindest dunkel, und keines von ihnen wirkte freundlich.
Er beobachtete, wie Geld im Austausch gegen Tütchen oder
Ampullen den Besitzer wechselte. Frauen im Minirock und mit
hohen Absätzen lehnten an Bushaltestellen oder neben den
Eingängen von Bars und hielten nach potentiellen Kunden
Ausschau.
Selbst in der virtuellen Realität achtete er wohlweislich darauf,
sich von ihnen fernzuhalten.
Nach einem Blick auf die Anweisungen, die man ihm gegeben
hatte, bog er erneut nach rechts ab und fand sich auf einer Straße
wieder, wo kaum zwei Autos nebeneinander Platz hatten. Vor ihm
lag die Zweigstelle der Bank von Lousiana, die er gesucht hatte.
Sie wirkte wie ein Wohnwagen ohne Räder, den man vor einem
Grundstück voller Bauschutt abgestellt hatte.
Vor der Filiale parkte eine in glänzendem Metallicblau
lackierte neue Corvette, ein Cabrio, mit heruntergeklapptem
Verdeck. Der Motor lief. Ein an sich jung aussehender Mann, der
sich aber wie ein alter Mensch bewegte, kam aus der Bank
gerannt. In dem gepflegten Anzug und mit der Aktentasche in der
Hand hätte er ein Geschäftsmann, ein Kunde sein können, wäre da
nicht die Maske gewesen, die er trug.
Als er aufsah, entdeckte er Gridley und rannte zu seinem
Wagen. Während er die Fahrertür öffnete, schleuderte er die
Aktentasche auf den Beifahrersitz und sprang in den Wagen.
Mit einemmal begriff Gridley. Das mußte der Programmierer
sein!
Grinsend beschleunigte er. Er würde dem Schwein den Weg
abschneiden. Der würde ihm nicht entkommen.
Doch der Maskierte war zu schnell für ihn, fuhr mit
quietschenden Reifen an und beschleunigte rasant.
Auch gut, nicht so wichtig! Die Corvette mochte schnell sein,
aber dem Viper konnte sie nicht das Wasser reichen. Motor und
Getriebe seines Wagens waren dem des anderen weit überlegen,
außerdem war er wesentlich schneller.
Gridley trat das Gaspedal durch, bis der Viper zu flie gen
schien. Schon holte er auf. »Gib auf, Junge, du hast keine
Chance!« sagte er laut.
195
Die schmale Straße war nicht für schnelle Autos gebaut
worden, eine Geschwindigkeit von hundertzwanzig war hier
geradezu mörderisch. Beide Wagen gingen quietschend in eine
Rechtskurve, aber Gridley hielt den Viper auf der Straße, schaltete,
tippte das Gaspedal an, holte weiter auf. Jetzt lag er nur noch
einhundert Meter zurück, eine Distanz, für die er nicht mehr als
fünf Sekunden bräuchte ...
Da warf der Fahrer der Corvette eine Handvoll glänzender
Münzen in die Luft.
Zumindest sah es zunächst danach aus. Erst als sie auf der
Straße aufschlugen, erkannte Gridley, daß die vermeintlichen
Geldstücke Stacheln trugen.
Spikes!
Er stieg auf die Bremse. Die Räder blockierten, der Wagen
schleuderte und wurde langsamer,,aber damit nicht genug. Zuerst
erwischte es den linken Vorderreifen, der mit einem Knall wie bei
einem Feuerwerkskörper explodierte. Der Viper brach nach links
aus. Gridley riß das Lenkrad herum und hatte das Fahrzeug fast
wieder unter Kontrolle, als der rechte Vorderreifen platzte.
Dadurch geriet der Wagen erneut ins Schleudern, prallte gegen den
Bürgersteig und verlor die Bodenhaftung. Als das Fahrzeug in ein
Schaufenster rauschte, platzten auch die beiden Hinterreifen.
Gridley raste durch die Auslage in eine kleine Bäckerei. Das Glas
der Verkaufstheke splitterte, der Wagen rutschte rückwärts, stieß
einen Tisch um und kam an einem Tresen zum Stehen. Unter der
Wucht des Aufpralls löste sich eine alte metallene Registrierkasse
von ihrem Platz und stürzte auf die Kofferraumklappe des Vi per.
Da waren größere Reparaturen fällig.
Übersät von Glasscherben und Gebäckteilen, blickte Gridley
aus seinem Wagen heraus den entsetzten Bäcker an, der mit weißer
Schürze und Mütze direkt neben der Tür des Wagens stand.
Als Jay endlich klar wurde, daß der Bursche gewonnen hatte,
schüttelte er nur den Kopf. Seine Fahrt war zu Ende, der andere
längst über alle Berge.
»Hallo«, begrüßte er den Bäcker, der ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. »Sind die Donuts frisch?«
196
23
Freitag, 1. Oktober, 13 Uhr 32
Washington, D.C.
Während er vor seinem Schrank stand und darauf wartete, daß
das Lesegerät seinen Daumenabdruck erkannte, vernahm Tyrone
Howard die Stimme des Schicksals. Bis jetzt hatte er sich diese
immer ganz anders vorgestellt, keineswegs so sanft, heiser und
sexy. Kaum zu glauben, daß sie ihn ins Verderben reißen sollte.
»Hi, bist du Tyrone?«
Als er sich umwandte, stand Belladonna Wright in voller
Lebensgröße vor ihm. Vierzehn Jahre alt, das schönste Mädchen
der Eisenhower Middle School, vermutlich sogar in ganz
Washington. Und sie lächelte ihn an.
Lächelte.
Er war ein toter Mann.
Was wollte sie ausgerechnet von ihm? Wenn Knochenbrecher
LeMott davon erfuhr, konnte er sich gleich die Kugel geben, das
würde ihm viel Ärger ersparen. Großer Gott!
»Äh, äh, ja?« Zu seinem Entsetzen brach seine Stimme. Diese
Schande würde er bestimmt nicht so schnell verschmerzen.
»Sarah Peterson hat mir erzählt, daß du dich mit Computern
auskennst und so gut erklären kannst, daß sogar eine Null wie ich
es kapiert. Wenn ich im Programmieren keine ausreichende Note
schaffe, bekomme ich großen Ärger. Könntest du mir vielleicht
helfen?«
Sein Selbsterhaltungstrieb schrie laut auf. Sobald er begriffen
hatte, wer da vor ihm stand, hatte er sich hinter einem großen
Felsen in Tyrones Gehirn verschanzt und feuerte von dort seine
Warnungen ab. Nein! Achtung, Gefahr! Danger! Warnung,
Warnung, lauf, flieh, der Damm ist gebrochen, der Vulkan
explodiert, die Außerirdischen kommen! Nein, tut mir leid, geht
nicht, äh, negativ, null!
197
Statt dessen kamen aber ganz andere Worte aus Tyrones Mund.
»Äh, okay, natürlich«, hörte er sich darauf antworten.
Wer hat das gesagt? Bist du völlig übergeschnappt? Tod!
Vierteilung! Zerstörung! Autsch! schrie sein Selbsterhaltungstrieb,
während er verzweifelt versuchte, unter dem Felsen ein Loch zu
graben.
»Oh, danke. Hier ist meine Telefonnummer«, erwiderte Bella.
»Ruf mich an, damit wir einen Termin vereinbaren, okay?«
Natürlich, okay! Ist ganz okay, daß Knochenbrecher LeMott
dich zerlegt wie ein verkochtes Suppenhuhn.
Mit einem automatischen Lächeln nahm Tyrone den Zettel
entgegen. »Okkkay.«
Bella lächelte, wandte sich ab und ging davon. Besser gesagt,
sie schritt davon wie eine polynesische Prinzessin über einen
weißen Sandstrand, Herrscherin, soweit ihr Auge reichte.
In Tyrone erhob die Lust ihr Haupt, während gleichzeitig
Angst den Speichel versiegen ließ, bis sich der Mund anfühlte wie
ein Haufen Knochen, der seit Hunderten von Jahren in der Wüste
Gobi bleichte.
Du weißt, welche Zukunft vor uns liegt, du Vollidiot! Lauf um
dein Leben, nimm einen neuen Namen an, verlasse die Stadt!
»Ty-rone! War das etwa Bella, mit der du gerade gesprochen
hast?«
Mit einem blöden Nicken starrte er Jimmy-Joe an.
»Mann-o-Mann, nicht schlecht, Ty-rone! Gute Arbeit!
Übrigens, herzlichen Glückwunsch zu deinem schwarzen Gürtel.«
Tyrone runzelte die Stirn. »Was? Von welchem schwarzen
Gürtel redest du?«
»Von dem, den du sicher brauchen wirst, wenn Knochenbrecher herausfindest, daß du versuchst, dich an seine Bella
heranzumachen. Entweder schwarzer Gürtel oder eine Pistole. Ich
persönlich würde die Pistole vorzie hen.«
»Ich habe sie doch gar nicht angemacht! Sie wollte nur, daß ich
ihr beim Programmieren helfe!«
»Na klar.«
»Das stimmt! Sie hat mir ihre Telefonnummer gegeben, damit
wir uns verabreden können. Wir sollen uns später treffen, um ... äh
... «
»An irgendeinem privaten Ort, nehme ich an, wie zum Beispiel
bei ihr zu Hause?« ergänzte Jimmy-Joe.
»O Mann. O nein.«
»O ja. Ich sehe folgendes Szenario vor mir: Knochenbrecher
kommt vorbei, sieht, wie du dich über Bellas appetitliche Schulter
beugst und deine Hand auf ihre ... Maus legst, und dann Sayonara,
Tyrone-San.«
»Ah!«
»Ich wüßte einen Ausweg. Du könntest zu beschäftigt sein, um
ihr zu helfen.«
»Stimmt. Aber dann wird sie sauer und erzählt Knochenbrecher, ich hätte sie beleidigt, und dann bringt er mich auch
um.«
»Sieht ziemlich aussichtslos aus.«
»Warum grinst du? Ich finde das nicht lustig, Jimmy -Joe.«
»Kommt ganz auf den Standpunkt an. Wenn du sowieso den
Löffel abgeben mußt, kannst du genausogut vorher ein wenig Spaß
haben und glücklich sterben.«
»Ich glaube, mir wird schlecht.« Plötzlich überkam Tyrone ein
dringendes Bedürfnis. Jimmy-Joes Gekicher im Ohr, floh er den
Gang hinunter.
Freitag, 1. Oktober, 19 Uhr 30
Grosny
Schwer atmend, saß Plechanow in seinem Sessel. Er hatte die
VR-Ausrüstung abgelegt. Wie war der Net-Force-Mann so schnell
und so dicht an ihn herangekommen? Gut, es war ihm gelungen,
den Kerl aufzuhalten, dessen Programm zu zerstören, aber um
Haaresbreite wäre er ertappt worden, und das hätte nicht passieren
dürfen.
Deutlich vernehmbar atmete er aus, um sich zu beruhigen.
Natürlich, er war der Beste, aber es mußte immer einen zweiten,
dritten oder zehnten Mann geben. Der Angriff auf den Chef der
199
Net Force und die anderen Ablenkungsmanöver hatten dafür
sorgen sollen, daß die Programmierer der Einheit anderweitig
beschäftigt waren. Ihre Top-Leute konnten zwar nicht wirklich mit
ihm konkurrieren, aber an der Spitze waren die Unterschiede nicht
mehr allzu groß. Diese Burschen waren gefährlich. Wenn sich
einer von ihnen zur rechten Zeit am rechten Ort aufhielt, konnte
das problematisch werden.
Er rieb sich die Augen. Der Gegner hatte ihn also entdeckt.
Natürlich war er nie wirklich in Gefahr gewesen, sein Fluchtweg
war wohlgeplant. Verfolger ließen sich auf verschiedene Weise
abschütteln, selbst wenn die erste Maßnahme versagt hätte, was
nicht geschehen war. Für diesen unwahrscheinlichen Fall hatte er
die Sicherheitsmaßnahmen entwickelt. Und war er etwa nicht
entkommen? Dieser Junge, ein thailändisches Waisenkind, das die
amerikanische Nationalität angenommen hatte - wie hieß er doch
gleich? Groly? Gridley? - war gut. Er hatte schnell reagiert, aber es
mangelte ihm an Erfahrung. Wenn sie beide in den virtuellen Ring
stiegen und ihre Handschuhe anlegten, war der Junge im Vorteil aber in dieser Arena galt das Box-Reglement nicht. Wenn sie von
keinem Fairneßgebot behindert wurden, waren die alten Füchse
den Jungen stets überlegen, so schnell die auch sein mochten ...
Dennoch würde er in Zukunft vorsichtiger sein. Das perfekte
Verbrechen zeichnete sich nicht dadurch aus, daß man entdeckt
wurde, aber entkam. Vielmehr bemerkte bei einem perfekten
Verbrechen niemand, daß es überhaupt begangen worden war. Bei
diesem Unternehmen hatte er die Latte nicht so hoch gesetzt, aber
einem Verfolger zu entkommen war längst nicht so gut wie
unbemerkt zu bleiben. Das mußte besser werden.
Auf seiner Agenda standen nun die Reisen nach Weißrußland
und Kirgisien. Er säte weiter. Bald würde die Zeit der Ernte
kommen.
200
Freitag, 1. Oktober, 16 Uhr 02
Washington, D.C.
Michaels' Boß hatte sich online bei ihm gemeldet. Er brachte
keine guten Nachrichten.
»Der Präsident ist beunruhigt, Alex. Inzwischen sind mehr als
drei Wochen vergangen.«
»Das ist mir bewußt, Sir.« Michaels war auch bewußt, wie steif
er klang.
Walt Carver war nicht wegen mangelnder Sensibilität Direktor
des FBI geworden. »Legen Sie die Stacheln wieder an. Das ist
doch nicht Neues für Sie. Hier geht es um Politik.«
»Ich verstehe.«
»Wir brauchen einen Erfolg«, fuhr Carver fort. »Nicht
unbedingt einen großen, aber zumindest einen Brocken, den wir
den hohen Tieren vor die Nase halten können, damit sie sich nicht
auf uns stürzen. Je eher Sie denen etwas bieten, desto besser. Eher
heißt in diesem Fall in den nächsten Tagen.«
»Ja, Sir.«
»Ich werde Ihnen den Senatsausschuß vom Hals halten, aber
bis Montag brauche ich etwas über die Ermordung von Day.
Spätestens bis Dienstag.«
»In Ordnung, Sir.«
Nachdem Carver die Verbindung unterbrochen hatte, erhob
sich Alex. Er mußte sich dringend bewegen, um seine Nervosität
abzubauen. Nicht genug damit, daß er letzte Nacht fast ermordet
worden wäre, jetzt saß ihm auch noch der Präsident der
Vereinigten Staaten von Amerika im Ge nick. Wenn er nicht bald
etwas herausfand, war er in die ser Stadt erledigt, denn wenn die
Mächtigen entschieden, daß er ein Versager war, konnte er seine
Karriere vergessen.
Auch gut. Er liebte die Arbeit, war damit zufrieden, aber er
konnte einen neuen Job finden, das war nicht das Problem.
Solange er Steves Mörder erwischte, bevor man ihn vor die Tür
setzte, konnte er damit leben. Nach dem Amt hatte er sich ohnehin
nicht gedrängt, vor alle m nicht, wenn er diesen Preis zahlen mußte.
201
Plötzlich fühlte er den Drang, seine Tochter anzurufen. Er sah
auf die Uhr. Kurz nach vier Uhr nachmittags, aber in Idaho war es
ein paar Stunden früher. Ob sie schon von der Schule zurück war?
Keine Ahnung. Eigentlich hätte er das wissen müssen, aber er
wußte es tatsächlich nicht. Besaß sie einen Beeper? Wußte er auch
nicht. Selbst wenn, sollte er sie mitten im Unterricht anpiepsen?
Das würde sie nur aufregen. Und was wollte er ihr sagen? Hallo,
Schätzchen, rat einmal, was Daddy gestern passiert ist. Er wurde
fast ermordet, und jetzt ist er vermutlich auch noch seinen Job los.
Er konnte mit niemandem über den Vorfall sprechen, selbst
wenn er es sich noch so sehr gewünscht hätte. Und eigentlich war
es auch vollkommen überflüssig, denn es brächte ihn doch nicht
weiter, wenn er über sein schweres Schicksal jammerte. Außerdem
wollte das ohnehin niemand hören.
Er war zu nervös, um stillzusitzen. Vielleicht sollte er in den
Kraftraum gehen und sich dort austoben. Schaden würde es nicht,
möglicherweise fühlte er sich danach besser. Manchmal half ihm
die Bewegung, den Kopf frei zu bekommen, fiel ihm dabei etwas
Vernünftiges ein. Ein bißchen Krafttraining war keine schlechte
Idee. Wenn er hier herumhing, fand er mit Sicherheit keine
Lösung.
Ein Schreibtischhengst zu sein war kein großes Vergnügen, das
hatte er inzwischen begriffen.
Freitag, 1. Oktober, 16 Uhr 42
Washington, D.C.
Jay Gridley betrat das virtuelle Geschäft von Cane Masters in
Incline Village, Nevada. Lieber hätte er in New Orleans den
Bankräuber gejagt, aber der Programmierer musste warten. Er
hatte ausreichend Gelegenheit gehabt, sich das Fahrzeug des
Mannes anzusehen, und er hatte ein Gefühl dafür bekommen, wie
sich der andere bewegte, und, nachdem er den Überfall noch
einmal durchgegangen war, auch für dessen Verfahrensweise.
202
Manche Dinge ließen sich verbergen, andere schimmerten immer
durch. Vor allem der Stil unterschied einen guten Programmierer
von einem anderen. Daher war Gridley sicher, daß er den Mann
sofort erkennen würde, falls er noch einmal auf dessen Spur stieß.
Das war ein gewaltiger Vorteil, den er zu nutzen gedachte.
Aber letzte Nacht hatte jemand versucht, seinen Boß zu
ermorden, und das hatte Vorrang.
Die Wände des Ladens waren von Halterungen bedeckt, in
denen polierte Stöcke aus glänzendem Eichen-, Hickoryund
Walnußholz hingen. Auch andere Waffen aus Holz waren hier zu
finden, wie Knüppel und Escrimastöcke. Außerdem wurden
Gymnastikbänder, Videos, Bücher, Jakken und bedruckte T-Shirts
angeboten.
Eine attraktive chinesische Verkäuferin stand hinter dem
Tresen und lächelte Jay entgegen, der sich die Waffe, die bei dem
Angriff auf Alex Michaels verwendet worden war, unter den Arm
geklemmt hatte. »Kann ich Ihnen helfen?« erkundigte sie sich.
Gridley reichte ihr den Stock. »Stammt der hier von Ih nen?«
Da er die Produktbeschreibungen und GIF-Anima tionen aller
kommerziellen Hersteller von Stöcken in Nordamerika studiert
hatte, bis er auf das entsprechende Modell gestoßen war, kannte er
die Antwort bereits.
Die Frau untersuchte den Stock. »Ja, das ist das Schulungsmodell in Hickory. Ist damit etwas nicht in Ord nung?«
»Nein, soweit mir bekannt ist, funktioniert er hervorra gend,
aber ich benötige Informationen darüber. Besitzen Sie
Aufzeichnungen über Ihre Verkäufe?«
»Selbstverständlich.«
» Läßt sich herausfinden, wer dieses Exemplar erstanden hat?«
Das Lächeln verschwand. »Ich bedaure, aber unsere
Kundenunterlagen sind vertraulich, Sir.«
»Gibt es hier einen Geschäftsführer, mit dem ich sprechen
könnte?«
»Einen Augenblick.«
Wenige Sekunden später tauchte hinter der Verkäuferin ein
hochgewachsener Mann auf, der Gridley kritisch betrachtete.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
203
Gridley holte seinen Net-Force-Ausweis hervor und reichte ihn
dem Mann, während er den mitgebrachten Stock schwenkte.
»Dieser Stock wurde bei einem Mordanschlag auf einen
Bundesbeamten verwendet. Ich brauche Ihre Verkaufsunterlagen.«
»Ich fürchte, das ist nicht möglich.«
»Ich denke doch. Wenn Sie sie mir freiwillig aushändigen,
können Sie uns beiden viel Zeit und Ärger ersparen und sich
meiner Dankbarkeit versichern. Ich kann mir aber auch einen
Durchsuchungsbefehl besorgen. Dann bin ich in einer Stunde mit
einer
Horde
von
Programmierern
zurück,
die
auf
Steuerangelegenheiten spezialisiert sind. Die würden sämtliche
Aktivitäten ihrer Firma in den letzten zehn Jahren
auseinandernehmen
und
mit
Sicherheit
auf
einige
Unregelmäßigkeiten stoßen. Sie wissen doch, bei dem
komplizierten Steuerrecht, mit dem man sich heutzutage
herumschlagen muß, ist es so gut wie unmöglich, ehrlich zu sein,
selbst wenn man die besten Absichten hat.«
Der Mann griff nach Gridleys Ausweis und ließ ihn durch
einen Scanner laufen. Als die Bestätigung kam, erklärte er:
»Selbstverständlich sind wir der Regierung gerne behilflich.
Denise, würden Sie bitte die Verkaufsberichte für den Herrn hier
transferieren?«
Gridley nickte, ohne zu lächeln. Schade, daß dieser Trick nicht
funktionierte, wenn er einen Tisch in einem anständigen
Restaurant haben wollte.
Vor dem Geschäft stand sein neuer Viper. Besser gesagt, sein
alter Viper, denn das Programm, das er im Moment benutzte, war
eine Sicherungskopie desjenigen, das in New Orleans zerstört
worden war. Es war daher leicht überholt, und einige Feinheiten
fehlten. An dem vernichteten Exemplar hatte er lange gefeilt und
es versäumt, die Updates zu sichern. Das war kein großes Problem,
aber es würde ein wenig dauern, bis dieses hier so gut lief wie das
andere.
Im Auto sah er sich den Ausdruck an. Cane Masters war seit
mindestens fünfzehn Jahren im Geschäft und hatte in diesem
Zeitraum Tausende von Stöcken verkauft. In den letzten zehn
Jahren hatten sie mehrere hundert Exemplare des Modells
204
verkauft, für das sich die Net Force interessierte. Immerhin Hunderte von Möglichkeiten waren besser als gar keine.
Er betätigte den Anlasser und runzelte ein wenig die Stirn, weil
der Motor nicht rund lief. Ein Tuning tat drin gend not. Er legte den
Gang ein und fuhr davon.
205
24
Freitag, 11. Oktober, 23 Uhr 14
Las Vegas
Gregori die Schlange hatte dreihundert Dollar in Chips
gewonnen. Er spielte Black Jack an einem der Fünf-DollarTische
des großen, pyramidenförmigen Kasinos, betrank sich zur Feier
des Tages und hielt, während er munter vor sich hin plauderte,
nach einer Prostituierten Ausschau. Solange er weiterspielte,
waren die Getränke frei. Wahrscheinlich würde ihm die
Prostituierte den größten Teil seines Gewinns abnehmen, aber
zumindest bekäme er als Gegenleistung ein paar Augenblicke
lieblosen Vergnügens - zusammen mit dem Risiko, sich eine
tödliche Krankheit einzufangen.
Rushjo wußte nicht, wie weit HIV unter amerikanischen
Liebesdienerinnen verbreitet war. In Teilen Afrikas und
Südostasiens waren acht von zehn Huren infiziert.
Selbstverständlich gab es Impfungen gegen die verbreitetsten
Stämme des Virus, aber offenbar fand man jede Woche einen
neuen. Dabei hatte die Schlange mehr als einmal damit geprahlt,
unter keinen Umständen ein Kondom zu benutzen. Rushjo
kümmerte es nicht, ob sich die Schlange etwas holte und
anschließend langsam und qualvoll verreckte. Er bedauerte nur
Gregoris Frau, die möglicherweise ebenfalls mit dem Erreger
infiziert würde, bevor ihr Ge mahl die Gnade hatte zu sterben.
Außerdem bedauerte er sie dafür, daß sie überhaupt einen solchen
Idioten geheiratet hatte ...
Rushjo stand neben einem elektronischen Spielautoma ten,
umgeben vom unangenehmen Kreischen der anderen Maschinen,
während die Besucher mechanisch und freudlos Hebel oder
Knöpfe bedienten. Niemand schien sich zu amüsieren, kein
Lächeln, kein Schulterklopfen, nur angespannte manische
Konzentration, als ließen sich durch diese Fixierung die
Gewinnsymbole magisch anordnen, so daß die Maschinen ihre
206
Münzen ausspuckten. Hin und wieder geschah das tatsächlich,
dann kamen zum allgemeinen Lärm die blinkenden Lichter und die
ohrenbetäubende Kakophonie der Maschine hinzu, die ihren
Schatz aufgeben mußte. Sieh her, bedeutete das, manche gewinnen
tatsächlich! Wirf mehr Geld hinein, du könntest der nächste sein!
Eigentlich hätte allein die Gier Freude bereiten sollen, aber
anscheinend tat sie es nur, wenn man gewann.
Rushjo wußte nicht, warum er mit der Schlange an die sen Ort
gegangen war. Er war kein Spieler. Karten, Würfel, Glücksräder alles Dinge, die sich seiner Kontrolle entzogen. Solche Art Risiken
interessierten ihn nicht. Es gab nichts zu gewinnen außer Geld,
und das hieß, er hätte genausoviel Spaß daran zu gewinnen, wie zu
verlieren.
Vielleicht wollte er sich nur beweisen, daß er sich noch
entspannen und amüsieren konnte. Wenn ja, dann war dies nicht
der richtige Weg, um es zu demonstrieren. Es war noch nicht
einmal Mitternacht, und er hatte genug von dem Lärm, dem
Getöse der Maschinen und den unglücklichen Stimmen der
Kasinobesucher. Insbesondere hatte er genug von Gregori der
Schlange. Der Mann hatte den anderen vier Spielern an seinem
Tisch bereits klar gemacht, daß er ein russischer Kriegsheld sei.
Bald würde er von seinen Orden reden. Rushjo wollte diese
Geschichten nicht mehr hören. Nie wieder.
Die Zeiten waren längst vorbei, als Rushjo nächtelang
durchfeierte und, ohne zu schlafen, am nächsten Tag sofort wieder
an die Arbeit ging. Das dekadente Leben taugte nur für die Jungen
und die Dummen.
Winters kam heran und stellte sich neben Rushjo. Der
Amerikaner trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Emblem eines
anderen Kasinos auf dem Rücken, das die Form eines Löwen
hatte. Seine Jeans wurde von einem breiten Gürtel mit großer,
glänzender Schnalle gehalten, die Füße steckten in
Cowboystiefeln. In einer Hand hielt er einen bräunlichen, wäßrig
aussehenden Drink. Er wirkte, als gehörte er hierher.
Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, legte er die Stirn in
Falten. »Eidechsenpisse«, meinte er, nahm aber trotzdem einen
weiteren Schluck. »Willkommen im Dis neyland für Erwachsene,
mein Freund. Haben Sie beim Reinkommen den ganzen Quatsch
207
von Todesfluß und Fähren mitbekommen? Hundsköpfige Götter,
Ra und all das? Mein Gott, man kommt sich vor wie auf einer
Reise in die Vergangenheit. Mit dem Pyramidenboot der Mumie
auf die andere Seite.«
Rushjo sah auf seine Armbanduhr.
»Unser Junge macht wohl ein paar Dollar, was?«
»Er liegt vorn. Noch drei gute Spiele, dann will er gehen, um
sich weibliche Gesellschaft zu erkaufen.«
»Keine schlechte Idee, das Geld auf die Art zu verpulvern«,
meinte Winters. »So behält man wenigstens etwas davon in guter
Erinnerung, im Gegensatz dazu, wenn man es beim Spielen
verliert.«
»Gregori hat ein System.«
Winters lachte, nahm einen letzten Schluck und stellte das Glas
mit Eiswürfeln neben sich auf den Fußboden. »Ein System? Zum
Teufel, wenn Sie Geld und ein System haben, schickt Ihnen das
Kasino ein Flugzeug, um Sie abzutransportieren. Sie kriegen Ihr
Zimmer, das Essen und alle Ge tränke umsonst. Das einzige, das
beim Black Jack neben Falschspielen funktioniert, is t Karten
zählen, und wenn sie Sie dabei erwischen, fliegen Sie raus. Aber
unser kleiner Greggi hat nicht einmal genug Grips, um die drei
oder vier Karten in seiner Hand zu addieren, geschweige denn die
vielen Spiele in dem Kasten zu überblicken. Ich bin über einer Bar
mit Pokertischen und Spielautomaten aufgewachsen. Glauben Sie
mir, wenn man an den Tischen bleibt, gewinnt immer das Haus.«
Rushjo sah Winters an, dann wieder auf die Schlange. »Ich
gehe in mein Zimmer zurück.«
»Ich sehe unserem Greggi eine Weile zu. Vielleicht kann ich
ihn aus dem Ärger heraushalten.«
Draußen war es kühl, sogar nach einem solchen Tag, an dem
nachmittags beinahe Körpertemperatur geherrscht hatte. Ein böiger
Wüstenwind wirbelte die trockene, staubige Luft umher. Die
Wedel der Palmen, die um die Parkplätze der riesigen schwarzen
Pyramide herum gepflanzt worden waren, flatterten wie organische
Flaggen. In der Höhe, direkt aus der Spitze des Gebäudes, brach
ein heller Lichtstrahl hervor. Er war so gleißend und heiß, daß er
Staub anzog und nach oben in den nächtlichen Himmel trieb.
208
Neben diesem laserartigen Strahl, der aus der Pyra mide schoß,
würde jeder Suchscheinwerfer verblassen.
Disneyland für Erwachsene, genau. Dekadent bis ins Extrem.
Was würde er tun, wenn dieser Auftrag erfüllt war? Wohin
sollte er gehen? Jedenfalls nicht nach Hause zu den erstickenden
Erinnerungen, deren er sich jedesmal, wenn er sich umsah, nicht
erwehren konnte. Vielleicht würde er in eine Wüste wie diese hier
ziehen, die den künstlichen grünen Flecken umgab. Weit fort von
allen und allem würde er zum Einsiedler werden, der nur in der
Gesellschaft von Spinnen, Skorpionen und echten Schlangen lebte.
Tagsüber ließe er sich rösten, um in den kalten Nächten, auf einer
Pritsche liegend, dem Wind, der den Sand polierte, zu lauschen. In
der Ferne vielleicht das Heulen eines Kojoten ...?
Angesichts seiner ausschweifenden Fantasie mußte er lächeln.
Nein, er würde nicht in die Wüste ziehen. Statt dessen würde er
einen neuen Job von Plechanow annehmen, denn von Männern
wie ihm würde er immer wieder Aufträge erhalten. Und er würde
sie ausführen - so lange, bis eines Tages ein jüngerer, schnellerer,
hungrigerer Gegner käme. Dann wäre es vorbei.
Niemals würde er von einer Brücke springen oder den
Pistolenlauf schlucken. Auch davonlaufen und sich verstecken
kam für ihn nicht in Frage. Er beabsichtigte, weiterhin das einzige
zu tun, das er je gekonnt hatte, und er wollte es so gut wie möglich
machen, denn das war alles, was er besaß. Neben Anna war es
alles, was er je besessen hatte. Das war sein Weg, und er würde
ihn beschreiten, bis er endete.
Der trockene Wind folgte ihm, während er zu seinem Hotel
hinüberging.
Samstag, 2. Oktober, mittags
Quantico
Toni beugte sich hinunter, berührte ihre Fußspitzen und ließ
sich dann in die Hocke fallen. Ihre Knie knackten. Dann kam sie
209
wieder hoch und schüttelte die Beine aus. Außer ihr befanden sich
nur noch zwei andere Sportbegeisterte im Kraftraum der Net
Force. Die meisten trainierten samstags nicht, und normalerweise
hätte sie das auch nicht getan. Doch solange sie noch nichts über
Days Tod herausbekommen hatten und wegen dieses neuerlichen
Vorfalls mit Alex, würde sie keinen einzigen Tag freinehmen. Keiner würde das tun.
Als sie aufschaute, sah sie Rusty aus dem Herrenumkleideraum
kommen. Ihn hatte sie heute nicht erwartet. Normalerweise hatten
die FBI-Schüler in dieser Ausbildungsphase am Wochenende frei.
»Guru«, sagte er, eine kurze Verbeugung andeutend.
»Rusty. Ich hätte nicht gedacht, Sie heute hier anzutreffen.«
»Na ja, ich wußte, daß Sie trainieren, und hatte nichts anderes
zu tun. Das heißt, wenn Sie nichts dagegen haben?«
»Keineswegs.«
Toni stellte fest, daß ihr die Rolle der Trainerin Spaß machte.
Sie war gezwungen, die eigene Haltung zu überprüfen, damit sie
sie richtig weitergab. Ihr Guru hatte recht gehabt: Der Lehrer
lernte ebensoviel wie der Schüler.
Etwa fünf Minuten vergingen mit Lockerungsübungen, Dehnen
der Muskeln und Kreisen der Gelenke. »Gut, fangen wir an«, sagte
Toni dann.
Rusty stellte sich ihr gegenüber in Position. Nachdem sie sich
verbeugt hatten, begann Toni mit dem ersten Djuru.
Während Rusty unter ständiger Wiederholung der ein fachen
Kombination aus Block, Ellbogencheck und Schlag vor und
zurück tänzelte, korrigierte Toni seine Haltung, erklärte ihm die
Beinarbeit und veränderte hier und da die Position seiner Hände.
Sie selbst hatte einen solchen Bewe gungsablauf immer mindestens
ein Dutzend Male, wenn nicht sogar hundertmal wiederholen
müssen, bevor er saß. Rusty hingegen hatte eine gute
Auffassungsgabe und lernte die Lektionen entsprechend schnell.
Nachdem sie zehn Minuten lang Djurus geübt hatten, hielt
Toni inne. »Gut, heute arbeiten wir an den Techniken Sapu und
Beset.«
Er nickte zwar, blickte aber etwas verständnislos drein. »Also
gut.«
210
Sie lächelte. »Sapu ist eine gleichmäßig durchgezogene
Bewegung mit der Innenseite des Fußes oder des Beins. Wörtlich
übersetzt heißt es >Besen<. Beset hingegen bedeutet Widerstand
mit der Ferse oder der Beinrückseite. Setzen Sie den rechten Fuß
vor, und schlagen Sie mit rechts zu.«
Rusty nickte und gehorchte. Sein Schlag war hart, denn er hätte
ihn sonst wiederholen müssen. Sie wehrte den Angriff mit beiden
Handflächen ab und setzte den rechten Fuß vor, genau außen
neben seinen.
»Gut. Sehen Sie, wo unsere Füße stehen? Ich befinde mich
außerhalb Ihres angreifenden Fußes. Wir nennen das Luar. Gehen
Sie jetzt wieder in Ausgangsstellung, und dann das Ganze noch
mal, genau wie eben.«
Er folgte ihren Anweisungen.
Dieses Mal wehrte sie den Angriff ab und setzte ihren Fuß
nach innen. »Diese Position ist innen und heißt Dalam.«
Er sah nach unten. »Luar ist außen, Dalam innen. Ka piert.«
»Genau. Beim Silat gibt es im Grunde vier Positionen, die man
im Verhältnis zu den Füßen des Gegners einnehmen kann. Das
heißt, ich könnte als Reaktion auf Ihren rechten angreifenden Fuß
meinen rechten oder linken Fuß nach vorn setzen, und zwar an die
Außenseite oder nach innen. Wenn Sie mit links in den
Ausfallschritt gingen, hätte ich die gleichen vier Positionen zur
Verfügung. Das heißt, ich habe immer vier grundlegende
Möglichkeiten zu reagieren, egal welchen Fuß Sie nach vorn
setzen.«
»Verstanden.«
»Schlagen Sie noch einmal zu, aber langsam. Die erste
Technik, die ich Ihnen zeigen werde, heißt Beset Luar.«
»Mit welcher Hand?«
»Egal. Was Sie mit der Rechten können, geht auch mit links.
Innen geht auch außen, hoch auch niedrig.«
»Ich glaube, das sollte ich mir lieber aufschreiben.«
»Nicht nötig. Sie bekommen es noch öfter zu hören. Immer
wieder, bis es klappt. Beim Silat geht es nicht um harte und
schnelle Techniken, sondern um Gesetze und Prinzipien. Man
braucht zwar etwas länger, bis man es beherrscht, aber sobald man
es begriffen hat, kann man es jederzeit anwenden. Obwohl ich
211
Ihnen, wie Sie merken, detaillierte Einzelabläufe zeigen muß,
besteht das Ziel letztendlich darin, ein Generalist zu werden.
Schlagen Sie noch einmal zu, aber verhalten.«
Er setzte einen Fuß vor und zielte mit der rechten Faust
andeutungsweise auf ihre Nase.
»Okay, erst den Schlag blocken, von außen. Dann schiebe ich
Ihren Arm zur Seite und nach hinten, und zwar so ...« Sie drehte
seinen Arm nach unten, quer vor seinem Körper nach außen. Dabei
hielt sie ihn knapp oberhalb des Ellbogens mit der linken Hand
fest. »Jetzt gehe ich mit rechts einen Schritt vor und setze meinen
Fuß direkt hinter Ihren. Er zeigt geradeaus, nicht zur Seite wie
jetzt.« Toni demonstrierte erst die falsche Position, danach die
richtige. Dabei übertrieb sie den Ausfallschritt und stampfte mit
dem Fuß auf. »Meine Hüfte pla ziere ich neben Ihre und drehe sie
nach innen wie bei der Djuru-Stellung, sehen Sie? Schultern und
Hüften bilden einen rechten Winkel.«
»Ja.«
»Das ist die Grundstellung, die Basis. Mit der linken Hand
drücke ich Ihren Arm nun herunter bis fast hinter meinen Rücken.
Das ist der Winkel. Der Mensch .hat nur zwei Füße, das heißt,
egal, wie er steht, er ist immer in mindestens zwei Richtungen
instabil. Im Moment sind Sie nach vorn oder nach hinten stabil,
aber wenn ich ein rautenförmiges Muster mit Ihren Füßen auf der
senkrechten
Mittellinie
bilde,
können
Sie
im
Neunzig-Grad-Winkel nichts ausrichten.«
»Geometrie«, bestätigte Rusty grinsend.
»Genau. Meine rechte Hand lege ich an Ihren Hals. Ich könnte
auch schlagen oder stoßen, aber im Moment genügt dieser Griff.
Der Ellbogen zeigt nach unten. Das ist mein Hebel. Jetzt habe ich
alle drei zusammen: Basis, Winkel und Hebel. Was passiert jetzt?«
»Ich gehe zu Boden?«
»Exakt. Wenn ich mit meinem rechten Fuß den Widerstand
gegen Ihren Fuß nur ein klein wenig verstärke , also den Beset
anwende, dann gehen Sie sogar etwas schneller zu Boden.«
Toni spannte ihren Fuß an und zog Rustys Fuß weg. Der
FBI-Schüler knickte rücklings ein und schlug hart auf der Matte
auf. Rasch kam er wieder auf die Füße.
212
»Noch einmal«, sagte sein Guru. »Langsam, damit Sie es
mitbekommen.«
Er holte aus. Toni wehrte den Schlag ab, setzte einen Fuß vor
und preßte ihre Hüfte fest gegen die Innenseite seines
Oberschenkels.
»Wichtig ist, ganz dicht heranzukommen, so daß Sie die
Bewegung Ihres Angreifers spüren«, erläuterte sie. »Beim Silat
klebt man förmlich an seinem Gegner. Das klingt gefährlich,
insbesondere wenn man daran gewöhnt ist, mit Abstand zu
kämpfen. Aber wenn man weiß, was man tut, ist der Innenbereich
ideal. Beim Kämpfen auf Distanz benutzen Sie die Augen, beim
Nahkampf dagegen sind Sie mit dem Körper des Gegners auf
Tuchfühlung, so daß Sie seine Bewegungen spüren. Fühlen Sie
den Druck meiner Hüfte?«
»O ja, Ma'am, allerdings.«
Sie beförderte ihn wieder auf die Matte. Die unterschwellige
sexuelle Anspielung in seiner Stimme war ihr nicht entgangen.
Toni lächelte. Wenn ihm das gefiel, dann sollte er nur abwarten,
bis sie noch einen Schritt weiter gehen und ihm den Dalam zeigen
würde.
Samstag, 2. Oktober, 12 Uhr 18
Quantico
Alex Michaels schlenderte den Korridor entlang. Zum Es sen
war er zu überdreht. Er hatte Gridley auf den Stock angesetzt, mit
dem die Killerin auf ihn losgegangen war, und einige seiner Leute
durchstöberten das Netz, um den virtuellen Bankraub in New
Orleans zu überprüfen. Alle Informationen würden bei der Net
Force zusammenlaufen, ohne daß es für ihn etwas zu tun gab,
womit er den Prozeß hätte beschleunigen können. Für 13 Uhr 30
hatte er eine Besprechung mit seinen Spitzenleuten angesetzt, bis
dahin war nichts Neues in Angriff zu nehmen.
213
Mittags trainierte Toni für gewöhnlich im Kraftraum. Da er
nicht nur ziellos umherlaufen wollte, konnte er genausogut dort
einmal vorbeischauen.
Als er ankam, sah er, daß Toni gerade mit dem kräftigen
FBI-Rekruten arbeitete, dem sie Unterricht in ihrer Kampfsportart
gab. Sie standen sich gegenüber, die Beine ineinander verhakt, ihre
Taille bohrte sich in seinen Schritt. Michaels beobachtete, wie der
Mann über Tonis Oberkörper langte, ihre rechte Brust zu umfassen
schien und sich unbeholfen verrenkte, um sie auf die Übungsmatte
zu werfen.
Michaels stutzte und runzelte die Stirn. Irgendwie versetzte
ihm das einen Stich.
Toni lachte, kam mit einer Schulterrolle wieder hoch und
stellte sich ihrem Schüler gegenüber in Position. Dann gerieten
beide in rasche Bewegung. Der FBI-Azubi schlug zu, sie tauchte
unter seinem Arm hindurch und hob ihr Gegenüber mit einer
Bewegung aus, der Michaels nicht ganz folgen konnte. Beide
lachten lauthals, als sich der angehende FBI-Mann wieder
aufrappelte. Während sie mit ihm sprach, trat sie nah an ihn heran
und preßte ihre Hüfte gegen die Innenseite seines Oberschenkels.
In diesem Moment bemerkte der Schüler den Zuschauer und
sagte etwas zu Toni. Sie drehte sich um und sah Alex an der Tür
stehen.
»Hallo, Alex.«
Immer noch fühlte er Ärger in sich aufsteigen. Was war das?
Toni hatte doch das Recht, diesem Neandertaler beizubringen, was
sie wollte. Ihn ging das nichts an. Obwohl ihm das völlig klar war,
wurde das nagende, undefinierbare Gefühl plötzlich zu etwas, das
er zu identifizieren in der Lage war.
Eifersucht.
Blödsinn, jetzt mal halblang! Toni war seine Stellvertreterin,
nicht mehr. Beide hegten keine Gefühle füreinander. Und wenn
doch, so wäre es dumm, sie auszuleben. Er war ihr Vorgesetzter.
Techtelmechtel am Arbeitsplatz waren unerwünscht.
Wenn sie ihre Mittagspause damit verbringen wollte, mit
diesem FBI-Kraftprotz auf Tuchfühlung zu gehen, war das ganz
allein ihre Sache...
214
Er schüttelte den Kopf bei dem Versuch, den Gedanken wie
Wasser nach einer Dusche loszuwerden.
»Alex?«
»Schon gut. Ich kam auf dem Weg in die Kantine zufällig
vorbei. Wir sehen uns nachher bei der Besprechung.« Er drehte
sich um und ging. Was Toni in ihrem Privatleben tat, ging ihn
nichts an. Basta, Ende. Er hatte wirklich genug mit sich selbst zu
tun.
215
25
Samstag, 2. Oktober, 13 Uhr
Miami Beach
In der Miami-Identität war sie eine Hobbyläuferin. Ob wohl ihr
das Laufen nicht sonderlich viel Spaß bereitete, gehörte es zu ihrer
Tarnung. Deswegen tat sie es. Es war hier ebenso Teil von ihr wie
der falsche Name und die gefälschte Lebensgeschichte. Nein, bei
einem Marathon würde sie nie mitlaufen, hatte sie sich als Antwort
überlegt, falls jemand danach fragen sollte. Vielleicht einmal
zwanzig Kilometer, wenn sie richtig in Form wäre ... .
Zehn Kilometer war Mora Sullivan heute mittag gelaufen, die
letzten drei davon im strömenden Regen eines subtropischen
Gewitters. Als sie triefend naß nach Hause kam, blinkten die
Warnsignale ihres Computers.
Alle Dioden der Gebäudealarmanlage zeigten grünes Licht,
also war niemand in das Gebäude selbst eingedrungen. Der
Computeralarm war durch einen elektronischen Einbruch oder
einen versuchten Einbruch ausgelöst worden.
Sie trocknete sich Gesicht und Haare mit dem Frotteehandtuch
ab, das sie neben der Tür deponiert hatte. Im Sommer regnete es
hier fast jeden zweiten Tag. Auch wenn die Hurrikansaison
beinahe vorbei war, hatte der Oktober noch einiges an Stürmen zu
bieten. Sie streifte ihre nassen,( Schuhe und Socken ab und ließ die
Hüfttasche mit der so gut wie wasserdichten 9mm-Glock aus
Plastik fallen. Dann schälte sie sich aus Sport-BH und Slip und
trocknete sich fertig ab, bevor sie zum Computer hinüberging.
Nachdem sie das Handtuch über den Bürostuhl gelegt hatte,
setzte sie sich nackt auf das feuchte Handtuch. »In das
Sicherheitsprogramm einloggen.«
Das Voxax-System aktivierte den Anmeldebildschirm. Wenn
sie die Wahl hatte, zog Sullivan bei der Computerarbeit die
Echtzeit der virtuellen Realität vor. Sie hielt nicht viel davon,
216
nichts um sich herum sehen und hören zu können, solange sie im
Netz surfte.
Sie überprüfte das Programm. Jemand hatte versucht, in den
Com-Schaltkreis von Selkie einzudringen. Zwar hatten sie nur
einige rasche Sprünge in das von ihr konstruierte Labyrinth hinein
unternehmen können, bevor sie das Signal wieder verloren, aber
selbst das war erstaunlich. Wer immer es versucht hatte, mußte
ziemlich gut sein. Ein Profi.
Sie hoffte nur, daß derjenige nicht gut genug gewesen war, um
die Kletten zu orten, die sie für potentielle Eindringlinge
programmiert hatte.
»Sicherheitsprogramm, den Eindringling zurückverfolgen.«
Reihen von Zahlen und Buchstaben liefen über den Bild schirm,
danach erschien eine Landkarte. Wellenförmige hellblaue Linien
leuchteten auf, während das Klettenprogramm das Ursprungssignal
des Eindringlings durch eine Reihe von Firewalls und Relaisstellen
hindurch wieder in den Computer einspeiste. Als das Programm
New York erreichte, leuchtete der Punkt, der den Eindringling
darstellte, grell auf. Gleichzeitig wurde eine elektronische Adresse
angezeigt, die in roter Schrift unterhalb des Punktes ebenfalls
blinkte.
Aha, der Einbrecher war zwar gut, aber eben nicht genial. Die
Klette war unentdeckt geblieben. Angesichts des Preises, den sie
für das Programmbezahlt hatte, sollte das nicht allzusehr
verwundern.
»Sicherheitsprogramm, Verzeichnis umkehren. Ungekürzte
E-Mail-Adresse überprüfen.«
Ein noch größeres Gewirr aus Buchstaben und Zahlen lief über
den flimmernden Bildschirm.
Ein Name blinkte auf: Ruark Electronic Services, Inc.
Einen Moment lang geschah nichts. Dann erschien eine Liste
mit Namen. Heloise Camden Ruark, Präsidentin und
Vorstandsvorsitzende; Richard Ruark, Vizepräsident; Mary Beth
Campbell, Finanzleiterin. Eine Aktiengesellschaft, eingetragen im
Juni 2005 im Bundesstaat Delaware und so weiter und so fort.
