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Einführung Seit Jahrzehnten führt der Totalitarismusbegriff immer wieder zu heftigen Konflikten. Dem aufmerksamen Leser ist vielleicht nicht entgangen, dass im Titel dieses Hefts nicht von totalitären Regimen, sondern von Ideokratien die Rede ist.1 Aus folgenden Gründen wurde statt des Begriffs der „totalitären Regime“ der Leitbegriff „Ideokratie“ gewählt, um die Gruppe der kommunistischen Regime einerseits, der nationalsozialistischen Diktatur und sonstiger faschistischen Autokratien andererseits zu benennen. Die Schlacht um den Totalitarismusbegriff hat die Forschung wenig befruchtet.2 Wichtiger ist aber, dass eine unzureichende Präzision vieler Totalitarismuskonzepte, die nicht zuletzt in der verwaschenen Abgrenzung von totalitären und posttotalitären Regimen deutlich wird, mit dem Ideokratiekonzept einen neuen Anlauf sinnvoll erscheinen lässt. Ein Grundproblem der vorherrschenden Variante des Totalitarimuskonzepts wurzelt in einer Vermengung der Repressionsperspektive ( durch eine Beschränkung der Freiheiten der Bürger ) und einer spezifisch ideologisch - utopischen Legitimationsperspektive. Mit dem Legitimationsaspekt lassen sich streng ideologiegeleitete Autokratien abgrenzen, mit dem Repressionsaspekt die – salopp gesprochen – „autokratischsten“ Autokratien. Die aus beiden Perspektiven erfassten Regime sind aber nicht deckungsgleich.3 Ein Grundproblem des Totalitarismusbegriffs in der konzeptionell am besten ausgearbeiteten Variante von Juan Linz zeigt sich bei dessen unbefriedigendem Versuch, totalitäre von posttotalitären Regimen abzugrenzen. An die Stelle von „keinem bedeutenden wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Pluralismus“ im Totalitarismus trete – so Linz zusammen mit Alfred Stepan – „fast kein Pluralismus“ im Posttotalitarismus. Hinsichtlich der Begrenzung der Herrschaft gebe es eine Abkehr von der Willkür, und eine „Kontrolle der Führungsspitze“ erfolge „über Parteistrukturen und Parteiverfahren und ‚innere Demokratie‘ der Herrschaftspartei“.4 Damit beschreiben die Autoren aber lediglich die Abkehr von den Merkmalen einer personalistisch geprägten ideokratischen 1 2 3 4 Der Begriff „Ideokratie“ wird dabei synonym zu „Weltanschauungsdikatur“ verwendet. Vgl. u. a. Lothar Fritze, Verführung und Anpassung : Zur Logik der Weltanschauungsdiktatur, Berlin 2004. Vgl. Steffen Kailitz, Der Streit um den Totalitarismusbegriff. In : Eckhard Jesse / ders. (Hg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts, Baden - Baden 1997, S. 219–250. Für das Jahr 2008 haben Juan Linz und Alfred Stepan mit den Daten von „Freedom House“ – unter Ausklammerung des ideologischen Legitimationsaspekts – folgende Regime als totalitär „gemessen“ : Burma, Kuba, Libyen, Nordkorea, Somalia, Sudan, Turkmenistan und Usbekistan. Vgl. Juan Linz / Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation : Southern Europe, South America, and Post- communist Europe, Baltimore 1996, S. 40. Nur Kuba und Nordkorea wären dabei 2008 in einer Schnittmenge enthalten gewesen, bei der auch die Herrschaftsideologie berücksichtigt worden wäre. Zitate : Linz / Stepan, Problems, S. 41 f. Totalitarismus und Demokratie, 9 (2012), 5–13, ISSN 1612–9008 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH und Co. KG, Göttingen 2012 6 Einführung Herrschaft unter Stalin hin zu einer stärker regelbasierten, ideokratischen Herrschaft in der