(Hg.), "Opfer"-/"Täter"-Familiengeschichten.

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(Hg.), "Opfer"-/"Täter"-Familiengeschichten.
Gerhard Botz / Peter Dusek / Martina Lajczak (Hg.)
"Opfer"-/"Täter"-Familiengeschichten
Erkundungen zu Nationalsozialismus, Verfolgung, Krieg und
Nachkrieg in Österreich und seinem europäischen Umfeld
Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft
LBIHS-Arbeitspapiere, Nr. 20, Wien 2014
3
Gerhard Botz / Peter Dusek / Martina Lajczak (Hg.)
"Opfer"-/"Täter"-Familiengeschichten
Erkundungen zu Nationalsozialismus, Verfolgung, Krieg und
Nachkrieg in Österreich und seinem europäischen Umfeld
Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft
LBIHS-Arbeitspapiere, Nr. 20, Wien 2014
4
5
Inhalt
Vorwort
7
Botz Gerhard
9
Einleitung: Eine neue Generation von familiengeschichtlichen Erkundungen
zu Nationalsozialismus, Verfolgung, Krieg und Nachkrieg?
Dusek Peter
15
Über die Ambivalenz der Gefühle
NS-Aufarbeitung am Beispiel meines Stiefgroßvaters Leo Stein
Domes Nikolaus
17
Zwischen Ideologie und Opportunismus
Eine bürgerliche Familie inmitten gesellschaftlicher Umbrüche in Spanien und
Österreich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre
Liszt Peter
45
Heimatlos im Heimatland: eine Burgenländische Familiengeschichte
Rekonstruktion der Kriegserlebnisse meines Großvaters – Stefan Liszt
Bystricky Peter
71
Verflochtene und flexible nationale Identitäten
Meine tschechischen Verwandten im Wien vor, während und nach der NS-Zeit
Schmatz-Rieger Lucinda
107
Haus Kellermanngasse 8
Vom Verschwinden der BewohnerInnen
Rosenkranz Cornelia
145
Die jüdische Seite
Entwurzelung und Vertreibung meiner Familie – Eine Fallstudie
Pöcksteiner David
Zwischen Mitgliedschaft und Ablehnung
Kindheitserinnerungen meiner Großeltern an den Nationalsozialismus
179
6
Kreutzer Kristina
215
Zwischen Wahrnehmung und Wahrheit
Kindheitserinnerungen meiner Loosdorfer Familie aus dem Jahr 1945
Turmalin Stephan
245
Die Oma im Stollen
Lampl Andreas
273
Vom „Täter“ zum „Helden“ und zurück
Die Ambivalenz eines Menschenbildes in der Familienerinnerung
Pirker Bettina
307
Zwischen Opfermythos, Heroisierung und Verharmlosung
Eine Murauer Familie und der Nationalsozialismus
Siegmund Veronika
367
Der lange Schatten der Napola
Nachwirkungen der „nationalpolitischen Erziehung“ auf das Leben meines Großvaters
Autorinnen und Autoren
405
7
Vorwort
Im Wintersemester 2012/13 haben Emerit. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Botz und Honorar prof. Dr. Peter Dusek das Seminar zum Thema "Opfer"-/"Täter"-Familiengeschichten"
abgehalten. In dieser Lehrveranstaltung wurden schriftliche Arbeiten erarbeitet und
diskutiert, von denen die meisten auch als Bachelorarbeiten am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien eingereicht wurden. Unterstützt vom Ludwig BoltzmannInstitut für Historische Sozialwissenschaft (LBIHS) des Clusters Geschichte der LBG,
Wien (Leiter: Gerhard Botz) können nach einer längeren Bearbeitungs- und Nachbearbeitungszeit elf dieser Texte, zum Teil geringfügig gekürzt, hier einer kleinen Öffentlichkeit übergeben werden. Dabei wurden die Lehrveranstaltungsleiter von Martina Lajczak (Bakk. phil.), die auch das Korrektorat und die Formatierung besorgte, tatkräftig
unterstützt.
Wir danken den Verfasserinnen und Verfassern der Beiträge dieses Bandes für die Fertigstellung ihrer Texte, vereinzelt nach einiger Wartezeit, Familienangehörigen unserer
Studierenden, den hilfreichen Mitarbeitern der konsultierten Amtsstellen, Bibliotheken
und Archiven, vor allem der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte der Universität
Wien und des Österreichischen Staatsarchivs, und - last but not least - den Mitarbeitern des LBIHS Mag. Heinrich Berger und Dr. Richard Germann für ihre Hilfe und Expertise.
Wien, Juni 2014
Gerhard Botz, Peter Dusek, Martina Lajczak
8
9
Gerhard Botz
Einleitung: Eine neue Generation von familiengeschichtlichen
Erkundungen zu Nationalsozialismus, Verfolgung, Krieg und
Nachkrieg?
Die Beiträge dieses Sammelbandes wurden von Österreicherinnen und Österreichern,
die im Studienjahr 2012/13 an der Universität Wien studierten, verfasst. Der größte
Teil davon stammt von Autorinnen und Autoren, die zu "Generationen" 1 gehören, die
überwiegend in den 1980er Jahren geboren wurden. Ihre Aufgabe war es, durch Oral
History-Interviews2 mit Familienangehörigen und unter Heranziehung auch von anderen Quellen (persönlichen Dokumenten, Mitgliedschaftsregistern, amtlichen Akten, Fotos etc.) zu recherchieren und zu beschrieben, wie Großeltern und andere ältere Angehörige ihrer eigenen Familie das NS-Regime, die Kriegshandlungen und die unmittelbare Nachkriegszeit erlebt hatten, wie sie davon erzählten oder nicht erzählten und in
welchen generationenübergreifende Familiengeschichten 3 sie eingebunden waren. Dies
bedeutete, dass die Forschenden als "teilnehmende Beobachter" 4 in die innerfamiliären
Diskurse selbst eingriffen, sie auf mancherlei Weise beeinflussten und (manchmal) ihr
eigenes Verständnis vom Verhalten ihrer Vor-Generationen und der bisher tradierten
Familiengeschichte verändert haben. Somit werden auch generationenmäßige Schichtungen5 und Überlagerungen der Geschichtsbilder sichtbar.6
Als Enkel und Enkelinnen waren für sie die alten Menschen, die schon ein Geschehen,
das über ein halbes Jahrhundert entfernt war, erlebt hatten, bewunderte Großväter
oder geliebte Omas.7 Zugleich wollten sie aber auch kritisch deren Vergangenheit und
individuelles Verhalten erkunden. (In einzelnen Fällen reichten die FamilienerzählunZum aussagekräftigen, aber auch problematischen Begriff von "Generation" siehe allg.: Karl Mannheim,
Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. v. Kurt H. Wolff, 2. Aufl. Neuwied am Rhein 1970, S. 509-565 und
Ulrike Jureit / Michael Wildt, Generationen, in: dieselben (Hg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen
Grundbegriffs, Hamburg 2005, vor allem S. 7-14; sowie hier die Einzelbeiträge von M. Rainer Lepsius (Kritische
Anmerkungen zur Generationenforschung, S. 45-52) und Christina Benninghaus (Das Geschlecht der
Generationenfolge. Zum Zusammenhang von Generationalität und Männlichkeit, S. 127-158); allg.: Beate Fietze,
Historische Generationen. Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität, Bielefeld
2009, vor allem S. 61-82; Hartmut Berghoff / Uffa Jensen / Christina Lubinski / Bernd Weisrod (Hg.), History by
generations. Generational dynamics in modern history, Göttingen 2012, S. 7-13 (Introduction).
2
Zur Methode siehe vor allem: Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur
biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt a. Main 1995 und konkret: Alexander von Plato, Oral History nach
politischen Systembrüchen, in: Julia Obertreis / Anke Stephan (Hg.), Erinnerungen nach der Wende. Oral history und
(post)sozialistische Gesellschaften, Essen 2009, S. 63-81.
3
Meinrad Ziegler, Das soziale Erbe. Eine soziologische Fallstudie über drei Generationen einer Familie, Wien 2000, Kap.
3, S. 85-229.
4
Siehe etwa: Roland Girtler, Methoden der Feldforschung. Böhlau, Wien 2002. In Hinkunft verwende ich der
Einfachheit halber die männliche Form auch für Gesamtheiten, die sowohl Männer wie Frauen umfassen.
5
Vgl. Margit Reiter, Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck 2006, S. 29-52,
466-468.
6
Ziegler, Erbe, S. 231-250.
7
Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline Tschuggnall (Hg.), "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust
im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002, S. 44-80 und 81-87.
1
10
gen, die hier wiedergegeben bzw. konstruiert werden, weiter zurück, bis in die
Urgroßelterngeneration, die
(damals etwa 15-jährig)
noch
direkt in National-
sozialismus und Kriegsgeschehen verstrickt gewesen sein konnte, jedoch nicht mehr
am Leben war.) In den lebensgeschichtlichen Interviews die bestehenden Familiengeschichten distanziert und doch rücksichtsvoll in Frage zu stellen, war eine der schwierigsten Aufgaben, die die Seminarteilnehmer lösen mussten und die manche zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Projekt veranlasst haben. Denn ihre Forschungs- und
Darstellungsanstrengungen bewegten sich oft auf einem "gefährlichen" Untergrund
und ließen leicht innerhalb der Familien, aber auch in den Selbstverständnissen der
"Generation" unserer Studierenden selbst manche schmerzhaften Gegensätze aufbrechen, wie wir vermuten können. Einige Jahre früher wäre das in Österreich wohl so
nicht möglich geworden, ja ich hatte manchmal den Eindruck, man sollte dem moralisierenden vergangenheitspolitischen Impetus und der Suche nach täterschaftlichem
Verhalten bei den eigenen Vorfahren mehr Distanzierung empfehlen.8
Gelegentlich scheinen dabei als vermittelnde oder unterstützende Instanzen auch die
schon in der Nachkriegs- und "Wirtschaftswunderzeit" aufgewachsenen und vom gesellschaftlichen Klima der sozial-liberalen und von Nach-68er-Reformen beeinflussten
Eltern9 der Studierenden einbezogen gewesen zu sein. Wir liegen wohl nicht ganz
falsch mit der Annahme, dass in diesem Seminar so etwas wie ein "kollektiver" Lernund Umdenkprozess abgelaufen ist, der in heutigen universitären und bildungsbegünstigten Milieus eine kritische Sicht 10 auf die mit dem Nationalsozialismus verflochtene
eigene wie österreichische Vergangenheit erkennen lässt.
Als Lehrende, (wiederum) begleitende Beobachter und (manchmal) Intervenierende
im Entstehen dieser Arbeiten, haben wir in einem solchen (heute unter den gegebenen
universitären Rahmenbedingungen schwieriger gewordenen) Experiment einer forschenden Lehre selbst wertvolle Eindrücke gewonnen; doch wollen wir diese keineswegs als breit empirisch belegte Thesen, aber auch nicht als bloß subjektive Spekulationen gewertet sehen.
An die zu bearbeiteten Themen sind die meisten der hier vertretenen Autorinnen und
Autoren mit einer kritischer Haltung zum Nationalsozialismus und zu ihren Großeltern
als sogenannte "Täter" oder "Mittäter" bzw. "Mitwisser" bzw. auch als "untätige" oder
Ich spreche hier auch etwas aus eigener Erfahrung, siehe: Gerhard Botz, Nazi, Opportunist, "Bandenbekämpfer",
Kriegsopfer. Dokumentarische Evidenz und Erinnerungssplitter zu meinem Vater, in: Gerhard Botz (Hg.), Schweigen
und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien
2005, S. 135-159; vgl. auch: Walter Manoschek, Die Generation Waldheim, in: Barbara Tóth / Hubertus Czernin (Hg.)
1986. Das Jahr, das Österreich veränderte, Wien 2006, S. 142-131; Ernst Hanisch, Was ein Landpfarrer über die Jahre
1938 bis 1945 in seine Chronik schrieb: Versuch einer 'dichten Beschreibung', in: Heinrich Berger u.a. (Hg.) Politische
Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen, Wien 2011, S. 265286.
9
Nicht ganz zutreffend für Österreich, siehe jedoch: Heinz Bude, Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 bis
1948, Frankfurt am Main 1995, S. 95-102.
10
Cornelius Lehnguth, Waldheim und die Folgen. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in
Österreich, Frankfurt a. M. 2013, S. 457 f.
8
11
schweigende "Opfer"11 herangegangen. Wissensmäßig durch Schule, Massenmedien,
besonders Fernsehen und Universität "geprägt" scheint auf sie das nach der "Waldheim-Affäre" von 1986/9012 neuerliche Aufbrechen der verdrängten österreichischen
NS-Vergangenheit während der "Schwarz-blauen" Regierung und des Aufstiegs Jörg
Haiders großen Eindruck gemacht zu haben; so waren die noch bis vor wenigen Jahren
in politischen Deklarationen und im "kulturellen Gedächtnis" 13 wirksam gewesenen
"Opfer"-Erzählungen schon um 2012/13 weitgehend erodiert 14 und unter unseren Studierenden praktisch verschwunden.
Allerdings waren viele der Großeltern-Generation noch durch eigene Erinnerungen an
ihre Väter und Mütter und deren Erzählungen von der für diese noch "heißen Geschichte" von Nationalsozialismus und Weltkrieg – verständlicherweise – emotionell
anders gepolt, woraus heftige innere und innerfamiliäre Konflikte entstehen konnten.
Daraus ergab sich manchmal bei unseren Studenten der aus sozialpsychologischen
und erinnerungsgeschichtlichen Studien bekannte Zweispalt einerseits von Wissen und
Ablehnung des Nationalsozialismus und seiner ärgsten Verbrechen und andererseits
die Übernahme von verschiedenen Entschuldigungs- und Deckstrategien für die eigenen Familienangehörigen dieser Zeit; 15 diese seien oft zu jung (in HJ, BdM oder Flakhelfer),16 "nur" Parteigenossen, Mitleid unterdrücken müssende Zuschauer (bei
Zwangsarbeit in KZ-Nebenlagern) gewesen. Denselben Entlastungsmechanismus gab
es auch, selbst wenn es sich um Denunziationen von NS-Gegnern und Verfolgungsaktionen wie die sog. "Mühlviertler Hasenjagd" gehandelt hatte. Die dabei zu Tage tre tenden Entschuldigungsdiskurse innerhalb der eigenen Familien entsprachen durchaus
der jahrzehntelangen öffentlichen Verdrängung und Verharmlosung solcher Involvierungen, die mit den reinigenden Konflikten um Waldheim und die "Pflichterfüllung" österreichischer Wehrmachtssoldaten zum ersten Mal in Österreich offenkundig geworden waren.
Die Art der Involvierung in die Gewalt- und Diktaturgeschichte war allerdings unterschiedlich. In einer Minderheit der Familiengeschichten wurden Österreicher und Österreicherinnen beschreiben, die als Juden gekennzeichnet, ausgegrenzt und verfolgt
Generell zu dieser jedoch schwer vermeidbaren Begrifflichkeit siehe: Gerhard Botz, Opfer/Täter-Diskurse. Zur
Problematik des „Opfer“-Begriffs, in: Gertraud Diendorfer / Gerhard Jagschitz / Oliver Rathkolb (Hg.), Zeitgeschichte
im Wandel. 3. Österreichische Zeitgeschichtetage 1997, Innsbruck 1998, S. 223-236.
12
Michael Gehler, „.. eine grotesk überzogene Dämonisierung eines Mannes“, in: derselbe / Hubert Sickinger (Hg.),
Politische Affären und Skandale in Österreich. Thaur 1995, S. 614-665; dagegen: Gerhard Botz, Die „Waldheim-Affäre“
als Widerstreit kollektiver Erinnerungen, in: Tóth / Czernin, 1986, S. 72-88.
13
Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S.;
dieselbe, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 19-27.
14
Heidemarie Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese. Die Transformationen des österreichischen
Gedächtnisses, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 2, Berlin 2005, S.
481-508.
15
Reiter, Generation, S. 47-53, sowie S. 107-185 (Vaterbilder) und 186-236 (Mutterbilder).
16
Immerhin wurden viele von ihnen im Laufe der Jahrzehnte nach 1945 zu Wählern und Funktionären der
Nachkriegsdemokratien in Deutschland und Österreich, vgl. Malte Herwig, Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten
Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden, München 2013. Vgl. auch Johanna Gehmacher, Jugend
ohne Zukunft. Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel in Österreich vor 1938, Wien 1994.
11
12
wurden. Ein Beitrag machte – als Kontrapunkt zu den Oral History-Lebensgeschichten
– das Schicksal von Juden und Jüdinnen sogar zum Thema, selbst als diese aus einem
Wiener Wohnhaus vertrieben oder deportiert und ermordet worden waren.
Der größere, nichtjüdische Teil der Österreicher und Österreicherinnen der Großelterngeneration stand allerdings auf der Verfolgerseite. Sie lebten teils in ländlichen Milieus,
die traditionale Familienformen und konservativ-nationalistische Orientierungen aufwiesen, die sie in unterschiedlichem Maße auch für Nationalsozialismus anfällig gemacht hatten. Dabei zeigte sich auch in diesen Familiengeschichten ein überraschend
hohes Maß an räumlicher Mobilität, die zum Teil mit dem Krieg zusammen hing, zum
Teil aber auch schon zuvor nach Ungarn und sogar nach Spanien ausgegriffen hatte.
1945 befanden sich viele, ob sie auf der Regimeseite gestanden waren oder nicht, in
einer radikal geänderten Situation, insofern sie Straf- und Entnazifizierungsaktionen
oder Schikanen der Befreiungsbesatzer, deren Gewalt oder Vergewaltigungen ausgesetzt waren. Sie machten damit ebenfalls bedrohliche und demütigende Erfahrungen,
die sie zuvor, wenn es um Juden, "Zigeuner" und andere "Gemeinschaftsfremde" 17
ging, nicht hatten sehen wollen. Auch lange nach dem Ende der NS-Herrschaft wurde
hier nur selten ein historischer Zusammenhang mit der viel ärgeren Gewalt des Regimes, das sie zuvor unterstützt oder hingenommen hatten, hergestellt; wie nicht anders zu erwarten war, wurde das zum Anlass für Schuldaufrechnung oder Opfer-TäterUmkehr.18
Politisch aktiver Widerstand gegen das NS-Regime kam bei den Großeltern unserer
Studenten wohl ebenso selten vor wie in der österreichischen Gesamtbevölkerung. Allerdings kamen auch Fälle von achtenswerter Regimedistanz und NS-oppositionellen
Verhaltens im Nationalsozialismus zum Vorschein. Das war vor allem bei solchen Familien zu beobachten, die ganz oder teilweise tschechischer Herkunft waren. Hier traten
auch innerfamiliäre Gegensätze manchmal von beachtlicher Heftigkeit auf, die Schlüsse auf das Weiterwirken von sozial, religiös-kulturell oder national unterlegten Gegensätzen, die auch durch Heirat und Kinder nicht überwunden wurden, zulässt. All dies
lässt erkennen, welche soziale und psychische Anstrengungen den einzelnen Personen,
die auf der Täter- oder/und Opferseite gestanden waren, abverlangt wurden, um sich
(einigermaßen kohärente) Identitäten zu erarbeiten. Unsere Studierenden waren Teil
davon.
Eine große historiografische und politisch-wertungsmäßige Schwierigkeit lag darin,
dass die Familiengeschichten über (mindestens) einen Regimebruch hinaus reichten
Grundlegend immer noch: Detlev J. K. Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und
Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982.
18
Siehe Ruth Wodak u.a. (Hg.), "Wir sind alle unschuldige Täter!" Diskurshistorische Studien zum
Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt am Main 1990.
17
13
und dadurch die von den Selbstverständnissen und der objektivierenden historischen
Sicht vorgegebene "Opfer"/"Täter"-Dichotomie nicht mehr griff. Einerseits gab es eine
von liberal-demokratischen Positionen aus distanziert zu sehende diktatorische Vergangenheit und andererseits die Befreiung von NS-Diktatur und die (von den Besatzungsmächten implementierte) Re-Demokratisierung, die von den Großeltern oft negativ erlebt (und erzählt) worden war und in vielen österreichischen Familiengedächtnissen lange Zeit mit Gefühlen der Ambivalenz verbunden blieb. Solche im großen historischen wie im familiären Zusammenhang mit Augenmaß zu beurteilen und nicht einer "Opfer"-Aufrechnung zu verfallen, war Herausforderung, die unsere Studierenden
zu lösen hatten.
So ergeben die vorgelegten unterschiedlichen und faszinierenden ego- und familien historischen Erhellungs- und Selbstfindungsversuche ein vielfältiges Mosaik von alltags-, kultur- und politikgeschichtlichen Studien, die neues Licht auf eine in ihren
Nachwirkungen noch nicht (ganz) vergangenen "Umbruchs"-Zeit19 werfen können.
Vgl. auch Alexander von Plato, Familien in Systembrüchen. Fragen zum Vergleich von 1945 und 1989 in Deutschland
297-316, in: Christian von Zimmermann / Nina von Zimmermann (Hg.), Familiengeschichten. Biographie und
familiärer Kontext seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008, S. 297-316.
19
14
15
Peter Dusek
Über die Ambivalenz der Gefühle
NS-Aufarbeitung am Beispiel meines Stiefgroßvaters Leo Stein
Er hat mein Leben geprägt – in vielerlei Hinsicht. Leo Stein (geboren am 1. 10. 1895)
war der 2. Ehemann meiner Großmutter. Er war schon Nazi-Parteimitglied seit den frü hen 30er Jahren. Als Offizier der Waffen-SS verschlug es ihn nach Griechenland, nach
dem Krieg geriet er in russische Kriegsgefangenschaft, später wurde er Frühpensionist
und Geigenschnitzer. Als Kind war er mein Idol: er malte und spielte auf von ihm er zeugten Geigen Beethoven. Sein Wissen über Oper war enorm, via Schallplatten spielte er mir Leo Slezak und „Tom der Reimer“ vor. Er studierte Leonardo da Vinci und
Goethe – ein Humanist vom Scheitel zur Sohle.
Während meiner Pubertät bekam das Denkmal Sprünge. Abends trank er – mitunter
einen „Doppler“. Dann verwandelte sich der Schiller-Fan zum glühenden Nazi. Vom Urlaub bis zum Volkswagen, vom Radio bis zur Volksgesundheit – alles gehe auf die Nationalsozialisten zurück, die einen großen Fehler begangen hätten – sie hätten nicht
den Mut zum „Holocaust“ gehabt. Dafür würde diese Geschichte heute von den US-Juden erfunden, die sie mit gefälschten Fotos beweisen versuchen. Wenn ich ihn dann
fragte, wie er sich die Fälschung von Millionen Dokumenten vorstelle, antwortete er:
“Ich hätte mich über den Holocaust viel zu sehr gefreut, als dass er von mir unbemerkt stattgefunden hätte“.
Mein Stief-Großvater war dann plötzlich Dr. Jekyll und nicht Hyde… und meine Gefühlsambivalenz war groß!
Jedenfalls hat das Ringen um diese Ambivalenz mein Leben stark verändert. Ich begann schon eine Arbeit aus den Beständen des DÖW im Jahr 1972 – also mit 27 Jahren. Die Edition „Alltagsfaschismus“20
1) kam dann 6 Jahre später heraus. Von dieser Dokumentation bis zum
Medienkoffer-Programm des Unterrichtsministeriums21
2) dauerte es wieder nur 2 Jahre. Und 1982 startete Hugo Portisch sein
Mammutprogramm „Österreich II“22,
3) an dem ich zentral beteiligt war.
20
21
22
Peter Dusek, Alltagsfaschismus in Österreich, Ton-Text-Edition, Nö-Pressehaus, St. Pölten 1979.
Herausgeber bei „Medienkoffer zu Zeitgeschichte“, I-IV, 1980-1985.
Österreich II, die Geschichte der Zweiten Republik, 25-teilige ORF-Serie, die zwischen 1982 und 1988 lief.
16
Übrigens meine Eltern? Die waren echte „Mitläufer“ – mein Vater koordinierte die Mädels vom Roten Kreuz (eine davon war meine Mutter). Sie tanzte im März 1938 mit
den deutschen Soldaten auf der Ringstraße. Zu meiner Geburt im Mai 1945 übersiedelte sie zur Familie meines Stief-Großvaters nach Waidhofen an der Thaya. Leo Stein
hat mein Leben wahrlich beeinflusst.
17
Nikolaus Domes
Zwischen Ideologie und Opportunismus
Eine bürgerliche Familie inmitten gesellschaftlicher Umbrüche in Spanien und
Österreich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre
18
Inhalt
1 Einleitung
19
2 Vom Leibarzt des Fürsten Schwarzenberg
20
3 Eine behütete Kindheit
26
4 Der Erste Weltkrieg als Wendepunkt
28
5 Schicksalsschläge
32
5.1 Das Ende des bürgerlichen Zeitalters
32
5.2 Krieg in Spanien
37
6 Der „Fall“ meiner Großmutter:
39
Hinwendung eines verunsicherten Bürgertums zum Faschismus
7 Quellen
43
8 Abbildungen
43
19
1 Einleitung
Als meine Großmutter mütterlicherseits Alice Maria Blanca Domes genannt Blanca
(*29. 10. 1913) in der Nacht auf den 21. 8. 2007 in einem Zimmer der Unfallchirurgie
des Wiener AKH verstarb, war ich der letzte, der noch bei ihr zu Besuch war und auch
derjenige, den der Anruf über ihr Ableben um zwei Uhr in der Früh erreichte. Sie war
für mich wie eine zweite Mutter, die sich rührend um mich gekümmert hatte. Ich
wuchs bei ihr auf, in einer Dienstwohnung der Austria Tabak im 18. Bezirk in Wien. Es
war eine große Wohnung, beheizt mit einem Holz- und einem Ölofen. In meinem Zimmer befand sich der Brikettofen, der für ein kleines Kind wie mich besonders faszinierend war. Bis auf die zwei Zimmer mit den Öfen blieb die restliche Wohnung im Winter
sehr kalt. Dringend hätte die Wohnung renoviert werden müssen, doch meine Großmutter sträubte sich dagegen. „Das zahlt sich doch gar nicht mehr aus“, kam dann
meistens, einen Satz den sie vermutlich schon vor zwanzig Jahren von sich geben hatte. Ähnliches auch in Hinblick auf den Kauf von Töpfen und Pfannen, obwohl schon
zum x-ten Mal angebrannt, war sie der Meinung, der Erwerb neuen Geschirrs würde
sich einfach nicht mehr lohnen. Dies war nicht der Ausdruck von Geiz sondern die Eigenschaft eines Menschen, der sich selbst wenig gönnte. Auf die Frage, wie sie denn
einmal beerdigt werden möchte, antwortete sie: „das, was am billigsten ist“.
Dass ich in dieser Arbeit ausschließlich von der Familie meiner Großmutter spreche,
obgleich es auch meine eigene Familie ist, liegt daran, dass ich selbst keine Verbindung zu dem Familienzweig meiner Großmutter habe. Da im Grunde sämtliche Verwandte dieses Zweiges, die auch als Protagonisten dieser Arbeit in Erscheinung treten,
inzwischen verstorben sind, gibt mir dies das Gefühl mehr von Blancas Familie zu
schreiben als von meiner eigenen. Zum anderen stellt es auch einen kleinen Tribut an
die illusorische Vorstellung einer objektiven Erzählung dar.
Der zeitliche Rahmen umfasst die mehr oder weniger greifbaren Anfänge der Familienchronik und reicht bis zur Zeit des Nationalsozialismus. Der Fokus liegt dabei auf der
Zwischenkriegszeit, auf der einen Seite bedingt durch die Quellenlage, bietet sich auf
der anderen Seite dadurch die Möglichkeit, einen Blick auf die Vorgeschichte zum Nationalsozialismus zu werfen.
Ziel der Arbeit ist es, die Entwicklung der Familie von ihrem Aufstieg zu einer bürgerlichen Familie bis zu ihrem Ruin am Beginn des „kurzen 20. Jahrhunderts“ zu beschreiben. Im Mittelpunkt steht die mentalitätsgeschichtliche Aufarbeitung der inhärenten
Ängste, politischen Ansichten und Ideologien der Familie, im Speziellen meiner Großmutter und deren Mutter, in jener Zeit des Umbruchs. Darüber hinaus wird auch ein
Blick auf das Alltagsleben und die prägenden sozioökonomischen Faktoren geworfen.
20
Diese Arbeit soll ein Versuch sein, die Wege und Entscheidungen sowie die politischen
Ansichten vor dem Hintergrund der damaligen einschneidenden Ereignisse nachzuzeichnen. Dabei steht nicht nur der Mikrokosmos Familie im Zentrum der Darstellung,
sondern auch jene makrogeschichtlichen Einflüsse, welche das Leben der Protagonisten dieser Geschichte geprägt haben. Auf der Suche nach den Elementen, die das
Weltbild meiner Großmutter beeinflusst haben, widme ich mich der Geschichte ihrer
Vorfahren, der in ihren Augen glücklichen und sorgenfreien Kindheit in Spanien, ihrer
Jugend, die wiederum von wirtschaftlichen Krisen und persönlichen Schicksalsschlägen
geprägt war sowie schließlich der Zeit des Nationalsozialismus.
Die Rekonstruktion der Geschichte der Familie meiner Großmutter ist freilich an das
Vorhandensein und die Qualität von Quellen gebunden, die, und dies gilt es zu berücksichtigen, keine gleichmäßige Dichte an Informationen geben können. So wird auf gewisse Lebens- und Zeitabschnitte mehr Gewicht gelegt, als dies für andere möglich ist.
Die Zeit bis zum Jahr 1932 ist durch Quellen wie die Familienchronik, das Tagebuch
von Blancas Mutter Bertha oder die niedergeschriebenen Kindheitserinnerungen meiner Großmutter relativ gut dokumentiert. Die Zeit danach ist hingegen aufgrund des
Mangels an Ego-Dokumenten weit schwerer nachzuvollziehen.
Manche Fragen werden offenbleiben, sei es, weil deren Bearbeitung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde oder weil es die Quellenlage nicht zulässt.
2 Vom Leibarzt des Fürsten Schwarzenberg
Die „gute alte Zeit“ war für meine Großmutter ihre Kindheit, die sie in Spanien verbracht hat, geprägt von Erinnerungen an eine elitäre, noble Gesellschaft. Zusammen
mit der Erfahrung dieser behüteten Kindheit, formte die Geschichte ihrer Vorfahren,
die sie als Kind immer wieder erzählt bekommen hatte, die Vorstellung einer heilen
Welt, die ausschließlich aus feinen, ehrenhaften Menschen bestand und ähnlich den
„Sissi“-Filmen, ein romantisiertes Bild der Vergangenheit beschwor. Ein Eindruck den
auch die Erinnerung ihrer Tochter Ingrid bestätigt:
„Sie hat viel über ihre Vergangenheit [gesprochen], sie lebte in ihrer Vergangenheit und die wurde immer ein bisschen schöner dargestellt als sie wirklich
war. In ihrer Vergangenheit waren die Leute immer nobel und elegant und immer mit besten Umgangsformen […] Sie hat sich zurückgezogen in diese Welt,
ein bisschen auch mit Angélique unterstützt, denn sie hat ja nur Angélique-Romane gelesen, da war diese großbürgerliche Welt beschrieben, darum hat sie
diese Bücher so gern gehabt.“23
Das Wissen um die Geschichte ihrer Vorfahren oder vielmehr das Bild, das sie davon
23
Interview mit Ingrid Hauptmann, 29. 1. 2013, Wien, Audiodatei und Transkription im Besitz von Nikolaus Domes, 4f.
21
hatte, bildete also einen nicht unwesentlichen Einfluss auf das sich entwickelnde Weltbild meiner Großmutter. Welche Bedeutung es für sie hatte, zeigt sich allein darin,
dass sie ihre Familiengeschichte nicht nur mündlich in zahlreichen Erzählungen weitergegeben hat, sondern sich auch die Mühe machte, diese in schriftlicher Form festzuhalten. Es war sicher auch der Stolz auf ihre Vorfahren, der sie dazu bewogen hat, die
Geschichte ihrer Familie für die Nachwelt aufzuzeichnen. Die von ihr während ihres Besuchs in Rosenau im Waldviertel, vermutlich in den 1970er Jahren, verfasste mehrseitige Familienchronik erzählt die Geschichte ihrer mütterlichen und väterlichen Vorfahren. Die Chronik beginnt mit dem väterlichen Zweig, der Familie Riehl. Ein Vorfahre
der aus dem rheinischen Raum kommenden Riehls war, so heißt es, Baumeister am
Kölner Dom24, weshalb auch das Familienwappen Spaten und Kelle zeigt. Ob es sich
bei dem genannten Vorfahren um Gerhard von Rile handeln soll, den ersten
Dombaumeister des Kölner Wahrzeichens, der 1247 den Auftrag zum Entwurf einer
neuen prachtvollen Kathedrale erhielt 25, ist nicht erwähnt und freilich nur Spekulation.
Immerhin trägt ein Stadtteil des Kölner Bezirks Nippes den Namen Riehl. Konkreter
wird
es
erst
mit
Adam
Riehl,
Blancas
Großvater,
einem
Nadlermeister
und
Goldschmied aus Stein an der Donau, der 1805 ein Haus in Krems ersteigerte, wo ihm
das Privileg zur Errichtung einer „Nürnberger Warenfabrik“ erteilt wurde. Adams Sohn
Leopold übernahm nach dessen Tod den Betrieb. Er war zweimal verheiratet, aus der
ersten Ehe mit Katherina Heneis stammten drei Kinder, darunter Anton Riehl (*1820,
†1886), von dem in der Familienchronik lediglich erwähnt wird, dass er als Jurist eine
gutgehende Kanzlei in Wr. Neustadt hatte.26
Da Anton Riehl kein direkter Vorfahre meiner Großmutter war, ging sie vermutlich
nicht näher auf ihn und diesen Zweig der Familie Riehl ein. Es lohnt dennoch einen
kurzen Blick auf jenen Teil der Familie zu werfen, um die in der Familienchronik meiner
Großmutter vorhandene Lücke zu schließen. Anton Riehl absolvierte sein Studium der
Rechtswissenschaft in Wien und kämpfte im 1848er Jahr mit der Akademischen Legion
gegen die kaiserlichen Truppen27, vom 18. 5. 1848 bis zum 5. 4. 1849 war er Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung, wo er als Mitglied der gemäßigt linksgerichteten Westendhall Fraktion gegen die Wahl Friedrich Wilhelms IV. zum Kaiser der
Deutschen stimmte. 1861 wurde er Abgeordneter im niederösterreichischen Landtag
und im selben Jahr in den österreichischen Reichsrat entsandt. Aufgrund verschiedenster Verdienste wurde er 1866 zum Ehrenbürger von Wr. Neustadt ernannt. 28
Blanca Domes, Familienchronik (Privatbesitz Fam. Domes), 1.
Leonhard Ennen, Gerhard v. Kettwig, in: Allgemeine deutsche Biographie, Leipzig 1878, 765.
26
Domes, Familienchronik, 1.
27
Rudolf Brandstötter, Dr. Walter Riehl und die Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung in Österreich. phil.
Diss., Wien 1969, 3.
28
Heinrich Best/Wilhelm Weege, Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung
1848/49 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 8), Düsseldorf 1996, 280.
24
25
22
Anton Riehl ist der Vater des bekannten Dermatologen Gustav Riehl, der ab 1902
Nachfolger Moriz Kaposis als ordentlicher Professor der Dermatologie und Syphiliologie
an der Universität Wien und 1921/22 Rektor der Universität war. 29 Anton Riehl ist auch
der Großvater des Politikers und Rechtsanwalts Walter Riehl (*1881, †1855), der von
1919 bis 1923 Vorsitzender der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (DNSAP) in Österreich war. Nach der Spaltung der DNSAP gründete er im Juni 1924 den
Deutschsozialen Verein. Im Jahr 1930 trat Riehl der NSDAP bei.30
Aus der zweiten Ehe von Leopold Riehl mit einer gewissen Rosalia, deren Mädchenname nicht bekannt ist, ging als einziges Kind Alois Riehl (*1827, †1886) hervor, der
Großvater von Blanca Domes. Als Medizinstudent schloss sich Alois Riehl 1848 den
freiheitlichen Studenten an und wurde einer ihrer Führer. Als der Kampf zusammenbrach, gelang ihm die Flucht und er trat als Laienbruder im Wiener Schottenstift den
Benediktinern bei. Dort spielte er bei den Messen die Orgel, „die er wie berichtet, sehr
gut beherrschte“31. Der Abt des Klosters war befreundet mit dem Fürsten Schwarzenberg, der sich für den jungen Orgelspieler interessierte und sich vom Abt dessen Geschichte erzählen ließ. Aus der Familienchronik geht nicht hervor, welcher Fürst zu
Schwarzenberg gemeint ist, aufgrund der Lebensdaten und der Vita, dürfte es sich
sehr wahrscheinlich um Edmund Fürst zu Schwarzenberg (*1803, †1873) handeln. 32
Schwarzenberg fand offensichtlich Gefallen an dem Laienbruder Riehl und so nahm er
ihn, nachdem sich die Lage beruhigt und Alois fertig studiert hatte, als seinen Leibarzt
zu sich. So begleitete Blancas Großvater den Fürsten auf seinen langen Reisen sowie
später zu seinen Kuraufenthalten.33
Edmund Fürst zu Schwarzenberg, der als Offizier in der k.k. Armee sowohl 1848 als
auch 1859 in Italien kämpfte, wurde 1867 anlässlich der Enthüllung des Denkmals sei nes Vaters Karl Philipp zu Schwarzenberg, der als Sieger der Völkerschlacht bei Leipzig
in die Geschichte einging, zum Feldmarschall ernannt. Schon 1860 wurde Edmund zu
Schwarzenberg auf seine eigene Bitte hin aus Gesundheitsgründen vom Dienst enthoben.34 Sein offensichtlich schlechter Gesundheitszustand würde die zahlreichen Kuraufenthalte, die er laut der Familienchronik meiner Großmutter mit Alois Riehl unternahm, erklären. Eine dieser Reisen führte sie nach Karlsbad, wo Riehl seine spätere
Frau Maria Knoll kennenlernte und auch heiratete. Fürst Schwarzenberg war dabei der
Brautführer.35 Bis zum Tod Edmund zu Schwarzenbergs lebte die Familie in Wien. Von
1865 bis 1874 wird Alois Riehl in Lehmanns Adressbuch auch als Leibarzt des Fürsten
29
30
31
32
33
34
35
H. Morgenstern, Riehl, in: Österreichisches biographisches Lexikon 1815-1950, Wien 1985, 155.
Zur Biografie Walter Riehls, siehe: Brandstötter, Walter Riehl.
Domes, Familienchronik, 1.
Adolf Schnitzl, Schwarzenberg, in: Allgemeine deutsche Biografie, Leipzig 1891, 262-266.
Domes, Familienchronik, 2.
Schnitzl, Schwarzenberg, 266.
Domes, Familienchronik, 2.
23
Schwarzenberg angeführt.36
Nach dem Tod des Fürsten Schwarzenberg zog Riehl mit seiner Frau und den
gemeinsamen sechs Kindern nach Karlsbad in das Haus Strauss, welches Maria Knoll
von einer Tante geerbt hatte. Jenes Haus an der Alten Wiese, der vielleicht schönsten
Straße in
Karlsbad,
am linken
Ufer
der
Tepl, steht unmittelbar
unter
dem
Hirschensprungfelsen, einer bekannten Sehenswürdigkeit in Karlsbad. In diesen
Felsen, an den sich das Haus Strauss lehnt, war ein Stollen gesprengt, an dessen Ende
sich ein tiefer Brunnen befand. Alois Riehl führte in dem Haus seine Praxis als Kurarzt,
später wurde es von den Tanten meiner Großmutter als „Kurhaus“ geführt.37
Als Riehl mit 56 Jahren an Herzschlag starb, verfügte die Familie über keine größeren
Ersparnisse, da sie gut bzw. eventuell auch etwas über ihren Verhältnissen gelebt hat te, wodurch Ernst Riehl (*1872, †1935), der Vater von Blanca, sein Medizinstudium
aufgeben musste. Über einige Umwege (unter anderem London, wo er einen führenden Posten bei einem bekannten Kunstverlag annahm) kam er, durch eine Zeitungsanzeige, in der ein Deutscher einen Teilhaber für sein Holz- und Sägewerk (sowie Salinen
und Ölpressen) in Spanien suchte, auf die Iberische Halbinsel. Meine Großmutter beschreibt ihren Vater als tüchtig und erfolgreich, den häufigen Berufswechsel führt sie
darauf zurück, dass er das „unruhige Blut seines Vaters geerbt“ hatte. Ob dieses von
ihr positiv gezeichnete Bild tatsächlich zutrifft oder ob andere Gründe hinter dem etwas unsteten Berufsleben Ernst Riehls stecken, kann nicht entschieden werden. Charakteristisch ist in jedem Fall der Versuch, persönliche Schwächen zu beschönigen und
zu verharmlosen. „Unruhiges Blut“ oder eine „künstlerische Veranlagung“ werden als
legitime Entschuldigung für den Mangel an Geschäftssinn oder Erfolg angeführt, die
Vaterfigur selbst wird dabei nie angegriffen.
Spätestens in Spanien dürfte Blancas Vater aber einen gewissen wirtschaftlichen Erfolg
gehabt haben, er übernahm die Firma, bei der er zuvor ein Jahr Teilhaber gewesen
war, und führte ein Leben als „beliebter Junggeselle“. In Huelva lernte der damals 27
jährige Ernst Riehl bei einer Musikveranstaltung, die er aufführte, seine spätere Ehefrau kennen. Bertha Rödiger (*1886, †1937) war erst 13 Jahre alt und hatte den Part
des Kuckuck bei dieser Aufführung. Drei Jahre später verliebte er sich in sie und hielt
weitere drei Jahre später das erste Mal um ihre Hand an. Da er aber den Ruf hatte ein
„Damenfreund“ zu sein, wies ihn Berthas Vater zurück. Eineinhalb Jahre später gab sie
ihm doch noch ihr Ja-Wort. Die Hochzeit fand schließlich in Zürich, im Grand Hotel Dolder statt. Die Geschichte des mütterlichen Zweigs der Vorfahren meiner Grußmutter
wird von ihr selbst als die interessantere beschrieben, auch ein Hinweis auf die weit
Adolph Lehmann (Hg.), Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Handels- und Gewerbe-Adressbuch für die
k.k. Reichs-haupt-und Residenzstadt Wien und Umgebung, Wien 1865-1874.
37
Hierzu, sowie die nachfolgenden drei Absätze: Domes, Familienchronik, 2-3.
36
24
engere Beziehung, die sie zu ihrer Mutter hatte. Die Rödigers waren Hugenotten, die
von Frankreich nach Deutschland geflohen waren und sich in Hanau, Hessen,
niederließen. In der Familienchronik beschreibt meine Großmutter die Situation der
Familie ihres Urgroßvaters Achilles Rödiger (*1812, † 1868), einem patriotischen
Hessen, der sich bei den Preußen, die nach dem Ende des Deutschen Krieges 1866
Hessen-Kassel annektiert hatten, unbeliebt gemacht hatte und aus Hessen flüchten
musste. Die Geschichte der Flucht wurde ihr sehr oft erzählt:
„Als englischer Lord verkleidet, begleitet von einem Studenten als Diener, bekleidet mit hellgrauen Hosen, dunkelblauem Frack mit Goldknöpfen und hellgrauem Zylinder, in der Hand einen Spazierstock mit silbernem Kauf, verließ er
mit einer Extrapost bei Nacht und Nebel mit falschen Papieren das Land Hessen.
Er gelangte nach Genf, wo er mit finanzieller Hilfe von Gleichgesinnten eine
Schule eröffnete.“38
Bei der in Genf gegründeten Schule, die den Namen „Chatlaine“ trug, soll es sich um
einen imposanten Bau gehandelt haben. Es kamen Schüler aus aller Welt. Nach dem
Tod von Achilles Rödiger übernahm der Philologe und evangelische Theologe Georg
Thudichum die Leitung der Schule. Mit dem ersten Weltkrieg verlor die Anstalt ihre
Schüler und schloss schließlich im Jahre 1920 die Pforten.
Bertha Rödiger (II), die zweite Tochter von Achilles, heiratete „nach einigem Widerstand der Familie“, den Schriftsteller und Politiker Moritz Hartmann (*1821, †1872),
der, wie auch Anton Riehl, Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung von
1848/49 war, wo er als Mitglied der Donnersberg Fraktion zur äußersten Linken zählte.39 Moritz Hartmann stammte aus einer jüdischen Familie, trat aber 1838 zum katholischen Glauben über. Gründe für den Widerstand der Familie gegen die Hochzeit sind
nicht erwähnt, so stehen sowohl religiöse, als auch politische Motive im Raum. Die Religionszugehörigkeit Hartmanns könnte gleich zweifach für eine ablehnende Haltung
seitens der Familie Rödiger gesorgt haben. Waren es antisemitische Gründe oder war
es die katholische Konfession, zu der sich Hartmann seit seinem siebzehnten Lebensjahr bekannte, die der evangelischen Familie Rödiger missfiel? Auch bei der Hochzeit
zwischen Ernst Riehl und Bertha Rödiger in Spanien sorgten die unterschiedlichen
Konfessionen für Probleme, da keiner der beiden bereit war, zur jeweils anderen Glau bensrichtung zu konvertieren. Aber auch Hartmanns weit nach links außen gerichtete
politische Einstellung könnten bei der bürgerlich geprägten Familie für Missfallen gesorgt haben. Fragen, die Raum für Spekulationen bieten, aber nicht eindeutig zu beantworten sind. Ludo Moritz Hartmann, der Sohn von Moritz und Bertha (II), machte
sich als Historiker und sozialdemokratischer Politiker einen Namen. Er wurde von Viktor Adler zum Archivbevollmächtigten für Österreich ernannt und war von 1818 bis
38
39
Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Absätze: Domes, Familienchronik, 4-5.
Best/Weege, Frankfurter Nationalversammlung, 168f.
25
1920 der erste österreichische Gesandte in Berlin, wo er großen Anteil an den
deutsch-österreichischen Verhandlungen zum Anschlussprotokoll vom 2. 3. 1919 hatte. Als Historiker befasste sich Ludo Hartmann vor allem mit der Geschichte Italiens,
sein Hauptaugenmerk lag hierbei auf der Zeit des Übergangs von der Antike zum Mit telalter.40
Blancas Großvater mütterlicherseits, Wilhelm Rödiger (*1844, †1922), war Ingenieur,
der zunächst in England bei einer Eisenbahnbaufirma arbeitete, später nach Spanien
kam, wo er in Andalusien die Leitung des Bahnbaus für die Huelva/Zafrabahn innehatte. Bei einem Ritt durch die Landschaft der Sierra Morena stieß er eines Tages auf
einen alten Stolleneingang. Er holte sich Arbeiter und begann diesen zu bearbeiten.
Später tat er dies auch unter Einsatz von Maschinen, wodurch er in etwa 30 Metern
Tiefe ein großes Lager mit phönizischen Vasen sowie phönizischen und römischen
Münzen freilegte. Beim weiteren Vordringen stieß man überdies auf eine reiche Kupferader. Wilhelm machte sich daraufhin selbstständig und lebte von den Erträgen der
Mine Sultana, zu der später noch eine zweite Grube (San Rafael) hinzukam. 41 Die etwas abenteuerliche Geschichte der Entdeckung dieser Mine erscheint aufgrund der
Tatsache, dass zahlreiche Erzlagerstätten in Huelva seit der Römerzeit unberührt geblieben waren42, zumindest plausibel.