Sieh an, sieh an. Anteilseigner mit fünfundsiebzig Pro zent der
ausgegebenen Aktien an ihrem Besitz war eine Organisation
217
namens Electronic Enterprises Group, rein zufällig eine
hundertprozentige Tochter von Genaloni In dustries.
Sullivan lehnte sich zurück und starrte auf den Bild schirm.
Genaloni versuchte also, sie ausfindig zu machen. Sie nickte. Das
war zu erwarten gewesen. Unter dem dünnen Deckmantel der
Ehrbarkeit war der Mann nichts weiter als ein primitiver Gauner.
So jemand reagierte auf Bedrohungen, ob echt oder eingebildet,
indem er alle Brükken auf dem Weg zu seinem Schloß zerstörte.
Anschließend stand er dann neben einem Topf mit blubberndem
Blei, um jeden zu kochen, der die Flüsse dennoch überwand.
Warum mit einer Nadel stechen, wenn ein Felsbrocken in
Reichweite liegt? Genaloni hatte vermutlich von dem Anschlag
auf ihre Zielperson erfahren. Da diese sie als Frau gesehen und das
zweifelsohne zu Protokoll gegeben hatte, war der Gangster jetzt
doppelt beunruhigt. Frauen traute er nicht über den Weg, und
Mißerfolge wa ren ihm über alle Maßen verhaßt. Ein Fehlschlag
bedeutete in Genalonis Kreisen, daß man das Geschäft verlor.
Beim zweiten würde es ihr unweigerlich an den Kragen gehen.
Das kam nicht unerwartet. Eigentlich hatte sie schon früher
damit gerechnet, daß Genaloni versuchen würde, Selkie
aufzuspüren. Auch andere Auftraggeber hatten das getan. Aber
bisher hatten ihre Schutzvorkehrungen stets ausgereicht; niemand
war auch nur in ihre Nähe gelangt.
Inzwischen waren die Adresse und die Identität, die sie benutzt
hatte, als sie den Auftrag von Sampson angenommen hatte, Schnee
von gestern. Selbst wenn man das Apartment ausfindig machte,
fände man nichts, was sich mit Mora Sullivan oder einem ihrer
anderen Decknamen in Verbindung bringen ließe. Dennoch
deutete sie den Vorfall als schlechtes Omen. Genaloni war ein
gewalttätiger Mensch, soviel stand fest. Darüber hinaus war er
nicht nur clever, sondern auch sehr hartnäckig. Falls ihn der
Gedanke beunruhigte, mit Selkie in Verbindung gebracht werden
zu können, dann würde er nicht eher ruhen, bis diese Verbindung
beseitigt wäre. Sollte das beinhalten, sie finden und töten zu
müssen, würde er auch davor nicht zurückschrecken. In Genalonis
Dschungel regierte das Gesetz der Selbsterhaltung. Auch wenn in
einer Entfernung von einer halben Meile vor ihm ein alter,
verkrüppelter Löwe trottete, würde er ihn erschießen - immerhin
218
bestand die Möglichkeit, daß er sich eines Tages umdrehte. Sicher
ist sicher.
Sie kratzte sich die juckende linke Schulter. Für das verfehlte
Ziel würde sie jetzt zwar kein Geld mehr bekommen, aber das war
nicht so wichtig. Ihr Stolz war verletzt, und deshalb würde sie
diesen Auftrag zu Ende bringen, ob mit Bezahlung oder ohne, das
stand fest. Obwohl sie nicht glaubte, daß Genalonis Hacker sie
fänden, durfte sie auch hinsichtlich des Gangsterbosses kein Risiko
eingehen. Schließlich wollte sie nicht für den Rest ihres Lebens
ständig wachsam über die Schulter schielen müssen. Sie würde
den Auftrag, die Zielperson in Washington D.C. zu eliminieren, zu
Ende bringen, und abgesehen davon etwas gegen Genaloni
unternehmen.
Und danach? Nun, vielleicht war es an der Zeit, daß sie sich
zur Ruhe setzte. Wenn sich eine frische Brise zum Hurrikan
entwickelte, ging eine kluge Frau in Deckung. Vielleicht würde sie
an einen anderen Ort ziehen.
Samstag, 2. Oktober, 13 Uhr 15
Washington, D.C.
»Tyrone?«
Sofort erkannte er die Stimme des Schicksals, auch wenn die
Bildübertragung des Telefons deaktiviert war. »Ähm, ja.«
»Hier ist Bella. Hast du meine Telefonnummer verlo ren?«
»Hm, nein, ich wollte dich auch gerade anrufen.«
Das ist gut, flüsterte die Stimme der Selbsterhaltung aus ihrer
Deckung hinter dem Felsen in seinem Gehirn. Lüg ihr was vor.
Erst ein wenig, dann ordentlich dick auftragen. Erzähl ihr, du bist
sterbenskrank und darfst das Haus auf keinen Fall verlassen.
»Fantastisch. Dann kannst du also heute nachmittag
vorbeikommen?«
Nein! Bloß nicht! Auf ganz und gar keinen Fall! »Ähm, klar.
Kann ich. Ich komm' vorbei. Ich meine, zu dir nach Hause.«
219
»So gegen drei?«
»Geht klar, gegen drei.«
»Die Adresse hast du?«
»Ja.«
»Gut, wir sehen uns dann. Und Tyrone? Danke, das ist wirklich
wichtig für mich, weißt du.«
»Ähm ... klar. Nopro.«
»Discom.«
Klar, nopro und discom, du Trottel! Weil es so wichtig für sie
ist, wird Knochenbrecher es vielleicht kurz und schmerzlos für
dich machen und dir nur mal eben das Genick brechen. Damit du
es dann schnell hinter dir hast, Blödmann. Hohlkopf! Vollidiot!
Er starrte das Telefon an. Eigentlich sollte er in Panik geraten,
aber komischerweise tat das nur ein kleiner Teil von ihm. Und
zwar genau jener Teil, der in seinem Kopf hinter einem
Felsbrocken in Deckung gegangen war. Der Rest von ihm war ...
wie sollte er es beschreiben? Fasziniert? Ja, das traf den Nagel auf
den Kopf. Das hübscheste Mädchen der Schule hatte ihn, Tyrone,
um Hilfe gebeten. Er würde sie zu Hause besuchen, ganz dicht
neben ihr stehen oder sitzen und ihr etwas zeigen, wovon er
wirklich etwas verstand ...
Also gut. Wie schon James Bond gesagt hatte: Man stirbt nur
einmal. Außerdem würde Knochenbrecher ihn wahrscheinlich
nicht wirklich umbringen. Vielleicht würde er ihn nur
zusammenschlagen, und das könnte er immerhin überleben, oder?
Seine Mutter kam mit einem Stapel Zeichnungen unter dem
Arm herein. Sie baute gerade an einem Vogelhaus. »Hallo, Schatz.
Wer hat angerufen?«
»Jemand von der Schule. Ich soll ihnen bei einem Computerprojekt helfen. Nachher, um drei Uhr, gehe ich kurz zu ihnen,
okay?«
»>Jemand<? >Ihnen<? Sieh an, wir sprechen also in der
Mehrzahl.« Seine Mutter konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Ist dieser >jemand< vielleicht weiblichen Ge schlechts, Ty?«
»Ach komm schon, Mom!«
»Aha. Hab' ich mir's doch gedacht. Wie heißt sie denn?«
»Belladonna Wright.«
»Ist das die Tochter von Marsha Wright?«
220
»Glaub' schon.«
»Ich erinnere mich an sie. Sie spielte doch in dem Theaterstück
mit, das ihr in der dritten Klasse aufgeführt habt, nicht wahr? Ein
hübsches kleines Ding.«
»Sie ist keine neun mehr, Mom.«
»Das will ich meinen. Soll ich dich hinfahren?«
»Ich fahre lieber mit der Bahn«, entgegnete er. »Ist nicht weit.«
»Gut. Schreib mir die Telefonnummer auf, und sei um sieben
zum Essen zu Hause.«
»Geht klar, Mom.«
»Kopf hoch, Ty. Zu unserer Zeit sind wir zwar noch auf
Dinosauriern zur Schule geritten, aber ich kann mich noch ganz
gut an alles erinnern. Es ist nicht so gefährlich, sich mit einem
weiblichen Wesen zu unterhalten, wie du denkst.« Sie lachte.
Das glaubst du, sagte die Stimme der Selbsterhaltung aus ihrer
Deckung heraus.
Samstag, 2. Oktober, 13 Uhr 33
Quantico
Endlich einmal eine Besprechung, die pünktlich begann.
Michaels warf einen Blick in die Runde. »Also gut, verschwenden
wir keine Zeit. Jay?«
Mit einer Handbewegung schaltete Jay Gridley den Präsentationscomputer ein. »Wir haben schlechte und gute
Nachrichten. Der Stock stammt aus diesem Laden hier.« Ein Bild
erschien auf dem Schirm. »Hergestellt wurde er von einer Firma,
die hauptsächlich Kampfsportprofis beliefert. Es handelt sich um
folgendes Modell ...« Auf dem Bildschirm erschien ein weiteres
Foto, diesmal von dem Stock. »Nach dem Ausschlußprinzip haben
wir eine ganze Reihe von Kunden ausschließen können.
Rechtmäßige Lehrer, Leute, die wirklich auf einen solchen Stock
angewiesen sind, Sammler und die üblichen Verrückten, die sich
221
aus Paranoia derartige Sachen kaufen. Danach bleiben noch acht
Käufer übrig.«
Die entsprechenden Namen waren jetzt auf dem Bildschirm zu
lesen. »Von diesen acht haben unsere Beamten bisher fünf befragt.
Vier konnten den Stock vorzeigen, dessen Kauf registriert worden
war. Einer hatte ihn an einen Freund verschenkt, den wir ebenfalls
aufsuchten.« Fünf Namen verschwanden vom Bildschirm. »Einer
der drei übrigen Verdächtigen ist ein Überlebenskünstler aus
Grants Pass in Oregon. Er verwehrt der lokalen Polizei, der Staatspolizei und jeglichen Bundesbeamten den Zugang zu seinem
Grundstück. Der besagte Herr ist siebzig und hat sich laut einer
medizinischen Akte einer Hüftoperation unterzogen. Während wir
hier tagen, lassen wir einen Durchsuchungsbefehl ausstellen, um
das Anwesen nach dem Stock abzusuchen. Ich schätze, er wird
sich darauf stützen, wenn wir ihn besuchen.«
Auf dem Bildschirm begannen die letzten beiden Namen
abwechselnd in roter und blauer Schrift aufzuleuchten. »Bleiben
diese beiden übrig. Ihre Identität konnten wir noch nicht klären.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie sind, um es vorsichtig zu formulieren,
recht interessant.«
Michaels wurde hellhörig. »Interessant?«
Jay winkte in Richtung des Bildschirms. Einer der Na men
blinkte jetzt gelb. »Wilson A. Jefferson aus Erie, Pennsylvania. Im
Laufe der letzten drei Jahre hat Mr. Jefferson einen fraglichen
Stock, zwei Sätze Escrima-Stöcke und einen Satz eigens für ihn
angefertigter jawara-Stöcke gekauft. Sie wurden an eine
Postfachadresse geliefert. Der fragliche Stock ist das Modell
rechts. Die Escrima-Stöcke werden bei einer philippinischen
Kampfkunst eingesetzt, die sich -ntan höre und staune - Escrima
nennt. Die anderen benutzt man in verschiedenen Kampftechniken.
Der Name lawara ist japanisch. Laut dem Mietvertrag für das
Postfach und dem vorgelegten Führerschein ist Mr. Jefferson weiß,
männlich, einundvierzig Jahre alt und unter dieser Adresse
wohnhaft.«
Der Name einer Straße und eine Hausnummer leuchteten auf
dem Bildschirm auf. »Die Überprüfung der Adresse war jedoch
negativ. Eine Person mit diesem Namen hat nie dort gewohnt. Auf
den ersten Blick scheinen Jeffersons Papiere in Ordnung zu sein,
222
aber bei näherem Hinsehen lösen sie sich in Luft auf. Es handelt
sich um einen elektronischen Menschen.«
»Der Attentäter«, vermutete Toni.
» Ja und nein«, erwiderte Jay. »Denn es gibt da noch Mr.
Richard Orlando.« Auf dem Bildschirm entstand Bewegung. »Im
Laufe der vergangenen vier Jahre hat Mr. Orlando fünf Stöcke
erworben, zwei davon entsprechen dem Modell, um das es uns
geht. Alle fünf wurden an eine Postfachadresse in Austin, Texas,
geliefert. Die Überprüfung seiner Person ergab, daß es sich um
einen siebenundzwanzigjährigen Latino handelt. Soweit wir das
bis jetzt beurteilen können, existiert auch er .nur als Datensatz in
einigen Computersystemen und taucht sonst nirgends auf. Das
Foto auf seinem Führerschein ist so verschwommen, daß es zu
jedem in diesem Raum Anwesenden passen würde.
Seltsamerweise sind alle Fotos von Mr. Jefferson übrigens genauso
unscharf.«
»Ein und dieselbe Person, die zwei verschiedene gefälschte
Identitäten benutzt«, mutmaßte Michaels.
»Das ist auch meine Ansicht«, stimmte Jay zu. »Dabei sind sie
sehr unterschiedlich und tausend Meilen voneinander entfernt.
Falsche Identitäten, über die niemand stolpert, der nicht gezielt
nachhakt.«
»Beeindruckend«, meinte Toni. »Was sind die guten
Nachrichten?«
»Das waren die guten Nachrichten«, antwortete Jay und fuhr
fort. »Niemand kann sich an Mr. Jefferson oder Mr. Orlando
erinnern., Wir haben Angestellte bei der Post befragt, ohne etwas
herauszubekommen. Es gibt keine Spuren, die uns weiterbringen.
Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen existierten die
beiden elektronischen Personen nur, um die Lieferungen einiger
ausgefallener, aber völlig legaler Stöcke entgegenzunehmen, und
waren dabei meilenweit voneinander entfernt. Aber ich möchte
wetten, daß sich die Person, die diese Dinger wirklich hat - vorausgesetzt er oder sie besitzt sie noch, weil ihm oder ihr mittlerweile
klar sein dürfte, daß wir diese Spur verfolgen -, weder in
Pennsylvania noch in Texas aufhält.«
»Die Spur verläuft im Sande«, folgerte Toni.
223
»So im Sande wie ein Kriechtier in der Sahara«, bestätigte Jay.
»Wir bleiben dran. Aber wer immer es ist, er ist ein echter Profi,
denn er hat für ein banales Detail keine Mühe gescheut.«
»Was sich auszuzahlen scheint.« Michaels nickte nachdenklich. »Ich tippe weiterhin auf eine Frau. Unter der Verkleidung der alten Dame schien mir kein Mann zu stecken. Vielen
Dank, Jay. Toni?«
»Wir überprüfen zur Zeit alle uns bekannten professionellen
Attentäter. Bisher haben wir nichts Wesentliches gefunden, keinen
Hinweis auf einen Profi der genannten Art.«
»Wie sieht es mit Unwesentlichem aus?«
»Gerüchte über die eine oder andere undurchsichtige Person,
das Übliche. Der Eismann, der einen mit seinem kalten Blick für
immer erstarren läßt. Das Gespenst, das durch die Wand geht. Ein
Selkie, der seine Erscheinung immer wieder verändert - alles
Großstadtlegenden. Das Problem mit den wirklich guten bezahlten
Killern ist, daß sie sehr zurückgezogen leben. Man kann sie
eigentlich nur schnappen, wenn sie von einem ihrer Auftraggeber
verpfiffen werden.«
Michaels nickte wieder. Das war ihm bekannt. Seit Steve Days
Ermordung hatte er darüber schon öfter nachgedacht. »Gibt es
sonst noch was?«
Brent Adams, der Leiter der Abteilung für Organisierte
Kriminalität des FBI, ergriff das Wort. »Irgend etwas ist innerhalb
von Genalonis Organisation im Gange.«
Michaels hob die Augenbrauen und sah zu Adams hinüber.
Der FBI-Mann fuhr fort: »Unsere Leute sind den Hinweisen
nachgegangen und haben alles hervorgekramt, was innerhalb des
letzten Jahres Genalonis Handschrift trug. Vor ein paar Wochen
erhielt das FBI in New York City eine Anfrage von einem Anwalt
Genalönis. Es ging um die Verhaftung eines gewissen Luigi
Sampson. Sampson ist Ray Genalonis rechte Hand, der Chef seiner
legalen und illegalen Sicherheitsoperationen.«
»Und?«
»Nun ja, unsere Agenten in New York hatten Sampson gar
nicht verhaftet. Nachdem Genalonis Leute nicht mehr nachfragten,
kümmerte sich keiner weiter darum. Vermutlich ein Irrtum.«
»Was heißt das im Klartext?«
224
Adams schüttelte bedauernd den Kopf. »Das wissen wir nicht.
Jedenfalls haben unsere Abhöranlagen und Überwachungskameras
seither nichts mehr von Sampson gesehen oder gehört.«
»Vielleicht ist er im Urlaub«, schlug Jay vor.
Adams zuckte die Schultern. »Vielleicht. Könnte aber auch
sein, daß er Ray Genaloni verärgert hat und in einem Acker in der
Nähe von Dead Toe, South Dakota, die Radieschen von unten
betrachtet.«
»Ich glaube nicht, daß da Radieschen wachsen ... viel zu kalt«,
meinte Jay.
»Sie würden sich wundern«, warf Toni ein.
»Warum sollten Genalonis Leute wegen Sampson auf das FBI
zukommen, wenn sie ihn ausgeschaltet haben?« wollte Michaels
wissen.
Adams neigte den Kopf zur Seite. »Vielleicht, um sich ein
Alibi zu verschaffen. Bei diesen Typen weiß man nie, was sie
vorhaben. Erst machen sie ein paar kluge Schachzüge hier und da
und dann plötzlich irgendwas absolut Dummes.«
»Vielleicht war dieser Sampson für Steve Days Tod verantwortlich«, sagte Toni. »Genaloni ist nervös geworden und hat
ihn ausgeschaltet, um nicht als Drahtzieher entlarvt werden zu
können.«
Adams wirkte nicht überzeugt. »Ich weiß nicht. Obwohl,
möglich wäre es. Ray Genaloni ist sehr vorsichtig. Er geht nicht
auf die Straße, ohne daß seine Leute vorher sechs Blocks in beide
Richtungen überprüft haben.«
Michaels blickte starr auf den Tisch. Irgend etwas störte ihn,
ließ ihm keine Ruhe. Leider wußte er nicht genau, was es war. Mit
einem Seufzer riß er sich los. »Na schön, bleiben Sie dran, Brent.
Jay, Sie verfolgen die Spur mit dem Stock weiter. Versuchen Sie,
noch mehr herauszufinden, und gehen Sie auch der Sache in New
Orleans nach. Wir können nicht unsere gesamte Energie für die
Day-Untersuchung aufwenden. Gibt es sonst noch etwas?«
Niemand brachte ein anderes Thema vor.
»Gut, dann machen wir uns wieder an die Arbeit.«
Michaels ging in sein Büro zurück. Es sah nicht gut aus für
seine Mannschaft. Die Zeit lief ihnen davon, und sein Job stand
225
auf dem Spiel. Schon in ein paar Tagen würde sich vielleicht
jemand anderes um alles kümmern.
Möglicherweise war die Zeit gekommen, aus dem Staatsdienst
auszuscheiden. Nach Idaho zurückgehen, einen Job als
Programmierer für Computerspiele oder dergleichen annehmen
und die Wochenenden mit seiner Tochter verbringen - weit weg
von allem hier.
Unsinn. Solange Steve Days Mörder frei herumlief, würde er
nicht aufhören, selbst wenn er im Keller Büroklammern zählen
müßte. Mochte man ihm nachsagen, was man wollte, aber
Alexander Michaels würde nicht aussteigen, wenn es hart auf hart
kam. Das war nicht seine Art.
226
26
Samstag, 2. Ok tober, 23 Uhr 05
Grosny
Eine Wanderung auf seinem beschaulichen Pfad durch den
Regenwald hätte Plechanow zwar vorgezogen, aber im Moment
hatte er es eilig. Da er es sich nicht leisten konnte, Zeit zu
verlieren, fuhr er mit dem Auto. Das Programm war noch geladen.
Nach dem unglücklichen Zusammentreffen
mit
dem
amerikanischen Net-Force-Agenten hatte er zunächst vorgehabt, es
als Vorsichtsmaßnahme sofort zu vernichten. Irgendwann würde er
die Software wirklich löschen, aber im Moment war es ihm zu
umständlich, offline zu gehen, die Ausrüstung abzulegen, ein
neues Szenario zu programmieren und erst dann Helm und
Handschuhe wieder anlegen zu können. Das war einer der
Nachteile des alten Systems, das ihm dennoch besser gefiel als die
neuen. Mit den neuen Geräten konnte man innerhalb der virtuellen
Realität ohne viele Umstände auf ein anderes Programm
umschalten.
Aber das war jetzt nicht so wichtig. Er hatte nur einen kurzen
Ausflug vor, um einige geringfügige Änderungen in einem legalen
Szenario in Canberra vorzunehmen. Die Chancen, daß die Net
Force ihn erwischte, waren gleich. null. Außerdem waren viele
blaue Corvettes unterwegs, wahrscheinlich einige tausend.
Er legte den Gang seines virtuellen Renners ein und gab Gas.
Samstag, 2. Oktober, 15 Uhr 05
Washington, D.C.
Als Belladonna Wright Tyrone die Tür öffnete, bemerkte er als
erstes ihre engen Shorts und das ausgeleierte Sweatshirt, das sie
227
trug. Es war ärmellos mit einem weiten Ausschnitt, der den Blick
auf viel nackte Haut freigab.
Ausgesprochen viel wunderschöne, nackte Haut.
Als nächstes bemerkte er die massige Gestalt von Knochenbrecher LeMott, der auf einer Couch im Wohnzimmer hinter
Belladonna saß.
Tyrone schien es, als setzte sein Herz für mindestens fünf
Sekunden aus. Dann stieg ihm der Mageninhalt bis zum Hals hoch
und blieb in der Kehle stecken. Gedärme und Blase drohten sich
zu entleeren. Das Ende war nah.
»Hi, Tyrone. Komm rein.«
Der Stimme der Selbsterhaltung hatte es die Sprache
verschlagen. Unzusammenhängendes Gemurmel und Wimmern
war alles, was sie hervorbrachte. Seine Füße schienen ihm nicht
mehr zu gehören. Aber sie trugen ihn ins Haus.
»Tyrone, das ist mein Freund Herbert LeMott. Motty, das ist
Tyrone.«
Motty? Das war ja zum Lachen. Doch das Lachen würde ihm
wohl sofort für immer vergehen.
Knochenbrecher trug ein enges T-Shirt und eine Baumwollshorts, die aus den Nähten zu platzen drohten, als er sich
erhob. Er bestand fast nur aus Muskeln. Wie ein menschlicher
Tyrannosaurus baute er sich vor Tyrone auf. Jeden Moment müßte
Godzillas Schrei zu hören sein ...
Aber Knochenbrechers Stimme klang sanft, ruhig und
eigentlich ziemlich hoch. »Tag, Tyrone, nett, dich kennenzulernen«, sagte er und streckte ihm die rechte Hand entgegen.
Tyrone ergriff sie und war erstaunt, wie sanft Knochenbrechers
Händedruck war.
Ihm schoß das Bild einer Maus in einem Zeichentrickfilm
durch den Kopf, die einen Dorn in der Pranke eines Löwen suchte.
»Wirklich nett von dir, daß du Bella beim Programmie ren
hilfst. Darin war ich nie besonders gut. Ich bin dir sehr dankbar.
Wenn ich mal was für dich tun kann, sag mir Be scheid, ja?«
Hätte Knochenbrecher sich plötzlich in eine Riesenkröte
verwandelt und angefangen, auf der Suche nach Fliegen durch den
Raum zu hüpfen, wäre Tyrone nicht erstaunter gewesen. O Mann!
228
»Als o Bella, ich muß jetzt gehen. Wir haben heute Training im
Kraftraum. Ich rufe dich nachher an.« Er beugte sich herunter - für
ihn ein langer Weg - und küßte Bella auf die Stirn.
Sie lächelte und tätschelte seinen Rücken, als wäre er ihr
Lieblingspferd. »Okay. Paß auf dich auf.«
Nachdem Knochenbrecher gegangen war, verriet Tyro nes
Gesichtsausdruck ihn offenbar. »Hast du etwa gedacht, Motty
würde handgreiflich werden?« fragte Bella mit einem Lächeln.
»Der Gedanke kam mir kurz in den Sinn.« ja, kurz - so kurz
wie eine Schnecke braucht, um über eine Salzebene zu kriechen.
»Motty ist eine Seele von Mensch. Er kann keiner Fliege etwas
zuleide tun. Mein Zimmer ist oben, komm mit.«
Es sei denn, die Fliege legt ihre Hand auf deinen Hintern ...
Während sich Tyrone darüber wunderte, daß er noch am Leben
war, folgte er Bella die Treppe hinauf.
Ihr Heimcomputer entsprach dem üblichen Standard. Die
Ausrüstung für virtuelle Realität war zwar nicht auf dem neuesten
Stand, insgesamt aber akzeptabel. Schon nach wenigen Minuten
stellte er fest, daß sie sich in den grundlegenden Systemen besser
auskannte, als sie zugegeben hatte.
Er sagte es ihr.
»Na, ja, ich bin ganz gut in Theorie und Echtzeit, aber mein
Netzwerk ist ziemlich langsam«, erklärte sie.
»Dann bist du genau an den Richtigen geraten. Hast du noch
eine VR-Ausrüstung?«
»ja, hier.«
»Leg sie an, wir spazieren durch's Web. Wir fangen in einem
der großen kommerziellen Netze an, das ist für je den leicht zu
schaffen.«
»Wie du meinst, Tyrone.«
Von einer Welle plötzlicher Furchtlosigkeit erfaßt, wagte er
einen Vorstoß. »Du kannst >Ty< zu mir sagen«, schlug er vor.
»Wie du meinst, Ty.«
Sie legte die Ausrüstung an und setzte sich neben ihn auf die
Bank vor dem Computer. Sie saßen so dicht beisammen, daß er die
Wärme ihres nackten Beines spürte. Eine Haaresbreite näher, und
sie würden sich berühren.
229
Wahnsinn! Diesen Moment würde er nie vergessen. Vielleicht
war dieser Augenblick in seinem ganzen zukünftigen Leben durch
nichts mehr zu übertreffen.
Noch während er darüber nachdachte, wurde ihm klar, daß es
durchaus etwas gab, das alles übertreffen konnte. Wenn ihm nur
ein Grund einfiele, einen halben Zentimeter nach links rücken zu
können. Dann gäbe es ein weiteres Highlight in seinem Leben. Der
halbe Zentimeter konnte aber ebensogut ein Lichtjahr sein. Er war
zwar mutig, aber nicht dumm.
Sonntag, 3. Oktober, 6 Uhr
Sarajewo
»Erste Abteilung, linke Flanke! Zweite Abteilung, Rückendeckung geben!«
Handfeuerwaffen knatterten, die Kugeln fetzten die Rinde von
den Bäumen und gruben Furchen in den Boden. Sie befanden sich
in einem Stadtpark - oder dem, was davon übrig war. Der Angriff
war unerwartet erfolgt.
John Howard eröffnete mit seinem Maschinengewehr das
Feuer. Das Gewehr bäumte sich in seinen Händen auf, als die
schweren .45er Geschosse nacheinander losdonnerten.
»Sir, wir haben ... ah ...«
Der Lieutenant ging zu Boden, eine verirrte Kugel im Genick.
Woher kamen sie, verdammt noch mal?!
»Dritte Abteilung, Feuer erwidern bei fünf Uhr! Vorwärts!
Feuer ...!«
Einer nach dem anderen gingen seine Männer zu Boden. Ihre
Waffen funktionierten nicht, sie steckten bis zum Hals im
Schlamassel ...
230
Washington, D.C.
Mit einem Ruck streifte sich John Howard die VR-Ausrüstung
ab und ließ sie verärgert zu Boden fallen. Er schüttelte den Kopf.
Mist.
Oben schliefen seine Frau und sein Sohn. Es würde noch einige
Stunden dauern, bis sie aufstehen, sich anziehen und zur Kirche
gehen würden. Da er nicht mehr hatte schlafen können, war er
heruntergekommen, um Schlachtszenarien auf dem Computer
durchzuspielen. Er hätte sich jedoch besser auf Schach beschränkt
oder es ganz gelassen - denn bisher hatte er in allen
Kampfszenarien verloren.
Er stand auf und ging in die Küche. Aus dem Kühlschrank
nahm er eine Milchtüte und goß sich ein kleines Glas voll ein.
Nachdem er die Tüte zurückgestellt hatte,, setzte'er sich an den
Tisch und starrte in die Milch.
Er war deprimiert, das stand fest.
Es war keine richtige Depression - zum Seelenklempner würde
er nicht gehen müssen -, aber er war eindeutig niedergeschlagen.
Er verstand das nicht, denn es gab keinen Grund dafür. Er hatte
eine wunderbare Frau, ein wohlgera tenes Kind und einen Job, um
den ihn die meisten Militäroffiziere beneideten. Gerade war er von
einer Mission zu rückgekehrt, in der er alle Ziele erreicht hatte.
Nicht einen einzigen Soldaten hatte er während der Operation
verloren. Alle waren zufrieden mit ihm gewesen. Sein ziviler Chef
hatte ihn für eine Belobigung durch den Präsidenten
vorgeschlagen. Was also machte ihm zu schaffen?
Was stimmte nicht, außer daß er darauf brannte, sich mitten in
eine massive kriegerische Auseinandersetzung zu stürzen? Woher
kam diese Einstellung? Kein Mann im Vollbesitz seiner geistigen
Kräfte wünscht sich einen Krieg.
Er starrte noch immer in die Milch. Wenn er ehrlich war, fehlte
ihm die Feuerprobe. Er hatte sich noch nie richtig bewähren
müssen.
An
den
entscheidenden
militärischen
Auseinandersetzungen war er nicht beteiligt gewesen. Desert
Storm hatte er verpaßt, und als die Polizeiaktionen in Südamerika
aus dem Ruder gerieten, bildete er gerade Re kruten aus. In der
231
Karibik traf er einen Tag zu spät ein, die Waffen waren schon
abgekühlt und schwiegen wieder. Sein bisheriges Leben hatte er
als Mann des Militärs verbracht, hatte trainiert, gelernt und sich
auf den Ernstfall vorbereitet. Er verfügte über Material und
Fähigkeiten und wollte beides im Kampf erproben. Aber in Zeiten
des Frie dens war für solche Dinge kein Platz.
Aus diesem Grund war er zur Net Force gegangen. Hier
bestand zumindest die Aussicht, an einen heißen Krisenherd
abkommandiert zu werden. Wärmer als bei der Mis sion in der
Ukraine war es bisher allerdings noch nicht geworden. Zwar war
ein solcher Einsatz besser, als im Büro zu sitzen und Berichte zu
lesen, aber es war doch nicht mehr als ... eine lauwarme
Angelegenheit.
»Morgen.«
'Howard blickte auf und sah Tyrone in Pyjamahose vor sich
stehen.
»Ist doch erst kurz nach sechs«, sagte Howard. »Warum bist du
denn schon so früh auf?«
»Weiß ich auch nicht. Ich bin wach geworden und konnte nicht
mehr einschlafen.«
Tyrone ging an den Kühlschrank, um die Milch herauszunehmen. Er schüttelte die Papptüte und setzte sie, nachdem er
festgestellt hatte, daß sie fast leer war, an den Mund. Dann grinste
er seinen Vater an. »Mom hat gesagt, das sei in Ordnung, wenn ich
alles austrinke«, erklärte er.
Howard grinste zurück.
Tyrone nahm noch einen Schluck. Dann wischte er sich über
die Lippen. »Kann ich dich was fragen, Dad?«
»Schieß los.«
»Was machst du mit einer Militärmacht, die größer und stärker
ist als deine und ein Territorium besetzt hat, worauf du es
abgesehen hast?«
»Das hängt von der Zielvorgabe, dem Terrain, den Waffen und
der verfügbaren Ausrüstung ab. Außerdem von den
Transportmöglichkeiten und einer Menge anderer Dinge. Zuerst
bestimmst du dein Ziel, dann mußt du dir eine durchführbare
Strategie ausdenken und eine Taktik zurechtlegen, um das Ganze
durchzuziehen.«
232
»Aha.«
»Seit wann interessierst du dich für solche Dinge?«
»Oh. Das ist doch das, was du den ganzen Tag machst. Ich
dachte ... äh ... ich wollte nur mal wissen, wie das geht ...
sozusagen.« Tyrone senkte den Blick.
Howard verkniff sich ein Grinsen und blieb ernst. Der Junge
war dreizehn. Die Pubertät begann. Bei ihm selbst war das schon
eine ganze Weile her, aber er konnte sich noch gut erinnern.
»Okay, unterhalten wir uns ein wenig über Ziele und Strategien.
Dein Ziel besteht darin, das Territorium einzunehmen, ohne es zu
zerstören. Sehe ich das richtig?«
»O ja.«
»Also mußt du vorsichtig vorgehen. Die Truppen des Feindes
sind größer als deine. Er ist zwar stärker, aber ist er auch schlauer?
Einfach angreifen und dich auf einen Kampf einlassen kannst du
nicht, denn wenn die Feuerkraft des Feindes stärker ist, metzelt er
dich nieder. Bevor du etwas unternimmst, mußt du zuerst die
Situation erfassen. Suche nach den Schwachstellen des Feindes.
Im Guerillakrieg sucht man nach einer schwachen Stelle, greift an
und verschwindet schleunigst wieder. Danach versteckst du dich,
zum einen, damit dein Gegner dich nicht findet, zum anderen,
damit er gar nicht erst erfährt, wer du bist.«
Tyrone lehnte sich gegen den Kühlschrank. »Ja, das leuchtet
mir ein.«
»Um einen Guerillakrieg zu gewinnen, sagte Mao, mußt du
versuchen, die Einheimischen auf deine Seite zu zie hen.«
»Wie mach' ich das?«
»Biete ihnen etwas an, das sie vom Feind nicht bekommen
können. Etwas, das wertvoller ist als das, was er ihnen geben kann.
Du verschaffst ihnen die Möglichkeit, einen Vergleich zu ziehen,
und dabei zeigst du ihnen seine Unzu länglichkeiten. Du überzeugst
sie davon, daß du für sie besser bist. Mit seinen Waffen kannst du
zwar nicht mit halten, aber vielleicht kommt er dafür gegen deinen
Grips nicht an. Beweise ihnen, warum Grips wichtiger ist als
Muskelkraft. Bring den Einheimischen etwas bei, das der Feind
nicht kann. Zum Beispiel, wie sie mehr Fische fangen, die Ernte
verbessern oder ... ihre Computer optimal einsetzen.«
Der Junge nickte.
233
»Wenn du ein Ziel hast, verfolgst du es zwar die meiste Zeit,
aber nicht immer. Manchmal muß man aus einem schiefen Winkel
heraus agieren, sich etwas distanzieren, um aus einer anderen
Richtung wieder vorzustoßen. Ein anderes Mal mußt du einen
Schritt vorwärts machen, zu schlagen und ein paar Schritte
zurückweichen, so daß dich das Feuer der Gegenseite nicht treffen
kann. In dieser Art von Krieg ist Geduld der Schlüssel zum Erfolg.
Du mußt deine Ziele sorgfältig auswählen; jeder Schuß zählt.
Mach den Feind langsam mürbe.
Sobald du die Einheimischen auf deiner Seite hast, ist die
Stärke des Feindes nicht mehr von Bedeutung. Sie werden dir
helfen und dich vor den feindlichen Truppen verstecken. Vielleicht
stürzen sie deinen Feind auch selbst, so daß du gar nichts mehr
unternehmen mußt. Letzten Endes ist das der beste Weg.«
»Ja.«
Einen Moment lang schwiegen beide. Dann sagte Tyrone:
»Danke, Dad. Ich gehe jetzt wieder ins Bett.«
»Schlaf gut, mein Sohn.«
Nachdem der Junge verschwunden war, grinste Howard vor
sich hin. Es lag einige Zeit zurück, daß er in diesem Alter gewesen
war. Damals schienen die Probleme ebenso groß zu sein wie alle,
vor denen er seither gestanden hatte. Alles war relativ. Das durfte
er nicht vergessen. Daß er jetzt da war, um seinem Sohn die
Antworten zu geben, die er brauchte, war genauso wichtig, wie
irgendeine Schlacht in irgendeinem fremden Land auf der anderen
Seite des Globus zu gewinnen. Letztendlich war es wichtiger,
Vater zu sein als Colonel.
Er probierte die Milch, aber sie war inzwischen zu warm. Er
ging zur Spüle hinüber und goß sie aus. Dann spülte er das Glas
und setzte es zum Trocknen auf das Abtropfgestell. Vielleicht
konnte er jetzt wieder einschlafen. Ein Versuch schadete nicht.
234
27
Sonntag, 3. Oktober, 6 Uhr 40
Washington, D.C.
Alex Michaels stand an der gläsernen Schiebetür und beobachtete, wie der Hund durch den Garten streifte. Er hatte fest
geschlafen, als Scout gekommen und zu ihm auf das Bett
gesprungen war. Für einen Hund seiner Größe stellte der Sprung
eine reife Leistung dar. Oben angekommen, bellte er nicht etwa. Er
saß einfach da und starrte Michaels geduldig an, bis der aufstand,
um ihn hinauszulassen.
Michaels ließ das Alarmsystem die meiste Zeit über aktiviert.
Ein Techniker seiner Abteilung hatte eine Feinabstimmung
vorgenommen und es mit dem Voxax-System des Computers
verbunden. Er mußte nur das Wort >Attentäter< laut genug sagen,
damit die Mikrofone im Haus ansprachen, und schon würde der
Alarm ausgelöst. Jetzt hatte er den Kontakt des Alarmsystems zur
Schiebetür unterbrochen, um den Hund hinauszulassen. Allerdings
steckte der Taser in der Tasche des Bademantels. Er hatte sich
noch nicht sehr ausgiebig mit dem Gerät beschäftigt, seit es ausgegeben worden war, aber er hatte sich vorgenommen, etwas mehr
Zeit darauf zu verwenden, die Handhabung in geschlossenen
Räumen zu üben. Vor allem, wie man das Ding in großer Eile aus
der Tasche oder vom Gürtel bekam.
Vor dem Haus parkte ein Wagen, in dem zwei Agenten saßen.
Ein dritter Mann stand am Tor an der Seite des Hauses. Michaels
hätte ihn gar nicht bemerkt, wenn der Hund ihn nicht gesehen und
angekläfft hätte, bis er beruhigt wurde. Der kleine Kerl war besser
als jede Alarmanlage.
Als der Hund damit fertig war, den Rasen zu bewässern und zu
düngen, trottete er, nun, da sein Revier vor Eindringlingen sicher
war, zurück in die Küche. Zu Michaels Füßen blieb er stehen und
blickte schwanzwedelnd zu ihm auf.
235
»Hast du Hunger, Junge?«
Ein Kläffen war die Antwort.
»Na, dann komm.«
Michaels hatte einige Dosen mit teurem Hundefutter besorgt.
Er zog den Deckel von einem der Aluminiumschälchen ab und gab
den Inhalt in eine kleine Schüssel. Diese stellte er neben den
Wassernapf auf den Boden.
Wie immer wartete der Hund. Obwohl er Hunger hatte, blieb er
vor der Schüssel stehen und sah erwartungsvoll zu Michaels auf.
Er wartete auf Erlaubnis. Wer immer sein Trainer war, er hatte
gute Arbeit geleistet.
»Nur zu, friß.«
Scout beugte sich hinunter und verschlang das Futter, als hätte
er lange nichts zu fressen bekommen.
Als er fertig war und genug Wasser getrunken hatte, um alles
hinunterzuspülen, folgte er seinem neuen Herrchen ins
Wohnzimmer. Michaels, der auf dem Sofa saß, schlug sich leicht
auf die Oberschenkel. Der kleine Hund sprang hoch und machte es
sich auf seinem Schoß bequem. Er begann, sich die Pfote zu
lecken, während Michaels ihn hinter den Ohren kraulte.
Ohne Zweifel hatte es etwas Beruhigendes, auf dem Sofa zu
sitzen und den kleinen Kerl zu streicheln. Susie hätte schon immer
gern einen Hund gehabt. Aber Megan hatte sie auf später
vertröstet, wenn sie alt genug wäre, selbst für ein Tier zu sorgen.
Bald hätte sie dieses Alter erreicht - schneller, als ihm lieb war.
Acht Jahre war seine Tochter inzwischen, aber sie steuerte
geradewegs auf die achtzehn zu ...
Michaels mochte Hunde. Er selbst hatte sich hier in Washington keinen zugelegt, weil er ihn nicht den ganzen Tag allein
lassen wollte. Aber da Scout so klein war, bekam er im Haus
ausreichend Auslauf. Die Vorbesitzer hatten eine Katze gehabt und
eine Katzentoilette auf dem Dachboden zurückgelassen. Michaels
brauchte nur noch einen Sack Katzenstreu zu kaufen und die bis
oben hin mit Streu gefüllte Toilette tagsüber neben die Schiebetür
zu stellen. Bis her hatte der Hund sie brav benutzt, wenn er nicht
hinauskonnte.
Scout leckte Michaels die Hand. Er quittierte das mit einem
Grinsen.
236
»Dir ist es egal, ob ich Ärger im Büro habe, oder?«
Der Hund stieß ein kurzes Jaulen aus, als hätte er die Worte
seines Herrchens verstanden. Er schmiegte den Kopf in Michaels
Hand.
Michaels lachte. Das war das Gute an Hunden - man mußte
nichts Besonderes sein, um sie zu beeindrucken. Wenn man
wirklich so gut wäre, wie der eigene Hund meinte, dann könnte
man sogar über den Potomac spazie ren, ohne nasse Füße zu
bekommen.
Nun gut. Es war Zeit, sich loszureißen. Er sollte besser
duschen, sich rasieren und anziehen.
Da kam ihm ein Gedanke. Warum sollte er den Hund nicht zur
Arbeit mitnehmen? Er könnte ihn im Büro herumlaufen lassen und
gelegentlich mit ihm Gassi gehen. Es gab keine Vorschriften, die
dagegen sprachen. Schließlich war er der Chef. Zumindest noch
für einen oder zwei Tage. Also - warum nicht?
Sonntag, 3. Oktober, 7 Uhr 40
Quantico
Über seinen Sturmstiefeln aus Kevlar trug John Howard ein
armeegrünes T-Shirt und eine ausgeblichene Tarnanzugshose mit
durchlöcherten Taschen. Außerdem hatte er ein schwarzes
Stirnband um den Kopf, denn sobald er lossprinten müßte, würde
er zu schwitzen beginnen. Eine Arbeitsmütze auf dem Kopf
behalten zu wollen wäre hoffnungslos. Doch sonst sah er genauso
aus wie die anderen fünfzig Soldaten, die an diesem
Sonntagmorgen über den Hindernisparcours sprinteten.
Howard war kein Schreibtischkommandeur, der den Truppen
etwas befahl, was er selbst nicht täte - oder könnte.
Er war als letzter an der Reihe.
Fernandez pfiff zum Start. »Fertig, los!«
Howard spürte, wie der Transponder an seinem Gürtel
ansprach und seine persönliche Uhr in Gang setzte. Er sprintete auf
237
das Wasserhindernis zu, machte einen Satz und ergriff das dicke
Seil. Dann schwang er sich über den Graben, der eher ein
Schlamm- als ein Wasserbad versprach. Der Trick dabei war, sich
durch den eigenen Schwung vor und zurück schwingen zu lassen,
mit den Armen etwas nachzuhelfen und den Körper anzuspannen.
Erst beim zweiten Schwingen durfte man abspringen ...
Er ließ das Seil los und landete fast einen Meter hinter dem
Grabenrand. Jetzt weiter zum Stacheldrahttunnel. Am Ende des
Tunnelzugangs stand eine Schutzwand, die stabil genug war, um
Maschinengewehrsalven aufzuhalten. Die Schützen hatten heute
frei, aber bei einem Prüfungslauf legten sie mit gleichmäßigen
Feuerstößen aus vollautoma tischen Waffen ein Kugeldach über
den Drahttunnel. Ein frischgebackener Rekrut würde sich vor
Angst fast in die Hose machen, aber die meisten seiner Leute
waren alte Ha sen: Sie wußten, daß sie sich keine Kugel einfangen
konnten, es sei denn, sie steckten,ihren Kopf durch den Drahtzaun.
Und selbst wenn man das vorhatte, würde es sich als äußerst
schwierig erweisen.
»Die Zeit läuft, Colonel!« rief Fernandez ihm zu.
Howard grinste und warf sich auf den Bauch. Auf den Knien
und Ellenbogen begann er, durch den Tunnel zu robben. Wenn
man unten blieb, wurde man nur schmutzig. Kam man zu hoch,
würde der Stacheldraht seinem Namen alle Ehre erweisen und
zustechen.
Und das nicht zu knapp!
Vor ihm tauchte eine vier Meter fünfzig hohe Wand auf, an der
ein Seil baumelte. Mit Schwung und wenn man sehr hoch sprang,
während man gleichzeitig das Kletterseil packte, konnte man die
Wand in drei oder vier Zügen überwinden. Dann brauchte man
sich nur noch herüberzurollen und würde drei Sekunden später in
der Sägemehlgrube landen. Mußte man allerdings erst drei Meter
am Seil hochklettern, dauerte das Ganze etwas länger.
Mit einem Satz packte Howard das fünf Zentimeter dikke Tau
gut drei Meter über dem Boden. Dann griff er mit der rechten
Hand nach oben, umfaßte das Seil, machte das gleiche noch
einmal mit links und landete auf der anderen Seite.
Das nächste Hindernis war eigentlich ein zwölf Meter langer
Telefonmast, der auf zwei Meter hohen, gekreuzten
238
Vier-mal-vier-Stützen lag. Man mußte sich an dem einen Ende
hochstemmen - dort war ein kleiner Tritt eingelassen -, auf den
Mast steigen und bis zum anderen Ende balancieren. Fiel man
herunter, mußte man zurückgehen und noch einmal von vorn
anfangen. Der Trick dabei war, gleichmäßig zu gehen, weder zu
schnell noch zu langsam. Es war zwar nicht besonders hoch, aber
bei einem Sturz aus zwei Metern Höhe konnte man sich durchaus
den Knöchel verstauchen oder den Arm brechen. Einmal hatte sich
ein Mann das Genick gebrochen, weil er ausgerutscht und kopfüber hinuntergefallen war.
Howard erreichte den Tritt, stieß sich ab und stand auf dem
Mast. Er hatte diesen Balanceakt schon hundertmal trainiert, daher
hatte er den Bogen heraus. Gleichmäßig gehen - weder zu langsam
noch zu schnell.
Am anderen Ende befand sich wieder eine Grube mit
Sägespänen. Allerdings traf diese archaische Bezeichnung nicht
ganz zu, denn der Grubeninhalt war nicht aus Holz, sondern
bestand aus recycelten Kunststoffkugeln. Um nicht gleich einen
Meter tief darin zu versinken, war es am besten, mit dem Hinterteil
voran oder auf dem Rücken darin zu landen.
Der Colonel war am Ende des Mastes angelangt. Er lehnte den
Oberkörper nach hinten und sprang nach vorn, so daß er flach auf
dem Rücken landete, die Hände ausgestreckt, Handflächen nach
unten. Die Kugeln gerieten in Wallung, beruhigten sich aber rasch
wieder. Howard rollte sich auf die Seite und sank ein wenig ein.
Dennoch erreichte er den Grubenrand und kam wieder auf die
Beine.
Der Soldat vor ihm war langsamer als er. Er hatte sich gerade
erst aus der Grube hochgerappelt und war nun auf dem Weg zum
Minenfeld.
Howard holte den Mann ein. »Platz da!« brüllte er. Der Soldat
wich zur Seite und ließ den Colonel vorbei.
Er lag gut in der Zeit. Seine Bestzeit war es zwar nicht, aber er
hatte kein schlechtes Gefühl.