poststalinistischen Sowjetunion. Eine Betonung der Repressionsperspektive führt also dazu, dass posttotalitäre Regime als grundlegend verschieden von totalitären Regimen eingestuft werden, obgleich sich an der offiziellen ideologischen Herrschaftslegitimation nichts Grundlegendes ändert. Der hier genutzte Ideokratiebegriff nimmt nun konsequent die Repressionskomponente aus der Definition der Regimegruppe heraus und konzentriert sich unter dem Etikett „Ideokratien“ auf die ideologische Legitimationsperspektive. In Ideokratien rechtfertigen die Herrschenden ihre Herrschaft mittels den „Gesetzen der Geschichte“ oder dem „Recht der Natur“ im Rahmen einer utopischen Ideologie, die auf eine Umgestaltung der gesamten bestehenden Gesellschaft zielt, und die als gemeinsames Interesse von Regierenden und Regierten definiert wird.5 Ideokratien unterscheiden sich dabei grundlegend dadurch von allen anderen politischen Regimetypen, dass die Herrschenden eben nicht nur beanspruchen, das Recht zur Herrschaft zu besitzen, sondern weit darüber hinaus auf der Grundlage der Herrschaftsideologie alle Aspekte der Gesellschaft zu kontrollieren und ( radikal ) umformen zu dürfen.6 Ob dieses beanspruchte Recht genutzt wird oder nicht, ist dabei zunächst zweitrangig. Bei einem Erreichen der ideologischen Verheißung wäre im Kern auf der Grundlage einer Gesellschaft, die vollständig aus Gläubigen besteht, auch gar keine Kontrolle oder Umgestaltung mehr nötig.7 Ideokratisch wäre die Gesellschaft aber weiterhin. Die ideologisch - utopische Herrschaftslegitimation macht den Kern des 5 6 7 Vgl. Uwe Backes, Was heißt Totalitarismus ? Zur Herrschaftscharakteristik eines extremen Autokratie - Typs. In : Katarzyna Stoklosa / Andrea Strübind / Gerhard Besier (Hg.), Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA, Göttingen 2007, S. 609– 625; David Beetham, The Legitimation of Power, Basingstoke 1991, S. 181; Peter Bernholz, Ideocracy and Totalitarianism : A Formal Analysis Incorporating Ideology. In : Public Choice, 108 (2001), S. 33–75; Fritze, Verführung; Steffen Kailitz, Varianten der Autokratie im 20. und 21. Jahrhundert. In : Totalitarismus und Demokratie, 6 (2009), S. 209–251; Jaroslaw Piekalkiewicz / Alfred Wayne Penn, Politics of Ideocracy, Albany 1995. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 1955; Peter Bernholz, Notwendige Bedingungen für Totalitarismus : Höchste Werte, Macht und persönliche Interessen. In : Gerard Radnitzky / Hardy Bouillon ( Hg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, Berlin 1991, S. 241–284; Bernholz, Ideocracy and Totalitarianism; Carl J. Friedrich / Zbigniew Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy, New York 1956; Juan Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes. In : Fred I. Greenstein / Nelson W. Polsby ( Hg.), Handbook of Political Science, Reading, MA 1975, S. 175–412; Leonard Schapiro, Totalitarianism, New York 1972; Ronald Wintrobe, The Political Economy of Dictatorship, Cambridge, UK 2000; ders., The Tinpot and the Totalitarian : An Economic Theory of Dictatorship. In : American Political Science Review, 84 (1990) 3, S. 849–872. Analog auch Roger Griffin in diesem Heft. Hannah Arendt stellte bekanntlich dagegen die These auf, dass das „Wesen totalitärer Herrschaft“ ( Arendt, Elemente, S. 711) der Terror sei und totalitäre Regime vom Terror als Mittel zur „Exekution natürlicher oder gesetzlicher Prozesse“ ( ebd., S. 712) gar