Der Kupferabbau in Südspanien hat eine lange Tradition. Im Altertum waren es die
Phönizier, welche die Kunst des Bergbaus vom Osten des Mittelmeeres in den Westen
brachten und von ihren Kolonien auf Spanien und Zypern Kupfer in den gesamten Mit telmeerraum exportierten. Nach dem Spanischen Krieg im 2. Jh. v. Chr. übernahmen
die Römer die Herrschaft und somit auch den Kupferabbau in Südspanien. Phönizische
und römische Münzfunde in diesem Gebiet wie jener von Wilhelm Rödiger belegen,
dass die südspanischen Minen bereits im Altertum von Bedeutung waren. 43 Die Industrialisierung Spaniens im 19. Jahrhundert wurde wesentlich durch Auslandskapital vorangetrieben und wäre ohne die ausländischen Investitionen im Bergbau und Eisenbahnwesen undenkbar gewesen. So wurde etwa die bedeutende Rio Tinto Mine 1873
vom Staat an die englische Rio Tinto Company verkauft. 44 Wilhelm lieferte das Kupfer
an ebendiese Rio Tinto Gesellschaft, die in Andalusien, in der Provinz Huelva, zur damaligen Zeit vorwiegend Pyrit sowie Kupfer abbaute und verarbeitete. 45 Das Aufkommen von ausländischen Firmen und Investoren in Spanien im Zuge der IndustrialisieHans Jürgen Rieckenberg, Hartmann, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 7, Berlin 1966, 737.
Domes, Familienchronik, 5.
42
Friedrich Wolff, Ein Beitrag zur Geschichte des Kupferbergbaues in Rio Tinto und Tharsis in der spanischen Provinz
Huelva, phil. Diss., Bonn 1904, 58.
43
Ebd., 19f.
44
Dieter Nohlen, Andreas Hildenbrand, Spanien. Wirtschaft-Gesellschaft-Politik, Wiesbaden 2005, 117.
45
Zur Geschichte der Rio Tinto Company siehe: Charles E. Harvey, The Rio Tinto Company. An Economic History of a
Leading International Mining Concern 1873-1954, Cornwall 1981.
40
41
26
rung begründete folglich die Bildung einer multinationalen großbürgerlichen Gesellschaftsschicht.
Die Chronik der Familie meiner Großmutter, geprägt durch erfolgreiche Ärzte und Advokaten, entspricht fast archetypisch dem bürgerlichen Familientypus des 18. und 19.
Jahrhundert in Europa. In jener Zeit „entstand aus städtischen Kaufleuten, Bankiers,
ersten industriellen Unternehmern, selbstständigen Akademikern (Ärzten, Apothekern,
Notaren, Advokaten), Professoren und höheren Beamten ein männerdominiertes Bürgertum und mit ihm ein bürgerlicher Familientypus“ 46. Von einer Familienhistorie, die
dem Stadt- und Bildungsbürgertum zuzurechnen ist, entwickelten sich die Familienstämme, Riehl und Rödiger, im ausgehenden 19. Jahrhundert hin zum Wirtschaftsbürgertum.47 Standen in der Familienchronik bisher im Grunde ausschließlich die männlichen Familienmitglieder im Zentrum der Erzählungen, änderte sich im Folgenden der
Fokus auf eine von Frauen dominierte Familiengeschichte. Begründet wird dies zum
einen durch die Quellen, die in diesem Fall nun einmal von Frauen produziert wurden
und zum anderen allerdings auch, und das ist vielleicht entscheidender, durch die veränderte Schwerpunktsetzung, die nach dem Ende des bürgerlich-konservativen Europa
und dem sukzessiven Ausklingen des Historismus in den Geschichtswissenschaften,
eben auch Frauen und ihre Rolle in der Familie ins Blickfeld nimmt.
3 Eine behütete Kindheit
Am Nachmittag des 29. 10. 1913 kam meine Großmutter als Kind dieser bürgerlichen
deutsch-schweiz-österreichisch-englischen Familie in Huelva zur Welt. In ihren niedergeschriebenen Erinnerungen an die Zeit ihrer Kindheit, die vermutlich, so wie auch die
Familienchronik, in den 1970er Jahren verfasst wurden, beschreibt sie, getragen von
einer deutlich spürbaren Nostalgie, die frühen Jahre in Spanien bis zu ihrer Auswanderung nach Deutschland.
Blanca Riehl war das dritte von vier Kindern. Das Erste starb bereits mit zwei Jahren,
Alfred war das zweite Kind und als älterer Bruder für meine Großmutter so etwas wie
ein Beschützer, obwohl sie nur knapp ein Jahr trennte. Das Bild einer sorgenfreien, unbeschwerten und glücklichen Kindheit wird in ihrer Schilderung deutlich:
„Wir beide hatten eine Kindheit von der man heute nur träumen kann. Das
schöne Haus, das auf einem Hügel lag, war von einem großen eingeebneten,
bekiesten Platz umgeben. Die Rückfront war von einem kleinen ansteigenden
Mischwald begrenzt, die eine Seite war durch drei große Eukalyptu[sbäume] geReinhard Sieder, Haus, Ehe, Familie und Verwandtschaft, in: Marcus Cerman (Hg.) u. a., Wirtschaft und Gesellschaft
Europa 1000-2000, Wien u. a. 2011, 322-345, hier: 336.
47
Ernst Hanisch, Provinzbürgertum und die Kunst der Moderne, in: Ernst Bruckmüller u. a., Bürgertum in der
Habsburger-Monarchie, Wien-Köln 1990, 127-139, hier: 127f.
46
27
schützt. […] Vor dem Haus war eine Fahnenstange auf die wir Kinder besonders
stolz waren, an denen [sic] an Feiertagen die österreichisch/ungarische Fahne
aufgezogen wurde“.48
Die Familie hatte sich einen gewissen Wohlstand aufgebaut. In den Sommermonaten
zog man von Huelva in das nur wenige Kilometer südlich gelegene kleine Fischerdorf
Punta Umbria, wo Ernst Riehl auf Pontons, direkt am „kilometerweiten, menschenleeren Strand“ ein Sommerhaus gebaut hatte. Den Herbst verbrachte man dann in Cala,
einem Dorf in der Sierra Morena, wo Blancas Großvater Wilhelm Rödiger, der Alito genannt wurde, die Kupfermine Sultana-Rafael betrieb. Ebenso verfügte die Familie über
Personal, darunter ein Kinderfräulein und eine Gouvernante, die Blanca und ihren Bruder in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtete und die beiden spanisch sprechenden Kindern auch Deutsch lehrte. Ihre Mutter brachte ihnen Geographie und Geschichte bei. Ein Foto (siehe Abbildung 1), aufgenommen um das Jahr 1905, zeigt Blancas
Großvater Alito in einem Auto, ein Luxusgegenstand in jener Zeit, sowie Beleg für den
vorhandenen Wohlstand, der auch gerne zur Schau stellte wurde.
Abbildung 1: Wilhelm Rödiger (zweiter v. li.) in seinem Auto, um 1905.
Quelle: In Privatbesitz der Fam. Domes.
Der Beginn des ersten Weltkrieges führte zu großen familiären Spannungen. Wilhelms
Ehefrau, Lilly Blanche Mc Donough (*1860, †1915) war Engländerin. Während der Vater, ebenso wie sein ältester Sohn und auch dessen Tochter Bertha (Blancas Mutter),
die schon allein aufgrund der Herkunft ihres Mannes, der österreichisch-ungarischer
48
Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: Blanca Domes, Kindheitserinnerungen (Privatbesitz Fam. Domes) 1-2.
28
Honorarkonsul war, für die deutsche Seite eintraten, waren die beiden jüngeren Söhne
begeisterte Engländer, wodurch diese zur Familie ihrer Mutter hielten. Dieser Bruch der
Familie führte schließlich auch dazu, dass versucht wurde, die Kupfergruben nach dem
Tod Wilhelm Rödigers 1922 zu verkaufen.49
Spanien blieb in diesem Krieg neutral, von den Auswirkungen des Krieges blieb die Familie dennoch nicht verschont. Über diesen Zeitabschnitt des Krieges berichtet Blancas
Mutter in ihrem Tagebuch, das in Deutsch verfasst war, jedoch durch verstreute Wörter und Phrasen auf Spanisch bzw. Englisch den multinationalen Charakter der Familie
deutlich macht.
Im Sommer des Jahres 1914, dem Beginn des Tagebuchs von Bertha Riehl, scheint
noch nichts die Idylle in dem kleinen spanischen Dorf Punta Umbria zu trüben. Die
Kinder spielen im Sand und sind der ganze Stolz ihrer Mutter: „Bubi [Alfred] mit 2
Jahren ist ein sehr entwickeltes Kind in jeder Beziehung. Er ist außergewöhnlich groß
und breitschultrig und fest, hat alle seine Zähne.“ 50 Blanca dagegen nimmt den Platz
des zierlichen Mädchens ein, das jedermanns Liebling ist. Der überwiegende Teil dieser
ersten Seiten widmet sich der Entwicklung der Kinder, ihren ersten Zähnchen und dem
Alltag im heißen Andalusien. Die letzten Zeilen des Jahres 1914 berichten schließlich
vom Aufbruch zu einer Reise, die Bertha mit ihrem Mann Ernst und den zwei Kindern,
am 24. 7. nach Genf unternahm. 51 Vier Tage später erfolgte die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien und der Erste Weltkrieg begann.
4 Der Erste Weltkrieg als Wendepunkt
Der nächste Eintrag im Tagebuch von Bertha Riehl stammt aus dem Juli 1916 und bezieht sich retrospektiv auf die Geschehnisse der vergangenen zwei Jahre. Nicht mehr
das unbeschwerte Leben der Kinder steht im Mittelpunkt dieser Seiten, sondern der
Krieg, der die Familie entzweien sollte.
Am 24. 7. 1914 verabschiedete sich Bertha von ihrer kranken Mutter am Bahnhof
Huelva, von wo die Familie, noch vor Ausbruch des Krieges, ihre Reise über Marseille
nach Genf antrat:
„Der Zug fuhr fort und sie stand alleine da und winkte – das war das letzte Mal,
dass ich mein Mamali auf sah.“52 „Das nächste Wiedersehen war furchtbar.“53
Der ausbrechende Krieg schnitt die Familie von ihrer Heimat Spanien ab und machte
die Reise zu einer Odyssee:
49
50
51
52
53
Domes, Familienchronik, 5-6.
Bertha Riehl, Tagebuch (Transkription, Privatbesitz Fam. Domes) 1.
Ebd., 2f.
Anm: gemeint ist „auf", im Sinne von, nicht im Bett liegend.
Riehl, Tagebuch, 4.
29
„wir [fuhren] nach Genua und erlebten nun die furchtbare Enttäuschung als wir,
schon mit unseren Billetten auf unseren Koffern sitzend, in der größten Hitze
stundenlang am Pier auf unsere Einschiffung gewartet hatten, dass man uns als
Österreicher nicht aufnahm […] Abgeschnitten von unserem Heim, blieb uns
nichts übrig, als zu den Schwestern54 nach Karlsbad zu fahren. Das war eine
Odyssee von einer ganzen Woche in überfüllten Zügen, Tag und Nacht zusammengepfercht und die kleinen Kinder dabei. Blanqui wurde wieder krank infolge
der Hitze und in allen Coupes hinterließen wir Höschen und Windeln von ihr.“55
Im Haus Strauss, in Karlsbad, wurden sie wenig freudig empfangen: „mir war als bekäme ich einen Kübel Wasser über den Kopf, […]“. So fasste man im November den
Entschluss nach München zu fahren, wo man in einer Pension, fernab der abweisenden
Verwandtschaft, sein eigener Herr sein konnte. Dort beobachtete Bertha den Abzug
deutscher Soldaten zur Westfront:
„Unvergesslich bleibt mir ein langer Zug, der an die französische Front fuhr, lauter prachtvolle begeisterte junge Männer. Zwei Gesichter sind mir wie eingemeißelt geblieben: das eine, leuchtende begeisterte blaue Augen eines großen
schönen jungen Mannes, wohl Student oder so ähnlich und neben ihm am Boden des Waggons sitzend, mit den Füßen auf dem Trittbrett, ein unsäglich trauriger, dunkelhaariger junger Mensch, der so verzweifelt hoffnungslos vor sich
hinstarrte.“
In München erhielt Bertha am 25. 12. 1914 einen Brief von ihrem Bruder, in dem er
ihr von dem hoffnungslosen Gesundheitszustand ihrer Mutter berichtete und sie bat,
so schnell wie möglich nach Huelva zu kommen. Mit den beiden Kindern, Blanca und
Alfred, beide gerade erst etwas über ein bzw. zwei Jahre alt, reiste sie zusammen mit
einer Amme zurück nach Spanien, während ihr Mann, in der Hoffnung auf eine kurze
Trennung, zurückbleiben musste.56 Diese Trennung dauerte im Endeffekt über vier
Jahre, eine Zeit die auch die Kinder ohne ihren Vater verbringen mussten. Nichtsde stotrotz zählten jene Jahre zu den unbeschwerten und glücklichen Jahren, an die sich
meine Großmutter später so gerne erinnerte. Die lange Abwesenheit des Vaters in diesen ersten Jahren der Kindheit führte auch zu der starken Bindung Blancas an ihre
Mutter. Hingegen dürfte die Beziehung zu ihrem Vater, den sie auch in ihren Erzählun gen im Grunde nie erwähnte, nicht besonders innig gewesen sein. Eine retrospektive
Distanz, die sich im Wesentlichen auch dadurch erklärt, dass sie ihm eine gewisse Mitschuld an dem kommenden Abstieg der Familie gegeben hat bzw. angesichts der Tatschen geben musste, auch wenn sie es nie direkt aussprach.
Wieder in Spanien musste Bertha zusehen, wie ihre Mutter unter „gräßlichen Schmerzen“57 mit dem Tode rang und nach zwei Monaten schließlich starb. Die Gedanken an
Anm: die beiden Schwestern von Ernst, Mitzi und Luise Riehl.
Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Zitate: Riehl, Tagebuch, 4-5.
56
Anm: weshalb Ernst Riehl, im Gegensatz zu seiner Frau, nicht zurück nach Spanien konnte, geht aus den Quellen
nicht hervor.
57
Hierzu, sowie die nachfolgenden drei Zitate: Riehl, Tagebuch, 6, 8, 9, 13.
54
55
30
die Abwesenheit ihres Mannes und den Tod ihrer Mutter, begleiteten sie über die
nächsten Jahre auch in ihrem Tagebuch. So schrieb sie im Februar 1918:
„Drei Jahre sind es heute, dass mein süsses, armes Mamili endlich ausgelitten
hatte. Wie klar steht noch alles vor mir. Wie entsetzlich war ihr langsames,
stückweises, kann man sagen, sterben! […] Nur mit dem einen Auge konnte sie
noch sehen, das einzige was noch Leben und Bewegung in ihrem armen, lieben
Körper hatte. Es war zu grausam, zu furchtbar.“
Mit einer gewissen Melancholie schreibt sie im selben Eintrag von der bitterlichen Trennung von ihrem Ehemann:
„Drei Jahre Einsamkeit nach einem solch furchtbaren Schmerz, ohne Deine Liebe und Sorgfalt, die mich sonst auf Schritt und Tritt umgab, mein Ernst, vielleicht hat es meinen Charakter gereift, aber bring uns endlich zusammen, lieber
Gott. Das Leben ist so kurz, so furchtbar kurz und grausam“.
Auch wenn der Krieg in Spanien keine Opfer forderte, so machte eine andere Gefahr
nicht vor den Grenzen des Landes halt. Im Herbst 1918 notierte Bertha in ihr Tagebuch:
„Die Epidemie ist ganz entsetzlich, von Frankreich durch die Portugiesen eingeschleppt. In den ersten Tagen vom Nov. hat die Sterblichkeit hier den Höhepunkt erreicht – 34 am Tag!“
Durch die Spanische Grippe fanden neueren Schätzungen zu Folge, bis zu 50 Million
Menschen weltweit den Tod.58
Das Ende des Ersten Weltkrieges bedeutete für Bertha Riehl auch das Ende der langen
Trennung von ihrem Ehemann. Die Freude und Erleichterung darüber wurde allerdings
von den sich überschlagenden Ereignissen in Deutschland überschattet. Ein Eintrag am
Abend des ereignisträchtigen 9. 11. 1918 zeigt, dass man auch im fernen Spanien, die
Geschehnisse in Deutschland genau verfolgte und offenbart zugleich die politische
Ideologie Berthas:
„10. Uhr abends. Jetzt ist in Deutschland die Entscheidung schon gefallen. Die
furchtbare Bedeutung dieser Schicksalsstunde läßt mich in atemloser Aufregung. Zu was für Bedingungen hat sich mein armes heldenmütiges Deutschland
beugen müssen? Hat es sich überhaupt gebeugt? Gestern war ich noch sicher es
würde unwürdige Bedingungen zurückweisen, aber heute nach den Nachrichten
über die bolschewikische Bewegung in Hamburg, Kiel, Lübeck, in Bayern, was
kann man da viel erwarten!“59
Mit der „Entscheidung“ ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung über die Waffenstillstandsbedingungen zwischen dem Deutschen Reich und den Westmächten gemeint. So berichtet unter anderem die „Vossiche Zeitung“ aus Berlin am 9. 11.
„daß die deutschen Bevollmächtigten Freitag morgen im großem Hauptquartier
der Alliierten die Bedingungen für den Waffenstillstand mit der dringenden AufNiall P. A. S. Johnson, Juergen D. Mueller, Updating the Accounts: Global Mortality of the 1918-1920 „Spanish“
Influenza Pandemic. In: Bulletin of the History of Medicine, Bd. 76, Nr. 1, 2002, 105–111, hier: 105.
59
Riehl, Tagebuch, 13.
58
31
forderung erhielten, sie binnen 72 Stunden […] ablaufen, anzunehmen oder
abzulehnen.“60
Deutschland beugte sich daraufhin, und als Folge der Ereignisse der Novemberrevolution bedeutete die Ausrufung der Republik am 9. 11. durch Philipp Scheidemann von
der Mehrheitssozialistischen Partei Deutschlands (MSPD), auch faktisch das Ende der
Monarchie. Ausgangspunkt der Revolution in Deutschland war Ende Oktober ein Aufstand der Matrosen in Kiel gewesen, die den Befehl zu einem Himmelfahrtskommando
verweigert hatten. Die Nachricht dieses Aufstandes verbreitete sich wie ein Lauffeuer,
Arbeiter- und Soldatenräte bildeten sich, bis die Revolution schließlich nicht mehr aufzuhalten war, und Anfang November Berlin erreichte. 61 Dass die Veränderungen in
Deutschland mit dem Bolschewismus im Hintergrund auch international zu tiefer Besorgnis führten, zeigen etwa die Reaktionen amerikanischer Politiker. Als mit dem 7.
11. die Nachricht des Kieler Matrosenaufstandes nach Washington gedrungen war,
schrieb Breckinridge Long, ein Parteifreund Präsident Wilsons:
„Das ist eine der schlimmsten Nachrichten seit vielen Monaten. Wenn das
stimmt, dann bedeutet das, dass der Bolschewismus in Deutschland an die
Macht kommt.“62
Robert Lansing, Außenminister der USA, nannte den Bolschewismus gar „die Gewaltherrschaft einer Mörderbande von Kriminellen und geistig Anormalen“.63
Mit dem Untergang der Monarchien in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich sowie mit dem damit verbundenen Aufstieg des Sozialismus und der drohenden Gefahr
einer bolschewikischen Revolution, wie im Jahr zuvor in Russland, brach für die bürgerlich-konservative und dem Deutschtum sich zugehörig fühlende Bertha Riehl eine
Welt zusammen:
„Hier hört man nur immer über die Socis: wo sind die Conservativen, wo die Militaristas, sie sind doch der überwiegend größte Teil in Deutschland, hoffe ich;
das Volk ist doch viel zu gebildet, als dass der Bolschewismus dort Fuß fasst.“64
Bertha Riehls Geisteshaltung war charakteristisch für weite Teile des deutschen und
österreichischen Bürgertums, das nach 1918 von Trauer, Verunsicherung und Resignation erfasst wurde. Die massive Orientierungslosigkeit führte zur Suche nach neuen
Möglichkeiten der Identifikation und hatte zur Folge, dass sich einige Teile jenes Bürgertums für anti-demokratische Ideologien begeistern konnten. „Das ‚Bürgertum‘
brachte seine Werte dem insgeheim als proletarisch verachteten Faschismus zum Opfer, weil es ihm zutraute, die ‚bürgerlichen‘ Grundwerte von ‚Ordnung‘ und ‚Sauberkeit‘
Die Waffenstillstands-Verhandlungen, in: Vossische Zeitung, Nr. 574, 9. 11. 1918, 1.
Edgar Wolfrum, Cord Arendes, Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts, Grundkurs Geschichte, Stuttgart 2007, 44.
62
Klaus Schwabe, Deutsche Revolution und Wilson-Friede. Die amerikanische und deutsche Friedensstrategie zwischen
Ideologie und Machtpolitik 1918/19, Düsseldorf 1971, 227.
63
Ebd., 230.
64
Riehl, Tagebuch, 13.
60
61
32
gegen die behauptete ‚Larmoyanz‘ und den ‚Klassenneid‘ der inferioren Gruppen
durchzusetzen.“65 Dass eine deutschnationale Ideologie in Bertha Riehl bereits inhärent war zeigt auch folgende Bemerkung:
„So wünsche ich mir noch viele Söhne, die einmal helfen sollen Deutschland zu
rächen.“ Um einige Zeilen später, nicht ohne einen gewissen Widerspruch, zu
flehen: „Lieber Gott im Himmel, gib dass es Frieden wird, aber ein Frieden nicht
ein verhaltener Hass, der sobald er kann wieder losbricht um sich zu rächen.“66
Ihre Befürchtungen sollten sich bewahrheiten.
Das bürgerliche Europa gehörte mit dem Ende der Monarchien in Deutschland und Österreich der Vergangenheit an. Nichts war nach 1918 noch so, wie es in den letzten
Jahrzehnten vor 1914 gewesen war. Die bürgerlichen Schichten waren erfüllt von
Nostalgie und den Erinnerungen an „die gute alte Zeit“ unter dem Kaiser.67
Die Erlebnisse von Bertha Riehl aus jenen Jahren kontrastieren mit den Erzählungen
meiner Großmutter, für die, aus der subjektiven Sicht eines Kindes und dem später
nostalgisch gefärbten Rückblick, jene Zeit, als die glücklichste ihres Lebens in Erinnerung blieb, während das Tagebuch ihrer Mutter einen weniger verklärten Blick auf jene
Zeit wirft, die durch zahlreiche, auch persönliche, Krisen gekennzeichnet war. Die
Schicksalsschläge, die direkt das Leben meiner Großmutter geprägt haben, sollten allerdings erst folgen.
5 Schicksalsschläge
5.1 Das Ende des bürgerlichen Zeitalters
Dem Wiedersehen nach der langen Zeit der Trennung zwischen Bertha Riehl und ihrem
Mann im Sommer des Jahres 1919 folgte bald die Geburt der zweiten Tochter, Lilli
Riehl (*1920, †1937). Der Alltag der folgenden Monate war von den immer älter werdenden Kindern und den kleinen Erfolgserlebnissen geprägt, die diese Phase des Erwachsenwerdens begleiteten. Diese wurden liebevoll von ihrer Mutter festgehalten.
Besonders die noch kein Jahr alte Lilli stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sowie
vor allem ihre gesundheitliche Entwicklung. Denn die Kinder- bzw. Säuglingssterblichkeit, die in Europa noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen Ländern durchschnittlich zwischen 10% und 20% betrug 68, stellte nach wie vor eine reelle Gefahr
dar, wie Bertha Riehl selbst, durch den Tod ihres erstgeborenen Kindes Hans (*1908,
Ulrike Döcker, Bürgerlichkeit und Kultur. Eine Einführung, in: Ernst Bruckmüller (Hg.) u. a., Bürgertum in der
Habsburger-Monarchie, Wien-Köln 1990, 95-104, hier: 101f.
66
Riehl, Tagebuch, 13-14.
67
Wolgang J. Mommsen, Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt am Main 2004,
8.
68
Kindersterblichkeit, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 11, Leipzig-Wien 1905, 16-18, hier 16.
65
33
†1910), der im Alter von zwei Jahren an einer Kinderkrankheit verstarb, schmerzlich
erfahren musste. Ebenso bestimmten der besorgniserregende Gesundheitszustand von
Berthas Vater und die schlechte finanzielle Lage das Leben der Familie in jener Nachkriegszeit. Die Mine, die im Jahr 1918 anscheinend noch guten Ertrag gebracht hatte69, wollte man verkaufen. Der Kupferpreis sank nach dem Ende des Krieges stark ab.
Hatte sich der Preis für 100 Pfund Kupfer im Jahr 1916 noch auf knapp 1,8 Unzen Gold
belaufen, so fiel er bis zum Jahr 1921 auf 0,6 Unzen. 70 Auch ein Blick auf den von der
Rio Tinto Company erwirtschafteten Gewinn bestätigt diese Entwicklung. So sank der
Gewinn (in Pfund Sterling) pro Tonne von 82£ im Jahr 1916 auf 12£ im Jahr 1921.71
Der sinkende Kupferpreis könnte die Gruben unrentabel gemacht haben; allerdings
stand der Kupferpreis auch vor dem Krieg auf keinem wesentlich höheren Niveau. Weitere Faktoren wie eine gesunkene Förderkapazität oder Misswirtschaft könnten zusätzlich für die schwierige wirtschaftliche Lage der Familie verantwortlich gewesen sein. In
jedem Fall versuchte man vergeblich, einen Käufer für die im Nordwesten Andalusiens
gelegenen Kupfergruben zu finden. Auch die Geschäfte von Blancas Vater liefen zu jener Zeit nicht gut. Durch den Krieg hatte das Unternehmen seine englischen Kunden
verloren, zudem sollen betrügerische Angestellte, die während der Zeit der Abwesenheit Ernst Riehls die Geschäfte führten, Schuld an dem Niedergang der Firma gewesen
sein. Eine Portion Naivität mag den Rest dazu beigetragen haben, dass Blancas Vater
den Entschluss gefasst hatte, alles zu verkaufen und in Deutschland einen Neuanfang
zu wagen. Über die kaufmännischen Fähigkeiten ihres Vaters schreib Blanca: „er war
ein wundervoller künstlerisch veranlagter Mensch, aber kein guter Geschäftsmann“ 72.
Hinter diesem Satz dringt im Hinblick auf die folgenden Ereignisse, auch wenn sie es
so direkt nie gesagt und schon gar nicht zu Papier gebracht hätte, ein Vorwurf der Unfähigkeit an ihren Vater durch.
Am 16. 9. 1922 verließen Bertha und Ernst mit den drei Kindern, Blanca war zu dem
Zeitpunkt kurz vor ihrem neunten Geburtstag, ihre Heimat Spanien. Über diesen Moment des Abschieds schrieb Bertha fünf Jahre später:
„Am Bahnhof am 16.9 um 4 Uhr waren alle unsere Leute und viele Bekannte –
es war eine Qual bis der Zug endlich davon fuhr und unser liebes Haus dort
oben, umrahmt von Bäumen, so lieb und traurig zum letzten Mal uns grüsste bis
der Zug um eine Biegung fuhr und alles verschwand.“73
Bis zum Sommer im Jahr 1925 lebt die Familie in München. Diese ersten Jahre, fern
der Heimat, bedeuteten in der Erinnerung meiner Großmutter noch keine wesentliche
Riehl, Tagebuch, 9.
BearishBull, Copper Price In Terms of Ounces of Gold per 100 pounds of Copper, in: Copper Prices Return to Earth,
URL: http://www.bearishbull.com/?p=44#content (abgerufen am 11. 5. 2013).
71
Harvey, Rio Tinto, 355.
72
Domes, Kindheitserinnerungen, 2.
73
Riehl, Tagebuch, 20.
69
70
34
Änderung des Lebensstils.74 Aus den Augen eines Kindes mag diese Zeit den Anschein
von geordneten Verhältnissen gehabt haben, da die Familie von ihren Ersparnissen
und der Hoffnung auf baldigen geschäftlichen Erfolg lebte. Blancas Vater war jedoch
kein Erfolg beschieden und die finanziellen Ressourcen gingen bald zur Neige, während
der Verkauf der Mine ebenfalls auf sich warten ließ.
Im Jahr 1927, als Bertha ihr Tagebuch nach sechs Jahren der Unterbrechung wieder
weiterführt, wird die angespannte Lage deutlich. In den folgenden Monaten und Jahren sah sich die Familie mit einem ständigen finanziellen und nicht zuletzt auch gesellschaftlichen Abstieg konfrontiert. Von München war man 1925 in eine Villa nach
Kleingmain im Süden Salzburgs gezogen, die im August 1927 wieder verlassen werden
musste, um vorübergehend in Salzburg in der Steingasse Nr. 69 eine Zweizimmerwohnung zu beziehen.75
Die Familie nahm Schulden auf, immer in der Hoffnung, der Verkauf der Mine würde
bald das ersehnte Geld bringen. Die Verhandlungen wurden jedoch abgebrochen und
die finanzielle Lage immer verheerender. Ob und in welchem Ausmaß die Kupfermine
in Spanien Gewinn erwirtschaftete und was von diesem Geld zur Familie nach Österreich kam ist unklar, in jedem Fall kann es sich, auch angesichts des niedrigen Kupferpreises, nicht um viel gehandelt haben. Es war vor allem die finanzielle Unterstützung
durch Verwandte, welche die Familie über Wasser hielt.
Der gesellschaftliche Abstieg, gezeichnet durch die immer unstandesgemäßere Wohnsituation, das Aufnehmen von Schulden, die nicht zurückgezahlt werden konnten, die
Abhängigkeit von der Unterstützung anderer, all dies bedeutete, neben den Problemen
im Alltag, einen erheblichen psychischen Druck, und vor allem eine tief empfundene
Demütigung, wie es Bertha auch in ihrem Tagebuch zum Ausdruck bringt:
„[…] die Enttäuschungen und Demütigungen die sollten, so Gott will, in diesem
alten Jahr zurück bleiben und das Jahr 1928 ein gesegnetes und glückliches
werden“, „Ich habe Vertrauen und Hoffnung, dass es jetzt endlich anders
wird“.76
Doch auch das folgende Jahr sollte keine Besserung mit sich bringen. Das Vertrauen
auf Gott verbunden mit einem scheinbar unerbittlichen Optimismus zeichnet die Lebenseinstellung Bertha Riehls in dieser schwierigen Zeit aus.
Im Sommer 1927 zog Ernst nach Wien, um sich dort eine Stellung zu suchen, während Bertha mit den Kindern in Salzburg zurückblieb. Dem unermüdlichen Zweckoptimismus von Blancas Mutter stand ein scheinbar resignierender Vater gegenüber:
„Was mag der liebe Ernst inzwischen in Wien ausgerichtet haben. Heute ist er 4
74
75
76
Domes, Kindheitserinnerung, 2.
Riehl, Tagebuch, 20f.
Ebd., 22.
35
Tage dort und schrieb nur: er sei verzweifelt. Gott helfe uns!“77
Es ist bezeichnend, dass die zurückgelassene Mutter und Ehefrau, obwohl wieder alleine die Verantwortung für die Kinder tragend, ihrem Mann keine direkten Vorwürfe
machte, so wie auch Blanca ihrem Vater nicht. Eine Mentalität, die der Vorstellung einer funktionierenden Bürgerehe des 19. Jahrhunderts entsprach, dem Ideal des
„leistungsbereiten und risikofreudigen Mannes und der duldsam-vertrauensvollen Frau, die allzeit bereit war, ihrem Ehemann den Rücken zu stärken und freizuhalten, willfähig seine Entscheidungen zu akzeptieren und mitzutragen“78.
Nicht nur für Bertha und Ernst Riehl, sondern auch für die Kinder bedeutete der Abstieg der Familie einen Einschnitt in ihr Leben. Blanca, das in behüteten Verhältnissen
aufgewachsene Mädchen, war nun mit einer Erfahrung konfrontiert, die ihr völlig unbekannt war: Armut.
„Ich musste mit jungen Jahren lernen, wie bitter es ist aus den guten unbekümmerten Jahren in die harte Wirklichkeit zu fallen.“79
Noch versuchte die Familie den Anschein eines einigermaßen standesgemäßen Leben
zu wahren, vor allem für die Kinder. So leistete man sich trotz der angespannten Lage
Tanzstunden für Blanca.80 Gleichzeit versuchte man für sich selbst so wenig Geld wie
möglich auszugeben:
„Am liebsten wären Ernst und ich allein und nährten uns von Brot und Eiern und
brauchten nicht noch den anderen ein frohes Gesicht zu zeigen.“
Die finanzielle Lage stellte sich mal mehr, mal weniger schlecht dar, abhängig vom
Profit der Mine, der Unterstützung von Verwandten und ob bzw. wie viel Geld Ernst
verdienen konnte. Über die Art der Arbeit schweigt Bertha in ihrem Tagebuch, es ist
anzunehmen, dass es sich um eine entsprechend niedrige und verhältnismäßig
schlecht bezahlte Tätigkeit handelte. Im Sommer 1930 verschlimmerte sich die Situation zusehends. Die Familie musste ein weiteres Mal umziehen, diesmal nach Mödling,
das Dienstmädchen, das man sich bis zuletzt geleistet hatte, war fortgegangen und inzwischen wurde sogar das Geld für das Essen knapp. Über die dramatische Lage
schreibt Bertha:
„Ich mache alles alleine, nehme mir lieber die Müdigkeit in Kauf, als dass ich mir
beständig von einem fremden Wesen kritisch in die Speiskammer schauen lasse. Wir haben ja oft kaum zu essen – wissen nicht wo es am nächsten Tag herkommen soll. Es ist furchtbar. […] Wir haben gar keine Ressourcen mehr, haben
in diesem 4 jährigen Kampf alles versucht, alles verkauft und versetzt“.
Zunehmend zehrte das Schicksal auch an den Kräften des Ehepaares.
Riehl, Tagebuch, 21.
Gunilla-Friederike Budde, Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft, in: Peter Lundgreen (Hg.), Sozial- und
Kulturgeschichte des Bürgertums, Göttingen 2000, 249-271, hier: 249.
79
Domes, Familienchronik, 6.
80
Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Zitate: Riehl, Tagebuch, 25, 26.
77
78
36
„Ich danke Gott für die Gnade uns wenigstens die Gesundheit zu erhalten. Es ist
ja ein Wunder, dass Ernst noch nicht niedergerbrochen ist. Er ist aber auch mager und abgehärmt und ich schau aus.“81
Die scheinbar aussichtslose Lage machte es notwendig, dass auch die inzwischen erwachsen gewordenen Kinder (Blanca feierte im Oktober 1932 ihren 19. Geburtstag)
ihren Beitrag leisten mussten, um die Familie über Wasser zu halten. Blanca arbeitete
in Salzburg in einem Hotel, womit ein Familienmitglied weniger ernährt werden musste, zudem konnte sie ihren Eltern auch mit einem Teil ihres Gehalts aushelfen. Ihr Bruder Alfred arbeitete zumindest zwischenzeitlich als Volontär in einer Radiowerkstatt,
bereitete den Eltern jedoch mit seinen schulischen Leistungen und dem offensichtlich
fehlenden Ehrgeiz Sorge. Darunter litt das Verhältnis zu seinem Vater stark:
„[…] der ganze Ton zwischen ihm und Ernst ist in letzter Zeit so unnatürlich, so
entfremdet, dass es mein heißester Wunsch ist, dass er für eine Zeit aus dem
Haus kommt, auf sich selbst angewiesen“.
Der Bruch mit seinem Vater fiel wohl nicht zufällig in jene Zeit, als sich Alfred entschloss der NSDAP beizutreten, nach eigenen Angaben bereits 1932, als die Partei
noch nicht verboten war. 82 Die Mitgliedschaft Alfreds in der NSDAP, auch später als Illegaler, wurde weder im Tagebuch seiner Mutter, das mit dem Jahr 1932 endet, noch
in den schriftlichen Erinnerungen meiner Großmutter erwähnt.
„Verbittert und vom Leben enttäuscht“ starb Ernst Riehl 1935. Der Ehemann und Vater
zweier Kinder war daran gescheitert, die ökonomische Sicherheit und gesellschaftliche
Reputation der Familie wiederherzustellen. Bertha verblieb nach seinem Tod mittellos
und entschloss sich im Jahr 1937 „schweren Herzens“ 83, mit der 17 Jahre alten Lilli zu
ihren Brüdern nach Spanien zurückzukehren, während Alfred und Blanca, die eine Arbeit hatten, in Österreich blieben.
Das Schicksal der Familie, personifiziert durch die Hilfs- und Hoffnungslosigkeit Ernst
Riehls, kann exemplarisch für den Zerfall des Bürgertums und im Speziellen des Wirt schaftsbürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesehen werden. Der sozioökonomische Strukturwandel und die ökonomischen Krisen zwischen 1914 und 1933 trafen
diese Gesellschaftsschicht mit unerwarteter Härte. Auch wenn sich zahlreiche Wirtschaftsbürger behaupten konnten, so bedeuteten Weltkrieg, Inflation und schließlich
die Weltwirtschaftskrise für einen Großteil das Ende ihrer bürgerlichen Existenz. Neben
den wirtschaftlichen Faktoren trugen auch die politischen Umbrüche mit dem Ende der
Monarchie in Deutschland und Österreich, wie sie auch von Bertha Riehl in ihrem Tagebuch besorgt registriert wurden, zur Auflösung des Bürgertums, in seiner bisherigen
81
82
83
Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Riehl, Tagebuch, 27, 30.
WStLA, Landesgericht für Strafsachen Wien, A11 – Vr-Strafakten: 81/1937, 34.
Domes, Familienchronik, 6.
37
Form, bei. Die gesellschaftliche Stellung des Bürgertums wurde zunehmend von rechter sowie von linker Seite angegriffen. Für den Abstieg der Familie meiner Großmutter
spielte im besonderen die weit verbreitete Vorstellung des bürgerlichen Lagers, die
richtige Herkunft würde automatisch eine attraktive Karriere ermöglichen, eine entscheidende Rolle. War diese Vorstellung schon vor 1914 naiv, wurde diese im Zuge der
ökonomischen Rationalisierung in den 20er Jahren völlig unrealistisch.84
5.2 Krieg in Spanien
Am 17. 7. 1936 bildete ein Militäraufstand in Spanisch-Marokko den Ausgangspunkt
des Spanischen Bürgerkriegs. Schon jahrelang war Spanien von politischen und sozialen Spannungen geprägt, deren zentrale Konfliktbereiche die Agrarfrage, das Verhältnis zwischen Militär und Politik, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche sowie die Beziehung zwischen der Madrider Zentrale und den Regionen der Peripherie darstellten.
Vor allem die Rückständigkeit des archaischen Agrarsektors hätte Reformen dringend
notwendig gemacht, um einen Klassenkrieg zu verhindern. 85 So standen sich am Vortag des Bürgerkriegs zwei Blöcke gegenüber, die Volksfront, zu der Sozialisten, Kommunisten, die republikanische Linke und die Anarchisten zählten und die Nationale
Front, auf deren Seite Großgrundbesitzer, katholische Konservative, Monarchisten und
Rechtsrepublikaner standen.
Die Nationalitätenfrage hatte noch während des Ersten Weltkrieges zum Streit zwischen Bertha und zwei ihrer Brüder, und weiterführend zu einem Bruch in der Familie
geführt. Mit dem Ende des Krieges hieß der Feind nicht mehr England bzw. Deutschland. Stattdessen bildeten nun auch in Spanien der Sozialismus und der Kommunismus gemeinsame Antipoden, auch wenn in Spanien keine akute Gefahr einer kommunistischen Machtübernahme bestand. 86 Möglicherweise trug diese Vorstellung einer
kommunistischen Bedrohung Spaniens wieder zu einer Annäherung der Familie bei. So
steht es angesichts der bisher dargestellten Mentalität und ideologischen Ausrichtung
Bertha Riehls außer Frage, dass sie und sehr wahrscheinlich auch der Rest der Familie
den Nationalisten unter Franco nahe standen. Als Bertha im Sommer 1937 in ihre Heimat zurückkehrte, war der Großteil Andalusiens, inklusive der Provinzen Sevilla und
Huelva bereits von den Franquisten kontrolliert (siehe Abbildung 2), der Konflikt war
längst ein internationaler geworden.
Werner Plumpe, Einleitende Überlegungen. Strukturwandel oder Zerfall: das Wirtschaftsbürgertum 1870 bis 1930,
in: Werner Plumpe, Jörg Lesczenski (Hg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus,
Mainz 2009, 8-13, hier: 10.
85
Walther L. Bernecker, Krieg in Spanien 1936-1939, Darmstadt 1997, 6-8.
86
Bernecker, Krieg in Spanien, 51.
84
38
Abbildung 2: Spanien, März 1937.
Quelle: Walther L. Bernecker, Krieg in Spanien 1936-1939 (Darmstadt 1997), 31.
Im Juli 1936 hatten sich Deutschland und Italien, im Abstand von wenigen Tagen, zur
Intervention in Spanien entschlossen, sowohl auf diplomatischem als auch militärischem Weg. Auch das Portugal Salazars unterstützte die Nationalisten, er agierte quasi als Francos Außenminister im Völkerbund. Die diplomatische Unterstützung hatte
vor allem das Ziel, eine Einmischung Frankreichs oder Englands zu verhindern. 87
Frankreich und England griffen offiziell nicht in den Konflikt ein, unterstützten aber
dennoch indirekt die Republikaner. So tolerierte die französische Regierung etwa die
Bildung der Internationalen Brigaden. Für die republikanische Seite trat neben Mexiko
nur die Sowjetunion ein. So umfassten die russischen Waffenlieferungen neben Gewehren und Panzern auch über 400 Flugzeuge.88
Am 1. 7. 1937, Bertha und Lilli waren seit sechs Wochen in Spanien und wohnten in
Sevilla, wurden zwei Bomben über der Stadt abgeworfen, eine traf den Flugplatz, die
zweite das Haus in dem Bertha und die siebzehnjährige Schwester meiner Großmutter
noch im Bett lagen. 89 Beide kamen bei diesem Angriff ums Leben. Am darauf folgenden Tag erhielt Blanca ein Telegramm von Conrad, dem ältesten Bruder ihrer Mutter:
87
88
89
Ebd., 78.
Ebd., 105.
Blanca, Familienchronik, 6.
39
„MAMA LEIDER VERWUNDET BRIEF FOLGT“90. Es ist anzunehmen, dass beide sofort
tot waren. Ihr Onkel, sofern er zu dem Zeitpunkt nicht selbst andere Informationen
hatte, wollte der 24 jährigen Blanca den Tod ihrer Mutter und Schwester nicht in
wenigen Worten per Telegramm mitteilen. Es war die sowjetische „rote“ Luftwaffe, die
die Bomben auf die Stadt geworfen hatte. Die spanische Zeitung „El avisador
numantino“ berichtete zwei Tage später über das „Criminal bombardeo de la aviación
roja sobre Sevilla“ („Kriminelles Bombardement auf Sevilla durch die rote Luftwaffe“),
bei dem nach Angabe der Zeitung vier Tote zu beklagen waren, darunter
„dońa Berta Roenge [sic], de cincuenta y uno y una hija de esta llamada Lille
Riel [sic], de diecisiete ańos.“ („Frau Berta Roenge [Rödiger], 51 Jahre alt und
ihre Tochter Lille Rieln [Riehl] 17 Jahre alt“).91
6 Der „Fall“ meiner Großmutter: Hinwendung eines verunsicherten
Bürgertums zum Faschismus
Nach dem Tod ihrer Eltern standen Alfred und Blanca alleine vor einer Zeit des politischen Umbruchs. In Hinblick auf das Verhältnis meiner Großmutter zum Nationalsozialismus lassen sich diverse Einflussfaktoren ausmachen. Auf der einen Seite die erlebten Krisen sowie die Prägung durch die bügerlich-konservative antikommunistische
Ideologie der Mutter. Auf der anderen Seite, die mit Sicherheit vorhandene Schuldzu weisung am Ableben ihrer Mutter sowie Schwester an die „Roten“, die ohnehin verhassten Kommunisten. Hierdurch erscheint der Schluss nahe, dass das Verhältnis meiner Großmutter zum Nationalsozialismus, der mit dem Anschluss 1938 auch in Österreich offiziell „salonfähig“ wurde, weniger durch Opportunismus als durch ein gewisses
Kokettieren und durchaus wohlwollende Sympathie geprägt war. Der Nationalsozialismus schien der bürgerlichen Welt eine Hoffnung auf Ordnung in dieser, von politischer
Instabilität gekennzeichneten Zeit zu geben. Trotz des gesellschaftlichen Abstiegs sah
sich Blanca wohl noch als Teil dieser „weitgehend zerbröselten“92 Klasse.
Die Heirat mit Herbert Franz Domes (*1897, †1964) am 10. 5. 1940 gab dem Leben
meiner Großmutter schließlich auch wieder eine familiäre Ordnung, vor allem auch da
bereits am 17. 7. desselben Jahres ihre erste Tochter, Ingrid, zur Welt kam. Die auffallend kurze zeitliche Differenz zwischen der Geburt und der Hochzeit spricht für eine
Zweckehe. Sowohl für Herbert Franz Domes, der als höherer Beamter bei der Austria
Tabak angestellt war und 1942 zum Oberregierungsrat befördert wurde 93, als auch für
die bürgerlich-konservativ erzogene Blanca hätte ein uneheliches Kind nicht in das FaTelegramm vom 2. 7. 1937 an Blanca Riehl (Privatbesitz Fam. Domes).
Criminal bombardeo de la aviación roja sobre Sevilla, in: El Avisador numantino, Nr. 5468, 3. 7. 1937, 2.
92
Plumpe, Bürgertum, 10.
93
Urkunde zur Ernennung von Herbert Franz Domes zum Oberregierungsrat vom 21. 12. 1942 (Privatbesitz Fam.
Domes).
90
91
40
milienbild gepasst. Bis zum Ende des Krieges wurden zwei weitere Kinder geboren,
das vierte Kind, meine Mutter, kam kurz danach, im Juli 1945, zur Welt. Wie auch ihre
Mutter, hatte sich Blanca alleine um den Haushalt und die Kinder zu kümmern, während ihr Mann für den Lebensunterhalt der Familie sorgte. Durch die lange Abwesenheit ihres Mannes, der ab 1942 im Generalgouvernement Polen tätig war, war Blanca
größtenteils auf sich alleine gestellt. Das klassisch bürgerliche Familienideal, welches
eine Aufteilung in eine dem Mann vorbehaltene Arbeitssphäre und eine Familiensphäre, die der Frau zugewiesen ist, vorsah, hat meine Großmutter wohl nie hinterfragt.
Das Festhalten am bürgerlichen Wertehimmel, der in Wahrheit oft mehr Mythos als
Realität war und sich durch Selbstinszenierung kennzeichnete, die den Zweck hatte,
dass zumindest die Außenwelt den Schein der repräsentierten gesellschaftlichen Klasse wahrnahm, prägte ihr Denken und blieb ihr, zumindest in Fragmenten, viele Jahre
erhalten. Dies auch, obwohl das Bürgertum den Rang der herrschenden Klasse mit
dem Ende der Monarchie längst verloren hatte.