Das Minenfeld bestand aus einem sechs Meter breiten und
dreißig Meter langen Korridor aus Sand. Dieser war mit
elektronischen Minen etwa von der Größe eines Softballs
gepflastert. Die Minen waren zwar nicht gefährlich, aber wenn
239
man auf eine trat, bekam jeder das unweigerlich mit. Es ertönte ein
mehrfach verstärkter Schrei, der Tote aufzuwecken schien. Jede
Mine, auf die ein Läufer trat, kostete ihn fünfzehn Sekunden. Ihre
Lage verrieten die kleinen Mulden, in denen der Sand etwa einen
Zentimeter tiefer stand. Wenn man den Parcours als erster
passierte, war es am einfachsten. Denn die Minen waren noch
problemlos zu erkennen, so daß das Feld in zehn oder fünfzehn
Sekunden überquert werden konnte. Aber wenn schon andere
Läufer das Hindernis passiert hatten, wurde es schwieriger, die
Minen zwischen den Abdrücken der Kampfstiefel auszumachen.
Zwei Soldaten liefen noch über den Sand, als Howard das Feld
erreichte. Neulinge meinten oft, nur in die Fußabdrücke der
Vorläufer treten zu müssen, um problemlos durchzukommen.
Wären die Minen echt, würde das auch funktionieren. Aber die
Fallen wurden alle zwei Minuten per Zufallsgenerator neu gelegt.
In die Fußstapfen der anderen zu treten, brachte möglicherweise
nicht den gewünschten Erfolg. Sicher sein konnte man jedenfalls
nicht.
Ein bestimmtes Raster ließ sich auch nicht ableiten, denn
Howards Techniker hatten Anweisung, es etwa einmal in der
Woche zu variieren.
Auch hier war Gleichmäßigkeit der Schlüssel zum Erfolg.
Versuchte man sich zu beeilen, wurde man mit Sicherheit über
Gebühr beschallt. War man zu langsam, fing man an, sich zu viele
Gedanken zu machen, und sah Fallen, wo keine waren.
Er betrat den Sand.
Vierzig Sekunden später hatte er das Minenfeld überwunden,
ohne auch nur eine der ohrenbetäubenden Lärmquellen auszulösen.
Er fühlte sich ziemlich gut, denn er hatte einen der Soldaten auf
dem Sandfeld überholt und den anderen auf dem Weg zum letzten
Hindernis hinter sich gelassen.
Die letzte Prüfung an diesem Tag kam in Gestalt von Sergeant
Arlo Phillips, einem fast zwei Meter großen, hundertzwanzig Kilo
schweren Kampfausbilder. Seine Rolle war einfach. Man mußte
versuchen, an ihm vorbeizukommen und einen Summer zu
betätigen, der auf einem Pfahl in der Mitte eines auf dem weichen
Boden aufgemalten, weißen Kre ises montiert war. Die Aufgabe
des Sergeants bestand darin, den Teilnehmer aus dem Kreis zu
240
befördern, ehe er den Summer erreichte. Es durfte nur jeweils ein
Soldat in den Kreis. Einmal hinausgeworfen, mußte man sich
wieder hinten anstellen und es erneut versuchen. Obwohl die
eigene Stoppuhr anhielt, wenn man den Kreis erreichte - der
Transponder am Gürtel schaltete sie ab, wenn man sich vor dem
Kreis in die Schlange einreihte - und nur noch die Zeit stoppte, die
man innerhalb des Kreises verbrachte, kostete dieses Hindernis die
meisten Prüflinge erhebliche Punkteverluste. Die Kampfausbilder
konnten es nicht vertragen zu verlieren. Sie wechselten sich
innerhalb des Kreises ab. Alle waren ausgesprochen gut. Phillips
war kräftig, geschickt und liebte diese Übung. Wenn man ihm
Mann gegen Mann und von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, würde er sein Gegenüber glatt fertigmachen, sofern man
versuchte, ihn mit Muskelkraft zu besiegen. Es gab Soldaten, die
schworen, gesehen zu haben, wie Phillips das Vorderteil eines
Dodge Kleintransporters hochhob und in eine zu enge Parklücke
bugsierte. Die einzige Möglichkeit, ihn zu schlagen, bestand darin,
außerhalb seiner Reichweite zu bleiben.
Als Howard an die Reihe kam, lief er geradewegs auf Phillips
zu, duckte sich erst nach rechts, dann nach links. Er täuschte einen
Angriff von oben vor, um schließlich nach links wegzutauchen,
und rollte an Phillips vorbei. Der Ausbilder erwischte Howards
rechten Fuß, als er wieder hochkam, aber es war schon zu spät der Colonel griff nach dem Summer. Allerdings konnte er ihn nur
mit den Fingerspitzen kurz berühren, dann zog Phillips ihm den
Fuß weg, und er ging bäuchlings zu Boden. Doch es hatte
ausgereicht - der Summer ertönte. Seine Uhr stoppte die Zeit. Für
ihn war der Hindernislauf vorbei.
»Sie haben Offiziersglück, Sir«, sagte Phillips.
Howard kam auf die Füße, klopfte sich den Sand ab und grinste
den kräftigeren Mann an. »Ich verstehe. Nur Glück gehabt, nicht
gut gewesen.«
»Genau, Sir.« Phillips wandte sich ab. »Der nächste!«
Howard ging zu Fernandez hinüber, der mit einigen
Technikern die Punkte für die Übung notierte.
»Ich glaube, Sie werden langsam alt, Colonel, Sir. Sie waren
Dritter.«
241
»Hinter wem?« Howard zog sich das Stirnband vom Kopf und
wischte sich damit den Schweiß um die Augen herum ab.
»Nun, Sir, Captain Marcus ist erster mit gut sechzehn
Sekunden Vorsprung. Sie haben ihm gegenüber Zeit verloren, weil
er Phillips mit seinem geliebten Jiu-Jitsu-Manöver überrumpelt
hat.«
»Und wer ist zweiter?«
Fernandez grinste breit. »Nur kein Neid, Sir.«
»Ich fasse es nicht.«
»Doch, Sir, ich war schneller als Sie.«
»Mit wieviel Vorsprung?«
»Zwei Sekunden«, antwortete Fernandez.
»Großer Gott.«
»Ich glaube, der war dieses Mal auf meiner Seite, Sir.«
»Wenn Sie schneller waren, müssen Sie über das Minenfeld
geflogen sein.«
»Ich bin zwischendurch mal gelandet und hab' ein Bier
getrunken, Sir. Ich hatte mir schon gedacht, daß ich massenhaft
Zeit habe.«
Grinsend schüttelte Howard den Kopf. »Wie schneiden die
Jungs ab?«
»Ganz gut, insgesamt. Ich habe unsere A-1-Jungs - und
Mädchen - gegen Mitglieder der Sondereinheiten mit Ausnahme
vielleicht der besten SEALS -Leute antreten lassen. Sie haben
ziemlich gut abgeschnitten.«
»Machen Sie weiter, Sergeant.«
»Ja, Sir.«
Howard ging zu den neuen Offiziersumkleideräumen hinüber,
um sich umzuziehen. Verdammt, alles war neu, vor ein paar Jahren
hatte das hier noch ganz anders ausgesehen ... Wenn er sich etwas
beeilte, könnte er rechtzeitig zu Hause sein, um mit seiner Frau in
die Kirche zu gehen.
242
Sonntag, 3. Oktober, 8 Uhr 45
Luftraum über Marietta, Georgia
Mora Sullivan schaute aus dem Fenster des Jets auf die tief
unter ihr liegende Landschaft. Sie hatte beide Sitze der Ersten
Klasse auf diesem Flug für sich. Das war kein Zufall, denn sie
kaufte vorsichtshalber immer zwei Flugtickets, für den Fall, daß
sie die Identität wechseln mußte, bevor sie den Flieger bestieg.
Das Flugzeug war nur zur Hälfte besetzt, so daß sich niemand auf
dem leeren Platz neben ihr niederlassen würde.
Der Herbst präsentierte sich in voller Pracht - in Georgias
Mischwäldern hoben sich zwischen den immergrünen Pinien die
Harthölzer deutlich durch organgefarbene, gelbe und rote
Schattierungen ab. Auf Flügen schlief sie meistens, aber an diesem
Morgen war sie zu aufgedreht und nervös. In all den Jahren, in
denen sie schon im Geschäft war, war es nur zweimal
vorgekommen, daß sie ihren Auftraggeber eliminieren mußte. Für
den ersten, Marcel Toullier, erhielt sie einen entsprechenden
Auftrag sechs Monate, nachdem sie für den Franzosen tätig
gewesen war. Daß er zu ihren Auftraggebern gezählt hatte, verlieh
ihm keine Immunität, vielmehr betrachtete sie es als eine rein geschäftliche Angelegenheit, nichts Persönliches. Dabei hatte sie
Toullier durchaus sympathisch gefunden.
Beim zweitenmal ging es um die Eliminierung des Waffenhändlers Denton Harrison. Er hatte einige dumme Fehler
gemacht und kam in den Knast. Es lag genug gegen ihn vor, um
ihn fünfzig Jahre hinter Schloß und Riegel zu brin gen. Sullivan
war klar, daß er reden und sein Wissen preisgeben würde, nur um
aus dem Gefängnis zu kommen. Frü her oder später hätte er
möglicherweise auch erwähnt, daß er Selkie angeheuert hatte. Die
Telefonnummern, die sie ihm damals gegeben hatte, hätten zwar
ins Leere geführt -die Leitungen waren längst abgeklemmt und
nicht mehr zurückzuverfolgen -, aber bislang wußten die Behörden
nicht einmal mit Sicherheit, ob Selkie überhaupt existierte. Und so
sollte es auch bleiben.
Harrison trug kugelsichere Schutzkleidung der Klasse zwei und
war von Bundespolizisten umgeben, als man ihn vom
243
Gerichtsgebäude in Chicago an einen sicheren Ort bringen wollte.
Sie gab den Schuß aus einer Entfernung von zweihundert Metern
ab. Kevlar der Klasse zwei konnte der .308er Patrone des
Heckenschützengewehrs nichts entgegensetzen: Sie durchschlug
Harrisons Aorta und hinterließ bei ihrem Austritt aus seinem
Rücken ein faustgroßes Loch. Er war schon mausetot, noch bevor
der Knall des Schusses ihn erreicht hatte.
Und nun also Genaloni.
Ein Flugbegleiter kam vorbei. »Kaffee? Saft? Irgend etwas
anderes zu trinken?«
»Nein, vielen Dank.«
War es überhaupt nötig, den Mafiakönig außer Gefecht zu
setzen?
Wenn sie reflexartig an diese Möglichkeit gedacht hatte, wäre
sie nicht besser als er. Daß sie etwas unternehmen mußte, war klar.
Und weil sie ihren Lebensunterhalt mit dem Ausschalten von
Menschen verdiente, war das ihre Stärke. Deshalb mußte sie es als
Möglichkeit in Betracht ziehen. Aber es gab noch andere Mittel.
Da sie sich entschlossen hatte, sich demnächst aus dem Geschäft
zurückzuziehen, brauchte sie die alten Identitäten, die Häuser und
Mietwohnungen nicht mehr. Sie könnte eine Spur le gen, die in
einem Autounfall oder einem anderen Unglück enden würde, so
daß jeder, der sie verfolgte, von ihrem Tod überzeugt wäre.
Oder sie stellte Genaloni eine Falle und brachte ihn für ein
fingiertes Verbrechen hinter Gitter. Natürlich würde er auch von
einer Gefängniszelle aus weiter Macht ausüben, das war bei Kerlen
seines Kalibers immer so. Aber er würde die Prioritäten auf seiner
Liste anders verteilen. Selbst jemand wie Genaloni würde sich
nach fünf oder zehn Jahren hinter schwedischen Gardinen nicht
mehr an sie erin nern.
Männer wie Genaloni starben entweder relativ jung oder
landeten früher oder später im Knast. Sie schafften sich auf beiden
Seiten des Gesetzes viele Feinde, so daß die Wahrscheinlichkeit
recht hoch war, daß einer ihrer Widersacher sie irgendwann
erwischte. Natürlich gab es auch neunzigjährige Ex-Ganoven, die,
im Rollstuhl Sauerstoff aus tragbaren Flaschen tankend, vorgaben,
schwach oder senil zu sein. Das waren die Ausnahmen von der
Regel. Alte schnauzbärtige Capones, die trotz aller lauernden Ge 244
fahren immer noch frei herumliefen oder - besser gesagt
-herumfuhren.
Selkie seufzte. Wie ging sie am besten vor? Sie mußte sich
ziemlich schnell entscheiden. Sobald sie dem Hundezwinger im
Norden des Bundesstaates das Geld für den kürzlich abhanden
gekommenen Hund gezahlt hatte, würde sie nach Albany fahren
und zu Hause darüber nachdenken.
Sonntag, 3. Oktober, 13 Uhr 28
Washington, D.C.
Tief durchatmend stand Tyrone vor Bellas Haustür und
versuchte, etwas ruhiger zu werden. Der Nachhilfeunterricht
gestern war ziemlich gut gelaufen. Sie war 'zwar keine
ausgesprochen tolle Netzsurferin, aber ganz annehmbar.
Zweimal hatte sie mit ihrer Hüfte die seine gestreift. Und
einmal, als sie über ihn hinweg nach einem Magnetgriffel langte,
hatte er das Gewicht ihrer Brust auf seinem Arm gespürt.
Eines Tages würde diese Erinnerung vielleicht verblassen, aber
in diesem Moment trug sie nicht gerade dazu bei, seinen
Pulsschlag zu verlangsamen.
Er drückte auf den Summer.
Bella öffnete die Haustür. Heute trug sie ein weniger
aufreizendes Outfit - einen dunkelblauen Jogginganzug. Ihre Haare
waren ordentlich hochgesteckt, und sie sah frisch geduscht aus. Sie
roch sauber und ein bißchen nach Seife.
»Hallo, Ty. Ich war gerade unter der Dusche. Entschuldige
meinen Aufzug.«
Diesen Anblick konnte er sich lebhaft vorstellen: Bella unter
der Dusche.
»Nein, nein, du siehst prima aus«, sagte er. Aber er sprudelte
die Worte viel zu schnell mit viel zu hoch klin gender Stimme
heraus. Er war einfach zu blöd. Verdammt!
»Komm rein.«
245
In ihrem Zimmer legten sie die VR-Ausrüstung an, um mit
dem Nachhilfeunterricht anzufangen.
Tyrone meinte: »Gut. Heute benutzen wir mal mein Programm.
Hast du etwas dagegen, zu zweit auf einem Motorrad zu fahren?«
»Nopro«, antwortete Bella. »Alles, was du willst.«
Schön wär's. Allerdings hatte das, was er wollte, nichts mit
dem Netz zu tun. Nein, Mann, absolut und überhaupt nichts. Statt
dessen sagte er: »Okay. Das Szenario sieht folgendermaßen aus...«
Sonntag, 3. Oktober, 21 Uhr 45
Grosny
Plechanow loggte sich ein und aktivierte die virtuelle Realität.
Ihm fiel ein, daß er das alte Programm noch immer nicht gelöscht
hatte. Die metallicblau glänzende Corvette parkte direkt vor ihm
am Randstein. Im Geiste schüttelte er den Kopf. Er sollte das Ding
wirklich loswerden. Schon gut, schon gut. Sobald er den kurzen
Abstecher in die Schweiz hinter sich gebracht hätte, würde er das
Pro gramm verschrotten. Endgültig.
Sonntag, 3. Oktober, 13 Uhr 50
Washington, D.C.
Während sie auf der Harley die kurvenreiche Straße durch die
Schweizer Alpen entlang brausten, mußte Tyrone brüllen, um den
Fahrtwind zu übertönen: »Hast du verstanden, wie das
funktioniert? Mein Programm übersetzt die anderen Programme in
kompatible visuelle Modi. Sieht du den Lastwagen dort? Wenn wir
in einem Wasserszenario wä ren, wäre das wahrscheinlich ein
Kutter oder ein Schiff.«
246
»Aber wie funktioniert das?« schrie Bella.
Er warf einen kurzen Blick zu ihr nach hinten. Der Wind
spielte mit ihren Haaren, die sie jetzt offen trug.
»Ganz einfach. Wenn wir in völlig verschiedenen Modi sind,
werden die Bilder des anderen Surfers von meinem Programm
überlagert. Winkel und relative Geschwindig keit sind gleich,
genauso Luft, Wasser, Land und sogar die Fantasie. Wenn die
Modi ähnlich genug sind - wie der Lastwagen, der im
Straßenszenario ist, nicht im Wasser oder so -, übernimmt mein
Programm sein Bild, ohne es zu verändern, um die
VR-Geschwindigkeiten zu halten. Die meisten Leute, die hier
zusammentreffen, nehmen entwe der das eine oder das andere
Programm und benutzen es gemeinsam. Anderenfalls kommt es zu
einer Zeitverzögerung in der Bildwiederholrate von einigen
Mikrosekunden.«
»Aha, ich verstehe.«
»Der Lastwagen ist in Wirklichkeit ein dickes, kodiertes
Infopaket, deshalb ist er so langsam. Paß mal auf.« Tyrone drehte
am Gasgriff und ließ den kraftvollen Motor der Harley aufheulen.
Sie überholten den dahinkriechenden Lkw und scherten vor ihm
wieder ein, weil ihnen ein Auto entgegenkam.
Bella kreischte.
Das gefiel Tyrone.
»Ist das handelsübliche Software?«
»Na ja, diese habe ich etwas modifiziert.«
»Das kannst du?«
»Klar. Ich könnte auch selbst ein Programm schreiben, aber es
ist einfacher, ein vorhandenes zu ändern.«
»Kannst du mir zeigen, wie das geht? Ein eigenes Programm
schreiben?«
»Ja, klar, nopro. Ist gar nicht so schwer.«
»Super!«
In diesem Augenblick mußte Tyrone an das Gespräch mit
seinem Vater denken. Biete den Einheimischen etwas an, das sie
vom Feind nicht bekommen können, hatte er gesagt. Auch wenn
Tyrone Knochenbrecher nicht unbedingt als einen Feind
betrachtete, so hatte sein alter Herr den Nagel auf den Kopf
getroffen. Er hatte etwas, das LeMott nicht hatte, eine Fähigkeit,
247
ein Talent, das Bella in diesem Moment wollte. Das bedeutete
wirklich DF - der Datenfluß strömte in vierter Potenz!
Sie hielten an einer Kreuzung mit einem Stoppschild. Zur
CyberNation ging es links ab. Vielleicht sollte er sie dorthin
mitnehmen? Als er ein paarmal dort herumgesurft war, hatte er es
zwar interessant gefunden, aber die wirklich guten Sachen bekam
man nur zu sehen, wenn man die Staatsbürgerschaft angenommen
hatte. Und das würde nicht passieren. Er hörte seinen Vater schon
sagen: »Deine Staatsbürgerschaft aufgeben, um in ein
Computerland auszuwandern, das gar nicht existiert? Kommt nicht
in Frage.«
Vor ihnen passierte der Querverkehr die Kreuzung. Tyrone war
so mit sich beschäftigt, daß ihm fast die Corvette entging, die an
ihnen vorüberzischte.
Aber nur fast. In seinem Kopf ging ein Alarm los. Eine
Corvette ... Moment mal ... da war doch was ...
Ach ja, Jays Mail von gestern.. Haltet Ausschau nach einem
jungen Typen im Anzug, der eine blaue Corvette fährt.
Der Straßenflitzer war schon vorbei, noch ehe er einen Blick
auf den Fahrer hatte erhaschen können. Vor Tyrone an der Ampel
standen zwei Autos und ein Lieferwagen. Wahrscheinlich war es
nicht so wichtig.
Aber vielleicht doch. Vielleicht sollte er das zumindest
abchecken? Und wenn Bella Fragen stellte, mußte er ihr den
Grund nennen ...
Knochenbrecher half wohl kaum einem Bundesbeamten bei der
Arbeit, oder?
Tyrone legte den ersten Gang ein und gab etwas Gas. Er lenkte
das Motorrad auf den Seitenstreifen und schoß an den wartenden
Fahrzeugen vorbei. Das brachte ihm ein ziemliches Hupkonzert
ein.
»Wow! Ist das legal?«
»Na ja, eigentlich nicht«, räumte Tyrone ein. »Aber uns bleibt
nichts anderes übrig.« An der Ecke angekommen, beugte er sich
vor, um die Lage zu peilen. Dann legte er einen höheren Gang ein
und drehte auf. »Siehst du die blaue Corvette da vorn?«
»Ja?«
248
»Die muß ich überprüfen. Ich, äh, helfe einem Bekannten, der
bei der Net Force arbeitet.«
»Bei der Net Force? Wirklich?«
» Ja, klar. Jay Gridley, er ist der Computerfachmann dort. Ab
und.zu erledige ich etwas für ihn.«
»Wow. Super, Ty!«
Bildete er sich das bloß ein, oder war ihr Griff um seinen
Oberkörper tatsächlich etwas fester geworden?
»Können wir ihn schnappen?«
»Nopro. In diesem Szenario hängt mich so gut wie keiner ab.
Halt dich fest.«
Es gab keinen Zweifel, ihr Griff war fester geworden. Ja!
Sonntag, 3. Oktober, 21 Uhr 58
Grosny
Auf dem Rückweg von der Bank in Zürich fiel Plechanow das
Motorrad auf, das sich schnell von hinten näherte. Er legte die
Stirn in Falten. Einen Moment lang war er beunruhigt und
beobachtete die Harley im Rückspiegel. Es dauerte nicht lange, bis
das Zweirad ihn eingeholt hatte. Dann scherte es auf die
Gegenspur aus und setzte zum Überholen an. Der
Schwertransporter,
der
auf
der
engen
zweispurigen
Zubringerstraße entgegenkam, schien den Fahrer nicht zu
kümmern. Plechanow warf einen flüchtigen Blick auf das
Motorrad. Es saßen zwei Personen darauf, Teenager, ein Junge
und ein Mädchen. Keiner von beiden schien ihn sonderlich zu
beachten. Einige Sekunden später hatte der Motorradfahrer das
Überholmanöver beendet und scherte wieder vor ihm auf die Spur
ein. Dabei mußte er noch einmal beschleunigen und schien dem
entgegenkommenden
Lastwagen
nur
um
Haaresbreite
auszuweichen. Das Zweirad entfernte sich rasch.
Plechanow schüttelte den Kopf über seine eigene Para noia. Das
hatte nichts zu bedeuten. Ein Dorftrottel, der vor seiner hübschen
249
Freundin angeben wollte, indem er waghalsig das schnellste
Fahrzeug auf der Straße überholte. Er selbst war auch einmal in
diesem Alter gewesen, aber das war Lichtjahre her. So jung wollte
er nicht mehr sein. Das hart erkämpfte Wissen und die Weisheit
gegen
brodelnde
Hormone
und
die
rücksichtslose
Carpe-diem-Philosophie der Jugend eintauschen?! Nein. Teenager
glaubten, sie lebten ewig und könnten alles im Leben erreichen. Er
wußte es besser.
Alles hatte seine Grenzen. Selbst die Reichsten und
Mächtigsten gingen am Ende den Weg allen Fleisches. Fünfzig
öder sechzig Jahre weiter, und seine Zeit war abgelaufen. Aber in
seinem Fall war es zumindest qualitativ wertvolle Zeit.
250
28
Sonntag, 3. Oktober, 14 Uhr 20
Washington, D.C.
Jay Gridley befand sich im Netz und lenkte den Viper mit
hoher Geschwindigkeit mitten durch Nirgendwo in Montana, als
das Szenario von der Steuerung automatisch unterbrochen wurde.
Er hörte das Summen seines nicht verzeichneten Überlandtelefons
im Apartment, verkürzte die Zykluszeit seines VR-Programms und
stieg, aus dem Modus aus. Dann legte er die Ausrüstung ab und
schaltete das eingehende Gespräch auf das Voxax-System um.
»Ja?«
»Mr. Gridley?« Die Stimme am anderen Ende klang weiblich
und jung.
Jay runzelte die Stirn. Eigentlich sollte niemand, der ihn
>Mister< nannte, seine Geheimnummer kennen. »Wer ist da?«
fragte er.
»Belladonna Wright. Ich bin eine Freundin von Ty Ho ward.«
Bevor sich Gridley darüber allzuviel Gedanken machen konnte,
fuhr das Mädchen fort. »Ty ist online in einem Sze nario. Ich soll
Sie anrufen und Ihnen die Koordinaten durchgeben. Es könnte
sein, daß er die blaue Corvette aufgespürt hat, nach der Sie
suchen.«
»Donnerwetter! Wo?«
Sie ratterte die Koordinaten herunter. Gridley ließ den
Computer die Werte direkt in sein VR-Programm einspeisen.
»Danke, Miß Wright. Sagen Sie Tyrone, ich bin schon unterwegs.
Discom.«
Gridley wechselte sofort wieder auf die virtuelle Ebene. Aber
als er den Modus programmieren wollte, hielt er unvermittelt inne.
Wahrscheinlich handelte es sich nicht um das gesuchte Fahrzeug,
aber falls doch, dann würde der Viper dem Fahrer sicher
verdächtig vorkommen. Demnach wäre es sicher geschickter,
251
wenn er das Programm wechselte - warum ein unnötiges Risiko
eingehen? Etwas weniger Auffälliges wäre gut.
Gridley rief den grauen Neon auf.
Das auf realen Straßen am häufigsten anzutreffende Auto war
ein zwei Jahre alter, zumeist grau lackierter Neon. Für Neulinge
und Leute, denen egal war, womit sie durch das Netz gondelten,
war das die Standardeinstellung. Ein Viper war etwas Besonderes,
hatte Stil und Klasse, erregte Aufmerksamkeit. Aber einer von
vielen grauen Neons? Ein solches Auto machte den Benutzer mehr
oder weniger unsichtbar. Wenn man etwas davon verstand, konnte
man unter der Null-acht-fünfzehn-Haube allerdings einen
leistungsfähigeren Motor als die Standardmaschine verbergen.
Gridley wäre zwar nicht so schnell wie sonst, aber er könnte
Geschwindigkeit gegen Anonymität eintauschen. Wenn es sich
wirklich um den Bankräuber handelte, dann wollte er auf keinen
Fall, daß der Kerl ihn allzuschnell bemerkte.
Er lud das Programm und übertrug die Koordinaten.
Die Adresse entpuppte sich als eine Tankstelle mit angeschlossener Raststätte im Westen Deutschlands. Als Gridley den
Wagen auf den Parkplatz lenkte, sah er ein hübsches Mädchen von
der Telefonzelle auf Tyrone zugehen, der neben seiner geparkten
Harley
stand.
Links
davon
befand
sich
ein
Volvo-Elektrolieferwagen, der gerade aufgeladen wurde. Ein sehr
realistisches Szenario. Tyrone bemerkte ihn nicht, als er vorfuhr;
sein Blick war auf den Parkplatz vor dem Restaurant gerichtet.
Gridley schaute ebenfalls zum Restaurant hinüber. Unmittelbar
vor dem Gebäude parkte die Corvette. Das Modell und die Farbe
stimmten, aber das wollte noch nichts heißen. Er brachte den Neon
in der Nähe von Tyrones Maschine zum Stehen, so daß die beiden
Teenager kurz auf ihn aufmerksam wurden. Dann stellte er den
Motor ab und stieg aus. Es war kühl und frisch, ein wunderschöner
Herbsttag. Doch der in der Luft hängende Gestank von Diesel
vermischte sich mit dem Ozongeruch des großen Ladegerätes, das
den Lieferwagen mit Saft versorgte. Wirklich ein ausgesprochen
realistisches Szenario.
»Hallo, Tyrone.«
»Hi, Jay G. Äh, das ist, äh, Belladonna. Bella, darf ich
vorstellen, Jay Gridley.«
252
Gridley sagte: »Wir haben telefoniert. Freut mich, dich
kennenzulernen. Ist das eine virtuelle Identität oder dein
tatsächliches Erscheinungsbild?«
»Das tatsächliche«, antwortete das Mädchen.
»In Wirklichkeit sieht sie noch besser aus«, warf Tyrone ein,
um gleich darauf scheinbar hochinteressiert seine Schuhspitzen zu
mustern.
Gridley lächelte. Zum Glück hatte der Junge eine dunkle
Hautfarbe, sonst würde er jetzt so tomatenrot anlaufen, daß er ein
erstklassiges Rücklicht abgäbe.
Tyrone war sich dessen bewußt. Rasch zeigte er auf den
Wagen. »Da parkt die Corvette. Der Fahrer ist drinnen.«
Gridley nickte. »Danke für den Anruf. Hast du das
Nummernschild überprüft?«
»Sicher, gleich als erstes. Quikscan ergab, daß es einem Wing
Lu aus Kanton in China gehört. Aber eine umgekehrte Suche über
das indexsequentielle Zugriffsverfahren war negativ.«
»Also ist das Nummernschild wahrscheinlich gefälscht«,
vermutete Gridley. »Welch eine Überraschung.«
Tyrone wandte sich erklärend an das Mädchen. »Viele Leute
wollen im Netz anonym bleiben. Neben falschen Namen und
angenommenen Identitäten, hinter denen sie ihre wahre Identität
verbergen, programmieren sie falsche Zugangsdaten ein wie
Nummernschilder, Adressen oder Codes. Eine der wichtigsten
Regeln beim Surfen durch das Netz ist ...«
»... niemals zu glauben, was man sieht«, beendete Bella seinen
Satz. »Ich bin zwar kein totaler Freak, aber im Netz bin ich nicht
zum erstenmal, Ty.«
»Entschuldige«, sagte Tyrone.
Gridley schüttelte den Kopf. Teenieliebe. Es tat weh, das mit
ansehen zu müssen. »Was gibt es sonst noch?« fragte er, um das
Gespräch wieder auf die Corvette zurückzubringen.
»Er fährt schnell, wechselt die Spur, ohne die Unebenheiten in
der Mitte zu berühren. Er gerät nie hinter ein langsames
Datenpaket oder wird vom Datenverkehr behindert.«
»Ein Buttersurfer«, sagte Gridley.
»Zweifellos«, erwiderte Tyrone.
»Was ist ein Buttersurfer?« fragte Bella.
253
»Jemand, der wie geschmiert und reibungslos durch das Web
gleitet«, antwortete Tyrone. »Entweder ist er in die sem Modus
besonders gut, weil er ihn schon oft benutzt hat. Oder er hat so viel
Zeit im Web verbracht, daß er sich in jedem Modus gut auskennt.«
»Was bedeutet das?«
»Vermutlich ist er ein Programmierer«, antwortete Gridley.
»Darf ich fragen, warum Sie ihn suchen?« fragte Bella.
»Das kann ich dir momentan leider nicht sagen. Es geschieht
im Rahmen einer laufenden Untersuchung.«
»Aber es ist eine große Sache, oder?«
»O ja, wenn es sich um den Gesuchten handelt, dann ist das
eine megagroße Angelegenheit. Je mehr wir über ihn erfahren, um
so besser.« Gridley warf einen kurzen Blick zu Tyrone hinüber.
»Hat er euch gesehen?«
»Wir haben ihn überholt, um näher an ihn heranzukommen.
Die Straße war ziemlich eng. Seitdem sind wir in einiger
Entfernung geblieben. Ich glaube nicht, daß er uns gesehen hat,
solange wir ihm folgten. Aber aufgrund des Überholmanövers
könnte er uns wiedererkennen, wenn er uns noch einmal zu
Gesicht bekommt.«
> »Also gut. Laßt die Maschine stehen und fahrt mit mir. Mal
sehen, wie lange wir an ihm dranbleiben können.«
Gefolgt von den beiden Teenagern, ging Gridley zu seinem
Wagen hinüber. Plötzlich schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf.
»Setzt euch besser nach hinten«, schlug er vor, »auf dem
Beifahrersitz habe ich einen Haufen Zeugs rumliegen.«
Das stimmte zwar nicht ganz, aber bis sie den Wagen erreicht
hätten, könnte er das von hier aus leicht arrangie ren. Er war auch
einmal in dem Alter gewesen. Es schien ihm allerdings eine
Ewigkeit her zu sein, wenn er sich Tyrone und Belladonna so
ansah. Aber wenn sein Gedächtnis ihn nicht völlig im Stich ließ,
war es für einen Jungen in dem Alter ein aufregendes Erlebnis,
neben einem hübschen Mädchen auf der Rückbank eines
Kleinwagens zu sitzen.
Allerdings - wenn er es sich recht überlegte, besaß es auch für
einen Mann seines Alters einen Reiz.
Sie waren gerade eingestiegen, als Tyrone sagte: »Da ist er!«
254
Gridley konzentrierte sich wieder. Tatsächlich, ein Mann kam
aus dem Restaurant und ging auf die Corvette zu. Jay sah ihn
deutlich. Ein Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. Ja, das
war die gleiche virtuelle Person, die er in New Orleans gesehen
hatte! Ziemlich selbstgefällig von dem Typen, sie immer noch zu
benutzen. Aber nicht nur das. Es war auch dumm. Das war ihre
Chance. »Gut gemacht, Tyrone. Du hast was gut bei mir.«
»Ist das der Mann, den Sie suchen?« fragte Bella.
»Allerdings.«
»Super, Ty!«
Offenbar hatte jemand hinten auf dem Rücksitz gerade
ordentlich Punkte gemacht. » >Jetzt habe ich dich«<, sagte
Gridley, Darth Vader nachahmend. Er griff unter das Armaturenbrett und holte ein Computermikrofon hervor, das er auf
Empfang stellte. »Hier spricht Jay Gridley, Agent der Net Force,
Dienstnummer JG-sechs-fünf-acht-neun-neun, Autorisation Zeta
eins-eins. Es liegt Priorität fünf bei diesen Koordinaten vor, ich
wiederhole, Priorität fünf. Ein zelheiten folgen.« Der Agent gab
den Code, die gefälschten Nummernschilder der Corvette und eine
Beschreibung des Fahrzeugs und der virtuellen Person durch.
Auf dem Rücksitz erklärte Tyrone dem Mädchen leise, was
vorging. »Er alarmiert die Polizeibehörden. Jeder Polizist im Netz,
der die Corvette entdeckt, speichert die Zeit und den Ort. So
könnten wir ein Positionsraster aufstellen, wenn wir ihn verlieren.«
»Ihn verlieren? Du glaubst also nicht, daß wir an ihm
dranbleiben?« fragte Bella.
»Nicht, wenn der Typ wirklich ein Buttersurfer auf der Flucht
ist. Dann ist er vorsichtig. Einen Verfolger wird er früher oder
später entdecken. Wenn er die Zykluszeit verkürzt und aus dem
Modus aussteigt, bleiben seine Leitungen offen, so daß wir seine
Spur weiterverfolgen könnten. Wenn er uns entdeckt, muß er uns
abhängen oder irgendwie anders abschütteln.«
»Nicht mit diesen Reifen«, warf Gridley ein. »Sie sind
selbstabdichtend.«
»Was?«
»Schon gut.«
Tyrone fuhr fort. »Um zu entwischen, wenn er in Bedrängnis
gerät, kann er sich die Ausrüstung herunterreißen oder die
255
Stromzufuhr unterbrechen. Wahrscheinlich würde das zu einem
Systemabsturz führen und sein VRProgramm beschädigen, falls er
es während des Surfens macht. Aber damit wäre er auf jeden Fall
verschwunden.«
»Und das würde er tun?«
»Ich an seiner Stelle schon«, antwortete Gridley. »Die
wichtigste Regel beim Computer ist die Datensicherung. Vielleicht
wird er eine Weile brauchen, bis er seine Software wieder
aufgespielt und die Einstellungen alle wieder vorgenommen hat.
Aber für ihn wäre es immer noch besser, als wenn die Net Force in
der Realität an seine Tür klopft, um ihn festzunehmen.«
»Wow.« Bella schien beeindruckt.
Gridley ließ den Motor des Neon aufheulen. »Gut, aber das
kommt später.« Er beobachtete, wie die Corvette rückwärts aus der
Parklücke stieß und auf den Highway fuhr. »Verfolgen wir ihn
zunächst, solange er noch da ist. Schnallt euch an.«
Sonntag, 3. Oktober, 15 Uhr
Albany, New York
Für Sullivan war es selbstverständlich, den abhanden gekommenen Hund zu bezahlen. Sie wählte dazu den langen Weg:
Die Firma, die den mit gebrauchten Hundertern vollgestopften
Umschlag bei dem Hundezwinger abgab, war bereits das dritte
Glied in der Kette. Sie hatte den Umschlag von dem zweiten
Glied, einer anderen Firma, bekommen. Das Unternehmen am
Anfang der Kette hatte das Geld wiederum an der Rezeption eines
Hotels abgeholt, wo es ein Minderjähriger deponiert hatte, dem
Sullivan dafür einen Sechserpack Bier spendierte. Bei dieser
Transaktion war sie verkleidet gewesen. Es war sehr
unwahrscheinlich, das jemand den Weg zurückverfolgte, sofern
man überhaupt darauf stieß. Außerdem verlief die Spur bei dem
Jungen im Sände, denn er würde sich nur an eine Vierzigjährige
mit einem warzenartigen Leberfleck auf dem Kinn erinnern.
256
Zurück in Albany, hatte sie eine Entscheidung getroffen. Sie
war noch jung. Sechzig oder achtzig Jahre oder sogar mehr
mochten noch vor ihr liegen, je nach medizinischem Fortschritt.
Und es bestand kein Zweifel, daß sie sowohl geistig als auch
körperlich auf dem Höhepunkt angelangt war. Besser als jetzt
würden ihre Fähigkeiten nicht mehr werden. Sie hatte nach all den
Jahren des Tanzes auf dem Vulkan für bestimmte Dinge ein
Gespür entwickelt, eine Art Instinkt. Und sie hatte gelernt, diesem
Gespür zu vertrauen. In ihrer jetzigen Situation war ihr deshalb
klar, daß es Zeit wurde, sich abzusetzen. Weiterzumachen wie ein
Boxer, dessen beste Zeiten vorbei waren und der über kurz oder
lang von irgendeinem Großmaul mit eisernem Kiefer auf die
Bretter geschickt werden würde, war keine gute Idee.
Also schön. Sobald die verfehlte Zielperson ausgeschaltet war,
würde sie sich in den Ruhestand begeben, würde Selkie sämtliche
Leitungen kappen. Arm war sie nicht gerade, denn sie hatte acht
Millionen Dollar auf der hohen Kante. Bei sorgfältiger Investition
könnte sie von den Zinsen leben. Ursprünglich hatte sie sich zwar
zehn Millionen vorgenommen, aber das war nur ein hypothetisches
Ziel gewesen. Es gab einige risikoreiche, aber äußerst lukrative
Vorhaben, in die sie investieren könnte und die sich mit Sicherheit
auszahlten. Verhungern würde sie nicht.
Das einzige ungelöste Problem war Genaloni.
Wahrscheinlich würde ihr Auftraggeber wie alle diese
Schlauköpfe unter der Erde oder im Kittchen enden. Aber
>wahrscheinlich< reichte nicht, um sechzig oder achtzig Jahre aufs
Spiel zu setzen. Sie wollte keines dieser Jahre damit
verschwenden, verstohlene Blicke über die Schulter zu werfen,
weil sie Genaloni fürchten müßte.
Nein, Genaloni mußte ein Teil ihrer Vergangenheit werden.
Ihrer abgeschlossenen Vergangenheit.
Das war nicht allzu schwer. Mafiosi wie er umgaben sich mit
Muskelpaketen und bewaffneten Leibwächtern, um sich vor
ihresgleichen zu schützen. Sie hatten Rechtsanwälte, die ihnen die
Polizei vom Hals hielten. Daß ihnen von anderer Seite eine Gefahr
drohen könnte, überstieg ihre Vorstellungskraft. Genaloni mochte
zwar der Intelligenteste unter ihnen sein, aber er hatte seine
Schwächen. Zu Selkies Geschäftsphilosphie gehörte, daß sie alles
257
über ihre Auftraggeber in Erfahrung brachte, bevor sie einen
Auftrag annahm. Genaloni hatte nicht nur eine kleine Armee von
Schlägern und Rechtsanwälten, sondern auch eine Geliebte. Sie
hieß Brigette. Dank seiner Unterstützung führte sie zwar ein
finanziell sorgenfreies Leben, aber sie hatte weder Rechtsanwälte
noch Leibwächter, die sie schützten.
Zunächst würde sie sich um Genaloni kümmern, danach um
den Bürokraten in Washington. Dann einen Monat Urlaub auf
Hawaii vielleicht. Oder Tahiti. Sie wollte irgendwohin, wo es
warm war, die Sonne schien und wo sie ohne Uhren oder Arbeit
einfach in den Tag hineinleben konnte.
Auf Selkies Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Es tat gut,
ein neues Ziel zu haben.
258
29
Sonntag, 3. Oktober, 23 Uhr 05
Auf dem nördlichen euroasiatischen Highway
Er hatte einen Verfolger, soviel stand fest.
Plechanow stieß einen kurzen Fluch auf russisch aus, um
seinem Ärger Luft zu machen. Dann schob er ihn beiseite. Was
passiert war, ließ sich nicht ändern. Die Vergangenheit war nur ein
Prolog. Er mußte umdisponieren.
Das Auto, das ihn beschattete, war einer der allgegenwärtigen
kleinen Wagen, die im Netz und in der Realität millionenfach zu
finden waren. Er hätte den Verfolger gar nicht bemerkt, wenn er
nicht eine seiner Standardschleifen auf einer Nebenstraße gezogen
hätte, um sich vor genau dieser Eventualität zu schützen. Es war
das dritte Ablenkungsmanöver, und obwohl er die Verfolger
vorher nicht entdeckt hatte, war anzunehmen, daß sie ihn bereits
längere Zeit beschatteten. Wie lange schon? Doch das war nur die
erste von vielen weiteren Fragen. Um wen handelte es sich? Wie
hatte man ihn aufgespürt? Wie wurde er sie am besten wieder los?
Er steuerte die Corvette zurück auf die Hauptstraße. Am besten
tat er so, als hätte er sie nicht bemerkt. Zumin dest war er jetzt im
Bilde.
Der mausgraue Wagen folgte ihm in sicherem Abstand, was
seinen Verdacht bestätigte. Sie würden die Informatio nen
sammeln, die sein Fahrzeug hergab - Vektoren, Konstruktion,
Codemodule. Alles Daten, die in den Händen eines Experten
letztendlich auf ihn hinweisen könnten. Die virtuelle Realität war
zwar ein irrealer Ort, aber die Animationen hatten einen realen
Hintergrund. Die Bilder konnten aufgezeichnet und vielleicht
zurückverfolgt werden.
Insbesondere von der Net Force. Die FBI-Abteilung verfügte
über genügend Computerkapazität, um sich gewalt sam einen
Suchweg durch die Profile von Programmierern zu bahnen. Je
länger sie ihm direkt auf den Fersen blieben, um so kleiner wurde
259
die Zahl der Möglichkeiten, die sie durchgehen mußten. Vorher
hätte er einer von Zehn- oder Hunderttausend sein können. Doch
mit jeder Minute, die sie ihn verfolgten, reduzierten sich die
Möglichkeiten, denn jeder Programmierer hatte seinen eigenen
Stil. Die besten unter ihnen waren daran so eindeutig zu identifizieren wie anhand von Fingerabdrücken oder der DNS. Wenn sie
sich lange genug an ihn dranhängten, würden sie seine wahre
Identität herausfinden. Oder zumindest so nah an ihn
herankommen, daß sie ihn schon beim ersten oder zweiten
Durchgang mit Hilfe ihrer Suchfilter aufstöberten. Dazu brauchten
sie nur zu wissen, wonach sie suchten, welche Fragen sie dem
Suchsystem stellen mußten.
Verdammt!
Er befand sich jetzt auf dem nördlichen euroasiatischen
Highway. Das Baltikum hatte er schon passiert, er war fast zu
Hause. Dorthin konnte er jetzt natürlich nicht fahren, aber ein
plötzlicher Richtungswechsel würde seine Verfolger nur
mißtrauisch machen. Außerdem mußte er davon ausgehen, daß sie
nicht allein waren. Andere Verfolgerfahrzeuge fuhren vielleicht
bereits vor ihm oder warteten an Kreuzungen auf ihn. Wenn der
graue Kleinwagen zur Net Force oder einem damit verbundenen
Agenten gehörte, würden mit ziemlicher Sicherheit noch weitere
auf ihn lauern. .
So weit, so gut. Er könnte hundert Kilometer weiter auf den
Indienhighway abbiegen, sie nach Süden von seiner Basis
weglocken. Das Auto würde er vor einem Restaurant parken,
hineingehen und aus dem Szenario aussteigen ...
Nein, das ging nicht. Bei einer derart panischen Reaktion
würde er das Auto zurücklassen müssen, eine Spur, die sie
möglicherweise zurückverfolgen konnten.
Er mußte sich etwas anderes einfallen lassen.
Einmal hatte es schon funktioniert. Vielleicht würde es auch
diesmal klappen. Vielleicht konnte er den Wagen hinter ih m
abschütteln, eine Seitenstraße nehmen und damit jeder weiteren
Verfolgung entgehen. Einfach aus diesem Szenario verschwinden
und es zum Teufel jagen.
Sicher war es einen Versuch wert.
260
Er fuhr langsamer und ließ das Verfolgerauto etwas näher
herankommen. Als er soweit war, nahm er die Spikes aus dem
Beutel, den er bei sich trug, und verstreute sie mit einer schnellen
und geübten Handbewegung hinter sich auf die vier Spuren des
Highway, ein scharfkantiger Ha gelschauer ...
Der Verfolger wich aus und kam an den meisten Spikes
unbeschadet vorbei. Über einige rollte er dennoch.
Na, bitte, wer sagt's denn ...!
Seine triumphierende Miene verdüsterte sich rasch. Weder
verloren die Reifen des grauen Neon an Luft, noch wurde das Auto
langsamer. Im Gegenteil. Es schien an Tempo zu gewinnen.
Verdammter Mist! Sie mußten einen Verdacht hinsichtlich
seiner Identität haben, zumindest in dieser virtuellen Person und
mit diesem Auto. Sie wußten, womit sie zu rechnen hatten, deshalb
hatten sie ihr Programm gegen seine Verteidigungsmaßnahmen
geschützt. Leider hatte er keine andere Ausrüstung, zumindest
nichts, was Experten wie diese aufhalten würde. Vernebelungsund Spiegelungs-Programme hatte er zuhauf, aber die würden ihm
jetzt nichts nützen.
Wenn es ihm nicht gelang, sie abzuschütteln, konnte er sie
auch nicht weglocken. Dazu wußten sie bereits zuviel. Er durfte es
nicht riskieren, daß sie durch Osmose genug Informationen
sammelten, um die Suche nach ihm weiter einzuengen. Bis zur
Straße nach Indien würde er es nicht mehr schaffen.
Er mußte schleunigst aus der virtuellen Realität aussteigen!
Auf dem Bildschirm blinkte das auf möglichen Systemschaden
hinweisende Warnsignal heftig auf. Dazu ertönte die Meldung:
»Warnung! Systemabsturz! Warnung! Systemabsturz!«
Plechanow legte die VR-Ausrüstung ab und betätigte den
Netzschalter. Er drehte dem Computer den Saft ab, ohne sich um
die Prozeduren für das Herunterfahren im Notfall zu kümmern.
Daten würden verstümmelt und das OS-Sicherheitssystem
erheblichen Schaden nehmen. Die gesamte virtuelle Realität war
komplett verloren. Aber das war alles unwichtig, wenn jede
Sekunde zählte und über Flucht oder Festnahme entschied.
Verdammt, verdammt noch mal! Wie hatten sie ihn gefunden?
Wieviel wußten sie?
261
Sonntag, 3. Oktober, 15 Uhr 10
Washington, D.C.
Die Corvette explodierte vor ihnen in einem grellen Feuerball
und verschwand.
»Mist!« entfuhr es Jay G.
»Und weg ist er«, sagte Tyrone zu Bella. »Er hat uns entdeckt
und einen Systemabsturz provoziert.« Er wandte sich an Jay G.