nicht Abstand nehmen können. Für den Kreis Einführung 7 Besonderen der kommunistischen Regime einerseits, des nationalsozialistischen und faschistischen Regimes andererseits aus. Die utopische Ideologie ist mithin das charakteristische Primärmerkmal dieser Autokratieform.8 Ein abnehmender Legitimitätsglaube unter den Herrschenden und Beherrschten ist dabei aber keine plausible Begründung, ein Regime nicht ( mehr ) als Ideokratie einzustufen. So käme niemand auf die Idee, eine Monarchie wie z. B. Monaco nicht mehr Monarchie zu nennen, nur weil die meisten Untertanen und auch viele im Kreis um den Herrscher aufgehört haben zu glauben, dass der Monarch tatsächlich von der Natur oder Gott als einzig möglicher Regierender berufen sei.9 Als Subtypen der Ideokratie empfiehlt es sich, klar zwischen stark regelbasierten Ideokratien wie etwa der DDR und personalistischen Ideokratien wie der nationalsozialistischen Diktatur und faschistischen Regimen zu unterscheiden.10 Mittels der Konferenz „Ideokratien im Vergleich. Wechselbeziehungen zwischen Legitimation, Kooptation und Repression“ im September 2011, dieser Ausgabe der Zeitschrift „Totalitarismus und Demokratie“ und eines demnächst aus der Tagung hervorgehenden Sammelbandes will das Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung das spezifische Wechselverhältnis von Legitimation, Kooptation und Repression in Ideokratien beleuchten. Die Inspiration zur Behandlung der Thematik wurzelt in der Entwicklung der jüngeren politikwissenschaftlichen Diskussion um Autokratien. Es zeichnete sich insbesondere ab, dass neben den Faktoren der Rechtfertigung von Herrschaft und der Unterdrückung von Opposition hinsichtlich der Funktionsweise und Dauerhaftigkeit politischer Regime ein dritter Faktor zu berücksichtigen ist, nämlich die Kooptation, also die Einbindung der Eliten und der Bevölkerung in das Regime.11 Alle politischen Regimetypen zeichnen sich demnach durch ein spezifisches Verhältnis der Ideokratien, der deutlich weiter ist als der ( staatsterroristische ) Kreis der totalitären Regime nach Arendt, erscheint diese Hypothese unzutreffend. 8 Vgl. u. a. Martin Drath, Totalitarismus in der Volksdemokratie. In : Ernst Richert (Hg.), Macht ohne Mandat, Köln 1958, S. IV–XXXIV; Werner Patzelt, Wirklichkeitskonstruktion im Totalitarismus. Eine ethnomethodologische Weiterführung der Totalitarismuskonzeption von Martin Drath. In : Achim Siegel ( Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998, S. 235–271. Dies bedeutet zugleich, dass aufgrund der grundlegenden Unterschiede der Herrschaftsideologien systematisch zwischen den nationalsozialistischen und faschistischen Regimen einerseits, den kommunistischen Regimen andererseits unterschieden werden muss. 9 Faktisch sinkt der Glaube an die Herrschaftslegitimation in allen Regimeformen unter den Beherrschten gewöhnlich im Zeitverlauf – wenn auch keineswegs linear. So etwa auch Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, London 1991, S. 48. Obgleich eine große Zahl von Büchern über die Legitimationskrise liberaler Demokratien geschrieben wurde, ist der Prozess in dieser Regimeform wohl am schwächsten ausgeprägt. 10 Vgl. Kailitz, Varianten. 