Das aus dem 19. Jahrhundert stammende bürgerliche Familienideal, welches, wie erwähnt, in der Realität wohl nie so existiert hatte, war dennoch in den Köpfen der Menschen inhärent, entsprungen aus den zahlreichen Bildern, Gedichten oder Romanen
jener Zeit94, die durch diese erzeugten Vorstellungen eines harmonischen Familienlebens das kollektive Gedächtnis der bürgerlichen Gesellschaft prägten. Dass auch meine Großmutter seit ihrer Kindheit von dieser Illusion begleitet wurde, habe ich im Laufe dieser Arbeit versucht darzustellen. Es waren die Erzählungen über ihre Vorfahren,
die Bilder der idyllischen Gesellschaft in Spanien, die ihr vorgelebte Rollenverteilung,
die sie selbst mit auffallender Analogie übernahm. Viele Jahre später waren es etwa
die erwähnten Angélique-Romane die den Mythos, die bürgerlichen Ideale und
Vorstellungen, zumindest auf kleiner Flamme, am Leben erhielten. Die Zeit des Nationalsozialismus bot ihr, nicht zuletzt auch aufgrund der Heirat mit einem Mann, der ihr
diesen Lebensstil finanzieren konnte, den Rahmen für das Ausleben des bürgerlichen
Familienideals.
Das Foto (siehe Abbildung 3) zeigt Blanca mit ihrer Tochter Ingrid in Wien auf der Ma riahilfer Straße, Anfang der 1940er Jahre. Bei aller Vorsicht, die es bei der Interpretation einer solchen Quelle zu betonen gilt, erscheint einem das Bild einer durchaus
selbstbewussten Frau. Man flaniert nicht, man schreitet zielstrebig und entschlossenen
Schrittes, ganz dem Geist der Zeit entsprechend, die bekannte Wiener Einkaufmeile
entlang. Auf dem Kopf ein Hut, schräg sitzend mit breiter Krempe, so wie sie ihn vielBärbel Kuhn, Die Familie in Norm, Ideal und Wirklichkeit. Der Wandel von Geschlechterrollen und
Geschlechterbeziehungen im Spiegel von Leben, Werk und Rezeption Wilhelm Heinrich Riehls, in: Werner Plumpe, Jörg
Lesczenski (Hg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, 71-79,
hier: 71.
94
41
leicht auch im heißen Süden Andalusiens tragen würde. Das Selbstbewusstsein, das
aus diesem Bild spricht, hätte man noch ein paar Jahre früher wohl nicht erwartet.
Abbildung 3: Blanca Domes mit Tochter Ingrid, Wien ca. 1943.
Quelle: In Privatbesitz der Fam. Domes.
Die Familie profitierte vom Nationalsozialismus und so arrangierte man sich gerne mit
dem Regime. Herbert Franz Domes, der Mitglied der NSDAP war, wenn auch nicht von
tiefer ideologischer Überzeugung getrieben, was das Datum der Beantragung auf Mit gliedschaft mit 16. 11. 1943 nahelegt, machte Karriere und Blanca konnte die Zeit der
Armut, die vor allem auch eine Zeit der Erniedrigung war, hinter sich lassen. Über Politik und das was sich außerhalb ihres Mikrokosmos abspielte, machte sie sich keine
großen Gedanken, geredet wurde darüber schon gar nicht. 95 Selbst in meiner Erinnerung war diese Zeit nie ein Thema, über das gesprochen wurde, dabei war meine
Großmutter ein höchst redseliger Mensch. Um sich ihre heile Welt nicht zu zerstören,
wurde Unangenehmes ignoriert, man wollte nicht wahrhaben, was nicht wahr sein
durfte. „Sie war ein Kaiser im Verdrängen von Dingen die ihr unangenehm waren“, bemerkte ihre Tochter Ingrid. Das Festhalten an bürgerlichen Werten, die Rudimente einer nicht mehr existenten bürgerlichen Gesellschaft, die im Laufe des 20. Jahrhunderts in einem weltumspannenden, sämtliche Klassen umfassenden Kleinbürgertum
aufgegangen war96, löste sich bei meiner Großmutter erst allmählich mit dem Tod ihres
Mannes im Jahr 1964. Dieser Zeitpunkt markierte den Beginn eines sukzessiven WanHierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Interview mit Ingrid Hauptmann, 4-5.
Heinz Bude, Bürgertumsgenerationen in der Bundesrepublik, in: Manfred Hettling, Bernd Ulrich (Hg.), Bürgertum
nach 1945, Hamburg 2005, 111-132, hier 111.
95
96
42
dels in ihrem Denken, weg von jener konservativ-bürgerlichen Ideologie. So war zu
der Zeit, als ich sie kannte, nicht mehr viel von einem bürgerlich idealisierten Weltbild
übrig. Am Ende wählte sie sogar die Sozialisten.
43
7 Quellen
•
Adolph Lehmann (Hg.), Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst
Handels- und Gewerbe-Adressbuch für die k.k. Reichs-haupt- und Residenzstadt
Wien und Umgebung, Wien 1865-1874.
•
Bertha Riehl, Tagebuch (Privatbesitz Fam. Domes).
•
Blanca Domes, Familienchronik (Privatbesitz Fam. Domes).
•
Blanca Domes, Niederschrift der Kindheitserinnerungen (Privatbesitz Fam.
Domes).
•
Die Waffenstillstands-Verhandlungen, in: Vossische Zeitung, Nr. 574, 9. 11.
1918, 1.
•
Criminal bombardeo de la aviación roja sobre Sevilla, in: El Avisador numantino,
Nr. 5468, 3. 7. 1937, 2.
•
Telegramm vom 2. 7. 1937 an Blanca Riehl (Privatbesitz Fam. Domes).
•
Urkunde zur Ernennung von Herbert Franz Domes zum Oberregierungsrat vom
21. 12. 1942 (Privatbesitz Fam. Domes).
•
WStLA, Landesgericht für Strafsachen Wien, A11 - Vr-Strafakten: 81/1937, 34.
Interviews:
•
Interview mit Ingrid Hauptmann, 29. Jänner 2013, Wien, Audiodatei und
Transkription in Besitz von Nikolaus Domes.
8 Abbildungen
•
Abbildung 1: Wilhelm Rödiger (zweiter v. li.) in seinem Auto, um 1905.
Quelle: In Privatbesitz der Fam. Domes.
•
Abbildung 2: Spanien, März 1937.
Quelle: Walther L. Bernecker, Krieg in Spanien 1936-1939 (Darmstadt 1997),
31.
•
Abbildung 3: Blanca Domes mit Tochter Ingrid, Wien ca. 1943.
Quelle: In Privatbesitz der Fam. Domes.
44
45
Peter Liszt
Heimatlos im Heimatland:
eine Burgenländische Familiengeschichte
Rekonstruktion der Kriegserlebnisse meines Großvaters – Stefan Liszt
46
Inhalt
1 Einleitung
47
2 „Krieg und Frieden“ – die Jugend Stefan Liszts
48
3 „Ohne Szombathely können wir nicht Leben!“
52
– Westungarn wird Burgenland
4 „Der ungarische Edelmann“ – Ein Neubeginn in Albertirsa
55
5 „Mein Heimatvolk, mein Heimatland“
57
– Der Anschluss Österreichs und seine Folgen
6 „Ich bin Soldat“ – Kriegseinsatz im besetzten Norwegen
60
7 „Es steht ein Soldat“ – Kriegstagebuch
63
8 „Nie wieder Krieg!“ – Kriegsgefangenschaft
65
9 „Ruinen dieser Stadt“ – Heimkehr
66
10 Nachwort
68
11 Quellen
70
12 Abbildungen
70
47
1 Einleitung
Am 23. 1. 2001 starb mein Großvater väterlicher Seite, Stefan Liszt in Unterwart im
Burgenland, ich war zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt. Ich besitze nur wenige Erinnerungen an ihn, die hauptsächlich von seiner Krankheit gezeichnet sind. Ich erinnere
mich an kein Gespräch und keine Zärtlichkeiten wie Umarmungen oder ähnliche Gesten. Das einzige Anzeichen einer Beziehung zwischen meinem Großvater und mir fand
ich auf einem Foto. Die Aufnahme zeigt ihn als alten Mann wie er mich als Baby stolz
auf seinem Schoss hält. Es muss kurz bevor er, als Pflegefall ans Bett gefesselt wurde,
aufgenommen worden sein. Seit dem Jahr 1993 verschlimmerte sich seine Parkinsonund Demenzerkrankung rapide und bald darauf konnte er sich nicht mehr selbst ernähren und war des Sprechens nicht mehr mächtig. Obwohl meinen Großvater zwölf
Jahre lang zwar körperlich wahrgenommen habe, entsinne ich mich nicht, seine Stimme jemals gehört zu haben.
Mit dem Tod meines Großvaters einhergehend zeigten sich bei meiner Großmutter
ebenfalls erste Anzeichen einer Demenzerkrankung. Zum heutigen Tag ist die Krankheit so weit vorangeschritten, dass sie sich nur selten an mich erinnern kann. In meinen Erinnerungen war sie die liebende Frau, die ihren Mann jahrelang fürsorglich gepflegt hat, mit mir „Mensch ärgere Dich nicht“ gespielt hat und den besten Apfelkuchen der Welt gebacken hat. Dennoch war die Beziehung zu meinen Großeltern väter licherseits seit je her kühler als zu den Großeltern der mütterlichen Seite. Dies ist
nicht nur durch die geographische Nähe, meine Großeltern mütterlicherseits wohnen
in einer Nebenstraße meines Elternhauses, sondern auch durch den Altersunterschied
bedingt.
Meine Großeltern mütterlicher Seite sind beide in den späten 1930er Jahren geboren,
meine Großmutter väterlicherseits 1929 und mein Großvater 1909. Aus diesem Grund
rekonstruiere ich in der folgenden Arbeit die Erlebnisse meines Großvaters auf der väterlichen Seite, Stefan Liszt. Ich betrachte seine Lebensgeschichte unter besonderer
Berücksichtigung der Zeit des Nationalsozialismus, wie der Historiker Dr. Mag. Adi
Lang passend über die Beteiligten den folgenden Satz schrieb:
„Die NS-Zeit begann mit dem „Umbruch“ und endete mit dem Zusammenbruch.
Dazwischen lag ein Meer an Drangsal, Verfolgung, Willkür und Leid. Was hoffnungsvoll begonnen hatte, endete in einer Katastrophe, und wer sich am Beginn
als stolzer Mitgestalter fühlen durfte, wünschte am Ende, nur Betroffener zu
sein.“97
Wie mein Großvater in diesen historischen Prozess involviert war, werde ich auf den
folgenden Seiten aufzeigen. Um eine möglichst realitätsnahe Rekonstruktion zu er97
Adi Lang, NS-Regime, Kriegsende und russische Besatzungszeit im Südburgenland, Oberwart 2011, 40.
48
möglichen, sind Quellen in den diversen Formen nötig. Im Nachlass meines Großvaters
finden sich nur wenige schriftliche Dokumente. Vieles wurde offensichtlich nie aufgeschrieben oder durch ihn selbst aus Angst vor den „Russen“ 98 während seiner Alzheimer-Erkrankung in den 1990er Jahren zerstört. Ein von ihm geschriebener Gedichtund Erzählband aus seiner Wehrmachtszeit in Norwegen blieb jedoch verschont. Dieses Dokument ermöglicht erst eine Rekonstruktion seiner Kriegserlebnisse und ist für
meine Arbeit von unschätzbarem Wert. Auffallend in dem erwähnten Band ist die Wahl
der Sprache, größtenteils ist das Buch in Ungarisch verfasst, nur selten verwendet er
Deutsch. Eine genauere Betrachtung der Sprachwahl findet sich in einem späteren Teil
dieser Arbeit. Dies führt mich jedoch zu einer der wichtigsten Fragen, die ich mir bei
der Betrachtung seiner Biografie gestellt habe: Identifiziert sich mein Großvater mehr
mit Ungarn oder mit Österreich? Nach der biografischen Rekonstruktion der Geschehnisse rund um das Leben meines Großvaters werde ich mich dieser Frage widmen.
Aus den Zeitzeugeninterviews mit meinem Vater und meiner Tante ging hervor, dass
mein Großvater ihnen ständig seine Geschichte erzählte und somit in den Erinnerungen seiner Kinder unzählige Anekdoten hinterlassen hat. Ein großes Problem bei den
Nachforschungen stellte jedoch der ungarische Sprachgebrauch dar, denn leider bin
ich der Muttersprache meines Vaters und Großvaters nicht mächtig. Deshalb danke ich
an dieser Stelle meinem Vater, Franz Liszt, für seinen unermüdlichen Einsatz, sein
Zeitzeugeninterview und seine Übersetzungen. Ohne ihn wären Teile dieser Arbeit
nicht möglich gewesen. Genauso wichtig ist es mir hier meiner Mutter zu danken für
ihre Unterstützung und ihrem Zuspruch. Danke!
Meiner Tante Klara Steinberger sowie Béla Németh danke ich ebenfalls für die Zeitzeugengespräche. Zu Dank verpflichtet bin ich auch dem ungarischen Historiker Oberstleutnant Péter Jagadics für seine genealogischen Forschungen über meine Familie.
Diese Arbeit ist meinen Eltern gewidmet, die mir dieses Studium ermöglichen.
2 „Krieg und Frieden“99 – die Jugend Stefan Liszts
Mein Großvater, Stefan Liszt, wurde am 1. 8. 1909 als Sohn der Landwirte Josef und
Maria Liszt, geborene Györög, in Unterwart im Burgenland geboren. Er war das zweite
Kind des Ehepaares und mit seinen vier Schwestern lebte er gemeinsam am Hof der
Familie. Beide Familien, Liszt und Györög, lebten zu diesem Zeitpunkt bereits seit
Jahrzehnten in der damals westungarischen Ortschaft. In der sogenannten Oberen
Wart, eine historische Bezeichnung für den Raum rund um die Stadt Oberwart, gibt es
Gemeint sind die sowjetischen Soldaten, die oft fälschlicherweise, auch von meinem Großvater, nur als Russen
bezeichnet wurden.
99
Tolstoi, Krieg.
98
49
vier ehemalige ungarische Grenzwächtersiedlungen. Diese sind Oberwart, Siget in der
Wart, Jabing und Unterwart. Zu ersten Ansiedlungen magyarischer Bevölkerung in diesem Gebiet kam es mit der Landnahme 100 Ungarns, welche von mehreren magyarischen Stämmen durchgeführt wurde. Kurz danach, durch den Tod des Fürsten Kurszán
Gyula begünstigt, strebte Árpád Kende die Alleinherrschaft über die ungarischen
Stämme an. Dies führte zu Veränderungen der Organisation der Stämme, die nun ihr
eigenes Interesse über das Gemeinschaftswohl stellten. Streifzüge wurden nun von
den einzelnen Stämmen unternommen und nicht mehr in großer Gemeinschaft. Die
damit verbundene Niederlage 955 bei der Schlacht auf dem Lechfeld stellt nach der
gängigen Historiografie eine Zäsur in der ungarischen Geschichte dar. Die in der
deutschsprachigen Geschichte als Ungarneinfälle bekannten Raubzüge der ungarischen
Stämme waren gestoppt. Durch die geographische Lage Ungarns sah man sich von allen Seiten mit natürlichen Grenzen umgeben, nur im westlichen Gebiet, dem heutigen
Burgenland, nicht. Dies führt zur Etablierung des Gyepű101, ein Grenzschutzsystem der
Ungarn im Mittelalter, welches mit hintereinandergeschalteten Grenzschutzlinien in
Form von Erdburgen und Grenzwächtersiedlungen, Ungarn zu verteidigen versuchte.
In dieser Zeit wurde auch in Unterwart eine Grenzwächtersiedlung geschaffen. Das
System hielt bis in das 13. Jahrhundert und wurde von befestigten Steinburgen abgelöst.102
Die
vormaligen
Grenzwächtersiedlungen
konnten
sich
jedoch
über
Jahrhunderte halten und deren Bewohner und Bewohnerinnen genossen bis 1848
königliche Privilegien. Spuren aus dieser Zeit finden sich etwa in den Wappen der
Gemeinden Oberwart und Unterwart, welche bis heute Grenzwächter darstellen. Ein
weiteres Zeugnis der Grenzwächtersiedlungen ist der ungarische Sprachgebrauch.
Westungarn, im Speziellen die Gebiete des heutigen Burgenlands, war Ende des 19.
Jahrhunderts größtenteils deutschsprachig besiedelt, abgesehen davon wiesen unter
anderem die vier genannten Siedlungen, die mehrheitlich ungarisch sprechende
Bevölkerung auf. Bis in die Gegenwart benutzt die Mehrheit der Bevölkerung
Unterwarts Ungarisch als Umgangssprache. Bei der Volkszählung 2001103 gaben in
Unterwart 54,0 % Ungarisch und 37,7 % Deutsch als Umgangssprache an.104 Bis heute
finden die meisten Veranstaltungen in Unterwart in ungarischer Sprache statt, unter
anderem Gottesdienste, Theaterstücke und Präsentationen.
Die Landnahme (ung. Honfoglalás): Nach der Auflösung der finnisch-ugrischen Gemeinschaft vor ca. 4.000 Jahren
zog der ungarische Teil aus seinem Siedlungsgebiet in Westsibirien aus. Es folgten Jahrzehnte der Wanderung, die ihr
Ende in der Landnahme fand. Mit dem Begriff wird die Phase bezeichnet, in der die Magyaren sich im heutigen Ungarn
niedergelassen haben.
101
Das Wort Gyepű stammt vom türkischen Wort yapı, welches für das deutsche Wort Palisade steht.
102
Christoph Augustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas. Ein Abriss, Wien 2010, 35f. Ladislaus Triber (Hg.), Die
Obere Wart. Festschrift zum Gedenken an die Wiedererrichtung der Oberen Wart im Jahre 1327, Oberwart 1977, 101f.
Karl Seper, Unterwarter Heimatbuch. Geschichte, Kultur und Wirtschaft einer südburgenländischen Gemeinde,
Unterwart 1976, 14f.
103
Ein Blick auf die Gemeinde. 10925 Unterwart, Bundesanstalt Statistik Österreich,
URL: http://www.statistik.at/blickgem/gemDetail.do?gemnr=10925 (abgerufen am 19. 2. 2013).
104
Seper, Unterwarter Heimatbuch, 14f.
100
50
Erste Spuren direkter Vorfahren der Familie Stefan Liszt, meiner Familie, in Unterwart
finden sich in den Unterwarter Kirchenmatrikeln im Jahr 1814 mit der Geburt Michael
Lists, der Urgroßvater Stefan Liszts. Die meisten Vorfahren Stefans Liszts waren in der
Landwirtschaft tätig, so wie auch sein Vater und seine Mutter.
Auffallend bei der genealogischen Betrachtung der Familie Liszt ist, dass Michael List
sich anfänglich ohne „z“ schrieb, der zusätzliche Buchstabe im Namen Liszt kam erst
durch die Magyarisierungspolitik-Bestrebungen der ungarischen Regierung dazu. Nachdem im Jahr 1780 nur 29 Prozent der Bevölkerung Ungarns sich als Ungarn verstanden, versuchte die ungarische Führung diesen Anteil durch politische Maßnahmen zu
erhöhen – dies gelang: im Jahr 1910 sahen sich bereits 54 Prozent der Bevölkerung
als Ungarn. Die Magyarisierung im engeren Sinne, ohne natürliche Assimilation, begann etwa 1790, erste Gesetze folgten 1791 und 1792. Die Maßnahmen wurden bis
zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges fortgeführt, mit kurzer Ausnahme während der
ungarischen Revolution von 1848/1849. 105 Die nicht ungarische Bevölkerung sollte die
ungarische Sprache und Nationalität annehmen. Sogar, Dezső Bánffy, ungarischer Ministerpräsident von 1895 bis 1899, schrieb dies in seinem Regierungsprogramm:
„Der Nationalstaat sollte unter anderem durch Magyarisierung von Ortsnamen,
Familiennamen und durch intensiven Sprachunterricht verwirklicht werden.“106
Michael List veränderte seinen Namen auf Liszt ca. 1850, die Aussprache blieb gleich,
da „sz“ im ungarischen wie „s“ ausgesprochen wird. Im Fall der Familie Liszt waren es
wahrscheinlich nicht nur die Bestrebungen der ungarischen Regierung und ihrer
Magyarisierungs-Politik, die ausschlaggebend für die Namensänderung waren, sondern
auch die bereits vorhandene Identifikation mit Ungarn. Nachdem die Familie Liszt auch
namentlich assimiliert war, änderte sich nicht viel für meine Vorfahren, denn auch in
den folgenden Jahren war die Familie stets in der Landwirtschaft tätig. Kurz vor dem
fünften Geburtstag Stefan Liszts erschütterte ein Ereignis Ungarn und die Welt, welches auch Auswirkungen auf sein Leben haben sollte. Am 28. 6. 1914 werden der
Thronfolger Österreichs-Ungarns Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este und
seine Gemahlin Sophie Chotek von Chotkowa bei einem Besuch in Sarajevo ermordet.
Die Auswirkungen dieses Attentates waren wohl nur Wenigen bewusst und am 28. 7.
1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Stefan Liszts Vater, Josef Liszt
wurde bald darauf zur kaiserlich-königlichen Armee einberufen. Mein Großvater blieb
mit seinen Schwestern und der Mutter am heimatlichen Hof. In den folgenden Jahren
kämpfte Josef Liszt (siehe Abbildung 1), mein Urgroßvater, an der russischen Front.
Augustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas, 54f. Peter Münzenrieder, Ein langer Weg. Der Anschluss des
Burgenlandes an Österreich, Dipl. Arb., Wien 2001, 8f.
106
Ákos Moravánszky, Die Architektur der Jahrhundertwende in Ungarn und ihre Beziehungen zu der Wiener
Architektur der Zeit, Wien 1983, 48.
105
51
Das Erlebte verändert meinen Urgroßvater, er wird von meinem Vater, Franz Liszt, und
von meiner Tante, Klara Steinberger, als herrschsüchtiger und brutaler Mann beschrieben.107 Josef Liszt geriet am 23. 9. 1916 in russische Kriegsgefangenschaft, nach
seiner Freilassung kehrte er nach Unterwart zurück. 108 Aus Unterwart fielen im Ersten
Weltkrieg insgesamt 46 Männer, wovon sieben vermisst werden. Des Weiteren brach
im Jahr 1918 in Unterwart eine Grippeepidemie aus, der weitere 76 Personen zum
Opfer fielen.109
Abbildung 1: Josef Liszt, mein Urgroßvater, in Uniform. Die Aufnahme
entstand ca. zwischen 1914-1918.
Quelle: Foto in Besitz des Autors bzw. der Familienmitglieder.
Als der Krieg vorbei war, hielten die Wirren weiterhin an. Um den Krieg offiziell beenden zu können, sollten die Pariser Vorortsverträge unterzeichnet werden. Für die österreichische Reichshälfte war es der Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye, für
die Ungarische der Friedensvertrag von Trianon. Bevor jedoch die ungarische Delegation unter Protest den Vertrag unterzeichnen konnte, überschlugen sich die Ereignisse
in der ungarischen Reichshälfte.110
Interview mit Franz Liszt und Klara Steinberger, geführt am 23. 2. 2013, Bänder beim Autor.
Entlassungsdokument aus der Kriegsgefangenschaft, im Familienbesitz des Autors.
109
Seper, Unterwarter Heimatbuch, 57.
110
Augustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas, 74f. Johann Temmel, „Ohne Szombathely können wir nicht Leben!“.
Der Anschluss des Burgenlandes an Österreich mit besonderer Berücksichtigung der Grenzziehung im unteren Pinkeln,
Dipl. Arb., Wien 1993, 17f.
107
108
52
In der Nacht vom 31. 10. 1918, durch die Asternrevolution 111 (ung. Őszirózsás forradalom) hervorgerufen, kam es zur Ernennung Mihály Károlyis zum Ministerpräsident
Ungarns, der am 16. 11. 1918 die Republik Ungarn ausrief. Dieser demokratische
Gehversuch Ungarns wurde jedoch nach kurzer Zeit, am 21. 3. 1919, von einer Räterepublik abgelöst. Der Kommunist Béla Kun leitete die Geschäfte der Ungarischen Räterepublik (ung. Magyarországi Tanácsköztársaság); Verstaatlichungen und der sogenannte „Rote Terror“ standen an der Tagesordnung. Der deutschsprachigen Bevölkerung in Westungarn wollte man jedoch Gleichberechtigung und Selbstverwaltung zugestehen.112
Am 1. 8. 1919 wurde die ungarische Räterepublik von einer sozialistischen Koalitionsregierung abgelöst, diese bestand nur für einige Tage und wurde von einem konservativen Regime unter Stephan Friedrich ersetzt. Nachdem die sozialistische Koalitionsregierung und auch das Regime Stephan Friedrich zu Ende gingen, etablierte Miklos Horthy 1919 ein autoritäres Regierungssystem und den „Weißen Terror“, dessen Auswir kungen den „Roten“ bei weitem übertrafen. Im Rahmen des „Weißen Terrors“ wurden
nicht nur Anhänger und Anhängerinnen Béla Kuns verfolgt, sondern auch Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen sowie Bürger und Bürgerinnen, die sich für eine Angliederung Westungarns an Österreich ausgesprochen hatten. In Miklos Horthys Amtszeit am 4. 6. 1920, unterschrieb die ungarische Delegation schließlich unter Widerspruch den Vertrag von Trianon, der bis heute von großen Teilen der ungarischen Be völkerung als unrecht angesehen wird. Das Schicksal der Gebiete des heutigen Burgenlandes wurde somit besiegelt.113
Drei Tage bevor der Krieg formal mit dem Vertrag von Trianon beendet wurde, am 1.
6. 1920, wurde Stefan Liszt in der Gemeindekirche in Unterwart gefirmt. In den
Jahren davor besuchte mein Großvater die Volksschule in Unterwart, nach sechs
Jahren verließ er die Schule.
3 „Ohne Szombathely können wir nicht Leben!“ 114 – Westungarn wird
Burgenland
Vertraglich durch die Pariser Vorortsverträge von Saint-Germain-en-Laye und Trianon
gesichert, wurden die Gebiete des heutigen Burgenlands Teil der neuen Republik Österreich. Die Siegesmächte bejahten den Anspruch Österreichs auf Deutsch-Westun111
Da sich die Soldaten anstelle des Emblems der k.u.k.-Armee Astern an ihre Mützen hefteten, wurde diese zum
Symbol und namengebend für die Revolution. Träger der Revolution waren Soldaten sowie Bürgerinnen und Bürger, die
durch Demonstrationen, Streiks und Unruhen im Zeitraum vom 28. bis 31. 10. 1918 hervorgerufen wurden.
112
Edgar Hösch, Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 2008, 235.
Augustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas, 77f. Temmel, Ohne Szombathely, 15.
113
Augustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas, 77f. Temmel, Ohne Szombathely, 15f.
114
Denkschrift, Burgenländisches Landesarchiv, Faszikel 29 1922/191.
53
garn. Zahlreiche Versuche von Befürwortern und Befürworterinnen sowie Gegnern und
Gegnerinnen des Anschlusses an Österreich wurden in den Jahren 1918 bis 1921
unternommen, unter anderem in Form von Ausrufung von Staaten. Zu erwähnen sei
an dieser Stelle das Lajtabánság, aufgrund seines geographischen Zentrums Oberwart
und der damit verbundenen Nähe zu Unterwart. Verbände der österreichischen
Gendarmerie versuchten im August 1921 nach langem Zögern das Burgenland zu besetzen. Die regulären ungarischen Truppen der Königlich-Ungarischen Armee (ung.
Magyar Királyi Honvédség), die nach wie vor im Burgenland stationiert waren, sowie
Freischärler Verbände vereitelten dies. Daraufhin stellte die Triple Entente Ungarn ein
Ultimatum bis zum 3. 10. ihre Truppen abzuziehen; die Führung Ungarns zog daraufhin alle regulären Truppen ab. Die Freischärler bleiben und riefen mit dem „Mut der
Verzweiflung“115 einen neuen „Staat“ aus, das Lajtabánság (dt. Leitha-Banat). „Staatsoberhaupt“ wurde Pál Prónay, er stand einem sechsköpfigen Staatsrat vor. 116 Die Oberwarther [sic!] Sonntags-Zeitung schrieb über die Bedeutung dieses historischen Ereignisses angeblich Folgendes:
„Oberwarth steht im Mittelpunkt der Ereignisse. Erst vor kurzer Zeit war es der
Schauplatz mächtiger Demonstrationen gegen den Anschluss an Österreich und
gegenwärtig spielen sich Ereignisse welthistorischer Bedeutung ab. Am 4. Oktober 1921 um 12 Uhr Mittag wurde in Oberwarth die Selbstständigkeit Westungarns proklamiert.“117
Betrachtet man die Definition eines Staates von Max Weber, ist es in Frage zu stellen
ob es sich hier wirklich um einen Staat handelte.
„Der Staat ist, ebenso wie die ihm geschichtlich vorausgehenden politischen
Verbände, ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehen)
Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen.
Damit er bestehe, müssen sich also die beherrschten Menschen der beanspruchten Autorität der jeweils herrschenden fügen. Wann und warum sie das
tun, läßt sich nur verstehen, wenn man die inneren Rechtfertigungsgründe und
die äußeren Mittel kennt, auf welche sich eine Herrschaft stützt.“118
Nach zwei Monaten, unter anderem aufgrund des Venediger Protokolls vom 13. 10.
1921, in dem endgültig fixiert wurde, dass Österreich das Burgenland erhalten soll,
verschwand der Staatsratsvorsitzende Pal Prónay mit den Resten des Lajtabánság in
Richtung Budapest. Ungarn, das seit jeher diesen Staat abgelehnt hatte, drohte mit
dem Einmarsch regulärer Truppen. Dies führte zur Aufgabe Pal Prónays, ab diesem
Zeitpunkt wehten in Oberwart und Unterwart rot-weiß-rote Fahnen.119
Seper, Unterwarter Heimatbuch, 58.
Gerald Schlag, „Aus Trümmern geboren ...“, Wissenschaftliche Arbeit aus dem Burgenland (WAB) Band 106,
Eisenstadt 2001, 432. Erich Körner-Lakatos, Ada Kaleh, Tannu-Tuwa, Acre. Fünfzig Historische Nischen, Münster 2010,
166f.
117
Proklamierung der Selbständigkeit Westungarns, Oberwarther Sonntags-Zeitung, 9. 10. 1921, 1.
118
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980, 822.
119
Triber (Hg.), Die Obere Wart, 268f.
115
116
54
Stefan Liszt, der gerade 12 Jahre alt wurde, lebte weiterhin am elterlichen Hof. Wie
sehr die historischen Ereignisse sein Leben veränderten bzw. beeinflussten ist ungewiss. Nachdem er als ungarischer Reichsbürger im Habsburgerreich geboren wurde,
die Gehversuche der ersten Demokratie Ungarns erlebte, in der zweiten Räterepublik
der Welt aufwuchs, im erneuten Königreich Ungarns weiterlebte, um kurze Zeit später
Bürger des Lajtabánság zu werden, wurde er am 4. 12. 1921 zum Österreicher. Mit
zwölf Jahren hatte er über sechs verschiedene „Systeme“ erlebt, jedoch sollte es nicht
dabei bleiben. Das neue Bundesland in dem er jetzt lebte hatte noch keinen Namen
und die Namensfindung erwies sich als äußerst schwierig. Nachdem der ursprüngliche
Gedanke von einem „Hiezenland“ verworfen wurde, ging die Suche nach einem Namen
für das neue Bundesland weiter. Anfang 1919 beanspruchte Österreich auch Teile des
ehemaligen Komitates Pressburg, daraufhin tauchte im Juni desselben Jahres der
Name „Vierburgenland“ auf. Vierburgenland, wegen der ehemaligen ungarischen Komitate, Moson, Sopron, Vas und Pozsony, auf Deutsch Wieselburg, Ödenburg, Eisenburg
und Pressburg. Als im August 1919 jedoch klar wurde, dass Pressburg bei der neuen
Tschechoslowakischen Republik bleibt, empfahl der Staatskanzler Dr. Karl Renner den
Namen auf Dreiburgenland zu ändern. Am 6. 9. 1919 als eine deutsch-westungarische
Delegation bei Karl Renner vorsprach, weckte angeblich ein Zwischenruf, des gebürti gen Frauenkirchners Gregor Meidlinger mit dem Inhalt „Burgenland“ das Interesse des
Kanzlers.120 Karl Renner soll daraufhin gesagt haben: „Also sagen wir Burgenland“.121
Im September 1919 erschien ein Dokument mit dem Titel „Verzeichnis der Gemeinden
des Burgenlandes“ und in dem am 8. 10. 1919 verfassten Schreiben der österreichischen Bundesregierung an den Heiligen Stuhl in Rom wird ebenfalls der Begriff „Bur genland“ verwendet. Wer der Urheber oder die Urheberin des Landesnamens wirklich
ist, konnte nie geklärt werden.122
Das jüngste Bundesland Österreichs stand allerdings vor wirtschaftlich katastrophalen
Bedingungen und als in den Jahren 1928 bis 1930 die Weltwirtschaftskrise eintrat,
verschlechterte sich die Lage ins Unermessliche. Aufgrund der ärmlichen Verhältnisse
am Land suchten viele Menschen nach Auswegen und entschieden sich dafür, die ländliche Region des Burgenlandes zu verlassen. Viele Burgenländer und Burgenländerinnen sahen in der Auswanderung den einzigen Ausweg; allein in den Jahren 1922 bis
1924 wanderten 13.552 Personen nach Übersee aus, mindestens genauso viele versuchten in den umliegenden Bundesländern und Ländern einen Neuanfang, so auch
mein Großvater.123
120
121
122
123
Schlag, Aus Trümmern geboren, 165. Münzenrieder, Ein langer Weg, 42.
Münzenrieder, Ein langer Weg, 42.
Schlag, Aus Trümmern geboren, 165.
Roland Widder (Hg.), Burgenland: vom Grenzland im Osten zum Tor in den Westen, Wien 2000, 529f.
55
4 „Der ungarische Edelmann“124 - Ein Neubeginn in Albertirsa
Eine Auswanderung nach Chicago, wo bereits mehrere Freunde meines Großvater lebten und arbeiteten, unter anderem auch Franz Heritz, lehnte mein Großvater ab. Sein
Freund Franz Heritz schrieb ihm zahlreiche Briefe, in denen er meinem Großvater Arbeit in Chicago versprach und ihn von einem Neuanfang in den Vereinigten Staaten
überzeugen wollte. Eines Tages endete dieser Briefverkehr ohne absehbaren Grund
und die Option nach Übersee auszuwandern verfiel. Die Erkenntnis folgte kurze Zeit
später, sein Freund war umgebracht worden.
Von der Weltwirtschaftskrise schwer getroffen folgte Stefan Liszt dann den vielversprechenden Anwerbungsversuchen aus Ungarn. Geworben wurde mit Sprüchen wie „Das
Geld wächst hier auf den Bäumen“ 125. Mein Großvater machte sich ohne viel Besitz, jedoch mit seinem bereits monetär erhaltenen Teil des Erbes seiner Eltern nach Albertirsa auf, um einen Neubeginn zu wagen. Albertirsa ist ein Dorf in der großen Ungari schen Tiefebene, ca. 50 Kilometer südöstlich von Budapest. Gemeinsam mit ihm wagten auch einige Verwandte und Freunde im Jahr 1933 den Schritt in die „alte“ Heimat.
Darunter Georg Haselbacher, Joszef Gyáky, István Németh, Mathilda Németh, sowie
die Kinder der Familie Németh Béla und Pista.
In Albertirsa angekommen pachtete mein Großvater mit seinen ganzen finanziellen
Mitteln ein Grundstück von einem gewissen Herrn Kiss von ca. 500-600 Joch 126 bzw.
ca. 250 Hektar Fläche. Die Pacht, die er jährlich an den Besitzer, Herrn Kiss, abliefern
musste, betrug 10 Prozent des Ertrages. Für die vormaligen kleinen und ärmlichen
landwirtschaftlichen Verhältnisse, welche im Burgenland vorherrschten, war der ungarische Hof riesig und forderte die Beschäftigung von mehreren Hilfsarbeiten. Betrachtet man die Anzahl der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe im Bezirk Oberwart im
Jahr 1939, ergibt sich folgendes prozentuales Bild:
Zwerg- und Kleinbetriebe
Mittelbetriebe
Groß- und Gutsbetriebe
(0,5 - 5,0 ha)
51,0 %
(5,0 - 20,0 ha)
46,7 %
(ab 20,0 ha)
2,3 %
127
Der Hof in Ungarn war mit seinen 250 Hektar, im Vergleich zu den landwirtschaftlichen
Verhältnissen, die im Burgenland vorherrschten, von immenser Größe. Béla Nemeth
schildert in einem Interview die Ausmaße: „Wohin du mit deinen Augen auch geblickt
Pertöfi, Edelmann.
Interview, Franz Liszt.
126
Joch ist ein traditionelles Flächenmaß, welches anhand der Fläche die ein Ochsengespann an einem Tag pflügen
kann, bemessen wird. Von den regionalen Bodengegebenheiten abhängig unterscheidet sich der Wert, in Ungarn misst
ein Joch ca. 43,16 Ar. und in Österreich ca. 57,55 Ar.
127
Lang, NS-Regime, 58.
124
125
56
hast, bis zum Horizont, gehörte alles ihm.“ 128 Gemeinsam mit seinen Angestellten baute er Weizen, Gerste, Roggen, Hafer und Mais an, im eigenen Backofen wurde daraus
unter anderem Brot gebacken. In einer ein Kilometer langen Allee von der Ortschaft
bis zu seinem Gutshof in der „Puszta“ 129, standen zahlreiche Apfel-, Birnen-, Zwetschken- und Marillenbäume. Am Hof selbst wurden Pferde, Kühe, Hühner, Rebhühner, Enten und Gänse gehalten. Einmal in der Woche wurden die erwirtschafteten Produkte
nach Cegléd, von Albertirsá ca. 20 Kilometer entfernt, auf den Markt gebracht und
verkauft. Stefan Liszt beschrieb die Straßenverhältnisse teilweise als so schlecht, dass
er sich gezwungen sah, die Waren ohne Pferdewagen, am Rücken der Pferde zu transportieren. Von dem Verkauf der Waren leistete er sich ein wohlhabendes Leben. Fast
täglich wurde am Gutshof gefeiert, neben Gebratenem, und allerlei fleischlicher Delikatessen wurden Wein und Schnaps gereicht. Für musikalische Unterhaltung sorgte
eine „Zigeunerband“ die regelmäßig am Gutshof vorbei kam und aufspielte. Aus einem
Zeitzeugenbericht geht hervor, dass auch sehr viele ärmere Menschen diesen Festen
beiwohnten und von Stefan Liszt geduldet wurden, solange sie sich „ordentlich“ benahmen.130
In seiner Zeit in Albertirsa wurde Stefan Liszt wohlhabend und Teil der dortigen Gesellschaft, sodass ihn auch eine gewisse Gräfin Irsa zu ihren Bällen einlud. Daraus resultierte eine enge Beziehung zu der Tochter der Gräfin. Über die genaue Tiefe der Beziehung kann nur spekuliert werden. Eine Beziehung verband Stefan Liszt auch mit der
Schneiderin der Ortschaft, Margit Molnar, auch hier kann über die Ausmaße der Bezie hung nur spekuliert werden. Eine dritte Frau mit der er sich in Albertirsa verbunden
fühlte, ist die Kindergärtnerin Erszébet Nagy, ihr widmete er zu einem späteren Zeitpunkt in seinem Leben sein „Kriegstagebuch“.131
In Albertirsa machte Stefan Liszt nicht nur Bekanntschaft mit Frauen, sondern auch
mit dem ungarischen Antisemitismus. Nach dem Krieg erzählte er in Gesprächen mit
meinem Vater, Franz Liszt, von dem ungarischen Ausruf: „Éljen a Szálasi 132 és Hitler,
üssék a zsidókat bikacséppel!“;
auf Deutsch: „Es lebe Szálasi und Hitler, schlagt die Juden mit der Stierpeitsche!“.
Dass er selbst antisemitische Ansichten hatte oder den Ausruf jemals selbst verwendet
hat ist unwahrscheinlich. Gegenüber seinen Kindern äußerte er sich nie antisemitisch
oder rassistisch.133 Eine mögliche Mitgliedschaft in den ungarischen Vorläuferparteien
der „Pfeilkreuzlerpartei – Hungaristische Bewegung“ halte ich für unwahrscheinlich; es
Interview mit Béla Németh, geführt am 19. 1. 2013, Bänder beim Autor.
Puszta heißt sinngemäß etwa „Einöde“ und „Weideland“.
130
Interview, Németh. Interview, Liszt/Steinberger.
131
Interview, Liszt/Steinberger.
132
Ferenc Szálasi war ein ungarischer nationalsozialistischer Politiker und Gallionsfigur. Kurz vor Ende des Zweiten
Weltkriegs wird er zum Diktator Ungarns.
133
Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Absätze: Interview, Liszt/Steinberger.
128
129
57
gibt keine Anzeichen bzw. Nachweise für diese. In Ungarn kam es bereits 1920 zu ers ten antisemitischen Gesetzen, diese wurden 1938 und 1939 verschärft. Einige ungarische Juden entschieden sich zu diesem Zeitpunkt bereits, das Land zu verlassen, einzelne Juden kamen auch zu Stefan Liszt. Sie baten ihn um Hilfe, als Gegenleistung
versprachen sie ihm Gold, Schmuck und andere Wertsachen. Vermutlich aus Angst vor
Sanktionen lehnte Stefan Liszt jede Hilfeleistung ab – bis auf eine Ausnahme. Kurz vor
seiner Heimreise nach Unterwart 1941 bat ihn ein Jude aus Albertirsa um Hilfe. Er versteckte den ungarischen Juden auf seinem Leiterwagen, der voll mit Heu beladen war,
und brachte ihn aus der Ortschaft, kurz danach musste er ihn aber seinem Schicksal
überlassen.
Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte er die Möglichkeit, die ungarische Staatsbürgerschaft anzunehmen, tat dies aber nicht. Aufgrund der Einberufung musste Stefan Liszt in das Deutsche Reich, nach Unterwart zurückkehren. Ob zu dem Zeitpunkt
seiner Rückkehr noch die Möglichkeit bestand, die ungarische Staatsbürgerschaft anzunehmen und somit der Einberufung zur deutschen Wehrmacht zu entgehen, konnte
ich nicht eruieren. Er versuchte sein Hab und Gut, neue Wirtschaftsgebäude und Lagerbestände in Ungarn zu verkaufen, was die Behörden jedoch verweigerten. Für seine Heimreise durfte er sich nur drei Pferde behalten, mit diesen kehrte er in einer
Dreitagesreise über Rechnitz nach Unterwart zurück.
5 „Mein Heimatvolk, mein Heimatland“134 – Der Anschluss Österreichs
und seine Folgen
Am 12. 3. 1938 marschierten deutsche Wehrmachts-, SS- und Polizeieinheiten in Österreich ein. Eine De-facto-Annexion folgte am nächsten Tag mit der Gesetzesverabschiedung „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“,
die Diktatur des Austrofaschismus bzw. des Ständestaates wurde von der der Nationalsozialisten abgelöst. Der Staat Österreich hörte damit offiziell zu existieren auf. Am
15. 10. 1938 folgte weiters die Auflösung des Burgenlandes, das in Folge auf die
Reichsgaue Niederdonau und Steiermark aufgeteilt wurde. Das Südburgenland, in dem
auch Unterwart liegt, wurde in den Gau Steiermark eingegliedert. Nach dem „Anschluss“ übernahm Tobias Portschy den Posten des Landeshauptmannes des Burgenlandes bis zur Auflösung dessen, danach wurde er stellvertretender Gauleiter der Steiermark.135
Görlich, Mein Heimatvolk.
Widerstand und Verfolgung im Burgenland 1934-1945, hg. Dokumentationsarchiv des österreichischen
Widerstandes, Wien 1983, 244f. Herbert Brettl, Nationalsozialismus im Burgenland. Oper . Täter . Gegner, Innsbruck
2012, 65f.
134
135
58
Zuvor kam es am 10. 4. 1938 jedoch zu der gleich nach dem Einmarsch angekündigten, „Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen
Reich“. Das Resultat im Burgenland, ähnelte dem der anderen Bundesländer; von insgesamt 171.654 Stimmberechtigten votierten 168.576 mit Ja, 60 Personen mit Nein
und 52 mit ungültiger Stimme.136 Die Zeitung „Ostland“ verkündete bereits vier Tage
später am 16. 4. 1938 stolz den Ausgang der Abstimmung bei den burgenländischen
Kroaten und Ungarn.
„ ... daß die Kroaten ausnahmslos mit „Ja“ stimmten. Nur vier der 8.000 Ange hörigen der magyarischen Minderheit stimmten mit „Nein“.“137
Wie das Ergebnis in Unterwart ausgefallen ist konnte ich nicht eruieren, denn in der
Chronik von Unterwart findet sich in der Zeit von 1938 bis 1945 kein Eintrag, lediglich
eine Liste über die gefallenen und vermissten Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Dies
verwundert nicht, da der Autor der Unterwarter Chronik bis zu seinem Lebensende ein
überzeugter Nationalsozialist war. Während der Naziherrschaft war er nicht als Funktionär in Erscheinung getreten, jedoch verwunderte viele Ortsbewohner seine rasche
juristische Dissertation. Zu dieser Zeit wurde auch mein Urgroßvater, Josef Liszt, erstmals auffällig, als er die Nationalsozialisten im Dorf beschimpfte. Die Konsequenz davon war ein Verfahren, welches durch die Intervention des Bürgermeisters eingestellt
wurde.138
Mein Großvater überquerte also, im Jahr 1941, die nun neue Grenze bei Rechnitz, und
kehrte in seine Heimat zurück, die nun Teil des Deutschen Reiches war. In Unterwart
angekommen, fand er sich bei seinen Eltern am Hof ein.
Aus einem Zeitzeugengespräch über die Kindheitserinnerungen eines Unterwarter
Roms über die Nachkriegszeit wird die wohl damals vorhandene politische Einstellung
vieler Unterwarterinnen und Unterwarter ersichtlich.
„In der Schule wurden mir sowieso benachteiligt bei den Lehrern. Der lebt noch
immer, unser Direktor, der Alte. Da hat es geheißen, Zigeiner ihr werd's vergast,
der Hitler soll wieder kommen'. Er war auch damals dabei, wie sie die Zigeuner
geholt haben. (...) In Unterwart waren zu diesen Zeiten drei Viertel der Ortschaft Nazis, und man hat sich durchsetzen müssen, und wenn du das nicht getan hast, warst du tot (...) Wir waren so an die 17 Kinder, ein Jahr älter oder
jünger wie ich, und die haben oft Schlag bekommen beim Schulheimgehen.
Aber nicht von den anderen Nichtromakindern, sondern von den Erwachsenen.
Sie haben dich aufgelauert beim Heimgehen und dann durchgehaut. Sie dachten wahrscheinlich, es ist noch immer Hitlerzeit.“139
Obwohl das Resultat des Burgenlandes bei der Volksabstimmung vom 10. 4. 1938 im
Lang, NS-Regime, 28.
Maria Zeitler, Das Burgenland im Jahr 1938. Die politischen Ereignisse und deren Auswirkungen auf das Land, seine
Institutionen und seine Minderheiten., Dipl. Arb., Wien 1989, 40.
138
Interview, Liszt/Steinberger.