»Hast du trotzdem was Nützliches bekommen?«
»Ja, ich glaube schon. Er war auf der Straße in Richtung
Zentralasien und Rußland, vielleicht eines der GUS-Staaten. Er
hätte auf die Straße nach Indien dort vorn abbiegen oder weiter in
den Orient hineinfahren können. Aber wenn er nach Süden gewollt
hätte, wäre er sicher schon einige hundert Kilometer vorher
abgebogen:-Außerdem fährt er nicht wie einer der Japaner oder
Koreaner, die ich kenne. Ich schätze, er wollte nach Hause, und ich
finde, er fährt wie ein Russe.«
»Was meint er damit?« fragte Bella.
Tyrone erklärte Bella die Sache mit dem Progammiererstil.
»Wir müssen die Daten, die wir gesammelt haben, erst einmal
auswerten«, sagte Jay. »Vielleicht reicht es schon, um den Kerl
dingfest zu machen.«
Sonntag, 3. Oktober, 15 Uhr 23
Quantico
Mit einer Handbewegung aktivierte Michaels die Kommunikationseinheit. »Ja?«
»Chef, Jay Gridley hier. Ich bin im Auto auf dem Weg ins
Büro. Wir haben Neuigkeiten über den Kerl, der uns in Europa und
Asien Kopfzerbrechen bereitet hat.«
Michaels durchfuhr die Enttäuschung wie ein Stich. Auf seiner
persönlichen Prioritätenliste war-Steve Day im Moment wichtiger.
Doch für die Net Force hatte diese Sache mehr Bedeutung, auch
wenn seine Karriere dabei den Bach hinunterginge.
»Ausgezeichnet, Jay.«
»Ich bin in etwa fünfzehn Minuten bei Ihnen«, fuhr Gridley
fort.
Der Kommandeur hatte die Verbindung gerade unterbrochen,
als das Telefon erneut summte. »Hallo?«
»Hallo, Daddylein.«
»Hallo, Töchterlein!«
»Hast du noch geschlafen?«
Halb vier nachmittags, und seine Tochter wollte wis sen, ob er
noch im Bett lag. Er lächelte. »Nein, ich bin im Büro.«
Selbstverständlich hatte die Net Force einen Agenten für Susies
Schutz abgestellt. Außerdem war die örtliche Polizei informiert
worden. Aber bis her bestand kein Grund zur Beunruhigung.
» Mom hat die Bildübertragung reparieren lassen. Ich schalte
sie ein.«
Auf dem Bildschirm des Computers baute sich das Bild seiner
Tochter auf. Sie trug einen blauen Overall und ein rotes T-Shirt.
Ihre Haare waren kürzer, als er sie in Erinnerung hatte, sie hatte sie
wohl abschneiden lassen. Sie war wirklich ein hübsches Kind - ein
Ebenbild ihrer Mutter, nur jünger. Der Gedanke, daß sie hübsch
war, entsprang natürlich seiner durch und durch objektiven
Meinung. Er grinste und schaltete die Kamera ein, damit auch sie
ihn sehen konnte.
»Boah, Dad, du siehst aus wie die Oma von Drac.«
»Wer ist denn das?«
»Du machst wohl Witze. Guckst du etwa nicht Dracs Pack?
Das ist doch überall die Nummer eins der Entcoms, Dad! Vince
O'Connell spielt Drac, Stella Howard ist seine Frau, und Brad
Thomas Jones spielt den Sohn. Die alte Oma ist die Mutter aus
Verdorbene Mönche. Lebst du hinterm Mond?«
Wieder mußte er grinsen. »Ich bin in letzter Zeit nicht oft dazu
gekommen, Fernsehserien anzuschauen.«
»Wirklich eine super Sendung, du solltest sie dir unbedingt
ansehen. Na egal, du siehst jedenfalls furchtbar aus. Du bist doch
hoffentlich nicht krank?«
263
»Nein. Nur müde. Zuviel gearbeitet, zuwenig geschlafen. Aber
ich habe jetzt einen Hund.«
»Einen Hund? Einen richtigen Hund, keine Simulation?«
»Genau.«
»Was für einen denn? Seit wann hast du ihn? Bringst du ihn
mit, wenn du zu meiner Theateraufführung kommst? Wie groß ist
er? Wie heißt er? Welche Farbe hat er? Ist es ein kluger Hund?«
Er lachte. »Es ist ein Zwergpudel, sein Name ist >Scout<, und
er ist etwa so klein wie eine mittelgroße Katze. Und ziemlich klug.
Er wird dich bestimmt mögen.«
»Megasuper!« Susie drehte den Kopf zur Seite und rief:
»Mom! Dad hat einen Hund! Er bringt ihn mit, wenn er uns
besucht!«
Alex hörte das Gemurmel seiner Exfrau im Hintergrund.
»Meinst du wirklich, er wird mich mögen?«
»Da bin ich ganz sicher, Kleines.«
Als er sie ansah, kam ihm wieder der Gedanke, Washington zu
verlassen und in den Westen zu ziehen. Die Vorstellung gefiel ihm
immer besser. Natürlich würde er lieber mit hocherhobener Fahne
fortgehen, als sie im Dreck hinter sich herschleifen zu müssen.
Aber dennoch ...
Es nützte nichts. Die Zeit lief. Zuallererst mußte er die Sache
beenden. Steve Day durfte nicht in Vergessenheit geraten. Auf
keinen Fall.
Sonntag, 3. Oktober, 16 Uhr
Long Island
Ray Genaloni warf einen Blick auf seine Uhr. Auch weit
draußen auf Long Island war der Sonntagsverkehr grauenhaft.
Selbstverständlich saß er im Fond einer Limousine und hatte einen
Fahrer, der sich damit herumschlagen mußte. Aber dennoch stank
ihm das gewaltig. Jede Minute, die er in dem Gewirr von Autos
264
und Lastwagen feststeckte, ging von der Zeit ab, die er mit
Brigette verbringen konnte.
Sicher, er kam mindestens einmal oder zweimal pro Woche
hierher. Und Brigette war auch nicht gerade der tollste Feger, der
sich je vor ihm entblößt hatte. Da hatte er schon bessere erlebt,
mehr als einmal. Andererseits war sie eine Wucht, zehn Jahre
jünger als er und willig, alles zu tun, was er wollte - Dinge, bei
denen er nicht einmal im Traum daran dachte, sie seiner Frau
gegenüber zu äußern, geschweige denn, sie mit ihr zu tun.
Brigette wohnte in einem kleinen Haus - das er ihr gekauft
hatte - in einer ruhigen Sackgasse eines netten Viertels, in dem
noch größere und teurere Villen standen. Dort angekommen, blieb
Genaloni im Wagen sitzen, bis seine Leibwächter im Fahrzeug vor
ihm ausgestiegen waren und die Gegend kurz inspiziert hatten.
Immer, wenn er hier herauskam, fuhren zwei oder drei Mann in
einem weiteren Auto vor der Limousine und einige andere in
einem Wagen hinter ihm. Er ließ sie draußen warten, bis er fertig
war, auch wenn - soweit er das beurteilen konnte - bisher niemand
versucht hatte, ihm hierher zu folgen.
Auf sein Klingeln hin öffnete Brigette die Tür. Ihr durchsichtiges, schwarzes Seidennegligee, das vom Hals bis zum Boden
reichte, verbarg absolut nichts. Ihre Großeltern stammten aus
Schweden oder Dänemark, und sie war gut gebaut, vollbusig und
kerngesund. Außerdem konnte man sehen, daß sie naturblond war.
In jeder Hand ein Glas Champagner haltend, stand sie vor ihm. Die
Gläser waren beschlagen und eisgekühlt.
»Hallo, Süßer. Mein Mann ist nicht da. Warum kommst du
nicht auf einen Drink herein?«
Er lächelte. Manchmal spielte sie irgendwelche Spielchen. Er
nahm ihr ein Glas Champagner ab und folgte ihr ins Haus. Ihm
war klar, daß sie eine Show vor seinen Leib wächtern abzog, und
das gefiel ihm. Leidet ruhig, Jungs, dachte er.
Sie hatte kaum die Tür zugemacht, als er mit einer Hand unter
ihr Seidenteil griff und eine ihrer Brüste umschloß. Kein Silikon,
nur warmer, weicher Busen.
» Na schön. Wenn es das ist, was du willst, sollten wir uns
besser beeilen, bevor mein Mann nach Hause kommt.«
265
»Der kann warten, bis er an der Reihe ist«, gab Genaloni
zurück.
Sonntag, 3. Oktober, 14 Uhr 01
Las Vegas
Sogar am Flughafen gab es Spielautomaten: einarmige Banditen, Pokergeräte, Bingoautomaten. Wie elektronische Bettler
reihten sie sich aneinander, um den Fluggästen auf dem Weg zur
Maschine das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die Wände waren
mit riesigen Bildschirmen übersät, auf denen Magier ihre
atemberaubende Bühnenshow vorführten, Raubtiernummern und
Revuegirls, die nicht mehr tru gen als Glitzerstaub, zu sehen waren.
Rushjo beobachtete die Schlange, die stehenblieb, um einen
einarmigen Banditen mit einer Dollarnote zu füttern. Dann
betätigte Gregori den Hebel und wartete gespannt. Die grellen
Farben des Automaten wirbelten durcheinander, bis das Gerät mit
einem Klicken zum Stillstand kam. Gregori die Schlange schüttelte
den Kopf und hob grinsend die Schultern. Er war kein
Gewinnertyp.
»Er weiß nicht, wann er aufhören sollte, oder?« fragte Winters.
Rushjo antwortete nicht, obwohl er durchaus gleicher Meinung
war. In den vergangenen drei Tagen hatte Gregori mindestens
fünftausend Dollar beim Spielen verloren. Seine kleine
Glückssträhne am Black-Jack-Tisch war jäh beendet. Neben dem
verspielten Geld hatte er mindestens weitere zweitausend Dollar
für Nutten ausgegeben. Natürlich konnte er mit seinem Geld
machen, was er wollte, und Plechanow bezahlte ihn recht
großzügig. Aber siebentausend Dollar bedeuteten Nahrung und
Unterkunft für eine Durchschnittsfamilie in Rushjos Heimatland
für ... tja, wie lange etwa? Knapp zwei Jahre? Gregori war ein
Idiot, die Luft nicht wert, die er atmete.
266
»Ich muß telefonieren«, sagte Rushjo. »Soll er verpulvern,
soviel er will. Bis zum Start der Maschine haben wir noch über
eine Stunde Zeit.«
»Ich geh' mal 'rüber zum Geschenkeladen und kauf' mir eine
Zeitschrift.«
Rushjo nickte. Er ging zu den öffentlichen Fernsprechern
hinüber und stülpte einen Einweg-Verwürfler über das Mundstück.
Dann wählte er die Notfallnummer. Es dauerte einige Sekunden,
bis die Verbindung stand, da sie fünf- oder sechsmal über den
ganzen Globus umgeleitet wurde. Übermäßig beunruhigt war er
zwar nicht, aber Plechanow hatte die beiden letzten laut Plan
vorgesehenen Anrufe, Freitag und Samstag, versäumt. Jetzt hielt
Rushjo sich an die Vorgehensweise für einen solchen Fall.
»Ja«, meldete sich Plechanow kurz angebunden.
»Ist alles in Ordnung?«
»Im Grunde schon. Es hat eine unerwartete Panne gegeben.
Eine Kleinigkeit, aber dennoch ein wenig besorgniserregend.«
Rushjo wartete, was Plechanow ihm mitteilen würde. Er wurde
nicht lange auf die Folter gespannt.
»Das ... Technikprojekt, das Sie angefangen haben, wurde
nicht zu meiner Zufriedenheit abgewickelt.«
Rushjo war klar, worum es ging. Plechanow sprach von der
Aktion, die die Net Force von seinen Aktivitäten ablenken sollte.
Die Ermordung ihres Leiters, die Saat, die sie gesät hatten, um die
Organisation und die Mafia gegeneinander aufzuhetzen. »Es ist
noch zu früh«, sagte Rushjo.
»Dessenungeachtet müssen wir die Sache vorantreiben. Die
kleine Panne, von der ich sprach, ist in diesem Bereich aufgetreten
und erfordert einen früheren Abschluß des gesamten Projekts.«
»Ich verstehe.«
»Es wurde ein Versuch unternommen, Ihr, äh, erstes Experiment nachzuahmen. Und zwar von einem Angestellten der
italienischen Firma. Es ist ihnen aber nicht gelungen, dasselbe
Ergebnis zu erzielen.«
Aha. Der Genaloni-Clan hatte einen Anschlag auf den neuen
Leiter der Net Force verübt, der fehlgeschlagen war. Höchst
interessant. In den Nachrichten war darüber nicht berichtet
worden.
267
»Und Sie möchten, daß ich mich darum kümmere?«
»Genau. Warten Sie aber auf mein Signal. Vielleicht ist es
noch zu früh. In ein oder zwei Tagen weiß ich Genaueres.«
»Wie Sie meinen.«
»Es wäre vielleicht ratsam, wenn Sie sich bereits in der Gegend
aufhielten.«
»Natürlich.«
»Auf Wiederhören. Ich sage Ihnen morgen Bescheid.«
»Wiederhören.«
Ruhsjo entfernte den Einweg-Verwürfler und ließ seinen Blick
darauf ruhen. Die biomolekulare Rhodopsin-Matrix, die das
Kernstück des Gerätes darstellte, würde absterben, sobald der
Kontakt zwischen Druckschalter und Telefonhörer unterbrochen
war. In zwanzig Sekunden würden der Speicher des Gerätes leer
und die Schaltungen tot sein. Es war ein nettes Spielzeug, ein
Nebenprodukt aus der Kampfflugzeugforschung. Bei einem
Absturz über feindlichem Gebiet sollten die Computersysteme
nicht wiederhergestellt werden können. Elektronische Speicher
vollständig zu löschen war schwierig. Eine Bioeinheit hingegen,
die abgestorben war, ließ sich nicht mehr regenerie ren.
Den Verwürfler in der Hand, wartete er eine volle Minute,
bevor er das Gerät in den Abfallbehälter warf.
Sie würden also wieder nach Washington fahren. Ge nauer
gesagt; zu einem Motel nach Maryland, etwa eine knappe
Autostunde von der Hauptstadt entfernt.
Gregori riß sich von den nebeneinander aufgereihten
Spielautomaten los und kam herübergetrottet.
»Sind Sie fertig mit dem Glücksspiel?« fragte Rushjo.
»Da.«
Rushjo konnte sich einen kleinen verbalen Seitenhieb nicht
verkneifen. Eine kleine Spitze, die gerade ausreichte, ihn zu
treffen. »Ihr System braucht anscheinend eine Feineinstellung.«
Die Schlange runzelte die Stirn. Der Ausdruck in seinem
Gesicht bereitete Rushjo ein gewisse Genugtuung.
268
30
Sonntag, 3. Oktober, 18 Uhr 15
Quantico
Toni Fiorella trat aus der Net-Force-Zentrale in die kühle
Abendluft hinaus und ging zu ihrem Auto hinüber. Der Parkplatz
war fast leer, sie sah weder Fahrzeuge noch Fußgänger. Nur eine
Gestalt mit einem Aktenkoffer unter dem Arm, die zielstrebig auf
sie zukam. Sie erkannte den Mann.
»Rusty? Was gibt's?«
Sie sah ihn einmal tief durchatmen. »Ich habe einige Recherchen über Silat angestellt, Material aus dem Netz heruntergeladen und ein paar Bücher und alte Videos aufgestöbert.
Ich dachte, äh, ich meine, vielleicht könnten wir uns das mal
zusammen anschauen. Ihre Meinung dazu würde mich sehr
interessieren.« Er hielt seinen Aktenkoffer in die Höhe.
»Sicher. Ich werde es mir ansehen.«
»Gut, danke. Aber ich könnte es Ihnen auch beim Abendessen
kurz zeigen. Ich meine, das heißt ... falls Sie überhaupt etwas essen
möchten.«
Toni hielt inne und blinzelte. Offensichtlich hatte er auf sie
gewartet, und es hörte sich ganz danach an, als wollte er sich mit
ihr verabreden. Stellte sich nur die Frage, ob sie sich darauf
einließ.
Die allzeit wachsame Stimme der Vernunft mischte sich ein:
Essen gehen kann nicht schaden. Du mußt doch sowieso etwas in
den Magen bekommen, oder?
Sie lächelte in sich hinein. Rustys Absicht kurz zu testen hielt
sie durchaus für angebracht. »Soll das eine Einladung sein?«
Wenn er einen Rückzieher machen wollte, war jetzt die beste
Gelegenheit. O nein, ich dachte nur, wir, äh, könnten etwas essen,
während wir dieses Material über, äh, Silat in meinem Aktenkoffer
hier durchgehen.
»Ja, Ma'am. Ich glaube schon.«
269
Sie lachte. »Eine Frau zu m Essen einladen und sie mit Ma'am
anreden. Soviel Höflichkeit ist mir noch nicht untergekommen.«
Na gut. Was soll das werden, Toni? Er ist dein Schüler, aber dazu
ein äußerst attraktiver Mann. Topfit, ein helles Köpfchen und
ziemlich geschickt. Abgesehen davon, daß er FBI-Trainee ist, hat
er einen Abschluß in Jura. Mit ihm auszugehen könnte die
Beziehung zwischen Lehrerin und Schüler beeinträchtigen. Ganz
sicher würde es das Verhältnis, an dem sie Alex gegenüber
arbeitete, empfindlich stören.
Mein Gott, Mädel, wenn du warten willst, bis Alex merkt, daß
du eine Frau bist, wirst du wahrscheinlich vorher an Altersschwäche sterben. Außerdem geht es nur um ein Abendessen ... Er hat
dir ja nicht vorgeschlagen, der Vater deiner Kinder zu werden.
»Also schön. Lassen Sie uns zusammen essen gehen. Wo steht
Ihr Auto?«
»Vor meiner Haustür. Ich bin mit der Bahn gekommen.«
»Gut. Dann nehmen wir meinen Wagen. Hatten Sie an ein
bestimmtes Restaurant gedacht?«
»Nein. Mir geht es weniger um das Essen, als um die
Gesellschaft. Entscheiden Sie.«
Wieder mußte sie lächeln. Seine schmeichelhafte Südstaatenart
war äußerst gewinnend. Toni spürte, wie ihr Adrenalinspiegel
ungewollt anstieg. Es war lange her, daß sie privat mit einem
Mann ausgegangen war. Sie empfand es als Balsam für ihr Ego,
wieder einmal eingeladen zu werden.
Einmal essen gehen konnte nicht schaden.
Sonntag, 3. Oktober, 19 Uhr 44
Washington, D.C.
Alex drehte mit Scout eine Runde durch die Nachbarschaft.
Seinem Sicherheitsteam war das ein Dorn im Auge. Eigentlich
glich es eher einer kleinen Parade, die durch die umlie genden
Straßen führte, denn die Gesellschaft war etwas größer, als er
270
angenommen hatte. Vier Agenten saßen in zwei Wagen, der eine
fuhr vor ihm, der andere hinter ihm, beide krochen im
Schneckentempo dahin. Vier weitere waren zu Fuß unterwegs,
einer ging vorweg, einer hinter ihm und dem Hund. Zwei weitere
Sicherheitsleute liefen auf der anderen Straßenseite. Sie bildeten
die Ecken eines mobilen Sicherheitskastens. Außerdem, so erfuhr
er, patrouillierten zwei Fahrzeuge durch die Parallelstraßen, und
zwei weitere überwachten die Querstraßen. In einigen Autos saß
nur je weils eine Sicherheitskraft. Insgesamt, so wußte er von dem
leitenden Sicherheitsangestellten, waren vierzehn Agenten im
Einsatz.
Er hielt es für eine Verschwendung von Steuergeldern, so viele
Sicherheitskräfte zu seinem Schutz abzustellen. Aber die
Anweisung war von seinem Vorgesetzten eigenhändig
unterschrieben worden.
Scout schien die Gesellschaft nicht zu stören. Er bewässerte
Rasenflächen, Straßenschilder und Hydranten, blieb hier und da
knurrend vor einem Gebüsch stehen, weil er irgendeine Gefahr
darin vermutete. Dabei konnte sich dort nichts verstecken, was
größer war als er selbst. Aber es machte ihm Spaß.
Auch Michaels genoß den Spaziergang mit Scout. Es war jetzt
etwas kühler geworden, aber eine Jacke brauchte man eigentlich
noch nicht. Trotzdem trug er aber eine Windjacke, damit er den
Taser griffbereit in der Tasche tragen konnte. Wenn es jemandem
gelang, die Sicherheitskräfte auszutricksen, dann konnte er sich
wenigstens selbst verteidigen.
Vorsicht oder Angst war für ihn etwas Neues, denn um eine
tatsächliche Gefahr für Leib und Leben hatte er sich bis jetzt noch
keine ernsthaften Gedanken zu machen brauchen. Er war recht
groß und sehr gut in Form. Zudem lebte er im Zentrum der
Zivilisation. Vor einigen Jahren, als er beim FBI anfing, hatte er
einige Trainingsstunden in unbewaffneter Selbstverteidigung, im
Umgang mit Feuerwaffen und mit dem Taser gehabt. Aber im
Moment bot ihm das nur schwachen Trost, denn in derartigen
Dingen war er nicht besonders gut, da er im Grunde seines
Herzens jede Gewalt ablehnte.
Als Siebtkläßler war er das letztemal in einen Kampf
verwickelt worden. Damals hatte er sich mit einem Jungen namens
271
Robert Jeffries geprügelt. Sie waren in der Pause im Korridor
zusammengeprallt. Obwohl Jeffries Schuld hatte, war er wütend
gewesen und hatte Michaels aufgefordert, ihn nach der Schule vor
dem Gebäude zu treffen. Das war zwar das letzte, was Michaels
wollte, aber er befürchtete, schlecht dazustehen, wenn er kniff.
Wie die meisten seiner Freunde dachte er damals, es wäre besser,
sich zusammenschlagen zu lassen, als für einen Feigling gehalten
zu werden.
Mit einem flauen Gefühl im Magen, weichen Knien und vor
Angst fast bewegungsunfähig traf er Jeffries bei den
Fahrradständern. Sie zogen ihre Jacken aus und umkreisten
einander. Keiner wollte den ersten Schritt tun. Dicht vor sich sah
er das blasse, schweißnaße Gesicht Jeffries, dessen Atmung
beschleunigt war. Da dämmerte ihm, daß sein Gegner nachgedacht
hatte und genausoviel Angst emp fand wie er.
Wenn beide es nicht wollten, warum mußten sie dann
kämpfen?
Vielleicht hätten sie sich nur das Übliche an den Kopf
geworfen, sich gegenseitig ein paarmal hin und her geschubst und
es dann dabei belassen. Aber jemand aus der schaulustigen Menge
hatte nachgeholfen und sie kräftig gestoßen.
Mit wild schwingenden Fäusten kam Jeffries auf ihn zu.
Was dann geschah, war Michaels nie ganz klar geworden.
Zunächst trommelten Fausthiebe auf seine Schultern und seinen
Kopf ein, Fäuste, die er nicht spürte. Doch ausweichen konnte er
ihnen nicht, obwohl sie wie in Zeitlupe und in Totenstille auf ihn
zukamen.
Im nächsten Moment lag Jeffries auf dem Rücken, und er saß
quer auf seiner Brust. Mit den Knien hielt er die Arme des Jungen
am Boden.
Als er seinen Gegner so in der Zange hatte, hätte Michaels ihm
ohne jede Gegenwehr das Gesicht zu Brei schlagen können. Aber
er hatte nicht auf ihn eingeprügelt, sondern ihn nur am Boden
festgehalten.
Jeffries drehte und wand sich, bäumte sich auf. Dabei schrie er,
Michaels solle ihn loslassen.
Auf keinen Fall, hatte er geantwortet. Nicht, bevor du aufgibst.
Ich bleibe hier die ganze Nacht sitzen, wenn es sein muß.
272
Stunden schienen zu vergehen, dabei war es wahrscheinlich
nur eine Minute gewesen. Als Jeffries klar wurde, daß es ihm nicht
gelang, Michaels abzuwerfen, willigte er ein, den Kampf zu
beenden. Sie einigten sich auf ein Unentschieden, und Michaels
war froh, daß es so ausgegangen war.
Scout hielt an und markierte einen Strauch als sein Re vier.
Dann scharrte er mit den Hinterbeinen etwas Gras über die
Duftmarke.
Bei dem Gedanken an diesen lange zurückliegenden
Faustkampf mußte Michaels lächeln. Wie alt war er damals
gewesen? Dreizehn? Das war lange her.
Seine Miene verdüsterte sich, als ihm Scouts Vorbesitzerin
einfiel und der Ausdruck ihres Gesichts, als sie ihm mit dem Stock
den Schädel einschlagen wollte. Bei die sem Kampf wäre es nicht
auf eine blutige Nase oder ein blaues Auge hinausgelaufen,
sondern auf den Tod. Seinen Tod.
Diese Erkenntnis ließ in Michaels ein Gefühl der Vergänglichkeit aufkommen, das er vorher nicht gekannt hatte.
Er hätte umkommen können. Zack! Ein eingeschlagener
Schädel, einfach so, und er wäre nie mehr aufgewacht. Nie mehr.
Natürlich wußte er rational, daß er eines Tages sterben würde
wie jeder andere auch. Aber gefühlsmäßig hatte er das bis zu dem
Zeitpunkt nie realisiert, als er mit zitternden Knien in der Küche
saß, die Hand um den Taser klammernd, und auf seine Leute und
die Polizei gewartet hatte, nachdem die Attentäterin geflohen war.
Während des eigentlichen Kampfes hatte er keine Furcht verspürt.
Aber danach ...
Er hatte gewaltige Angst gehabt, sich richtig hilflos gefühlt.
Er haßte dieses scheußliche Gefühl der Hilflosigkeit. Sicher, er
verfolgte die Attentäterin. Er lief nicht davon. Aber obwohl er sich
richtig verhielt, fühlte er sich in jenem Moment alles andere als
mutig. Ihm wurde klar, daß er nicht die Fähigkeit besaß, die er
dazu brauchte. Dagegen mußte er etwas unternehmen, es
irgendwie in den Griff bekommen. Vielleicht sollte er mit Toni
darüber sprechen. Sie war eine Expertin, das hatte er bemerkt.
Vorher hatte ihn das nicht sonderlich interessiert. Aber jetzt?
Vielleicht konnte sie ihm ein paar Kniffe zeigen.
273
Wie lautete gleich die Definition, die er neulich gehört hatte?
Ein Konservativer ist ein Liberaler, der überfallen und
zusammengeschlagen wurde.
In der Tat. Die Vorstellung, jemandem eine Schlagwaffe
abzunehmen und dabei keinen Kratzer abzubekommen, schien
Alex Michaels jetzt mehr als verlockend. Er würde nicht immer
eine Armee von bewaffneten Leibwächtern um sich haben. Nein,
er mußte in der Lage sein, sich selbst zu schützen, sonst würde er
das Haus ohne ständige Angst nicht mehr verlassen können. Und
ein Leben in ständiger Angst verleidete einem das Dasein. Er
würde sich nicht unterkriegen lassen. Auf keinen Fall.
Sonntag, 3. Oktober, 20 Uhr 09
Washington, D. C.
Für Tyrone war es ein langer und aufregender Tag gewe-, sen.
Als Bella ihn zur Tür brachte, fragte er sich, ob ein Tag überhaupt
aufregender sein konnte. Zuerst Bella und dann die Sache mit Jay
G. und dem verrückten Programmierer in der Corvette. Es
passierte nicht alle Tage, daß ein hübsches und intelligentes
Mädchen auf eine virtuelle Verfolgungsjagd mitgenommen wurde,
die zudem zu einer offiziellen Untersuchung der Net Force
gehörte. Sein Vater hatte recht gehabt: Das sollte Knochenbrecher
erst einmal überbieten.
An der Tür verabschiedete Bella sich. »Vielen Dank für deine
Hilfe, Ty. Und auch dafür, daß ich bei der Geschichte mit der Net
Force dabeisein durfte. Das war wirklich me gaspannend. Sag mir
bitte Bescheid, was dabei rauskommt, ja?«
»Klar. Ich glaube, mit dem Programmieren wirst du keine
Probleme mehr haben. Das sitzt jetzt.«
Er öffnete die Tür und drehte sich um, um sich zu verabschieden.
Bella beugte sich zu ihm hinüber und küßte ihn auf die Lippen.
Es fühlte sich weich an und war viel zu schnell vorüber. Doch
274
auch, wenn er so alt werden würde wie Methusalem, würde er
diese warme, unerwartete Berührung nie vergessen. Hätte sie ihm
mit einem Hammer eins über den Schädel gezogen, so hätte ihn
der Schlag nicht stärker getroffen.
»Ruf mich in den nächsten Tagen mal an«, sagte sie. »Dann
können wir vielleicht was zusammen unternehmen. Inliner fahren,
einen Burger essen oder irgend etwas anderes.«
Sein Verstand setzte aus, der Mund versagte ihm den Dienst.
Als er sich halbwegs wieder unter Kontrolle hatte, gelang ihm ein
Stottern: »W-w-was ist mit Knochenbre... äh, ich meine, was ist
mit LeMott?«
»Er hat keine Besitzansprüche. Wir sind schließlich nicht
verheiratet.« Sie lächelte. »Bis später.« Dann schloß sich die Tür
hinter ihr.
Tyrone rührte sich nicht vom Fleck, sondern starrte auf die Tür.
Er war völlig bewegungsunfähig, es gelang ihm weder zu denken,
noch zu atmen. Als sein Verstand sich langsam wieder
einschaltete, war ihm unklar, wie lange er so versteinert
herumgestanden hatte. Vielleicht waren ein paar Sekunden,
vielleicht aber auch einige Jahrhunderte verstrichen. Aber was
bedeutete schon Zeit angesichts dessen, was Bella gerade gesagt
hatte?
Ruf mich mal an. Dann können wir was zusammen unternehmen ...
O Mann!
Seine Füße mußten Bodenkontakt haben, als er zur Bahnstation
hinüberging, aber Tyrone war sich dessen nicht sicher.
So war das also, wenn man verliebt war ...
Sonntag, 3. Oktober, 22 Uhr 01
Washington, D.C.
In ihrem Apartment sah sich Toni die schwarze Videohülle aus
Plastik an, die Rusty ihr gegeben hatte. »Wo haben Sie das Video
her?«
275
»Ich bin vor ein paar Tagen auf der Webseite eines Buchladens
in Alabama darauf gestoßen. Heute morgen habe ich es erhalten.
Ich habe keinen VHS-Recorder, so daß ich es mir selbst noch nicht
anschauen konnte.«
Toni betrachtete die Hülle. Auf der Rückseite war ein
kurzhaariger Mann in einem hellen T-Shirt und hellbrauner Hose
abgebildet. Mit der Sapu-Technik wehrte er einen großen Gegner
ab, der Pferdeschwanz, Jeans und eine dunkle Jacke trug. Die
Hülle war offensichtlich irgendwann einmal naß geworden, denn
die Rückseite war mit Wasserflecken überzogen und die Schrift
völlig verblaßt, so daß sie kaum zu entziffern war. Toni konnte nur
erkennen, daß es sich um eine Produktion von Paladin Press aus
dem Jahr 1999 handelte. Das Unternehmen war ihr bekannt. Es
brachte außergewöhnliche Bücher und Videos heraus - angefangen
über Dutzende Arten, jemanden mit einem Gegenstand aus dem
Küchenschrank zu töten, bis hin zu Darstellungen, die den
Gebrauch von Feuer- und Stichwaffen erklärten. Wenn sie sich
recht erinnerte, war das Unternehmen irgendwo in Colorado
ansässig.
Auf der Vorderseite der Videohülle war der verblaßte
Aufdruck zum Teil abgerissen, nur der Titel, Pukulan Pentjak
Silat: die vernichtende Kampfkunst des Bukti Negara -Serak, Teil
drei, war noch zu lesen. Plötzlich war sie ganz aufgeregt. Sie hatte
nicht gewußt, daß jemand Videos über ihre Kampfkunst produziert
hatte. Und dies war offensichtlich der dritte Teil einer ganzen
Serie. »Mal sehen, ob mein Videorecorder noch funktioniert, ich
habe ihn länger nicht benutzt.«
Sie ging zu dem Multimedia-Recorder hinüber und schob die
Kassette in den VHS-Schlitz. Das Gerät sprang an. Sie klickte den
Fernseher an und setzte sich neben Rusty auf die Couch.
Der Vorspann lief ab, dann folgte die Kamera dem Mann in der
hellbraunen Hose in eine Seitengasse. Dort mühte sich gerade ein
anderer Mann mit einem schweren Gegenstand ab, und bat einen
Passanten um Hilfe. Plötzlich sprangen drei Angreifer hinter
Müllcontainern und aus Hauseingängen hervor. Einer der
Verbrecher hatte ein Messer, ein anderer einen Baseballschläger.
Zu viert griffen sie jetzt den Mann in der hellbraunen Hose an.
276
Wie hieß er noch? Sie hatte im Vorspann nicht darauf geachtet.
Egal, das konnte sie im Anschluß feststellen ...
Fünf Sekunden später lagen alle vier Angreifer auf dem Boden.
Aufmerksam verfolgte Toni das Geschehen. Die Szene hätte sie
gern noch einmal in Zeitlupe gesehen, denn der Mann hatte sich
außerordentlich schnell bewegt. Silat war kein ästhetischer
Kampfsport, es gab keine kunstvollen Posen, aber die Technik war
zweifellos äußerst wirkungsvoll.
In der nächsten Szene sah man den Guru auf einer Matte
stehen, im Hintergrund eine hellblaue Wand. jetzt trug er ein
schwarzes, ärmelloses T-Shirt und einen klassischen Sarong. Auf
dem T-Shirt war das Bukti-Emblem abgebildet: ein Garuda-Vogel
mit dem Tigerkopf auf der Brust über zwei Tjabang-Dreizacken.
Der Guru schien gut in Form, sehr muskulös und selbstsicher zu
sein. Sie fragte sich, wie er wohl heute, mehr als zehn Jahre später,
aussah.
Toni drehte sich zu Rusty um. »Das ist fantastisch. Danke, daß
Sie mir das Video gezeigt haben.«
»Ich habe es für Sie gekauft«, erwiderte er. »Ich dachte, Sie
könnten mehr damit anfangen als ich.«
Sie lächelte ihn an. »Vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen.«
Dabei legte sie ihre Hand für einen Moment auf seinen Arm. Doch
der Moment zog sich hin. Eigentlich war es nicht mehr als eine
oberflächliche Geste, mit der sie ihre Dankbarkeit unterstreichen
wollte ...
Es sei denn, sie ließe ihre Hand, wo sie lag.
Der Moment wurde immer länger.
Da faßte Toni einen Entschluß.
Ihre Hand blieb, wo sie war.
277
31
Montag, 4. Oktober, 5 Uhr 05
Washington, D.C.
Gridley sah auf die Uhr. Plötzlich fiel ihm auf, wie steif und
müde er sich fühlte.
Er hatte die ganze Nacht durchgearbeitet.
Mit dem Material, das er heruntergeladen hatte, konnte er einen
ganzen Tanker füllen, aber zumindest hatte er jetzt eine
Vorstellung von dem gesuchten Programmierer. Vorher hatten sie
rein gar nichts in der Hand gehabt, aber jetzt, da sie näher an ihn
herangekommen waren, ergab sich langsam ein klares Bild. Die
Arbeitsweise des Gesuchten wies auf eine Ausbildung in den
GUS-Staaten hin. Gridley könnte wetten, daß sie es mit einem
Russen zu tun hatten. Das war zwar keine stichhaltige
Identifizierung, aber es engte die Suche erheblich ein.
Seine Finger bearbeiteten die Tastatur. Er befand sich im realen
Modus, nicht in der virtuellen Realität. Es war eine Plackerei, im
Grunde ein Abarbeiten von Zahlen und Begriffen. Aber er wollte
die Ursprungsdaten so vor sich haben, wie sie real aussahen. Vom
Hauptrechner der Net Force ließ er alle in Frage kommenden
Möglichkeiten überprüfen. Ergebnisse, die innerhalb der
festgelegten Suchparameter lagen, würden in seinen PC
eingespeichert werden. Gegenwärtig ging der Computer alle in
Rußland registrierten Programmierer durch. Sie würden diesen
Buttersurfer schnappen. Es war nur noch eine Frage der Zeit ...
Das Signal für wichtige eingehende E-Mails ertönte. Gridley
schüttelte den Kopf. Die Identifizierungskennungen waren an Ort
und Stelle, so daß der Computer ein akustisches Signal ausgeben
würde, sobald sich etwas Neues ergab. Er rief die eingegangene
Mail auf und öffnete sie.
Sie kam von einer der Außenstellen. Man habe, hieß es darin,
neue Informationen über die Ermordung von Steve Day.
278
Also gut. Das war auch wichtig. Wenn auch bei weitem nicht
so vordringlich wie der Programmierer, wie Gridley fand. Day war
tot, und daran ließ sich nichts ändern. Ihm konnte niemand mehr
schaden, aber das Netz wurde nach wie vor sabotiert. Deswegen
durfte die Suche nach dem Mörder allerdings nicht vernachlässigt
werden. jeder wußte, daß es dem Chef an den Kragen gehen
würde, wenn sie nicht bald Ergebnisse vorwiesen. So lief das nun
einmal.
Gridley lud die beigefügte Datei herunter und öffnete sie. Er
brauchte nicht lange, um das Wesentliche der Nachricht zu
erfassen.
Interessant. Sieh mal einer an ...
Montag, 4. Oktober, 5 Uhr 05
Washington, D.C.
Auf der Veranda vor dem Haus stand Megan Michaels
händchenhaltend mit einem dunkelhaarigen, kräftigen Mann. Die
beiden küßten sich. Der Mann ließ seine Hände über ihren Rücken
gleiten und umfaßte ihren Po. Sie seufzte leise. Dann drehte sie
sich um und entdeckte Alex. Sie lächelte ihn an. »Ich gehöre jetzt
zu ihm«, sagte sie. »Nicht zu dir.« Sie faßte dem Mann zwischen
die Beine, ließ ihre Hand dort liegen ...
Michaels schreckte aus dem Alptraum auf. Er war voller
Eifersucht und Wut.
Verdammt!
Scout lag neben seinen Füßen, zu einer kleinen Kugel
zusammengerollt. Auf dem Boden, unmittelbar neben dem
Fernsehschrank, stand ein neues Hundekörbchen, ein erstklassiger,
handgearbeiteter
Korb
mit
einem
Kissen
voller
Zedernholzspäne:Aber der Pudel benutzte es nicht, es sei denn,
Michaels befahl es ihm. Und den Hund, der ihm das Leben gerettet
hatte, einfach auf dem Boden schlafen zu lassen, schien ihm
irgendwie nicht richtig zu sein. Außerdem, was sprach dagegen,
279
wenn Scout unbedingt auf dem Bett schlafen wollte? Schließlich
war es groß genug. Er war ja keine Dogge.
Als Michaels erwachte, hob Scout den Kopf und sah ihn an.
Offensichtlich kam er zu dem Schluß, daß alles in Ordnung war,
denn er entspannte sich gleich wieder und rollte sich erneut
zusammen.
Um zehn Uhr hatte Walt Carver eine Besprechung mit dem
Präsidenten. Wenn die Net Force keine neuen Informationen
hinsichtlich Days Ermordung auf den Tisch legen konnte, war ein
neuer Leiter fällig. Sobald man ihn, Alex Michaels, abserviert
hatte ...
Ach, egal. Er stand auf und schlurfte ins Badezimmer hinüber.
Scout kam ebenfalls hoch und streckte sich wie eine Katze. Dann
hopste er vom Bett herunter und lief Michaels hinterher. Neben
ihm sitzend, beobachtete er aufmerksam den Urinstrahl, der in die.
Toilettenschüssel spritzte. Was Scout wohl dachte? Daß der Mann
dieses Territorium als sein eigenes markierte?
»Ja, das ist meine Toilette, du hast es erfaßt«, sagte Michaels.
»Meine und ganz allein meine.«
Mit einem Kläffen gab Scout zu erkennen, daß er verstanden
hatte.
Montag, 4. Oktober, 5 Uhr 05
Washington, D.C.
Toni lag im Bett und starrte an die Decke. Neben ihr unter der
Bettdecke schlummerte nackt Jesse >Rusty< Russell. Er atmete
hörbar.
O Gott, warum hatte sie das getan?
Sie warf einen Blick auf ihn. Rusty war attraktiv, intelligent
und sexy. Ihn zu schmecken und zu fühlen hatte ihr gefallen. Alles
in allem war es athletischer und befriedigender Sex gewesen. Die
Kondome, die sie vor einer Ewig keit gekauft und unter ihren Slips
und BHs aus der Schublade hervorgekramt hatte, waren noch
280
einige Monate lang verwendbar. Sie waren beide erwachsen und
unverheiratet, wen sollte es also verletzen?
Das traf zwar zu, aber dennoch stimmte irgend etwas nicht.
Warum fühlte sie sich sonst so schuldig? Was hatte dieser ...
Fremde in ihrem Bett verloren? Das Ganze erschien ihr irreal wie
ein Traum, der nicht wirklich geschah. Es war ein Gefühl, das
nahezu an Ekel grenzte. Ihr wurde beinahe übel. Als hätte sie einen
furchtbaren Fehler begangen.
Alex sollte jetzt neben ihr liegen. Seine Lust sollte befrie digt, er
sollte glücklich und in sie verliebt sein. Es sollte etwas bedeuten.
Sie mochte Rusty zwar, er war ganz sympathisch, aber eben nicht
der Mann, mit dem sie ihr Leben oder einen längeren Abschnitt
davon verbringen wollte. Das wußte sie genau. Er war
rücksichtsvoll und erfahren im Bett. Es hatte ihr richtig Spaß
gemacht, Sex mit ihm zu haben, sie würde sich selbst belügen,
wenn sie etwas anderes behauptete. Aber Sex allein genügte eben
nicht, auch wenn er noch so gut war. Für eine Beziehung war mehr
nötig, sehr viel mehr. Sie mochte Rusty, aber sie liebte ihn nicht.
Sie liebte Alex.
Also gut, warum hatte sie dann mit Rusty geschlafen? Und wie
sollte sie Alex jetzt noch in die Augen blicken? Sie hatte ihn
betrogen.
Moment mal, Mädchen ... meldete sich die Stimme der
Vernunft zu Wort.
Halt die Klappe, konterte sie.
Rusty räkelte sich neben ihr im Bett.
Sie sollte aufstehen, duschen und sich anziehen. Auf keinen
Fall wollte sie, daß er aufwachte und eine Fortsetzung der letzten
Nacht erwartete. Es war zwar sehr nett, aber doch ein Fehler
gewesen. Sie würde ihn nicht noch einmal begehen.
281
Montag, 4. Oktober, 5 Uhr 05
Washington, D.C.
Mit gekreuzten Beinen saß Rushjo auf dem Motelbett und
starrte vor sich hin. Er war nicht gelangweilt, Langeweile kannte er
seit Jahren nicht mehr. Es gab nur nichts, was ihn besonders
interessierte. Das störte ihn zwar nicht allzu sehr, doch war er sich
bewußt, daß ihm die innere Beteiligung an seiner Umwelt fehlte.
Irgendwann würde Plechanow anrufen, heute, morgen oder
übermorgen. Dann würde der Russe, der Tschetschenien zu seiner
neuen Heimat erkoren hatte, Rushjo in der ihm eigenen
unverfänglichen und indirekten Ausdrucksweise einen neuen
Tötungsauftrag erteilen. Das gehörte zu Plechanows
übergeordnetem Plan, die Macht an sich zu reißen und einige
Staaten nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Am Anfang hatte
Plechanows Motivation für Rushjo eine Rolle gespielt. Inzwischen
genügte es, wenn Plechanow den Wunsch äußerte, daß etwas
Bestimmtes zu geschehen hatte. Rushjo war das Werkzeug, um die
Tat auszuführen. Es war die einzige Motivation, die ihn noch am
Leben hielt.
Leben oder sterben. Es war ihm egal.
Montag, 4. Oktober, 7 Uhr 30
Washington, D.C.
Jay wartete schon, als Michaels im Büro erschien. Er grinste
seinem Vorgesetzten entgegen.
»Gute Nachrichten?« fragte Michaels.
»Allerdings.«
»Kommen Sie herein.«
In Michaels Büro sagte Jay: »Sehen Sie sich das an. Darf ich?«
Mit einer Handbewegung schaltete er Michaels Workstation ein.
»Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
282
Nachdem das System hochgefahren war, rief Jay eine Datei
auf. »Das ist der Bericht von unserer Außenstelle im Staat New
York«, begann er. »Und das« - er drückte einige Tasten auf der
Tastatur, bis ein Foto auf dem Bildschirm erschien - »ist der
Not-The-Brothers-Zwinger. Er liegt an dem wunderschönen
Ostufer des Great-Scandaga-Sees, in mitten der Weiler von North
Braodalbin und Fish House.«
Michaels sah Jay fragend an.
»Das ist nordwestlich von Amsterdam, was wiederum
nordwestlich von Schenectady im Nordwesten von Albany liegt,
das ...«
»Ich habe verstanden, Jay.«
»Gut. In diesem Zwinger wurde der kleine champagnerfarbene
Pudel ausgebildet.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Es gibt nur wenige Hundeschulen dieser Art. Dort können
Sie Ihren eigenen Hund ausbilden lassen oder einen gedrillten
kaufen oder mieten. Letzteres ist bei Ihrem übrigens der Fall. Er
wurde gemietet.« Jay lächelte.
»Selbstverständlich haben die Angestellten des Zwingers die
Person nicht zu Gesicht bekommen, die ihn gemietet hat. Die Frau
ist wirklich gewieft, Chef. Das Geld und die Anweisungen kamen
per Kurier. Der Begleitzettel war ein Computerausdruck. Der
FBI-Papier-Spezialist meint, daß Schriftart und Material auf eines
der großen Druck- und Kopierunternehmen wie Kinkö s oder
LazerZip hinweisen. Keine Chance, herauszufinden, aus
welchem«, erklärte Jay.
Er fuhr fort: »Unsere Leute haben die Zustellung des Hundes
bis zu einem weiteren Kurier und zu einem dritten Lieferservice
verfolgt. Von diesem wurde der Hund jemandem übergeben, der in
der Lobby des Holiday Inn im Norden von Schenectady wartete.
Der Kurier erinnert sich daran, daß ein Mann die Lieferung
quittierte und bezahlte. Es war ein Durchschnittstyp, der Kurier
würde ihn nicht Wie dererkennen. «
»Das hört sich nicht besonders vielversprechend an, fin de ich.«
»Einen Moment. Das Holiday Inn gehört zu den neuen,
computerüberwachten Hotels. Im gesamten Gebäude und auf dem
283
Gelände sind überall Überwachungskameras versteckt. Sehen Sie
sich das an.«
Jay betätigte einige Steuertasten.
»Hier ist der Typ, der den Hund abholte ...«
Auf dem Bild war ein Mann mit einem kleinen Transportkorb
aus Kunststoff zu sehen. Er befand sich offensichtlich im Freien,
vielleicht im Hof des Hotels. Im Hintergrund waren Grünpflanzen
und Blumen zu sehen. Der Mann war mittelgroß, normal gebaut
und hatte einen Allerweltshaarschnitt. Er trug ein T-Shirt, lange
Hose und dunkle Schuhe. Herr Jedermann.
»Und hier ist die Frau, an die er den Hund übergab .. . «
Ein anderes Bild erschien, eine fünfundsiebzigprozentige
Frontalansicht einer Frau, die vor dem Mann mit dem
Transportkorb stand. Sie war um die vierzig, hatte graubraunes,
langes Haar und wirkte ein wenig pummelig. Ne ben einer
sportlichen Sonnenbrille trug sie eine weite, langärmelige
Hemdbluse, eine ausgebeulte Hose und Halbschuhe. Frau
Jedermann.