11 Vgl. u. a. André Bank, Rents, Cooptation, and Economized Discourse : Three Dimensions of Political Rule in Jordan, Morocco and Syria. In : Journal of Mediterranean Studies, 14 (2004) 1/2, S. 155–180; Jennifer Gandhi / Adam Przeworski, Cooperation, Cooptation, and Rebellion under Dictatorships. In : Economics and Politics, 18 (2006), 8 Einführung von Repression, Kooptation und Legitimation aus. Die Thematik der Konferenz und dieses Hefts inspirierte dabei in hohem Maße der Austausch mit den Berliner Kollegen vom Wissenschaftszentrum Berlin um Wolfgang Merkel. Dort arbeiten die Berliner derzeit an einem großen und sehr ertragreich erscheinenden DFG - Projekt ( Critical Junctures and the Survival of Dictatorships. Explaining the Stability of Autocratic Regimes ), in dem sie dem Zusammenhang des Musters von Legitimation, Kooptation und Repression und der Dauerhaftigkeit von Autokratien nachgehen.12 Die folgende Übersicht konzentriert sich auf die Abgrenzung der Leitbegriffe des Heftes. Die Ebene der Legitimation beinhaltet all jene Maßnahmen eines ideokratischen Regimes, die darauf zielen, freiwillige Gefolgschaft oder zumindest Fügsamkeit mithilfe politischer Verheißungen und konkreter Politikerfolge zu erzeugen. Ungeklärt ist nach Diskussionen unter den Teilnehmern der Tagung „Ideokratien im Vergleich“, ob die Produktion von Politikprodukten vor allem im Zuge der Wirtschafts - und Sozialpolitik ( Performanz ) als eine eigenständige Strategie zur Sicherung von Herrschaft aufzufassen ist, ob dieser Punkt unter Legitimation ( im Sinne der Generierung von Output - Legitimität ) gefasst werden kann oder ob er besser unter den folgenden Begriff der Kooptation subsumiert werden sollte. Die Ebene der Kooptation erfasst nämlich jene Bemühungen eines politischen Regimes, mit denen Gefolgschaft und Fügsamkeit „erkauft“ werden sollen. Dazu zählt das Eröffnen von Karrierechancen ebenso wie die Gewährung sonstiger materieller und immaterieller Vorteile. In diesem Zusammenhang spielt auch das Einbinden bestimmter Bevölkerungsgruppen und Elitensegmente eine wichtige Rolle. Salopp gesprochen handelt es sich bei der Ebene der Einbindung von Bevölkerung und Eliten ( Kooptation ) um das sprichwörtliche „Zuckerbrot“, das all jenen gereicht wird, die dem offiziellen Weg folgen oder ihn zumindest nicht zu blockieren suchen. Die dazu gehörige „Peitsche“ betrifft das Instrumentarium politischer Repression, also all jene Maßnahmen, die der Erzwingung von Gefolgschaft und Fügsamkeit dienen. Die Skala reicht von Massenterror und harten Eingriffen wie Lagerhaft und Folter bis zu den weichen Mitteln sozialer Kontrolle und Disziplinierung wie dem Verschließen von Berufswegen und der präventiven Überwachung. S. 1–26; Barbara Geddes, What Do We Know about Democratization after Twenty Years ? In : Annual Review of Political Science, 2 (1999), S. 115–144. 12 Vgl. Wolfgang Merkel u. a., Legitimation, Kooptation und Repression in Autokratien. Critical Junctures und die drei Säulen autokratischer Stabilität. In : Steffen Kailitz / Patrick Köllner ( Hg.), Autokratien im Vergleich. Sonderheft der Politischen Vierteljahresschrift, 47/2012, Baden - Baden 2012 ( in Vorbereitung ); dies., Legitimation, Kooptation und Repression in Ideokratien aus der Perspektive des historischen Institutionalismus. In : Uwe Backes / Steffen Kailitz ( Hg.), Ideokratien im Vergleich. Wechselbeziehungen zwischen Legitimation, Kooptation und Repression, Göttingen 2012 ( in Vorbereitung). Einführung 9 Im Unterschied zum theoretischen Modell der Berliner Kollegen wird nicht von drei gleichgewichtigen Herrschaftssäulen ausgegangen, sondern von einem klaren hierarchischen Verhältnis