139
Michael Teichmann, Es fehlte halt bei dem Zigeuner an allem, was – sagen wir – einen normalen Österreicher
ausmacht. Zur gesellschaftspolitischen Situation der Burgenland-Roma nach 1945, Gedenkdienst, URL:
www.gedenkdienst.at/fileadmin/zeitung/gd1998-4.pdf (abgerufen am 15. 1. 2013)
136
137
59
Vergleich zu den anderen Bundesländern nicht überrascht, sind es die Parteimitgliedschaften, die einen wesentlichen Unterschied zeigen.
„Im bald in Ostmark umbenannten Österreich hat die NSDAP großen Zulauf.
1943 erreichte die Mitgliederzahl ihren Höhepunkt, fast 700.000 Österreicher
und somit rund acht Prozent der Bevölkerung gehörten ihr an. Die Verteilung
war regional höchst unterschiedlich: im katholischen Tirol wurde ein Spitzenwert
von 15 Prozent erreicht, im wirtschaftlich armen Burgenland waren es nur 6
Prozent.“140
In der Mitgliedschaftskartei der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei findet
sich heute keine Person mit dem Nachnamen Liszt. Eine Mitgliedschaft meines Großvaters oder anderer Verwandten in der NSDAP mit gleichem Namen kann ich daher mit
ziemlicher Wahrscheinlichkeit ausschließen. 141 Ob es ihm und der Bevölkerung Österreichs im Frühjahr 1938 bewusst war, dass es bald zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen wird, ist schwer zu beantworten. Der österreichische Spanien-Kämpfer und langjährige Mitarbeiter des Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Hans Landauer antwortet auf die Frage wie folgt.
„Was haben wir in den 1930er Jahren erwartet? Dass es zum Krieg kommt,
wenn der Faschismus nicht bezwungen wird, dass er aus diesem Grund geschlagen werden muss. Hitler bedeutete Krieg. Nachtsüber haben Leute in ganz Europa, mit Farbe ausstaffiert und Pinsel in der Hand, Plakate an öffentlichen Plätzen mit der Losung überzeichnet: „Hitler bedeutet Krieg.“ Man konnte das häufig lesen. Aber keiner hat es geglaubt. Heute wissen wir, dass wir mit der Überzeugung, es kommt unter Hitler zum Krieg, Recht behalten sollten.“142
Das Zitat zeigt, dass linke Gruppierungen, Sozialistinnen und Sozialisten sowie Kommunistinnen und Kommunisten sich der Gefahr eines Krieges im Falle der Machtergreifung Hitlers bewusst waren. Des Weiteren zeigt es, dass die Mahnung dieser linken
Gruppierungen in der Bevölkerung nicht ernst genommen bzw. nicht daran geglaubt
wurde.
Am 1. 9. 1939 geschah, wovor sich viele, nicht nur Widerstandskämpfer fürchteten:
Das Deutsche Reich überfiel Polen und löste damit den Zweiten Weltkrieg aus. Da Stefan Liszt deutscher Reichsbürger war, erhielt er kurz vor Pfingsten 1941 die Einberufung zur Wehrmacht.
140
Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien
1994, 370.
141
Mitgliedschaftskartei der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei, Institut für Zeitgeschichte Universität
Wien, Mikrofilm.
142
Peter Liszt, Aaron Sterniczky (Hg.), Herrn Max und einen Milchkaffee, bitte!. Erinnerung an den Spanischen
Bürgerkrieg, Oberwart 2013, 51.
60
6 „Ich bin Soldat“143 – Kriegseinsatz im besetzten Norwegen
Am 9. 4. 1940 überfielen deutsche Truppen, unter dem Decknamen „Unternehmen
Weserübung“ oder „Fall Weserübung“, die neutralen Staaten Dänemark und Norwegen. Dänemark kapitulierte bereits wenige Stunden nach Beginn der Kampfhandlungen, Norwegen erst am 10. 6. 1940, nachdem ein deutscher Sieg an der Westfront absehbar war.144
Als Stefan Liszt einrücken musste, zu Pfingsten 1941, befand sich Norwegen bereits
unter deutscher Besatzung. Er kam nach Hannover zur Ausbildung bei der deutschen
Luftwaffe und wurde von dort zum weiteren Einsatz nach Norwegen verlegt.
Seine Aufgabe war die Bedienung des Suchscheinwerfers für eine 2cm Fliegerabwehrkanone sowie die Handhabung dieser. Seine Einsatzorte in Norwegen waren Steinkjer,
eine Stadt in der Provinz Nord-Trøndelag, ca. 460 km nördlich von Oslo, und Stavanger, die viertgrößte Stadt Norwegens, ca. 300 km südwestlich der Hauptstadt Norwegens, sowie der dortige Flughafen „Forus“.
In Stavanger starteten die deutschen Streitkräfte im Jahr 1940 mit dem Bau eines
weiteren Flughafens, neun Kilometer Luftlinie entfernt von dem 1937 erst eröffneten
Flughafen von Stavanger. Die Wehrmachtsführung sah einen strategischen Vorteil in
der Errichtung eines zweiten Flughafens in unmittelbarer Nähe. Die Fertigstellung erfolgte größtenteils bereits ein Jahr später. Aufgrund der schwierigen Wetterbedingungen, die am Flughafen herrschten, wurde dieser nicht operativ verwendet, sondern
vorwiegend für militärische Testflüge und die Aufrechterhaltung der Versorgung eingesetzt. Kurz vor Kriegsende im Jahr 1944 wurde das fünfte Jagdgeschwader in Forus
stationiert, ein Jahr später gefolgt von einer Staffel Arado Ar 234. Insgesamt waren
200.000 Männer und Frauen Teil der ständigen Besatzungstruppen in Norwegen.145
In dem „Kriegstagebuch“ meines Großvaters finden sich nur vereinzelt Einträge über
seine Aufgaben oder seine Erlebnisse in Norwegen. Diese jedoch waren für ihn von so
besonderer Bedeutung, dass er diese niederschrieb. In den folgenden Ausführungen
werde ich auf zwei Einträge genauer eingehen.
Der erste Eintrag vom 20. 9. 1943 schildert den Beginn seines Heimaturlaubes, das
Übersetzen mit dem Schiff von Norwegen nach Dänemark. Neben romantischen Darstellungen über geographische Gegebenheiten finden sich folgende Zeilen:
„Das Schiff schwimmt auf offener See, neben uns Schlachtschiffe und U-Boote,
über uns Aufklärungsflugzeuge, die den Luftraum sichern.“146
Ich bin Soldat, Volksliederarchiv.
Dirk Levsen, Krieg im Norden. Die Kämpfe in Norwegen 1940, Berlin-Bonn 2000, 9f.
145
Stavanger Airport. Forus, Wikipedia, URL: http://en.wikipedia.org/wiki/Stavanger_Airport,_Forus (abgerufen am 15.
2. 2013).
146
Kriegstagebuch von Stefan Liszt, Dokument im Familienarchiv des Autors.
143
144
61
Das große Aufgebot von Marine und Luftwaffen Einheiten lässt auf die Stärke der britischen Marine in diesem Gebiet rückschließen sowie vor der Angst einer alliierten Landung in Norwegen.
„Sie (Anm. Die Sonne) beruhigt sich nicht früher bis das Schiff mit 3000 Heimaturlaubern den dänischen Hafen erreicht hat!“147
Dass er bei seinem Heimaturlaub nur den Teil der Überfahrt beschrieb, deutet auf die
Wichtigkeit dieses Ereignisses. Warum er diese Reise festhält, ist unklar, jedoch findet
sich keine einzige andere Erwähnung einer Truppenüberstellung in seinem Tagebuch.
Vielleicht ist dieses Geschehen durch die erwähnte vorhandene Bedrohung oder durch
die Freude auf sein Heimatland, für ihn Wert zur Erinnerung gewesen.
Den zweiten für die Rekonstruktion seiner Kriegserlebnisse interessanten Eintrag,
schrieb er am 20. 11. 1943 aufgrund der Einzigartigkeit nieder, der Titel des Beitrages
lautet „Eine schmerzvolle Erinnerung“ und schildert die Vorgänge rund um seine
Kriegsverletzung.
„Zeitlich in der Früh, starker Nebel, die Augen voller Schießpulver, man sieht nur
einige Meter. ‚ALARM' Feindliche Flugzeuge, sie werfen schon die Bomben. Ein
paar Sekunden später zerreißt es eine Zwillingsflack in Stücke. Volltreffer durch
eine Bombe. ... Siehst du den nicht, der Himmel ist voll mit Fallschirmspringern.
... ‚Ah, mein Bein!' Mitten im Sprung hat mich etwas getroffen, ich spüre nichts,
ich darf jetzt nichts spüren. ... Mein Stiefel ist voll Blut, ich spüre meinen Fuß
nicht, ich kann nicht mehr aufstehen, es ist aus, ich werde bewusstlos. Lieber
Gott, gib mir Kraft, dass ich nicht falle. ... Meine Beine haben mir den Dienst
versagt. In meinen Händen habe ich keine Kraft, ich liege hilflos hier. In meinem
Kopf zieht die Vergangenheit vorbei. In meiner Qual kaue ich Gras und nur eine
Stimme lässt mich davon ab, ERZSÈBET. [sic]“148
Neben der ausgeschmückten Erzählung finden sich hier auch Zugeständnisse an Erzsébet Nagy, die besagte Frau aus Albertirsa, der er dieses Tagebuch widmete. Er beschrieb das Erlebte wie folgt weiter.
„Eine Granate explodiert vor mir und streut Erde über mich. ... Ich drücke den
Abzug meiner Maschinenpistole, die Kugeln werden hinausgestreut, nachladen,
vorwärts. ... Die Lage wird gefährlich und ich kann meinen Fuß nicht gebrauchen. Nicht einmal mehr 20m ist der Feind entfernt, ich habe keine Munition
mehr. Die Waffe ist unbrauchbar, meine Kräfte lassen nach, die Augen werden
schwerer und ich sehe wie sie in meine Richtung rennen und ich liege hilflos da.
Eine Granate halte ich noch in meiner Hand. Ich bekomme schon Krämpfe, es
fällt mir schon alles so schwer. Eine letzte Anstrengung, ich werfe die Granate,
eine Explosion und dann spüre ich nichts mehr. Das ist mein Ende!
Freundliches Erwachen! Ich blicke auf aber meine Augen fallen wieder zu. In
meinem Kopf kreisen tausende Gedanken, ich erkenne mich gar nicht. Was ist
los mit mir? Wo bin ich? ERSZÈBET gib mir Wasser … Alles ist weiß, mein Kopf
liegt auf einem weißen Polster!
Viele Fremde liegen neben mir. Eine Stimme stört meine Gedanken, eine bekannte Stimme, eine freundschaftliche Stimme. ‚Stefan werde munter!' ... Was
147
148
Kriegstagebuch, Familienarchiv.
Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Kriegstagebuch, Familienarchiv.
62
ist mit meinem Bein? ‚Nicht gefährlich, nur der Blutverlust hat sie geschwächt.
In ein paar Tagen ist alles wieder in Ordnung!' Die Tage vergingen, nach einer
Woche stehe ich erneut auf und beginne langsam zu gehen. ... Ich sitze jetzt
hier am Fuße des Berges, in einem kleinen Spital auf der Terrasse, versteckt in
einem Birkenwald.“
In keiner mir bekannten wissenschaftlichen Publikation fand ich genaueres über
Kampfhandlungen mit Einsatz von Fallschirmspringern zwischen Alliierten und dem
Deutschen Reich im Jahr 1943 in Norwegen. Robert Bohn dokumentiert jedoch in sei nem Werk, dass es des Öfteren zu „Raids“ 149, durch die Alliierten Mächte in Norwegen
kam. In welchen Ausmaßen die Überfälle stattfanden und ob Fallschirmspringer einge setzt wurden, konnte ich nicht eruieren.150
Ob das Beschriebene auch Erlebtes war, kann ich hier nicht bestätigen. Jedoch ein Anzeichen dafür war die Narbe einer Verletzung meines Großvaters, die er meinem Vater
gezeigt hatte.151
Im „Kriegstagebuch“ finden sich auch keine Einträge über die folgenden Geschehnisse,
jedoch beherrschten sie die späteren Erzählungen der Kriegserlebnisse meines Großvaters gegenüber seinen Kindern und sind deshalb erwähnenswert.
In Stavanger lernte Stefan Liszt eine Norwegerin kennen, die er zukünftig nur mehr
als „Mutti“ bezeichnete, trotz intensiver Bemühungen war es mir nicht möglich, ihren
Namen zu recherchieren. „Mutti“ versorgte meinen Großvater mit allen möglichen
Utensilien, vom Kochgeschirr bis hin zu Verpflegung, nicht selten wurde er auch von
ihr zum Essen und zum Ausgehen eingeladen. Nach der Kapitulation kam es zu Ge genüberstellungen deutscher Soldaten und Kollaborateuren, so auch bei meinem
Großvater und „Mutti“. Da beide Seiten die Frage nach einer möglichen Kollaboration
verneinten, musste die norwegische Frau keine Sanktionen ihrer Landsleute befürchten. Jahre nach dem Kriegsende besuchte „Mutti“ meinen Großvater in Unterwart,
nach diesem Treffen brach der Kontakt jedoch für immer ab.
Seinen Kindern gegenüber schilderte er auch folgende zwei Begebenheiten, wie sehr
sie der Wahrheit entsprechen, war mir nicht möglich zu recherchieren. Während eines
Wacheinsatzes meines Großvaters kam es zu einer unangekündigten Übung, ein Offizier versuchte in das von meinem Großvater zu bewachende Objekt einzudringen.
Mein Großvater stellte sich mit aller Vehemenz gegen den Eindringling. Der Offizier
war so begeistert von der Abwehr meines Großvaters, dass er ihm empfahl, sich zur
SS zu melden. Stefan Liszt jedoch hatte kein Interesse daran. Die zweite Erzählung
handelte von seiner Tätigkeit als Sanitäter. Als er mit gefangenen sowjetischen Solda„Raid ist eine englische Bezeichnung, wörtlich übersetzt bedeutet es soviel wie Überfall oder Raubzug, für eine
Militäraktion in der der Feind blitzartig auf seinem Territorium angegriffen wird. Danach folgt der sofortige Rückzug der
Truppen. Ziel ist es den Feind zu destabilisieren.
150
Robert Bohn, Reichskommissariat Norwegen. „Nationalsozialistische Neuordnung“ und Kriegswirtschaft, München
2000, 371f.
151
Hierzu, sowie die nachfolgenden drei Absätze: Interview, Liszt/Steinberger.
149
63
ten zusammentraf und ihren fürchterlichen Gesundheitszustand sah, begann er sie zu
verarzten und mit Lebensmitteln zu versorgen. Dies blieb nicht unentdeckt und Stefan
Liszt wurde angezeigt, dies endet beinahe vor einem Kriegsgericht, doch halfen ihm
seine Vorgesetzten.
Während seines Kriegseinsatzes erhielt er das Eiserne Kreuz 2. Klasse sowie das Bronzene Ehrenschild mit der Nr. 8386 für Verdienste in Norwegen. Am 8. 5. 1945 endete
die Besetzung Norwegens, damit verbunden auch der Einsatz meines Großvaters mit
der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht.
7 „Es steht ein Soldat“152 – Kriegstagebuch
Unter den wenigen schriftlichen Dokumenten im Nachlass meines Großvaters findet
sich ein kleines blaues Buch mit der Aufschrift „Minnebok“. Dies ist eine norwegische
Wortzusammensetzung aus den zwei Wörtern „minne“, dies bedeutet Erinnerung, Gedächtnis oder Speicher, und dem norwegischen Wort für Buch, bok. Allein die norwegische Aufschrift lässt drauf zurückführen, dass er dieses Buch während seines Kriegseinsatzes in Norwegen bekommen hat. Der Inhalt bestätigt diesen Gedanken und
durch die gewissenhafte Angabe des Datums nach den meisten Einträgen lassen sich
diese chronologisch einordnen. Inhaltlich finden sich neben Gedichten auch Erzählungen über seine Kriegserlebnisse. Insgesamt finden sich abgesehen von den Titelseiten
ca. 35 Einträge, wovon nur zwei in deutscher Sprache geschrieben sind. Alle Einträge
sind in schwarzer, blauer oder roter Tinte geschrieben, teilweise ohne chronologische
Ordnung, da er wohl aus Platzmangel spätere Einträge auf leere freie Seiten schrieb.
Auf der ersten Seite ist ein großes Bild von ihm in Wehrmachtsuniform zu sehen, auf
der danebenliegenden Seite steht geschrieben: „Erinnerungsbuch! – Für Erszébet
Nagy – Norwegen, 1942“. Warum er Erszébet Nagy das Buch widmet erfahren wir an
einer späteren Stelle in diesem Buch, die Angabe der Jahreszahl 1941 zeigt den Beginn seiner Ausführungen, er kam zu Pfingsten des selben Jahres nach Norwegen. Auf
der nächsten beschriebenen Seite findet sich erneut ein Foto von meinem Großvater in
Wehrmachtsuniform, dieses Mal jedoch ohne Kopfbedeckung und über einem Sechstel
des Fotos hat er ein Band befestigt in den Farben der ungarischen Fahne rot-weiß-grün
(siehe Abbildung 2).
Der Text unter dem Foto bestätigt erneut seine Absicht, dieses Buch zu schreiben „ ...
– Für Erszébet Nagy – Norwegen, 1942 – Pista“. Um die anfängliche Frage der Identität kurz aufzugreifen: Er unterschrieb in diesem Erinnerungsband fast jeden Eintrag
stets mit „Pista“, Pista ist eine Koseform des Vornamens István. Er selbst benutzt in
152
Jenbach, Reichert, Lehár, Wolgaliedes.
64
diesem Buch stets die ungarische Form seines Namens.
Abbildung 2: Passbild von Stefan Liszt in Wehrmachtsuniform. Darüber
befestigte er ein Band in den Farben der ungarischen Fahne rot-weiß-grün.
Quelle: Kriegstagebuch, in Besitz des Autors bzw. der Familienmitglieder.
In den folgenden Ausführungen werde ich einige Stellen – alle zu untersuchen würde
den Rahmen dieser Arbeit sprengen – betrachten unter besonderer Berücksichtigung
der Einträge, welche sich auf seine Gedanken und seine Identifikation zurückführen
lassen.
Beginnend mit den zwei deutschen Einträgen stellt sich bei beiden Einträgen, mit den
Titeln „Es steht ein Soldat.“ und „Komm zurück“, heraus, dass dies zwei populäre Lie der der damaligen Zeit waren. „Es steht ein Soldat“ ist die zweite Strophe des Wolgaliedes aus der Operette „Der Zarewitsch“ 153. Er übernahm die gesamte Strophe. Der
zweite Eintrag ist eine Wiedergabe des Liedes „Komm zurück“, welches ursprünglich
vom italienischen Komponisten Dino Olivieri mit dem Titel „Tornerai“ geschrieben wurde. Das Lied wurde auf Platten in mehreren Sprachen, unter anderem in Französisch,
Schwedisch, Tschechisch, Polnisch und Deutsch am Ende der 1930er Anfang der
1940er Jahren aufgenommen und gelang zu großer Bekanntheit. Bei beiden Einträgen
dieser musikalischen Darbietungen unterschreibt Stefan Liszt nicht, auch eine Datumsangabe fehlt.154 Bei den Einträgen in ungarischer Sprache, die auch zum größten
Teil von ihm unterzeichnet sind, findet man unter anderem eine erneute Widmung
Der Zarewitsch ist eine deutsche Operette in drei Akten von Bela Jenbach und Heinz Reichert, die Musik wurde von
Franz Lehár komponiert.
154
Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Zitate: Kriegstagebuch, Familienarchiv.
153
65
während seines Lazarettaufenthalts am 20. 11. 1943 für Erzsébet Nagy.
„Dieses Buch schreibe ich für ERZSÈBET, denn sollte es mir beim nächsten Mal
nicht gelingen munter zu werden, dass du von mir ein Andenken hast und es
mit ins Graben nehmen kannst.“
Als hoch interessanten Eintrag ist jedoch der folgende vom 10.2.1944 zu bewerten.
„Irgendwo in der Mitte, weit in Europa, gibt es ein schönes Land. Wo alles anders ist, wie wo anders. Wo alles schöner und alles besser ist. Wo es nichts anderes gibt als Lächeln. Wo es nichts anderes gibt als Liebe. Wo die Akazie, der
Mohn und der Rittersporn blühen. Wo der Herbst noch schöner ist als anderswo.
Wo der Herbst noch eine wertvolle Erinnerung sein kann. Herbst war es vor langer Zeit und die Blätter fielen bei sternklarer Nacht von den Bäumen. Ein krankes Mädchen lag auf einem Liegestuhl und ein kranker Bursch stellte sich zu ihr.
Händehaltend haben sie sich gegenseitig angeschaut. Wie die Zeit vergeht. Der
Mond steigt immer höher, wie wenn er neugierig wäre, was da unten passiert.
Die zwei Kranken nähern sich, die Lippen treffen sich, der Mond versteckt sich
hinter den Wolken.“
In diesem Beitrag erinnert er an ein Land in der Mitte Europas, es zeigt wahrscheinlich
seine Sehnsucht nach Ungarn, da Akazien, Mohn und Rittersporn vermehrt in der Vegetation Ungarns, als in der österreichischen Landschaft, zu finden sind.
8 „Nie wieder Krieg!“155 – Kriegsgefangenschaft
Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht geriet mein Großvater in britische Kriegsgefangenschaft. Von dort oder in deren Rahmen kam er nach Kaprun und arbeitete am Staudamm für einige Monate mit.
In Kaprun, einer Gemeinde im Bundesland Salzburg, wurde am 16. 5. 1938 von den
Nationalsozialisten mit dem Bau eines Wasserkraftwerkes, erst Entwicklungspläne entstanden bereits 1928 in Berlin, begonnen. Die Alpenelektrowerke AG (AEW) gründeten
die Tauernkraftwerke unter der Leitung zahlreicher NS-Funktionäre wurden mehrere
Lager für ca. 2.000 Arbeiterinnen und Arbeiter errichtet. Diese waren zuerst Freiwillige
und später aufgrund des Arbeitskräftemangels wurde auf Kriegsgefangene zurückgegriffen. 1943 befanden sich ca. 4.000 Kriegsgefangene im Einsatz in Kaprun. Aufgrund
der schlecht ausgerüsteten Arbeiterinnen und Arbeiter und dem Mangel an Maschinen
kam das Vorhaben nur schleppend voran. Dies führte zu einer praktischen Einstellung
der Arbeiten im Winter 1942/43, denn der damalige Rüstungsminister Albert Speer
setzte neue Prioritäten. Mit Ende des Deutschen Reichs waren die Arbeiten am sogenannten Tauernkraftwerk nicht weit vorangeschritten, der gesamte Aufwand der bis zu
diesem Zeitpunkt betrieben wurde, wird mit höchsten fünf Prozent des Gesamtbauumfanges beziffert. Bevor die US Army Kaprun unter öffentliche Verwaltung stellte
155
Kollwitz, Nie wieder Krieg.
66
und der Bau zum Mythos der Nachkriegszeit hochstilisiert wurde – dies war nur durch
den großen finanziellen Aufwand des Marshallplans möglich – setzten ehemalige
Zwangsarbeiter, heimgekehrte Soldaten, Nationalsozialisten, Kriminelle und jüdische
Überlebende die Arbeiten fort.156
„Im Jahr 1945 herrschte laut Geschäftsbericht bei den Bauarbeiten nahezu Stillstand: ‚Beim Bau des Kraftwerks Kaprun, welches im Berichtsjahr unter amerikanischer Militärverwaltung stand, konnten nur Sicherungsarbeiten durchgeführt
werden, so daß dieses Jahr als verloren angesehen werden muß.’ Bereits im
Herbst 1945 erfolgte die Ausschreibung eines Kostenangebotes für den Bau ...
“157
Meinem Vater gegenüber schilderte mein Großvater in Gesprächen seine Erlebnisse
von der Baustelle in Kaprun:
„Er erzählte immer von den zahlreichen Arbeitern, die während des Betonierens
in den flüssigen Beton gefallen sind. Ich als kleiner Bube, habe ihn immer gefragt, warum sie die nicht wieder rausgezogen haben. Und mein Vater antwortete, das ging so schnell alles, dass es nicht möglich war.“158
Ob das oben erwähnte Zitat nur ein Gerücht ist oder nicht kann ich an dieser Stelle
nicht feststellen.
Nachdem im Herbst 1945 die Ausschreibung für den Weiterbau begonnen hatte, endete für Stefan Liszt mit hoher Wahrscheinlichkeit die Kriegsgefangenschaft bzw. das
Dienstverhältnis, er wurde entlassen und kehrte nach Unterwart zurück.
9 „Ruinen dieser Stadt“159 – Heimkehr
Nach seiner Rückkehr stand er vor dem Nichts, sein bereits erhaltenes Erbe ist in Albertirsa zurückgeblieben. Nach Albertirsa und zu Erszébet Nagy zurückzukehren war
für ihn unmöglich, er hatte die dafür erforderlichen finanziellen Mittel nicht. So blieb
ihm nur die Möglichkeit nach Unterwart heimzukehren doch war sein Elternhaus im
Besitz seiner Großeltern und viel zu klein für ein weiteres Familienmitglied. In das sowjetisch besetzte Ungarn zu gehen stellte keine Option für ihn dar, da er keinen Besitz
hatte. Nach dem Krieg lernte Stefan in Unterwart eine Frau kennen, die in Wien arbei tete und über gewisse finanzielle Mittel verfügte. Da sich eine Beziehung abzeichnete,
gab sie meinem Großvater Geld. Mit diesem konnte er sich einen Garten in Unterwart
kaufen, wo er eine Holzhütte baute, welche in den nächsten paar Jahren seine Unterkunft darstellte. Diese verfügte weder über Wasser noch einen Stromanschluss.160
Susanne Rolinek, Gerald Lehner, Christian Strasser, Im Schatten der Mozartkugel. Reiseführer durch die braune
Topografie von Salzburg, Czernin Verlag, URL: http://www.imschatten.org/45.html (zugegriffen am 20. 2. 2013).
157
Margit Reiter, Das Tauernkraftwerk Kaprun, in: Oliver Rathkolb, Florian Freund (Hg.), NS-Zwangsarbeit in der
Elektrizitätswirtschaft der „Ostmark“ 1938–1945, Wien-Köln-Weimar 2002, 127-198.
158
Interview, Liszt/Steinberger.
159
Van Dyk/Heppner, Wir sind wir.
160
Interview, Franz Liszt.
156
67
In den Nachkriegswirren begann er langsam eine neue Existenz in Unterwart aufzubauen und versuchte, sich schnell in der Nachkriegsgesellschaft zu einem angesehenen Mann zu entwickeln. Bei einer Theateraufführung des Oberpullendorfer Theatervereins in Unterwart lernte mein Großvater meine Großmutter kennen und lieben. Am
4. 7. 1950 heiratete er meine Großmutter im Wiener Stephansdom, die standesamtliche Vermählung vollzogen sie bereits einige Tage zuvor in Oberpullendorf. Die Hochzeit im Stephansdom wurde von einer in Wien lebenden Schwester meines Großvaters
organisiert, meine Großmutter erhielt ein geborgtes Brautkleid und meinen Großeltern
ihnen unbekannte Beistände. Die Entscheidung in Wien zu heiraten war wirtschaftlich
begründet. Beide verfügten über wenig Geld und da sie in Unterwart gezwungen gewesen wären ein Fest auszurichten, heirateten sie in Wien. Durch die erhaltene Mitgift
konnten meine Großeltern ihren Besitz in Unterwart erweitern. Die Frau, die ihm das
erwähnte Geld geborgt hatte, war enttäuscht, da er sich für meine Großmutter entschieden hatte und er musste in den nächsten Jahren das geborgte Geld zurückzahlen.161
Ein anderer Zuverdienst meines Großvaters war der Schwarzhandel in Wien. Er schilderte seinen Kindern oft, wie er sich mit einem Rucksack voll mit Lebensmitteln auf
den Weg nach Wien machte. Er verließ das sowjetisch besetzte Burgenland bei Friedberg über die grüne Grenze und stieg in Friedberg in den Zug nach Wien. Vor dem
Eintreffen des Zuges in der Hauptstadt sprangen die vom Land kommenden Schmuggler ab, da am Bahnhof erneut Kontrollen auf die Ankommenden warteten. In Wien angekommen verkaufte bzw. tauschte mein Großvater Schmalz und Fleisch aus der eigenen Produktion gegen Geld, Schmuck und Stoffe. Mit dem erhaltenen Geld und
Schmuck kaufte er Land in Unterwart, mit den Stoffen nähte seine Mutter neue Kleider, die sie wiederum an die Bevölkerung verkaufte. Ein neues Standbein schaffte sich
Stefan Liszt auch mit der Errichtung eines Heurigen und Weingarten. Das ganze Dorf
kam zu ihm um zu feiern und nicht nur Fleisch und Wein sondern auch Honig und
Schnaps aus eigener Produktion wurden angeboten.
Er kam in der Ortschaft rasch zu entsprechendem Ansehen und übernahm in Unterwart viele Funktionen bzw. trat in Vereine ein, so war er Mitglied des Radvereines, des
Männergesangsvereines, der Feuerwehr und des Roten Kreuzes.162
Bei der Österreichischen Volkspartei engagierte er sich ebenfalls von Anfang an, da er
in dieser seine christlich konservativen Werte widergespiegelt sah. Seine Kinder erzählen auch, dass er von Anfang an ein „Zeit im Bild“ Fan war und dass bei den Worten
von Hugo Portisch in Österreich I. und II. alle anderen schweigen mussten. Das Rote
161
162
Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: Interview, Liszt/Steinberger.
Seper, Unterwarter Heimatbuch.
68
Kreuz ist jedoch mindestens genauso wichtig für ihn wie die ÖVP gewesen. Er machte
sich im Dorf mit seinen medizinischen Fertigkeiten beliebt und bevor die Bewohner
einen Arzt in den umliegenden Dörfern aufsuchten, besuchten sie meinen Großvater,
der eine Erstversorgung durchführte.
Seine Kinder beschreiben ihn als umtriebig, ehrgeizig und hilfsbereit, gelegentlich
auch sehr aufbrausend. Er lebt in der Mitte der Gesellschaft, ließ keinen Ball oder feierlichen Anlass in der Gemeinde aus – meine Großmutter hasste dieses extrovertierte
Leben. In der Erziehung seiner Kinder kam es oft zu unerträglichem Jähzorn. Wenn die
männlichen Nachfahren etwas „anstellten“, wurden sie mit körperlicher Gewalt 163 gemaßregelt, in diesem Punkt waren sich meine Großeltern einig, in der restlichen Ehe
aber kaum, meine Tante erzählt von unzähligen verbalen Kämpfen zwischen ihnen und
beschreibt die Ehe als alles andere als eine Liebesbeziehung, sondern vielmehr als
eine Vernunftehe. Eine Zeitlang flüchtete sich mein Großvater auch in die Arbeit als
Nachtwächter, er arbeitete 6 Jahre für einen Supermarkt namens „Halko“, wo er mit
seiner Pistole und seinem Gewehr sowie einem Hund täglich die Nacht durchwachte.164
Sein landwirtschaftlicher Besitz nach dem Krieg war mit ca. 12 – 15 Hektar überschaubar, die Arbeit gestaltete das Leben meines Großvaters und das seiner Kinder. Gemeinsam bekamen meine Großeltern fünf Kinder. Im Alter von 92 Jahren starb mein
Großvater nach langer Krankheit am 23. 1. 2001.
10 Nachwort
Die Rolle meines Großvaters während des Zweiten Weltkrieges war mir lange unklar,
ob er Opfer, Mitläufer oder sogar Täter war, kann ich heute jedoch immer noch nicht
beantworten. Wenn ich die Rekonstruktion seiner Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg betrachte, kann ich diese Frage wohl nur mit der Antwort „Soldat“ beantworten. Als Soldat war er wahrscheinlich an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt und als
Soldat verpflegte er sowjetische Kriegsgefangene. Mit der Ideologie der Nationalsozialisten konnte er wohl nicht wirklich viel anfangen und als „Deutscher“ sah er sich
wahrscheinlich nie. Da die Wehrmacht aber in meinen Augen eine Stütze des Regimes
war, war er es auch. Die anfänglich aufgeworfene Frage, mit welchem Land mein
Großvater sich wohl am ehesten identifizierte, ist schwer zu beantworten. Der Autor
Michael Floiger glaubt zum Beispiel nicht an eine burgenländische Landesidentität,
vielmehr glaubt er an Gruppenidentitäten der burgenländischen Bevölkerung, die mehr
oder weniger stark ausgeprägt sind.165
163
164
165
Die Fantasie meines Großvaters kannte hier keine Grenzen.
Interview, Liszt/Steinberger.
Michael Floiger, Gibt es ein burgenländisches Landesbewußtsein?, in: Gerhard Baumgartner/Eva Müller/Rainer Münz
69
Der Historiker Gerhard Baumgartner schreibt über die Bewohnerinnen und Bewohner
in der Zwischenkriegszeit in den ehemals kleinadeligen ungarischen Gemeinden des
Burgenlandes, unter anderen Unterwart, folgendes:
„In den genannten Orten hatte sich zum Teil ein tradiertes, ständisch geprägtes
nationales Bewußtsein erhalten. Als Kleinadeliger hielt man sich für etwas Besseres. Die Kirchensprache war Ungarisch, und auch die Volksschulen waren konfessionelle ungarischsprachige Volksschulen. Auch auf allen Ebenen der lokalen
Verwaltung wurde die ungarische Sprache verwendet. Die Orte waren einsprachig, und die Verwendung der ungarischen Sprache in der Form des lokalen Dialektes war fester Bestandteil der lokalen Identität, der dörflichen Bräuche und
Traditionen.“166
Zu einen gemeinsamen Zusammengehörigkeitsbewusstsein der ungarischen Minderheit im Südburgenland kam es jedoch nicht, trotz direkter Nachbarschaft der Dörfer,
aufgrund der diversen religiösen Bekenntnisse. In Siget in der Wart und in Jabing war
die Mehrheit der Bevölkerung lutherischen, in Oberwart calvinistischen und in Unterwart katholischen Glaubens.
Vielleicht ist es am einfachsten, mit seinen eigenen Worten die Frage der Identität zu
beantworten zu versuchen. In seinem Kriegstagebuch finden sich zwei Einträge, die
eindeutig Auskunft geben können. An der einen Stelle schreibt er:
„Es war schön, jemals ein ungarischer Bauer gewesen zu sein. ... Liebe die
Mohnblume, weil ich sie auch liebe. Ich liebe sie, weil sie einzig und allein ein
treuer Ungar ist.“ An einer anderen Stelle schreibt er: „Wenn er nichts Schöneres sehen würde als seine wahre ungarische Heimat und die ungarische Ebene.“167
Beide Auszüge sowie seine späteren Aussagen gegenüber seiner Kinder zeugen von einer deutlichen Identifikation sowie von seiner starken Verbundenheit mit Ungarn. Es
ist stets seine Muttersprache Ungarisch und die Flora und Fauna Ungarns, die ihn ins
Schwärmen bringen und für ihn Heimat bedeuten. Das Burgenland ist jedoch die größte Zeit seines Lebens seine Heimat.
Vielleicht erging es ihm so, wie diesem Bauern in der folgenden Erzählung:
„Als sich ein durchreisendes ungarisches Reporterteam Anfang der 80er Jahre
bei einem auf dem Feld pflügenden Bauern der Oberen Wart nach dem Weg erkundigte, erteilte dieser die Auskunft auf Ungarisch. Die nun auf Ungarisch
gestellte Frage, ob er Ungar sein, verneinte er, ebenso wie die Frage, ob er
Deutscher sei. Ja, was er denn nun sei, wollte der verdutzte Reporter wissen. Er
sei ein ‚Idevalósi’, sagte der Bauer, ‚einer, der hierher gehört’.“168
Heimatlos im Heimatland.
(Hg.), Identität und Lebenswelt. Ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt im Burgenland (Burgenländischer
Forschungstag 1988, Tagungsband der Burgenländischen Forschungsgesellschaft), Eisenstadt 1989, 16-26, 18.
166
Gerhard Baumgartner, „Idevalo´si vagyok“ – „Einer, der hierher gehört“. Zur Identität der ungarischen
Sprachgruppe des Burgenlandes, in: Gerhard Baumgartner/Eva Müller/Rainer Münz (Hg.), Identität und Lebenswelt.
Ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt im Burgenland (Burgenländischer Forschungstag 1988, Tagungsband der
Burgenländischen Forschungsgesellschaft), Eisenstadt 1989, 69-86, 72f.
167
Kriegstagebuch, Familienarchiv.
168
Baumgartner, Baumgartner/Müller/Münz (Hg.), Identität, 69-86, 84.
70
11 Quellen
•
Denkschrift der Gemeinde Oberbildein an den Völkerbund, Burgenländisches
Landesarchiv, Anschlußarchiv, Faszikel 29 1922/191.
•
Entlassungsdokument aus der Kriegsgefangenschaft, im Familienbesitz des
Autors.
•
Interview mit Béla Németh, geführt am 19. 1. 2013, Bänder beim Autor.
•
Interview mit Franz Liszt und Klara Steinberger, geführt am 23. 2. 2013, Bänder
beim Autor.
•
Käthe Kollwitz, Nie wieder Krieg!, Lithographie, 93,5 x 71 cm, 1924. DHM,
Berlin, P 62/23 1924.
•
Kriegstagebuch von Stefan Liszt, Dokument im Familienarchiv des Autors.
•
Mitgliedschaftskartei der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei,
Institut für Zeitgeschichte Universität Wien, Mikrofilm.
12 Abbildungen
•
Abbildung 1: Josef Liszt, mein Urgroßvater, in Uniform. Die Aufnahme entstand
ca. zwischen 1914-1918.
•
Abbildung 2: Passbild von Stefan Liszt in Wehrmachtsuniform. Darüber
befestigte er ein Band in den Farben der ungarischen Fahne rot-weiß-grün.
Quelle: Alle Abbildungen befinden sich in Besitz des Autors bzw. der
Familienmitglieder.
71
Peter Bystricky
Verflochtene und flexible nationale Identitäten
Meine tschechischen Verwandten im Wien vor, während und nach der NS-Zeit
72
Inhalt
1 Einleitung
73
2 Sozialer Hintergrund und Herkunft der Familien Bystricky und Trachtulec
75
2.1 Sozialer Hintergrund und Herkunft der Familie Trachtulec
76
2.2 Sozialer Hintergrund und Herkunft der Familie Bystricky
78
3 Biographie Maria Katharina Trachtulec/Schagginger/Bonifazi 1912-1998:
81
Wienerin – Tschechin – Österreicherin – Deutsche – Österreicherin
3.1 Jugendzeit bis zur 1. Eheschließung
81
3.2 Der Anschluss Österreichs und die NSDAP – Mitgliederreise
82
3.3 Wehrdienst / Grundausbildung
84
bei der Fliegerabwehr in Baden bei Wien
3.4 Der Zweite Weltkrieg
87
3.5 Verbindungen in die Tschechoslowakei
89
3.6 Wehrmachtshelferin
89
3.7 Kriegsende und Nachkriegszeit
90
4 Biographie Jaroslav Bystricky 1913-1998:
91
Wiener – Tscheche – Österreicher
4.1 Kindheit und Jugend
91
4.2 Der „Anschluss“
92
4.3 Keine Arbeit mehr bei Juden
93
4.4 Der erste Urlaub
93
4.5 Die Schließung des kleinen Obstgeschäfts
93
4.6 Keine Einberufung zur Wehrmacht
94
aber Arbeitszwangsverpflichtung
4.7 Kommando „Julius“/KZ-Außenlager Floridsdorf
95
4.8 Die Bombenangriffe auf Floridsdorf
96
4.9 Das Kriegsende und die frühe Besatzungszeit
97
4.10 Die neuen Zeiten
98
5 Resümee zu den zentralen Fragen
100
5.1 Staatsbürgerschaft und nationale Identität
100
5.2 Reflexionen über die NS-Zeit
103
5.3 Öffentliche Anpassung und private Identität
104
5.4 Schlussbemerkungen
105
6 Quellen
106
7 Abbildungen
106
73
1 Einleitung
Die NS-Zeit war in meiner Familie immer ein Thema, weil wir sie vom Blickwinkel des
Außenstehenden, des Unschuldigen bzw. des Opfers betrachteten.
Ich möchte in meiner Seminararbeit auf die unterschiedlichen Beziehungen zweier
tschechischer Familien zum NS-Staat eingehen. Eine noch diffuse Idee dazu hatte ich
bereits im Jahr 1998. In diesem Jahr starben innerhalb weniger Monate die Tante mei ner Großmutter, Maria Bonifazi/Schagginger/Trachtulec (1912-1998) und mein Großvater Jaroslav Bystricky (1913- 1998). Bei der Sichtung des Nachlasses von Maria Bonifazi in Wien und Niederösterreich fand ich einen reichen Nachlass an Urkunden, Brie fen und Bildern mit einem Hauptbezug auf die 1930er und 1940er Jahre. Neben diesen
Quellen fanden sich auch verschiedenste gegenständliche Zeugnisse für diese Zeit.
Von Ostmarkporzellan über Garnspulen aus Niederdonau bis hin zu NS-Geld und Elektroschaltungen mit Hakenkreuz. Vollkommen anders sah es mit der Quellenlage bei
meinem Großvater aus. Aus seiner gesamten Lebenszeit vor 1945 liegen nur wenige
schriftliche und bildliche Quellen vor, dafür aber viele mündliche Überlieferungen aus
der Familiengeschichte, hauptsächlich aus der NS-Zeit. Durch oftmalige Wiederholung
haben sich diese Erzählungen in der kollektiven Erinnerung meiner Familie festgesetzt.
Auch habe ich in den Jahren 1994 und 1995, anlässlich des 50. Jahrestages des
Kriegsendes, mit meinem Großvater über seine Erlebnisse in der Kriegszeit mehrere
Gespräche geführt und davon Aufzeichnungen für ein dann nicht verwirklichtes Schulprojekt angefertigt. Bei diesen Aufzeichnungen handelt es sich selbstverständlich um
kein professionelles Interview, auch hatte ich keine Ahnung, dass dieses Material 17
Jahre später doch noch Verwendung finden würde.
Als zentralen Punkt meiner Untersuchungen sehe ich die sehr differenten Lebenswege
von Maria Trachtulec und Jaroslav Bystricky in den 1930er und 1940er Jahren. Besonderen Bezug nehme ich dabei auf die Zeit des Nationalsozialismus. Beide hatten bezüglich ihrer Herkunft und ihres sozialen Umfeldes ähnliche Voraussetzungen, jedoch
gab es einige Aspekte, die zu völlig verschiedenen Beziehungen zum NS-System führten. Wie schon im ersten Absatz beschrieben war allein schon die Art der Nachlässe
sehr unterschiedlich. Ein wichtiger Aspekt, besonders bezogen auf den Nachlass von
Maria Trachtulec, ist die Frage, welche Dokumente nicht gefunden wurden. Als ich den
Nachlass vor fünfzehn Jahren gesichtet habe, war ich der Ansicht, dass es sich um
einen sehr vollständigen Nachlass gehandelt hat, doch muss diese Ansicht vom heuti gen Standpunkt aus revidiert werden, da ich keinerlei Dokumente über die NSDAPMitgliedschaft von Maria Trachtulec ersten Ehemann gefunden habe. Seine Mitgliedschaft wurde aber auch nicht absichtlich verborgen, da Briefe und Fotos, die auf seine
74
NSDAP-Mitgliedschaft hindeuten, aufgefunden wurden. Der Nachlass meines Großvaters bestand hingegen hauptsächlich aus seinen mündlichen Überlieferungen über die
NS-Zeit. Einige Erzählungen waren unüberprüfbar, da nur die anwesenden Personen
darüber Zeugnis ablegen konnten und diese bereits verstorben sind. Für die wichtigen
Punkte seiner Erzählungen habe ich aber Belege gefunden und auch die nicht belegbaren Überlieferungen scheinen im Kontext schlüssig zu sein. Ein Aspekt bezüglich der
Nachlässe ist noch anzuführen und zwar, dass beide Nachlässe von mir direkt in Vertretung meiner Eltern bearbeitet wurden. Es besteht daher nicht die Möglichkeit, dass
irgend jemand aus unbekannten Gründen Teile des Nachlasses nach dem Tod der beiden verändert hat.
Zwei weitere Punkte möchte ich noch anführen, bevor ich zu meinen zentralen Fragen
komme und zwar, dass diese Arbeit den Blickwinkel auf zwei mir vertraute Personen
verändert hat. Bei meinem Großvater war die Veränderung des Blickwinkels nicht so
groß wie bei Maria Trachtulec, da seine Erzählungen nachvollziehbar waren und mir
auch durch oftmalige Wiederholung wohlbekannt. Bei Maria Trachtulec war die Veränderung größer, da wir über die NS-Zeit kaum gesprochen haben und wenn nur vom
Unfall ihres ersten Ehemanns Emil Schagginger. Besonders bei ihr muss ich eigentlich
sagen, dass ich sie vor dieser Arbeit nicht richtig gekannt habe. Ich meine dies aber
nicht im negativen Sinne, sondern bezogen auf die Bewusstmachung eines unbekannten Vorlebens. In diesem Zusammenhang möchte ich bezogen auf beide von einem
Wahrnehmungsdefekt sprechen. Obwohl ich teilweise alte Fotos von meinem Großvater kannte (von Maria Trachtulec eher nicht) existierten beide für mich in meinem Bewusstsein als Menschen, die schon alt waren, als ich geboren wurde. Mir fehlte vollständig die Vorstellung, dass sie auch jung gewesen waren. Durch die Arbeit und Beschäftigung mit ihnen wurden sie mir erst als ganzheitliche Menschen bewusst. Ein
zweiter Punkt, der noch anzuführen ist, ist der, dass ich zu Maria Trachtulec nicht die
enge räumliche Beziehung hatte wie zu meinem Großvater, mit dem ich achtzehn Jahre im selben Haus gelebt habe. Mit Maria Trachtulec hatte ich teilweise nur sehr sporadischen Kontakt und erst in ihren letzten Lebensjahren wurde dieser enger, da sie wieder das gesamte Jahr über in Wien und Klosterneuburg lebte. Daher ist auch das Defizit an mündlichen Überlieferungen bei Maria Trachtulec nicht auf Verschweigen und
Verdrängen zurückzuführen, sondern auf die nicht so enge Beziehung zu ihr. Ein letzter Aspekt, der noch anzusprechen wäre ist der, dass beide Familien erst nach dem
zweiten Weltkrieg, durch die Familie Bonifazi, in weitschichtige verwandtschaftliche
Beziehung traten und daher die ähnlichen Grundvoraussetzungen, bezüglich sozialem
Hintergrund und Herkunft nicht durch ursprüngliche Verwandtschaft bestanden. Wahrscheinlich würde man viele tschechische Familien finden, die ebenfalls ähnliche Famili-
75
engeschichten aufzuweisen haben und vor ähnlichen Entscheidungen standen.
Im Folgenden möchte ich meine Grundfragen näher erläutern:
•
Die erste Frage beschäftigt sich mit den Faktoren, die für die sehr
unterschiedlichen Beziehungen der beiden und ihrer Familien zum NS-Staat, bei
ähnlichen sozialen Grundlagen, verantwortlich sind.
•
Eine weitere Frage ist die Frage der Reflexion der beiden über die NS-Zeit und
eventuelle Erinnerungsungenauigkeiten.
•
Ziel ist es am Ende zu einem großen Fragenkomplex zu kommen, der sich mit
dem Faktor der tschechischen Herkunft, des tschechischen Bewusstseins und
den damit verbundenen Ambivalenzen beschäftigt.