»Die Sicherheitskameras im Hotel nehmen drei Bilder pro
Sekunde auf. Wenn wir die Aufnahme laufen lassen, wirkt es
daher ziemlich abgehackt, aber wir haben sechs oder acht wirklich
gute Aufnahmen von der Frau.«
»Sie sieht nicht gerade aus wie eine alte Dame«, warf Michaels
ein. »Und woher wissen wir, daß sie nicht ebenfalls verkleidet
ist?«
»Unsere Jungs vom Erkennungsdienst meinen, daß sie
tatsächlich verkleidet ist. Die Größe ihres Halses und der
Handgelenke, ihr schmales Gesicht und die feingliedrigen Hände
passen nicht zum Gewicht ihres Oberkörpers und der Hüften.
Wahrscheinlich hat sie sich ausgepolstert.«
»Wie bringt uns das weiter?«
»Nun ja, die computerverstärkte Darstellung läßt darauf
schließen, daß sie die Form ihrer Ohren oder Hände wahrscheinlich nicht verändert hat. Mit Hilfe der Gegenstände, deren
Maße wir kennen - der Übertopf zum Beispiel oder die Dekosteine
-, können wir Rückschlüsse auf ihre Schuhgröße und ihre
Körpergröße ziehen. Außerdem läßt sich ihr tatsächliches
Körpergewicht ziemlich genau errechnen, wenn man von den
284
Handgelenken und dem Halsumfang ausgeht. Zu den Haaren
lassen sich keine genauen Angaben machen, da sie wahrscheinlich
eine Perücke trägt. Aber die Bilder zeigen ihre Handgelenke und
Hände deutlich, und unsere Fachleute vom FBI-Hautlabor meinen,
daß sie dort kein Make-up aufgetragen hat. Vermutlich hat sie rote
Haare, wenn man von ihrem Hauttyp ausgeht.«
»Das läßt sich daraus schließen?«
»Es ist zwar immer noch mehr Kunst als Wissenschaft dabei,
aber es läßt sich mit fünfundachtzigprozentiger Sicherheit sagen.«
»Hm.«
»Wir haben noch etwas. Passen Sie auf.«
Jay ließ die Aufzeichnung laufen. Die Frau nahm den
Transportkorb, drehte sich um und ging. Dann erschien ein
anderes, aus einem anderen Blickwinkel aufgenommenes Bild.
Vermutlich von einer zweiten Kamera, folgerte Michaels. Die
Aufnahme zeigte die Frau mehr aus der Vogelperspektive.
Während er zusah, rutschte sie mit dem Transportkorb aus.
»Sehen Sie, wie naß der Fußboden ist? Er war kurz vorher
gewischt worden«, erklärte Jay. »Man hatte das Hinweisschild
noch nicht aufgestellt.«
Das nächste Bild zeigte die Frau, wie sie nach links taumelte,
ihren Arm vorstreckte und sich mit der freien Hand an der Wand
auf Schulterhöhe abstützte. Dann stieß sie sich von der Wand ab
und ging weiter.
»Gut abgefangen, oder?« fragte Jay. »Ich an ihrer Stelle wäre
wahrscheinlich auf dem Hintern gelandet, aber sie prallt nur gegen
die Wand, stößt sich einfach wieder ab und läuft weiter. Und dabei
hat sie die ganze Zeit den Korb in der Hand. Sie wurde nicht
einmal langsamer.« Sein Grinsen zog sich jetzt von einem Ohr
zum anderen.
Michaels begriff. Er richtete seinen Blick auf Jay. »Fingerabdrücke?«
»Jawohl. Was meinen Sie, wie viele -Leute in den letzten ein
oder zwei Monaten an dieser Stelle ausgerutscht und gegen die
Wand geknallt sind? Wir haben einen Abdruck ihres Handballens,
einen deutlichen Abdruck des Zeige-, Mittel- und Ringfingers und
einen verschmierten Daumenabdruck.«
285
Michaels nickte. Das war vie lversprechendes Material.
Vielleicht würde es seinen Hintern retten.
»Oh, und erwähnte ich schon, daß wir einige Zellen und einige
brauchbare DNS-Rückstände sicherstellen konnten?«
»Verdammt, Jay ...«
Jay lachte. »Ich wollte nicht allzuviel Hoffnung schüren, Chef.
Es ist nicht viel, nur ein paar Krümel, gerade genug, um sicher sein
zu können, daß es sich tatsächlich um eine Frau handelt, und um
die Blutgruppe zu ermitteln. Das war's auch schon.«
»Himmel noch mal! Warum haben Sie das nicht gleich
gesagt?«
»Dann wäre es ja nicht so spannend gewesen, Chef. Das Beste
sollte man sich immer bis zum Schluß aufheben. Wie dem auch
sei, wir haben noch keine Übereinstimmung mit den Daten von
FBI, NCIC, UpolNet oder AsiaPol hinsichtlich der Fingerabdrücke
oder DNS-Pro file. Es dauert eine Weile, bis die Suchanfrage alle
Systeme durchlaufen hat. Aber selbst wenn wir die Verdächtige
dabei nicht finden, ist sie wahrscheinlich irgendwo anders
registriert, zum Beispiel bei BioMed oder BankSeal. Wenn das der
Fall ist, wird sie sicherlich irgendwann als Suchergebnis mit roter
Fahne und kreischenden Sirenen auftauchen. Es ist nur noch eine
Frage der Zeit.«
»Ausgezeichnete Arbeit«, lobte Michaels anerkennend. »Sie
haben Ihre Sache gut gemacht, Jay.«
»Nopro.«
»Wie bitte?«
»Das sagt man so, Chef. Es bedeutet no problem, >kein
Problem<. Man muß auf dem laufenden bleiben, wissen Sie. Ach,
übrigens, erwähnte ich schon, daß sie den Hund bezahlt hat? Das
Geld wurde wieder per Kurier geschickt. Diesmal konnten wir die
Übergabe zwar nicht zurückverfolgen, aber das war doch ein netter
Zug von ihr, nicht wahr?«
Michaels war hocherfreut, aber er versuchte, sich nicht von
dem Gefühl überwältigen zu lassen. »Wie steht es mit der anderen
Angelegenheit, der Sache mit dem Programmierer?«
»Wir sind ihm auf der Spur. Er ist ein Russe, wahrscheinlich
aus der Ukraine. Ich habe Baby Huey - unseren
286
SuperCray-Großrechner
damit
beschäftigt,
sämtliche
Möglichkeiten durchzugehen und die Profile zu überprüfen.«
»Hatten Sie nicht gesagt, er könne sein Profil tarnen?«
»O ja, das kann er durchaus, aber nur zum Teil. Sein Stil ist mir
inzwischen hinreichend bekannt, so daß ich ihn erkenne, sobald
ich ihn vor mir habe. Das ist wie bei einem Maler. Jeder erkennt
ein Bild von Picasso, wenn er eines vor sich hat, und weiß, warum
es kein Renoir sein kann. Sein Stil verrät ihn. Der Programmierer
ist einfach zu gut, um sein Talent gänzlich zu verbergen. Etwas
wird unter dem Scheffel hervorkommen, unter den er sein Licht zu
stellen versucht.«
»Wirklich ausgezeichnete Arbeit, Jay. Ich danke Ihnen.«
»Na ja, Chef, das ist nun mal mein Job. Aber ich hätte, äh,
nichts dagegen, wenn Sie es bei der nächsten Beurteilung und
Gehaltserhöhung berücksichtigen würden.«
Beide Männer lachten.
»Jetzt mache ich mich besser wieder an die Arbeit«, sagte Jay
schließlich. »Ich habe die Daten in Ihrem persönlichen Ordner
abgelegt und werde mich melden, sobald ich etwas Neues habe.«
»Nochmals vielen Dank.«
Nachdem Jay gegangen war, rief Michaels das Material auf
und ging es noch einmal durch, um es im Geiste zu ordnen. Als er
sich mehr Klarheit verschafft hatte, griff er zu seiner
Kommunikationseinheit, um eine Verbindung zu Walt Carver
herzustellen. Der FBI-Direktor würde heute vormittag nicht mit
leeren Händen zum Präsidenten gehen. Vielleicht würde es sogar
ausreichen, damit Michaels den Job noch etwas länger behielt. Es
überraschte ihn, wie erleichtert er sich fühlte. Offensichtlich hatte
ihn das alles stärker belastet, als er angenommen hatte. Vielleicht
war er doch noch nicht bereit hinzuwerfen, wie er es sich überlegt
hatte.
»Büro Direktor Carver.«
»Hallo June, hier spricht Alex Michaels. Ist der Chef schon
da?«
»Seit sechs Uhr, Commander. Einen Moment bitte, ich stelle
durch.«
Während er auf die Verbindung wartete, blickte Michaels auf
und sah Toni an seinem Fenster vorbeigehen. Er nickte ihr zu, aber
287
sie nahm keinen Blickkontakt auf, sondern steuerte schnurstracks
auf ihr Büro zu. Merkwürdig. Vielleicht war sie müde, denn sie
hatten alle seit geraumer Zeit pausenlos durchgearbeitet. Er würde
sie hereinrufen und sie über Jays Ermittlungsergebnisse
informieren, sobald er Carver davon Mitteilung gemacht hatte. Sie
würde sich bestimmt über die Neuigkeiten freuen.
»Guten Morgen, Alex. Haben Sie gute Nachrichten für mich?«
»Jawohl, Sir, ich denke schon. Ausgesprochen gute
Nachrichten sogar.«
288
32
Mittwoch, 6. Oktober, 9 Uhr 11
Long Island
Ein kleines, in teures Geschenkpapier gewickeltes Päckchen in
der Hand, stand Selkie auf dem Treppenabsatz. Sie trug eine
gebügelte,
dunkelblaue
Baumwollhose,
ein
passendes
langärmeliges Hemd und eine Baseballmütze in der gleichen
Farbe. Unter der Mütze lugten einige Strähnen ihrer blonden
Perücke hervor. Mit dem Make-up, das sie aufgelegt hatte, sah sie
um gut fünf Jahre älter aus. Das eingewic kelte Päckchen besaß die
Größe einer Schachtel, in die eine Diamantkette hineinpassen
würde. Der Lieferwagen, der hinter ihr auf der Straße parkte, war
ein
Leihwagen,
einfarbig
weiß
mit
gestohlenen
Nummernschildern. In die ser vornehmen Gegend sah sie wirklich
aus wie eine Liefe rantin.
Sie klingelte an der Tür.
Eine Minute verstrich. Noch einmal drückte Selkie auf die
Klingel.
»Ja?« Die Stimme aus der Gegensprechanlage klang verschlafen.
»Ein Päckchen vom Juweliergeschäft Steinberg für Miß
Brigette Olsen.«
»Ein Päckchen?«
Meine Güte, Schätzchen, was gibt es denn daran nicht zu
verstehen? Selkie warf einen Blick auf das Klemmbrett in ihrer
Hand. »Von Mr. Genaloni.«
»Einen Augenblick.«
Die Tür öffnete sich wegen der vorgelegten Sicherheitskette
nur einen Spaltbreit. Soweit Selkie durch den Spalt erkennen
konnte, war Brigette jung, blond und vollbusig. Man konnte sie
durchaus als drall bezeichnen. Unter ihrem ausgebleichten blauen
Bademantel trug sie einen schwarzen Seidenpyjama. Wenn Selkie
289
das Telefonat richtig belauscht hatte, würde Brigette heute noch
Besuch von Ray Genaloni bekommen. Selkie war bereit.
Brigette streckte ihre Hand nach dem Päckchen aus. »Geben
Sie her.«
»Sie müssen den Empfang bestätigen, Ma'am«, entgegnete
Selkie und hob kurz das Klemmbrett. Dann warf sie einen Blick
auf die Uhr, als stünde sie unter Zeitdruck.
Brigette zögerte.
Selkie hätte einfach die Tür eintreten und die Sicherheitskette
aus der Verankerung reißen können. Diese Ketten waren meistens
nur mit kurzen, unbrauchbaren Schrauben befestigt. Aber sie
wollte es nicht riskieren, gesehen zu werden. Am hellichten Tag
die Haustür einer Gangsterbraut einzutreten war sicher nicht der
intelligenteste Schachzug. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen,
die kleine 22er Pistole zu ziehen, die sie hinten rechts in das
Holster an ihrem Hosenbund gesteckt hatte, und sie der Frau vor
die Nase zu halten. Mach auf, Schätzchen, oder du fängst dir eine
Kugel ein. Doch auch das war eher riskant. Tot nützte Brigette ihr
nichts, sie brauchte sie lebend.
Sie griff noch tiefer in ihre Trickkiste, damit beide Optio nen
hinfällig würden. »Ach, Entschuldigung, das hätte ich fast
vergessen. Es ist eine Notiz dabei, die ich Ihnen vorlesen soll.« Sie
nahm ein Stück Papier vom Klemmbrett und faltete es
auseinander. »Hier steht: >Trag dies heute abend und sonst nichts.
Ray.«<
Selkie blickte wie verlegen zu Boden. Brigette lachte und löste
die Sicherheitskette. »Typisch Ray.« Sie öffnete die Tür.
Die Menschen waren einfach zu leichtgläubig.
Mittwoch, 6. Oktober, 11 Uhr 46
Quantico
Alex Michaels war auf dem Weg in die Cafeteria, obwohl er
eigentlich gar keinen Hunger hatte. Die Anhaltspunkte, die sich
290
zwei Tage zuvor herauskristallisiert hatten, hatten nichts ergeben.
Jay Gridleys Suchanfrage hinsichtlich aller in Rußland lebenden
Programmierer war ergebnislos geblieben. Für den genetischen
Fingerabdruck sowie die sichergestellten Fingerabdrücke der Frau,
die Scout in einem Hotel im Staat New York in Empfang
genommen hatte, gab es in keinem der überprüften Systeme eine
Übereinstimmung.
Gridley hatte die Suche nach dem Programmierer auf die
umliegenden GUS-Staaten ausgeweitet. Außerdem vergrößerte er
das Netz, das er für die Attentäterin ausgeworfen hatte. Bisher in
beiden Fällen absolute Fehlanzeige.
Toni Fiorella schien ihm aus dem Weg zu gehen. Sie hatte eine
Personalbesprechung versäumt und verließ das Büro früh.
Außerdem sah sie ihn neuerdings an, als hätte er eine äußerst
ansteckende Krankheit, die sie sich auf gar keinen Fall einfangen
wollte.
Na, wenigstens gab es noch seine Arbeit. Als der Direktor des
FBI dem Präsidenten mitgeteilt hatte, daß sie Fotos von Days
Mörderin hätten und sie in absehbarer Zeit stellen würden, war
letzterer beruhigt gewesen.
Ob das der Wahrheit entsprach oder nicht, war etwas anderes.
Auf jeden Fall standen sie momentan besser da als vorher. Früher
oder später würden sie sie fassen.
Vor ihm ging John Howard den Korridor entlang in Richtung
Cafeteria. Howard bemerkte ihn, als er den Ein gang erreichte, und
nickte ihm zu. »Commander.« Das war höflich, mehr nicht.
Michaels verstand nicht, was der Colonel gegen ihn hatte, aber
offensichtlich mochte ihn der Soldat nicht. »Colonel.«
Howard wandte sich ab, ohne seinem Chef anzubieten, sich mit
ihm an einen Tisch zu setzen und zusammen zu essen.
Statt dessen kam Jay Gridley grinsend auf ihn zu, und Michaels
verschob es auf einen späteren Zeitpunkt, sich über Howard
Gedanken zu machen.
»Wenn Sie gute Nachrichten haben, ist Ihre Gehaltserhöhung
sicher«, sagte Michaels.
»Na ja, wie gut sie sind, .weiß ich nicht. Mal sehen, was sagen
Sie zu: Ich habe den Programmierer gefunden?«
»Nein!«
291
»Ja, ja und nochmals ja. Ich hatte recht, er ist tatsächlich Russe.
Da er vor einigen Jahren nach Tschetschenien ausgewandert ist,
ging er uns bei den ersten Suchanfragen durch die Lappen.« Jay
hielt seinen Flatscreen-PC hoch, so daß das Bild erkennbar wurde.
»Commander, darf ich vorstellen - Wladimir Plechanow.«
Mittwoch, 6. Oktober,15 Uhr 30
New York City
Genaloni warf einen Blick auf die Uhr auf seinem Schreib tisch.
Es reichte. Er mußte unbedingt hier weg. Stundenlang Unterlagen
zu bearbeiten, egal, ob elektronisch oder auf Papier, das machte
jeden verrückt. Mit einer Handbewegung schaltete er die
Gegensprechanlage ein. »Roger, holen Sie den Wagen. Wir fahren
zu Brigette.«
»Jawohl, Sir.«
Nachdem er den ganzen Tag unter Druck gestanden hatte,
brauchte er unbedingt einen Platz zum Abschalten und jemanden,
der ihm das ermöglichte. Um zu entspannen, half nichts besser, als
die Pfeife auszuklopfen. Wenn sie sofort losfuhren, würden sie
dort sein, bevor der Pendlerverkehr einsetzte.
Reich zu sein, hatte durchaus Vorteile. Daran bestand kein
Zweifel.
Mittwoch, 6. Oktober, 15 Uhr 40
Long Island
Brigette hatte sich als äußerst kooperativ erwiesen. Nachdem
sie ihre anfängliche Überraschung über die Pistole in der
behandschuhten Hand der Lieferantin überwunden hatte, waren
292
ihre ersten Worte gewesen: »Oh, Mist.« Es hatte keine Angst in
ihrem Tonfall gelegen, sondern eher Verärgerung. So, als hätte sie
soeben festgestellt, daß es regnete, wo sie doch vorgehabt hatte,
ein Sonnenbad zu nehmen.
Den Lieferwagen hatte Selkie inzwischen einen Block entfernt
in der Einfahrt eines zum Verkauf stehenden Hauses abgestellt.
Eine lästige Aufgabe, die sie erledigt hatte, während Brigette mit
Handschellen an den Küchenabfluß gefesselt war.
Wieder zurück, befreite sie Brigette, damit sie sich anziehen
konnte.
Während Brigette in ihren schwarzen Seidenslip schlüpfte, sah
sie Selkie mit ihren kornblumenblauen, unschuldigen Augen an.
»Werden Sie mich auch töten?« fragte sie.
Offensichtlich war ihr der Grund für Selkies Besuch völlig
klar. Ein hirnloses Püppchen war sie jedenfalls nicht.
»Nein, warum sollte ich? Sie tun, was ich Ihnen sage, dann
stirbt nur Genaloni, und ich verschwinde wieder.«
»Er wird von Leibwächtern begleitet. Sie warten vor dem Haus
auf ihn.«
»Wie viele?«
»Zwei.«
Das sah nach Kooperation aus, war aber gelogen. Genalo ni
wurde immer von mindestens vier Leibwächtern begleitet, fünf,
wenn man den Fahrer mitzählte. Einer von ihnen würde hinter dem
Haus Wache schieben. Brigette versuchte offenbar, sich den
Rücken freizuhalten - so wie der seidene Tangaslip ihren Hintern
freihielt. Wenn ihr Geldonkel ins Gras biß, konnte sie darauf
hoffen, daß seine Mörderin sie leben ließ, weil sie ihr geholfen
hatte. Überlebte Genaloni den Anschlag, und die Lieferantin
segnete das Zeitliche, dann konnte die unschuldige Brigette ihm
von ihren Lügen zu seinem Schutz erzählen.
»Es scheint Ihnen nicht besonders viel auszumachen, daß Ihr
Herzallerliebster ausgeschaltet wird.«
Die Blonde zog eine naturfarbene Bluse aus Rohseide über,
keinen BH darunter, und knöpfte sie zu. Sie fing den Blick der
anderen Frau auf. »Er mag es, wenn meine Brustwarzen sich
abzeichnen«, erklärte sie. Dann zuckte sie die Achseln. »Er gehört
zur Mafia. Das ist nun mal ein gefährliches Geschäft. Ich habe
293
etwas auf die Seite gelegt, und einen neuen Liebhaber aufzutun,
sollte mir nicht Schwerfallen. Wenn ich Genalonis Ansprüchen
genügt habe, dann wird es auch andere Mafiabosse geben, die mal
naschen wollen.«
Selkie grinste. Sentimentalität konnte man Brigette wirklich
nicht vorwerfen. Sie wußte, was sie war, und wollte das Beste
daraus machen. Ihre offene und nichts beschönigende Art machte
sie ihr fast sympathisch. »Vielleicht wird man Ihnen die Schuld
geben.«
»Warum? Sie können mich an einen Lügendetektor anschließen, dann erzähle ich ihnen die Wahrheit. Nämlich, daß man
mir eine Waffe vors Gesicht gehalten hat. Was blieb mir also
anderes übrig?«
»Heißt das, daß Sie ihnen auch eine Beschreibung von mir
geben werden?«
Einen Moment zögerte Brigette, während sie über eine
Möglichkeit nachdachte, sich herauszuwinden. Schließlich sagte
sie: »Ja, ich werd's ihnen sagen. Aber Sie sind verkleidet, nicht
wahr?«
»Was antworten Sie, wenn man Sie danach fragt?«
»Das kriege ich schon hin.«
Jetzt wurde es interessant. »Ach ja? Wie denn?«
Brigette streifte einen superkurzen Minirock über ihre langen
Beine, zog den Reißverschluß hoch und schob die Bluse in den
Rock. »Das hängt von der Formulierung der Frage ab. Lautet sie:
>Glauben Sie, daß Rays Mörderin verkleidet war?<, kann ich
>nein< sagen, ohne daß es als Lüge registriert wird.«
»Tatsächlich?«
»Sicher. Weil ich nicht glaube, daß Sie verkleidet sind, sondern
es weiß. Ich habe mich schon öfter herausreden müssen.«
Wieder grinste Selkie. »Warum wollen Sie das tun? Ich meine,
mich decken?«
»Sie könnten wiederkommen, um mich umzubringen, wenn Sie
glauben, daß ich Sie verraten habe.«
Ihre Logik war fehlerhaft, aber darauf ging Selkie nicht ein.
Wenn ihr Gegenüber sie verriet, würde die Bande sie finden und
töten. Damit würde sie keine Bedrohung mehr für Brigettes
Seelenfrieden darstellen.
294
Konnte sie der anderen vertrauen? Schwer zu sagen. Es bestand
kein Zweifel daran, daß die Geliebte ihrer Zielperson singen würde
wie ein ganzer Chor, wenn die Mafiosi sie dazu aufforderten.
Brigette fand ein Paar Seidenstrümpfe. Sie rollte einen Strumpf
auf, schlüpfte mit dem linken Fuß hinein und zog ihn das Bein
hinauf. Fasziniert von ihrem fehlenden Anstand und ihrer
Emotionslosigkeit hinsichtlich der bevorstehenden Ermordung, sah
Selkie ihr zu.
Brigette fing den Blick auf. Sie lächelte. »Mögen Sie Frauen?
Ich kann Ihnen die Wartezeit ein bißchen angenehmer gestalten,
wenn Sie wollen.«
Selkie schüttelte den Kopf. »Vielen Dank. Nicht während der
Arbeit.«
Rays Freundin war abgebrüht, soviel stand fest. Selkie würde
nicht gern an einem Abhang hängen, wenn sie das andere Ende des
Seils hielt - es sei denn, sie hätte ein dikkes Bündel Bargeld in der
Hand, um die Süße davon zu überzeugen, das lebensrettende Tau
bestimmt nicht loszulassen.
Trotzdem würde Brigette von Nutzen sein. Die Walther
TPH.22er, die Selkie in der Hand hielt, war eine Miniaturausgabe
von James Bonds PPK. Sie war ein Meisterwerk der Waffenkunst:
aus hochwertigem rostfreien Stahl, klein, kompakt und sehr
präzise. Aber die winzige .22erPatrone hatte nur dann verläßliche
Wirkung, wenn man das zentrale Nervensystem traf. Um den
sicheren Tod herbeizuführen, war ein Schuß in den Rücken oder
das Ge hirn erforderlich. Falls Brigette anfing zu schreien, wenn
Ray auf die Tür zukam, wäre ein Kopfschuß äußerst schwierig
anzubringen. Zwar war ein solcher Treffer nicht unmöglich - mit
dieser Waffe traf sie auch auf zwanzig Meter Entfernung zielsicher
-, aber sie würde die Walther bis dahin mit einem Schalldämpfer
versehen, um den Knall zu dämpfen. Neben der Tatsache, daß die
Länge des Laufes nicht ausreichte, damit die Stinger-Munition
Uberschallgeschwindigkeit erreichte, würde der Schalldämpfer das
Geschoß zusätzlich verlangsamen, da er mit dem Knall auch die
entstehenden Gase absorbierte. Die Zielperson konnte überleben,
es sei denn, man plazierte den Schuß direkt in ein Auge. Die
Schädeldecke war zu hart, und es war schon vorgekommen, daß
eine Kugel einfach abgeprallt war. Sich darauf zu verlassen, ein
295
Auge zu treffen, während der Schalldämpfer das Zielen
erschwerte, war äußerst riskant.
Mit einer .22er-Faustfeuerwaffe hatte es sich als am besten
erwiesen, die Mündung vier oder fünf Zentimeter vom Kopf des
Opfers entfernt zu halten und drei oder vier schallgedämpfte
Schüsse in den Hinterkopf zu jagen. Währenddessen würden
Genalonis Leibwächter nichtsahnend draußen im Auto warten, und
bevor sie Verdacht schöpften, wäre sie längst über alle Berge.
Sie brauchte Abgeschiedenheit, um diesen Job perfekt zu
erledigen. Brigette würde Genaloni ins Haus locken. So bald sich
die Tür hinter ihm schloß, würde Selkie sich um alles weitere
kümmern.
Mittwoch, 6. Oktober, 18 Uhr
Quantico
Die für fünf Uhr angesetzte Besprechung begann eine Stunde
später. Nur wenige Personen nahmen daran teil -Michaels, Toni,
Jay, Colonel Howard und der neue Computerverbindungsmann
vom FBI, Richardson, der allerdings nicht lange bleiben konnte.
Von jetzt an würden nur noch wirklich notwendige Informationen
über diesen Fall ausgetauscht werden.
»Fangen wir an«, begann Michaels. »Sie haben alle das von
Jay zusammengestellte Infopaket bekommen, nehme ich an. Gibt
es irgendwelche Fragen?«
»Ja«, sagte Richardson. »Wie ist die weitere Vorgehensweise,
sobald Sie mit Sicherheit sagen können, daß es sich bei diesem,
ähm, Plechanaw wirklich um den gesuchten Programmierer
handelt?«
»Es ist nicht ganz einfach«, antwortete Michaels. »Idealerweise
würden wir uns mit der tschetschenischen Regierung in
Verbindung setzen und einen Auslieferungsantrag gemäß des
Netzkriminalitätsabkommens von 2004 stellen. Das wäre aber hier
296
nicht unbedingt sinnvoll. Jay, darf ich Sie um einige Erläuterungen
bitten?«
Jay antwortete mit einem Kopfnicken. »Plechanow hat
wahrscheinlich ein Stand-by-Sicherheitsprogramm für seine
wichtigsten Datenbestände. Wenn die örtliche Polizei sich Zugang
zu seinem Büro oder Haus verschafft und anfängt, irgendwelche
Tasten zu drücken oder Kabel herauszuziehen, wird sein System
vermutlich sofort jeden Zugang sperren, noch bevor sie
herausbekommen, wo sich der Netzstecker befindet. Sollte das
nicht der Fall sein, ist anzunehmen, daß seine hochbrisanten Daten
verschlüsselt sind, 128er oder sogar 256er. Er hat früher Verschlüsselungsprogramme für das russische Militär entwikkelt.
Ohne den Schlüssel würde unser SuperCray-Rechner bei voller
Auslastung mindestens zehn Milliarden Jahre brauchen, um den
Code zu knacken. So lange wollen wir natürlich nicht warten. Das
heißt, ohne den Schlüssel kommen wir an seine Systemdateien
nicht heran. Ohne diese Dateien haben wir aber keine Beweise
dafür, daß er der gesuchte Programmierer ist. Wir haben nicht
genug in der Hand, damit unsere Anwälte Anklage erheben könnten.«
»Wie wollen Sie also vorgehen?« fragte Howard interessiert.
»Am besten wäre es, ihm über die Schulter zu sehen, wenn sein
System aktiviert ist. Entweder das, oder wir bringen den Schlüssel
an uns.«
»Aber auch damit wäre das Problem noch nicht vollständig
gelöst«, warf Michaels ein. »Entschuldigung, Jay, fahren Sie bitte
fort.«
»Ich habe Hintergrundinformationen über den Gesuchten
gesammelt. Er verfügt über ziemlich gute Verbindungen zu
Regierungskreisen in der ganzen Welt. Als Sicherheitsberater war
er bereits ganz legal für die Russen, Inder, Thailänder, Australier
und einige andere tätig. Geld hat er auch - in den Büchern ist
ziemlich viel ordnungsgemäß ausgewiesen. Wir sprechen von
einem persönlichen Vermögen in Millionenhöhe. Zweifellos hat er
darüber hinaus illegal verdientes Geld auf die Seite geschafft. Der
Banküberfall in New Orleans war vermutlich nicht der erste dieser
Art.«
297
»Also haben wir es mit einem immens reichen Kerl mit
politischer Schlagkraft zu tun«, konstatierte Toni. »Selbst wenn
die Tschetschenen mitzögen, ihn dann schnappten und für uns
auslieferten, könnten wir ihn nicht festnageln, weil wir nicht an
das Beweismaterial herankommen, richtig?«
»So kann man es in etwa zusammenfassen«, antwortete
Michaels.
»Wenn der Mann Geld und Einfluß besitzt, wozu macht er
dann das Ganze? Warum geht er ein solches Risiko ein?« fragte
Howard.
Michaels nickte und freute sich, daß seine Mitarbeiter
offensichtlich mitdachten. »Das ist die große Frage. Was will er
erreichen?«
»Noch mehr Geld und noch mehr Macht«, antwortete
Richardson. »Er kann den Hals nicht vollkriegen.«
»Möglich«, meinte Michaels. »Als ich die Informationen
durchging, hatte ich allerdings den Eindruck, daß er ein
bestimmtes Ziel verfolgt. Zwar konnten einige der Systemabstürze
direkt mit ihm in Verbindung gebracht werden -Jay hat alle
Einzelheiten darüber -, aber nicht alle. Auch wenn es zum Teil nur
Ablenkungsmanöver sind, so ist anscheinend ein gewisses Muster
erkennbar. Er hat es auf einen bestimmten Zielort abgesehen.
Bevor wir versuchen, ihn zu schnappen, wäre es intelligenter
herauszubekommen, um welchen Ort es sich handelt. Vielleicht
hat er Komplizen, die wir ebenfalls dingfest machen sollten.«
Bevor er fortfahren konnte, öffnete sich die Tür zum
Konferenzraum. Michaels Sekretärin erschien im Türrahmen. Sie
war angewiesen worden, nur im äußersten Notfall zu stören.
Michaels erster Gedanke war, daß seiner Frau - vielmehr seiner
Ex-Frau - oder seiner Tochter etwas passiert sein könnte. Noch ehe
die aufsteigende Panik ihn vollständig ergriff, ließen ihn die Worte
der Sekretärin aufatmen.
»Commander, eine wichtige Nachricht aus New York. Es geht
um Ray Genaloni.«
298
33
Mittwoch, 6. Oktober, 16 Uhr 40
Long Island, New York
Es klingelte. »O mein Gott«, entfuhr es Brigette.
»Öffnen Sie. Und denken Sie daran, ich kann Sie beide von
hier aus sehen, Genaloni mich aber nicht. Irgendwelche plötzlichen
Bewegungen, nur der kleinste Muckser, und Sie werden als erste
daran glauben müssen.«
»Ich habe verstanden.«
Brigette ging zur Tür.
Jetzt könnte es gefährlich werden. Selkie glaubte allerdings
nicht, daß Brigette Dummheiten machte - sie würde sogar darauf
wetten. Für den Fall, daß etwas schiefging, bevor Genaloni das
Haus betreten hatte, hielt sie vier gela dene .22er-Magazine für die
Walther plus vierundzwanzig Einzelschuß bereit und die sieben
Patronen in der Waffe selbst. In ihrer Hosentasche befand sich
außerdem die angebrochene Schachtel Stinger-Munition. Wären
mehr als einunddreißig Schuß notwendig, würde sie allerdings arg
in der Klemme sitzen.
»Hallo, Süßer. Komm 'rein. Mein Mann ist gerade gegangen.«
Lachend betrat Genaloni das Haus.
Selkie ging außer Sichtweite. Dabei hielt sie die Pistole mit zur
Decke zeigender Mündung mit beiden Händen neben ihrem
rechten Ohr. Inzwischen trug sie OP-Handschuhe. Weder die
Pistole noch die Magazine hatte sie mit bloßen Händen berührt,
seit sie die Teile am Abend zuvor gereinigt hatte. Sie holte tief
Luft und atmete langsam wieder aus. Ein Adrenalinschub jagte den
anderen.
»Ich bekomme den Draht nicht von der Champagnerfla sche,
Ray. Das kleine runde Ding ist locker.«
»Ich mache das schon. In der Küche?«
»Ja. Im Eiskübel.« Alle Achtung, sie war ausgesprochen cool.
Ihre Stimme verriet keinerlei Nervosität.
299
Selkie schob sich rückwärts in den geöffneten Schrank, der
hinter ihr stand. Der frische Duft neuer, ungetragener Kleider, an
denen noch das Preisschild befestigt war, umfing sie. Sie zog die
Schranktür bis auf einen Spalt zu. Ge naloni und Brigette gingen an
ihrem Versteck vorbei, ohne auch nur einen Blick in ihre Richtung
zu werfen.
Als sie die Küche betraten, verließ Selkie ihr Versteck und
folgte ihnen.
»Keine Bewegung«, befahl sie.
Genaloni erfaßte die Situation sofort und wußte, welche Rolle
Brigette bei der Sache gespielt haben mußte. »Verdammt. Du
miese, kleine Nutte.«
»Es tut mir leid, Ray, sie hat mich dazu gezwungen! Sie hat
doch eine Waffe!« Zum erstenmal an diesem Tag klang Brigettes
Stimme aufgeregt.
»Hände hoch und weit auseinander, Genaloni.«
Er gehorchte. »Darf ich mich umdrehen?«
»Sicher.«
Der Mafiaboß wandte sich um. Als sie in sein Blickfeld kam,
nickte er. »Aha. Sie müssen Selkie sein, stimmt's? Wozu das
Ganze?«
»Sie kennen den Grund. Ihre Leute haben versucht, mich
aufzuspüren. Sie wußten von Anfang an, daß das nicht erlaubt ist.«
Er versuchte nicht, es abzustreiten. »Verdammt. Ich hatte
angenommen, meine Leute wären gut.«
»Nicht gut genug.«
»Na, schön. Sie haben es bemerkt. Was wollen Sie? Geld?
Oder eine Garantie, daß wir keinen weiteren Versuch
unternehmen, Sie ausfindig zu machen?«
Die Pistole war bereits auf sein rechtes Auge gerichtet. Bei
dieser Entfernung brauchte sie kein Visier. Sie könnte mühelos
eine Murmel von der Tischplatte schießen, ohne daß die Politur
auch nur einen Kratzer abbekäme. Um das Ziel anzuvisieren,
reichten die Waffe und der Schalldämp fer vollkommen aus.
»An welche Summe hatten Sie gedacht?«
Der Mafiaboß grinste. Offensichtlich meinte er, er hätte sie
durchschaut.
Das war ein Irrtum.
300
Der handpolierte Mechanismus der Pistole war für Ein zelschuß
auf eine Federspannung von drei Pfund eingestellt, nicht gerade
ein Kriechen. Selkie drückte sorgfältig ab. Der Schuß löste sich
unter ihrem Finger wie ein Eiszapfen. Es klang wie ein
Luftgewehr, ein dumpfes Geräusch, das niemand außerhalb dieses
Raumes hören würde.
Das winzige Geschoß traf Ray Genaloni in den rechten
Augapfel. Er sackte in sich zusammen, sein Gehirn von der
Bleikugel ausgeschaltet, die ihm in den Schädel'fuhr.
»O mein Gott!« stieß Brigette hervor. »O mein Gott!«
Weil Brigette ihr beinahe sympathisch war und sie nicht zu
Grausamkeit neigte, sagte Selkie: »Beruhigen Sie sich. Ihnen
geschieht nichts. Ich verschwinde jetzt, bleiben Sie ganz ruhig ...
Wer ist da an der Tür?«
Brigette wandte den Kopf zur Seite, um nachzusehen.
Selkie gab zwei Schüsse ab - plopp, plopp - und traf das blonde
Mädchen zweimal in die rechte Schläfe. Sie ging zu Boden, ihr
Körper zuckte unkontrolliert, während die gestörten Gehirnströme
den Impuls für einen letzten verzweifelten Fluchtversuch
auslösten. Es war aber nur noch ein Reflex, denn Brigettes Geist
existierte schon nicht mehr. Ihr letzter Gedanke war gewesen, daß
sie diesen Tag überleben würde.
Selkie hatte keine Zeit zu verlieren. Sie bückte sich und schoß
Brigette zwei weitere Kugeln in den Kopf. Dann feuerte sie noch
zweimal auf Genalonis Schädel. Die Waffe funktionierte
einwandfrei. Sie hatte die Ladevorrichtung mit Stahlwolle poliert,
bis sie sich darin spiegeln konnte. Anschließend hatte sie sie mit
TW-2513, einem Schmiermittel auf Fluorkohlenstoffbasis, das den
Gütevorschriften des Militärs entsprach, eingefettet. Daher hatte es
keine Ladehemmungen gegeben, nicht einmal bei den schwerer zu
la denden Stinger-Patronen.
Sie entriegelte die Pistole, entnahm das leere Magazin und
schob eine neues ein. Das leere steckte sie sich in die Hosentasche.
Danach spannte sie den Schlitten der Walther, entsicherte die
Waffe und schoß das Magazin leer. Dann legte sie ein neues,
sechsschüssiges Magazin ein. Eine Kugel war in der Kammer, das
Magazin voll. Sie konnte siebenmal schießen.
301
Sie sah sich um. Fingerabdrücke hatte sie nicht hinterlassen.
Die Hülsen der .22er waren sauber, sie hatte sie nur mit
Handschuhen angefaßt und direkt aus der Schachtel genommen.
Die Extraktionsmarken auf den Hülsen könnten Rückschlüsse auf
die Waffe zulassen, aber da sie sich der Pistole bei nächster
Gelegenheit entledigen würde, stellte das kein Problem dar. Selbst
wenn ein Taucher das gute Stück in zwanzig Jahren fände, könnte
man es nicht mit ihr in Verbindung bringen, da sie die Waffe
unbenutzt auf dem Schwarzmarkt erworben hatte. Schade
eigentlich, sie hatte sich an die Walther gewöhnt. Aber eine Waffe
sollte man nicht behalten, wenn sie nicht mehr unbenutzt, zur
Mordwaffe geworden war. Die Gefängnisse waren voll von
Scharfschützen, die sich nicht von ihren Lieblingswaffen hatten
trennen können und sie nach der Tat behalten hatten. Schön
dumm.
Sie warf einen Blick auf die Leichen. Beide Opfer hatten
geglaubt, mit heiler Haut davonzukommen, bevor sie sie
niederstreckte. Und noch ehe sie ihren Irrtum bemerkt hatten,
waren sie tot gewesen. Es gab schlimmere Arten zu sterben.
Jetzt mußte sie zum zweiten Teil des Planes übergehen.
Sie ging zur Hintertür und lugte durch einen Spalt der
Jalousien, die vor dem Fenster neben der Tür hingen. Ein kräftiger
Mann in einem blauen Trainingsanzug lehnte am Zaun auf dem
Grundstück direkt neben dem Gartentor. Er rauchte eine Zigarette.
Ein Beutel hing schwer vor seinem Unterleib. Darin war
wahrscheinlich seine Waffe verborgen. Sehr gut. Eine Waffe aus
einem Beutel zu ziehen kostete wesentlich mehr Zeit, als sie aus
einem Holster zu nehmen.
Sie mußte ihn dazu bewegen, vom Tor wegzugehen und auf die
Hintertür zuzukommen. Dadurch wäre er außer Sichtweite, falls
ihn die anderen Leibwächter vor dem Haus im Auge hatten.
Sie hatte fast den ganzen Tag mit Brigette verbracht. Daher
konnte sie ihre Stimme gut genug nachahmen, um je manden zu
täuschen, der sie vielleicht nur ein paarmal gehört hatte.
Sie atmete tief ein und öffnete die Tür. »Entschuldigung.
Könnten Sie einen Moment hereinkommen? Ray braucht kurz Ihre
Hilfe.«
302
Der Leibwächter schlenderte auf die Hintertür zu. So bald die
Sicht durch das Haus versperrt war und er von der Vorderseite aus
nicht mehr zu sehen war, trat Selkie in den Garten hinaus.
Der Mann im Trainingsanzug runzelte die Stirn. Eine Frau wie
Selkie hatte er nicht erwartet.
Seine Reaktionszeit war zwar ziemlich gut, seine Taktik dafür
aber um so schlechter.
Statt sich zu ducken und einen Satz zur Seite zu machen, um
sich über den Zaun in Sicherheit zu bringen - was ihm
wahrscheinlich mit einigen kleinkalibrigen Patronen im Rücken
gelungen wäre -, griff er nach der Pistole in seinem Beutel.
Aber auch der schnellste Pistolenheld aller Zeiten konnte nicht
flink genug ziehen, um einer bereits auf ihn gerichteten Waffe
zuvorzukommen. Die Reaktionszeit plus die Zeit, die notwendig
war, um die Waffe aus dem Holster zu nehmen - selbst wenn es
ein Schnellziehholster war -, hätte ihn mindestens eine
Drittelsekunde gekostet. Um die Waffe aus einem Beutel zu
ziehen, würde ihr Gegenüber mindestens zwei Sekunden brauchen
- zwei Sekunden, die er nicht hatte.
Selkie feuerte ihren ersten Schuß ab, noch bevor der
Leibwächter über das Stadium des Stirnrunzelns hinausgekommen
war. Der zweite und dritte Schuß folgte so kurz darauf, daß es sich
wie ein einziger Feuerstoß anhörte. Alle drei Geschosse trafen den
Mann in den Kopf. Sie sprintete zum Zaun am rückwärtigen Ende,
bevor der Leibwächter auf dem Boden aufschlug. Ihr Lieferwagen
parkte auf die ser Seite etwa zwei Häuser weiter nach links. Im
Garten des Nachbarhauses gab es keine Hunde, das hatte sie überprüft.
Der Zaun bestand aus Zedernbrettern und war zwei Meter
hoch, überaus geeignet, um eine gute Nachbarschaft zu pflegen.
Sie nahm Anlauf, griff mit beiden Händen -und der Pistole hinauf, zog sich hoch und schwang sich auf die andere Seite. Ein
gekonnter Sprung.
Sie kam auf dem weichen Boden auf. Im Garten des Nachbarn
war niemand zu, sehen. Ein schöner Rasen, gerade frisch gemäht.
Sie rannte zu dem Tor neben dem Haus, öffnete es und schloß
es sorgfältig hinter sich. Dann schraubte sie den Schalldämpfer
vom Lauf der Walther und ließ ihn in ihrer Gesäßtasche
303
verschwinden. Die Waffe steckte sie in das Pferdelederholster an
ihrem Hosenbund, zog das Hemd aus der Hose und ließ es
herunterhängen.
Fünfundvierzig Sekunden später hatte sie den Lieferwa gen
erreicht. Auf der anderen Straßenseite spielten zwei kleine
Mädchen Himmel und Hölle auf einem Feld, das sie mit Kreide
auf dem Gehweg gezogen hatten. Selkie lächelte und winkte den
beiden Kindern zu. Dann stieg sie in den Lieferwagen, startete und
stieß rückwärts aus der Einfahrt. Sie schlug das Lenkrad ein und
fuhr ohne sichtbare Eile die Straße hinunter. An einem Stoppschild
hielt sie an und setzte den Blinker, um rechts abzubiegen. Eine
vorbildliche Autofahrerin.
Wegen Ray Genaloni brauchte sie sich keine Sorgen mehr zu
machen.
Jetzt mußte sie zurück nach Washington, um eine weitere
Kleinigkeit zu Ende zu bringen...
304
34
Donnerstag, 7. Oktober, 2 Uhr 45
Grosny
Als er das System neu installierte, das bei seinem erzwungenen
Notausstieg aus der virtuellen Realität beschädigt worden war,
stieß Plechanow auf schlechte Nachrichten.
Jemand hatte einige seiner Stolperdrähte gekappt.
Es war schon spät, und er fühlte sich müde. Daher geriet er
zuerst in Panik.
Doch dann zwang er sich, einige Male tief Luft zu holen. Ganz
ruhig, Wladimir. Noch ist nicht aller Tage Abend.
Etwas gefaßter startete er erneut die Sicherheitsabtastung. Er
fand keine weiteren Hinweise auf einen Eindringling. Wer immer
es auch gewesen war, er mußte ein Experte sein. Denn an den
Stolperfallen kam man nicht vorbei, sobald man erst einmal einen
bestimmten Weg die elektronischen Korridore entlang
eingeschlagen hatte. Wie feine Fäden eines Spinnennetzes waren
die Fallen mit äußerster Sorgfalt angelegt worden, und zwar an
Stellen, an denen die wenigsten sie vermuteten. Selbst jemand auf
der Suche nach diesen Sicherheitsvorkehrungen würde sie normalerweise übersehen. In Kniehöhe gespannt, waren sie fast
unsichtbar und boten einen so geringen Widerstand, daß man sie
nicht bemerkte. Wenn man den einen Stolperdraht unbeschädigt
überwand, konnte man sicher sein, den nächsten zu kappen. War
das einmal geschehen, ließ sich der Draht nicht wieder neu
spannen.
Es könnte ein Zufall sein, vielleicht ein Hacker, der das Netz
erforschte. Aber Plechanow glaubte keine Sekunde ernsthaft an
diese Möglichkeit. Statt dessen war,er überzeugt davon, daß es ein
Computerexperte der Net Force wa r, der die Informationen, die er
während der Verfolgungsjagd gesammelt hatte, ausgewertet hatte.
Wäre Plechanow an dessen Stelle und wollte jemanden in der
virtuellen Realität aufspüren, könnte es ihm anhand der durch die
305
Verfolgung gelieferten Daten gelingen. Zwar ärgerte es Plechanow
maßlos, das zugeben zu müssen, aber wenn er selbst es schaffte,
konnte jemand anderes es auch.
Er hatte seine Gegner schon einmal unterschätzt. Diesen Fehler
würde er nicht noch einmal begehen.
Also gut. Entweder kannten sie seine Identität bereits, oder sie
standen kurz davor, sie zu ermitteln. Mit den Ressourcen der Net
Force war das nur eine Frage der Zeit.
Und dann? Tja, dann würde die Sache erst richtig interessant-werden. Sie hatten keine handfesten Beweise, dessen war er
sicher. Um Belastungsmaterial zu beschaffen, müßten sie sehr viel
tiefer in sein System eindringen, als es ihnen bislang gelungen
war. Wie unmöglich das war, sollte ihnen klar sein, sofern seine
Identität bereits bekannt war, denn dann müßten sie über seine
Fähigkeiten Bescheid wissen. Der Dechiffrierschlüssel existierte
nur in seinem Kopf, aufgeschrieben hatte er ihn nicht. Auf legalem
Wege konnten sie ihn nicht zwingen, ihn preiszugeben. Doch ohne
den Schlüssel waren seine chiffrierten Dateien wie Eisenblöcke niemand könnte sie öffnen.
Plechanow lehnte sich im Stuhl zurück, legte die Fingerspitzen
aneinander und dachte über das Problem nach. Seine Identität zu
kennen und ihm seine Taten nachzuweisen war nicht dasselbe.
Selbstverständlich hatte er Szenarien für den schlimmsten Fall
erprobt - falls die Net Force oder eine andere Organisation zur
Verbrechensbekämpfung seine Identität aufdeckte, bevor er seine
Pläne verwirklicht hatte. Auch wenn ihm diese Möglichkeit
unwahrscheinlich erschienen war, hatte er sie aufgrund seines
Alters und seiner Erfahrung zumindest in Betracht gezogen.