von normativer Legitimation über Kooptation mittels Tausch gegen Loyalität hin zu Repression von Opposition. Jedes Regime möchte demnach am liebsten, dass alle Bürger durch jede wirtschaftliche Schwächeperiode hindurch an die normative Überlegenheit des politischen Regimes gegenüber allen denkbaren Alternativen glauben. Kooptation und auch Performanz sind das Mittel zweiter Wahl, um sich von jenen die Unterstützung zu sichern, die nicht durch jeden Sturm hindurch bereit sind, das politische Regime zu stützen. Repression ist das letzte Mittel, wenn der Bürger sich auf den Tausch materieller und immaterieller Ressourcenversorgung nicht oder unzureichend einlässt. Die angedrohte Repression im Falle des Ausscherens ist dabei aber in der Regel weit über den Kreis der tatsächlich Oppositionellen hinaus von Bedeutung.13 Besonders der Faktor der Einbindung der politisch Indifferenten und Ambivalenten in Ideokratien wurde lange Zeit vernachlässigt. Mit guten Gründen lässt sich dabei argumentieren, dass im Deutschen der Begriff „Kooptation“ nicht besonders gut für das Gemeinte geeignet ist. Im engeren Sinn bedeutet Kooptation im Deutschen nämlich nur die Zuwahl in eine Organisation durch die bisherigen Mitglieder der Organisation.14 Im Anschluss an die englischsprachige internationale Forschung gebrauchen deutsche Sozialwissenschaftler aber in allerjüngster Zeit zunehmend einen Kooptationsbegriff mit sehr viel breiterem Begriffsinhalt.15 Dabei übertrugen die Autoren schlicht den Begriffsinhalt des englischen „cooptation“, konkret die Teilbedeutung der Einbindung von Individuen oder Gruppen in eine bestehende Organisation, auf das aus dem Lateinischen stammende deutsche Lehnwort „Kooptation“. Letztlich ist es ein Streit um des Kaisers Bart, ob wir das Gemeinte in Deutschland künftig als Kooptation bezeichnen oder ob wir besser von Einbindung oder Integration sprechen wollen. Der Begriff ist nur die Hülle für das Gemeinte; entscheidend bleibt, ob das Bezeichnete in Autokratien ein wichtiges Phänomen ist. Während es bei der Tagung einen deutlichen Dissens über die Benennungsfrage gab, gingen die Mei- 13 Bei der Darlegung dieses Hierarchieverhältnisses wird die ideologisch begründete Repression gegen „objektive Feinde“ als „Ausscheidung des Schädlichen“ ( Arendt, Elemente, S. 708) ausgeklammert. 14 In diesem Sinne nutzte etwa Karl Loewenstein den Kooptationsbegriff als Analyserahmen. Vgl. Karl Loewenstein, Kooptation und Zuwahl : Über die autonome Bildung privilegierter Gruppen, Frankfurt a. M. 1973. 15 Vgl. statt vieler André Bank, Die Renaissance des Autoritarismus. Erkenntnisse und Grenzen neuerer Beiträge der Comparative Politics und Nahostforschung. In : Hamburg Review of Social Sciences, 4 (2009), S. 10–41, hier 14; Martin Brusis, Staat und Wirtschaftsakteure in postsowjetischen elektoralen Autokratien. In : Kailitz / Köllner, Autokratien; Christoph H. Stefes, Autoritäre Parteien und Kooptation im Kaukasus und auf dem Balkan. In : Berliner Debatte Initial, 21 (2010) 3, S. 100–112; Merkel u. a., Legitimation. 