Bevor ich aber auf diese Fragen eingehe, rekonstruiere ich die Lebenswege von Maria
Trachtulec und Jaroslav Bystricky. Ich stütze mich dabei auf diverse schriftliche Dokumente und bei meinem Großvater auch auf eine Art oral history. Ich versuche die Lebenswege zu kontextualisieren und teilweise werden sich Antworten auf meine zentralen Fragen schon durch die Rekonstruktion der Lebenswege zeigen. Im letzten Kapitel
werde ich mich mit den Fragen detailliert beschäftigen und versuchen, ein Resümee zu
ziehen. Bevor ich aber die beiden Biographien darstelle, widme ich ein Kapitel den beiden Familien und den ähnlichen Grundvoraussetzungen, bezüglich ihrer familiären
Herkunft, zeige aber dabei auch schon die Gegensätzlichkeit auf.
2 Sozialer Hintergrund und Herkunft der Familien Bystricky und
Trachtulec
Ich habe mich dafür entschieden, der Beschreibung des sozialen Hintergrundes und
der Herkunft der beiden Familien ein eigenes Kapitel zu widmen und erst danach auf
die beiden Hauptpersonen meiner Seminararbeit einzugehen, da ich erst die doch sehr
ähnlichen Grundvoraussetzungen für meinen Großvater und meine Großtante schildern
möchte und erst danach die gegensätzlichen Lebenswege der beiden zeichne. Lebenswege, die doch sehr verschieden, bezüglich des tschechischen Bewusstseins und der
Lebenswirklichkeiten scheinen, aber dann doch nicht so ganz unterschiedlich waren.
76
2.1 Sozialer Hintergrund und Herkunft der Familie Trachtulec
Johann Trachtulec, der Vater von Maria Trachtulec, wurde am 26. 12. 1883 in Mährisch-Pisek Nr. 114 geboren. Am 28. 12. 1883 wurde er in Bisenz in der Pfarrkirche St.
Johann Baptist nach katholischem Ritus getauft. Sein Vater Andreas Trachtulec und
seine Mutter Barbara Trachtulec geb. Lovecký entstammten Kleinhäuslerfamilien 169.
Die Gattin von Johann Trachtulec, Apollonia Trachtulec geb. Bém, wurde am 22. September 1891 in Nivnitz Nr. 305 in Mähren geboren, auch sie war römisch-katholisch
getauft. Wie die Eltern von Johann Trachtulec so entstammen auch die Eltern seiner
Ehefrau, Johann Bém und Marianna Bém geb. Jankuj, aus Kleinhäusler bzw. Viert lerFamilien.170
Wann und ob die beiden schon gemeinsam oder getrennt nach Wien gekommen sind,
ist nicht zu belegen. Bei Appollonia Trachtulec wäre die Möglichkeit gegeben, dass sie
mit ihren Eltern nach Wien übersiedelte, da ihre Mutter Marianna, geb. Jankuj auch in
Wien gelebt hat und hier am 22. 4. 1944 im 83. Lebensjahr verstorben ist. Auch die
Mutter von Appollonia Trachtulec hatte im 20. Wiener Gemeindebezirk ihren Lebensmittelpunkt. Am 1. 8. 1914 wurden Johann und Appollonia Trachtulec in der Pfarre Al lerheiligen in Wien getraut. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits zwei Töchter. Die
am 21. 4. 1912 geborene Maria Katharina Trachtulec und die am 26. 3. 1914 geborene
Emilie Trachtulec. Beide Töchter werden in späteren Urkunden als ehelich geführt, obwohl sie schon vor der Eheschließung geboren worden waren.
Vom Beruf war Johann Trachtulec Hilfsarbeiter, über seine beruflichen Tätigkeiten liegen keine weiteren Dokumente vor. Im 1. Weltkrieg war er Soldat und zumindest zeitweise bei der Geniedirektion171 in Krakau stationiert. Einige Fotos deuten darauf hin,
dass er im Versorgungsbereich tätig war.
Nach dem Krieg blieb er mit seiner Familie in Wien und suchte im Jahre 1921 um die
österreichische Staatsbürgerschaft an. Diese wurde ihm mit dem Hinweis auf den
Staatsvertrag von St. Germain en Laye vom 10. 9. 1919 verwehrt. Das Innenministerium entschied, dass er nicht den Nachweis erbringen konnte, nach „Rasse“ und Sprache zur deutschen Mehrheit der österreichischen Bevölkerung zu gehören. 172 Johann
Trachtulec versuchte also zu beweisen, dass er zur deutschen Mehrheitsbevölkerung
Österreichs gehörte und nicht zur tschechischen Mehrheitsbevölkerung der Tschecho169
Gleichzusetzen mit Keusche, welche ein ärmliches, ländliches Haus mit sehr wenig Grundbesitz bezeichnet. Die
Keuschler bzw. Kleinhäusler mussten neben der Landwirtschaft auch anderen Berufen, meist als Tagelöhner oder im
Handwerk, nachgehen. Nur so konnten diese Familien überleben.
170
Viertler sind Besitzer eines kleinen Bauernhofs, der nur etwa über ein Viertel der Größe, die für den Erhalt einer
Familie notwendig war verfügte. Die Grundgröße eines Viertlerhofes betrug zwischen 2,5 und 6ha, ebenso bedurfte es
eines Nebenerwerbes.
171
Genietruppen: veralteter Ausdruck für Pioniertruppen.
172
Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
77
slowakischen Republik. Im Artikel bzw. Paragraph 80 des Vertrages von Saint Germain
en Laye173 ist nämlich geregelt, dass er beweisen hätte müssen, kein Tscheche nach
„Rasse“ und Sprache zu sein um Österreicher zu werden. Dieses Ansuchen zeigt auf
jeden Fall den Willen des Familienoberhauptes, in Österreich zu bleiben und sich an die
Mehrheitsbevölkerung anzupassen. Im Grunde ist hier die Bereitschaft zu sehen sich
zu assimilieren und das Tschechentum abzulegen. Ob die Anpassung aus innerlicher
Überzeugung erfolgte oder eher wirtschaftliche Gründe hatte, ist heute nicht mehr
nachzuvollziehen, es sind aber wirtschaftliche Gründe anzunehmen.
Den Lebensmittelpunkt für die Familie bildete der 20. Wiener Gemeindebezirk. Die
Adresse Salzachstraße 17 kann von den frühen 1920er Jahren bis Ende 1944 bzw. Anfang 1945 als Wohnadresse nachgewiesen werden. Im Lehmanns Adressverzeichnis
findet sich die Adresse zwar erst ab 1931, jedoch ist sie durch diverse amtliche Urkunden und Schriftstücke seit 1921 belegt. Wahrscheinlich waren sie vor 1931 nur Untermieter und sind deshalb nicht verzeichnet. Hier besuchte auch die ältere Tochter, Maria
Katharina Trachtulec, die Privatbürgerschule des Komenskyschulvereins 174 in der
Pöchlarnstraße Nr. 12.
Im Jahre 1931 wurden Johann Trachtulec, seiner Frau und den beiden minderjährigen
Töchtern, Maria Katharina und Emilie, dann doch die Wiener Landesbürgerschaft und
damit auch die österreichische Bundesbürgerschaft zugesichert.175
Es ist ihnen gelungen, binnen Jahresfrist die Entlassung aus der tschechischen Staatsbürgerschaft zu erwirken, da im Jahr 1932 Wiener Heimatschein und österreichische
Pässe für die Familie ausgestellt wurden. Die Erteilung der Staatsbürgerschaft über die
Wiener Landesbürgerschaft korrespondiert auch mit einer allgemeinen positiven Einstellung des „Roten Wien“ gegenüber den Wiener Tschechen.
Im Jahr 1938 gibt es Indizien, die darauf hinweisen, dass die Familie mittels Fragebogen und Urkunden ihre „Abstammung“ nachweisen musste. Es liegt ein Merkblatt für
das Ausfüllen solcher Fragebögen vor und es wurden 1938 Geburts-Tauf- und Trauungsscheine aus der Tschechoslowakischen Republik als Duplikate erstellt. Diese
dienten sehr wahrscheinlich zum Nachweis der Abstammung.
Im Jahr 1944 wurden Johann Trachtulec und seine Frau durch Bombenangriffe geschädigt. Sie wurden als deutsche Volksangehörige und Staatsbürger des Deutschen
Reichs von den Behörden geführt und erhielten Entschädigungen bzw. Hilfsleistungen.
Im Dezember 1944 mussten sie nach weiteren Bombenangriffen ihre Wohnung verlassen und konnten bei Bekannten in der Reinprechtsdorferstraße im 5. Bezirk als UnterDer Vertrag von St. Germain, Wien 1919, Artikel 80.
Margita Jonas, Geschichte des Schulvereines Komensky, in: Regina Wonisch (Hg.), Tschechen in Wien. Zwischen
nationaler Selbstbehauptung und Assimilation, Wien 2010, 61-92.
175
Hierzu, sowie die nächsten fünf Absätze: Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
173
174
78
mieter unterkommen. Handschriftlich ist am Meldezettel vermerkt: „total ausgebomt“.
Einige Wochen vor der Befreiung Wiens mieteten die Eheleute, am 1. 3. 1945 (genehmigt vom Wohnungsamt 3. 3. 1945), eine Zimmer und Küche Wohnung in der Passettistraße 25 im 20. Wiener Gemeindebezirk. Die Wohnung in der Passettistraße 25/17
wurde bis zum Tod des Johann Trachtulec am 20. 11. 1970 von den beiden bewohnt.
Seine Ehefrau Appollonia Trachtulec überlebte ihren Mann um 15 Jahre und starb 1985
im 94. Lebensjahr.
2.2 Sozialer Hintergrund und Herkunft der Familie Bystricky
Alois Bystricky, der Vater meines Großvaters, wurde am 14. 8. 1864 in Pilsen geboren
und römisch-katholisch getauft. Seine Ehefrau, Franziska Bystricky geborene Jehlicka,
ebenfalls römisch-katholisch, wurde am 15. 5. 1876 in Trhov Kamenitz geboren. Wann
die beiden nach Wien gekommen sind, ist wie bei der Familie Trachtulec nicht zu belegen. Geheiratet haben sie am 24. 1. 1904 in Wien, alle sechs Kinder wurden in Wien
geboren, ein siebentes verstarb im Säuglingsalter. Alois Bystricky war vom Beruf Lackierer und meist im Eisenbahnbau bei der Floridsdorfer Lokomotivfabrik tätig, jedoch
fehlen die entsprechenden Unterlagen. Über den sozialen Hintergrund der Elterngeneration der Eheleute Alois und Franziska Bystricky liegen keine Belege vor, es dürfte
sich aber um einen ähnlichen Hintergrund wie bei der Familie Trachtulec gehandelt haben. Auch bezüglich der Motive für die Übersiedlung nach Wien dürften ähnliche Gründe ausschlaggebend gewesen sein. Beide Familien wanderten wie ca. 500.000 Tschechen ein, welche in der Zeit von 1880 bis 1914 als Arbeitsmigranten nach Wien ka men176. In der prosperierenden Metropole der Habsburgermonarchie war der Bedarf an
billigen Arbeitskräften sehr groß. Viele tschechische Arbeiter wurden ausgebeutet und
lebten, man würde heute sagen, in Elendsvierteln am Stadtrand. Ein immer wieder angeführtes Beispiel für die Ausbeutung der Tschechen bieten die Ziegelwerke am Wienerberg, welche die Arbeiter zeitweise nicht einmal mit richtigem Geld, sondern mit
Wertmarken bezahlten.177 Sprichwörtlich wurde der „Ziegelböhm“. Noch schlimmer war
die Lage der tschechischen Dienstmädchen, die praktisch rechtlos ihren Dienstgebern
ausgeliefert waren.
Zur Zeit der Geburt meines Großvaters, Jaroslav Bystricky, am 4. 8. 1913, war die Familie in der Klosterneuburgerstraße 91 im 20. Wiener Gemeindebezirk wohnhaft. Mein
Großvater erzählte von vielen Wohnungswechseln in seinem ersten Lebensjahrzehnt,
Michael John, Der lange Atem der Migration. Die tschechische Zuwanderung nach Wien im 19. und 20. Jahrhundert.
in: Regina Wonisch (Hg.), Tschechen in Wien .Zwischen nationaler Selbstbehauptung und Assimilation, Wien 2010, 3160.
177
Victor Adler, Die Lage der Ziegelarbeiter. in: Friedrich G. Kürbisch (Hg.), Der Arbeitsmann, er stirbt, verdirbt, wann
steht er auf? Sozialreportagen 1880 bis 1918, Berlin-Bonn 1982, 45-49.
176
79
da Familien mit 6 Kindern nicht gerne als Mieter gesehen wurden und sofort nach dem
Einzug wieder die Kündigung erfolgte. Nach dem 1. Weltkrieg kann man bezogen auf
die Wohnungswechsel eine Änderung feststellen, da eine dauerhafte Wohnung im 21.
Wiener Gemeindebezirk gefunden wurde. Im Jahr 1921 ist die Familie in der Schenkendorfgasse 28/3 im 21. Wiener Gemeindebezirk nachzuweisen. Wahrscheinlich waren die beiden älteren Kinder zu dieser Zeit nicht mehr bei den Eltern wohnhaft.
Diese Wohnung wurde über den Tod von Alois und Franziska Bystricky hinaus bis nach
dem 2. Weltkrieg von meinem Großvater bewohnt. Hier im 21. Bezirk besuchte mein
Großvater auch eine Privatbürgerschule des Schulvereins Komensky in der Deublergasse Nr. 19 und beendete dort 1927 die Schulpflicht.
Im Jahr 1921 wurde wie bei der Familie Trachtulec die Frage der Staatsbürgerschaft
für die Familie relevant. Alois Bystricky wurde zwar als österreichischer Staatsangehöriger geführt, hätte diese aber verloren und optierte nach Artikel bzw. Paragraph 78
des Vertrages von St. Germain en Laye für die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft.178 Somit wurden im Jahr 1921 Alois Bystricky, seine Frau Franziska und die vier
minderjährigen Kinder, unter ihnen auch mein Großvater, Jaroslav Bystricky geb.
1913, tschechische Staatsbürger mit dem Heimatrecht in der Gemeinde Stahlavy im
Bezirk Pilsen.179 Die beiden älteren Kinder wurden wahrscheinlich durch gesonderte
Verfahren tschechische Staatsbürger, doch gibt es hierfür keine schriftlichen Belege.
Mit der Option für die Tschechische Republik hätte die Familie eigentlich binnen Jahresfrist in die Tschechoslowakei umsiedeln müssen. So ist es an sich im Vertrag von
Saint Germain für Optanten verfügt. 180 Faktisch blieben aber alle Familienmitglieder in
Wien. Alois Bystricky wollte zwar laut der Erzählung meines Großvaters nach Tschechien zurück, da er es als seine Heimat betrachtete. Er dürfte in der Spätphase der k. u.
k. Monarchie ein tschechisches Nationalbewusstsein entwickelt haben, worauf auch die
Erzählungen meines Großvaters hindeuteten. Zu einer Rückwanderung nach Tschechien kam es aber nie und er starb am 27. 7. 1943 in Wien ebenso wie seine Frau Franziska, welche am 10. 1. 1944 gestorben ist, beide sind auch hier begraben. 181 Keines
der Kinder zog in die Tschechoslowakische Republik, alle blieben und starben in Wien.
Auch wurden alle spätestens nach dem 2. Weltkrieg österreichische Staatsbürger. Und
es war auch besser, nicht in die Tschechoslowakei zurückzukehren, da die, die es nach
dem 2. Weltkrieg getan haben, meist enttäuscht wurden, da die besseren Arbeitsplätze mit den Einheimischen (Tschechen) besetzt waren.
Beide Familien haben einige Ähnlichkeiten, bezüglich ihrer Geschichte bzw. ihrer Her178
179
180
181
Der Vertrag von St. Germain, Wien 1919, Artikel 78.
Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.
Der Vertrag von St. Germain, Wien 1919, 52-56.
Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.
80
kunft, aufzuweisen. Beide Familien kamen aus wirtschaftlichen Gründen nach Wien,
sie stammten aus dem böhmisch-mährischen Raum, waren der tschechischen
Volksgruppe zugehörig und gehörten den ärmeren Schichten der Bevölkerung an. Die
Familienväter waren einfache Arbeiter bzw. Hilfsarbeiter, beide Familien hatten ihren
ersten Lebensmittelpunkt im 20. Bezirk und die Kinder besuchten in den 1920er Jahren die tschechischen Komenskyschulen. Aber in einem zentralen Punkt unterschieden
sich die Familien bzw. die Familienväter (siehe Abbildung 1 und 2): nämlich im Bekenntnis zu Österreich bei Johann Trachtulec und im Bekenntnis zur Tschechischen Republik bei Alois Bystricky. Wie schon vorher angesprochen ist bei Johann Trachtulec
nicht mehr zu ergründen, warum er sich so früh zu Österreich bekennen wollte, bei
Alois Bystricky ist seine tschechische Überzeugung überliefert.
Abbildung 1: Johann Trachtulec als
Soldat im Ersten Weltkrieg.
Abbildung 2: Alois Bystricky um
1930.
Quelle: Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi
Quelle: Aus dem Nachlass von Jaroslav
(geb. Trachtulec).
Bystricky.
Obwohl auch innerhalb der Familie Bystricky seine Überzeugung für den tschechischen
Staat nicht unbedingt geteilt wurde. Ein nicht zu vernachlässigender Punkt ist die Familiengröße. Die Familie Trachtulec bestand aus vier Personen, die Familie Bystricky
aus acht Personen, es war daher für die Familie Bystricky ungleich schwerer, das Überleben zu sichern, besonders in der Frühphase, wo noch sechs Kinder zu versorgen waren.
81
3 Biographie Maria Katharina Trachtulec/Schagginger/Bonifazi 19121998: Wienerin – Tschechin – Österreicherin – Deutsche – Österreicherin
3.1 Jugendzeit bis zur 1. Eheschließung
Maria Katharina Trachtulec wurde am 21. 4. 1912 im 20. Wiener Gemeindebezirk, Meldemannstraße 15 geboren. Am 23. 4. 1912 wurde sie in der Pfarre Allerheiligen ebenfalls im 20. Bezirk römisch-katholisch getauft. (Bezüglich ihrer Eltern siehe Kapitel 2.0
Herkunft der Familie Trachtulec.) Die Schulpflicht beendete sie ihm Jahre 1926 mit der
dritten Klasse der Privatbürgerschule des Schulvereins Komensky in der Pöchlarnstraße 12 im 20. Bezirk. Am 7. 4. 1927 wurde sie als Küchengehilfin im Wiener Rathauskeller (Otto Kaserer Gastronomiebetriebe) eingestellt. Beruflich gesehen verblieb sie
dort bis zum 17. 8. 1952 und stieg zur Köchin auf. Gleichzeitig mit ihrem Dienstantritt
trat sie auch in die Gewerkschaft ein. Sie blieb nominell über fünfzig Jahre Gewerkschaftsmitglied und im Jahr 1977 wurde ihr die Verleihung der Medaille für die 50jährige Mitgliedschaft angekündigt. Im Jahr 1932 bekam auch sie als minderjährige „eheliche“ Tochter des Johann Trachtulec die österreichische Staatsbürgerschaft. Sie nutzte
den damit verbundenen Reisepass zu einer Reise in die Tschechoslowakische Republik
im Juli 1932. Auch später sind zumindest briefliche Kontakte mit Bekannten bzw. Verwandten in der Tschechoslowakei belegt.
In der Zeit zwischen 1934 und 1936 muss sie auch ihren ersten Ehemann, Emil
Schagginger, kennengelernt haben, wahrscheinlich dadurch, dass auch dieser zwischen 1933 und 1934 für die Otto Kaserer Gastronomiebetriebe gearbeitet hat. Bei
seinem Tod im Mai 1939 war er wieder Mitarbeiter bei Otto Kaserer. Im Juni 1936 ist
jedenfalls ein erster gemeinsamer Urlaub in Lunz am See belegt.
Am 10. 7. 1937 erfolgte die Trauung von Emil Schagginger und Maria Katharina Trachtulec in der Pfarre „Zu allen Heiligen“ Zwischenbrücken, Allerheiligenplatz 5 Wien 20.
Bezirk. Bis zu ihrer Vermählung lebte Maria Trachtulec, jetzt Maria Schagginger, bei ihren Eltern in der Salzachstraße 17/32 auch ihr Ehemann hat bis zu seiner Eheschließung bei seiner Mutter im 21. Bezirk gelebt. Emil Schagginger, welcher am 3. 5. 1912
in Wien geboren wurde, war gelernter Fleischhauer und für die frühen 1930er Jahre
sind schnell wechselnde Arbeitsstellen in der Gastronomie nachweisbar. Wann und aus
welchen Gründen er eine nationalsozialistische Gesinnung entwickelte, ist nicht mehr
zu klären. Auf jeden Fall war er schon vor dem „Anschluss“ Österreichs ein illegaler
Nationalsozialist und erhielt nach dem Anschluss die Mitgliedsnummer 6.133.778. Diese Nummer lag in dem Bereich der für illegale Nationalsozialisten aus Österreich re-
82
serviert worden war.182 Er war also schon vor dem Anschluss Mitglied der NSDAP und
während der Zeit der Illegalität nicht abtrünnig geworden. Er erhielt wie alle anderen
illegalen Nazis das Eintrittsdatum 1. 5. 1938 rückwirkend, da die NS-Verwaltung 1938
mit der Flut an Mitgliedschaftsanträgen überlastet war. Dieses Eintrittsdatum erhielten
alle illegalen Nazis aus Österreich pauschal, egal, wann sie den Antrag gestellt hatten.183 Auf die alte Mitgliederkartei der früheren NSDAP in Österreich konnte man sich
nicht stützen, da durch die Zeit der Illegalität der Hauptteil verloren gegangen war.
Emil Schagginger war also überzeugter Nationalsozialist, der nicht durch Opportunismus sondern aus Überzeugung Mitglied geworden war.
Laut den erhaltenen Briefen hat es sich bei seiner Heirat mit Maria K. Trachtulec um
eine Liebesheirat gehandelt und auch die nationalsozialistische Gesinnung Emil Schaggingers dürfte in der Ehe keine Rolle gespielt haben bzw. von seiner Frau akzeptiert
worden sein. Inwieweit seine Gesinnung durch seine Frau mitgetragen wurde, ist nicht
mehr mit Sicherheit festzustellen.
Ich gehe aber nicht davon aus, dass sie mit dem NS-System aus Eigenantrieb sympathisierte. Im persönlichen Umgang mit ihr war nie das geringste Anzeichen von Antisemitismus oder als Folgeerscheinung von Ausländerfeindlichkeit zu erkennen. Eher im
Gegenteil: Sie kümmerte sich sogar um Arbeitsimmigranten aus Polen. Ich war selbst
sehr überrascht von der NSDAP – Mitgliedschaft ihres ersten Mannes, da in ihren Erzählungen, noch über fünfzig Jahre nach dem Tod Emil Schaggingers, eine gewisse
Verklärung seiner Person erfolgte, kann dies aber, so glaube ich, durch die erste große
Liebe und den frühen Tod ihres Mannes erklären. Durch seinen Unfalltod wurde auch
ihre Lebensplanung zerstört und ihr gesamtes Leben wäre wahrscheinlich anders verlaufen, jedoch hätte Emil Schagginger den gesamten 2. Weltkrieg als Soldat durchmachen müssen. Nach der Eheschließung bezogen sie eine Wohnung im 8. Bezirk, Kochgasse 6/5. Am Tag der Eheschließung traten sie eine neuntägige Hochzeitsreise in das
Königreich Jugoslawien an.
3.2 Der Anschluss Österreichs und die NSDAP-Mitgliederreise
Kurz nach dem Anschluss Österreichs 1938 nahm Emil Schagginger an einer Propagandareise der NSDAP ins Deutsche Reich teil. Von dieser Reise liegen vier Postkarten
und ein längerer Brief vor.184 Ich gebe diese Schriftstücke hier vollständig und ungeGerhard Botz, Expansion und Entwicklungskrisen der NSDAP Mitgliedschaft. Von der sozialen Dynamik zur
bürokratischen Selbststeuerung? (1933-1945), in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Beruf(ung)
Archivar, Festschrift für Lorenz Mikoletzky, Teil II, Bd. 55, 2011, 1161 – 1186.
183
Karteikarte der Mitgliederkartei der NSDAP, Mikrofiche am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Rolle:
A3340 – MFOK TO 14.
184
Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
182
83
kürzt wieder, da sie einen direkten Einblick in Emil Schaggingers Gedankenwelt
eröffnen und auf Motive für seine Begeisterung für den Nationalsozialismus schließen
lassen. Die Gründe für sein Engagement bei der NSDAP dürften vorwiegend wirtschaftlicher Natur gewesen sein und weniger ideologisch motiviert. Die Ideologie dürfte für ihn zwar nicht das Hauptmotiv gewesen sein, wurde aber vollständig mitgetra gen. Die Beschreibung seiner Reise spricht von Begeisterung, aber auch von einer gewissen Naivität und zeigt auch, dass es eine wohlwollende Akzeptanz seines Engagements durch seine Frau gegeben hat. Den Begriff Naivität meine ich aber nicht in dem
Sinne, dass er die Tragweite des Nationalsozialismus nicht verstehen konnte, da ich
nämlich etliche Anhaltspunkte habe, die auf einen aufgeweckten, intelligenten, aber
unsteten und unzufriedenen Charakter hindeuten. Charakterisieren würde ich ihn fast
als unzufriedenen Sozialdemokraten, der sich nach der Niederlage der Sozialdemokratie in Österreich 1934 der NSDAP zugewendet hat. Belege dafür gibt es zwar keine,
aber irgendwie erwecken seine Briefe diesen Eindruck.
Auf seiner Deutschlandreise nahm er auch an einer Führerkundgebung teil. Adolf Hitler
war zu dieser Zeit auf einer Wahlkampfreise durch das Deutsche Reich und Österreich,
um für die Abstimmung über den Anschluss Österreichs zu werben 185. Am 10. April
1938 wurden in Österreich und dem Deutschen Reich Volksabstimmungen über den
Anschluss bzw. über die Aufnahme und Vereinigung von Österreich mit dem Deutschen Reich abgehalten186. Sowohl in Österreich als auch im Deutschen Reich wurde
eine Zustimmung von über 99% erreicht.
Postkarte 24. 3. 1938187
„Emil Schagginger an Maria Schagginger aus Plauen im Vogtland. Die herzlichsten Grüße von der herrlichen Stadt Plauen wo uns von der Bevölkerung ein jubelnder Empfang bereitet wurde, grüßt dich herzlichst Dein Emil.“
Postkarte 26. 3. 1938188
„Emil Schagginger an Maria Schagginger aus Leipzig. Viele Herzliche Grüße und
Küsse aus dem wunderschönen Leipzig sendet Dir Dein Emil. Die Leute hier sind
die wundervollsten Gastgeber die man sich denken kann, man kommt sich vor
wie im Märchenland. Gruß und Kuss Emil.“
Postkarte 27. 3. 1938189
„Emil Schagginger an Maria Schagginger aus Dresden. Meine herzlichsten Grüße
und Küsse aus Dresden sendet Dir Dein Emil. Wir machen jetzt eine DampferIan Kerschaw, Hitler 1889-1945, Deutsche Ausgabe 2008, 449.
Irene Brandhauer-Schöffmann, 1938. Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und NS-Herrschaft. in: Martin
Scheutz, Arno Strohmeiyer (Hg.), Von Lier nach Brüssel: Schlüsseljahre österreichischer Geschichte (1496-1995),
Wien 2010, 273-303.
187
Postkarte 24. 3. 1938, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
188
Postkarte 26. 3. 1938, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
189
Postkarte 27. 3. 1938, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
185
186
84
fahrt auf der Elbe.“
Brief 28. 3. 1938190
„Emil Schagginger an Maria Schagginger aus Leipzig. Liebes Mitzerl! Nun komm
ich doch einmal dazu Dir ein bisschen ausführlicher zu schreiben, wir kommen
gerade von einer Fabriksbesichtigung, dass war etwas was man sich gar nicht
vorstellen kann da gibt’s zum Beispiel eine Küche einen Speiseraum für 2000
Arbeiter, Bäder, Garderoben, Unfallstation, Sportanlagen aller Art, Musikkapellen
alles nur erdenkliche für einen Arbeiter. Am Sonntag waren wir in Dresden haben auch eine Dampferfahrt auf der Elbe gemacht, es war ein wundervoller Tag,
ewig Schade das Du da nicht dabei sein konntest. Samstag haben wir endlich
geschlafen bis Mittag sogar. Nachmittag und abends war große Führerkundgebung, abends sprach der Führer in der Ausstellungshalle vor 25.000 Zuhörern.
Am Freitag haben wir einen Österreicher getroffen aus Neunkirchen der hat uns
am Nachmittag mit seinem Auto herum geführt und uns fürstlich bewirtet. Am
Donnerstag sind wir in Leipzig angekommen haben beim Nachtmahl die Bekanntschaft von hohen Funktionären der Stadt gemacht die uns natürlich alles
gezeigt haben, die haben uns natürlich ebenso bewirtet wie alle anderen. Und
heute liebe Mitzi haben wir hier eine Abschiedsfeier und morgen geht es weiter
nach Hamburg, wann wir dann nach Hause kommen weiß ich jetzt noch nicht
aber ich schreibe Dir schon noch. Nun meine herzlichsten Grüße und Küsse von
Deinen Dich ewig liebenden Emil.“
Postkarte 30. 3. 1938191
„Emil Schagginger an Maria Schagginger aus Hamburg. Herzlichste Gruße sendet Dir Dein Emil“
Für den Zeitraum von April 1938 bis zum Februar 1939 liegen kaum Belege vor. Beide
haben in dieser Zeit für die Otto Kaserer Gastronomiebetriebe gearbeitet. Eine Rechnung zeigt, dass sie Material für die Adaptierung ihrer Küche gekauft haben. Wie es in
dieser Zeit um das politische Engagement von Emil Schagginger bestellt war, ist nicht
überliefert. Auch nicht wie seine Einstellung zu den Novemberpogromen 1938 war,
oder ob er daran in irgendeiner Form beteiligt gewesen ist und sich schuldig gemacht
hat. Ich gehe zwar nicht von einer Beteiligung aus, kann sie aber auch nicht ausschließen.
3.3 Wehrdienst / Grundausbildung bei der Fliegerabwehr in Baden bei Wien
Ende Jänner bzw. Anfang Februar 1939 wurde Emil Schagginger zur Grundausbildung
bei der Wehrmacht (siehe Abbildung 3) eingezogen, auch davon existieren einige Briefe an seine Ehefrau.192 Der hauptsächliche Inhalt besteht aus alltäglicher Kommunikation zwischen Eheleuten bezüglich Trennungsschmerz, Ausgang aus der Kaserne und
190
191
192
Brief 28. 3. 1938, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
Postkarte 28. 3. 1938, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
Dokumente, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
85
dem allgemeinen Dienstbetrieb. Im Gegensatz zu seiner nationalsozialistischen
Gesinnung ist Emil Schagginger nicht gerade begeistert vom Dienst bei der
Wehrmacht und er schreibt,
„dass ihm der Verein zum Hals raus hängt und dass er froh ist wenn Schluss mit
dem Verein ist und er seinen Wehrdienst beendet hat“.193
Abbildung 3: Emil Schagginger bei der Wehrmacht (Schachspieler, rechts).
Quelle: Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
Während der Beseitigung der „Resttschechoslowakei“ und der Errichtung des Protektorates Böhmen-Mähren im März 1939 wurde Emil Schaggingers Einheit von Baden nach
Wien-Kagran als Reserve verlegt auch; hiervon existieren zwei schriftliche Zeugnisse,
die ich hier ungekürzt wiedergebe.
15. 3. 1939 Postkarte aus Wien – Kagran Emil Schagginger an Maria Schagginger:194
„Liebe Mitzi! Habe keine Sorge um mich, bin hier in Kagran nur als Reserve, es
ist gar nicht so schlimm, glaube nicht an andere was Sie Dir erzählen, glaube
das ich höchstwahrscheinlich Sonntag wieder bei Dir bin. Bis dahin sei mir recht
herzlich gegrüßt und geküsst von Deinem Emil“
17. 3. 1939 Brief aus Wien – Kagran Emil Schagginger an Maria Schagginger:195
„Liebes Mitzerl! Liebe Mitzi sei mir herzlichst gegrüßt und geküsst. Hast Du die
Karte die ich Dir geschrieben habe erhalten. Liebe Mitzi mir geht es sehr gut,
193
194
195
Brief 7. 2. 1939, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
Postkarte 15. 3. 1939, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
Brief 17. 3. 1939, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
86
wir sind alle hier in Kagran in Bereitschaft, brauchen natürlich keinen Dienst
machen, sitzen den ganzen Tag in einen sehr gut geheizten Zimmer bei Radio
Musik und vertreiben uns die Zeit mit allerlei Allotrio, hinaus in die Kälte gehen
wir nur wenn wir auf das Klosett gehen oder Waschen oder Mittagessen gehen,
das Abendessen bekommen wir aufs Zimmer dabei sei beruhigt, dass für reichliche Verpflegung vorgesorgt ist also wir in keiner Weise Schaden nehmen können.
Liebe Mitzi lasse Dir von niemanden etwas erzählen über irgend etwas kriegerisches was in Zusammenhang mit der Tschechei sein könnte, das sind lauter Gerüchte und kein Wort wahr daran lasse Dich nicht durch unnötiges Zeug beunruhigen, du kannst wieder ruhig schlafen, ich bin höchstwahrscheinlich Samstag
wieder bei Dir.
Liebe Mitzi sollte ich wieder erwarten nicht kommen so sei nicht bange es hängt
nämlich ganz davon ab ob die Abteilung zurück kommt nach Kagran. Weist Du
das ist so, die hier ständig in der Kaserne waren in Kagran die sind irgendwohin
gekommen und wir müssen nun auf die Kaserne aufpassen um sie vor feindlichen Angriffen zu schützen, soeben erhalten wir die Nachricht das wir alles zusammen packen sollen und uns zur Abfahrt bereit machen sollen weil die
Stammtruppe zurück kommt also ist alles in bester Ordnung wir fahren wieder
nach Baden und ich bin Samstag wieder bei Dir. Der („Krieg“) ist beendet der
Friede sei mit uns Liebe Mitzi ich Grüße und Küsse Dich viel Tausendmal und
bliebe immer Dein Dich Ewig liebender Emil.“
Diese beiden Schriftstücke sind in soweit interessant, als sie zeigen, dass Maria
Schagginger sich offenbar Sorgen machte, dass es einen Krieg mit Tschechien geben
könnte. Da ihre Familie noch immer enge Beziehungen zu Verwandten in der früheren
Heimat hatte, ist dies nur zu verständlich. Auch die Sorge um ihren Mann wird mitgespielt haben, da er wahrscheinlich auch bald zum Einsatz gekommen wäre. Seine Beschwichtigungsversuche, alle Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg seien Unsinn
und andererseits die Aussage sie wären dazu eingeteilt, die Kaserne vor feindlichen
Angriffen zu schützen, ist etwas befremdlich. Denn wenn man mit keinem Krieg rechnete, warum sollte man dann die Kaserne von Reserveeinheiten vor feindlichen Angriffen schützen und die Stammtruppe wahrscheinlich zur Grenze ausrücken lassen. Heute wissen wir natürlich wie die Sache ausgegangen ist, der Rest Tschechiens wurde
zum Protektorat Böhmen-Mähren, die tschechische Armee hat keinen Wiederstand geleistet und die Westmächte haben Adolf Hitler ein letztes Mal gewähren lassen. 196 Man
kann auch davon ausgehen, dass durch dieses Nichteingreifen der Westmächte bei der
NS-Führung die Überzeugung entstanden ist, dass es einige Monate später bei Polen
ebenso sein würde. Jedoch stellte sich diese Annahme als Irrtum heraus. Für Emil
Schagginger endete jedenfalls sein Grundwehrdienst Ende April 1939 und er musste
nicht mehr zur Wehrmacht einrücken, da er am 10. 5. 1939 bei einem tragischen Unfall ums Leben kam.197 Er war zusammen mit seiner Frau mit dem Motorrad unterwegs
Jörg K. Hoensch, Geschichte Böhmens. Von der slawischen Landnahme bis zur Gegenwart, 3. Auflage, München
1997, 433.
197
Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
196
87
und es kam zu einer Kollision mit einem Lastkraftwagen. Er wurde dabei so unglücklich vom Motorrad geschleudert, dass sein Kopf vom Reifen des Lastkraftwagens zermalmt wurde.
Seine mitfahrende Frau blieb unverletzt und erlitt einen schweren Schock. Der schuldige LKW-Fahrer flüchtete und wurde am Abend erhängt in seiner Garage aufgefunden.198 Am 19. 5. 1939 wurde der Parteigenosse Emil Schagginger, Küchenfleischhauer
in der O.K.-Gaststätte, am Stammersdorfer Zentralfriedhof in Wien/Floridsdorf beerdigt.199
Maria Schagginger war somit mit 27 Jahren Witwe geworden. Sie gab die Ehewohnung
in der Kochgasse auf und zog in die Nähe ihrer Eltern in die Salzachstraße 17/30a,
wahrscheinlich bezog sie nur ein Kabinett. 200 Sie erhielt von der Versicherungsgesellschaft des Unfallverursachers 2.200.- Reichsmark Entschädigung, auch wurden die
Kosten für die Motorradbergung von 168.- Reichsmark übernommen. 201 Ein Möbelkauf
vom Möbelhaus Ostmark im Juli 1940 wir damit im Zusammenhang stehen. Teilweise
existieren die Möbel heute noch und befinden sich in ihrem ehemaligen Haus in Klos terneuburg. Auch investierte sie 858.- Reichsmark in die Grabausstattung. Das Grab
besteht bis heute und ist mit einer gebückten Frauenfigur versehen. Das nur leicht beschädigte Motorrad verkaufte sie 1940 für 185.- Reichsmark an die Gauwerke Niederdonau. Sie dürfte aufgrund des Schocks und der Trauer um ihren Mann einige Zeit arbeitsunfähig gewesen sein und ihren sonstigen Verpflichtungen nur eingeschränkt
nachgekommen sein. Beruflich gesehen arbeitete sie nach ihrer Genesung bzw. ihres
Krankenurlaubes weiterhin im Wiener Rathauskeller.
3.4 Der Zweite Weltkrieg
Für die Zeit des Zweiten Weltkrieges liegen einige Briefe und Postkarten vor. Teilweise
erhält sie noch im Herbst 1939 Kondolenzbriefe zum Tod ihres Mannes. Danach waren
die meisten Briefe von ihrer Freundin, Viktoria S. (vollständiger Name dem Verfasser
bekannt), welche in Wien eine Wohnung hatte und verheiratet war, sich aber offenbar
hauptsächlich bei ihrem Bruder, der eine Landwirtschaft in Schiltern bei Seebenstein
betrieb, aufhielt. Der erste Brief ist vom 18. 6. 1940. 202 Sie schreibt über den Gesundheitszustand der Kinder, die schweren Hagelunwetter und die Pferde, die bei der Musterung durchgefallen sind. Sie schreibt auch, dass sie eine Verständigung vom Arbeitsamt bekommen hat und wieder arbeiten muss, aber nicht in die Pulverfabrik ge198
199
200
201
202
Zeitungsausschnitt, Illustrierte Kronen Zeitung, Donnerstag 11. 5. 1939, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
Parteizettel, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
Brief 18. 6. 1940, aus dem Nachlass von Maria Bonifaz.
Vollständige Korrespondenz mit Rechtsanwalt, sowie Rechnungen, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
Brief 18. 6. 1940, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
88
hen möchte. In einem Absatz beschwert sie sich über einen Zwangsarbeiter aus Polen.
Viktoria S. schrieb da:
„Der Loisl hat jetzt auch recht viel Arbeit und dabei nur einen Pollaken zur Hilfe
der hat aber überhaupt keinen Willen zur Arbeit gehabt der hat im Anfang mit
dem Essen und mit der Arbeit gestreikt aber jetzt geht’s schon wenigstens ein
bisschen.“
Die Einstellung gegenüber dem polnischen Zwangsarbeiter ist eigenartig, denn offenbar fand sie nichts Befremdliches daran, dass jemand zwangsweise bei ihrem Bruder
arbeiten musste. Es bestand nur Eigeninteresse und kein Einfühlungsvermögen für
fremde Personen. Ein Grund dafür wird wahrscheinlich die nationalsozialistische Propaganda gegenüber Polen gewesen sein. Auch die Differenzierung zwischen Polen und
Tschechen ist interessant, da die gebürtige Tschechin Maria Schagginger ihre beste
Freundin war, andererseits Polen abwertend betrachtet wurden. Zwischen diesem ersten Brief von Viktoria S. und den anderen erhaltenen Briefen lagen vier Jahre die anderen beiden sind aus dem Sommer 1944.
Der Obergefreite Felix Dworschak hat sich höchstwahrscheinlich an der Ostfront befunden, leider ist der Ort auf der Feldpostkarte nicht zu entziffern. Maria Schagginger
dürfte mit ihm bzw. seiner Familie näher bekannt gewesen sein. Eine Familie Dworschak aus Bisamberg, damals 21. Wiener Gemeindebezirk, heute Niederösterreich
kondoliert 1939 zum Tod von Maria Schaggingers Ehemann.
Im Nachlass existiert auch das Foto eines Obergefreiten, ob es sich dabei um Felix
Dworschak gehandelt hat, ist nicht zur belegen, aber sehr wahrscheinlich. Weitere
Nachrichten von ihm sind nicht vorhanden, auch am Kriegerdenkmal in der Gemeinde
Bisamberg ist er nicht zu finden.
Feldpostkarte vom Obergefreiten Felix Dworschak 5. 3. 1942 an Maria Schagginger:203
„Der Obergefreite Dworschak bedankt sich bei Maria Schagginger für die Grüße
die sie ihm durch seine Mutter übermittelte. Er schreibt weiters, dass er noch
am selben Ort ist und während der Einsatzzeit viel erlebt hat. Doch darüber will
er ihr lieber erst im Urlaub erzählen, auch erwähnt er, dass es noch minus 25
Grad Kälte hat und der Vorfrühling noch auf sich warten lässt. Im vorigen Monat
hat der das Eiserne Kreuz 2. Klasse bekommen und er hofft, dass das nächste
Kreuz nicht aus Holz sondern wieder aus Eisen sein wird.“
Es ist nicht zu belegen, was aus dem Obergefreiten geworden ist, und ob er die drei
folgenden Kriegsjahre überlebt hat, ist nicht zu ermitteln, da auch keine persönlichen
Daten für seine Person vorliegen. Wenn man sich seinen Nachnamen anschaut, so hat
auch er wohl tschechische Wurzeln gehabt. Aber wahrscheinlich hatte er nicht die
Wahl, ob er in den Krieg ziehen wollte oder nicht, da die Tschechen mit ehemals österreichischer Staatsbürgerschaft zur Wehrmacht einrücken mussten. 204 Mein Großvater
203
204
Feldpostkarte 5. März 1942, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
Vgl. Karl Brousek, Die falschen Behm – Vom Widerstand der Wiener Tschechen. in: Regina Wonisch (Hg.),
89
und seine Brüder hatten hingegen das Glück, wählen zu können, da sie tschechische
Staatsbürger geworden waren. Viele andere Wiener Tschechen haben sich aber auch
freiwillig nach dem Anschluss für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden und
viele von ihnen sind schon im Polen- und Frankreichfeldzug gefallen.205
3.5 Verbindungen in die Tschechoslowakei
Maria Schagginger hatte auch zur Zeit des 2. Weltkrieges noch immer Kontakt zu Ver wandten in Tschechien. Zu Weihnachten 1942 erhielt sie eine Postkarte 206 mit Weihnachtsgrüßen aus Bisenz in Mähren. Bisenz in Mähren war der Sitz der für die Ortschaft Pisek in Mähren zuständigen Pfarre. Ihr Vater wurde dort getauft. Man sieht
also, dass die Verbindung in die ehemalige Heimat nicht abgerissen ist. Die Karte ist in
tschechischer Sprache, der Schreiber wusste also, dass die tschechische Sprache in
der Familie Trachtulec noch immer verstanden wurde.
Auch späterhin ist in der Familie noch Tschechisch gesprochen worden. Auch gibt es
aus der Nachkriegszeit einige Schriftstücke in tschechischer Sprache und es erfolgten
einige Reisen in die Tschechoslowakei. Die Beziehungen blieben zumindest bis in die
1970er Jahre bestehen.
3.6 Wehrmachtshelferin
Anscheinend war Maria Schagginger kurzfristig als Wehrmachtshelferin eingesetzt, jedoch existieren als Belege dafür nur zwei Fotos in Wehrmachtsuniform mit ihrer Mutter
und ihrer Schwester (siehe Abbildung 4). 207 Ich gehe davon aus, dass sie nur sehr
kurzfristig als Wehrmachtshelferin tätig war bzw. nur zur Grundausbildung einberufen
wurde, da durch Arbeitspapiere und Briefe ihr Aufenthalt für die gesamte Kriegszeit in
Wien bei ihrer Arbeitsstelle im Rathauskeller belegt ist. Anfragen bezüglich ihrer Tätigkeit als Wehrmachtshelferin blieben ergebnislos. Da ihr Aufenthalt in Wien und die Ar beit als Köchin während der Kriegszeit belegt ist, ist es auch nicht so wichtig, wo und
wie lange sie für diesen Dienst verpflichtet war. Vielmehr ist das Foto als Dokument für
die Beziehung zum NS-System interessant. Es dürfte also von ihr und auch von ihrer
Mutter und Schwester durchaus ein gewisses wohlwollen für den NS-Staat bestanden
haben.
Tschechen in Wien. Zwischen nationaler Selbstbehauptung und Assimilation, Wien 2010, 129-154.
205
ebd.
206
Postkarte 23. Dezember 1942, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
207
Undatiertes Foto, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
90
Abbildung 4: Maria Schagginger geb. Trachtulec in Wehrmachtsuniform mit
ihrer Schwester Emilie.