Dabei war er vom schlimmsten Fall ausgegangen - daß sie
seine Identität kannten und Beweise für die Manipula tionen im
Netz, für die Bestechungen, die Mordaufträge, einfach für alles
hatten. Ab einem bestimmten Punkt wäre selbst das völlig
unerheblich. Sobald seine Leute an die Macht kamen, war er
praktisch unantastbar. Auslieferungsanträge würden zwar nicht
unmittelbar abgelehnt werden, schließlich würde man nicht
unhöflich erscheinen wollen. Aber eine Untersuchung der
Vorwürfe gegen den geschätzten und verehrten Freund des Volkes,
Wladimir Plechanow, würde schließlich zu dem Schluß kommen,
306
daß es nicht im besten Interesse des Landes wäre, ihn den
Amerikanern zu übergeben. Was nicht hieß, daß seine Leute ihn
nicht den Wölfen zum Fraß vorwerfen würden. Wenn sie glaubten,
damit davonkommen zu können, würden sie es tun.
Glücklicherweise wären die neu gewählten Politiker ihm für
ihre Positionen nicht nur zu Dank verpflichtet, sondern es
existierten auch detaillierte Unterlagen darüber, wie sie zu ihren
Posten gekommen waren. Ihn den Wölfen zu überlassen, würde
bedeuten, daß die Verantwortlichen ebenfalls in die Fänge seiner
Verfolger gerieten. Schon vor langer Zeit hatte er die Erfahrung
gemacht, daß Eigeninteresse sehr viel zuverlässiger war als die
größte Dankbarkeit.
Dieses Szenario war natürlich besorgniserregend. Ein Makel in
einem im übrigen perfekten Plan, der aber in die sem
fortgeschrittenen Stadium nicht mehr durchkreuzt werden konnte.
Er würde die Augen offenhalten und mit äußerster Sorgfalt
vorgehen, ansonsten weitermachen wie bisher. Rushjo war an Ort
und Stelle. Eine plötzliche Aktivität der Net Force, und das
Gewehr könnte in Aktion treten, um Verwirrung zu stiften. Ab
einem bestimmten Punkt war alles, was sie gegen ihn
unternahmen, unerheblich. Und dieser Punkt war fast erreicht.
Mittwoch, 6. Oktober, 19 Uhr 06
Quantico
Michaels war immer noch dabei, die Nachricht zu verdauen,
daß Ray Genaloni zusammen mit seiner Geliebten und einem
Leibwächter ermordet worden war, als er die Be sprechung für
beendet erklärte. Richardson war bereits gegangen. Abschließend
hatte Alex seinen Leuten noch einige Aufgaben zu übertragen.
»Jay, spielen Sie Szenarien hinsichtlich des möglichen Ziels
von Plechanow durch. Setzen Sie alle Teile, die Sie haben,
zusammen. Gibt es eine Möglichkeit nachzuvollziehen, wo er
gewesen ist und was er gesehen hat, und zwar sowohl in der
virtuellen Realität als auch in Wirklichkeit?«
307
»Vielleicht. Seine Dateien wird er zwar für jeden unbefugten
Zugriff gesperrt haben, aber wir haben seine Identität und könnten
die Aktionen zum Teil zurückverfolgen.«
»Tun Sie das bitte.«
Jay nickte und verließ den Raum.
An Howard gewandt, sagte Michaels: »Ich möchte Sie um
etwas bitten. Arbeiten Sie einen Plan für eine geheime Mission
aus, Plechanow aus Tschetschenien herauszuholen.«
Howard sah ihn fragend an. »Sir?«
»Nehmen Sie einen Moment lang an, der Russe würde nicht
legal ausgeliefert. Was wäre nötig, um ein Team hin zuschicken
und ihn sich zu greifen? Wäre es machbar?«
Howards Antwort kam ohne Zögern. » Ja, Sir, machbar wäre
es. Wie geheim soll es sein?«
»Unsere Truppen sollen nicht gerade die amerikanische Flagge
schwenkend in voller Uniform die Hauptstraße hinuntermarschieren. Sollte etwas schiefgehen, würden wir sie
allerdings nicht hängenlassen. Als Zivilisten getarnte Soldaten. Ein
Ausweichplan, falls die Mission schiefläuft. Das ist Ihr
Spezialgebiet.«
»Ich verstehe. Ich werde einen Plan entwerfen, Sir, aber wie
groß sind die Chancen, daß es soweit kommt, realistisch gesehen?«
»Ich würde sagen, gering bis gleich Null, Colonel, aber im
Hinblick auf das Szenario befolgen wir den von der nationalen
Aufklärungsbehörde propagierten Slogan über Waffen und
Selbstverteidigung.«
»>Besser, einen Plan zu haben und ihn nicht zu brauchen, als
umgekehrt<?«
»Genau.«
»Jawohl, Sir. Ich werde ihn so schnell wie möglich erarbeiten.«
Schwang in seiner Stimme neuer Respekt mit? Sogar etwas
Wärme?
»Danke, Colonel.«
Michaels machte sich auf den Weg zurück in sein Büro. Toni
begleitete ihn.
»Wenn Genaloni für Days Tod verantwortlich ist, können wir
ihn jetzt nicht mehr dafür belangen«, sagte sie.
308
»Irgend jemand hat dem Staat ein langes und kostspieliges
Gerichtsverfahren erspart, das stimmt. Ich frage mich nur: Wer hat
es getan? Und warum?«
Toni zuckte die Achseln. »Er war ein Mafioso. In diesen
Kreisen geht man aufeinander los wie auf Mücken beim Grillen im
Sommer.«
Als sie sein Büro erreichten, ging Toni mit hinein.
Michaels zog die Stirn in Falten. »Das war kein spontaner
Gegenschlag, sondern das Werk eines Profis, eines Experten. In
einer ruhigen Wohngegend werden drei Leute erschossen, und
niemandem fällt etwas auf. Erst knallt der Täter Genaloni und
seine Geliebte im Haus ab, dann tötet er draußen hinter dem Haus
einen
Leibwächter,
wohlwis send,
daß
vier
weitere
Schwerbewaffnete vorne Wache schieben. Das ist mehr als eiskalt,
da hat jemand gefrorenes Blut in den Adern, würde ich sagen. Gibt
es noch was, was ich nicht im Computer habe?« Mit einer
wedelnden Handbewegung schaltete er den Bildschirm ein.
»Unser gerichtsmedizinisches Gutachten ist nur ein vorläufiger
Bericht. Alles, was wir haben, ist ein Stiefelabdruck im
Nachbargarten. Der Gesuchte ist jedenfalls nicht sehr groß.«
Michaels zog eine Augenbraue hoch.
Toni rief das vorläufige Gutachten auf. »Sehen Sie. Der
Abdruck scheint Herrengröße vier oder fünf zu haben. Geht man
von der Tiefe des Eindrucks im Boden aus, wiegt der Mann
fünfundfünfzig bis sechzig Kilo. Er hat die Statur eines
Fassadenkletterers.«
Michaels schüttelte den Kopf. Irgendwie klingelte es bei ihm ...
»Mir gefällt das nicht«, sagte er, »es ist mir zu glatt.«
»Manche Sachen passieren einfach, Alex, und sie stehen nicht
miteinander in Zusammenhang. Man kann sie nicht vorhersehen.
Jemand erscheint zur rechten Zeit am rechten Ort, die Umstände
sind günstig, und die Sache gerät außer Kontrolle.«
Er sah sie an. Was meinte sie? Es klang eher wie eine
Entschuldigung denn als Erklärung.
Sie schien sich nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen. »Ich meine,
jemand hatte es schon länger auf Genaloni abgesehen, und der
Zeitpunkt war vielleicht nur Zufall.«
309
Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er gab einen Befehl über die
Tastatur ein, um eine Datei aufzurufen.
»Was ist?«
Er schaute nicht auf. »Welche Größe, sagten Sie, hatte der
Schuh des Killers?«
»Vier oder fünf. Das Labor kann das erst genauer sagen, wenn
sie den Abdruck zurückbekommen und ihn direkt untersucht
haben.«
»Eine Frage, Toni. Gibt es bei Schuhen einen Unterschied
zwischen Damengröße und Herrengröße?«
»Das hängt vom Fabrikat und dem Hersteller ab, aber
normalerweise sind die Angaben für Damenschuhe um einiges
höher als die für Herrenschuhe der gleichen Größe. Warum wollen
Sie das ...? Oh.«
»Genau. Die Computerextrapolation der Frau, die den Hund in
New York mietete - und zurückkam, um den Verlust zu ersetzen,
mit Hilfe von Kurieren wie beim erstenmal -, ergab, daß sie
Schuhgröße sechs haben müßte und vermutlich zwischen
fünfundfünfzig und fünfundsechzig Kilo wiegt.«
»Sie glauben, daß es sich um ein und dieselbe Person handelt?«
»Ich glaube, daß das alles kein Zufall mehr ist. Nach unserer
Theorie arbeitet die Frau, die den Mordanschlag auf mich verübt
hat und für die Ermordung von Steve Day verantwortlich sein
könnte, für Genaloni. Wir wissen, daß sie sich in New York
aufhält, um den abhandengekommenen Hund zu bezahlen, und nur
wenige Tage später wird Ge naloni von einem Profi getötet, der
etwa die gleiche Größe hat. Was schließen Sie daraus?«
»Es könnte sich um dieselbe Person handeln. Aber wenn sie für
Genaloni gearbeitet hat ...«
»Genau. Warum sollte sie ihn dann töten?«
»Vielleicht wollte er sie für den mißlungenen Anschlag auf Sie
nicht bezahlen«, schlug Toni vor.
»Könnte sein. Aber irgend etwas stimmt nicht an der ganzen
Sache.« Alex dachte einen Moment lang darüber nach. »Wenn wir
nun falschliegen mit unserer Annahme hinsichtlich des Mörders
von Steve Day? Wenn es nun jemand war, der Genaloni dafür die
Schuld in die Schuhe schieben wollte? Vielleicht ist er
310
dahintergekommen und wurde deswegen von der Frau beseitigt.
Vielleicht arbeitet sie für jemand anderes.«
»Etwas gewagt.«
»Ja, das stimmt, aber bedenken Sie: Das Attentat auf Day
wurde von einem Team durchgeführt. Die Planung war gut, aber
die
Ausführung
schlampig.
Ein
Haufen
von
mit
Maschinengewehren Bewaffneter, die herumballern, und trotzdem
gelingt es Day, einen zu töten. Das scheint mir nicht dem Stil der
Killerin zu entsprechen. Sie macht einen kompetenteren
Eindruck.«
»Ihr Anschlag auf Sie schlug fehl.«
»Nur, weil der Hund gebellt hat. Eine Sekunde früher oder
später, und ich wäre Geschichte gewesen.«
»Worauf wollen Sie hinaus? Meinen Sie, es gibt zwei
verschiedene Killerkommandos?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber möglich wäre es. Wir gingen
davon aus, daß Days Tod auf seinen langen Kampf gegen das
Organisierte Verbrechen zurückzuführen sei. Die Art und Weise,
wie der Anschlag ausgeführt wurde, seine Vergangenheit, alles
hätte gepaßt. Aber wenn wir damit nun falschliegen? Wenn es
jemand anderes war? Möglicherweise hat es gar nichts mit dem
Organisierten Verbrechen zu tun.«
»Gut, nehmen wir einmal an, Sie hätten recht. Warum sollten
Sie beseitigt werden? Wo liegt das Motiv?«
»Was haben Day und ich gemeinsam?«
»Die Net Force. Nach seinem Tod haben Sie die Leitung
übernommen.«
»Genau. Wenn die Anschläge nun nicht gegen uns persönlich
gerichtet waren, sondern den Leitern der Net Force galten?«
»Von zwei verschiedenen Killerkommandos?«
»Ja.«
Beide dachten schweigend einen Moment über diese
Möglichkeit nach.
Es klopfte an der Tür. Als sie aufschauten, sahen sie Jay
Gridley im Türrahmen stehen.
»Was gibt es, Jay?«
311
»Ich will meine Gehaltserhöhung, Chef. Wir haben sie. Die
Attentäterin, meine ich. Der Computer hat ihre Identität
ausgespuckt.«
312
35
Donnerstag, 7. Oktober, 20 Uhr 48
Quantico
Toni saß in ihrem Büro und ging sorgfältig die Informatio nen
durch, die Jay zusammengetragen hatte. Es war älteres Material,
ohne Foto oder Hologramm, zudem nur sehr dürftig.
Die Fingerabdrücke der mutmaßlichen Attentäterin, die an der
Wand des Holiday Inn in Schenectady, New York, sichergestellt
wurden, waren identifiziert worden. Sie gehörten zu Mora
Sullivan, einer Irin, deren Vater Angehöriger der IRA und durch
britische Hand ums Leben gekommen war. Als die Fingerabdrücke
abgenommen worden waren, war Mora acht Jahre alt gewesen.
Danach war in keinem der mit der Net Force verbundenen
Nachrichtensysteme - zu denen die meisten internationalen
Polizeidatenbanken gehörten - etwas über das Mädchen oder die
Frau gespeichert. Sie schien vom Erdboden verschwunden. Oder,
wie Jay vermutet hatte, jemand wußte von ihren Aktivitäten und
hatte ihre Daten geknackt und beiseite geschafft, ohne eine Spur zu
hinterlassen. Daß sie diese Fingerabdrücke gefunden hatten, war
reines Glück. Sie stammten aus der Kartei einer irischen
Polizeistation und waren erst vor kurzem eingespeichert worden,
nachdem man sie zusammen mit einigen Hunderten von Fingerabdrücken, die ebenfalls schon ein paar Jahre alt waren, entdeckt
hatte.
Damit war der Net Force neben den Fingerabdrücken nun zwar
Alter, Nationalität, Haar- und Augenfarbe der Killerin bekannt.
Doch das reichte nicht, um sie zu erkennen, zumal sie eine
Verwandlungskünstlerin zu sein schien. Mit Perücke oder
gefärbten Haaren, Kontaktlinsen und Handschuhen konnte sie sich
perfekt tarnen. Mit ein bißchen Make-up und wattierter Kleidung
wäre ihr wahres Alter nicht zu erraten. Daß sie sowohl eine
kräftige Vierzigjährige als auch eine gebrechliche Siebzigjährige
mimen konnte, hatte sie bereits bewiesen. Obwohl sie nach den
313
Unterlagen erst zweiunddreißig war. Selbst wenn sie ein Foto von
Mora - falls sie sich noch so nannte - als Kind hätten, würde das
wenig nützen, denn sie sah heute wahrscheinlich völlig anders aus.
Doch über je mehr Informationen sie verfügten, desto besser.
Nach ihrer Ergreifung könnte die Net Force eine eindeutige
Identifizierung vornehmen.
Tonis Telefon kündigte einen eingehenden Anruf an. Der
Name des Anrufers wurde auf dem Display angezeigt.
Ihr Magen verkrampfte sich. Es war Rusty. Sie hatte diesen
Anruf zwar erwartet, da sie um Rückruf gebeten hatte, aber
dennoch hätte sie am liebsten die Flucht ergriffen. Mit Rusty zu
schlafen war ein Fehler gewesen, das war ihr in zwischen klar
geworden, aber sie wußte noch nicht, wie sie ihm das beibringen
sollte. Sie hatte ihn immer wieder vertröstet, aber es war unfair,
ihn im Ungewissen zu lassen. Doch am Telefon wollte sie ihm das
auf keinen Fall sagen. »Hallo.«
»Guru Toni, wie geht's?«
Warum mußte er sich nur so fröhlich anhören? »Gut. Viel zu
tun. Das übliche.«
»Was gibt's?«
»Ich schaffe es heute nicht zum Training im Kraftraum«,
antwortete sie. »Zuviel los heute.«
»Kein Problem. Ich muß auch noch ein bißchen büffeln. Wie
steht's mit morgen?«
»Wie wär's, wenn ich mich für ein paar Minuten in der
Mittagspause loseise, falls du Lust hast auf einen schnellen
Kaffee?«
»Damit wäre mein Tag gerettet.«
Die offensichtliche Freude in seiner Stimme ließ sie zusammenzucken. Sein Tag wäre gerettet, oje. Leider nur bis zur
Mittagspause.
»Wie wäre es mit Heidis?« Das war ein Schnellimbiß in der
Nähe des Gebäudekomplexes. Ein kleines und ruhiges Restaurant,
in dem es schlechten Kaffee und noch schlechteres Essen gab.
Deshalb würden sie allein sein, wenn sie es ihm beibrachte.
Wenn sie ihm den Laufpaß gab.
»Prima! Bis dann«, sagte er.
Beide beendeten die Verbindung.
314
Toni atmete hörbar aus und starrte vor sich hin. Na klasse.
Irgendwo hatte irgend jemand sicher ein Buch darüber
geschrieben, wie man einem Mann, den man mochte, mit dem man
aber nicht mehr schlafen wollte, beibrachte, daß man ihn mochte,
aber nicht mehr mit ihm schlafen wollte. Sie wünschte, sie hätte es
gelesen. Fängt man einfach an und platzt damit heraus? Sieh mal,
wir hatten viel Spaß im Bett, und ich mag dich auch nach wie vor,
aber ich möchte nicht mehr mit dir schlafen, weil es bei mir aus
dem Augenblick heraus geschah und ein Fehler war. Nichts gegen
dich persönlich, aber ich liebe einen anderen. Auch wenn er diese
Gefühle nicht zu erwidern scheint. Tut mir echt leid. Wie wäre es
jetzt mit einem Donut, hm?
Toni versuchte, sich vorzustellen, wie sie sich fühlen würde,
wenn sie an seiner Stelle wäre. Es war hart, so abserviert zu
werden. Besonders hart wäre es aber, wenn sie den Mann liebte,
der ihr ins Gesicht sagte, daß er von nun an nur noch mit ihr
befreundet sein wolle. Das kam der Beziehung zwischen ihr und
Alex nahe genug, um weh zu tun. Wenn sie miteinander
geschlafen hätten und er würde ihr so etwas sagen, wüßte sie nicht,
wie sie das ertragen sollte.
War Rusty in sie verliebt? Gesagt hatte er es nicht direkt, aber
er fühlte sich offenbar stark zu ihr hingezogen. Da sie sich im Bett
gut verstanden hatten, könnte es ihm Schwerfallen, ihre
Entscheidung zu akzeptieren. Das Problem war, daß er nichts
Falsches gesagt oder getan hatte - es lag nicht an ihm. Aber wie sie
es auch verpackte, wie behutsam sie es ihm auch beibrächte, es
war und blieb eine Zurückweisung: Ich will nichts mehr von dir
wissen.
Für ihn war es um so schlimmer, weil sein Standpunkt
unwichtig war. Er hatte keine Wahl. Ihre Entscheidung stand fest,
und sie würde sich nicht umstimmen lassen. Ba sta. Tut mir
wirklich leid.
Daß ihr Entschluß bereits getroffen war, machte die Sache
nicht einfacher. Sie wollte ihn nicht verletzen. Aber sie hatte nur
die Wahl, ihn mit einem sauberen Schnitt loszuwerden oder ihn
mit der Nadel zu piksen und langsam verbluten zu lassen. Das
wäre sicher einfacher. Sie könnte zu beschäftigt sein, um sich mit
ihm zu treffen oder zu trainieren, nicht dazu kommen, ihn
315
zurückzurufen. Seine Ausbildung beim FBI wäre bald beendet,
und er würde als Junioragent in eine tausend Meilen entfernt
liegende Außenstelle versetzt werden. Eine kleine, gehässige
Stimme flüsterte ihr zu, daß sie, wenn sie, wollte, ihre Verbindungen spielen lassen könnte, um ein bißchen nachzuhelfen. Damit
wäre die Beziehung beendet. Eine Quelle, die langsam
austrocknete und schließlich versiegen würde. Und die ganze Zeit
würde Rusty sich fragen, was er falsch gemacht hatte.
Aber es wäre feige, sich auf Distanz zu begeben und der
Konfrontation aus dem Wege zu gehen. Sie war dazu erzö gen, sich
den Problemen zu stellen, sie anzugehen und alles Notwendige zu
tun, um etwas zu Ende zu bringen. Das war zwar gefährlicher, aber
dafür schneller und sauberer.
Schneller, sauberer und ungleich härter.
Aber vielleicht wollte er nur mit ihr ins Bett. Er war ein Mann,
und sie war nicht so häßlich, daß die Leute auf die andere
Straßenseite flohen, wenn sie vorbeiging. Vielleicht hatte er
wirklich nur Sex im Sinn? Das würde die Sache ungemein
erleichtern.
Sie wünschte sich, mit jemandem darüber sprechen zu können,
einer Freundin, die sie um Rat fragen konnte. Aber hier in der
Stadt wußte sie niemanden. Vielleicht sollte sie ihre Freundin
Irena in der Bronx anrufen, aber das wäre unfair. Sie hatten seit
Monaten nicht mehr telefoniert, und es erschien ihr nicht richtig,
sie jetzt anzurufen, um sich an ihrer Schulter auszuweinen.
Außerdem war Irena nicht mit vielen Männern zusammen
gewesen, hatte vor ihrer Heirat nur zwei Freunde gehabt. Und mit
ihrem Mann Todd war sie glücklich und zufrieden. Toni hatte ihr
nichts von Alex erzählt und davon, was sie für ihn empfand. Das
würde sie aber tun müssen, um die Geschichte mit Rusty in den
richtigen Kontext zu bringen.
Doch warum sollte sie ihm eigentlich den Laufpaß geben? Er
hatte seine Vorzüge.
Nein, mit diesem Problem mußte sie allein fertig werden.
Sie konnte nicht behaupten, daß sie sich darauf freute.
316
Donnerstag, 7. Oktober, 20 Uhr 56
Quantico
John Howard ging in seinem Büro auf und ab, während der
Computer ein weiteres Szenario für die theoretische Entführung
des russischen Programmierers auswertete. Bis jetzt hatte Howard
fünf verschiedene Einsatzpläne durch den Computer gejagt. Der
Rechner hatte Erfolgschancen zwischen achtundsechzig Prozent
und mageren zwölf Prozent ausgespuckt. Diese Zahlen gefielen
dem Colonel gar nicht. Von Einsatzplänen aus den strategischen
und taktischen Standardmodulen wußte er, daß ohne eine mindestens achtzigprozentige Aussicht auf Erfolg Menschen zu Schaden
kommen würden, vielleicht sogar den Tod fänden. Entweder der
Feind müßte Verluste hinnehmen oder er. Zwar wäre die erste
Möglichkeit der zweiten vorzuziehen, aber in dieser speziellen
Kampfsituation wären beide nicht wünschenswert.
Manchmal mußte man einen Kampf austragen, auch wenn die
Chancen noch so schlecht standen. Aber mit dem Bewußtsein in
den Kampf zu ziehen, Soldaten zu verlieren, paßte Howard nicht.
Die Hauptfaktoren waren feste Größen, nur die kleinen
Variablen stellten ein Problem dar. Je mehr Informationen er über
diese Variablen besaß, um so besser konnte er den Strategie- und
Taktikmodus für den Einsatzplan programmieren. Aber wie sollte
er diese unbekannten Größen näher bestimmen? Ein offenes
Feuergefecht auf einem Feld mitten in der Landschaft war einfach
zu kalkulieren. Aber wie sollte man zum Beispiel den Verkehr auf
den Straßen einer Großstadt für eine verdeckte Operation
vorausberechnen? Ein Wagen, der unerwartet während der
Stoßzeiten auf einer Hauptverkehrsader liegenblieb, könnte die
gesamte Operation gefährden. Man müßte Ausweichstrekken parat
haben, wobei zu bedenken war, daß andere im Stau Stehende diese
ebenfalls benutzen würden. Aber selbst wenn man einen
umgestürzten Lastwagen einplante, wie sollte man vorhersehen,
wie und wann das passieren würde?
Man konnte es nicht, es sei denn, man plazierte ihn selbst.
Eliminierte man diese Unsicherheitsfaktoren durch einen
Angriff außerhalb der Hauptverkehrszeiten, zum Beispiel am
317
frühen Morgen oder mitten in der Nacht, tauchten andere Probleme
auf. Die örtliche Polizei würde Aktivitäten in der Nacht eher
nachgehen als am Tage. Wenn man sie entdeckte, wäre es
schwieriger, sich zu verstecken. Einer Verfolgung aus der Luft am
Boden zu entkommen war auf jede Entfernung unmöglich. Denn
mittlerweile verfügten auch Länder über Hubschrauber, in denen
der Großteil der Bevölkerung noch in Grashütten hauste.
Die Entführung selbst war aber nur ein Element des Planes. Zu
ihrer Durchführung genügte ein kleines Team, nicht mehr als drei
oder vier Soldaten. Darüber hinaus bräuchte man einen Fluchtplan,
und zwar möglichst für den Luftweg. Dazu wäre ein Flugzeug
erforderlich, das zwar schnell genug war, um eine rasche Flucht zu
ermöglichen, aber unterhalb des gegnerischen Radars bleiben
konnte.
Angenommen, die Operation ginge schief. Wieviel Mann
wären dann für einen Unterstützungseinsatz notwendig? Würde
sich das Team der Net Force auf ein Feuergefecht mit einer
offiziell freundlich gesinnten Nation einlassen wollen? Welches
Nachspiel hätte das?
Howard schüttelte den Kopf. Es gab sehr viel zu bedenken, und
ganz gleich, wie aufmerksam er alle Möglichkeiten durchspielte,
irgendeine Kleinigkeit würde ihm entgehen. Vielleicht wäre sie
unbedeutend genug, um unzerkaut durch das System zu gelangen.
Doch sie konnte auch groß genug sein, um die Luftröhre zu
blockieren, so daß er daran erstickte. Kein sehr angenehmer
Gedanke.
Der Computer piepste. Der neue Einsatzplan war
durchgelaufen. Diesmal lagen die Erfolgschancen bei vierundfünfzig Prozent.
Ebensogut könnte er eine Münze werfen.
»Computer,
die
vorherigen
Parameter
beibehalten,
Operationsbeginn auf dreiundzwanzig Uhr verlegen und neuen
Lauf starten.«
Der Computer piepste erneut und begann mit dem
Durcharbeiten des Einsatzplanes.
Howard nahm seine Wanderung wieder auf. Vermutlich war
das alles sowieso umsonst. Er glaubte nicht daran, daß Michaels
den Befehl zu einem militärischen Eingriff erteilen würde. Zu viele
318
Leute standen über ihm, denen er Rechenschaft ablegen mußte.
Und das waren ausnahmslos Zivilisten. Eine Aktion in einem
fremden Land durchzuführen, dessen Regierung Bescheid wußte,
aber wegsah und damit eine stillschweigende Duldung
demonstrierte, war eine Sache. Truppen auf fremdem Gebiet
abzusetzen unter unverhohlener Mißachtung der örtlichen
Regierung dagegen war eine völlig andere Geschichte. Die Tschetschenen waren seit der Invasion der Russen vor Jahren in dieser
Beziehung äußerst empfindlich. Eine amerikanische Einsatztruppe,
die in ihrem Land herumrannte, würden sie nicht gerade
willkommen heißen, auch wenn die Operation verdeckt wäre.
Ginge sie schief, dann gäbe es erhebliches Aufsehen. Köpfe
würden rollen, und seiner wäre der erste.
Aber er hatte seine Befehle. Er würde sein Bestes tun, um sie
auszuführen. Schließlich war er Soldat. Es war sein Be ruf.
Donnerstag, 7. Oktober, 21 Uhr 02
Washington, D.C.
Selkie erwartete nicht, daß die Sicherheitsteams, die die
Zielperson bewachten, zweimal hintereinander den gleichen Weg
zu deren Wohnung nahmen. Je näher sie allerdings herankamen,
um so weniger Möglichkeiten hatten sie. Es gab nur zwei
Zufahrtsstraßen, um in das Stadtviertel zu gelangen, und eine
davon würden sie benutzen müssen. Wenn sie die Straße, an der
Selkie Posten bezogen hatte, heute nicht nähmen, würden sie es
höchstwahrscheinlich am folgenden Tag tun.
Sie hatte Glück. Heute hatten sie sich für diesen Weg
entschieden.
Sie befand sich in einer öffentlichen Telefonzelle neben einem
Neppladen, eine Meile von Michaels' Wohnung entfernt. Ihr neues
Fahrrad stand auf seinem Ständer direkt neben ihr. Als Mann
verkleidet, trug sie Stiefel, ausgebeulte Jeans, eine zu große Jacke
und einen kurzen, gepflegten falschen Bart. Als sie in Sichtweite
319
der Leibwächter kam, drehte sie ihnen den Rücken zu, bis der
Konvoi sie passiert hatte. In dem kleinen Rückspiegel, der an
ihrem Fahrradhelm befestigt war, konnte sie die Prozession
verfolgen. Die Leibwächter beachteten sie kaum.
Wie erwartet, waren die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt
worden. Zwei Begleitfahrzeuge befanden sich in unmittelbarer
Nähe der gepanzerten Limousine, in der die Zielperson saß. Eines
der Fahrzeuge fuhr vorneweg, das andere folgte. An Michaels'
Wohnung vorbeizufahren hatte sie nicht riskieren wollen, aber sie
ging davon aus, daß ein enges Sicherheitsnetz gespannt sein
würde. Sie würde weder als alte Frau verkleidet an ihnen
vorbeimarschieren können, noch dürfte es ihr gelingen, über den
rückwärtigen Zaun zu klettern, um sich unbemerkt ins Haus zu
schleichen. Außerdem wären die Typen schneller mit der Waffe
zur Hand als die Leibwächter eines Mafiabosses. Sie würden auf
sie schießen, sobald sie sie entdeckt hatten.
Sie blieb noch eine ganze Minute an der Telefonzelle stehen.
Ihre Geduld wurde dafür reichlich belohnt. Ein weiteres, mit zwei
Leibwächtern besetztes Fahrzeug rollte die Straße entlang.
Vielleicht gab es sogar ein viertes, das dem Konvoi
vorausgefahren war. Darauf hatte sie aber nicht geachtet.
Wegen der örtlichen Gegebenheiten kam das Haus der
Zielperson für Selkie als Tatort nicht in Frage. Zwar könnte sie
einen Gewehrschuß plazieren, wenn sie sich auf dem Weg
zwischen Haus und Limousine befand, aber das wäre zu riskant.
Die Leibwächter hatten diese Möglichkeit wahrscheinlich bedacht
und könnten alle geeigneten Aussichtspunkte unter Beschuß
nehmen. Es würde ihr nicht gelingen, außerhalb dieses
Schußfeldes Stellung zu beziehen, denn es gab keine hohen
Gebäude in der Nähe und keine guten Positionswinkel. Würde sie
es dennoch schaffen, stünde sie vor dem noch größeren Problem,
ihnen zu entkommen. Flucht war ein primäres Ziel, weitaus
wichtiger als die Eliminierung des Opfers.
Nein, das Haus kam als Tatort nicht in Frage.
Sie hängte den Telefonhörer auf die Gabel, stieg auf ihr
Fahrrad und fuhr in Richtung des Motels, in dem sie ein Zimmer
gemietet hatte. Es war einige Meilen entfernt. Sie hatte sich dort
320
als Mann verkleidet eingetragen, nur für den Fall, daß nach einer
alleinreisenden Frau gesucht wurde.
Ein Anschlag auf den Konvoi war ebenfalls riskant. Er ließe
sich praktisch nur mit Sprengstoff bewerkstelligen. Ein
Stinger-Flugkörper, eventuell eine Panzerabwehrrake te, oder eine
Bombe. Um eine Rakete oder einen Flugkörper abzufeuern, müßte
sie ihre Deckung aufgeben und würde in die Schußlinie der
Leibwächter geraten. Sobald die eine Person mit einem
Raketenabschußgerät am Stra ßenrand stehen oder sich aus dem
Fenster lehnen sähen, würden sie mit ziemlicher Sicherheit erst
schießen und hinterher nach ihrer Identität fragen. Raketen waren
außerdem unsicher. Sie hatte schon von Fällen gehört, in denen
Flugkörper in einem bestimmten Winkel auf einfach verglaste
Windschutzscheiben trafen und abprallten, ohne zu explodieren.
Bei Gewehrkugeln kam so etwas bestimmt nicht vor.
Und eine Bombe?
Sie könnte wetten, daß das FBI oder die für den Schutz der
Zielperson zuständigen Teams der Net Force jeden Ka nalschacht
und jeden Mülleimer nach verdächtigen Paketen absuchten, sobald
sie nur noch zwei Alternativen auf dem Weg zur Wohnung hatten.
Außerdem bestand die Möglichkeit, daß eine ferngezündete
Bombe bei einer gut gepanzerten Limousine nicht die gewünschte
tödliche Wirkung brächte. Um ganz sicherzugehen, müßte die
Sprengladung entsprechend groß sein, aber dann könnte sie sowohl
von elektronischen Detektoren als auch von Bombenspürhunden
entdeckt werden.
Würde es sich bestätigen, daß die Zielperson weiterhin in
Gefahr war, brächte man sie an einen sicheren Ort, wo sie Wochen
oder Monate hausen würde. Solange wollte Selkie nicht warten.
Früher hätte sie die nötige Geduld aufgebracht, aber jetzt, da ihr
Entschluß, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen, feststand,
wollte sie diese Sache endlich abschließen und einen neuen
Anfang machen. Ein paar Tage, maximal eine Woche, würde sie
noch investieren. Da der erste Anschlag mißlungen war, wollte sie
diesmal möglichst dicht herankommen und es persönlich
erledigen. Der Stock kam als Mordwaffe nicht mehr in Betracht,
dafür übte der Gedanke an ein Messer oder ihre bloßen Hände eine
gewisse Faszination aus.
321
Hinter ihrem Fahrrad setzte ein Auto hupend zu einem
Überholmanöver an. Sie winkte, so als ob es ihr leid täte, den
Verkehr behindert zu haben. Das Auto überholte. Der Fahrer
brüllte ihr eine unverständliche Schimpftirade zu, die mit
>Vollidiot!< endete. Dabei verlangsamte er nicht ein mal das
Tempo.
Selkie grinste. Der Fahrer des Wagens hatte keine Ahnung, wie
gefährlich es für ihn hätte sein können anzuhalten, um dem
schmächtigen Fahrradfahrer, der ihn über Ge bühr aufgehalten
hatte, eins überzubraten. Die Pistole in ihrer Gürteltasche wollte
sie zwar nicht auf irgendeinen wütenden Autofahrer richten
müssen, aber die Option hätte sie allemal besessen, falls sie ihm
trotz aller Kampftechnik nicht den Schädel hätte einschlagen
können.
Nein, die einzige in Frage kommende Alternative für ein
Attentat war ein Ort, an dem die Zielperson nicht ständig von
Leibwächtern umgeben war. Außerdem müßte sie so vorgehen,
daß die Tat erst bemerkt wurde, wenn sie längst über alle Berge
wäre.
Ein Ort, der als sicher galt.
Sie mußte ihn in der Zentrale der Net Force erledigen.
322
36
Freitag, B. Oktober, 9 Uhr 05
Quantico
Sich selbst - oder einen unerlaubten Gegenstand - in einen
Sicherheitsbereich einzuschmuggeln, in dem man nichts verloren
hatte, war einfacher, als so mancher glaubte. Selkie hätte
mindestens vier Methoden aus dem Armel schütteln können, wie
man eine Feuerwaffe unbemerkt an Bord eines Flugzeuges
brachte. Sie müßte noch nicht einmal aus Keramik sein, wie die
kleine Pistole, die jetzt im Bund ihrer Strumpfhose steckte. Es war
eine dreischüssige Handfeuerwaffe mit drei 2-Zoll-Läufen. Sie war
in Brasilien illegal hergestellt worden, für die Mitarbeiter des
Auslandsgeheimdienstes, und zwar aus der gleichen Hartkeramik,
wie die Japaner sie für ihre immerscharfen Küchenmesser entwickelt hatten. Die Munition für die 9mm-Kaliber-Waffe bestand
aus hülsenlosem Bor-Expoxidharz, keinen Patronen, und wurde
von einem rotierenden, piezoelektrischen Zünder abgefeuert. Das
Treibmittel war eine etwas beständigere Variante als Feststoff. Die
Pistole verfügte sogar über ein primitives Zielfernrohr im Inneren
der drei stumpfnasigen Läufe. Allerdings waren die Geschosse relativ leicht, so daß die Treffsicherheit auf große Entfernung nicht
gewährleistet war. Die Reichweite betrug lediglich zwanzig Meter.
Außerhalb dieses Bereiches konnte man nur feuern und auf
göttliche Fügung hoffen, wenn man es auf ein bestimmtes Ziel
abgesehen hatte.
Aus der Nähe abgefeuert, würde die nichtmetallische Waffe
einen Mann so sicher töten, wie der größte sechsschüssige
Cowboyrevolver aus Stahl.
Die Waffe war aus zwei Teilen gegossen: Lauf und Griff.
Schlagbolzen, Schlagbolzenfeder, Sicherung, Abzug und
Zündvorrichtung bestanden ebenfalls aus Keramik. Theoretisch
konnte die Pistole neu geladen und nochmals abgefeuert werden,
aber praktisch war sie eine Einwegwaffe. Sobald man sie einmal
323
benutzt hatte, wurden die Keramikteile im Inneren geringfügig
instabil. Daher war es wesentlich sinnvoller, die Waffe
auszutauschen, als ein Versagen in einem entscheidenden Moment
zu riskieren. Das dreiwertige Halbmetall Bor in den drei
zusammengefügten Geschossen enthielt weniger Metall als eine
Zahnfüllung. Einem Scanner für harte Objekte würde die Pistole
zwar nicht standhalten, aber auf den Kopf gestellt, fiele sie beim
Durchleuchten nicht auf, da sie aus diesem Blickwinkel nicht wie
eine Waffe aussah. Absolut ohne Schwierigkeiten würde die
Pistole hingegen an jedem Standardmetalldetektor dieser Erde
vorbeikommen. Wenn sie irgendwo auf dem Tisch lag, sah sie aus,
als wäre sie aus einem Stück Seife geschnitzt.
Auf der Innenseite ihres rechten Oberschenkels, fast in der
Leistengegend, hatte Selkie ein Messer befestigt. Es bestand.
ebenfalls aus Keramik, war gut geschärft und besaß einen
Plastikgriff. Die Klinge war leicht gebogen, kurz und sehr dick.
Keramik war fragil, und um zu verhindern, daß die Klinge abbrach
- wenn man nicht nur die Kehle durchschneiden, sondern sein
Opfer erstechen wollte -, mußte sie sehr dick ausgeführt sein.
Zu den Sicherheitsstandards in Regierungsgebäuden, bei denen
nur ein begrenztes Budget für diesen Posten zur Verfügung stand,
zählten Ausweise mit Foto oder Fingerabdruck, Metalldetektoren
und bewaffnete Wächter. Hatte man in einem solchen Gebäude
etwas zu erledigen und gehörte nicht zu den Angestellten, oblag
die Anzahl der Sicherheitschecks dem Ermessen der
Sicherheitskräfte. Sie konnten eine Computerüberprüfung des
Ausweises vornehmen, die mitgebrachten Gegenstände
auseinandernehmen und den Besucher selbst durchsuchen oder
jemanden dazu abstellen, ihn im gesamten Gebäude zu begleiten.
Das gehörte zu den Standardsicherheitsvorkehrungen der Stufe
drei. Im Gebäude der Net Force waren Sicherheitsvorkehrungen
der Stufen drei bis eins zu finden.
Um sich Zugang zu dem Gebäude zu verschaffen, genügte es,
die Sicherheitsmaßnahmen der Stufe drei zu überwinden.
Bestimmte Bereiche waren zusätzlich abgeschirmt durch
Handballen- oder Netzhautscanner, Fingerknöchelabtaster,
Stimmcodes und ähnlichem. Selkie hatte nicht vor, sich an diesen
vorbeizumogeln, um an die Tür ihrer Zielperson zu klopfen,
324
jedenfalls nicht ohne längere Vorbereitung. Aber das mußte sie
auch gar nicht.
Sich zu einer schwer erreichbaren Zielperson vorzu kämpfen
war unnötig, wenn das Opfer es seiner Mörderin leicht machte und
zu ihr herauskam.
Auch mit äußerst geringen Computerkenntnissen war es
einfach, niedrigere Angestellte - Sekretärinnen, Telefo nistinnen,
Wartungspersonal - ausfindig zu machen, die erst seit kurzem bei
der Net Force beschäftigt waren. Jemanden auszuwählen, der
unverheiratet war, allein lebte und in dessen Rolle sie schlüpfen
konnte, war sogar noch einfacher. Selkie war schließlich eine
Verwandlungskünstlerin ...
So kam es, daß Christine Wesson, eine passable Brünette mit
braunen Augen, ihr kurzes und vermutlich wenig erfülltes Leben
mit neunundzwanzig Jahren aushauchte. Statt ihrer kam eine Frau
an den südwestlichen Eingang -den belebtesten - der Zentrale der
Net Force, die ihr genug ähnelte, um jeden, der Christine nicht
besonders gut gekannt hatte, zu täuschen. Es war Freitag, bald
Wochenende, und ein Strom von Angestellten der Tagesschicht,
die zur Arbeit antraten, stand vor dem Lesegerät Schlange. Sie
warteten, bis sie an die Reihe kamen, um ihre Codekarten durch
den Schlitz des Lesegerätes zu schieben. Es ging schnell. Einmal
durchschieben, dann ein grünes Licht, und schon war man drin.
Selkie wußte, daß die Codekarte gültig war, da sie damit schon
auf das Parkplatzgelände gelangt war - in dem acht Jahre alten,
klapprigen Ford der verschiedenen Christine Wesson.
Die Autobesitzerin selbst lag, in Plastiktüten eingepackt, in
ihrer Badewanne, begraben unter fünfzig Kilo schmelzendem,
zerstoßenem Eis. Es sollte verhindern, daß die Nachbarn sich über
den Geruch beschweren würden -zumindest solange, bis Selkie
ihre Arbeit beendet und sich aus dem Staub gemacht hatte.
Sobald Selkie sich im Inneren des Gebäudes befand, inspizierte
sie es. Es gab mehrere Orte, an denen sie sich aufhalten konnte,
um sich nicht in den Fluren herumdrücken zu müssen.
Vor zwei Jahren war herausgekommen, daß Sicherheitsleute im
Pentagon sich an Videos erfreut hatten, die heimlich von Frauen und Männern - in den Toilettenräumen des Gebäudes
aufgenommen worden waren. Die Öffentlichkeit hatte äußerst
325
entrüstet reagiert, aber das Militär war darin geschult, Wünsche
der unwissenden zivilen Be völkerung zu ignorieren. Allerdings
hatte der Gedanke, daß jemand einem Vier-Sterne-General beim
Pinkeln über die Schulter sehen könnte, die Militärs erheblich
gestört. Und wer weiß? Vielleicht waren ähnliche Kame raspione in
den Toilettenschüsseln der Kongreßmitglieder und Senatoren
versteckt? Erstaunlich, wie schnell manche Gesetze verfaßt und
verabschiedet werden können, wenn sie nur wichtig genug sind.
Die Überwachungseinrichtungen in Regierungsgebäuden waren
daher eingeschränkt worden. Zumindest durften keine Kameras
mehr in den Toilettenräumen installiert werden.
Die falsche Christine Wesson hätte sich also mit einem Buch
aufs Klo zurückziehen können, um ein paar Stunden zu
überbrücken. Sie hätte in der Cafeteria beim Mittagessen trödeln
oder in die außenliegende Raucherzone gehen können, um unter
allgemeiner Mißbilligung eine immer noch legale Zigarette mit
niedrigem Teer- und Nikotingehalt zu inhalieren. Sie hatte eine
Schachtel in Wessons Handtasche gefunden. Mit dem
Namensschild an ihrer Bluse wäre sie anonym. Niemand kannte
sie, und die Mühlen der Bürokratie mahlten langsam.
Die Zielperson in der Hochsicherheitszone würde sicher einmal
in einen weniger bewachten Bereich kommen, wenn sie ihr einen
plausiblen Grund dafür lieferte.
Einen solchen Grund mußte sie sich innerhalb der nächsten
Stunden aus den Fingern saugen.
Früher oder später würde man in der Abteilung, in der Wesson
arbeitete, vermutlich bemerken, daß sie nicht zur Arbeit erschienen
war. Vielleicht riefen sie bei ihr zu Hause an, wo sie allerdings nur
ihren Anrufbeantworter erreichen würden. Es war alles kein
Problem, solange man nicht aus irgendeinem Grund darauf kam,
die Sicherheitscomputer des Gebäudes zu Rate zu ziehen. In
diesem Fall würde man feststellen, daß Christine Wesson wie
immer heute morgen zur Arbeit gekommen war - was einige
Verwunderung auslösen dürfte. Denn wenn sie sich im Gebäude
aufhielt, wo steckte sie dann?
Um das zu verhindern, hatte Selkie Christine mehr oder
weniger höflich um einen Gefallen gebeten. Ihr Opfer war überaus
bereit gewesen zu kooperieren. Christine Wesson hatte ihren
326
Vorgesetzten in der Beschaffungsabteilung für Büromaterial, wo
sie arbeitete, angerufen und ihm mitgeteilt, daß sie wegen eines
wichtigen Arzttermins einige Stunden später komme. Ihr Chef
hatte nichts dagegen gehabt, und ein paar Stunden konnten sich
durchaus bis mit tags hinziehen. Dann würde eine zeitgesteuerte
E-Mail von Wesson auf dem Bildschirm des Vorgesetzten
erscheinen, mit der sie ih m bedauernd erklärte, daß ihr Termin
länger dauere als angenommen. Sehr viel länger, wie Selkie wußte.
Die E-Mail würde ihr zumindest für den Rest des Tages den
Rücken freihalten. Das sollte genügen.
Freitag, 8. Oktober, 12 Uhr 18
Quantico
Toni trainierte ihre Djurus, wobei sie nach jedem Muster eine
Pause für den entsprechenden Sambut einlegte. Sie war die einzige
Frau im Kraftraum. Sonst befanden sich heute nur einige
männliche Kollegen hier, aber Rusty gehörte nicht dazu.
Als sie ihm mitgeteilt hatte, daß sie nicht mehr mit ihm
schlafen wolle, schien er es ganz gelassen hinzunehmen. Er zeigte
keine Wut, keine Tränen, nur eine Art überraschtes Akzeptieren:
>Oh?< Es war wesentlich besser gelaufen, als sie gehofft oder
erwartet hatte.
Allerdings hatte sie seitdem nichts mehr von ihm gehört. Sie
hatte ihm noch gesagt, daß sie heute trainieren werde. Eigentlich
hatte sie erwartet, daß er auch kam - bis her hatte er noch keine
Unterrichtsstunde versäumt.
Das überraschte sie. Aber vielleicht hatte er es doch nicht so
einfach weggesteckt, wie sie gedacht hatte:
Sie kam aus der Hocke des dritten Djuru, holte zum
Aufwärtshaken mit dem Unterarm aus und schlug zu. Während sie
sich aufrichtete, wechselte sie die beiden nächsten Schläge ab.
327
Hoffentlich würde Rusty den Unterricht nicht gänzlich
sausenlassen. Einen Schüler zu haben hatte ihr Spaß gemacht,
denn als Lehrerin hatte sie viel gelernt.
Aber das mußte selbstverständlich er entscheiden.
Woran lag es nur, daß Männer mit ihr befreundet sein konnten,
dann mit ihr ins Bett gingen, aber danach nicht mehr einfach nur
Freunde sein wollten, wenn eine Liebesbeziehung nicht
funktionierte?
Sie beendete die Kampfsequenz und schüttelte ihre Hände aus.
Sie war immer noch verkrampft.
Eine Brünette in Bürokleidung nickte Toni auf dem Weg zum
Wasserspender freundlich zu. Toni kannte die Frau nicht, nickte
aber geistesabwesend zurück. Das Problem mit Rusty zu lösen half
ihr nicht bei ihrem Problem mit Alex. Wie konnte sie seine
Aufmerksamkeit gewinnen?
Die Brünette ging in den Umkleideraum. Toni beachtete sie
nicht weiter, bis sie einen Augenblick später völlig aufgelöst
wieder herauskam.