10 Einführung nungen bei der Frage der Bedeutung des Bezeichneten weit weniger auseinander. Im Zuge der Vorbereitung der Tagung haben Uwe Backes und Steffen Kailitz dem Teilnehmerkreis folgende Hypothesen über mögliche Zusammenhänge von Legitimation, Kooptation und Repression zukommen lassen : (1) So lange Bürger und Eliten in Ideokratien an die ideologischen Verheißungen glauben, sind sie bereit, Entbehrungen hinzunehmen. Die Erzeugung von ideologiebasierter normativer Legitimität verhindert oder verzögert zumindest „Performanzdilemmata“ ( Samuel P. Huntington ).16 (2) Eine Nichterfüllung großer ideologischer Verheißungen ( Parusieverzögerung) und ein daraus resultierendes Sinken des Glaubens an die ideokratischen Verheißungen in Bevölkerung und Elite erfordern verstärkte Kooptations - und Performanzbemühungen, um die Ideokratie zu stabilisieren. (3) Wenn die Ideokratie Schwierigkeiten hat, in ausreichendem Maße über ideologiebasierte Legitimation Legitimitätsglauben zu schaffen und es ihr nicht gelingt, über Kooptation zumindest Loyalität zu erzeugen, dann kann sie nur noch zur harten Repression greifen, um die Ideokratie zu stabilisieren. So lange eine Ideokratie konsequent Opposition unterdrückt, kann sie aber selbst ohne Legitimität und verbreitete Loyalität überleben.17 (4) Der Rückgang harter, offener Repression muss umgekehrt mit verstärkten Bemühungen zur Kooptation von strategisch wichtigen, ambivalenten oder (potentiell ) oppositionellen Akteuren einhergehen, um die Ideokratie zu stabilisieren. (5) Schwindender Glaube an die Ideologie lässt sich ( weitgehend ) durch Loyalität auf der Basis von Kooptation und Output - Legitimität ausgleichen. Die Liste der in den Beiträgen tatsächlich behandelten Fragen und Hypothesen geht weit über diese Punkte hinaus. Zugleich war bereits bei deren Formulierung klar, dass im Zuge der Tagung und der daraus resultierenden Beiträge zwar Indizien für oder gegen die Hypothesen gesammelt werden könnten, diese aber letztlich ( noch ) nicht systematisch zu bestätigen oder zu verwerfen seien. Manche Hypothese hat sich dabei – so der Zwischenstand – als nicht so tragfähig erwiesen, wie erwartet wurde. So zeigte sich bei der fünften Hypothese, dass die empirischen Ergebnisse von Manfred G. Schmidt in diesem Heft in einem Spannungsverhältnis zu der theoretischen Erwartung stehen.18 Die Beiträge dieses Hefts vereinen historische, philosophische und politikwissenschaftliche Perspektiven, um die Wechselbeziehungen von Legitimation, 16 So die Hypothese von Huntington, Third Wave, S. 48. 17 Vgl. Ted Robert Gurr, Why Men Rebel, Princeton, NJ 1970, S. 233. 18 Christian Goebel kommt in seinem Beitrag in diesem Heft zu einem differenzierten Urteil über den deutlich unterschiedlichen Grad der Tragfähigkeit der Hypothesen bei der Betrachtung der Entwicklung der Volksrepublik China. Er benennt auch vorhandene Schwächen des zugrunde gelegten „Modells“ für die Untersuchung, die es im Zuge einer Weiterentwicklung zu minimieren gilt. Einführung 11 Kooptation und Repression in Ideokratien auszuloten. Zum einen handelt es sich um theoretische Grundsatzartikel, zum zweiten um systematische Vergleiche unter den spezifischen Blickwinkeln ideologischer Legitimation und Kooptation und zum dritten um Länderstudien zum Dritten Reich, zur DDR und zur Volksrepublik China. Hermann Lübbe betrachtet im Auftaktartikel dieses Hefts die Ideokratien in einer moralphilosophischen Perspektive. Er legt dar, wie aus gutem Willen Gewalt erwachsen kann. Das die Welt verbessernde Potential, das dem guten Willen und – in abstrahierter Form – der Ideokratie zu eigen sei, könne durch Aufklärung gesteigert werden. Dabei gelte es, die Wissensvoraussetzungen für die Möglichkeiten der Weltverbesserung zu schaffen. Diesen Ansatz verfolgen laut Lübbe technokratische