Quelle: Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
Briefe vom 14. 6. und 22. 8. 1944 von Viktoria S. aus Schiltern: 208 In den beiden Briefen berichtet sie von einem Kurzurlaub ihres Mannes, der als Soldat bei der Wehrmacht war. Weiters macht sie sich Sorgen um Maria Schaggingers Gesundheit und beschwert sich über die Probleme mit dem Posttransport per Bahn. In dem Brief vom August macht sie sich Sorgen wegen der Großangriffe der alliierten Bombergeschwader
auf Wien und um ihre Wohnung beim Matzleinsdorfer Frachtenbahnhof. Sie hofft auch,
dass die Angriffe für Maria Schagginger gut vorüber gegangen sind. In der Tat wurde
auch das Haus Salzachstraße 17 im August 1944 schwer von Bomben getroffen. Maria
Schagginger und ihre Eltern waren davon betroffen. Nach weiteren Angriffen mussten
sie das Haus in der Salzachstraße 17 verlassen und fanden Obdach als Untermieter in
der Wohnung von Viktoria S. in der Reinprechtsdorferstraße im 5. Bezirk.209
3.7 Kriegsende und Nachkriegszeit
Ob Maria Schagginger mit ihren Eltern in die Reinprechtsdorferstraße gezogen ist,
kann nicht belegt werden. Kurz nach Kriegsende wurde ihr eine Wohnung in der Simon
Denkgasse 2 im 9. Wiener Gemeindebezirk vom Quartiermeisteramt zugewiesen. Sie
blieb von 1945 bis 1998 Mieterin dieser Wohnung. Das Kriegsende brachte für sie zuerst keine Phase des Aufbruchs. Sie blieb bei ihrer alten Arbeitsstelle bis 1952 und ar208
209
Briefe 14. 6. und 22. 8. 1944, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
91
beitete danach nach einem kurzen Zwischenspiel im Restaurant Falstaff bis zu ihrer
Pensionierung im Jahre 1967. Anfang der 1950er Jahre lernte sie ihren zweiten Ehe mann, den Bundesbahnassistenten Karl Bonifazi, kennen. Dieser Karl Bonifazi war der
Onkel meiner Großmutter Marianne Bystricky geb. Bonifazi. Erst da kam es zu einer
weitschichtigen familiären Verbindung. Maria Schagginger, jetzt Bonifazi, begann mit
ihrem Ehemann in den 1950er Jahren ein Haus zu bauen. Nach dem Tod ihres 2. Ehe mannes 1972 lebte sie als Pensionistin in Wien, Nieder- und Oberösterreich. Hauptsächlich beschäftigte sie sich mit ihrem Haus und Garten in Klosterneuburg und unternahm auch einige Reisen in die Tschechoslowakei. Auch durch ihre Mutter, die bis 1985
lebte, war dieser Bezug zur Tschechoslowakei weiter gegeben, da diese noch Verwandte bzw. Bekannte in der Tschechoslowakei hatte. Sie selbst starb im Oktober 1998. 210
Ihre zwei Jahre jüngere Schwester Emilie Windisch geb. Trachtulec starb im Juli 2010.
Da beide Schwestern kinderlos blieben, ist die Familie Trachtulec erloschen.
4 Biographie Jaroslav Bystricky 1913-1998: Wiener – Tscheche –
Österreicher
4.1 Kindheit und Jugend
Mein Großvater, Jaroslav Bystricky, wurde am 4. 8. 1913 in der Klosterneuburgerstraße 91 im 20. Wiener Gemeindebezirk geboren. (Bezüglich familiären Hintergrund siehe
Kapitel 1.0, Herkunft und sozialer Hintergrund der Familie Bystricky.) Für seine Jugend
und die Zeit bis zum 2. Weltkrieg sind die Quellen für das Leben meines Großvaters
spärlich. Ein Zeugnis der privaten Komenskyschule Wien 21 Deublergasse 19 zeigt,
dass er wie Maria Trachtulec eine tschechische Schule besucht hat und 1927 die Schulpflicht beendete. Im Gegensatz zu Maria Trachtulec wurde er 1921 tschechischer
Staatsbürger.211 In die 1920er Jahre fällt auch der einzige Besuch meines Großvaters
in der Tschechoslowakischen Republik. Dies war im Zuge einer Art Kinderlandverschickung. Es wurde für ihn eine negative Erfahrung, da er von den Leuten herablassend
behandelt wurde. Als den Kindern ein gutherziger Mann ein Paar Kronen gegeben hatte, wurden sie von den Gastleuten wie Diebe behandelt. Dies bedeutete natürlich eine
herbe Kränkung und so hatte er nie ein Interesse in die Tschechoslowakische Republik
zurück zu gehen. Für ihn gab es auch kein Zurückgehen, da er ja auch nicht weggegangen war. In den Jahren zwischen 1927 und 1938 war er nach einer kurzzeitigen
Lehre als Kunsttischler bei der Firma Conrad Sild als kaufmännischer Angestellter tä210
211
Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.
92
tig. Noch heute gibt es im Floridsdorfer Bezirkszentrum das Conrad Sild-Haus neben
dem Floridsdorfer
Amtshaus. Auch die Firma besteht in abgewandelter Form noch
heute. Über die 1930er Jahre erzählte er hauptsächlich von der großen Arbeitslosigkeit
und den Zeitungsberichten über Menschen, die aus Verzweiflung Selbstmord begangen
haben. Auch über die Februarkämpfe 1934 berichtete er. Er erzählte über das strategisch nicht sehr kluge Verhalten der Feuerwehr, die unter ihrem Kommandanten, Georg Weissel, gegen die Polizei des „Ständestaates“ kämpfte. Die Feuerwehr fuhr mit
Blaulicht Waffen holen, da aber die Polizei im Kommissariat um die Ecke war und keine
Brandmeldung bekam, war sie alarmiert. Auch über die Maschinengewehre in der Toreinfahrt des Kommissariats erzählte er. Und über die Kämpfe in der Floridsdorfer Straßenbahnremise.
4.2 Der „Anschluss“
Am 15. 3. 1938 kam Adolf Hitler nach Wien und wurde von den Massen am Heldenplatz gefeiert. Mein Großvater war zwar überhaupt nicht begeistert sondern skeptisch,
trotzdem aber neugierig und so mischte er sich mit seinem älteren Bruder Adalbert
unter die Menschenmenge und hörte die Ansprache des Führers. Er hielt von der Rede
und den Absichten Hitlers nichts und drückte dies auch gegenüber seinem Bruder aus.
Da aber auch einige begeisterte alte Frauen dies hörten, musste er mit seinem Bruder
schnell in der Menschenmenge verschwinden, da sie ihn als vermeintlichen Gegner ansahen und Anstalten machten, jemand von den Sicherungsleuten zu holen.
Ein anderer wichtiger Punkt ist die Bruchlinie unter den sechs Geschwistern. Mein
Großvater und sein Bruder Adalbert waren tschechische Staatsbürger und so wie auch
der älteste Bruder, Karl, am Nachnamen als tschechisch stämmig erkennbar. Da aber
zwei ihrer Schwestern mit Österreichern zusammen bzw. verheiratet waren, sahen sie
sich als den Deutschen zugehörig und waren begeistert vom Nationalsozialismus. Im
Nachlass einer Schwester fand sich noch in den 1960er Jahren eine Jubiläumsausgabe
von Mein Kampf. Da aber mein Großvater und der älteste Bruder Karl Witze über diese
Begeisterung machten, meinte eine Schwester wörtlich: „Warts nur es Behm, nach
den Juden seids es dran“. So abwegig war dieser Ausspruch nicht, da ursprünglich
daran gedacht war Teile der Tschechen zu germanisieren und die übrigen zu vernichten.212
212
Hoensch, Geschichte Böhmens, 434.
93
4.3 Keine Arbeit mehr bei Juden
Meine spätere Großmutter, Marianne Bystricky damals noch Marianne Bonifazi, war als
Angehörige einer alteingesessenen Holzhändlerfamilie aus Purkersdorf bei Wien österreichische Staatsangehörige. Da die Firma ihrer Eltern wirtschaftliche Probleme hatte,
musste sie nach 1936 als Hausmädchen arbeiten. Sie arbeitete bei einer jüdischen Familie und musste nach dem Anschluss die Anstellung aufgeben, da ihr dann als deutscher Staatsangehörigen nicht mehr erlaubt war, bei Juden zu arbeiten. Später sahen
sie und mein Großvater ihre früheren Arbeitgeber die Straße waschen.
4.4 Der erste Urlaub
Ein interessanter Aspekt ist die Tatsache, dass mein Großvater mit meiner zukünftigen
Großmutter die Möglichkeit hatte, in der Anfangsphase des 2. Weltkrieges Urlaub in
Salzburg zu machen. Außer der Erzählung davon existiert nur ein Bild vom Salzburger
Mirabellgarten. Da auf diesem Foto 213 deutsche Soldaten und verwundete Offiziere zu
sehen sind, ist es sehr wahrscheinlich erst nach dem „Polenfeldzug“ entstanden. Dies
war für meinen Großvater die erste Urlaubsreise, vorher war er nur einmal als Ferienkind in der Tschechoslowakischen Republik, da die Familie zu arm für Urlaubsreisen
oder ähnliches war. Er berichtete auch, dass die deutschen Offiziere und Soldaten sehr
freundlich waren und auch die Kontrollen im Zug korrekt abgelaufen sind.
4.5 Die Schließung des kleinen Obstgeschäfts
Die Mutter meines Großvaters, Franziska Bystricky, eröffnete im Jahr 1937 ein kleines
Obstgeschäft in der Brünnerstraße 16 in Floridsdorf. Sie wollte damit eine Existenzgrundlage für meinen Großvater schaffen, da die wirtschaftlichen Verhältnisse sehr
schwierig waren. Mein Großvater arbeitete dort als Verkäufer. Besonders begeistert
war er darüber nicht, da sich das Geschäft auf Grund der Nähe zum neugestalteten
Schlingermarkt nicht rentierte. Das Geschäft ist zwar im Lehmanns Adressverzeichnis214 letztmalig 1941 verzeichnet, doch ist eine Schließung spätestens 1940 anzunehmen. Mein Großvater wurde in das Floridsdorfer Amtshaus gerufen und es wurde ihm
der Beschluss über die Schließung mitgeteilt. Nach seiner Erzählung versuchten ihm
die Frauen von höheren NS-Amtsträgern zu helfen, da er aber tschechischer Staatsbürger war, wie seine Mutter als Inhaberin auch, musste das Geschäft geschlossen
213
214
Undatiertes Foto, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.
Lehmanns Adressverzeichnis, 1941, Band 2, 1235.
94
werden. Es wurde ihm zwar angeboten, dass er das Geschäft behalten könne, wenn er
deutscher Staatsbürger werden würde. Er lehnte dies aber ab, da er sonst zur
Wehrmacht hätte einrücken müssen. Ich nehme an, dass man ihn dadurch locken
wollte und das Geschäft trotzdem geschlossen worden wäre. Wenn er sich für die
deutsche Staatsbürgerschaft entschieden hätte, wäre er wie die anderen Wiener
Tschechen, die sich für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden hatten, prompt
zur Wehrmacht eingezogen worden.215 Viele von ihnen sind schon am Anfang des
Krieges im „Polen“- und „Frankreichfeldzug“ gefallen. Da Wehrmacht und Krieg zur
Zeit der Vorsprache schon ein so wichtiges Thema waren, ist die Zeit dieser
Begebenheit nach dem Überfall auf Polen und damit nach dem Beginn des 2.
Weltkrieges festzumachen. Dies korrespondiert auch mit der letztmaligen Eintragung
im Adressverzeichnis 1941. Ursprünglich hatte ich die Schließung schon mit 1938
angenommen, da aber die NS-Verwaltung zuerst mit den jüdischen Geschäften
beschäftigt war ist ein späterer Zeitpunkt treffender. Ein weiterer Punkt ist die
Sichtweise meines Großvaters bezüglich der Schließung des Geschäfts, er war nämlich
froh darüber, da es nur wenig Kundschaft gab, wie schon erwähnt auf Grund der Nähe
zum Schlingermarkt. Ein weiterer interessanter Aspekt ist Tatsache, dass an der
Adresse Brünnerstraße 16 vier kleine Ladengeschäfte bzw. Kioske angesiedelt waren.
Alle Inhaber, die noch 1936 verzeichnet sind, sind 1938 nicht mehr verzeichnet. 216 Sie
müssen also 1937 noch vor dem Anschluss an die 1938 verzeichneten neuen Mieter
übergegangen worden sein. Im letzten Lehmanns Adressverzeichnis ist unter der
Adresse nur mehr ein Geschäft, eine Fleischerei, verzeichnet. Ich gehe daher davon
aus, dass das Geschäft so oder so geschlossen worden wäre vor allem im Zuge des
von den Nazis betriebenen allgemeinen Strukturwandels im Einzelhandel. 217 Neben
und mit den Arisierungen wurde auch eine Strukturbereinigung im Einzelhandel durchgeführt bzw. Österreich entkrämert.
4.6 Keine Einberufung zur Wehrmacht aber Arbeitszwangsverpflichtung
Mein Großvater wurde als Wiener Tscheche nicht zur Wehrmacht eingezogen, da es für
Tschechen die Möglichkeit gab, sich vom Dienst in der Wehrmacht freistellen zu lassen. Dazu war ein Bekenntnis zum tschechischen Volkstum notwendig, auch der Besuch einer Komenkyschule wurde als Indiz für Tschechentum anerkannt. In einigen Reden hatte Adolf Hitler bekräftigt, dass Tschechen nicht zur Deutschen Wehrmacht einKarl Brousek, Die falschen Behm. Vom Widerstand der Wiener Tschechen, in: Regina Wonisch, Tschechen in Wien.
Zwischen nationaler Selbstbehauptung und Assimilation, Wien 2010, 137.
216
Lehmanns Adressverzeichnis 1938, Band 2, 1285.
217
Peter Eigner, Handel und Konsum in Österreich im 20. Jahrhundert. Die Geschichte einer Wechselbeziehung. in:
Susanne Breuss und Franz X. Eder (Hg.), Konsumieren in Österreich. 19. und 20. Jahrhundert, Querschnitte Band 21,
Wien 2006, 53.
215
95
zurücken brauchten. Dies wurde durch den Erlass des OKW Az 12b WFA/L IIa
Nr.2380/38 vom 7. 10. 1938 konkretisiert.218
Da er also nicht zur Wehrmacht eingezogen wurde galt für ihn, nach der Schließung
des Obstgeschäfts, Arbeitspflicht bzw. Arbeitszwang. Im Dezember 1938 war zur Kontrolle der Arbeiterschaft das Arbeitsbuch wieder eingeführt worden. Im nationalsozialistischen System herrschte rigoroser Arbeitszwang. Es gab keine Freiheit der Berufsund Arbeitsplatzwahl und man konnte durch die Arbeitsämter auch fern vom Wohnort
vermittelt werden. Menschen, die sich diesem System widersetzten, drohte die Einlie ferung in ein Arbeitserziehungslager oder in ein Konzentrationslager, da sie als arbeitsscheu angesehen wurden.219
Daher wurde auch meinem Großvater eine Arbeitsstelle in der Brotfabrik Peller zugewiesen.220 Diese Firma befand sich in der Angererstraße 18 in Wien-Floridsdorf, also
nur ein paar Häuser entfernt vom ehemaligen Ladengeschäft der Familie. Zuerst wollte
er diese Stelle nicht annehmen, aber ein Beamter – es ist heute nicht mehr nachvollziehbar ob von der Bezirksverwaltung oder vom Arbeitsamt – überzeugte ihn, da er
sonst wahrscheinlich in ein Arbeitserziehungslager oder Konzentrationslager gekommen wäre. So nahm er zwangsweise die Arbeitsstelle an und arbeitete zuerst im Büro
und im Verlauf des Krieges als Kutscher. Laut seinen Aussagen erfolgte der Wechsel
von der Büroarbeit zum Kutscherdienst auch durch Drohungen mit dem Konzentrationslager. Andererseits hatte er durch die Tätigkeit bei einer Brotfabrik eine bessere Ernährungsmöglichkeit, da er Zugang zu Brot und Mehl hatte.
4.7 Kommando „Julius“/KZ-Außenlager Floridsdorf
Den Krieg über arbeitete er bei der Firma Peller Brot. Zuerst arbeitete er im Büro, da
aber im Verlauf des Krieges immer mehr Mitarbeiter der Firma zur Wehrmacht eingezogen wurden, musste er als Pferdekutscher arbeiten. Er musste mit dem Transportwagen Mehlsäcke holen und Gebäck ausliefern, sowie die Pferde versorgen. Bei diesen
Lieferfahrten kam er auch immer wieder am Kommando „Julius“ vorbei. Natürlich
wusste er nicht, dass dort das Kommando „Julius“ untergebracht war. Er beschrieb die
Anlage als Konzentrationslager, es handelte sich dabei um jenen Teil des KZ-Außenlagers Floridsdorf, der sich in den Jedleseer Brauereikellern in der Hopfengasse befand.
Hier, ganz nahe der Pragerstraße, einer der beiden Hauptverkehrsachsen Floridsdorfs,
wurde nach der Bombardierung und Verlegung des gesamten Lagers Wien-Schwechat
ein KZ-Außenlager errichtet. Am 13. 6. 1944 zog das gesamte Lager Schwechat mit
218
219
220
Brousek, Die falschen Behm. Vom Widerstand der Wiener Tschechen, 137.
Brandhauer-Schöffmann, 1938. Anschluss Österreichs, 282-283.
Dokumente, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.
96
1993 Häftlingen in das neue Barackenlager Hopfengasse 8. 221 Auch die Lagerleitung
unter SS-Untersturmführer Anton Streitwieser übersiedelte ebenfalls nach Floridsdorf.
Es gab insgesamt fünf Kommanden, auf die die Häftlinge aufgeteilt waren, teilweise
kam es auch zu Verlagerungen bzw. wurden einige hundert Häftlinge nach Mauthausen zurückgeschickt.
Am Standort Jedlesee waren Anfang April 1945 454 Häftlinge mit der Herstellung von
Teilen für die Heinkelwerke beschäftigt. Bei einer Vorbeifahrt am Standort Jedlesee
sprang eines Tages ein Soldat bzw. SS-Mann aus Bayern auf seinen Wagen und er
musste ihn stadteinwärts mitnehmen. Dieser erzählte ihm, wie furchtbar die Zustände
im Lager waren, er sprach dann später nur von mit Blut getränkter Erde.
Im März
1945 hatte das Lager Floridsdorf mit 2750 Häftlingen seinen Höchststand erreicht, diese waren auf die einzelnen Kommandos verteilt. Insgesamt dürfte es etwa 80 Todesfälle bis April 1945 gegeben haben. Am 1. 4. 1945 wurde das Lager vor der herannahenden Roten Armee evakuiert und die Häftlinge wurden auf Märsche nach Mauthausen geschickt, dabei kamen hunderte Häftlinge ums Leben.222
Nach dem Krieg befand sich in den Brauereikellern eine Pilzzucht. Mein Großvater war
mit meinem Vater dort und sie haben sich die großen Keller angesehen. Jetzt befinden
sich am Gelände des ehemaligen Außenlagers neue Wohnanlagen und Kleingärten.
Auch der FAC (=Floridsdorfer Athletik Club) Platz, wo das Barackenlager war, existiert
noch. Vor einigen Jahren wurde vor dem Bezirksmuseum in der Pragerstraße relativ
weit weg von der Hopfengasse ein Mahnmal errichtet. Eine slowakische Studienkollegin, die gleich gegenüber dem Komplex Hopfengasse/Pragerstraße eine Wohnung bezogen hatte, war ziemlich erschüttert, als ich ihr erzählte, wie nahe sie bei einem ehe maligen Außenlager von Mauthausen lebt.
4.8 Die Bombenangriffe auf Floridsdorf
Ab August 1943 wurden auch Ziele in Österreich von alliierten Bombergeschwadern
angegriffen. Auf Wien gab es 52 Angriffe. In Floridsdorf zeugt heute noch der Bunker
hinter dem Bezirksgericht von dieser Zeit. In den letzten Monaten musste auch zwei mal die Brünnerstraße gesperrt werden, da drei Fliegerbomben beim Aushub des neuen Krankenhauses Nord gefunden wurden. Auch mein Großvater hat die Bombenangriffe erlebt und einmal mit Glück überlebt. Gegen Ende des Krieges ist er mit Glück
bei einem Bombenangriff dem Tod entgangen. Sonst war er mit meiner späteren
Bertrand Perz u.a., Das KZ-Mauthausen und seine Nebenlager. in: Wolfgang Benz/Barbara Distel, Der Ort des
Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 4, Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück,
München 2006, 448 – 455.
222
Bertrand Perz u.a., Das KZ-Mauthausen und seine Nebenlager. in: Wolfgang Benz/Barbara Distel, Der Ort des
Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 4, Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück,
München 2006, 448 – 455.
221
97
Großmutter immer in der Nähe des Ausganges im Bombenkeller; einmal gingen sie
weiter nach hinten. Da schlug eine Fliegerbombe ein und die Menschen, die in der
Nähe des Ausgangs waren, wurden getötet.
Einmal sah er, wie ein Bomber getroffen wurde und aus der Formation ausscherte und
abstürzte und sich einige Fallschirme geöffnet haben. Eines Tages hörte er, dass ein
Bomber auf dem Gebiet des heutigen Marchfeldkanals (Schwarzlackenau) abgestürzt
war. Da er neugierig war und der Absturzort nicht weit vom Schrebergarten der Fami lie lag, beschloss er, sich den Bomber anzusehen. Die Bevölkerung hatte schon so
ziemlich alles Brauchbare abmontiert und den toten US-Soldaten sogar die Uniformen
gestohlen.
Anscheinend haben einige den Absturz überlebt, da er gehört hat, dass die Überlebenden in der Siedlung herumgelaufen sind. Ob das aber wirklich bei diesem Absturz war
oder nicht, ist nicht sicher.
4.9 Das Kriegsende und die frühe Besatzungszeit
In den letzten Tagen vor der Befreiung fuhr er nochmals zu seinem künftigen Schwiegervater nach Purkersdorf. Er sagte zu ihm: „Schlachte deine Schweine, bald kommen
die Russen“ Sein zukünftiger Schwiegervater, Josef Bonifazi, sah ihn nur ungläubig an,
er konnte gar nicht glauben, dass die Russen kommen werden. Er befolgte den Rat
meines Großvaters nicht und schlachtete die Schweine nicht. Da Schweine aber nicht
ruhig zu halten sind, fanden die Russen die Schweine. Ein Soldat erschoss die Schweine und der alte Mann musste sie auf seinen Wagen laden. In den fünfziger Jahren erhielt die Familie von der Republik Österreich eine Entschädigung für Wagen, Pferde
und sonstiges Vieh.223 Bei der Rückfahrt sah er, wie sich die Wehrmachts- und SS-Soldaten bei den Donaubrücken auf die Schlacht um Wien vorbereiteten. Geschütze wurden in Stellung gebracht und die letzten Vorbereitungen getroffen. Die Stimmung unter den Soldaten war nervös und gereizt, da ihnen klar war, was auf sie zukommen
würde. Zurück in Floridsdorf hörte er einige Tage später, dass man am Floridsdorfer
Spitz drei Männer gehängt hatte. Er radelte von der Schenkendorfgasse zum Spitz und
drehte mit dem Rad eine Runde um das Amtshaus.
Da sah er nun die drei Offiziere, Major Karl Biedermann, Hauptmann Alfred Huth und
Oberleutnant Rudolf Raschke, die dort am 8. 4. 1945 gehängt worden waren. Die drei
Offiziere wollten in Verbindung mit Major Karl Szokoll den Aufstand wagen und Wien
kampflos übergeben.224
223
224
Amtliche Dokumente, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.
Walter Kleindel, Chronik Österreichs, Wien 1978, 369 – 372.
98
Dieser Plan wurde verraten und die Offiziere nach Standgericht von SS-Verbänden gehängt. Mein Großvater sah in den Hauseingängen die SS-Verbände und später hat er
gemeint, es war nicht sehr klug, dort hin zufahren, da bei einer Kontrolle und der ner vösen Stimmung vielleicht auch für ihn der letzte Tag gewesen wäre. Das Foto von
den drei Gehängten ist noch heute in fast jedem österreichischen Schulbuch zu finden.
Vor kurzem habe ich es auch in einer Dokumentation gesehen; dort wurde es aber in
einem falschen Zusammenhang verwendet. Heute findet man im Eingangsbereich des
Floridsdorfer Amtshauses eine Plakette, die an die drei Offiziere erinnert, Auch eine
Kaserne des Österreichischen Bundesheeres ist bzw. war nach ihnen benannt. Interessant ist auch der Aspekt, dass aus dem Heimwehrkommandanten 225 des Februars
1934, Karl Biedermann, einer der bekanntesten Widerstandskämpfer wurde.
Am 10. 4. 1945 wurden die Donaubrücken gesprengt und die SS-Verbände zogen sich
über Floridsdorf zurück. Am 13. 4. war die Schlacht um Wien beendet, doch dauerten
die Kampfhandlungen in Floridsdorf noch bis zum 22. 4. 1945. 226 In dieser Zeit der
Kämpfe und des Umbruchs ist mein Großvater auch seine zwangsverpflichtete Arbeit
bei der Firma Peller Brot losgeworden, da die Firma durch Bombentreffer ihren Fouragebetrieb zum größten Teil stillgelegt hatte. Am 7. 4. ist er dort ausgetreten, im Juli
aber erst wurde der Entlassungsschein ausgestellt.
Schon zwei Tage nach dem Ende der Kämpfe in Floridsdorf wurde er als Dolmetscher
bei der russischen Kommandantur in Floridsdorf beschäftigt. 227 Er erzählte mir von einem Fall, als er mit einem sowjetischen Offizier die Gräber von zwei sowjetischen Soldaten ausfindig machen sollte. Diese sollten dann exhumiert werden. Die beiden Soldaten hatten eine Frau vergewaltigt und ermordet. Dafür waren sie von ihrem vorge setzten Offizier erschossen worden. Der Vorfall muss sich irgendwo im Bereich von
Stammersdorf Umgebung zugetragen haben. Meiner Großmutter bleib ein ähnliches
Schicksal erspart, da mein Großvater durch seine Sprachkenntnisse Übergriffe verhindern konnte. Im Juni quittierte er den Dolmetscherdienst, da er die Russen nicht beim
Requirieren unterstützen wollte.
4.10 Die neuen Zeiten
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges begann für meinen Großvater eine Zeit des Wandels bzw. des Neuanfangs. Nach dem Dienst bei der russischen Kommandantur war er
kurzfristig als Büroangestellter beschäftigt, kurz darauf trat er bei der Firma Vakuum
Karl Biedermann war im Februar 1934 als Kompanieführer der Heimwehr an der Erstürmung des Karl-Marx Hofes in
Wien beteiligt.
226
Kleindel, Chronik Österreichs, 369-372.
227
Dokumente, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.
225
99
ein. Diese Firma, ein Vorläufer der heutigen OMV, wurde von den Sowjets kontrolliert,
daher musste er in die Kommunistische Partei eintreten. Er hatte kein Interesse am
Kommunismus und es war eher opportunistisch der KP beizutreten, was aber im Kontext der Zeit und des Überlebens zu sehen ist. Nach dem Abzug der Sowjets 1955 ist
er wieder ausgetreten, beim Nachfolgebetrieb der Vakuum, der heutigen OMV, ist er
aber bis zu seiner Pensionierung 1973 geblieben.228
In der Anfangsphase verrichtete er seinen Dienst beim Werkschutz der Vakuum in der
Lobau. Sie mussten dort das Gelände des Öllagers bewachen. Dafür bekamen sie einige Maschinengewehre und alte deutsche Karabiner. Es hat zwar keine Überfälle oder
ähnliches gegeben, nur einen tragischen Fall eines unverbesserlichen Nazis. Dieser
Mann war auch beim Werkschutz tätig, lehnte jedoch die Kommunisten ab. Daher manipulierte er die Manometer der Pumpanlagen. Er dürfte keinen großen Schaden angerichtet haben, doch begannen die Sowjets zu ermitteln. In der Nacht hat er sich dann
mit seiner Dienstwaffe erschossen. Er hat meinem Großvater leid getan, da er zwei
Kinder hatte und die Manipulation eigentlich lächerlich und dilettantisch war. Doch
wenn ihn die Sowjets erwischt hätten, wäre er wahrscheinlich hingerichtet worden
oder in ein Lager gekommen mit geringen Überlebenschancen.
Die Zeit nach dem Krieg war in mehrfacher Hinsicht nicht nur beruflich eine Zeit des
Wandels, da er im Juli 1945 heiratete, und gleichzeitig mit seinem Bruder Adalbert Bystricky Doppelhochzeit feierte.229 Im August 1945 kaufte er 10.500 Ziegelsteine für
577,50 Reichsmark bei der Firma Adolf Illner-Bau.230
Abbildung 5: Jaroslav Bystricky mit seinem LKW in den 1950er Jahren in
Purkersdorf.
Quelle: Aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.
228
229
230
Ebd.
Heiratsurkunde, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.
Rechnung, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.
100
Er übernahm das Grundstück seiner verstorbenen Eltern in Pacht vom Stift Klosterneuburg und mietete eine teilweise zerstörte Wohnung in der Herrmann BahrGasse/Ecke Brünnerstraße an.231 Bis zum Umzug in die Herrmann Bahr-Gasse hatte er
noch in der Wohnung seiner verstorbenen Eltern in der Schenkendorfgasse 28 gewohnt. Die angekauften Ziegelsteine waren angeblich vom durch Bombentreffer zerstörten Trakt des sogenannten Mauthnerschlössls in Floridsdorf. Im noch bestehenden
Haupttrakt und rechten Seitentrakt ist heute das Bezirksmuseum, wo sich auch das
Mahnmal für das KZ-Außenlager Floridsdorf befindet. 1946 machte er den Führerschein für Lastkraftwagen und machte zeitweise in seiner Freizeit mit einem alten
Glöcknerlastkraftwagen (siehe Abbildung 5) Bier-und Holztransporte. 1947 bekam er
die österreichische Staatsbürgerschaft; 1948 kam mein Vater zur Welt und Ende der
1950er Jahre wurde die Wohnung im neu gebauten Haus bezogen. Mein Großvater
blieb über 25 Jahre bei der OMV als Fahrer, Ölarbeiter und Magazineur. In seiner Pension beschäftigte er sich mit dem weiteren Ausbau seines Hauses und mit der Pflanzenzucht.
Nach der politischen Wende in der Tschechoslowakei besuchten wir gemeinsam des
Öfteren das Land. Eine Art von innerer Verbindung zur Tschechoslowakei muss die
Jahrzehnte überdauert haben – trotz der negativen Erfahrungen beim Besuch in der
Kindheit.
5 Resümee zu den zentralen Fragen
Nach der Rekonstruktion der beiden Biographien soll abschließend versucht werden,
die in der Einleitung angesprochenen zentralen Fragen zu beantworten.
5.1 Staatsbürgerschaft und nationale Identität
Zuerst möchte ich auf die Frage nach den Faktoren für die sehr unterschiedlichen Be ziehungen zum NS-Staat bei ähnlichen sozialen Grundlagen eingehen. Wie schon im
Kapitel 1 angesprochen, sehe ich als zentralen Punkt für die unterschiedlichen Beziehungen zum NS-System die Staatsbürgerschaft. Die nationale Identität spielte bei
meinem Großvater, wie auch bei Maria Trachtulec keine große Rolle. Sie hatten eher
eine lokale Bindung an ihre Heimatstadt Wien und nach dem 2. Weltkrieg auch an Österreich, aber nicht im Sinne von nationaler Identität. Am ehesten noch bei Alois Bystricky, dem Vater meines Großvaters, war die nationale Identität ein bestimmender
Faktor, da er ja eisern am Tschechentum festhielt. Wenn mein Großvater 1921 die ös 231
Pachturkunde, Mietvertrag, aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.
101
terreichische
Staatsbürgerschaft
bekommen
hätte
und
nicht
die
tschechische
Staatsbürgerschaft, wäre er wie die anderen Wiener Tschechen, die österreichische
Staatsbürger waren, zur Wehrmacht eingezogen worden. Er selbst war grundsätzlich
von der tschechischen Staatsbürgerschaft nicht begeistert und war eher für die Integration in den österreichischen Staat. Er wollte in dem Staat, in dem er geboren und
aufgewachsen war, kein Außenseiter bzw. Ausländer sein. Daher hat er das Eintreten
seines Vaters für die Tschechische Republik als Spinnerei gesehen, da er keine wirt schaftliche Zukunft in der Tschechoslowakei sah. Andererseits hat ihm und seinen Brüdern diese Spinnerei sehr wahrscheinlich das Leben gerettet. In der NS-Zeit wurde er
durch seine tschechische Staatsbürgerschaft und seine familiäre Herkunft als zur slawischen Bevölkerungsgruppe gehörig angesehen und somit als verschieden von den
Deutschen. Potenziell hätte er zu den Verfolgten gehört, wenn die ursprünglichen Absichten gegenüber den Tschechen umgesetzt worden wären. Es war nämlich geplant,
Teile der tschechischen Bevölkerung zu germanisieren und den restlichen Teil, der von
der NS-Verwaltung als minderwertig angesehenen wurde, zu versklaven bzw. zu vernichten.232 Es wurde dann aber mit den Tschechen wesentlich milder umgegangen als
mit den Polen. Ein interessanter Aspekt ist die Tatsache, dass mein Großvater sofort
deutscher Staatsbürger hätte werden können, ihm wurde dies von der NS-Verwaltung
angeboten. Da er aber klug genug war zu erkennen, dass er dann zur Wehrmacht hätte einrücken müssen, hat er dies abgelehnt. Dies zeigt, dass er die Möglichkeit zur Integration ins NS-System hatte, diese aber verweigerte. Durch diese Haltung blieb er
Außenseiter in der NS-Gesellschaft. Zwei seiner Schwestern hingegen integrierten sich
in das System. Beide hatten österreichische/deutsche Männer und fühlten sich daher
als Deutsche. Eine wurde glühende Anhängerin des Nationalsozialismus und beschimpfte ihren Bruder als Böhm und meinte „Warts nur es Bem nach den Juden seids
es dran“. Die Verblendung war anscheinend so groß, dass die eigenen Brüder als „rassisch“ verschieden angesehen wurden.
An dieser Stelle möchte ich noch auf einen anderen Faktor eingehen und zwar den des
Geschlechts. Die Integration für Frauen war leichter, da sie durch die Heirat mit einem
Deutschen/Österreicher ihren tschechischen Nachnamen verloren und von ihrer Umwelt als Deutsche/Österreicher wahrgenommen wurden, wie dies auch bei Maria
Trachtulec/Schagginger der Fall war. Auch bei Maria Trachtulec war, wie bei meinem
Großvater, die Staatsbürgerschaft ein zentraler Punkt. Ihr Vater Johann Trachtulec bewarb sich schon 1921 um die österreichische Staatsbürgerschaft. Den Hauptgrund dafür sehe ich in den wirtschaftlichen Verhältnissen. Er hatte seine Heimat verlassen, um
seine Lebenssituation zu verbessern und wollte daher nicht zurück. Durch die Verlei232
Hoensch, Geschichte Böhmens, 434.
102
hung der österreichischen Staatsbürgerschaft an ihn und seine Familie wurde die
Integration bzw. Assimilation forciert.
So wie übrigens bei der Mehrheit der tschechischen Volksgruppe, die zum größten Teil
als tschechische Volksgruppe verschwunden ist, aber als Österreicher weiter existiert.
Abgesehen natürlich von der Rückwanderung nach dem 1. und 2. Weltkrieg.233
Die Angehörigen der Familie Trachtulec wurden durch die österreichische Staatsbürgerschaft nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich dessen Angehörige und Johann Trachtulec wurde in amtlichen Unterlagen als zugehörig zur deutschen Volksgruppe geführt. So wurde also aus einem Familienvater, dem das Innenministerium
1921 die österreichische Staatsbürgerschaft aus „rassischen“ und sprachlichen Gründen verweigerte, ein Angehöriger der deutschen Volksgruppe. Bei seiner Tochter Maria
Trachtulec wurde die Assimilation noch verstärkt durch ihre Heirat mit Emil Schagginger. Emil Schagginger war nicht nur österreichischer dann deutscher Staatsangehöriger, sondern auch Mitglied der illegalen NSDAP in Österreich. Dadurch wurde z.B. der
„Anschluss“ Österreichs nicht negativ gesehen sondern positiv. Auf die Gründe für die
Zuwendung zur NSDAP bin ich schon im vorigen Kapitel eingegangen. Aber durch die
Faktoren Staatsbürgerschaft und die Heirat mit Emil Schagginger war die Beziehung
und die Stellung im NS-System von Maria Trachtulec/Schagginger eine ganz andere
als bei meinem Großvater. Mein Großvater wurde arbeitszwangsverpflichtet und musste
durch
seinen
Ausländerstatus
ständig
aufpassen,
wohingegen
Maria
Trachtulec/Schagginger als „vollkommene“ deutsche Staatsangehörige gesehen und
akzeptiert wurde. Sie war anscheinend für eine kurze Zeit als Wehrmachtshelferin tätig und präsentierte sich auf Fotos in deutscher Uniform. Mein Großvater hingegen sah
sich teilweise sogar fast als eine Art Zwangsarbeiter und er wurde auch von der NSVerwaltung zur Annahme der Arbeit bei der Firma Peller-Brot durch Druck genötigt, da
man ihn sonst in ein Arbeitserziehungslager oder Konzentrationslager eingewiesen
hätte. Wie aber schon in seiner Biographie angesprochen, war sein Verhältnis zum NSSystem auch nicht so eindeutig, da er andererseits zum ersten Mal in dieser Zeit eine
Urlaubsreise nach Salzburg unternehmen konnte. Auch konnte er sich, abgesehen von
der Arbeitsverpflichtung, frei bewegen und hatte durch seine Arbeit Zugang zu Brot
und Gebäck. Er überstand die Kriegszeit verglichen mit den vielen anderen ziemlich
gut, obwohl er dies selbst nicht so sah und sich wohl irgendwie als eine Art Zwangsarbeiter fühlte.
233
John, Der lange Atem der Migration, 45.
103
5.2 Reflexionen über die NS-Zeit
Meine zweite Frage war die nach den Reflexionen der beiden über die NS-Zeit und den
Aspekt der ungenauen Erinnerung. Bei meinem Großvater, Jaroslav Bystricky, war die
NS-Zeit noch über vierzig Jahre später ein wichtiges Thema. Über die NS-Zeit wurde
offen gesprochen, wohl aus dem Grund, da sich mein Großvater als Außenstehender
und Unbeteiligter tendenziell eher als Opfer sah. Hauptsächlich war er an seinem eigenen Schicksal und seinen persönlichen Erlebnissen interessiert. Die allgemeine Geschichte der Zeit interessierte ihn überhaupt nicht. Er hat aber sehr wohl den NS-Staat
als Unrechtssystem wahrgenommen und auch über die Schikanen für Juden und
Zwangsarbeiter im KZ-Floridsdorf reflektiert. Ob und in wie weit es bei ihm eine ungenaue Erinnerung gibt, kann ich eigentlich nicht beantworten. Einen gewissen Erinnerungsdefekt muss man wohl einkalkulieren, alleine schon durch den großen Zeitabstand. Ich konnte jedoch feststellen, dass seine Überlieferungen dort, wo sie überprüfbar waren, durch Dokumente und Literatur belegbar sind.
Bei Maria Trachtulec hingegen gab es kaum Reflexionen über die NS-Zeit. Mit Ausnah me der Erzählungen über ihren ersten Mann gab es keine Erzählungen über die NSZeit. Dies beruht aber nicht auf Verdrängung, sondern auf der Tatsache, dass wir nicht
so ein enges Verhältnis hatten und der Zeitabstand zu groß war. Wenn sie die NS-Zeit
verdrängen hätte wollen, so hätte sie nicht die vielen Dokumente aufgehoben. Eine
ungenaue Erinnerung kann man aber bei ihr sehr deutlich feststellen und zwar bezogen auf ihren ersten Ehemann, Emil Schagginger. Noch über fünfzig Jahre später wurde dieser verklärt und ich war sehr erstaunt, dass er sich für den Nationalsozialismus
engagiert hatte und NSDAP-Mitglied gewesen war. Bezüglich ihres Mannes mag es
auch eine Verdrängung gegeben haben. Ein Beispiel hierfür ist ein Foto von ihm mit
NSDAP-Parteiabzeichen. Dieses Foto existiert in zwei Formen, einmal mit übermaltem
Parteiabzeichen im offiziellen Familienalbum und einmal mit nicht übermaltem Parteiabzeichen in einer Fotoschachtel. 234 Ein zweiter Aspekt ist die Nicht-Auffindung von
Dokumenten über Emil Schaggingers NSDAP-Mitgliedschaft im Nachlass. Man kann
aber davon ausgehen, dass diese wahrscheinlich vor dem Einmarsch der Roten Armee
oder in der Nachkriegszeit vernichtet wurden. Seine Briefe, das angesprochene Foto
und seine Parte geben deutliche Hinweise auf seine NSDAP-Mitgliedschaft und außerdem gibt es seine Karteikarte in der NSDAP-Mitgliederkartei. Der Erinnerungsdefekt
bezüglich Emil Schagginger ist für mich nur zu verständlich, da es sich um die große
Liebe ihres Lebens handelte und mit seinem schrecklichen Unfalltod ihr Leben bis zu
einem gewissen Grad zerstört wurde.
234
Undatierte Fotos 1938/39, aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
104
5.3 Öffentliche Anpassung und private Identität
Als letzte Frage bzw. letzten Fragenkomplex steht der Faktor der tschechischen Herkunft in der Beziehung zum NS-Staat – aber nicht nur bezogen auf die NS-Zeit sondern auch ganz allgemein auf die tschechische Identität bzw. das tschechische Bewusstsein. Hier ist auch die Differenz zwischen öffentlicher Anpassung und privatem
Bereich ein wichtiger Punkt und es sind die Ambivalenzen an sich. Es gibt in diesem
Bereich keine Eindeutigkeiten, sondern ein vielschichtiges Konstrukt, aus dem sich die
Identität der beiden formte und im Laufe des Lebens veränderte. Als Ausgangspunkt
nehme ich wieder die sehr ähnlichen Grundvoraussetzungen. Beide entstammten
tschechischen Arbeitsmigrantenfamilien, die der tschechischen Volksgruppe angehörten. Sie waren fast gleich alt, waren in Wien geboren worden und besuchten beide Komenskyschulen. Wie ich schon vorher beschrieben habe, sehe ich die Staatsbürgerschaft als Haupttrennungspunkt bei der Entwicklung der Beziehung zum NS-System.
Und genau hier möchte ich nochmals auf die Bedeutung von öffentlicher Anpassung
und privater Identität eingehen. Aus den amtlichen Dokumenten könnte man herauslesen, einerseits hier der tschechische Weg, andererseits dort der österreichische und
in Folge der deutsche Weg. Diese Eindeutigkeit besteht aber keineswegs. Mein Großvater war zwar tschechischer Staatsbürger, aber er war davon nicht sonderlich begeistert und sah seinen Vater als Spinner, der von einer nicht vorhandenen Heimat träumte. Auch wäre er bereit gewesen sich anzupassen und entfernte vom Familiennamen
die tschechischen Betonungszeichen. Ebenso wenig war er über seinen tschechischen
Vornamen erfreut, später wurde er auch von allen Bekannten nur, Pepi abgeleitet von
Josef, genannt. Auch war er von der Tschechoslowakei enttäuscht, da er als Kind bei
einer Kinderlandverschickung gekränkt worden war. Er hatte keinerlei verwandtschaftliche oder sonstige persönliche Beziehungen in die Tschechoslowakei; auch wurde
schon von seinen Eltern meist Deutsch als Umgangssprache verwendet. Er hatte keinen einen Akzent und sprach auch mit niemanden nach dem Krieg Tschechisch. Und
trotzdem hatte er ein die Zeit überdauerndes tschechisches Bewusstsein und nach der
Wende im Ostblock war sein erster Weg nach Tschechien. Er hatte irgendwie eine Beziehung zu diesem Land, welches er nur einmal in der Kindheit besucht hatte und in
dem er enttäuscht worden war. Trotzdem hatte er ein Zugehörigkeitsgefühl zu Menschen und Land und freute sich, mit den Menschen Tschechisch sprechen zu können.
Es sind vielschichtige Gründe für seine Identität und seine Selbstsicht gewesen, die
man nicht restlos ergründen kann, wenn man nicht in einer ähnlichen Situation aufgewachsen ist. Bei Maria Trachtulec scheint der österreichische bzw. der deutsche Weg
eindeutig und ist es doch wieder nicht. Abgesehen davon, dass in der Familie Trachtu -
105
lec bis in die 1970er Jahre Tschechisch gesprochen und korrespondiert wurde, hat
auch Johann Trachtulec nie seinen tschechischen Akzent verloren.
Die amtlichen
Dokumente würden eindeutig auf Ablegung der tschechischen Identität hinweisen. Johann Trachtulec versuchte ja schon 1921 zu beweisen, dass er zur deutschen Mehrheitsbevölkerung Österreichs gehörte. Aber hier dürfte es sich nur um die öffentliche
Anpassung gehandelt haben, im privaten Bereich dürfte die tschechische Identität weiter Bedeutung gehabt haben sonst hätte er seine Tochter auch nicht in die tschechi sche Komenskyschule geschickt. Die Familie, die anscheinend früh bereit war sich anzupassen, hatte wesentlich engere Beziehungen zur Tschechoslowakei als die Familie
meines Großvaters. Neben der Weiterverwendung der Sprache sind auch Reisen und
weitere Kontakte in die Tschechoslowakei belegt. Es gibt hier also bei beiden im Bezug
auf die tschechische Identität bzw. Identifikation keine Eindeutigkeit, sondern eine
vielschichtige Identität, die durch ebenso vielschichtige Erfahrungen, Gefühle und
Wechselbeziehungen geprägt worden war.
5.4 Schlussbemerkungen
Zum Abschluss meiner Arbeit möchte ich noch anmerken, dass ich meinen Großvater
ebenso wie auch meine Urgroßtante sehr schätzte, trotzdem aber versucht habe, die
persönliche Beziehung zurückzunehmen und mich einer (nicht verwirklichbaren) Objektivität anzunähern. Ich hoffe, die Rekonstruktion von zwei besonders durch den
Vergleich interessanten Lebensläufe ist gelungen, und ich zeigen konnte,
wieviele
Faktoren auf Familien in der Zeit der vielen Brüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einwirkten und wie ähnliche Grundvoraussetzungen in sehr unterschiedliche
Lebensläufe mündeten, die sich dann aber doch in der Rückbetrachtung bezogen auf
die Nachkriegszeit wieder anglichen. Beide wurden nach dem Krieg österreichische
Staatsbürger, beide heirateten nach dem Krieg und begannen mit dem Hausbau. Beide
wendeten sich dem Sozialismus zu und hatten langfristige Arbeitsverhältnisse bis zur
Pensionierung. Als Pensionisten beschäftigten sich beide weiter mit Haus und Garten
und unternahmen auch einige Reisen.
Die Ähnlichkeiten der frühen Jahre wurden nach der Zeit der Brüche und Umbrüche
wieder zu ähnlichen Lebenswegen. Wahrscheinlich würde man viele ähnliche Fälle finden, wo es idente Strukturen gab, aber mit jeder Vernichtung und Verschleuderung
von Nachlässen gehen viele Lebensbeschreibungen verloren.
106
6 Quellen
•
Nachlass: Jaroslav Bystricky.
•
Nachlass: Maria (Katharina) Bonifazi, geb. Trachtulec, in 1. Ehe verheiratet mit
Emil Schagginger.
•
Der Staatsvertrag von St. Germain samt Begleitnote vom 2. September 1919
und einem alphabetischen Nachschlagverzeichnis, Wien 1919.
•
NSDAP-Mitgliederkartei. Mikrofiche am Institut für Zeitgeschichte der
Universität Wien. A 3340-MFOK TO 14.
7 Abbildungen
•
Abbildung 1: Johann Trachtulec als Soldat im Ersten Weltkrieg. Quelle: Aus
dem Nachlass von Maria Bonifazi (geb. Trachtulec).
•
Abbildung 2: Alois Bystricky um 1930. Quelle: Aus dem Nachlass von Jaroslav
Bystricky. Abbildung 3: Emil Schagginger bei der Wehrmacht (Schachspieler,
rechts). Quelle: Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
•
Abbildung 4: Maria Schagginger in Wehrmachtsuniform mit ihrer Schwester
Emilie. Quelle: Aus dem Nachlass von Maria Bonifazi.
•
Abbildung 5: Jaroslav Bystricky mit seinem LKW in den 1950er Jahren in
Purkersdorf. Quelle: Aus dem Nachlass von Jaroslav Bystricky.