»Entschuldigen Sie«, sprudelte sie heraus. »Einer Frau im
Umkleideraum geht es nicht gut. Offensichtlich hat sie irgendeinen
Anfall! Ich hab' den Medizinischen Dienst gerufen, aber ich
fürchte, sie könnte sich verletzen! Könnten Sie mir helfen?«
Toni nickte. »Sicher.«
Sie folgte der brünetten Frau in den Umkleideraum.
Freitag, 8. Oktober, 12 Uhr 18
Quantico
Alex Michaels hatte Jay Gridley und John Howard in den
kleinen Konferenzraum gebeten. Laut Vorschrift hätte Michaels
sich mit beiden getrennt zusammensetzen müssen, denn jeder
sollte nur noch die Informationen bekommen, die für ihn
unbedingt notwendig waren. Das war ihnen von den Ausbildern
eingebleut worden. Aber der Kommandeur hielt es für angebracht,
328
daß seine Spitzenleute über die Tätigkeit der jeweils anderen
aufgeklärt waren. Außerdem konnte Jay Gridley, wenn er wollte,
nahezu jede Information aus dem Computersystem herausholen.
Schließlich war er an der Entwicklung und der Installation beteiligt
gewesen.
»Jay?«
»Okay, Chef, die Sache stellt sich wie folgt dar.« Mit einer
wedelnden Handbewegung schaltete Gridley den Präsentationscomputer ein. »Wir haben es geschafft, uns einige von
Plechanows Aktivitäten der letzten Monate zusammenzu reimen.
Ich kann Ihnen Einzelheiten nennen und unsere Ge nialität
beweisen, mit der wir bestimmte Verbindungen geknüpft haben,
wenn Sie möchten.«
»Ihre Genialität setze ich voraus«, gab Michaels zurück.
»Informieren Sie uns nur über das Ergebnis.«
»Also gut. Es ist selbstverständlich nur eine Vermutung, aber
es sieht aus, als würde er versuchen, die eine oder andere
Regierung zu kaufen.«
Michaels nickte. Lobbyisten taten so etwas ständig, und
solange sie sich dabei im gesetzlichen Rahmen bewegten, war es
auch in Ordnung.
»Einige Leute, mit denen er in Verbindung steht, sind nicht so
vorsichtig wie Plechanow. Wir vermuten, daß es in seiner Hand
liegen könnte, wer in zwei, vielleicht drei GUS-Staaten,
einschließlich seiner Wahlheimat Tschetschenien, bei der nächsten
Wahl zum Präsidenten und Premierminister gewählt wird.
Eindeutige Beweise haben wir natürlich nicht. Dazu bräuchten wir
seine Dateien.«
»Welche Chancen haben wir auf eine legale Ausliefe rung,
wenn der Regierungschef, den wir darum bitten, Plechanow einen
großen Gefallen schuldet?« fragte Howard.
Die Frage war rhetorisch. Michaels beantwortete sie nicht.
»Mir gefällt das nicht besonders, Jay.«
»Nun, dann wird Ihnen der nächste Teil der Geschichte noch
weniger gefallen. Sie erinnern sich, daß wir einige Leute in
Plechanows unmittelbarer Umgebung plazieren konnten. Er hat
einige Generäle um sich versammelt.«
Howard sah zu Jay hinüber. »Toll.«
329
»Glauben Sie, er plant einen Staatsstreich?« fragte Michaels.
Jay zuckte die Achseln. »Das kann man nicht mit Be stimmtheit
sagen. Aber legt man die Vorgehensweise dieses Kerls zugrunde,
würde ich sagen, die Möglichkeit ist durchaus gegeben.«
»Colonel?«
»Das ergibt einen Sinn, Sir. Sich selbst in eine Machtposition
wählen zu lassen wäre einfacher, aber wenn ich an seiner Stelle
wäre und Diebstahl und Sabotage, vielleicht noch Schlimmeres,
über den Computer inszenieren wollte, würde ich mir einen
Unterstützungsplan wünschen. Bringt eine Wahl nicht den
gewünschten Erfolg, hilft nur Waffengewalt. Ein wichtiger
militärischer Befehlshaber an der Seite, die Medien in der Hand,
und niemand weiß, was gespielt wird, bis es zu spät ist. Es wäre
eine gute Absicherung.«
Michaels blickte abwechselnd von einem zum anderen: »Das
heißt, selbst wenn wir beweisen könnten, daß der Russe sich einen
Wahlsieg erkaufen wollte, und wir je manden in einer
Machtposition davon überzeugen könnten ...«
»... würde er wahrscheinlich die ,Wahl sausenlassen und statt
dessen einen Bürgerkrieg anzetteln«, beendete Howard den Satz.
»Bis jemand von außerhalb eingreift, wäre die Sache schon
gelaufen und nicht mehr rückgängig zu machen.«
»Mist.«
»Ja, Sir«, pflichtete Howard bei. »Ich glaube, damit läßt sich
die Lage ganz gut zusammenfassen.«
Michaels stieß einen tiefen Seufzer aus. Meine Güte. In was für
ein Wespennest hatten sie da gestochen!
»Okay, Colonel. Haben Sie bessere Nachrichten für mich?«
»Das ist relativ, Sir. Mein Szenario für den günstigsten Fall
einer Operation zur, äh, Abholung von Mr. Plechanow liegt bei
achtungsiebzig Prozent.«
»Das ist gut, öder?«
»Es wäre mir lieber, das Strategie- und Taktikprogramm hätte
eine höhere Erfolgsaussicht errechnet, aber alles, was über siebzig
Prozent liegt, ist, militärisch betrachtet, akzeptabel. Allerdings hält
kein Schlachtplan einer Feindberührung stand.«
»Lassen Sie mich sehen«, bat Michaels.
»Sir. Hier bitte.«
330
Michaels' Sekretärin betrat den Raum. »Commander? Toni
Fiorella auf der Privatleitung.«
Mit einer Handbewegung bedeutete Michaels ihr, daß sie
wieder gehen konnte. »Meine Herren, lassen Sie mich kurz
telefonieren.«
Der Colonel und Gridley nickten und lehnten sich zurück, um
ihre Präsentationsunterlagen durchzusehen.
»Hallo?«
»Commander Michaels? Hier ist Christine Wesson von der
Abteilung Beschaffung. Ich bin beim Training im Kraft raum, und
Subcommander Toni Fiorella bat mich, sie anzurufen. Ich benutze
ihr Virgil. Sie hatte einen Unfall. Der Medizinische Dienst ist
verständigt. Ich glaube, sie hat sich das Bein gebrochen.«
Toni verletzt? »Das Bein gebrochen?«
»Eines der Trainingsgeräte ist auf sie gestürzt. Sie behauptet,
sie sei in Ordnung, ich solle Ihnen nur Bescheid sagen, daß sie zu
spät ins Meeting komme. Aber unter uns gesagt, sie hat starke
Schmerzen.«
»Ich komme«, sagte Michaels.
Die beiden anderen Männer sahen auf. Sie hatten das Ende des
Gesprächs mitbekommen, auch wenn sie vorgegeben hatten,
beschäftigt zu sein.
»Ist mit Toni alles in Ordnung?« fragte Jay.
»Anscheinend ja. Irgendein Trainingsgerät hat versagt. Der
Medizinische Dienst schickt jemanden, aber ich will selbst nach
dem Rechten sehen. Stecken Sie inzwischen Ihre Köpfe
zusammen, und versuchen Sie, mehr Licht ins Dunkel zu bringen.
Ich bin in ein paar Minuten zurück.«
»Wird gemacht, Chef.«
»Sir.«
Michaels trat in den Korridor hinaus.
331
Freitag, 8. Oktober, 12 Uhr 28
Quantico
Halb in der Duschkabine stehend, hielt Selkie die Waffe auf
die Frau gerichtet, die im Schneidersitz auf dem geka chelten
Boden der Dusche saß. Für jeden Hereinkommenden war weder
Fiorella noch die Pistole zu sehen. Selkie war versucht, ihre Geisel
zu erschießen, aber sie wollte we der den lauten Knall riskieren,
noch wertvolle Munition verschwenden. Wenn etwas schiefginge,
würde sie sich mit der Waffe den Fluchtweg freischießen müssen.
Außerdem brauchte sie die Frau, um die Zielperson hereinzulokken; danach würde Fiorella genauso wie Michaels ohnehin sterben.
Mit ihrem handlichen Keramikmesser, das unter dem Rock an
ihrem Oberschenkel verborgen war, würde sie mit beiden kurzen
Prozeß machen. Dann würde sie die Leichen in einer der
Duschkabinen verstauen und die Blutlachen fortspülen. Bevor man
die beiden Toten entdeckte, wäre sie bereits über alle Berge. Ein
Doppelmord in der Zentrale der Net Force - darüber würde man
noch lange sprechen.
Fiorella bewegte sich.
»Lassen Sie die Hände hinter dem Kopf«, befahl Selkie.
»Sie haben keine Chance.«
»Sie können sich drehen und winden, soviel Sie wollen, Sie
werden es trotzdem nicht mehr erleben.«
»Wir kennen Ihre Identität.«
»Aha.«
»Sie sind längst nicht so gut, wie Sie glauben ... Mora
Sullivan.«
Das überraschte sie. Wie, zum Teufel, hatten sie das herausgefunden? Ein Gefühl der Panik stieg in ihr auf, aber sie
kämpfte dagegen an. Sullivan war nur noch irgendein Name, eine
weitere Identität, die sie ablegen würde. Und dennoch ... »Ich
glaube, wir müssen uns ein wenig unterhalten, bevor ich gehe«,
sagte Selkie.
Die andere hatte Angst - zu Recht - dennoch entgegnete sie:
»Das glaube ich nicht.«
332
Schon wieder eine mutige Frau. Verdammt. Schade, daß sie sie
töten mußte.
»Toni?« Die Stimme drang durch die Tür des Umkleideraums.
»Hier drinnen!« antwortete Selkie. »Schnell!«
Sie hörte den Klang rascher Schritte. Ihr Gesicht verzog sich zu
einem Lächeln.
333
37
Freitag, 8. Oktober, 20 Uhr 37
Grosny
Plechanow brauchte nicht in die virtuelle Realität einzusteigen,
um festzustellen, daß seine Pfade überall beschädigte
Stolperdrähte aufwiesen. Sie kannten seine Identität und
erkundeten jeden greifbaren Aspekt seines Lebens. Viel würden
sie vermu tlich nicht finden, aber dennoch wuchs seine
Beunruhigung immer mehr. Dieses gräßliche Kind, das
anscheinend für die Net Force arbeitete, übertraf seine Cleverneß
zwar nur an Schnelligkeit, aber ein intelligenterer Mensch könnte
durchaus bestimmte Muster erkennen und eine Schlußfolgerung
daraus ziehen, die niemand ziehen sollte. Vielleicht gaben sie auch
alle Informa tionsbröckchen in einen KI-Analogrechner ein, der
sicher eine Verbindung herstellen konnte, für die ein Mensch nicht
die nötige Intelligenz besaß. Das gefiel Plechanow absolut nicht.
Dabei stand er kurz vor dem Ziel; in wenigen Tagen fanden die
vorgezogenen Wahlen statt. Er mußte seine Verfolger nur noch ein
wenig länger hinhalten, dann würde ihr Wissen keine Rolle mehr
spielen. Schon jetzt war es vermutlich zu spät, als daß ihm jemand
noch einen Strich durch die Rechnung machen konnte. Aber er war
ein vorsichtiger Mann. Ihm war oft. gesagt worden, er sei übervorsichtig, halte sich noch mit Überprüfungen auf, während er
eigentlich schon zur Tat schreiten sollte. Aber diese Leute hatten
sich geirrt. Wo waren diejenigen jetzt, die solchen Blödsinn von
sich gegeben hatten? Jedenfalls nicht in der Machtposition, in der
er sich befand. Sie standen nicht wie er kurz davor, über das
Schicksal von Millionen Menschen zu bestimmen.
Nein, er würde sich noch einmal zusätzlich absichern, seinen
Verfolgern etwas liefern, was sie beschäftigte. Ein weiteres
Hindernis, um sicherzugehen, daß sie darüber fallen und sich nicht
rechtzeitig wieder aufrappeln konnten, um ihn zu fassen.
Er griff zum Telefon und tippte die Nummer des Ge wehrs ein.
334
Freitag, 8. Oktober, 12 Uhr 37
Quantico
Alle Achtung, dachte Selkie. Sobald der Mann die Waffe sah,
war ihm klar, was gespielt wurde. Sie wies mit der Pistole kurz
nach hinten, wo die Frau in der Dusche saß. »Keine Bewegung,
oder sie stirbt.«
Die Zielperson nickte. »Ich verstehe. Ich bin unbewaffnet.« Er
spreizte seine Finger, um ihr zu zeigen, daß seine Hände leer
waren.
Selkie schüttelte den Kopf. Wie dumm von ihm, ke ine Waffe
zu tragen.
»Okay. Hier herüber, aber langsam und keine falsche
Bewegung.«
Michaels fühlte die Furcht in seinen Eingeweiden rumoren wie
kalte Glasscherben. Dennoch war ihm klar, daß er die Attentäterin
angreifen mußte. Er mußte verhindern, daß sie Toni erschoß.
Wenn es sein Ende bedeutete, dann würde er aufrecht sterben, der
Gefahr ins Auge sehen und nicht vor ihr weglaufen.
Er holte langsam und tief Luft. Dann hielt er den Atem an ...
Völlig regungslos dasitzend, beobachtete Toni das Geschehen.
Ihr blieb nicht mehr viel Zeit für ihren Angriff. Sie versuchte,
ruhig und gleichmäßig zu atmen, aber es fiel ihr schwer. Vor ihr
stand die Mörderin, die Frau, die nicht nur Ray Genaloni auf dem
Gewissen hatte, sondern Alex umbringen wollte und vielleicht
auch Steve Day getötet hatte. Soviel stand fest: Wenn Toni nichts
unternahm, würde die Frau sowohl mit ihr als auch mit Alex
kurzen Prozeß ma chen. Ihre Waffe war zwar aus Keramik, aber
das machte sie nicht weniger tödlich.
Aus dem Schneidersitz hochzuschnellen hatte sie schon
tausendmal geübt. Ein Silat-Kämpfer mußte in der Lage sein, vom
Boden aus zu kämpfen. Wenn die Frau nur fünfzehn Zentimeter
näher bei ihr stünde, könnte sie sie mit einem gezielten Fußtritt
erreichen.
Wenn ...
»Toni? Sind Sie in Ordnung?« fragte Alex.
335
»Ja«, antwortete sie.
Alex kam langsam näher, während die Attentäterin die Waffe
weiterhin auf sie gerichtet hielt. Toni war sich darüber im klaren,
daß sie erschossen werden würde, wenn sie sich bewegte, aber
Alex hätte dadurch eine oder zwei Sekunden Zeit gewonnen. Sie
mußte es tun.
Sie sog die Luft langsam und tief ein. Dann hielt sie den Atem
an. Konzentrierte sich ...
Da brüllte jemand: »Keine Bewegung! FBI!«
Toni Fiorella richtete ihren Blick auf die schemenhafte Gestalt,
die durch die Tür der Duschkabine zu erkennen war.
Rusty ...?!
Selkie reagierte, ohne zu überlegen, fast reflexartig. Als der
Mann an der Tür in den Umkleideraum sprintete, einen
waffenähnlichen Gegenstand auf sie gerichtet, riß sie ihre Pistole
blitzartig herum und drückte ab. Trotz ihres gerin gen Gewichts
bäumte sich die kleine Waffe in ihrer Hand auf. An der Reaktion
des Mannes sah sie, daß sie ihn in die Brust getroffen hatte. Er
ging zu Boden. Keine kugelsichere Weste ...
Unverständliche Worte brüllend, stürzte sich in diesem
Moment die Zielperson auf sie.
Ihr blieb nicht mehr genug Zeit, um ihr Messer zu zükken. Sie
richtete die Pistole auf den Angreifer und drückte ab ...
»Nein ...!« schrie die Geisel in der Dusche. Sie schnellte hoch
und rammte Selkie, so daß beide in hohem Bogen zu Boden
stürzten. Sie verlor die Pistole und schlug hart neben einer Bank
auf. Mit einer Schulterrolle kam sie wieder auf die Füße, gerade
als Fiorella sich ebenfalls aufgerappelt hatte.
Selkie schleuderte die Schuhe von den Füßen und zerrte sich
den Rock vom Leib. Sie griff nach dem Messer und riß es sich
vom Oberschenkel. Die Waffe lag so in ihrer Hand, daß sie ihr
Gegenüber sowohl aufschlitzen als auch darauf einstechen konnte.
Sie warf einen Seitenblick auf die Zielperson: Der Mann lag auf
dem Boden, offensichtlich ins Bein getroffen - keine Gefahr mehr
für sie. Das Problem bestand in Fiorella. Sie war noch nicht außer
Gefecht gesetzt, trainiert und auf einen Kampf gefaßt.
336
Selkie drehte sich zu ihr um, das Messer in der Hand. Eile war
geboten, denn die Schüsse hatten sicher Aufmerksamkeit erregt.
Die Techniken des Straßenkampfes hatte sie zuerst von ihrem
Vater gelernt, der einige Kämpfe Mann gegen Mann ausgetragen
und überlebt hatte. Seither hatte sie mit einem halben Dutzend
Kämpfern trainiert, einschließlich ein paar Philippinos, die Meister
im Stock- und Messerkampf waren. Sie würde die Frau
niederstechen, der Zielperson den Todesstoß versetzen und
verschwinden. Wenn sie sich beeilte, könnte sie in der allgemeinen
Verwirrung entkommen.
Langsam ging sie auf Fiorella zu ...
Michaels spürte, wie die Kugel ihn traf. Es war, als würde ein
Schlosserhammer dumpf gegen die Vorderseite seines rechten
Oberschenkels schlagen. Er stürzte zu Boden. Und obwohl die
Schmerzen noch erträglich waren; gelang es ihm nicht, wieder
hochzukommen. Das angeschossene Bein verweigerte seinen
Dienst.
Vor ihm stand Toni der Killerin gegenüber, die ihren Rock
zerrissen und ein Messer mit weißer Klinge gezogen hatte. Die
Attentäterin schob sich langsam auf Toni zu. Noch war nicht alles
verloren. Er mußte etwas tun ... Die Waffe! Die hatte sie fallen
gelassen. Wo war das Ding ...?
Zum erstenmal, seit die Mörderin die Pistole auf sie gerichtete
hatte, fühlte Toni sich wieder etwas ruhiger. Ein Angreifer mit
einem Messer - mit dieser Situation hatte sie sich beim Training
oft genug beschäftigt. Oben, unten, wiederholte sie im Geiste. Das
Wichtigste war, die Stichwaffe unter Kontrolle zu bekommen, ein
Fausthieb konnte gegen ein zustechendes Messer nichts ausrichten.
Man mußte einmal oben und einmal unten angreifen. Der Arm mit
dem Messer mußte an zwei Punkten gestoppt werden, oben und
unten, um die Waffe unter Kontrolle zu brin gen ...
Selkie ging zum Angriff über, ihr Gleichgewicht haltend.
Fiorella stand ihr gegenüber und beobachtete sie abwartend. Die
andere schien zu wissen, was sie tat. Das spielte im Moment keine
Rolle. Sie mußte die Sache beenden und verschwinden.
337
Selkie täuschte einen Tritt an und machte einen Satz nach
vorn...
Mit dem Armrücken abwehren, mit dem Armrücken, wo es
weniger verletzbare Blutgefäße gibt! Die Anweisungen ihres
Gurus fielen Toni ein, kristallklar und so scharf wie die sich
nähernde Klinge: Gegen einen Experten hast du keine Chance.
Biete ihm möglichst wenig Angriffsfläche.
Der Tritt war nur eine Scheinattacke, aber der Angriff mit dem
Messer auch. Denn als Toni ihren linken Arm nach oben riß, um
den Angriff abzublocken, zog die Attentäterin das Messer zur
Seite. Die Klinge schnitt tief in ihren Unterarm knapp unterhalb
des Ellenbogens ein.
Es spielte keine Rolle. Daran würde sie nicht verbluten. Ihre
Hand konnte sie noch bewegen. Sie korrigierte die Stellung ihrer
Füße und wartete ...
Fiorella reagierte nicht auf den Schnitt, sah ihn sich nicht
einmal an, sondern behielt ihre Angreiferin weiter im Auge. Selkie
lächelte. Die andere war gut, aber die Zeit wurde knapp.
Sie kannte eine todsichere Angriffssequenz: Zwei
Scheinattacken, das Messer in die andere Hand, dann den
Todesstoß zwischen die Rippen direkt ins Herz und zum Schluß
die Kehle durchschneiden. Beim Training hatte es immer
funktioniert, und in einem echten Kampf hatte sie mit dieser
Methode bereits einen Mann getötet.
Die Party war vorüber. Es wurde Zeit, daß sie das tat, was sie
am besten konnte, und sich aus dem Staub machte.
Selkie ging zum Angriff über ...
Die Angreiferin kam auf sie zu, täuschte eine Attacke an,
duckte sich, dann schnellte ihr Arm nach vorn. Doch statt
zuzustechen, warf sie das Messer blitzschnell in die andere Hand,
während Toni in Abwehrposition ging. Hätte sie das als
Außenstehende beobachtet, wäre Toni beeindruckt gewesen, aber
dazu war jetzt keine Zeit. All die Jahre harten Trainings mußten
sich jetzt bewähren, zum Denken kam sie nicht mehr ...!
338
Toni veränderte ihre Stellung und wehrte den vorgetäuschten
Angriff ab. Dann ging sie in Position, bereit, der Angreiferin den
Arm zu brechen. Mit der rechten Hand stoppte sie den
zustechenden Arm der Gegnerin am Handgelenk - unten. Das Blut
spritzte aus ihrer Wunde am Unterarm, als sie mit dem linken
Handrücken unter den Ellenbogen der Gegnerin schlug - oben.
Der Knochen krachte, und das Messer fiel zu Boden. Toni
schob sich näher heran, drückte den außer Gefecht gesetzten Arm
zur Seite und rammte der Frau ihren Ellenbogen ins Gesicht. Als
diese zurücktaumelte und hart gegen die Spinde knallte, folgte sie
ihr. Mit dem Knie hieb sie ihrer Gegnerin in den Bauch, wandte
dann den Sapu luar an und ließ sie zu Boden gehen. Die andere
schlug hart mit dem Gesicht auf, rollte sich aber blitzartig zur
Seite. Sie schob sich zum Messer und ergriff es mit der gesunden
Hand. Dann richtete sie sich auf und zielte, um das Messer zu
werfen.
Aus ihrer gebrochenen Nase strömte das Blut, und quer über
ihrer Augenbraue klaffte eine Platzwunde ...
Inzwischen war Selkie klar, daß Fiorella ihr im Nahkampf
überlegen war, auch wenn ihr Arm nicht gebrochen gewesen wäre.
Eine Chance hatte sie noch. Das Messer eignete sich als
Wurfwaffe zwar nicht besonders gut, aber es würde ihre Gegnerin
zurückdrängen, unabhängig davon, ob sie sie mit der Spitze oder
dem Griff traf. Sie hatte verloren, doch es gab noch ein
Entkommen ...
Die Waffe neben ihrem Ohr an der Klinge haltend, zielte
Selkie mit dem Ellenbogen auf ihr Opfer.
Michaels entdeckte die weiß schimmernde Pistole, rollte -über
das verletzte Bein - au, jetzt tat es verdammt weh -und gab ihr
einen Schubs, bis sie vor ihm lag. Er brüllte, um die Frau davon
abzulenken, das Messer zu werfen. »He!«
Sie ließ sich nicht beirren und holte zum Wurf aus ...
Er drückte den Abzug.
Durch den Rückstoß wurde ihm die Waffe aus der Hand
geschleudert. Der Knall war so laut, daß es sich anhörte, als würde
neben ihm eine Bombe hochgehen.
339
Einen Moment lang geschah nichts. Eine Ewigkeit verstrich.
Niemand rührte sich.
Das Messer flog durch die Luft - schepperte aber knapp zwei
Meter vor dem Ziel zu Boden.
Er hatte sie getroffen. Mitten in den Rücken. Die Frau fiel auf
die Knie, versuchte mit der Hand die Wunde zu erreichen, schaffte
es aber nicht. Sie drehte sich zu ihm um. In ihrem Gesicht lag
Verwunderung, sonst nichts. Dann kippte sie zur Seite weg.
Toni rannte zu Alex hinüber. »Alex!?«
»Mir geht's gut, sie hat nur mein Bein erwischt.«
Aufgeregte Stimmen näherten sich. Der Klang überrollte sie.
»Sie sind verletzt«, sagte er.
»Nur ein oberflächlicher Schnitt. Sieht schlimmer aus, als es
ist«, antwortete sie. »Bleiben Sie liegen, ich hole ein .paar
Handtücher.«
»Ich geh' nirgendwohin.«
Sie stand auf. Dann fiel ihr Rusty ein. Sie eilte zu der Stelle, an
der er zu Boden gegangen war. Seine Augen waren weit geöffnet,
er blinzelte nicht. In seiner Brust klaffte eine blutige Wunde. Seine
Atmung hatte ausgesetzt, und an seinem Hals war kein Pulsschlag
zu fühlen.
Zwei der Männer, die im Kraftraum gewesen waren, stürzten
herein. »Er braucht Hilfe!« rief sie und zeigte auf Rusty. Sie fiel
neben ihm auf die Knie.
Ein dritter Mann kam hinzu. »Wir machen das schon, Toni«,
sagte einer von ihnen. »Versorgen Sie zunächst mal Ihre Wunde.«
Alex war inzwischen zu der Frau hinübergerobbt. Er drehte sie
auf den Rücken. Die Mörderin stöhnte leise. Sie sah ihn an. Toni
kam wieder zu Alex und der Attentäterin hinüber. Sie entdeckte
ein Handtuch, das sie nun auf Alex' Wunde am Bein preßte.
»Au.« Sein Blick fand den ihren. »Danke.« Dann richtete er
seinen Blick wieder auf die Attentäterin.
»Scheiß ...kerl«, stieß die Frau hervor. Ihre Stimme wurde von
gurgelnden Lauten begleitet. Wahrscheinlich hatte sie innere
Blutungen in der Lunge.
»Wer hat Sie dafür bezahlt, Steve Day zu töten?« fragte
Michaels.
340
Obwohl die Frau schon im Sterben lag, lachte sie. Es war ein
gurgelndes, nach Flüssigkeit klingendes Geräusch. »Wen?«
»Day, Steve Day.«
»Kenn' ich nicht«, sagte sie. »Ich vergesse ... nie ... eine
Zielperson. Er gehört nicht zu ... meinen Opfern.«
»Sie haben Steve Day nicht getötet?« hakte Alex nach.
»Wohl taub?! Ich wurde angeheuert ... um Sie zu erledigen.
Ich... Genaloni ... geht auch auf mein Konto. Und einige andere.
Ich weiß nicht...«
Ihre Augen brachen. Völlig unvermittelt. Was immer sie hatte
sagen wollen, wurde mitten im Satz gekappt. Ein letztes Mal
preßte die Lunge die Luft gurgelnd heraus, dann war Selkie tot.
Alex und Toni sahen sich an. Jemand vom Medizinischen
Dienst kam hereingeeilt. Plötzlich schien der Raum voller Leute.
Toni verspürte einen unwiderstehlichen Drang, Alex in die Arme
zu schließen. Sie gab dem Gefühl nach.
Er ließ es zu. Und erwiderte ihre Umarmung.
341
38
Freitag, 8. Oktober, 13 Uhr 02
Quantico
Zum Medizinischen Dienst im Hauptgebäude gehörten ein Arzt
und mehrere Krankenschwestern. Falls sie einen Patienten nicht
ambulant behandeln konnten, stand ihnen ein Rettungswagen zur
Verfügung. Der Betriebsarzt nähte Lonis Schnittwunde am Arm
mit achtzehn Stichen. Dann sprühte er einen Trockenverband auf
die Wunde und gab ihr eine Tetanusspritze. In fünf Tagen mußte
sie die Fäden ziehen lassen.
Röntgenaufnahmen von Michaels' Bein zeigten, daß es sich um
einen glatten Durchschuß handelte. Die Kugel war an der
Außenseite in den rechten Oberschenkel eingedrungen, vom
Oberschenkelknochen abgeprallt, ohne einen Bruch zu
verursachen, und unterhalb des Gesäßes wieder ausgetreten. Der
Durchschuß hatte keinen größeren Schaden angerichtet - mit
Ausnahme von zwei kleinen Löchern, die etwa so groß waren wie
die Spitze von Michaels' kleinem Finger. Der Arzt säuberte und
verband die Wunden, sie zu nähen hielt er nicht für erforderlich.
Michaels bekam ebenfalls eine Tetanusspritze sowie ein Paar
Krücken verabreicht. Der Mediziner gab ihm noch den guten Rat
mit auf den Weg, sich in den nächsten Wochen das Fußballspielen
zu verkneifen. Dann ließ er beiden von der Krankenschwester
einige Schmerztabletten geben. Denn am nächsten Tag würden sie,
so seine Prophezeiung, stärkere Schmerzen verspüren als im
Moment. Außerdem blie be es ihnen überlassen, ob sie in die
Notaufnahme fahren wollten, um dort einige Stunden auf eine
zweite Diagnose zu warten.
Sowohl Toni als auch Michaels lehnten eine Fahrt in die
Notaufnahme ab.
Statt dessen kehrten sie in Michaels Büro zurück. Alex setzte
sich auf die Couch, das Gewicht auf die gesunde Hüfte verlagert,
während Toni sich an die Tür lehnte.
342
»Beunruhigt Sie etwas, Alex?«
»Sie meinen, außer der Tatsache, daß ich mir eine Kugel
eingefangen habe?«
»Ja.«
»Ich kam mir nicht gerade sehr heldenhaft vor bei der Sache im
Umkleideraum«, gab er zu.
»Wie bitte?«
»Ich hätte wesentlich mehr tun müssen.«
»Sie kamen mir zu Hilfe. Sie haben eine Mörderin mit einer
Waffe angegriffen, obwohl Sie unbewaffnet waren. Dann haben
Sie es geschafft, sie zu erschießen, obwohl Sie selbst verwundet
waren. Was verstehen Sie unter heldenhaft? Wenn Sie ohne Anlauf
über ein Hochhaus springen?«
Ein kleines Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. »Na ja, Sie
haben wohl recht. Trotzdem hat es mich eher an Larry und Curly
auf Mörderjagd erinnert«, entgegnete Michaels.
Sie sah ihn fragend an.
»Zwei der >Three Stooges<«, erklärte er. »He, Larry! He,
Moe! Da ist der Killer, na wo, wo, wo!«
»Ach, richtig. Meine Brüder haben sich die alten Videos immer
angeschaut. Männer scheinen sich dafür eher begeistern zu
können. Ich fand sie nie besonders witzig. Zu brutal.« Sie lächelte
über diese Ironie.
»Es tut mir wirklich sehr leid wegen Ihres Freundes, dem
FBI-Rekruten.«
»Ja, mir auch.«
Beide schwiegen eine Weile. Dann fragte Alex: »Meinen Sie,
sie hat die Wahrheit gesagt? Über Steve Day?«
Toni zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Sie hat den Mord an
Genaloni und >einigen anderen< zugegeben. Warum sollte sie
wegen Day lügen?«
»Vielleicht, um uns an der Nase herumzuführen«, vermutete
Michaels.
»Diese Möglichkeit sollten wir nicht außer acht lassen. Haben
Sie ihr denn geglaubt?«
Er nickte. » Ja, allerdings. Ich hatte schon vorher den Ein druck,
das Attentat auf Day war nicht ihr Stil. Ihre Aussage bestätigt
diesen Verdacht.«
343
»Wenigstens ist sie nicht mehr hinter Ihnen her.«
»Nein. Aber das bedeutet, daß jemand anderes hinter Days
Ermordung steckt.«
»Jemand, der offensichtlich wollte, daß wir die Mafia für
verantwortlich halten«, sagte Toni.
Wieder nickte er. »Erinnern Sie sich an die Sache mit
Genalonis bestem Mann, der spurlos verschwand? Die Mafia
vermutete, das FBI hätte ihn sich geschnappt.«
»Ja.«
»Ich bin sicher, daß die Drahtzieher Genaloni durch den Tod
seiner rechten Hand verärgern wollten. Dabei wußten sie ganz
genau, wie sie den Verdacht auf uns lenken konnten.«
»Sieht aus, als hätte es funktioniert. Wenn Genaloni dachte, die
Net Force wäre hinter ihm her, könnte er jemanden angeheuert
haben, um zum Gegenschlag auszuholen. In seinen Kreisen löst
man Probleme am besten' mit Geld oder mit Gewalt.«
Michaels verlagerte sein Gewicht etwas. Das Bein hatte
mittlerweile stark zu pochen begonnen. Er überlegte, ob er eine
Schmerztablette nehmen sollte, verwarf den Gedanken aber. Ein
klarer Kopf war jetzt wichtiger, als sich zu betäuben und
schmerzfrei zu sein.
»Also sind wir im Fall Day wieder da, wo wir angefangen
haben«, sagte Toni.
»Nein. Ich weiß, wer es war.«
Sie sah ihn an. »Wer?«
»Der Russe. Plechanow.«
Sie dachte kurz darüber nach. »Wie kommen Sie darauf?«
»Es gehörte die ganze Zeit zu seinem Plan, die Net Force zu
beschäftigen, während er an der Machtübernahme bastelte. Der
Anschlag auf Day, die Zerstörung unserer Abhöreinrichtungen, die
Terroristen, die er uns weltweit prä sentierte. Er wollte, daß wir so
beschäftigt waren, daß wir seine Aktivitäten nicht bemerkten. Auf
eine etwas verdrehte Weise ergibt alles einen Sinn.«
»Ich weiß nicht recht, Alex. Möglich wäre es, aber ...«
»Er war es. Da bin ich mir ganz sicher. Er war bereit, Systemabstürze herbeizuführen, die Todesopfer im Straßenverkehr
und in der Industrie gefordert haben. Von dort ist der Sprung,
einen Killer anzuheuern, nicht mehr groß. Wir haben in der
344
falschen Richtung gesucht, genau dort, wo Plechanow es wollte.
Ein schlauer Fuchs.«
Toni sah ihn an. »Angenommen, Sie hätten recht. Wie können
wir das beweisen? Wenn er sich wirklich so gut mit Computern
auskennt, wie Jay meint, können wir nicht an seine Dateien
herankommen. Doch 'ohne entsprechende Daten haben wir nur ein
paar Indizienbeweise, die nicht ausreichen.«
»Plechanow könnte uns die Dateien öffnen. Er hat den
Schlüssel.«
»Er hätte doch keinen Grund dazu. Selbst wenn wir ihn gefaßt
hätten, was nicht der Fall ist.«
»Wir müssen uns nur die richtige Fragestellung ausdenken.
Nachdem wir ihn kassiert haben.«
Toni schüttelte den Kopf. »Die obere Etage wird da nicht
mitmachen, Alex. Walt Carver ist in der Politik ein viel zu hohes
Tier, um das zu riskieren. Und selbst wenn er es wollte, könnte er
weder das Foreign Covert Operations Committee noch die CIA
dazu bewegen mitzuziehen. Das FCOC hat sich bei dieser Art von
Operationen schon zu oft die Finger verbrannt. In den letzten zwei
Jahren haben sie keine militärische Aktion genehmigt, wenn nicht
mit der Unterstützung der einheimischen Bevölkerung oder zumindest ihrer stillschweigenden Duldung der Aktion zu rechnen
war - wie bei der Sache in der Ukraine.«
»Dieser Mann hat Steve Day ermorden lassen. Und er ist
verantwortlich für den Tod weiterer Menschen. Er steht kurz
davor, eine Wahl zu manipulieren, mit der er strafrechtlich
unantastbar wird. Und wir können ihm nicht das Handwerk legen
wegen diesem Bürokratie mist?«
»Ich weiß, wie es Ihnen geht, aber nur zu fragen wäre schon
Zeitverschwendung«, entgegnete Toni.
»Gut. Dann fragen wir eben nicht«, antwortete Michaels.
Sie starrte ihn prüfend an. »Alex ...«
»Es gibt einen Unterschied zwischen Recht und Ge rechtigkeit.
Der Kerl kommt nur über meine Leiche davon. Dieses Gespräch
hat nie stattgefunden, Toni. Sie wissen von nichts.«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »O nein, so einfach werden Sie
mich nicht los. Wenn Sie etwas Dummes vorhaben, werde ich
dafür sorgen, daß Sie es richtig machen. Ich bin dabei.«
345
»Das müssen Sie nicht.«
»Steve Day war auch mein Vorgesetzter. Ich möchte, daß der
Mörder seine gerechte Strafe erhält.«
Beide schwiegen eine Weile. Dann schlug Michaels vor: »Wir
sollten John Howard herbitten.«
»Glauben Sie, daß er mitspielt?«
»Wir werden es ihm nicht erzählen. Er arbeitet für mich. Wenn
etwas schiefläuft, wird es nur meinen Kopf kosten. Was er nicht
weiß, kann ihm nicht schaden.«
»Halten Sie das für fair?«
»Es ist nur zu seinem eigenen Schutz. Er bekommt einen seiner
Meinung nach ordnungsgemäßen Befehl und ist gedeckt.«
»Ihre Entscheidung, Alex.«
»Allerdings. Und es wird jetzt langsam Zeit, daß ich einige
Entscheidungen treffe, die die ganze Sache voranbrin gen.«
Samstag, 9. Oktober, 5 Uhr
Luftraum über der Hudson Bay
»Also gut, Sergeant Superhirn, lassen Sie hören.«
Howard kannte den Plan - er hatte ihn entworfen -, aber es
würde nicht schaden, ihn sich ins Langzeitgedächtnis
einzuhämmern. Eine weitere Gelegenheit, mögliche Fehlerquellen
zu entdecken.
Julio Fernandez grinste und ahmte den typischen Tonfall eines
Rekruten nach. »Sir, Colonel Howard, Sir!« Etwas we niger
übertrieben fuhr er fort: »Tschetschenien ist ein Binnenstaat. Im
Westen grenzt er an Inguschien, im Norden liegt Rußland, im
Osten Dagestan, im Süden Georgien. Die Landesgrenze im Westen
befindet sich etwa dreihundert Kilometer östlich des Schwarzen
Meeres, grob geschätzt. Hauptstadt und gleichzeitig größte Stadt
ist Grosny. Der Colonel findet detaillierte CIA-Karten des
Straßennetzes in seiner Laptopdatei, wenn und falls der Colonel
geruht, einen Blick darauf zu werfen. Die Bevölkerung setzt sich
346
hauptsächlich aus Tschetschenen und Russen zusammen, das
heißt...«
»Lassen Sie die geopolitische Landesgeschichte weg, Sergeant.
Kommen Sie zu strategischen und taktischen Einzelheiten«,
unterbrach ihn der Colonel.
»Wie der Colonel wünschen.« Fernandez grinste und entspannte sich. »Unsere beiden alten UH-1H-Hueys werden um
neunzehnhundert vom Militärtransporter in Wladikawkas in
Nord-Ossetien
abgeladen.
Ein
Entgegenkommen
der
Einheimischen, für das sie entsprechende Gegenleistungen von
den Vereinigten Staaten erwarten. Da wir Verbündete in der
Gegend haben wollen, werden diese Leistungen mit Sicherheit
erbracht werden.
Sobald wir auf dem Boden und einsatzbereit sind, werden wir
den Luftraum Inguschiens über eine Strecke von etwa fünfzehn
Kilometern verletzen müssen, um Tschetschenien zu erreichen.
Unser Kommandoposten wird außerhalb von Urus-Martan in
Tschetschenien aufgeschlagen, etwa fünfundzwanzig Kilometer
von der Landesgrenze entfernt. Insgesamt fliegen wir vierzig
Kilometer über wenig freundlich gesinntes Gebiet.
Beide Länder verfügen selbstverständlich über Radar und
Luftstreitkräfte. Allerdings ist es unwahrscheinlich, daß unsere
Hubschrauber, die im Dunkeln und auf Baumhöhe fliegen, außer
von ein paar Ziegen überhaupt bemerkt werden. Der Flug sollte
reibungslos über die Bühne gehen, wenn es auch etwas eng wird.
In Grosny erwartet uns ein Lastwagen, den unser VierMann-Abholteam von Urus-Martan aus auf den beiden russischen
Motorrollern erreichen wird, die wir in unseren abgedunkelten
Hubschraubern mit uns führen. Vespa-Verschnitte, glaube ich.
Besonders schnell sind sie nicht, aber von Urus-Martan bis Grosny
sind es nur etwa zwölf Kilo meter, und der Rückweg erfolgt per
Lastwagen. Ein ziemlich guter Tausch eigentlich, zwei Motorroller
gegen einen russischen Mörder. Die Einheimischen gewinnen
damit enorm.«
Howard bedeutete ihm fortzufahren.
»Wenn alles gut geht, kommen wir um zwoundzwanzighundert
an, richten unsere taktische Basis in einem alten Bauernhof ein,
der unseren Freunden, den Geheimagenten, gehört. Davon wissen
347
sie allerdings nichts, das gehört zu unserem VNDU-Prinzip bei
dieser Mission.«
Howard legte die Stirn in Falten. Ein neues Akronym.
»VNDU?«
»>Verrate nie deinen Unterschlupf«<, erklärte Fernandez. »Vor
allem nicht der CIA.« Er grinste von einem Ohr zum anderen.
»Das haben Sie gerade erfunden, oder?«
»Ich bin gekränkt, daß der Colonel so etwas von mir glaubt.«
»Sergeant Fernandez, ich glaube sogar, Sie würden einen
Eisbären wie einen Pudel trimmen und ihn >Fiffi< taufen.«
Fernandez lachte. »Sir. Zurück zu diesem Bauernhof. Es gibt
keine Nachbarn in Rufweite. Wenn alles läuft wie geplant, tuckert
unser Abholteam in die Stadt, holt den Lkw, schnappt sich den
Russen und kommt wieder zurück. Kurz nach Mitternacht sind wir
alle wieder in der Luft und auf dem Weg zu unserer äußerst
komfortablen 747, die uns vollgetankt auf dem Flughafen von
Wladikawkas erwartet. Als Zeichen unseres guten Willens lassen
wir die Transporthubschrauber für unsere neuen Freunde in
Nord-Ossetien zurück, besteigen das Flugzeug, und dann geht's ab
nach Hause. Alles nach Plan.«
»Falls alles nach Plan verläuft«, gab Howard zu bedenken.
»Sie machen sich zu viele Gedanken, Sir. Unsere Leute
sprechen fließend russisch und ein paar Brocken des örtlichen
Dialekts. Sie haben einwandfreie Reisepapiere und Ausweise und
können einer Mücke auf eine Entfernung von zehn Schritt die Eier
abschießen. Sie werden ihn schnappen. Und wenn es ein Problem
gibt, mit dem sie nicht fertigwerden, sind wir ja auch noch da.
Deshalb sitzen vierundzwanzig Mann auf dem Bauernhof und
putzen ihre Waffen, oder?«
Howard nickte. Daß die Mission genehmigt wurde, hatte ihn
insofern überrascht, als die politische Situation in Washington zur
Zeit etwas nebulös war. Er wollte keinen Krieg mit den
Tschetschenen anzetteln. Unabhängig davon, wer den ersten Schuß
abfeuerte, trüge er die Verantwortung und müßte für die Folgen
geradestehen. Nein, diesmal wollte er keinen Krieg. Nur
hinfliegen, den Mann herausholen und, wie Fernandez sagte,
wieder ab nach Hause. Diese Mission war zu heikel, als daß etwas
schiefgehen durfte.
348
Samstag, 9. Oktober, 10 Uhr
Springheld, Virginia
Rushjo und Gregori die Schlange befanden sich an einer
Tankstelle an der I-95, ganz in der Nähe des SpringfieldEinkaufszentrums. Rushjos Landkarte zufolge lag das alte
Fort-Belvoir-Versuchsfeld ein paar Meilen von hier entfernt auf
dem Weg nach Quantico. Er fragte sich, wie ein amerikanisches
Versuchsfeld aussehen mochte. Sicher hing es davon ab, was
getestet wurde, eine Waffe oder ein Fahrzeug.
Winters, der Texaner, war nach Hause gefahren, nach Dallas
oder Fort Worth oder was immer er als seinen Heimatort
angegeben hatte. Falls sie ihn in den nächsten Tagen dringend
brauchten, hatte er gesagt, könnten sie ihm unter der
Geheimnummer eine kurze Nachricht hinterlassen.
Sie hatten an der Tankstelle angehalten, weil Gregori ein
dringendes menschliches Bedürfnis verspürt hatte. Aus den
unterdrückten Schmerzenslauten, die aus der Toilette drangen,
schloß Rushjo, daß die ... kleine Schlange der großen Schlange
sich irgend etwas eingefangen hatte. Einen Tripper vermutlich, da
sich diese Ge schlechtskrankheit meistens durch Schmerzen beim
Pin keln äußerte. Als Soldat hatte Rushjo schon viele Männer
stöhnen hören, während sie vor sich hintröpfelten. Normalerweise
geschah das ein bis drei Tage, nachdem sie von einer Prostituierten
zurückkamen, deren Liebesdienste sie während eines Urlaubs in
Anspruch genommen hatten.
Das war die Quittung für die Abenteuer der~Schlange in Las
Vegas.
Gregori kam mit hochrotem Gesicht aus der Herrentoilette.
»Ich brauche Penicillin, Michail.«
»War sie es wert?«
»Zu dem Zeitpunkt ja, jetzt nicht mehr«, stöhnte Gregori die
Schlange.
»Ich glaube nicht, daß man hier ohne ein Rezept vom Arzt
Penicillin bekommt«, sagte Rushjo. Seine Miene blieb
ausdruckslos, obwohl ihm nach einem schadenfrohen Grinsen
zumute war. Das geschah dem Idioten recht.
»In der Nähe ist ein Zoofachgeschäft«, sagte Gregori. »Da
kann man es kaufen.«
»In einem Zoofachgeschäft?«
»Da. Die Amerikaner haben zwar Vorschriften, nach denen
Antibiotika nicht an Menschen abgegeben werden dürfen, aber für
Tiere gilt das nicht. Man kann Penicillin, Tetracyclin,
Streptomycin und sogar Chloramphenicol für seine Zierfische
kaufen. Man öffnet einfach die Kapseln und streut das Zeug ins
Wasser. Die Zusammensetzung ist nicht so konzentriert wie für
Menschen, und teuer sind die Dinger auch, aber sie helfen
genauso.«
Rushjo schüttelte erstaunt den Kopf. Nicht nur, daß in Amerika
so etwas möglich war - die Amerikaner konnten ihn mit ihrer
Dummheit nicht mehr überraschen -, aber daß die Schlange so
etwas wußte ... Das war wirklich in teressant. Woher hatte er diese
Informationen?
Rushjo fragte ihn danach.
»Ich hatte schon ein paarmal Pech in Liebesdingen«, gab
Gregori zu.
Rushjo starrte die Schlange ungläubig an. Ein Mann, der es
nicht besser wußte, war nur unwissend, wogegen man Abhilfe
schaffen konnte. Aber jemand, der es durchaus besser wußte und
dennoch den gleichen Fehler immer wie der beging? Das war reine
Dummheit, und dagegen half kaum etwas. »Also gut. Wir gehen in
das Zoofachgeschäft, damit Sie die Fischmedizin für Ihre kranke
smeja kaufen können. Dann müssen wir sehen, wie wir an die
Zentrale der Net Force herankommen. Am besten gehen wir als
Marines. Gibt es eine bessere Verkleidung an einem Ort wie
Quantico?«
»Alles, was Sie wollen, Michail, aber zuerst das Penicillin.«
350
Samstag, 9. Oktober, 22 Uhr 48
Urus-Martan, Tschetschenien
Howard warf einen Blick auf seine Uhr, dann sah er zum
Fenster des verfallenen Bauernhauses hinaus. Den Soldaten war es
gelungen, beide Helikopter in die riesige, wenn auch baufällige
Scheune zu manövrieren. Früher hatte es hier Einstellplätze zum
Melken der Kühe gegeben, aber man hatte die Scheune soweit
ausgeräumt, daß zwei zerbeulte Hueys darin versteckt werden
konnten. Die Hubschrauber sahen nicht besonders anziehend aus,
aber sie waren in technisch einwandfreiem Zustand. Ihr Anstrich
war dunkel, militärisch grün, nicht schwarz - für geheime
Missionen waren sie überaus geeignet. Mit Waffen waren sie nicht
bestückt, nicht einmal Maschinengewehre fanden sich an Bord. Es
handelte sich um reine Transporthubschrauber. Sehr schnell folgen
sie zwar auch nicht - ein vollbeladener Huey kam maximal auf
hundertzwanzig Knoten -, aber sie waren robust und zuverlässig.