Ideokratien. Totalitäre Ideokratien wähnten sich zudem im Besitz eines „höheren Moralismus“. Roger Griffin untersucht in vergleichender Perspektive, wie Ideokratien ihre Herrschaft rechtfertigen. Er legt dabei ein Konzept zugrunde, das „Totalitarismus“ als Experiment der Sozialkonstruktion versteht. Ideokratien zielen demnach darauf, um jeden Preis eine neue Gesellschaft zu erschaffen und eine anthropologische Revolution in Gang zu setzen. Angewandt auf die „Ideokratie“ führt dies zu der Annahme, dass einige totalitäre Regime – wie das NS - Regime und die Sowjetunion – sich zeitweilig durch eine Welle populistischer Begeisterung für die von den Machtträgern versprochene Aussicht auf eine neue Ära legitimiert haben. Die von Ideokratien in dieser Phase verübten Gewalttaten würden dabei als Geburtswehen gerechtfertigt, um einer neuen Ordnung zum Leben zu verhelfen. Steffen Kailitz zeigt in seinem Beitrag, dass es ein spezifisches Muster der Einbindung von Eliten und Bürgern in ( vor allem kommunistischen ) Ideokratien gibt, das sich deutlich von dem Einbindungsmuster anderer politischer Regimetypen unterscheidet. Ideokratien „durchherrschen“19 demnach die Gesellschaft mit einem dichten Netz von materiellen Abhängigkeiten des Einzelnen vom Staat, aus dem sich dieser kaum vollständig befreien kann. Die starke Neigung von Ideokratien, die Güter - und Positionsverteilung zu kontrollieren oder sogar gänzlich beim Staat zu monopolisieren, gehe Hand in Hand mit einer sehr starken Repressionsfähigkeit gegenüber allen Nichteingebundenen. Die Konsequenzen des Einbindungsmusters von Eliten und Bürgern in Ideokratien schätzt der Beitrag als ambivalent ein. So vereinnahmen und gängeln Ideokratien den Einzelne sehr stark. Dies könne auch bei ansonsten politisch indifferenten Personen Widerwillen erzeugen. Dennoch könne die charakteristische, sehr starke Einbindung von Eliten und Bürgern mit erklären, warum kommunistische Ideokratien im Vergleich mit anderen politischen Regimetypen eine recht hohe Dauerhaftigkeit aufwiesen. 19 Vgl. Jürgen Kocka, Durchherrschte Gesellschaft. In : Hartmut Kaelble / ders./ Hartmut Zwahr ( Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547–553. 12 Einführung Manfred G. Schmidt untersucht die Bedeutung des politischen Leistungsprofils von Autokratien, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Nach seinen empirischen Ergebnissen, die auf einem globalen Makrovergleich der wirtschaftlichen Entwicklung von Demokratien und Autokratien wie einer Fallstudie zur DDR basieren, wird das „Dilemma des Diktators“20 nur scheinbar dadurch überwunden, dass Autokraten neben Repression auch Loyalität stiftenden politischen Tausch einsetzen. Die Herrschaftssicherung von Autokratien und damit auch Ideokratien stütze sich – abgesehen von einzelnen Erfolgsfällen wie der Volksrepublik China – typischerweise nicht oder nur in geringerem Umfang auf innenpolitisch erzeugte Output - Legitimität, die meist nicht oder nur in instabiler Weise erreicht werde. In die gleiche Richtung weisen die Ergebnisse der Untersuchung der legitimierenden und delegitimierenden Wirkungen der Sozialpolitik der DDR. Dieser Fall ist laut Schmidt besonders aufschlussreich für das Streben nach Output - Legitimität in Autokratien, weil sich die Herrschenden an der scheinbaren Lösung für das „Dilemma des Diktators“, Repression und politischer Tausch ( in Form von Wohlfahrtspolitik ), orientierten, dies