107
Lucinda Schmatz-Rieger
Haus Kellermanngasse 8
Vom Verschwinden der BewohnerInnen
108
Inhalt
1 Einleitung
109
2 Zur Geschichte und der Umgebung des Hauses Kellermanngasse 8
110
3 Zur Wohnsituation in Wien um 1938
115
4 „Arisierungen“
115
5 Übersicht über die BewohnerInnen im Haus von 1936-1940
118
6 „Verschwundene“ BewohnerInnen bis 1939
120
6.1 Familie Berta und Isidor Kurtz
120
6.1.1 Wilhelm (Willi) Kurtz
122
6.1.1 Helene (Lilly) Kurtz
127
6.2 Familie Frenkel
6.2.1 Aurelia Frenkel
127
128
6.3 Therese Linzer
129
6.4 Familie Dr. Aurel Jalcowitz
130
6.5 Valerie (Walli) Taubner
131
6.6 Ida Ettl
132
6.7 Barbara Mussil
132
6.8 Dr. Oscar Raffelsberger
132
6.9 Melanie Mückler
133
7 BewohnerInnen vor 1938 bis nach 1945
133
7.1 Anna Esel
133
7.2 Anna Müller
134
7.3 Die Familien Kofler, Welzl, Menzl und Trautmann
135
8 BewohnerInnen nach 1939
136
8.1 Leopoldine Angelides
137
8.2 Wilhelmine Rieger geborene Fally
137
8.3 Leopoldine Hübner
139
8.4 Familie Franz Jandak
140
8.5 Familie Richard Pribil
140
8.6 Familie Karl Rieder
140
8.7 Familie Franz Weindl
141
9 Schlussbetrachtung
142
10 Abbildungen
144
109
1 Einleitung
Vielleicht erscheint es ungewöhnlich, dass ein Haus im Mittelpunkt einer historischen
Untersuchung steht und es sich dabei aber um keine kunstgeschichtliche handelt. Es
geht vielmehr um die Menschen, die in diesem Haus lebten und aus diesem „verschwunden“ sind. Verschwunden deshalb, weil es eine Zeit gab, in der es ihnen nicht
mehr möglich war, dort zu leben und zu bleiben, wo sie sich eingerichtet hatten, zu
Hause und in Sicherheit fühlten, Geborgenheit und die Zugehörigkeit zu einer Hausgemeinschaft hatten.
Ich habe in diesem Haus meine Kindheit verlebt. So wie viele jungen Menschen bin ich
als Studentin ausgezogen und habe, nachdem meine Eltern umgezogen sind, nach
vierzehn Jahren die Wohnung übernommen, in der ich seither lebe. Bei meinem Einzug
lebten nur mehr zwei alte Damen im Haus, die ich von früher kannte, die übrigen Bewohner waren neu hinzugekommen und sind mir fremd.
Solange ich dort wohnte, kannte ich alle Familien, ihre Namen, ihre Berufe, Lebensumstände, sogar ihre Religionsbekenntnisse. Mir waren ihre Wohnungen vertraut, ich
bin in jeder gewesen, bei manchen nur im Vorzimmer, wenn etwas geborgt oder gebracht, ausgerichtet oder kassiert wurde. Wenn meine Eltern noch nicht zu Hause wa ren, wartete ich bei den Nachbarn auf sie, die Kinder des Hauses spielten gemeinsam
in unterschiedlichen Wohnungen und gingen in die gleichen Schulen im Bezirk. Es
schien so, als lebten die Erwachsenen immer schon hier und für mich stellte sich nie
die Frage, welche Menschen vorher in diesen Wohnungen gelebt haben.
Als ich wissen wollte, wer vor uns in der Wohnung gelebt hat und wer Besitzer dieses
Hauses war, hörte ich, dass es sich um Juden gehandelt hätte, die nach Amerika ausgewandert seien. Ich habe es damals gehört und nicht mehr weiter darüber nachge dacht. Nun, nachdem Jahrzehnte vergangen sind, habe ich mich an das in meiner
Kindheit Gehörte erinnert und es hat mich so beschäftigt, dass ich dieses Ungewisse
über die damaligen Bewohner aufklären wollte und mit meinen Recherchen begann.
Ich will wissen, wer in diesem Haus beim „Anschluss“ Österreichs gewohnt hat und
habe festgestellt, nachdem ich im Wiener Adressverzeichnis, „Lehmann“ 235 von 1936
bis 1942 gesucht habe, dass mit Ausnahme zweier Parteien, die übrigen Bewohner des
Hauses „verschwunden“ sind.
Die folgende Arbeit soll die Chronologie vom „Verschwinden dieser Bewohner“ aus dem
Haus in der Kellermanngasse 8, nach dem „Anschluss“ Österreichs am 12. 3. 1938
zeigen.
Wiener Adressverzeichnis, „Lehmann“, Wien 1936-1942, Teil I: Namensverzeichnis. Einwohner und
Geschäftsbetriebe. Teil II: Alphabetisches Straßenverzeichnis. Lehmann Online, URL:
http://www.digital.wienbibliothek.at, (abgerufen am 22. 3. 2013).
235
110
2 Zur Geschichte und der Umgebung des Hauses Kellermanngasse 8
Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts begann man das Schottenfeld, im heutigen 7.
Bezirk Neubau die Umgebung der Schottenfeldkirche zu parzellieren und zu bebauen.
Die von Josef II. aus Süddeutschland geholten Einwanderer betrieben die Erzeugung
von Samt und Seide, sodass es um 1800 in der Gegend schon mehr als 300 Seiden webereien mit über 30.000 Arbeitern gab. Der damit verbundene Aufschwung und
Wohlstand der dort ansässigen Fabrikanten trug dazu bei, der Gegend den Namen
„Brillantengrund“ zu geben. An diese Seidenmanufakturen erinnert noch heute die
„Seidengasse“.236
Das markante Zeichen am Anfang der Kellermanngasse ist das „Augustinplatzl“, in
dessen Mitte sich ein gleichnamiger Brunnen befindet. Bei der großen Pestepidemie
1679/80 warfen die „Pestknechte“ den rauschigen Bänkelsänger Marx Augustin (16431685) in eine der dort schnell ausgehobenen Pestgrube bei St. Ulrich. Am nächsten
Morgen machte dieser mit seinem Dudelsack auf sich aufmerksam und wurde aus der
Grube gerettet. 1908 wurde für ihn ein Denkmal, der sogenannte „Augustinbrunnen“,
aufgestellt. Dieser wurde vom Bildhauer Hans Scherpe geschaffen und am 4. 9. 1908
vom Wiener Bürgermeister Karl Lueger enthüllt. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die aus Bronze gefertigte Skulptur eingeschmolzen, ein Schicksal, das sie mit anderen Denkmälern aus Bronze und sogar mit Kirchenglocken teilen musste. Ein mutiger
Unbekannter schrieb damals auf den leeren Sockel des Denkmals: „Der schwarzen
Pest bin ich entronnen, die braune hat mich mitgenommen“.237
Ich erinnere mich, dass wir 1952 anlässlich der Enthüllung einer Augustinfigur aus
Sandstein, die wesentlich kleiner war als die ursprüngliche, mit unserer Volksschule
dort waren und das Lied „Oh, Du lieber Augustin, alles ist hin ...“ und alle anderen
Strophen des Liedes, besonders jene, „alles weg, Augustin liegt im Dreck“, voll Begeisterung sangen.238
An einer Ecke des Augustinplatzes am Anfang der Kellermanngasse, befindet sich an
einem Haus eine Tafel und eine kleine Statuette, die den Wesir Kara Mustafa zeigt und
an die Zweite Türkenbelagerung1683 erinnert. Angeblich soll sich hier dessen Zelt befunden haben, was heute allerdings von Historikern bezweifelt wird.
1788 entstand im heutigen 7. Bezirk Neubau, dem ehemaligen Brillantengrund, als
Durchgang vom Augustinplatz durch den Schottenhof den Berg hinauf zur Lerchenfelderstraße eine zirka 50 m lange Gasse, die im Volksmund „das Schottenbergl“ genannt
wurde, offiziell aber Schottenhofgasse hieß. Sie führte zum alten Uferhang des Otta236
237
238
URL: http://wienwiki.wienerzeitung.at/WIENWIKI/Brillantengrund (abgerufen am 4. 5. 2012).
URL: http://www.bezirksmuseum.at/default/index.php?id=104 (abgerufen am 4. 5. 2013).
Arbeiterzeitung vom 10. 10. 1952, Nr. 245, 4.
111
kringerbaches hinauf und ist deshalb ziemlich steil. Den Bach hört man nachts, wenn
es still ist, rauschen, wenn das Wetter umschlägt, stinkt er und bei starken Re genfällen tritt er noch „über die Ufer“. Das Wasser wird dann aus dem Kanal emporge drückt und überschwemmt die Lerchenfelderstraße, wie das im Mai 2010 der Fall war.
Noch heute mühen sich im Winter der Bus 13A und die Autofahrer bei Schnee und
Glätte die Kellermanngasse hinauf. Wir Kinder nützten die Gehsteige im Winter zum
Rodeln.
1850 wurden die ehemaligen Vorstädte Neubau, Neustift, Spittelberg, Schottenfeld sowie Teile der Vorstädte St. Ulrich, Alt-Lerchenfeld, Laimgrube und Mariahilf zu einem
neuen Wiener Gemeindebezirk zusammengefasst. Bei seiner Eingemeindung erhielt
der Bezirk die Nummer 6, 1860 wurde er auf Wien 7 „Neubau“ umnummeriert. 239 Seit
seiner Gründung war der 7. Bezirk Neubau dicht besiedelt. Die im Jahre 1869 ermittelte Einwohnerzahl betrug 80.043 Einwohner und war die höchste jemals in diesem Bezirk ermittelte.
Die Grundherrschaft über diesen Vorstadtgrund hatte das Stift Schotten 240. Die Schottenhofgasse wurde 1910 in Kellermanngasse nach dem Lederhändler Georg Kellermann (1820-1895) benannt. Er stiftete testamentarisch einen Betrag von 600.000
Kronen zur Errichtung des Georg Kellermann'schen Kinderspitals, aus dem die Kinderabteilung des Wilhelminenspitals hervorging.241
Die Kellermanngasse gab es damals noch nicht, sie hieß Schottenhofgasse und hatte
nur die Häusernummern 3, 4, 6. Jedoch wird in einem Haus in der Lerchenfelderstraße
27 = Haus Schottenhofgasse 8 unter der Konskriptionsnummer 5/Neubau/Zins 3021
ein Karl Bäcker als Besitzer dieses Hauses mit 134 m² verbauter Fläche, einem Stockwerk und sechs Wohnungen angeführt. 242 An dieser Stelle steht das später errichtete
Haus in der Kellermanngasse 8. Es wurde 1890 im späthistoristischen Stil mit Eckerkern, über denen sich am Dach ein Turm erhebt, erbaut. Es handelt sich um ein Eckhaus, der Eingang befindet sich in der Kellermanngasse 8, das Haus entspricht der
Lerchenfelderstraße Nr. 27. Im Foyer befinden sich figürliche Stuckreliefs (Putten), es
besitzt drei Stockwerke und wie damals üblich ein Mezzanin. 243 Im Untergeschoss befindet sich eine Wohnung für die Hausmeisterin, im Hochparterre dazugehörig zwei
Zimmer. Beide Räumlichkeiten werden jetzt von dem im Haus befindlichen Geschäft,
der Wiener Messing-Werkstätte als Lagerräume benützt. Ursprünglich waren beide von
URL: http://www.orte-in-oesterreich.de/78446-stadtbezirk-wien-neubau.html (abgerufen am 4. 5. 2013).
Karl Pauschab, Darstellung der bei den Häusern in der Stadt und in den sämmtlichen Vorstädten Wiens
einschreitenden Grundherrlichkeiten, Wien 1829, 65.
241
6 Agenda Wien 7, Geschichten mit Geschichte, Augustinplatz, 2006, From grey to green,
URL: http://grey2green.wordpress.com/w/geschichten-einzelner-gassen-hauser-und-platze-von-st-ulrich/ (abgerufen
am 20. 2. 2013).
242
Josef Schlessinger (Hg.), Der Cataster. Handbuch über sämmtliche Häuser, Wien 1875, 204.
243
Dehio-Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs. Topographisches Denkmälerinventar Wien II. bis IX. und XX.
Bezirk, (Hg.), Bundesdenkmalamt, Wien 1993, 301.
239
240
112
der Hausmeisterin bewohnt und trugen die Nr. 1 bzw. 2. Das einzige Geschäft im Haus
hatte die Nr. 3.
Im Haus selbst gibt es im Mezzanin und ersten Stock, der Belle Étage, jeweils zwei, im
dritten und vierten Stock jeweils drei Wohnungen im Altbaustil, mit einer Raumhöhe
von 3,58 m, großen Flügeltüren und Parkettböden. Die Außenfassade des Hauses mit
den Simsen und Stukkaturen über den Fenstern ist ebenso erhalten geblieben wie die
Fenster selbst, diese mussten im ursprünglichen Zustand als in Holz gerahmte Doppelflügel aufgrund der Verordnung des Denkmalschutzes verbleiben. Nur der Dachkuppel
wurde ein neues Kupferdach verpasst. Der erste Hausbesitzer war Emil Ritter von
Aschbach, geboren 21. 8. 1852 in Bonn, Dr. jur. und k.k. Bezirksgerichtsadjunkt in
Wolkersdorf, der Sohn des gleichnamigen, als o. Prof. an der Universität Wien lehrenden Historikers.244
1891 kaufte Julius Meinl II – um die Ecke der Kellermanngasse, das Haus Neustiftgasse Nr. 28 mit zwei Hoftrakten und baute es zu einer Großrösterei mit einer Lehrlingsschule und einem Internat aus. In einem Gassenlokal befand sich eine Filiale, in der
Kolonialwaren wie Kaffee, Tee, Spirituosen und Süßwaren verkauft wurden. Der Geruch der Rösterei zog sich manchmal durch die nähere Umgebung. Dort trafen sich die
Dienstmädchen, wenn sie entsprechende Spezereien für ihre begüterten „Herrschaften“ und HausbesitzerInnen einkauften, wie es z. B. die Familien Kurtz und Frenkel
aus der Kellermanngasse 8 waren. Noch in den 1950er-Jahren, wenn meine Mutter
einen Krankenhausbesuch vorhatte, musste ich „beim Meinl“ Kaffee kaufen, den sie
dann den Krankenschwestern im Spital mitbrachte, wohl in der Meinung, dass diese
die von ihr besuchten Patienten dann besser behandelten. Kaffee „beim Meinl“ zu kaufen und ihn täglich auch zu trinken, war Privileg wohlhabenderer Bewohner der Umgebung. Auch eine Bonbonniere von Meinl hatte noch den Anstrich des Luxuriösen. Bei
ärmeren Familien wurde der Kaffeesatz des am Sonntag üblichen Bohnenkaffees, in
der folgenden Woche mit Malzkaffee, neuerlich aufgekocht. Gegenüber vom Meinl in
der Neustiftgasse bei der „Frau Rosi“, einer „Greißlerin“, konnte man anschreiben lassen und erst am Freitag, wenn Zahltag war, die Rechnung begleichen.
Das Haus in der Kellermanngasse 8 bot den BewohnerInnen, die vor dem Zweiten
Weltkrieg dort lebten, große Annehmlichkeiten. Im Inneren befanden sich großzügige,
hohe und helle Räumlichkeiten, die Nahversorgung war bestens gesichert und auch
Burg-, Volks- und Josefstadttheater förmlich „um die Ecke“, die Staatsoper zu Fuß in
20 Minuten zu erreichen, ebenso wie die Parkanlagen des Burg- und Volksgartens.
Im Bezirk entstand in der Neubaugasse und Umgebung mit Beginn des Stummfilms in
Josef Lenobel, (Hg.), Das Buch der Häuser und Hausbesitzer Wiens, Wien/Leipzig 1908, 31. Hessische Biografie,
Datensatz 716, URL: http://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/bio/id/716 (abgerufen am 4. 2. 2013).
244
113
den 1920er- Jahren ein „Filmviertel“. Um die Ecke der Kellermanngasse, zwei Häuser
weiter in der Lerchenfelderstraße, befanden sich die Phönix-Lichtspiele. Während des
Zweiten Weltkriegs wurde in den „Wochenschauen“ die hineinströmende Bevölkerung
mit nationalsozialistischer „Volksaufklärung“, Propaganda, Durchhalteparolen und Berichten über ihre heldenhaft und siegreich kämpfenden Soldaten beruhigt, um ihnen
die Alltagsrealität zu vernebeln.
Da der 7. Bezirk Neubau durch den Krieg wenig Bombenschäden erlitten hatte, blieb
auch der ehemalige dörfliche Charakter der Umgebung in der Kellermanngasse erhalten und hat sich trotz Neugestaltung des Augustinplatzes im Jahr 2008 bis heute bewahrt. 1938 befanden sich in der Kellermanngasse noch drei kleine einstöckige Biedermeierhäuser. Die Wohnungen in diesen Häusern waren mit Wasser und Klo am
Gang und standen im Straßenverlauf vorgebaut, im Gegensatz zu den neu errichteten
Häusern der um 1900 gebauten Nr. 1-3, Nr. 5 und Nr. 8, die sowohl von außen als
auch von innen repräsentativ den Reichtum der Besitzer demonstrierten. Zwei der
kleinen Häuser stehen noch heute, vorgerückt und die Kellermanngasse verschmälernd. Auch die beiden damals neu erbauten historistischen Häuser Nr. 5 und Nr. 8 haben bis heute ihre eindrucksvollen großen Kuppeln bewahrt, die gegen Ende des
Kriegs vor Bombenschäden verschont geblieben sind, ebenso wie die übrigen Häuser
in der Kellermanngasse.
In der Kellermanngasse 8 lebten vor 1938 durchwegs gut situierte BürgerInnen, wie
ein Arzt, Geschäftsinhaber, Hofrat, Direktionsrat, Obermagistratsrat, Antiquitätenhändler und später deren Witwen. Nachdem sie „verschwanden“ waren zogen Menschen
aus einer anderen sozialen Schicht aus offensichtlich weniger komfortablen Unterkünften in die neuen Wohnungen ein. Es handelte sich durchwegs um Kleinbürger, Handwerker bzw. Arbeiter, die in den Genuss von gepflegten Wohnungen kamen, die sie
sich sonst hätten kaum leisten können. Im letzten sehr kalten Kriegswinter 1944/45
konnten die neuen BewohnerInnen ihre Großwohnungen nicht heizen. In den Küchen
stellten sie dann sogenannte „Sparöfen“ auf, die als Wärmequellen dienten, worauf
gekocht und Wasser erhitzt wurde. Beschäftigt mit dem Überleben und neuer Orientierung nach dem für sie „verlorenen Krieg“, war ihr Denken auf die Zukunft gerichtet.
Inwieweit sie sich mit dem Vergangenen auseinandergesetzt haben kann ich schwer
beurteilen. Die Ideen des Nationalsozialismus schienen, als sie überfallsartig die Menschen erfasst und begeistert hatten, kein Thema mehr. Verborgen, unbesprochen und
schamvoll verschwiegen haben sich viele dieser Ideen jedoch in ihren Köpfen gehalten. Ob sich ihre damalige Gesinnung wirklich verändert hat, konnte ich weder in meiner Familie noch in der meiner im gleichen Haus lebenden Schulkollegin aufgrund fehlender diesbezüglicher Gespräche feststellen.
114
Die BewohnerInnen des Hauses in der Kellermanngasse 8 erschienen mir in ihren Haltungen und gegenseitigen Verbundenheit wie eine verschworene Gemeinschaft. Mussten sich doch die meisten gewahr sein, ihre Wohnungen Verfolgten, Vertriebenen oder
Ermordeten „zu danken“.
Nach dem Krieg haben sich die Bevölkerungszusammensetzung und die sozialen Verhältnisse im 7. Bezirk Neubau verändert. Lebten dort um die Jahrhundertwende noch
72.550 Einwohner, hatte sich die Zahl 1939 schon auf 51.441 verringert und ging kontinuierlich zurück, was eine Ursache in gestiegenen Ansprüchen an Wohnraum und
Wohnqualität verbunden mit Wohnungszusammen-legungen hatte. Weitere Gründe
sind im strukturellen Wandel der „Wirtschaftswunderjahre“ zu sehen. Viele kleingewerbliche und handwerkliche Betriebe mussten zusperren und Supermärkten weichen.
In der nahe gelegenen Mariahilfer Straße fanden die Menschen in den Warenhäusern
eine große Auswahl all der Dinge, die vor Jahren noch Mangelware waren.
Heute leben nur noch 28.823 Menschen im 7. Bezirk. Seit der Spittelberg revitalisiert,
im Jahr 2001 ein grüner Bezirksvorsteher gewählt und im gleichen Jahr das Museumsquartier eröffnet wurde, hat sich auch die Bevölkerungszusammensetzung im Bezirk
verändert. Kulturelle Events, neu angelegte Radwege und Lokale haben junge Wirtschaftstreibende, Kreative und Studenten bewogen, sich im Bezirk niederzulassen. Die
Verdrängung der ehemaligen Bewohner durch jüngere, besser ausgebildete und in der
Regel mit höherem Einkommen ausgestattete, führte zu einer Gentrifizierung im 7.
Bezirk.245
Im Jahr 1990-2000 ließ der damalige Hausbesitzer, nach dem Abtreten der Rechte für
die Benutzung des Dachbodens zum Wäschetrocknen durch die HausbewohnerInnen,
diesen zu einer großen Dachterrassenwohnung umbauen, die auch der jetzige Hausbesitzer bewohnt. Ebenso wurden vom ihm die drei Wohnungen im dritten Stock für seine privaten Zwecke zu zwei zusammengelegt. In den großzügigen schneckenförmigen
Raum der Stiegenaufgänge wurde ein Lift eingebaut. Der ursprünglich mit gemusterten Kacheln ausgelegte Boden wurde durch rosa und roten Marmor ersetzt.
Die Wohn- und Geschäftsgrößen sind, mit Ausnahme des ausgebauten Dachbodens
und der zusammengelegten Wohnungen (Mezzanin und 3. Stock), die gleichen, wie
zur Zeit der Errichtung des Hauses:
Geschäft: 190,77m²
Mezzanin: Tür 4+5: 200,29m²
1. Stock: Tür 6: 108,53m²
Tür 7: 98,17m²
2. Stock: Tür 8: 55,24m²
Tür 9: 67,18m²
3. Stock: Tür 11+12: 120,78m²
Tür 12a: 84,82m² (seit 1990: Dachgeschoss
Tür 10: 84,81m²
166,86m²)
245
URL: http://www.orte-in-oesterreich.de/78446-stadtbezirk-wien-neubau.html (abgerufen am 4. 5. 2013).
115
3 Zur Wohnsituation in Wien um 1938
Bei Untersuchungen des Miet- und Wohnungswesen nach dem „Anschluss“ stellten die
Nationalsozialisten fest, dass in Wien Wohnungsnot herrscht. Die bestehenden 75 %
Kleinwohnungen waren durch UntermieterInnen und BettgeherInnen überbelegt und
befanden sich in einem katastrophalen Zustand. Die vorgefundenen hygienischen und
baupolizeilichen Mängel verlangten Sanierungsmaßnahmen, da die Wohnungen sonst
unbewohnbar geworden wären, was zu einem weiteren Anstieg der Obdachlosigkeit
geführt hätte. Die Mieten stellten für die unteren sozialen Schichten eine ungeheure
Belastung ihres Haushaltsbudgets dar und Gemeindewohnungen waren aufgrund des
Baustopps seit 1934 nicht mehr zu bekommen. Zu diesem Wohnungsmangel kam,
dass die vor dem „Anschluss“ politisch verfolgten ÖsterreicherInnen zurück nach Wien
kamen und dazu noch deutsches Militär,. Zur Durchführung und Verwaltung der in Österreich eingeführten „Reichsgrundgesetze“ benötigten die nach Wien entsandten BeamtInnen und Polizeikräfte Büro- und Wohnräume. Daher ist es nicht verwunderlich,
dass es schon in den Tagen nach dem Einmarsch in Österreich zu illegalen Beraubungen in Wohnungen jüdischer MitbürgerInnen kam und sie aus diesen vertrieben wurden, und die Enteignungen der wohlhabenden jüdischen Bevölkerung den Wohnungssuchenden als gerechtfertigt erschienen.246
4 „Arisierungen“
Der Terminus „Arisierung“ bedeutet die Enteignung der gesamten jüdischen Bevölkerung aufgrund des 1933 erlassenen Arierparagraphen, einem Vorläufer der am 15. 11.
1935 in einer Sondersitzung des Nürnberger Reichsparteitags beschlossenen Rassengesetze „zum Schutz des Deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Diese „Nürnberger Rassengesetze“ wurden nach dem „Anschluss“ Österreichs am 28. 5. 1938 eingeführt. Juden und Jüdinnen mussten bald nicht nur eine Kennkarte mit sich führen, sie
mussten an ihre Namen Israel und Sara anhängen, in ihre Reisepässe war ein rotes „J“
gestempelt und jüdischen Geschäfte mussten hebräische Aufschriften tragen.
Gleich nach dem „Anschluss“ kam es in Österreich durch SA und Angehörige der NSDAP und deren Mitläufer zu gewaltsamen „wilden Arisierungen“ und Plünderungen von
Geschäften und Wohnungen. Jüdische Mieter und Mieterinnen wurden aber auch von
Privatpersonen, Nachbarn und Wohnungssuchenden aufgefordert, die Wohnung binnen
einer Frist zu verlassen, manche wurden sofort aus ihren Wohnungen vertrieben und
Gerhard Botz, Wohungspolitik und Judendeportation in Wien 1939-1945. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz
nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien-Salzburg 1975, 291.
246
116
mussten ihre Wohnungsschlüssel abgeben. Die Vugesta (Verwertungsstelle der Gestapo für jüdisches Umzugsgut) sorgte für die Räumung der Wohnungen und die Verwer tung der noch vorhandenen Wertgegenstände. 247 Durch Denunziationen jüdischer MitbewohnerInnen wollten manche „Arier“ in den Genuss deren Wohnung kommen. Man
wollte auch mit keinen „Nichtariern“ im gleichen Haus wohnen. Obwohl der gesetzliche
Mieterschutz für jüdische MieterInnen nach wie vor Gültigkeit hatte, wurden sie in den
meisten Häusern durch die HauseigentümerInnen gekündigt. Waren diese selbst Juden
oder Jüdinnen, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihre Häuser verlassen mussten
und diese enteignet und arisiert wurden. In sogenannten Sammelwohnungen, besonders im 2. Bezirk Leopoldstadt, in denen allerdings meist mehrere Familien zusammengepfercht gelebt haben, verbrachten sie nach „Umsiedlungsaktionen“ die Zeit bis
zu ihrer Deportation.248 Im Nachhinein wurden die „wilden Arisierungen" legalisiert und
die Vermögensverkehrsstelle (VVSt) bestellte kommissarische Verwalter. Walter Rafelsberger war ab April 1938 Staatskommissar für Privatwirtschaft und Leiter dieser
Vermögensverkehrsstelle249, die bis 1939 rund 26.000 jüdische Klein- und Mittelbetriebe auflöste oder „arisierte“. Im Oktober 1938 unterbreitete er „Vorschläge für die wir kungsvolle Durchführung der Entjudung“, in denen er die Errichtung von drei „Judensammellagern“ für jeweils 10.000 Personen empfahl.250
1939 wurden für jüdische Unternehmen, sogenannte „Treuhänder“ eingesetzt, die die
Arisierungen vorbereiteten oder die Auflösung des Betriebes veranlassten. 251 Nachdem
der jüdischen Bevölkerung auch die Gewerbekonzessionen entzogen wurden, konnten
die arisierten Besitzungen an die „Volksgenossen“ zu einem günstigen Preis verkauft
werden. Die wiederum mussten an den Staat als Prämie eine „Arisierungsauflage“ bezahlen.
Konnten
sie
die
Summe
nicht
aufbringen,
wurde
ihnen
vom
„Arisierungsfonds“, der seine Gelder aus der Differenz von Sach- und Verkaufswert
enteigneter jüdischer Vermögen speiste, ein Kredit gewährt. Da die jüdischen Besitzer
über den Verkauf ihres Eigentums nicht verhandeln konnten, weil es sich um Notverkäufe handelte, kam es zu Übernahmen von Geschäften, Häusern, Wohnungen, Mobiliar, Kunstgegenständen durch die neuen arischen BesitzerInnen, die sich solche Wertanlagen vorher nie hätten leisten können. Durch diese neu gewonnenen Werte ergaDoron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt/M. 2000, 293.
Rabinovic, Instanzen der Ohnmacht, 226. 17 Sammellager waren in der Kleinen Sperlgasse 2a (vormals und heute
wieder eine Schule), Malzgasse 16, danach Malzgasse 7, Miesbachgasse 8 (lt. Bericht der IKG 1942). Ebenso existierte
ein Sammellager in einem alten Schulgebäude in der Castellezgasse 35.
249
Die VVSt wurde am 18. 5. 1938 im österreichischen „Ministerium für Arbeit und Wirtschaft“ gegründet. Zu ihren
Aufgaben gehörte die Bestellung von Treuhändern, Kommissaren und Abwicklern für Unternehmen, sowie die
Koordination der gesamtwirtschaftlichen Planung. Sie kontrollierte Kaufverträge, setzte den Kaufpreis für zur
„Arisierung“ bestimmte Unternehmen fest und verordnete die Liquidation von Betrieben. Vermögensverkehrsstelle,
URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Verm%C3%B6gensverkehrsstelle (abgerufen am 20. 3. 2013).
250
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945.
Band 2, Deutsches Reich 1938, August 1939, München 2009, 39.
251
Wieder gut machen? Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution, (hg.) vom Forum Politischer Bildung,
Wien 1999, 175.
247
248
117
ben sich für die neuen BesitzerInnen finanzielle und soziale Aufstiegschancen. Die Eigeninteressen der neuen NutzerInnen waren damit mit dem Interesse an dem Sieg
des Nationalsozialismus verbunden.252 Das Wohnungsamt der Stadt Wien konnte sich
vor Ansuchen um die Zuteilung von Wohnungen kaum retten. Schon „Ende 1938 waren 44.000 Judenwohnungen von <Ariern> bezogen worden,“ bevorzugt von GesinnungsgenossInnen und Parteimitgliedern, in den folgenden Jahren erhöhte sich die Anzahl arisierter Wohnungen um weitere 26.000.253
„Die Verknüpfung der antisemitischen Verfolgungsmaßnahmen mit materiellen
Interessen […] ist eines der kräftigsten Motive.“
Der jüdische Bevölkerungsanteil war „wirtschaftliches Zielpotential“. Nach der Zeit des
„Anschlusses“ lebten nach Einschätzung und Vorstellung der Nationalsozialisten etwa
220.000 bis 300.000 religiöse und „rassische“ Juden in Wien, die im Verhältnis zur
Wiener Bevölkerung stärker in mittelständischen und großkapitalistischen Berufszweigen vertreten waren.254
Seit Jahren schon hatten die Nationalsozialisten Proskriptionslisten erstellt, auf denen
die in Frage kommenden jüdischen Unternehmen registriert waren. Dabei handelte es
sich um ein Viertel der Wiener Betriebe, die entweder arisiert oder von kommissari schen Verwaltern, meist Nationalsozialisten, geführt wurden. Eine eigene Betriebsorganisation, die sogenannten NSBO-Geschäfte wurden von arischen Angestellten weitergeführt.255
Da mit Beginn des Zweiten Weltkriegs Lebensmittel über Karten rationiert wurden, erreichte die antijüdische Propaganda, dass sich viele „Volksgenossen“ ein Verschwinden
der Juden aus ihrer Umgebung wünschten. Auch Hitler lag daran, besonders „die Ostmark von Juden zu säubern“ und in die neu eroberten polnischen Gebiete zu deportie ren. Dort, fern von ihren ursprünglichen Nachbarn, konnte, für diese unbemerkt, die
Vernichtung beginnen. Mit dem Beginn der Krieges gegen die Sowjetunion kann man
aufgrund der Abnahme der Lebensmittelkarten für Juden in Wien von 40.221 im Jahr
1941 auf 6.589 im Jahr 1942 die Massendeportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager erkennen.256
Die Reichsfluchtsteuer für Juden, die ausreisen wollten, ging über die jüdische Gemeinde in Wien. Es war der Betrag, den Juden und Jüdinnen für die Genehmigung zur
Ausreise zahlen mussten. Die Reichsfluchtsteuer wurde von der NS-Finanzverwaltung
von den jüdischen Sperrkonten abgezogen. Auf diesen Sperrkonten der EigentümerInnen lag der Erlös aus dem arisierten Vermögen, der/die BesitzerIn hatte jedoch keinen
252
253
254
255
256
Dieter Stiefel (Hg.), Die politische Ökonomie des Holocaust, München 2001, 15.
Botz, Wohnungspolitik, 299.
Botz, Wohnungspolitik, 286-87, 291.
Botz, Wohnungspolitik, 294.
Botz, Wohnungspolitik, 301, Ordner 235 (2315/7), Rk. AVA.
118
Zugriff auf dieses Geld. Von diesen Sperrkonten entnahm die NS-Finanzverwaltung
Abgaben, wie die Reichsfluchtsteuer und Sühneleistung (RGBL 1938 S 1579 vom 14.
11. 1938) und die „Judenvermögensabgabe“. Im April 1938 wurde eine „Vermögensanmeldung für Juden und Jüdinnen“ bei Vermögenswerten über RM 5.000 gefordert, davon mussten 20 % an den NS-Staat gezahlt werden.
5 Übersicht über die BewohnerInnen im Haus von 1936-1940
Folgende Übersicht (siehe Tabelle 1) zeigt die verschwundenen und vertriebenen MieterInnen bzw. jene, die nicht mehr im Historischen Meldeamt 257 oder im Lehmann aufscheinen und jene, die in frei gewordene Wohnungen Zugezogenen oder solche, die
schon vor dem „Anschluss“ und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in
dem Haus wohnten und bis nach dem Ende des Kriegs und darüber hinaus BewohnerInnen blieben.
Bei diesen Angaben ist zu beachten, dass die Eintragungen der gemeldeten und der
abgemeldeten MieterInnen fast immer um ein Jahr später im Lehmann zu finden sind,
da sich diese Verzögerungen aus der Drucklegung zu Beginn eines Kalenderjahres ergaben. Genauere Angaben habe ich, so vorhanden, vom Historischen Meldeamt erhalten und nur das berücksichtigt, was auf den damals abgegebenen Meldezetteln stand.
Hat sich ein(e) BewohnerIn nicht oder später ab- oder angemeldet, muss man sich auf
die angegebenen Daten verlassen.
Als einzige Bewohnerin, über die ich in der vorliegenden Arbeit keine Angaben machen
kann und auch keine Auskünfte erhielt, ist die im Lehmann 1939, allerdings dort nur
für dieses Jahr eingetragene, Maria Schwarz. Auch das Historische Meldeamt konnte
mir dabei nicht weiterhelfen, da der Name Maria Schwarz tausende Male vorkommt
und kein Geburtsdatum u. Ä. bekannt ist. Auch bei DÖW und IKG findet sich keine
Personen gleichen Namens, die in der Kellermanngasse 8 gewohnt hat.
MA 8, Wiener Stadt- und Landesarchiv, Historische Meldeunterlagen, (1904-1975), Guglgasse 14, 1100 Wien,
Gasometer D.
257
119
Tabelle 1: Übersicht über die BewohnerInnen im Haus von 1936-1940
1936
1937
1938
Kurtz Isidor Eigentümer
und Mitbesitzer (Helene Kurtz)
Müller Anna
Hausbesorgerin
1939
1940
Angelides
Leopoldine
Private
Fally
Wilhelmine
Krankenschw
ester
Ettl Ida
Private
Frenkel David
Geschäftsinh.
Hübner
Leopoldine
Private
Jandak Franz
Geschäftsinh.
Jalcowitz
Aurel Dr.
Kofler Otto
Privater
Linzer
Therese Ob.
Mag. Ratsw.
Menzl Therese
Pensionistin
Mückler
Melanie
Modistin
Mussil
Barbara
Raffelsberger
Oscar Hofrat i.
R
Przibil
Richard
Baumeister
Rieder Karl
Lebensmittelh
dlg.
Schwarz
Maria
Private
Taubner
Valerie
Wäschewaren
Trautmann
Friedrich
Dir. Rat
Weindl Franz
Trafikant
Welzl Emilie
Pensionistin
1941
1942
Esel
Anna Mitbesitzerin
120
6 „Verschwundene“ BewohnerInnen bis 1939
6.1 Familie Berta und Isidor Kurtz
Aufgrund des Kaufvertrags vom 24. 1. 1921 ist Berta Kurtz, geb. Herzl, bis zu ihrem
Tod am 18. 7. 1934 in Bad Ischl, alleinige Besitzerin des Hauses Kellermanngasse 8. 258
Nach ihrem Tod ging der Besitz des Hauses zur Hälfte auf ihren Mann Isidor Kurtz, die
andere Hälfte auf ihre Tochter Helene Guyot geb. Kurtz über.259
Die Geschichte der Familie Kurtz beginnt mit dem aus dem slowakischen Egbell ausgewanderten Leopold Kurtz, der als Dorfgeher (Hausierer) nach der Revolution 1848
nach Linz kam und sich dort mit Elisabeth (Betti) Katz verheiratete. Mit elf anderen jüdischen Familien zählte die Familie Kurtz zu den Gründungsmitgliedern der Linzer Isrealitischen Kultusgemeinde.260 Bereits 1860 findet sich am Franz-Joseph-Platz 3 unter
dem Namen „Leopold Kurtz, Hosen, Hemden und Jakette“ ein Kleiderhandel, in welchem Leopold Kurtz aus Gradel Kleidung herstellte und verkaufte. Diese robuste Kleidung fand bei der arbeitenden Linzer Bevölkerung so guten Absatz, dass er sein Ge schäft mit einer Kleider- und Wäscherzeugung erweitern konnte und in Linz mehreren
Filialen gründete, in denen er 40 Arbeiter beschäftigte. Weiter expandierte das Kurtz'sche Unternehmen mit Hilfe seiner Söhne, sodass die Familie Geschäfte in Bregenz,
Linz, Leoben, Salzburg und Steyr besaß und ihre Produkte bis Italien, Rumänien und
Bulgarien ausführte.261
Von seinen sieben Kindern, Isidor, Johanna, Juliana, Josef, Karoline, Heinrich und
Theodor, war Isidor der älteste und Theodor der jüngste. Seine Söhne Isidor, Josef und
Heinrich erwarben 1896 in Salzburg, Linzer Gasse 28 das „Büchsenmacherhaus“. 262
Theodor, der die Konzessionen für das Schneidergewerbe und den Handel mit Wäsche,
Kleidern, Damen- und Herrenmoden besaß, übernahm dieses 1902 und nannte es
Kaufhaus „Zum Touristen“263.
Sein ältester Bruder
„Isidor erhob sich – erhob sich im wahrsten Sinne des Wortes, denn er stellte
eine ungeheure Masse an Körperbestandteilen, hauptsächlich Muskeln dar.“264
Kaufvertrag vom 24. 1. 1921. Das Eigentumsrecht einverleibt für Berta Kurtz allein. Auszug aus dem Grundbuch
Josefstadt, B 156, Stand vom 15. 6. 1927, Anteil 1.
259
Auszug aus dem Grundbuch Josefstadt, 19. 9. 1935, 16764. Auf Grund der Einantwortungsurkunde des Bez. Ger.
Innere Stadt vom 6/7. 1935, 3 et 255/34 wird das Eigentumsrecht einverleibt für a) Isidor Kurtz zur Hälfte b) Helene
Guyot [Anm.d.A. durchgestrichen, mit Bleistift Kurtz darüber geschrieben] zur Hälfte, Anteile ½ ½.
260
Benedikt Schwager, Die Jüdische Kultusgemeinde in Linz und ihre Tempel, Linz 1927, 40.
261
Moshe Yaakow Ben-Gavriel, Die Flucht nach Tarschisch, Hamburg 1963, 68.
262
Zum Gedenken an Theodor Kurtz wurde am 7. 7. 2011 in Salzburg, Linzer Gasse 28 ein Stolperstein verlegt. URL:
http://www.salzburg.com/wiki/index.php/Theodor_Kurtz
263
Theodor KURTZ, der zuletzt in Wien-Leopoldstadt, Große Mohrengasse 16/15, wohnte, wurde am 22. 11. 1942
verhaftet und am 10. 2. 1943 vom Landesgericht Wien wegen »Vergehens gegen die Kriegswirtschaftsverordnung« zu
fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Er starb am 24. 8. 1943 im Zuchthaus Stein mit nur 26 kg Körpergewicht. Wagner,
258
Jüdisches Leben in Linz, 1273-1287.
264
Ben-Gavriel, Die Flucht nach Tarschisch, 69.
121
Er ging nach Wien und heiratete die wohlhabende Juwelierstochter Berta Herzl, deren
Eltern das Geschäft im 1. Bezirk Innere Stadt, in der Spiegelgasse 23 besaßen, ein
großes Antiquitätengeschäft und eine luxuriöse Wohnung. Das junge Ehepaar wohnte
ebenfalls im 1. Bezirk in einem repräsentativen Haus in der Weihburggasse 4 Tür
25.265
Dem Ehepaar Kurtz wurde am 20. 8. 1897 ein Sohn Wilhelm (Willi) und am 3. 8. 1898
eine Tochter Helene (Lilly) geboren. Nach Auskunft der Israelitischen Kultusgemeinde
ist die gesamte Familie Kurtz im Jahre 1922 aus dem Judentum ausgetreten.266
Ein Mal jährlich gab es ein Familientreffen der Familien Kurtz und Töpfer in Bad Ischl,
wo auch die durch Heirat mit den Kurtztöchtern verwandte jüdische Familie Töpfer dabei war. Ebenfalls durch Heirat einer Kurtztochter (Karoline) mit Dr. Höflich Gabor ergab sich eine große Verwandt-schaft, wobei alle Mitglieder der Linzer Kultusgemeinde
waren, angesehene und wohlhabende Großfamilien, die sich durch karitative Tätigkeiten und eine großzügige Stiftung für wohltätige Zwecke auszeichneten.267
Anfang Jänner 1930 war an gleicher Adresse, Weihburggasse 4, das Dienstmädchen
der Familie Kurtz, Anna Esel, gemeldet. 268 Seit 4. 11. 1939 war sie dann ebenso wie
der inzwischen verwitwete Isidor Kurtz (er verstarb 6. 12. 1940), im 2. Bezirk Leopoldstadt in der Glockengasse 18/3-4 bis 2. 2. 1945 mit gemeldet. Das bedeutet, dass
beide aus der Wohnung in der Weihburggasse vertrieben wurden. Im Haus in der Glockengasse 18 wohnten außer Isidor Kurtz auch noch drei andere jüdische Bewohner,
was anhand ihrer aufgezwungenen Zweitnamen „Israel“ zu erkennen ist. Isidor Kurtz
war zu diesem Zeitpunkt bereits ein alter Mann von 79 Jahren und Anna Esel hat sich
nach dem Tod seiner Frau Berta am 18. 7. 1934 vermutlich um ihn und den Haushalt
gekümmert. Das könnte ein Grund sein, dass ihr dann aus Dankbarkeit und aufgrund
eines Beschlusses vom 26. 9. 1942 die Hälfte des Hauses Kellermanngasse 8 als Ei gentümerin vermacht wurde.269 Interessant ist, dass sie aber laut Meldezettel noch bis
zum 2. 2. 1945 in der Glockengasse gemeldet blieb, aber ebenso schon 1942 als Eigentümerin in der Kellermanngasse aufscheint.270
Ein anderer Grund kann sich aus dem Schicksal des Sohnes von Isidor Kurtz, Willi, der
eine Wohnung in der Kellermanngasse 8 Tür 9 hatte, ergeben haben (siehe Seite 12).
Mit 3. 7. 1938 findet sich im Staatsarchiv ein „Verzeichnis über das Vermögen von Juden nach dem Stand vom 27. 4. 1938“, in welchem Isidor Kurtz sein gesamtes VermöWagner, Jüdisches Leben in Linz, 1284. Chaia Grenadier (ihr Vor-und Mädchennname in Österreich war Ottilie
Töpfer), telefonisches Interview, 15. 8. 2003.
266
Wolf-Erich Eckstein, Matrikenamt I, Archiv der Israelistische Kultusgemeinde (IKG), 1010 Wien, Seitenstettengasse
4, vom 19. 12. 2012.
267
Verena Wagner, Jüdisches Leben in Linz, 1273-1286.
268
MA8-B-MEW-7674/2012 vom 7. 12. 2012.
269
1. 10. 1942, 8353, 21 A 1502/40. Auszug aus der Eintragung in Grundbuch Josefstadt. Auf die Hälfte des Isidor
Kurtz o.z. 2a wird aufgrund der Einantwortungs vom 5. Februar 1942, 21 a 1502/40/10 und des Beschlusses vom 26.
September 1942 das Eigentumsrecht einverleibt für Anna Esel. ½.
270
Lehmann 1940, Bd. II, 920.
265
122
gen offenlegen musste, worin unter anderem sein Wohnhaus in der Kellermanngasse
angeführt wird. Nach dem Novemberpogrom hatte sich der Druck auf die jüdischen
EigentümerInnen durch die geforderte Judenvermögensabgabe erhöht. Dementsprechend findet sich in seiner Veränderungsanzeige vom 12. 12. 1938, dass sich sein
Vermögen auf nur mehr 5.270,- RM verringert hat. Er hatte für Bestreiten seines Lebensunterhalts bereits das vom 27. 3. 1938 angegebene Guthaben verbraucht
und
teilweise vom Verkauf von Einrichtungsgegenständen gelebt. Er gibt an, dass das auch
der Grund sei, warum er zwei kleine Waldmüllerportraits und eine Silberkassette aus
seinem Besitz veräußern musste.271
6.1.1 Wilhelm (Willi) Kurtz
Das Schicksal des einzigen Sohnes von Isidor und Berta Kurtz ist ein tragisches. Er ist
einer von Millionen, die durch das nationalsozialistische Regime ermordet wurden. Der
im Jahre 1938 41-jährige Willi Kurtz war, so wie sein Vater Isidor, eine imposante Erscheinung, fast zwei Meter groß und sportlich aktiv beim jüdischen Sportverein Hakoa.
Als Kommerzialrat und gerichtlich beeideter Experte und Schätzmeister hatte er ein
großes Kunst- und Antiquitätengeschäft in der Weihburggasse 12 (der heutigen Ärztezentrale) und eine Wohnung im Haus seines Vaters in der Kellermanngasse 8, Tür Nr.
9. Aus dieser Wohnung ist er vertrieben worden. Auch er musste, wie alle anderen Juden, die ein Vermögen von über 5.000,- RM besaßen, dieses deklarieren. Sowohl sein
Geschäft in der Weihburggasse 12, sein Wochenendhaus im Strandbad Klosterneuburg
als auch der gesamte Wohnungsinhalt wurden geschätzt. Nachdem der jüdischen Be völkerung die Gewerbekonzessionen entzogen wurden, konnten die arisierten Besitzungen an die Volksgenossen zu einem günstigen Preis verkauft werden.272
Am 25. 5. 1939 wurde Franz Haberknapp eine Verfügung der Vermögensverkehrsstelle
zugestellt, dass er einen Wertausgleich von 975 RM für die am 9. 12. genehmigte
Übernahme des Antiquitätengeschäftes des Willi Kurtz in der Weihburggase 12 zu entrichten habe. Das wertvolle Inventar der Kurtz'schen Wohnung wurde am 20. 5. 1938
beschrieben und bewertet. Mit Bleistift geschrieben, findet sich darauf eine Notiz „10
Kisten Königstein [„verladen“? in Kurzschrift, Anm. d. A.] nach Dorotheum“ (siehe Abbildung 1 und 2).