Einem Luft-Luft -Flugkörper oder einer Boden-Luft-Rakete konnte
man ohnehin nicht mit einem Luftfahrzeug entkommen, das einen
Rotor auf dem Dach hatte. Einerseits konnten sie zwar nicht
kämpfen oder sich rasch aus dem Staub machen, andererseits
würde niemand sie abschießen können, da sie nicht zu sehen
wären. Sich zu verstekken war in diesem Szenario einer
Auseinandersetzung vorzuziehen.
»Status, Sergeant?«
Er wandte sich um. Julio stand hinter drei Spezialisten der
taktischen Computereinheit TacComp, die auf Hokkern vor einer
Bank mit fünf Feldcomputern saßen. Diese ruhten auf eigenen
Teleskopbeinen. Geöffnet erinnerten sie an sperrige Koffer, wobei
die Bildschirme im Kofferdeckel eingelassen waren. Die Systeme
waren zudem ziemlich häßlich - einfach, schmucklos, GI -grün -,
aber bei Hardware dieser Art kam es nicht auf das Aussehen, sondern auf die Leistung an. Es handelte sich um hochmoderne
900-MHz-Geräte, ausgestattet mit den neuen FireEye
bioneurochemischen Chips, jeder Menge faseroptischem
Lichtspeicherplatz und vierzehn Stunden Batterieleistung für den
Fall, daß die Steckdosen vor Ort nicht funktionierten.
351
»Sir, laut GPS-Signal befindet sich unsere Kommandotruppe
genau hier.« Fernandez wies auf eine Landkarte auf einem
Bildschirm, wo etwa in der Mitte ein kleiner roter Fleck stetig
blinkte. »Zwei Kilometer von ihrem Zielort entfernt.«
»Meldungen?«
»Ihr durchkodiertes Puls -Signal, das wir vor drei Minuten
auffangen konnten, war konstant ASG - Alle Systeme Grün.«
»Gut.«
Einer der TacComp -Spezialisten sagte: »Wir haben eine
Online-Bildübertragung vom Big-Bird -Spionagesatelliten, der das
Gebiet ausleuchtet. Sehen Sie selbst.«
Auf einem der Bildschirme erschien ein gespenstisch
phosphorgrüner Lastwagen in Luftaufnahme, der über die dunkle
Straße rollte. Jetzt bog der Lkw nach rechts ab. Als er eine
Straßenlampe passierte, waren einige Sekunden lang Umrisse auf
dem Dach des Fahrzeugs auszumachen. Der TacComp -Spezialist
lachte.
»Was ist so lustig?« fragte Howard.
Der Angesprochene gab einige Steuerbefehle ein. Die Sequenz
wurde angehalten und das Standbild langsam vergrößert. »Eine
kleine, unscharfe Zeichnung ... hier«, erklärte er. »Sehen Sie
selbst. Eine Botschaft vom Kommandotrupp.«
Die grobe, handgemalte Zeichnung auf dem Fahrzeugdach
gewann zunehmend an Schärfe, bis Howard sie erkennen konnte.
Es war eine Hand, deren Zeige- und Mittelfinger zu einem >V<
hochgereckt waren.
>V< für victory, Sieg. Howard lächelte.
»Sie schulden mir fünf Dollar, Sarge«, sagte der Computerspezialist.
Fragend zog Howard eine Augenbraue hoch.
»Wir hatten eine kleine Wette abgeschlossen, was die Jungs
auf das Fahrzeugdach malen würden, Sir«, erklärte Fernandez.
»Ich vermute, unser Computerfreund Jeter hat sie bestochen.«
»Worauf haben Sie getippt?« fragte Howard.
»Auf, äh, eine Zeichnung so ähnlich, äh, wie diese, Sir. Fast
gleich.«
»Bei der Zeichnung wäre es nur ein Finger gewesen, Sir«, warf
der TacComp -Experte ein. Er verzog keine Miene.
352
Howard mußte wieder grinsen. Ganz egal, wo sie waren und
welches Ziel sie vor sich hatten, Soldaten fanden doch immer eine
Möglichkeit, die Monotonie - oder die Spannung - abzumildern.
»Machen Sie weiter«, befahl Howard. Dann kehrte er zum
Fenster zurück.
Samstag, 9. Oktober, 23 Uhr 23
Grosny
Plechanow wollte ins Bett gehen und putzte sich gerade die
Zähne, als es an der Tür klingelte. Sein kleines, aber gut
eingerichtetes Haus befand sich in einer netten Wohngegend. Bald
würde er eine Villa in einer sehr viel vornehme ren Gegend
bewohnen, dachte er. Wenn die Zeit dafür gekommen war.
Wieder wurde die Türklingel betätigt. Diesmal mit Nachdruck.
Es war eigentlich viel zu spät für Besuch. Das konnte nichts
Gutes bedeuten.
Er spülte sich den Mund aus, trocknete das Gesicht ab und zog
sich einen Bademantel über den Pyjama. Bei dem kleinen
Beistelltischchen in der Nähe der Haustür blieb er stehen, öffnete
die Schublade und entnahm ihr die Luger, die sein Großvater 1943
von der Front in Deutschland mitgebracht hatte.
Die Pistole in der Hand, lugte er durch den Türspion nach
draußen.
Auf der Treppe vor dem Haus stand eine sehr attraktive junge
Frau. Ihre Haare waren zerzaust und der Lippenstift verschmiert.
Die dunkle Bluse hing aus der Hose heraus. Sie war nicht
zugeknöpft, sondern weit geöffnet, so daß man ihre Brüste sehen
konnte, die von keinem BH verdeckt wurden. Ihre Hose - sie trug
eine Jeans - stand offen, sie hielt sie mit einer Hand fest, während
sie in der anderen ihren BH zusammenknüllte. Anscheinend
weinte sie. Noch während er sie betrachtete, klingelte die junge
Frau erneut an der Tür. Er konnte sehen, daß sie schluchzte.
Mein Gott. War sie das Opfer einer Vergewaltigung geworden?
353
Plechanow ließ die Waffe sinken und öffnete die Tür. »Ja?
Kann ich Ihnen helfen?«
Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein Mann auf. Er trug
ebenfalls Jeans, dazu ein dunkles T-Shirt und eine blaue
Windjacke. Der Mann hielt Plechanow eine Waffe vor das
Gesicht. » Ja, Sir, das können Sie durchaus.« Das Russisch, das er
sprach, verriet keinen hiesigen Akzent.
Der Bewaffnete streckte die Hand aus und nahm Plechanow
vorsichtig die Luger ab. »Schöne Waffe«, sagte er.
»Wahrscheinlich einiges wert.«
Einen Augenblick später traten zwei weitere Männer hinzu. Sie
schienen aus den Büschen und der Dunkelheit aufzutauchen. Die
beiden Neuankömmlinge waren aus dem gleichen Holz geschnitzt
wie die Frau und der Bewaffnete: jung, fit und leger gekleidet.
Was ging hier vor? Wollte man ihn ausrauben? In jüngster Zeit
hatten sich kriminelle Vorfälle dieser Art gehäuft. Was wollten sie
von ihm?
Die Frau zog den Reißverschluß ihrer Hose hoch und schloß
den Knopf. Sie streifte die Bluse ab, zog den BH an -einer dieser
einteiligen Sportbustiers - und rückte ihn zurecht. Dann schlüpfte
sie wieder in die Bluse, knöpfte sie zu und steckte die Enden in die
Hose. Einer der Männer reichte ihr eine dunkelb laue Windjacke.
»Für uns brauchst du diese Show nicht abzuziehen, Bekky«,
sagte der Mann mit der Waffe.
»Das hättest du wohl gern, Marcus«, konterte die Frau.
»Darf ich Sie bitten, wieder hineinzugehen, Dr. Plechanow?«
bat der Bewaffnete höflich.
Er drückte sich korrekt aus, aber Plechanow war sich immer
noch nicht über den Akzent im klaren. »Sie sind weder Russe noch
Tschetschene«, stellte er fest.
»Ja, Sir«, erwiderte sein Gegenüber. Diesmal hatte er englisch
gesprochen.
Plechanows Magen verkrampfte sich. Es waren Amerikaner!
Mit der Waffe bedeutete. der Mann ihm hineinzugehen. »Ins
Haus, Professor. Sie möchten sich sicher etwas Geeig neteres für
die Reise anziehen. Wir werden gemeinsam einen größeren
Ausflug machen.«
354
Samstag, 9. Oktober, 23 Uhr 28
Urus-Martan
»Sie haben ihn!« rief Fernandez. »Sie sind unterwegs, geschätzte Ankunftszeit in zwanzig Minuten.«
Die Männer brachen in Jubelrufe aus. Howard ließ sie einen
Moment gewähren, dann unterbrach er den Freudentaumel.
»Genug. Wir wollen uns nicht zu früh freuen. Hubschrauber
startklar machen. Wir feiern erst, wenn wir wieder auf
amerikanischem Boden sind.«
Zehn Minuten später war Howard draußen in der Dunkelheit
und sah zu, wie die Piloten die Helikopter Warmlaufen ließen, als
Fernandez im Eilschritt aus dem Bauernhaus kam.
»Sir, wir haben ein geringfügiges Problem.«
Howard stockte der Atem, während sich sein Bauch mit
einigen hundert Schmetterlingen zu füllen schien, die alle sofort
hinaus wollten. »Welches?«
»Das Fahrzeug des Kommandotrupps ist soeben liegengeblieben. Der Staffelführer, Captain Marcus meint, die
Zylinderkopfdichtung sei kaputt.«
Howard starrte sein Gegenüber an. Der Lastwagen hatte eine
Panne? Diese Möglichkeit hatte er in seinem Szenario überhaupt
nicht berücksichtigt! Herrjeh!
355
39
Sonntag, 10. Oktober, 0 Uhr 04
Urus-Martan
»Wo sind sie?« fragte Howard.
TacComp -Experte Jeter klang jetzt völlig sachlich, der lustige
Unterton war verschwunden. »Sir, laut GPS-Signal sind sie
innerhalb der Stadt, südlich der ehemaligen Kominternzentrale, im
neuen Wisoki-Stal-Mineralöllager an der Sunsha.«
»Wie weit ist das von hier?«
»Ein langer Marsch mit einem sich sträubenden Gefangenen im
Schlepptau, Sir. Ich würde sagen, etwa achtzehn Kilometer.«
»Na, wunderbar.«
»Genau. Jetzt kommt eine Sprachübertragung herein. Ich
dechiffriere.« Jeters Finger flogen über die Tasten.
Wenn der Staffelführer bereit war, die Funkstille zu
durchbrechen, selbst mit einer verschlüsselten Nachricht, bedeutete
das, daß der Einsatz soeben oder wenigstens demnächst zu
scheitern drohte.
»Wolfsrudel, hier ist Wolfsjunges Omega Eins, können Sie
mich hören?«
»Hier Alpha Wolf, Wolfsjunges. Sprechen Sie.«
»Sir, wir sind mitten in einem riesigen Mineralöltankla ger
liegengeblieben. Zwei Sicherheitskräfte in einer Entfernung von
hundert Metern nähern sich uns auf Fahrrädern.«
Polizisten auf dem Fahrrad. Toll. »Gehen Sie nach Plan vor,
Omega Eins. Lächeln Sie höflich und zeigen Sie Ihre Papiere vor.
Sie halten einer Überprüfung stand.«
»ja, Sir ... oh, verdammter Mist ...!«
»Bitte wiederholen, Wolfsjunges Omega Eins.«
Die Stimme des Captain war erneut zu hören, aber sie war
nicht an Howard gerichtet. »Stopft ihm das Maul, verdammt!«
»Omega Eins, bitte melden!«
Es herrschte Totenstille, die sich endlos hinzog.
356
»Wolfsjunges Omega Eins, antworten Sie.«
»Äh, Alpha, wir haben hier ein äh ... Problem. Unser Fahrgast
fing plötzlich an, >Mörder< zu brüllen, und diese einfältigen
Bullen haben sofort das Feuer eröffnet!«
Fernandez, der direkt neben Howard stand, sagte: »Mein Gott,
was für schießwütige Kerle. Sie können doch gar nicht wissen, mit
wem sie es zu tun haben.«
»Alpha, wir haben das Feuer erwidert, ich wiederhole, wir
haben das Feuer erwidert. Omega Wolfsjungen sind alle
unverletzt, ich wiederhole, keine Verletzten auf unserer Seite, aber
einer der Einheimischen ist getroffen, und der andere hat ... hat« er suchte offenbar nach einer militärisch korrekten
Ausdrucksweise - »hat seinen Hintern hinter einem Öltank in
Sicherheit gebracht, Sir. Bleiben Sie dran. Barnes und Powell,
rechts umgehen, Jessel, nach links, zack, zack!«
Mehrere tausend Jahre schienen zu vergehen, während Howard
wartete. Er und Fernandez tauschten Blicke aus.
Captain Marcus kam wieder online. »Sir, der niedergeschossene Einheimische ist verstorben. Er hatte ein Handy am
Gürtel, und wir müssen davon ausgehen, daß der andere ebenfalls
Kommunikationsausrüstung bei sich trägt. Aber wir haben ihn
verloren. Ich schätze, wir werden in Kürze unangenehme
Gesellschaft bekommen, Alpha. Ich bitte um Anweisungen.«
Howard warf Fernandez einen Blick zu. Sie hatten keine Wahl.
Niemand würde hier zurückgelassen werden. »Packt ein, Leute!
Wir heben in drei Minuten ab!«
Zu dem Staffelführer am anderen Ende der codierten
Funkverbindung sagte Howard: »Bleiben Sie, wo Sie sind, Omega.
Das Wolfsrudel ist unterwegs.«
»Verstanden, Alpha. Vielen Dank, Sir.«
»Los geht's, Julio.«
»Jawohl, Sir.«
Howard und Fernandez rannten zu den Helikoptern hinüber.
357
Samstag, 9. Oktober, 17 Uhr 20
Quantico
Michaels und Toni saßen im kleinen Konferenzraum bei ihrem
zweiten Becher Kaffee. Wie der Arzt orakelt hatte, machte
Michaels die Wunde jetzt mehr zu schaffen als unmittelbar nach
dem Attentat. Es tat weh, wenn er sich bewegte, ruhig zu stehen
brachte auch keine Linderung, und das Sitzen war ebenfalls
schmerzhaft. Zu Hause hatte er zum Schlafen Tabletten
genommen, aber jetzt, solange Howards Operation in vollem Gang
war, wollte er klar im Kopf sein. Schließlich hatte er doch einige
Schmerztabletten aus der Verpackung gedrückt und sie vor etwa
einer Stunde mit dem fünften oder sechsten Kaffee hinuntergespült. Aus dem scharfen, stechenden Schmerz war jetzt ein etwas
erträglicherer, dumpfer, stechender Schmerz geworden. Trotz des
Kaffees, den er intus hatte, fühlte er sich re lativ ruhig.
»Wie geht's Ihrem Arm?« fragte er Toni.
» Es war ein glatter Schnitt. Tut nicht besonders weh«,
antwortete sie, »aber es juckt.«
Michaels hatte sich gleich nach dem Anschlag bei ihr bedankt,
aber seitdem viel Zeit gehabt nachzudenken. »Sie haben mir da
unten in dem Umkleideraum das Leben gerettet«, sagte er. »Wenn
Sie sich nicht auf die Frau gestürzt hätten, hätte sie mich
umgebracht.«
» Rusty hat uns beide gerettet. Wenn er nicht hereingekommen
wäre und mit dem Gebrüll angefangen hätte, hätte ich auch nichts
ausrichten können. Einen Kugelschreiber in der Hand, so als wäre
es eine Waffe.« Sie schüttelte den Kopf.
»Es tut mir wirklich leid um Agent Russell«, sagte Michaels.
»Ich weiß, daß Sie ihm Unterricht in Ihrer Kampfkunst gegeben
haben. Kannten Sie sich, äh, näher?«
Toni zögerte einen Moment. »Nein, eigentlich nicht.« Sie
starrte in ihren Kaffeebecher. »Seine Eltern lassen den Sarg nach
Jackson, Mississippi, überstellen, wo die Trauerfeier und die
Beerdigung stattfinden. Es ist sein Heimatort. Seine Eltern
scheinen sehr nett zu sein. Ich würde gern zur Beerdigung
hinfliegen, wenn es möglich ist. Sie ist in ein paar Tagen.«
358
»Kein Problem. Ich frage mich, ob ich Sie wohl dazu bewegen
kann, mir, wenn wir das hier hinter uns gebracht haben und falls
wir es überstehen, ein paar Kniffe Ihrer Kampfkunst, Silat, zu
zeigen.«
Toni sah von ihrem Kaffeebecher auf.
»In jüngster Zeit habe ich aus unerfindlichen Gründen das
Bedürfnis, mich etwas mehr über Selbstverteidigung zu
informieren.«
Er lächelte, und sie erwiderte das Lächeln.
»Das mach' ich gern.«
»Allerdings wird es einige Wochen dauern, bis ich nicht mehr
herumhumple.« Er wies auf sein verbundenes Bein.
»Ich warte solange.«
Er nahm einen Schluck Kaffee. Würde er noch mehr trinken,
wäre langsam eine Blasentransplantation fällig. Er stellte den
Becher wieder ab. »Ich würde gern wissen, wie es läuft. Die Sache
müßte eigentlich schon über die Bühne sein.«
»Ich bin sicher, daß sie sich melden werden, sobald sie
können.«
»Ja. Und ich bin zuversichtlich, daß Colonel Howard seine
Mission erfolgreich beendet.«
Wieder lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Was ist?« fragte Alex.
»Nichts. Mir ist nur gerade etwas eingefallen, was schon
Ewigkeiten zurückliegt.«
»Ja?«
»Nach der Zwischenprüfung an der John-Jay-Universität bin
ich mit zwei anderen Studentinnen zusammengezogen. Mein
Bruder Tony hatte seinen Job verloren und brachte seine Frau und
seine zwei Kinder bei meinen Eltern unter, während er auf
Arbeitsuche nach Maine ging. Daher wurde es zu Hause ein wenig
eng. Wir hatten Glück und fanden ein günstiges Apartment, das
sowohl Heizung als auch Fenster hatte, die sich öffnen ließen. Das
Gebäude ist inzwischen vermutlich einem Parkplatz gewichen,
aber für drei Mädchen, die gerade von zu Hause ausgezogen
waren, war es einfach perfekt.
Eine meiner Mitbewohnerinnen war Italienerin wie ich. Sie
hieß Mary Louise Bergamo und stammte aus Philadelphia. Die
359
andere war eine große, schlaksige Farbige aus Texas. Sie spielte
Volleyball, ihr Name war Dirisha Mae Jones. Sie war die wit zigste
Frau, die ich je getroffen habe. Ständig erzählte sie irgendwelche
Lebensweisheiten, die sie irgendwo aufgeschnappt hatte. Bei
einem Glas Wein und in ausgelassener Stimmung definierte sie
eines Abends das Wort >zuversichtlich< für uns.
>Na schön, Mädels, hört zu. Da ist dieser Farbige, er hört auf
den Namen Ernest, ist mit Loretta verheiratet, einer
wunder-wunderhübschen Frau. Aber Loretta ist entschlossen, ihn
zu verlassen, weil Ernest gefeuert wurde - obwohl es nicht seine
Schuld war.«<
Michaels grinste. Den texanischen Akzent ihrer Freundin
ahmte sie sehr gut nach.
Toni fuhr fort: »>Also, Ernest steht eines Morgens auf, bindet
sich seinen besten Schlips um, zieht das einzige weiße Hemd an,
das er besitzt, und steigt in seine Sonntagshose. Dann geht er aus
dem Haus, weil er einen Termin für ein Vorstellungsgespräch hat.
Ernest ist klar, daß seine Frau ihn verlassen wird, wenn er den Job
nicht bekommt. Er weiß auch, daß der gute alte Junge, der für
Einstellungen zuständig ist, sich nichts Besonderes aus Farbigen
macht, also muß er überzeugend sein.
Inzwischen ist es Mittag geworden. Auf dem Weg zum
Vorstellungsgespräch kehrt Ernest bei Rick's Pit Barbecue ein, wo
er eine doppelte Portion Schweinerippchen und ein Bier zum
Hinunterspülen bestellt. Während Ernest wartet, bis Rick's Kellner
James die Rippchen bringt - die etwa in einem Liter scharfer,
fettiger Barbecuesoße schwimmen, übrigens bei weitem die besten
Rippchen in Osttexas und wahrscheinlich auch in Mittel- und
Westtexas, was viel heißen will -, während er also wartet, geht er
'rüber zum Telefon und ruft Loretta an. Er sagt zu ihr: >Schatz,
nimm dein blaues Kleid aus dem Schrank - heute abend gehen wir
tanzen und feiern meinen neuen Job.<
Also, ein Mann, der in einem weißen Hemd Rippchen ißt und
dem klar ist, daß sein Hemd unbedingt sauber bleiben muß, der ist
ausgesprochen zuversichtlich, Mädels.<«
Michaels lachte.
»Ich mag es, wenn Sie lachen, Alex. Sie lachen viel zu selten.«
360
Michaels fühlte einen kleinen Stich trotz der Schmerzmitteldröhnung. Sie mochte ihn. Das erfüllte ihn mit Unbehagen,
aber nur ein klitzekleines bißchen. »Es gab Zeiten, da war mir
mehr danach zumute. Und was ist aus Ihren Mitbewohnerinnen
geworden?«
»Mary Louise hat Jura studiert - in Harvard - und ist dann bei
ihre m Vater in die Kanzlei eingestiegen. Sie gehörte zu den
Anwälten, die den Fall der Staat gegen Pennco Housing vor das
oberste Bundesgericht gebracht haben und den Prozeß gewannen.«
»Und die Frau aus Texas?«
»Dirisha wurde Volleyballprofi, nachdem sie ihren Abschluß in
der Tasche hatte. Drei Jahre war sie aktiv und gehörte zum
Nike-Team, das die Four Woman Outdoor Championships ein
paarmal gewann. Dann zog sie sich von dem Profisport zurück,
schrieb ein Buch über ihre Er lebnisse und bekam einen Job als
Sportkolumnistin bei der New York Times. Vor ein paar Jahren
heiratete sie, mittlerweile hat sie ein Kind, einen Jungen. Raten Sie
mal, wie er heißt.«
»Sagen Sie's mir.«
»Ernest.«
»Das haben Sie sich gerade ausgedacht, oder?«
Toni hob die Hand wie zum Pfadfinderschwur. »Nicht die
Spur, großes Ehrenwort.«
Wieder mußte er schmunzeln. Sie hatte recht. Er sollte öfter
lachen.
Aber im Moment wurde er langsam nervös. Was war mit
Howard? Er hätte sich längst melden müssen. Michaels warf einen
Blick auf die Uhr.
Selbst wenn alles glatt gegangen war, mußte er sich schnell
etwas einfallen lassen, damit Carver ihm nicht an die Kehle ging,
sobald er seinen Alleingang beichten würde. Doch wenn sie
Plechanow trotz des ausgeklügelten Planes nicht zu fassen
bekämen, dann saß er bis über beide Ohren in der Tinte.
Sollte die Operation schieflaufen, hätte er viel Zeit, das Lachen
zu üben, und zwar weit, weit weg von allem, was auch nur im
entferntesten mit der Net Force zu tun hatte. Allerdings glaubte er
kaum, daß ihm dann unbedingt zum Lachen zumute sein würde.
361
Sonntag, 10. Oktober, 0 Uhr 12
Grosny
»Wir fliegen jetzt mit Höchstgeschwindigkeit, Sir«, brüllte der
Pilot, um das Rotorgeräusch des Huey und den Wind zu
übertönen. Sämtliche Action-Videos waren bloße Fantasie, in
denen sich Leute in Helikoptern bei geöffneten Türen in normaler
Lautstärke unterhielten, als wären sie Aristokraten, die gemeinsam
ihren Tee in einem klimatisierten Rolls Royce nähmen.
Wahrscheinlich hatte der Regisseur noch nie einen Hubschrauber
auch nur aus der Nähe gesehen. Selbst die Worte über das
Funksystem in den Kopfhörern waren schwer zu verstehen.
»Wie lange noch?« rief Howard.
»Zwei, drei Minuten?« brüllte der Pilot zurück. »Rechts vor
uns ist der Rand des Mineralöllagers. Und dort der Fluß. Ich fliege
direkt über die Hauptstraße.«
Die zehn Mann, die diesem Hubschrauber zugeteilt worden
waren, trugen H & K-Maschinenpistolen und 9mm-Brownings am
Gürtel. An der anderen Seite staken Messer mit Stahlklingen. Über
ihren einfachen Overalls trugen sie kugelsichere Westen sowie
Helme und Stiefel aus Kevlar. Die Ausrüstung war
handelsübliches Gerät -die Maschinenpistolen stammten aus
Deutschland, die Pistolen aus Belgien, die Westen waren
israelischer Herkunft und die Messer japanisch. Da der Einsatz
nicht nur auf eine Prügelei hinauslief, würde für den Fall, daß ein
Teil der Ausrüstung zurückgelassen werden mußte, nichts auf die
Vereinigten Staaten hinweisen.
Dennoch trugen die Soldaten ihre Erkennungsmarken, aber das
spielte keine Rolle - keiner seiner Leute würde zurückgelassen
werden. Entweder sie kämen geschlossen davon oder würden alle
dort bleiben.
»Da ist der Lastwagen!« schrie Fernandez.
»Und da kommt ein Problem«, sagte Howard.
Ein Konvoi, bestehend aus drei militärisch aussehenden
Fahrzeugen, näherte sich aus der anderen Richtung rasch dem
bewegungsunfähigen Lkw. Das Fahrzeug an der Spit ze war eine
Art Jeep, auf dem in der Wagenmitte ein leichtes
362
Maschinengewehr montiert war. Dem Jeep folgte ein Polizeiwagen
mit blinkendem Blaulicht. Bei dem dritten Fahrzeug handelte es
sich um einen Transporter, der ebenfalls ein Blaulicht auf dem
Dach hatte. Trotz des ohrenbetäubenden Lärms im Hubschrauber
konnten sie die Sire nen hören.
»Verdammter Mist«, entfuhr es Fernandez.
Howard brüllte dem Piloten zu: »Erreiche ich mit dem
Funkgerät im Kopfhörer Chopper zwei?«
»Ja, Sir, das müßte klappen.«
Howard schaltete seine Kommunikationseinheit auf einen
anderen Kanal. Zum Kommandanten des anderen Hubschraubers
sagte er: »Chopper zwei, hier spricht Alpha Wolf, können Sie
mich hören?«
»Alpha Wolf, laut und deutlich.«
»Chopper zwei, drehen Sie ab, ich wiederhole, drehen Sie ab.
Fliegen Sie zurück, wir rufen Sie, wenn wir Sie brauchen.
Unnötig, ihnen zwei Zielscheiben zu liefern.«
»Jawohl, Sir.«
Dann erteilte Howard dem Piloten seines Hubschraubers
Anweisungen. »Gehen Sie runter, Loot. Zwischen unserem
Lastwagen und dem Konvoi.«
»Jawohl, Sir.«
Howards Magen krampfte sich zusammen, als der Helikopter
sich der Straße näherte. Er spürte, wie sich seine Haut spannte.
»Niemand eröffnet das Feuer, es sei denn, der Gegner feuert
zuerst. Versetzt in Gitterformation aufstellen und bereithalten.«
Howard warf einen Blick auf die schnurgerade verlaufende
Straße. Keine Deckung weit und breit, aber er würde nicht mitten
in einem Mineralöllager anfangen herumzu ballern, wenn ihm das
Gelände gehören würde. Er baute auf das Überraschungsmoment
und das Verantwortungsgefühl des Konvoi-Kommandanten. Wenn
er für einen abgelegenen Posten verantwortlich wäre und den
Befehl erhielte, einen nächtlichen Schußwechsel zu untersuchen,
und ein Hubschrauber ohne Kennzeichen landete, aus dem
bewaffnete, nicht identifizierbare Soldaten heraussprangen, dann
würde er zögern, das Feuer zu eröffnen - es sei denn, der Gegner
feuerte zuerst. Er würde zunächst ein paar wichtige Fragen
beantwortet haben wollen: Wer wa ren sie? Was taten sie hier?
363
Könnten es seine eigenen Leute in geheimer Mission sein? Bevor
man losballerte, brauchte man zumindest ein paar Informationen.
Auf Verbrecher in einem Lastwagen zu schießen, die eine Geisel
zu haben schienen, war eine Sache, aber die eigenen Leute zu erlegen, war eine andere und der eigenen Karriere nicht förderlich.
Einen Haufen Öltanks mit Kugeln zu durchsieben und für
kniehohe Öllachen zu sorgen, würde auch nicht gut ankommen.
Wäre er an der Stelle des Tschetschenen, würde Howard einige
rasche Anrufe tätigen, um herauszufinden, was hier zum Teufel
vorginge.
Der Huey setzte auf dem Boden auf. »Laden und entsichern!«
kommandierte Howard.
Er überprüfte seine Waffe auf ihre Feuerbereitschaft und
machte sich auf den. Weg, seine Truppe und ihren Fang
einzusammeln.
364
40
Sonntag, 10. Oktober, 0 Uhr 18
Grosny
Die drei tschetschenischen Fahrzeuge kamen abrupt zum
Stehen, als Howard und seine Leute, die Waffen im Anschlag,
wenn auch nicht auf das Ziel gerichtet, aus dem Huey sprangen
und ausschwärmten. Die Tschetschenen waren im Vorteil, als sie
ihre Fahrzeuge verließen - sie konnten dahinter in Deckung gehen.
Fünfzehn, maximal achtzehn Tschetschenen in Militärmontur
bezogen hinter dem Jeep, dem Transporter und dem Polizeiwagen
mit ihren Waffen Stellung.
Währenddessen befanden sich Howards Männer auf offenem
Gelände und waren damit einem großen Risiko ausgesetzt. Eine
Fahrzeugkarosserie konnte einiges an Kleinkaliberfeuer abfangen bei Luft verhielt sich das anders.
»Marcus!« rief Howard gedämpft, damit die Tschetschenen ihn
nicht hören konnten. »Bringen Sie die Lieferung in den
Hubschrauber, und dann nichts wie weg.«
Hinter ihm verfrachtete der Ko mmandotrupp Plechanow rasch
in den Huey. Da Marcus der Sprachenexperte der Truppe war,
sprang er wieder aus dem Hubschrauber, sobald sie den Russen an
Bord geschafft hatten, und bezog neben Howard Stellung.
Sechzig Meter entfernt brüllte nun einer der tschetschenischen
Soldaten einige Worte auf russisch. Howard verstand ein paar
Brocken. Es reichte, um die Frage >Wer, zum Teufel, sind Sie?<
herauszuhören, wenn sie gestellt wurde.
»Wie heißt die tschetschenische Geheimpolizei?« fragte
Howard Marcus mit gedämpfter Stimme.
»Sälit Kuläk, Sir.«
»Sagen Sie ihnen, wir wären von dieser Geheimpolizei.
Unterwegs in einer geheimen Mission. Sie sollen abhauen, oder
wir machen sie platt.« Howard glaubte zwar nicht, daß die Gegner
ihnen das abkauften, aber zumindest würde es ihnen zu denken
365
geben: Wenn es nun die Wahrheit war? Durften sie das Risiko
eingehen?
»Sir.« Marcus drehte sich um und ratterte rasch einen
Wortschwall auf russisch herunter.
Howard sprach weiter mit leiser Stimme, aber dennoch laut
genug, damit seine Leute ihn trotz des Lärms des zweimotorigen
Huey verstanden. »Zu zweit in den Hubschrauber zurückziehen.
Die letzten zuerst.«
Als die ersten beiden Soldaten in den Huey kletterten, brüllte
der tschetschenische Kommandant einen Befehl, der seine Männer
dazu veranlaßte, die Waffen präzise auf das Ziel auszurichten.
»Ich glaube, sie wollen nicht, daß wir verschwinden«, sagte
Fernandez.
Howards Bauch schien plötzlich mit Trockeneis und flüssigem
Stickstoff gefüllt. Er nickte. Doch je länger sie blieben, um so
gefährlicher wurde die Situation. Jemand könnte nervös werden,
ein Finger abrutschen, und die erste abgefeuerte Kugel würde eine
Salve von beiden Seiten auslösen.
Langsam und vorsichtig schaltete er seine Kommunikationseinheit um, um eine Verbindung mit dem zweiten Huey
herzustellen. Hoffentlich waren sie noch nicht zu weit entfernt, um
ihn über die mobile Einheit empfangen zu können. »Chopper zwei,
hier spricht Alpha Wolf.«
Einen Moment lang war nichts zu hören außer Rauschen.
»Chopper zwei, antworten Sie!«
»Wir empfangen Sie, Alpha, hier Chopper zwei.«
Der Colonel unterdrückte den unwiderstehlichen Drang, einen
Stoßseufzer gen Himmel zu schicken. »Wir brauchen ein
Ablenkungsmanöver. Etwa sechzig Meter nördlich unserer
Position bei Chopper eins steht ein großer Transporter mit
blinkendem Blaulicht. Nähern Sie sich aus nördlicher Richtung.
Lassen Sie einen ihrer Leute aus dem Hubschrauber heraus ein
paar Magazine mit Bleikugeln in das Dach dieses Fahrzeugs
jagen.«
»Wird erledigt, Alpha. Wir sind schon unterwegs.«
»Geschätzte Ankunftszeit?«
»In fünfundvierzig Sekunden, Sir.«
366
Sie hatten sich also nicht allzuweit entfernt, wofür Ho ward den
Piloten des zweiten Huey am liebsten umarmt hätte.
»Wir verschwinden, Leute«, sagte Howard so laut, daß seine
Truppe ihn verstehen konnte. Es war ihm relativ egal, ob der
Gegner ihn auch hörte. »Auf meinen Befehl, zu zweit, zack, zack,
einsteigen.«
Einige der Tschetschenen wandten sich um und spähten in den
Nachthimmel hinauf. Sie müßten die Motoren des sich nähernden
Huey bereits hören, dachte Howard - die großen Pratt & Whitneys
leisteten, wenn nötig, fast zwölfhundert PS -, und unter Vollast
waren sie nicht gerade geräuscharm.
»Bereithalten«, sagte er.
Im reflektierenden Licht der tschetschenischen Fahrzeuge und
des gelben Natriumfeuers rings um die Öltanks sah Howard, wie
der Huey herandonnerte und in einer Höhe von fünfundzwanzig
Metern breitseits schwenkte. Den Bruchteil einer Sekunde später
blitzten gelb-orangefarbene Feuerstöße aus zwei oder drei
Maschinengewehren in der offenen Tür auf.
Seine Truppe war äußerst treffsicher. Auf das Dach des
Transporters ging ein prasselnder Kugelhagel nieder.
Die Tschetschenen wandten sich der neuen und unmittelbaren
Gefahr zu.
»Los, jetzt, marsch!«
Howards Truppe sprintete zu dem Hubschrauber ...
Im selben Moment eröffneten die Tschetschenen das Feuer auf
den über ihnen kreisenden Huey ...
Der letzte seiner Soldaten erreichte den startbereiten Helikopter
und stieg ein. Nur Howard und Fernandez befanden sich noch auf
offener Straße.
»Steigen Sie ein, Julio!«
»Alter geht vor Schönheit, Sir.«
Howard grinste und sprintete zum Huey hinüber. Fernandez
gab ihm einen Schubs von hinten, als er die Tür hinter sich zuzog.
»Hoch, hoch!« brüllte Howard.
Der Pilot gab volle Kraft, und der Huey schoß in den Himmel
hinauf.
Als die Tschetschenen erkannten, daß der Angriff aus der Luft
nur als Ablenkungsmanöver diente, feuerten sie in beide
367
Richtungen. Mantelgeschosse bohrten sich in die Außenhaut des
Huey.
»Sorgt dafür, daß sie ihre Köpfe ein ziehen müssen!« brüllte
Howard.
Fernandez, der direkt an der Tür saß, öffnete diese und
schwenkte sein H & K-Maschinengewehr wie einen Gartenschlauch. Die Tschetschenen gingen in Deckung. Kugeln
hämmerten auf ihre Fahrzeuge ein.
Der kommandoführende Huey neigte sich und drehte in einem
spitzen Winkel zur Seite ab. Langsam gewann er in einer
Aufwärtsspirale an Höhe. Einige Treffer schlugen blechern auf die
Außenhaut auf, aber kurz darauf waren sie außer Reichweite.
»Chopper zwei?« bellte Howard in sein Mikrofon.
»Genau hinter Ihnen, Alpha.«
»Verletzte bei Ihnen?«
»Negativ, Sir.«
»Sergeant?«
»Jemand verletzt?« brüllte Fernandez.
Anscheinend fühlte sich niemand angesprochen.
Howard atmete erleichtert auf und grinste. Sie hatten es
geschafft! Gott sei Dank ...!
»Das ist glatte Entführung! Das können Sie nicht machen!«
Howard richtete einen abschätzenden Blick auf den erbosten
Russen. Kälter Haß stieg in ihm auf, während er ihn durchdringend
ansah.
»Damit schafft ihr Idioten einen internationalen Zwischenfall!
Ich habe einflußreiche Freunde! Sie werden damit nicht
davonkommen!«
Mit seinem Blick durchbohrte Howard den Mann. »Wir sind
bereits davongekommen.«
Der Russe verlegte sich darauf, in seiner Muttersprache zu
fluchen. Howard verstand einige der Worte. Doch er war nicht
bereit, sich das anzuhören. Mit einer Handbewegung gebot er dem
Russen zu schweigen. Dieser verstummte und sah ihn wütend an.
»Mister, Sie haben einen Mann getötet, den ich mochte und
respektierte. Wenn Sie nicht auf der Stelle die Schnauze halten,
könnte es sein, daß Sie aus Versehen aus dem Hubschrauber
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fallen. Bei dieser Geschwindigkeit und Höhe werden Sie auf dem
Boden aufprallen wie ein Gummiball.«
Auf einmal schien der Russe nichts mehr zu sagen zu haben.
Samstag, 9. Oktober, 18 Uhr 54
Quantico, Virginia
Das Telefon im Konferenzraum summte. Da Michaels allein
war, nahm er den Hörer ab. » Ja?«
»Sir, Colonel Howard für Sie«, sagte eine Stimme am anderen
Ende.
»Commander?«
»Am Apparat, Colonel.«
»Auftrag erledigt, Sir. Wir sind in der Luft und auf dem Weg
nach Hause.«
Eine Welle der Erleichterung erfaßte Michaels. »Gut gemacht!
Meinen Glückwunsch, Colonel. Irgendwelche Probleme?«
»Nichts von Bedeutung, Sir. Ein Kinderspiel.«
Toni kam wieder in den Raum. Michaels warf ihr einen Blick
zu, deutete auf den Telefonhörer und gab mit der Hand das
0.K.-Zeichen.
»Wir sehen uns in etwa sechzehn Stunden, Commander. «
»Freut mich. Nochmals meinen Glückwunsch, Colonel.
Ausgezeichnete Arbeit.«
Michaels beendete die Verbindung und sah Toni grinsend an.
»Sie haben ihn. Sind auf dem Heimweg. Müßten morgen hier
sein.«
»Ich rufe Jay Gridley an«, sagte sie. »Er wollte wissen, wie es
ausgeht.«
»Tun Sie das.«
»Und was nun, Alex? Wenn Sie richtig liegen, haben wir den
Mann geschnappt, der Steve Day getötet hat, auch wenn wir ihm
die Tat nicht nachweisen können. Und die Frau, die für
Verwirrung sorgte, ist tot.«
369
»Zurück zum Tagesgeschäft, schätze ich«, antwortete er. »Falls
ich das Treffen mit Carver überlebe, nachdem ich gebeichtet
habe.«
»Das werden Sie schon. Dem FBI-Direktor kommt es auf das
Ergebnis an. Das ist wie bei dem Noriega-Deal von Bush oder dem
Iraker, der in den letzten Tagen der Regierung Clinton aus Bagdad
geholt wurde. Unser gegenwärtiger Präsident wollte, daß der Kerl
geschnappt wird, und das ist geschehen. Jetzt muß sich das
Justizministerium um ihn kümmern.«
»Aber erst, nachdem wir ein kleines Gespräch mit ihm geführt
haben.«
»Natürlich. Aber im großen und ganzen ist die Sache vorbei.«
»Ja«, stimmte er ihr zu. »Es ist vorbei. Und alles in allem
haben wir gar nicht schlecht abgeschnitten, oder?«
»Nein. Wir haben nicht schlecht abgeschnitten.«
Sie lächelten einander an.
370
Epilog
Sonntag, 10. Oktober, 11 Uhr 30
Quantico
In der Arbeitsuniform eines Sergeants der US-Marine stand
Rushjo diesseits des Maschendrahtzaunes, der das Gebäude der
Net-Force-Zentrale umgab. Bis zum Haupteingang waren es noch
dreihundert Meter, aber das Jagdgewehr im Seesack zu seinen
Füßen war präzise genug, um ein manngroßes Ziel auf diese
Entfernung zu treffen. Das Gewehr war diesmal keine Winchester,
sondern eine Remington Kaliber 30-06 mit Schlagbolzen, genau
wie die Waffe, mit der er in Oregon den Manager der Computerfirma erschossen hatte. Nur daß dieses Gewehr nicht mit einem
holografischen, sondern einem optischen Sichtgerät mit zehnfacher
Vergrößerung ausgestattet war. Es war bereits auf eine Entfernung
von dreihundert Metern justiert, denn er hatte sich diesen Platz
ausgesucht, bevor er das Gewehr zusammengesetzt hatte.
An der Straße befand sich eine Bushaltestelle. Sie mußte erst
kürzlich eingerichtet worden sein, wie die fehlenden
Graffiti-Schmierereien vermuten ließen. Hier konnte er sich ein
paar Minuten herumdrücken, ohne daß er auffiele. Für einen
Sonntag kamen und gingen genügend Menschen vorbei, so daß
sich niemand über einen Marine Gedanken machen würde, der auf
den Bus wartete.
Sollte der Kommmandeur der Net Force nicht zum Mit tagessen
herauskommen, würde Rushjo zunächst wieder verschwinden, um
später zurückzukehren. Vielleicht hatte er ja mehr Glück, wenn es
auf den Feierabend zuging. Sollte er ihn dann erneut nicht
entdecken, würde er vielleicht entlang seines Heimweges Stellung
beziehen. Irgendwo fände sich schon eine Möglichkeit.
Ein einfarbiger weißer Dodge-Lieferwagen mit Regierungsnummernschild fuhr am Eingang vor. Rushjo hatte ein
kleines Bushnell-Sichtgerät in der Tasche. Es war so winzig, daß
es sich problemlos in der hohlen Hand verbergen ließ. Er lehnte
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sich seitwärts gegen den Zaun und hielt das Sichtgerät vor das
Auge.
In der geöffneten Eingangstür erschien eine attraktive Brünette
und stellte sich neben dem Lieferwagen auf. Unmittelbar hinter ihr
kamen Alexander Michaels und zwei Männer an seiner Seite, die
Leibwächter zu sein schienen, aus dem Gebäude.
Das Glück war Rushjo hold. Jetzt mußte alles sehr schnell
gehen. Ein Mann, der mit dem Gewehr im Anschlag am Zaun
stand, würde Aufmerksamkeit erregen, Marine hin oder her. Er
bückte sich und öffnete den Seesack. Das Gewehr war schußbereit.
Er mußte es nur noch herausnehmen, den Lauf durch den Zaun
schieben - der ihm eine ausgezeichnete Auflagefläche bescheren
würde -, das Fadenkreuz ausrichten und abdrücken. Eine Sache
von fünf Sekunden, wenn er sich beeilte, zehn, wenn er sich Zeit
ließe.
Auf gleichmäßige Bewegungen kam es an. Keine ruckartigen
Handgriffe, einfach die Waffe hochnehmen und sie durch den
Maschendraht schieben. Dann einmal tief Luft holen, den Atem
anhalten und das Ziel anvisieren. Er machte sich ans Werk.
Das Teleskop, ein Leupold-Sichtgerät, hatte eine ausgezeichnete Optik, das Bild war klar und deutlich.
Jetzt kam sein Ziel ins Visier.
Rushjo richtete das unruhige Fadenkreuz auf den Oberkörper
des Mannes aus ...
Bei dieser Distanz wurde das runde Sichtfenster des Teleskops
nicht von Michaels ausgefüllt. Rushjo hatte außerdem die Frau im
Blickfeld, einen der Leibwächter und einen Militärangehörigen in
Uniform, der gerade aus dem Lieferwagen stieg.
Er ließ die Hälfte der gerade eingeatmeten Luft wieder
ausströmen. Dann drückte er langsam ab ...
Mist! Rushjo nahm den Finger vom Abzug. Der Uniformierte,
ein Farbiger, führte einen Mann am Arm.
Dieser Mann war Wladimir Plechanow!
Rushjo wußte, daß er sich rasch entscheiden mußte, ob er
schießen sollte oder nicht. Er konnte nicht viel länger am Zaun
stehen.
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Trotz seiner Geschicklichkeit waren sie Plechanow also auf die
Schliche gekommen, und nicht nur das, sie hatten ihn auch
geschnappt.
Plechanow festgenommen. Rushjo hatte erst vor zwei Tagen
mit ihm gesprochen. Erstaunlich.
Die Zeit schien stillzustehen.
Sollte er Michaels erschießen? Oder lieber Plechanow? Der
Russe könnte ihn im Verhör verraten. Rushjo wußte von Drogen,
die auch den verschlossensten Lippen Ge heimnisse entlockten. Die
Amerikaner setzten solche Mittel nicht allzu häufig ein, aber
vielleicht würden sie es in diesem Fall tun.
Sollte er schießen?
Nein. Er würde Wladimir nicht töten. Wenn die Tschetscherien
ihn an die Amerikaner ausgeliefert hatten, dann akzeptierte er
diese Entscheidung.
Und wie stand es mit dem Kommandeur der Net Force?
Es hatte keinen Sinn, ihn jetzt noch zu erschießen. Das würde
Plechanow nichts mehr nützen. Er würde damit nichts erreichen.
Er war zwar ein Mörder, aber von sinnlosem Blutvergießen hielt er
nichts.
Rushjo zog das Gewehr aus dem Maschendraht, bückte sich
und verstaute es wieder in seinem Seesack. Dann sah er sich um.
Schätzungsweise fünfzehn Sekunden waren vergangen, seit er die
Waffe aus ihrem Versteck genommen hatte. Er schloß den Seesack
und blieb daneben stehen.
Ein Bus näherte sich. Den würde er nehmen, in der nächsten
Stadt ein anderes Auto mieten und sich einen Ort suchen, an dem
er in Ruhe überlegen konnte. Natürlich hatte er noch den
Mietwagen, aber mit dem wollte er nicht mehr herumfahren. Da es
ein für Oktober recht warmer Tag war, würde aus dem Kofferraum
des Autos wahrscheinlich bereits ein penetranter Gestank dringen.
Mit einem Schnauben kam der Bus zum Stehen. Die Tür
öffnete sich. Der Fahrer lächelte ihn an, und Rushjo grinste
verhalten zurück. Allerdings bestand der Anlaß zu seiner Freude
hauptsächlich in dem Gedanken, der ihm gerade gekommen war.
Wenigstens würde er nie wieder zuhören müssen, wenn
Gregori die Schlange mit der Tapferkeitsmedaille für seine
Verdienste in Tschetschenien prahlte. Und bis jemand den
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Kofferraum öffnete und feststellte, was sich darin befand, war
Rushjo längst weit fort.
In der Wüste vielleicht.
- ENDE -
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