aber letztlich nicht die gewünschte Legitimität erzeugt habe. Laut Schmidt gibt es also ganz entgegen mancher alarmistischen Pressestimme einen strukturellen Autokratienachteil im Vergleich mit Demokratien bei der politischen Leistungsfähigkeit und keinen Autokratievorteil. Wolfgang Bialas nimmt das Wechselspiel von Legitimation, Kooptation und Repression im NS - Regime in den Blick. Er konzentriert sich dabei wesentlich auf die zentrale Gruppe der politisch Indifferenten. Nachdem Bialas zunächst wichtige Elemente der nationalsozialistischen Ideologie rekonstruiert hat, zeigt er, wie das nationalsozialistische System in seiner Haltung zu politischer Indifferenz auf effektive Weise Kooptation, Repression und Legitimation kombinierte. Er erfasst dabei die Rechtfertigungen opportunistischen Verhaltens und freiwilliger Gefolgschaft politisch indifferenter Deutscher ebenso wie die rassenideologische Vereinnahmung christlich - humanistischer Denkfiguren, mit denen das Heilsversprechen eines „neuen Menschen“ entwickelt wurde. Anschaulich legt er dar, wie bloßer Opportunismus und ideologischer Fanatismus im Nationalsozialismus nebeneinander standen. Udo Grashoff widmet sich dem Wechselspiel von Legitimation, Kooptation und Repression in der zweiten deutschen Diktatur, der DDR. Legitimation wurde laut Grashoff von den Machthabern stets als antifaschistischer Staat auf dem Weg zum Kommunismus beansprucht. Er zeigt weiterhin, dass darüber hinaus der „Scheinparlamentarismus“, die Integration von Technokraten ( in den 1960er Jahren ) und die Wohlfahrtspolitik ( in den 1970er und 1980er Jahren ) Bedeutung hatten. Im Bereich der Repression ist nach den Ergebnissen der Untersuchung die Entwicklung der DDR von einem – nicht gleichmäßig verlaufenden – Sinken der Bedeutung der Repression gekennzeichnet. Die Kooptation 20 Vgl. Wintrobe, Tinpot. Einführung 13 von Nicht - Kommunisten habe nur eine geringe Rolle in der Geschichte der DDR gespielt und wurde nur in der Anfangsphase der DDR als Auslaufmodell praktiziert. Der Beitrag von Christian Göbel untersucht das – sich im Zeitverlauf verändernde – Verhältnis von Legitimation, Kooptation und Repression und Performanz in der Volksrepublik China. Zu seinen Ergebnissen zählt, dass das totalitäre Mao - Regime durch ein äußerst hohes Maß an Repression und ideologischer Indoktrinierung, aber zugleich von einem niedrigen Kooptations - und Performanzgrad geprägt war. Nach dem Tod Maos habe der Repressions - wie der Indoktrinierungsgrad abgenommen, der Performanz - und Kooptationsgrad aber nicht bedeutend zugenommen. So sei ein Machtvakuum entstanden, in dem sich gesellschaftlicher Widerstand gegen die zunehmende Korruption, anwachsende Ungleichheit und hohe Inflation bildete. Dieser Widerstand habe seinen Ausdruck in den Demonstrationen von 1989 gefunden, die von Studenten initiiert wurden, sich aber schnell auf andere Bevölkerungsschichten ausweiteten. Durch gezielte Reformen seien in den folgenden Jahren die Performanz des Regimes verbessert, wichtige gesellschaftliche Gruppen kooptiert und der Einsatz von Repression dem Notfall vorbehalten worden. Diese Maßnahmen erhöhten nach Goebel die Stabilität des Regimes erheblich. Dank gilt allen Autoren sowie allen Mitarbeiter( inne )n des HAIT und Praktikant( inn )en am HAIT, insbesondere Frau Christin Diana Becker und Frau Susanna Mocker, die an der Entstehung dieses Heftes mitgewirkt haben. Steffen Kailitz