Als größtes Pfand- und Versteigerungshaus des „Dritten Reiches“ verfügte es über die
nötige Infrastruktur, um die geraubten Güter zu Geld zu machen.
„Das Dorotheum arbeitete intensiv mit den NS-Behörden (Gestapo, Zoll- und FiÖsterreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Finanzen, Bestände: VVSt/VA 1879, Vermögensanmeldung vom
3. 7. 1938.
272
ÖSTA, VVSt/VA 45246, 1. 8. 1938.
271
123
nanzbehörden, Gemeinde Wien) zusammen. Diese brachten Raubgut aus jüdischem Besitz – von der Küchenkredenz bis zum Kunstwerk – im Dorotheum zur
Versteigerung ein.“273
Vor dem Haupthaus im 1. Bezirk in der Dorotheergasse bildeten sich über Wochen lange Menschenschlangen. Tonnen von Edelmetall wurden den jüdischen Eigentümern abgenommen, eingeschmolzen und ins „Altreich“ geschickt. Auf Seite vier der Vermögensanmeldung hat ein kommissarischer Verwalter, ein sogenannter „Treuhänder“, für
Willi Kurtz das Vermögensverzeichnis unterschrieben, weil
„Herr W. Kurtz befindet sich seit 4 Monaten in Dachau. Ich der Komm. Verwalter
habe obenstehende Angaben [Schätzung der Wohnung] nach bestem Wissen
und Gewissen gemacht.“274
Auf einer Abschrift der Geheimen Staatspolizei Wien, 1. Österreichertransport nach
Dachau (Prominente) am 1. 4. 1938 findet sich Willi Kurtz [als Willi Kurz] mit Nr. 69
auf der Liste der Deportierten. 275 Wie lange er dort festgehalten wurde, ist nicht mehr
nachvollziehbar, es gibt jedoch seine eigenhändige Unterschrift auf einer Seite im Akt,
mit dem Stempel des Finanzamtes Neubau, Wien 7, Seidengasse 20, vom 20. 12.
1938276 (siehe Abbildung 3). Das spricht dafür, dass Willi Kurtz möglicherweise wieder
nach Wien entlassen worden war. Diese Vermutung findet eine Bestätigung, da es eine
telefonische Information von Chaia Grenadier277 gibt, d. i. (seine Kusine Ottilie Töp-
fer), in der sie berichtet, dass er in der Pogromnacht am 10. 11. 1938 von den
Nazis fast erschlagen wurde, sich seine Schwester Helene (Lilli) Kurtz-Guyot
gerade noch nach Frankreich retten konnte. Warum sich Willi Kurtz nicht ebenfalls retten konnte, ist unklar. 278 Willis Vater Isidor, dem das Haus Kellermanngasse gehörte, war bereits 1940 verstorben, seine Schwester geflüchtet, Willis
Wohnung arisiert. Da wurde im September 1942 das ehemalige Dienstmädchen
der Familie Kurtz, Anna Esel, die neue Besitzerin des Hauses, also einen Monat,
bevor Willi Kurtz am 16. 10. 1942 von Buchenwald mit der Häftlingsnummer
68539279 nach Auschwitz deportiert wurde, das er nicht überlebte. Sein Todeshttp://oe1.orf.at/artikel/204136, (abgerufen am 8. 3. 2013).
ÖSTA, VVSt/VA 45246, 1. 8. 1938, 3.
275
Die österreichischen Nationalsozialisten, vor allem jene im Justiz- und Sicherheitsapparat, hatten schon vor dem
"Anschluss" Listen mit Gegnern des NS-Regimes erstellt. Der Häftlingstransport am 1. 4. 1938 setzte sich vor allem
aus Funktionären des Regimes 1933-1938 sowie prominenten Sozialdemokraten und Juden zusammen.
URL: http://www.doew.at/erkennen/ausstellung/gedenkstaette-salztorgasse/die-etablierung-der-gestapo-leitstellewien (abgerufen am 20. 3. 2013).
276
ÖSTA, VVSt/VA 45246, 1. 8. 1938, 9.
277
Chaia Grenadier, (ihr Vor-und Mädchenname in Österreich war Ottilie Töpfer) telefonisches Interview, 15. 8. 2003,
in: Verena Wagner, Jüdisches Leben in Linz 1849-1943, Bd. II Familien, Linz 2008, 1285.
278
Nach dem Novemberpogrom wurden viele freigelassen, wenn sie bereit waren, unter Hinterlassung ihres
Vermögens, zu emigrieren.
279
Nur im Konzentrationslager Auschwitz wurden Häftlinge auch tätowiert. Einerseits um Verwechslungen von
entkleideten Leichen auszuschließen und andererseits um geflohene Häftlinge leichter zu identifizieren. Normalerweise
wurde die Häftlingsnummer auf den linken Unterarm tätowiert.
URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Kennzeichnung_der_H%C3%A4ftlinge_in_den_Konzentrationslagern (abgerufen am
27. 3. 2013
273
274
124
datum ist mit 9. 12. 1942 angegeben. 280
Abbildung 1: Liste des beschlagnahmten Inventars der Wohnung von Willi
Kurtz.
280
DÖW, URL: http://www.doew.at/result (abgerufen am 20. 10. 2012).
125
Abbildung 2: Liste des beschlagnahmten Inventars der Wohnung von Willi
Kurtz.
126
Abbildung 3: Seite 4 im Vermögensverzeichnis mit dem Hinweis auf den
Aufenthalt von Willi Kurtz in Dachau.
127
6.1.1 Helene (Lilly) Kurtz
Nach dem Krieg gibt es am 21. 9. 1957 eine Eintragung im Grundbuch das Haus Kellermanngasse 8 betreffend:
„Aufgrund der Staatsbürgerschaftsbestätigung vom 13. 10. 1954 und desTaufscheines vom 10. 9. 1957 wird angemerkt, daß der Helene Guyot o. z. 2 B der
Name „Kurtz“ zukommt.“281
Die Tochter Helene (Lilly) Kurtz, verehelichte Guyot, hatte in Wien in zweiter Ehe,
Richard Ernst Alberti nach evangelischem Ritus geehelicht. Auf dem Wiener Zentralfriedhof, Krematorium, befindet sich ein Urnengrab 282 (Abt. 1/3/3/122) aller Mitglieder
der Familie Kurtz und Alberti, welches, wie ich bei meinem Besuch feststellen konnte,
aufgrund des vorhandenen Blumenschmucks, offensichtlich betreut wird.
6.2 Familie Frenkel
Nach Angaben des Historischen Meldeamtes war David Frenkel, geb. 6. 4. 1887 in
Buczacz in Polen, mosaischer Konfession, seit 24. 3. 1938 283 in der Kellermanngasse
8, Tür Nr. 6, in einer 108,53 m² großen Drei-Zimmer Wohnung mit seiner Familie ge meldet. Die Familie bestand aus fünf Personen, dem Ehepaar David und Ester Frenkel,
geb. 1. 4. 1884 Adamovka in Polen, geborene Reiss 284 und deren drei Kinder, Emilie,
Aurelia und Otto. Interessant ist, dass Familie Frenkel zwölf Tage nach dem „Anschluss“ aus ihrer Wohnung im 7. Bezirk Neubau in der Mechitaristengasse 5, in der
sie viele Jahre wohnten, auszog, um nur ca. 100 Meter weiter, in die Kellermanngasse
8, Tür Nr. 6 zu ziehen. Diese hatte Therese Linzer kurz vorher, nach siebenjährigem
Aufenthalt, verlassen.
Herr Frenkel war Geschäftsbesitzer einer Autozubehörhandlung in der Neustiftgasse
36. Das Geschäft befand sich an der Ecke zur Kellermanngasse. Es ist daher möglich,
dass er Hinweise bekam, dass im Haus Kellermanngasse 8 eine Wohnung frei wurde.
Da es sich beim Hausbesitzer Isidor Kurtz und dessen Sohn ebenfalls um Juden handelte, ist es möglich, dass sie sich schon bedingt durch die Nähe der beiden Häuser
kannten und Isidor Kurtz Herrn Frenkel die freie Wohnung angeboten hat. In der Kellermanngasse 3 befand sich eine Tabaktrafik, deren Besitzer, Familie Weindl, 1938
ebenfalls in eine leere Wohnung in der Kellermanngasse 8 gezogen sind. Diese Trafik
kann ein Kommunikationszentrum für die acht Häuser der in der Kellermanngasse leEintragung 7161, Grundbuch Josefstadt vom 21. 9. 1957.
Das Geburtsdatum von Willi Kurtz ist auf dem Grabstein falsch angegeben, er wurde am 20. 8. 1897 geboren. Das
Wort Auschwitz ist falsch geschrieben [Anm. d. A.]
283
MA 8 – B-MEW-6859/2012, vom 9. 11. 2012.
284
In Dokumenten wird der Name auch Ernestine und Estera geschrieben.
281
282
128
benden Bewohner gewesen sein. Hier kann Herr Frenkel, der um die Ecke sein Geschäft hatte, über die freie Wohnung informiert worden sein. Warum die Familie Frenkel aus der Wohnung in der Mechitaristengasse 5 ausgezogen ist, kann nicht festge stellt werden. Möglicherweise wurde ihre Wohnung arisiert.
Herr und Frau Frenkel mussten als Juden ihre Vermögen deklarieren, dazu gehörte,
abgesehen von Herrn Frenkels Autozubehörgeschäft, auch das Warenlager und ein
Wohnhaus in der Schönbrunnerstraße 19 im 5. Bezirk Margareten, das den Eheleuten
zu jeweils der Hälfte gehörte 285 und ein Kraftfahrzeug mit dem Kennzeichen A11673
der Wanderer Werke AG.286 Die Familie hatte die Absicht, das Land zu verlassen, was
sich anhand des Schreibens vom 4. Januar 1939 eines gesetzlichen Vertreters feststellen lässt:
„Betrifft: David Frenkel, VII. Neustiftg. 36
Auf Grund meiner Vorsprache v. 30. v. M. haben Sie bei H. Görlich tel. veranlaßt,
ob die Kontribution v. Hausverwalter H./bur (?) Goda zu entrichten ist.
Selber behauptet, bislang keinen verb. Auftrag erhalten zu haben.
Ich erbitte daher – wegen Beschleunigung der Paßausgabe – eheste endgültige
Erledigung.
Mit bestem Dank Ob(?)
RM: 857.67“287
Unter dem Datum 16. 1. 1939 findet sich im Staatsarchiv von der „Auswanderungsabteilung der Israelitischen Kultusgemeinde, Gebührenbemessungsangelegenheiten“ ein
„Vermögens-bekenntnis“. Offiziell war die Israelitische Kultusgemeinde von den Nationalsozialisten im März 1938 geschlossen und im Mai 1938 unter dem Namen „Jüdische
Gemeinde Wien“ wieder eröffnet worden. Der Leiter der „Auswanderungsabteilung der
Kultusgemeinde“, Benjamin Murmelstein, der für die Emigration der Wiener Juden und
Jüdinnen zuständig war, hat durch seinen Einsatz vielen jüdischen MitbürgerInnen das
Leben gerettet.288 So auch dem Ehepaar Frenkel, das mit 1. 6. 1939“ im Historischen
Meldeamt als nach „Milano abgemeldet“ aufscheint.
6.2.1 Aurelia Frenkel
Eine Tochter der Familie, Aurelia, geb. 25. 11. 1915 in Wien, studierte an der Wiener
Universität Pharmazie, musste diese aber als Jüdin 1937 verlassen. 289 Sie flüchtete
1938 nach Großbritannien und konnte ihr Studium im schottischen Glasgow abschließen, wo sie auch ihren späteren Ehemann, Charles Fund, kennenlernte, mit dem sie in
VVSt/VA 36289 und 36290, 9. 12. 1938.
URL: http://www.technischesmuseum.at/datenbanken-zu-kraftfahrzeugen-in-oesterreich-in-den-1930er-und1940er-jahren.
287
VVSt/VA 36289, Brief vom 4. 1. 1939.
288
URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Zentralstelle_für_jüdische_Auswanderung_in_Wien (abgerufen am 21.1.2013).
289
URL: http://gedenkbuch.univie.ac.at/ (abgerufen am 16.2.2013).
285
286
129
die USA auswanderte.
Ihre 1949 geborene Tochter Claire Fund gab am 26. 10. 2005 Karen Tannenbaum
ein Interview, in welchem sie von der Ausreise ihrer Großeltern David und Ester Frenkel, der abenteuerlichen Flucht ihrer Mutter Aurelia in die Schweiz und der geglückten
Ausreise ihrer Tante Emily und ihrem Onkel Otto berichtete. Aurelia Frenkel starb am
16. 9. 2009 im Alter von 93 Jahren in Brookline, Norfolk County (Massachusetts).290
Nach der 1939 erfolgten Ausreise der Familie Frenkel aus Wien findet sich im Staatsarchiv von der Geheimen Staatspolizei eine mit 25. 4. 1941 datierte „Beschlagnahmeverfügung“, in der das gesamte Vermögen der Familie „aus Gründen der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung mit dem Ziele der späteren Einziehung zu Gunsten des Deutschen Reiches beschlagnahmt“ wurde und ein „Rechtsmittel gegen diese Beschlagnahmeverfügung“ nicht zulässig war. Mit gleichem Datum wurde ein Vermögensverwalter
bestellt, der das „Ausbürgerungsverfahren“ und die „Aberkennung der Staatsangehörigkeit“ eingeleitet hat. „Er ist zur Geheimhaltung verpflichtet.“ Mit 10. 6. 1941 erfolgte in einem Schreiben an die „Arbeitsgruppe 3, Betriebsentjudung“ und „Arbeitsgruppe
4, Liegenschaften“ die endgültige Verfügung über den Verfall des Vermögens der
Familie Frenkel „zu Gunsten des ,Deutschen Reichesʻ.“
Am 5. 1. 1942 erging eine Verfügung der „Abwicklungsstelle der Vermögensverkehrs stelle“ an die Firma Eugen Preyß im 7. Bezirk Neubau, Neustiftgasse 36, betreffend
„David Isr. Frenkel, Handel mit Kraftfahrzeugzubehör.“ Sie schrieb als Wertausgleich
für die „Entjudungsauflage“, den Erwerb und die Übernahme einen Betrag von RM
7.344,- vor, womit die Firma Frenkel arisiert worden war.291
6.3 Therese Linzer
Therese Linzer, geb. 7. 4. 1865 in Wien, geborene Pflieger, Obermagistratsratswitwe,
war seit dem 21. 4. 1934 in der Kellermanngasse 8, Tür Nr. 6, bis zum 1. 3. 1938 gemeldet.292 Dann verließ sie die Wohnung, in welche die Familie Frenkel einzog. Da sie
alleine in der großen Wohnung gemeldet war, ist es möglich, dass sie ausziehen muss te, um der fünfköpfigen Familie Frenkel Platz zu machen. Es kann allerdings auch sein,
dass sie aus dem Haus ausziehen wollte, weil es einen jüdischen Eigentümer hatte.
Sie war eine 73jährige Frau, wobei ihre Wohnungswechsel während der folgenden drei
Jahre umso erstaunlicher erscheinen:
17. 11. 1937 - 28. 8. 1938 – 19, Heiligenstädterstraße 165/1
Karen Tannenbaum, Interviewer in the College of Charleston Liberies, Jewisch Heritage Collection Oral History,
October 26, 2005. Claire Fund recounts how her Jewish parents survived World War II. Her father [...] born in
Yeremsha, Poland, in the early 1900s […] trained as an engineer in France, joined a branch of the French Army, and
ended up in Glasgow, Scotland. There he met his wife, Aurelia Frenkel of Vienna, who had escaped Austria on foot.
291
ÖSTA, VVSt/VA 36289 und 36290.
292
MA 8-B-MEW-6849/2012 vom 9. 11. 2012.
290
130
2. 9. 1938 - 30. 4. 1939 – 6, Esterhazygasse 1/3/17
4. 5. 1939 - 10. 6. 1939 – 17, Neuwaldeggerstraße 23 (Pension Neuwaldegg)
19. 8. 1939 - 3. 10. 1939 – 19, Neustift am Walde 24/1
9. 10. 1939 - 31.1. 1940 – 8, Auersperggasse 21/3/4
1. 2. 1940 - 29. 7. 1941 – 8, Blindengasse 44/5b (Elisabeth Frauenheim)
Da sie als Witwe eines Obermagistratsrates nicht arm gewesen sein wird, könnte sie
ihre Aufenthaltsorte deshalb so oft gewechselt haben, weil sie, wie z. B. in der Pension
Neuwaldegg oder im Elisabeth Frauenheim, Pflege erhielt und dort oder bei anderen
Personen oder Verwandten untergebracht war. Da sie überall gemeldet war, wollte
oder musste sie offensichtlich auch nicht „untertauchen“. Die Pension Neuwaldegg im
Bauhaus-Stil erbaut, in der Frau Linzer einen Monat verbrachte, war ein elegantes Hotel am Rande des Wienerwalds, wie ein Gemälde aus dem Jahre 1929 beweist, das gegenüber der Rezeption des jetzigen Hotels Neuwaldegg hängt.
Das Elisabeth-Heim, gegründet am 28. 6. 1919 als „Verein zur Schaffung von Heimstätten für den Mittelstand", wurde ab Oktober 1940 auf Grund des Reichsleistungsgesetzes für bessarabische (ostrumänische) Umsiedler in Anspruch genommen. Danach,
ab 1. 4. 1941, vom Amt für Volkswohlfahrt der NSDAP, für die erweiterte Kinderlandverschickung und die Unterbringung von Müttern und Kindern aus luftgefährdeten Gebieten. Der Verein wird mit fünf anderen Wiener Wohlfahrtsvereinen zum einzigen
Wiener Wohlfahrts- Heimstättenverein zwangsfusioniert und besaß neben anderen
Heimen das „Kaiserin Elisabeth Frauenheim“ im 8. Bezirk Josefstadt, Blindenheimgasse 44, in dem Therese Linzer ihre letzten fünf Lebensmonate verbrachte. 293 Da es sich
bei diesem Haus um eines einer nationalsozialistischen Organisation handelte, kann
davon ausgegangen werden, dass Frau Linzer keine Jüdin war.
6.4 Familie Dr. Aurel Jalcowitz
Auf Tür Nr. 4 im Haus Kellermanngasse wurde eine 116 m² große Wohnung von Dr.
Aurel Jalcowitz, geb. 17. 6. 1898, in Bukarest, römisch- kath. und Gattin Erna geb. 3.
11. 1909, geborene Marsch, in Wien, seit 3. 8. 1935 bewohnt. Dr. Jalcowitz, der als
Neurologe an der Wiener Poliklinik tätig war, publizierte in verschiedenen in- und ausländischen medizinischen Fachzeitschriften.294
Nach Angaben des Historischen Meldeamtes wurde er mit 8. 5. 1938 nach „Buenos Aires, Amerika“ abgemeldet, seine Frau Erna „bleibt in Wien“. Als Religionsbekenntnis
wird römisch katholisch angegeben, er war aber Jude und „rassisch“ verfolgt. Seine
30-jährige Frau Erna, die in Wien blieb, war ab 30. 7. 1938 im 5. Bezirk Margareten in
293
294
URL: http://www.elisabethheim.at/inhalt3-1.php (abgerufen am 20. 3. 2013).
http://webapp.uibk.ac.at/alo_cat/searchresult.jsp (abgerufen am 18. 3. 2013).
131
der Einsiedlergasse 58/5 gemeldet, mit 11. 10. 1938 jedoch wieder abgemeldet. Vermutlich ist sie dann aus Wien Richtung Buenos Aires ihrem Mann nachgereist.295
Bei meiner Recherche fand sich eine Jalcowitz Ernestine, geb. 1872 in Bacu, und ein
Jalcowitz Hermann, geb. 1856 in Iassi, Rumänien, beide von Beruf Ingenieur, die nach
Wien gekommen
sein müssen, weil sie im Verzeichnis der IKG 1905/204 und 1905/206 als „aus dem
mosaischen Glauben ausgetreten“ vermerkt sind.296
Da deren Alter als Eltern zu dem des Dr. Aurel Jalcowitz passt und auch er in Rumänien geboren wurde, kann mit Sicherheit angenommen werden, dass es sich bei ihm um
ihren Sohn gehandelt hat.
6.5 Valerie (Walli) Taubner
Nach dem „Anschluss“ Österreichs ist Frau Valerie Taubner, geb. 1891 in Wien, geborene Schnee, laut IKG am 25. 3. 1938 aus dem Judentum ausgetreten. 297 Sie war eine
47-jährige Witwe nach Bela Taubner, der am 3. 4. 1937 verstarb. Beide waren seit
1919 im 5. Bezirk Margareten in der Schönbrunnerstraße 55/6 gemeldet. Beim historischen Meldeamt liegt im Akt ein Zettel, auf dem steht,
„Für den Zeitraum 10. 11. 1939 bis zum 8. 12. 1947, 7, Kellermanngasse 8
(keine Türnummer vermerkt), Valerie TAUBNER, Herren- und Damenwäsche, 7,
Lerchenfelderstraße 27, Unternehmer: Walli Taubner, 6 Hofmühlgasse 6, verwitwet“.298
Ab 27. 5. 1939 wohnte Frau Taubner im 6. Bezirk in der Hofmühlgasse. Sie hatte ein
Herren- und Damenwäschegeschäft im Haus Kellermanngasse 8 = Lerchenfelderstraße
27, es kann aber kein Straßenlokal gewesen sein, da das einzige Geschäft des Hauses
schon seit 1936 das Lebens-mittelgeschäft der Familie Rieder war. Mit ziemlicher Sicherheit hat Frau Taubner die frei gewordene Wohnung des Herrn Dr. Jalcowitz übernommen und dort ihr Wäschegeschäft geführt. Bei dem späteren Besitzer dieser Wohnung, Herrn Jandak, der ebenfalls Wäsche- und Blusen-erzeuger war, ist es zu einer
Übernahme des Wäschegeschäftes der jüdischen Frau Taubner gekommen. Auf der
Meldekarte der MA 8 ist von ihr keine Abmeldung verzeichnet, weder von der Hofmühlgasse noch vom Geschäft Kellermanngasse, im Lehmann scheint sie jedoch ab
1941 nicht mehr auf. Frau Taubner hat als Jüdin aber die Zeit des Nationalsozialismus
MA 8– B-MEW-6860/2012, vom 9. 11. 2012.
Anna Staudacher, ...meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben, Frankfurt/M. 2009, 275. Die im Jahre 1868
in Kraft getretenen interkonfessionellen Gesetze waren die Grundlage dafür, dass nur der Austritt aus einer
Religionsgemeinschaft ermöglicht wurde (bisher erfolgte dieser ausschließlich automatisch bei Annahme der Taufe).
Der Austritt erfolgte nunmehr vor dem Wiener Magistrat, ab 1892 vor dem Magistratischen Bezirksamt des Wohnortes.
Ab sofort genügte eine formlose schriftliche Erklärung, Staudacher, Austritt aus dem mosaischen Glauben, 9.
297
Wolf-Erich Eckstein, IKG, vom 19. 12. 2012.
298
MA 8– B-MEW-6861/2012, vom 3. 12. 2012.
295
296
132
überlebt. Ihr Grab Nr. 99, Gruppe J1, befindet sich am Baumgartner Friedhof, auf dem
sie am 30. 3. 1976 beerdigt wurde.
6.6 Ida Ettl
Seit 25. 11. 1935 ist Frau Ettl, geb. 23. 4. 1891 in Wien, geborene Hatzinger, Musike rin, in der Kellermanngasse gemeldet. Das Meldeamt299 gibt als Wohnung Nr. 1 an, was
nicht stimmen kann, da in dieser Wohnung die Hausbesorgerin, Frau Anna Müller,
schon seit 1933 wohnte. Vielleicht bedeutet die Angabe 8/1 Hausnummer 8 und 1.
Stock. Manchmal sind die Angaben des Meldeamtes nicht sehr genau bzw. falsch, da
die mir übermittelten Eintragungen der MieterInnen für die BeamtInnen manchmal
schwer lesbar waren. Frau Ettl ist mit 3. 1. 1940 in die Lerchenfelderstraße 33/26 gezogen, das sind genau zwei Häuser weiter. Auch hier kann vermutet werden, dass sie
über eine frei gewordene Wohnung informiert war oder sie dorthin als ledige Hatzinger
zog und den Namen Ettl erst durch ihre Heirat mit Johann Ettl erhielt. Es könnte sich
bei diesem allerdings auch um ihren Vater oder Bruder handeln, der dort gemeldet
war und auch 1942 dort noch aufscheint. Die Ursache für das frühe Ableben der Ida
Ettl, am 17. 8. 1941 in Wien, als erst 47-jährige, ist nicht bekannt.300
6.7 Barbara Mussil
Geb. am 31. 7. 1872 in Guntersdorf, N.Ö., römisch- kath., geborene Peyfuss, verwitwet nach Gatte Franz, geb. 11. 12. 1858 in Mödlau, verstorben 20. 4. 1918 in Wien,
war seit 18. 5. 1937 in der Kellermanngasse Tür Nr. 12 gemeldet und ist bis zum Ende
1947 bei der MA 8 nicht abgemeldet. Sie ist aufgrund der Eintragung im Lehmann in
der Kellermanngasse nur bis 1941 wohnhaft. Da sie bereits 65 Jahre alt war, kann sie
verstorben sein. Allerdings gibt es von ihr keine Sterbedaten.301
6.8 Dr. Oscar Raffelsberger
Ein Hofrat im Ruhestand, geb. 27. 5. 1867 in Wien, k.k. Landesgerichtsrat, ledig und
römisch-kath., bewohnte seit 16. 5. 1912 die 85 m² große Wohnung Tür Nr. 10 in der
Kellermanngasse. Am 26. 11. 1938 ist er von dort abgemeldet und im 1. Bezirk Innere
Stadt in der Stubenbastei 1/3/9 mit 2. 12. 1938 neu gemeldet. Er hat also 26 Jahre in
der Kellermanngasse gewohnt und es stellt sich die Frage, warum er nach so vielen
299
300
301
MA 8 – B-MEW-6857/2012 vom 9. 11. 2012.
MA 8 – 6857/2012 vom 9. 11. 2012.
MA 8 – B-MEW-6861/2012 vom 9. 11. 2012.
133
Jahren diese Wohnung aufgegeben hat. Er kann gekündigt worden sein oder selbst gekündigt haben, um nicht in einem Haus mit einem jüdischen Besitzer zu wohnen. Es
kann ihm aber auch der Aufstieg in den dritten Stock zu seiner Wohnung, er war bereits 71 Jahre alt, zu mühsam geworden sein. Beides Vermutungen. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass er es sich hat „verbessern“ können und in eine „arisierte“ Wohnung in bester Lage gezogen ist. Er starb am 12. 9. 1944 als 77-Jähriger und ist am
Wiener Zentralfriedhof Gruppe 71C Reihe 8 Nr. 21 begraben.302
6.9 Melanie Mückler
Frau Mückler war Modistin und hatte ihre Wohnung im 6. Bezirk Mariahilf in der Girardigasse 9, ihr Geschäft allerdings in der Kellermanngasse 8. Dieses kann sich aber nur
in einer Wohnung oder den unteren Räumlichkeiten (zwei Räume im Hochparterre, die
später von der Hausmeisterin Frau Müller bezogen wurden) befunden haben, da das
einzige Geschäft des Hauses bereits das Lebensmittelgeschäft des Herrn Rieder war. 303
Nähere Angaben über sie waren nicht zu erfahren.
7 BewohnerInnen vor 1938 bis nach 1945
7.1 Anna Esel
Wie und warum Frau Esel zur neuen Besitzerin der Hälfte des Hauses wurde, kann
heute nur mehr Spekulationen überlassen werden. Sie wurde am 3. 1. 1893 in Höflein
bei Bruck a/d. Leitha geboren, war ledig, römisch-katholisch und „arischer“ Abstam mung, sonst hätte sie dieses Haus nicht erhalten. Vielleicht wollte sie dieses Haus für
ihre ehemaligen Dienstgeber bewahren, vielleicht für die nach Frankreich geflüchtete
Tochter der Familie, der die andere Haushälfte gehörte. Es kann aber genauso gut
sein, dass sie aus Dankbarkeit in den Genuss des Objektes kam, weil sie viele Jahre
mit der Familie zusammengelebt hatte oder als „Arierin“ in den Besitz der Haushälfte
kam.
Solange ich im Haus in der Kellermanngasse wohnte, war sie für die Bewohner „die
Hausfrau“, und Berichte, dass sie die Geliebte von Isidor Kurtz gewesen sei, kann ich
nicht beurteilen.
Dass sie „nur das Dienstmädchen“ war und plötzlich Hausbesitzerin wurde, kann die
Phantasie der HausbewohnerInnen in dieser Hinsicht beflügelt haben. Frau Esel war
MA 8 – B-MEW-6846/2012 vom 9. 11. 2012.
Die Eintragung des Geschäftes der Frau Mückler scheint erst 1942 im Lehmann auf, d.h. dass sie es 1941 gemeldet
hatte.
302
303
134
schon 45 Jahre und um vier Jahre älter als der ebenfalls ledige Willi Kurtz. Dessen Vater, Isidor Kurtz, mit dem sie im 2. Bezirk Leopoldstadt in der Glockengasse 18 gemeldet war, war immerhin schon ein Mann von 79 Jahren.
Ich habe Frau Esel während der 20 Jahre, die ich im Haus lebte, kaum zu Gesicht bekommen. Sie war eine „einfache Person“ 304, schien ein einsames Leben zu führen und
hatte selten Besuch. Wenn wir Kinder im Haus laut waren, wurden wir angehalten,
„wegen der Hausfrau“ ruhig zu sein. Ich hatte den Eindruck, dass sowohl die BewohnerInnen nach dem Krieg als auch sie keinen besonderen Kontakt anstrebten. Da sie
im vierten Stock, damals noch ohne Lift, wohnte, verließ sie ihre Wohnung nicht häufig. Ihren ursprünglichen Namen Esel schrieb sie damals schon mit einem doppelten
„s“.305 Sie hatte neben ihrer Wohnungstür einen kleinen Block mit Bleistift für Mitteilungen aufgehängt. Ich erinnere mich, als Kind auf diesen Zettel einmal „Esel“ geschrieben zu haben, worauf mich meine Mutter deswegen zur Rede stellte. Offensichtlich hatte sich die Hausfrau darüber bei den Hausparteien beklagt. Sie verstarb am 20.
7. 1971 in Wien Penzing, zu diesem Zeitpunkt war ich bereits aus der Kellermanngasse ausgezogen.306
7.2 Anna Müller
Frau Müller war die Hausbesorgerin des Hauses, sie war aus dem Banat. 307 Sie wäre
wohl die gewesen, die am meisten über die Geschehnisse und die Menschen des Hauses hätte Auskunft geben können. Da sie für die Sauberkeit, das Versperren des Haustors um 21 Uhr und das Öffnen bei vergessenem Schlüssel bei Nacht verantwortlich
war, hat sie die Zeit und Lebensformen vor, während und nach dem Nationalsozialis mus und die Fluktuation der MieterInnen miterlebt. Ihren jüdischen Hausherrn genauso, wie später dessen Dienstmädchen als neue Hausfrau, die jungen Frauen, wie u. a.
meine Mutter, die nach den „verschwundenen MieterInnen“ einzogen, und die jungen
Männer, die als Soldaten auf Heimaturlaub kamen. In der Feldpostkorrespondenz meiner Eltern finden sich auch immer „Grüße von der und an die Frau Müller“, und auch
die Erwähnung, dass mein Vater an die Front von ihr Postkarten bekommen hatte. Sie
war es auch, die das verpflichtende Beflaggen des Hauses mit der Hakenkreuzfahne
vom Dachboden aus vorgenommen hat. Ich erinnere mich, dort oben in einem Eck,
eine zusammengerollte Fahne gefunden zu haben, in deren Mitte über einem Loch, ein
Telefonat der Autorin vom 12. 11. 2012 mit meiner ehemaligen Schulfreundin Mag. Angela Stein, geb. Angelides,
die mit mir im gleichen Haus in der Kellermanngasse 8, Tür 6 wohnte.
305
Auf den Zinsvorschreibungen der MieterInnen. Der Pfarrer von Höflein teilte mit, dass sich Frau Anna Esel später mit
einem doppelten „s“ geschrieben hat, also Anna Essel. Telefongespräch der Autorin vom 11. 3. 2013 mit der Pfarre
Höflein bei Bruck/Leitha.
306
MA 8 – B-MEW-7674/2012 vom 7. 12. 2012.
307
Telefonat vom 12. 11. 2012 mit Mag. Stein.
304
135
rot-weiß-roter Fleck dort eingenäht worden war, wo sich früher das Hakenkreuz befand.
Frau Müller bewohnte eine Wohnung im Souterrain, halb unter der Erdoberfläche mit
zwei vergitterten Fenstern zur Straßenseite, was ihrer Gesundheit nicht zuträglich war.
Im Halbgeschoss darüber, dem Hochparterre, befanden sich ebenfalls zwei kleine Räume, die ihr als Schlafzimmer dienten. Heute sind es Lagerräume der Wiener MessingWerkstätte. Gegenüber der Eingangstür zu diesen Räumen befand sich damals ein
Wasserhahn am Gang, da es innerhalb ihrer Räume kein Wasser gab. Vom Historischen Meldeamt gibt es zu ihr keine Meldeunterlagen, da der Name Anna Müller so
häufig ist, dass ohne Geburtsdaten keine Angaben über ihr Ableben bzw. Abmeldung
möglich sind. Nur im Lehmann scheint sie auf. Sie muss aber alt geworden sein, denn
sie hat mich durch meine Jugendjahre insofern „begleitet“, dass ich sie oft nachts,
wenn ich meinen Schlüssel vergessen hatte, heraus läutete, damit sie mir das Haustor
aufsperrt.
7.3 Die Familien Kofler, Welzl, Menzl und Trautmann
Diese vier Parteien, auf Tür Nr. 5, 7, 11 und 12 a haben diese Wohnungen schon Jahre
vor dem „Anschluss“ bewohnt und sind auch bis zu ihrem Tod in diesen geblieben. Familie Kofler auf Tür Nr. 5 bestand aus dem alten Herrn Kofler und dem jungen Ehepaar
Otto Kofler, das gegen Kriegsende eine Tochter bekam. Die beiden anderen Mieterinnen waren während der „NS-Zeit“ bereits Witwen. Emilie Welzl geb. 13. 4. 1884 in
Krakau, römisch- kath. wohnte seit 3. 9. 1929 auf Tür Nr. 7 und starb am 22. 7. 1947.
Frau Therese Menzl wohnte auf Tür Nr. 11, sie war bereits Pensionistin und Witwe, lebte aber mit einem Herrn zusammen, der optisch Mahatma Gandhi ähnlich sah, runde
Brille, kahler Kopf, vergeistigtes Aussehen und ihm auch mit seiner puristischen Klei dung nahe kam. So trug er im Sommer kurze Leinenhosen und Ledersandalen ohne
Socken, er ging barhäuptig, was in einer Zeit, wo die meisten älteren Männer Hüte
trugen, ungewöhnlich war. In der kälteren Jahreszeit hatte er einen Lodenumhang,
was ihm dann ein ländliches Aussehen verlieh. Ich erwähne diesen Herrn, den wir
„Opa Fürst“ nannten, weil er mich als Kind durch seine Erscheinung und seine ange nehme Art beeindruckte. Auch pflegte er zu meinen Eltern einen freundlichen, sich in
einem gewissen Einverständnis beiderseits zeigenden Kontakt. Heute vermute ich,
dass sie ihre ehemalige nationalsozialistische Gesinnung stillschweigend verband.
Auf Tür Nr. 12 a wohnte Friedrich Trautmann, geb. 2. 9. 1874 in Wien, Rechnungs Revident der Wiener Stadtbuchhaltung und römisch- kath. Er war in der Kellermanngasse seit 12. 2. 1912 mit seiner Gattin Clara, geb. 10. 10. 1877 und ihrem Sohn
136
Kurt, geb. am 8. 3. 1905, gestorben am 19. 7. 1920, gemeldet. Die Familie ist somit
die am längsten in diesem Haus bis zum „Anschluss“ lebender Mieter. Friedrich Trautmann ist am 26. 5. 1941 in Wien gestorben, seine Wohnung Tür Nr. 12 a wurde die
der neuen Hausbesitzerin Anna Esel.308
8 BewohnerInnen nach 1939
Im Jahr 1939 finden sich im Lehmann fünf neue Mieter im Haus in der Kellermanngasse. Sie sind in leer gewordene Wohnungen der ermordeten, vertriebenen, verstorbenen oder ausgezogenen Mieter eingezogen. Diese neuen Mieter sind mir alle bekannt,
weil ich mit ihnen bis zu meinem Auszug aus der Kellermanngasse im gleichen Haus
wohnte. Alle haben die „Nazizeit“ und den Krieg überlebt, manche waren überzeugte
Nationalsozialisten, ob sie es nachher auch noch waren, weiß ich nicht. Alle haben davon profitiert, eine frei gewordene Wohnung in einem gutbürgerlichen Haus zu erhalten. Welche Verbindungen sie hatten, um in den Genuss dieser Wohnungen über das
Wohnungsamt zu kommen, ist nicht mehr nachvollziehbar, es können aber eine gewisse Nähe, Mitgliedschaft oder Beziehungen zu einer der Organisationen der NSDAP
nicht ausgeschlossen werden.
Während der letzten Kriegstage, erzählte meine Mutter, sind die BewohnerInnen gemeinsam im Luftschutzkeller des Hauses gesessen, die Männer waren alle eingerückt
und der einzig ältere Mann, Herr Jandak hat nach der Eroberung Wiens durch die Russen, den ängstlichen jungen Frauen und Müttern im Haus geholfen, mit einem Baumstamm das schwere Haustor gegen die Treppen so abzustützen, dass man es von außen nicht aufmachen konnte.
Meine Schulkollegin309 berichtete, dass ihr ihre Mutter erzählte, wie es im Luftschutzkeller auch manchmal „recht lustig zugegangen“ sei, da die Tochter von Frau Weindl,
Herma, „kein Kind von Traurigkeit“ war.
In Erinnerung ist mir das vertraute und höfliche Verhältnis der BewohnerInnen des
Hauses zueinander. Sie hatten seit 1939 in dem Haus gemeinsam den Krieg er- und
überlebt, und das schien für die damals noch jungen Soldaten und Frauen das Verbindende gewesen zu sein, auch später das Schweigen darüber. Auf Nachfrage wurde mir
erklärt, durch die „Auswanderung der Juden nach Amerika“ sei man zu den Wohnungen gekommen. Erklärungen, die im Fall der Familie Frenkel und Jalcowitz nicht unrichtig waren, aber über Willi Kurtz und die anderen war nichts zu hören. Schon möglich, dass die neuen Mieter gar nicht wussten, wer vorher in den Wohnungen gelebt
308
309
MA 8 – B-MEW-279800/2013 vom 11. 4. 2013.
Angela Stein, Telefonat vom 12. 11. 2012.
137
hatte, dass es aber arisierte sein mussten, wird ihnen wohl nicht verborgen geblieben
sein. Dass sie das Verschwinden von Juden und Jüdinnen mitbekommen haben müssen, ist auch klar. Und dass sie nicht alle nach Amerika oder Palästina ausgewandert
sind, konnte man sich aus den Schilderungen der Soldaten, die von der Front auf Heimaturlaub kamen, zusammenreimen. Auch ließen die Rundfunkreden der NS-Führungsspitze keinen Zweifel darüber, was man mit der jüdischen Bevölkerung vorhatte,
nämlich sie auszurotten. Außer meiner Schulkollegin, die auch im Hause wohnte, lebt
niemand mehr, der mir Auskunft über diese Zeit geben könnte. Wir beide haben aber
noch Erinnerungen, über die ich im Folgenden, zu den jeweiligen Mietern, kurz berichten will:
8.1 Leopoldine Angelides
Frau Angelides zog am 11. 5. 1939 mit zwei Söhnen, die beide eingerückt waren, in
die frei gewordene Wohnung der Familie Frenkel ein. Diese ist mit 1. 5. 1939 nach
„Milano“ abgemeldet. Die Enkelin von Frau Angelides, Mag. a Angela Stein, war meine
Schulkollegin. In einem Telefonat teilte sie mir mit, dass in der Wohnung ihrer Großmutter nach dem Krieg zwei ausgebombte Familien, ihre Eltern und Onkel mit Frau
und Kindern lebten. Ihr Vater Rudolf wurde nach ihren Angaben von den Amerikanern
abgeholt und ging in Schärding in Gefangenschaft, weil der Lebensmittelhändler im
Haus, Herr Karl Rieder (nach ihren Angaben) ein „verschlagener Typ“ gewesen sei, der
ihren Vater „vernadert“ hätte. Die Familie Angelides waren, soweit ich von meinen Eltern weiß, wie fast alle im Haus, „feste Nazis“.
8.2 Wilhelmine Rieger geborene Fally
Bei Frau Fally handelt es sich um meine Mutter, die am 15. 8. 1907 in Wien geboren
wurde und in der Wohnung Nr. 8 in der Kellermanngasse mit 5. 11. 1938 als gemeldet
aufscheint.310 Vorher hat sie im Schwesternheim des Allgemeinen Krankenhauses gewohnt. Sie hat die Wohnung in der Kellermanngasse 8, Tür Nr. 8 vermutlich wie alle
anderen über das Wohnungsamt erhalten. Sie war von Beruf Krankenschwester und
1938 noch ledig. Ab Juli 1938 finden sich in einem ihrer Taschenkalender, u. a. Notizen
zu Ausgaben, folgende Eintragungen:
„Juli N.S.F (Nationalsozialistischer Frauenverein 2,50 RM
Deutscher S.V. (Deutscher Schwesternverein) RM 1,August-Dezember monatlich N.S.V. (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt)
RM 1,50, N.S.F. RM 0,50“
310
MA 8-B-MEW-7673/2012 vom 7. 12. 2012 mit einem Vermerk getraut 1942 mit Otto Rieger.
138
Am 28. 9. 1938 wurden die gesetzlichen Vorschriften für die Krankenpflege geregelt
und durch das Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege reichsweit vereinheitlicht. In Österreich trat diese Neuordnung ab dem 2. 12. 1938 in Kraft. 311 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1938 wurden der österreichische Berufsverband und die
Katholische Schwesternschaft Österreichs aufgelöst. Die weltlichen Schwestern mussten sich in die drei im Reich bestehenden Schwesternorganisationen eingliedern. 312 Es
dürften aber bald nach dem Anschluss Krankenschwestern in diese Vereine aufgenommen worden sein. Das ist daran ersichtlich, dass meine Mutter diese Beträge im Juli
1938 das erste Mal einzahlte. Ihre Mitgliedschaft bei einer dieser Organisationen könnte Ausschlag dafür gewesen sein, dass sie, obwohl sie alleinstehend war in Zeiten von
Wohnungsnot, diese Wohnung erhalten hat.
Im November findet sich ein Eintrag über RM 70,80 für drei Monatsmieten, die sie bei
ihrem Einzug im Voraus bezahlen musste. Eingetragen ist auch die möglicherweise illegale Ablöse von 550,- RM, die sie für die Wohnung an eine Frau Cermak, vermutlich
die Hausverwalterin, bezahlte und die sie sich am 29. 10. 1938 von einem befreundeten Geschäftsmann ausgeliehen hatte. Dabei handelte es sich um eine beträchtliche
Summe, wenn man bedenkt, dass dies damals mehr als drei Monatsgehälter waren.
1942 lebte meine Mutter noch immer allein in der Wohnung und das Wohnungsamt
hat ihr vermutlich mit dem Entzug der Wohnung gedroht, weil für sie als Einzelperson
kein entsprechender Wohnbedarf vorlag. Sie hat dem Referenten wohl erzählt, dass
sie und mein Vater, den sie 1938 kennen und lieben gelernt hatte, zu heiraten gedäch ten, da er aber an der Front in Russland unabkömmlich sei, sich die Heirat verzögere.
Diese Umstände sind durch eine Passage in einem Feldpostbrief meines Vaters belegt,
der als Obergefreiter aus Russland schreibt:
„Nun ein ernstes Wort zu der Wohnungsfrage. Es ist schön und gut was Dir der
Referent erklärt hat, doch hat er gewiß noch keine Kugel pfeifen gehört und ist
noch nie um sein Leben gelaufen, viel weniger weiß er was Soldat sein heißt
und was in einem solchen Herzen vorgeht, ferner daß ein Wort welches gesprochen ist auch gehalten wird, wenigstens bei mir. Das Wohnungsamt kann darüber nicht bestimmen und Dir einfach die Wohnung kündigen, wo sie bereits
eingerichtet ist, ferner habe ich da auch noch ein Wort mitzureden und wenn es
den Herren auf dem Amt zu gut geht und nicht im Guten zu verhandeln ist,
dann eben im Schlechten und da will ich sehen, ob man mir mehr glaubt oder
dem Herrn im Frack […].“313
Der Referent am Wohnungsamt schien offenbar an den Heiratsplänen seine Zweifel
gehabt zu haben, daher auch die Äußerung meines Vaters über ein Eheversprechen
„daß ein Wort welches gesprochen ist auch gehalten wird“. Im August 1942 bekam er
dann Heiratsurlaub, sodass sich das Wohnungsamt nicht mehr einschaltete und die
311
312
313
Krankenpflege im Nationalsozialismus, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Krankenpflege_im_Nationalsozialismus/
Karin Jirku, Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der österreichischen Krankenpflege, Dipl. Arb., Wien 2010, 12.
ObGf .Otto Rieger, Feldpostbrief, Russland 4. 3. 1942.
139
Wohnung im Besitz meiner Mutter blieb. Als sie im Herbst 1938 in diese Wohnung ge zogen war, war diese offensichtlich leer, da es in der Feldpostkorrespondenz zwischen
ihr und meinem Vater immer wieder zu einem Informationsaustausch darüber kommt,
welche Einrichtungsgegenstände fehlten und welche sie beabsichtigt zu kaufen. So
gibt er ihr in einem seiner Briefe den Rat, zu schauen, eine Schlafzimmereinrichtung
zu bekommen, weil es sein kann, dass es vielleicht bald keine mehr geben wird. Überhaupt waren für ihn die neuen Einrichtungsgegenstände, sogar Vasen und Bilder, von
großem Interesse, da er sie um Fotos bat, die ihm die entsprechenden Veränderungen
in der Wohnung zeigen sollten. Damit wollte er immer am Laufenden sein und an der
Front in seiner Vorstellung dort, wo sich meine Mutter aufhielt.
Während seiner Heimaturlaube kann davon ausgegangen werden, dass er mit fast allen BewohnerInnen im Haus Kontakt hatte, schon weil er ihnen im Stiegenhaus begegnete und diese von meiner Mutter in Vorfreude über sein Kommen informiert waren.
Sie werden sich dann auch über den Kriegsverlauf und ihre Ehemänner und Söhne an
der Front unterhalten und seine Beförderungen und Auszeichnungen bewundert haben. Da sie noch unverheiratet waren und
wegen des „Getuschels“ und der herr-
schenden Moralvorstellungen der übrigen HausbewohnerInnen, erteilten sie ihrer Beziehung als künftige Brautleute einen offiziellen Status. Mein Vater als „Reichsdeut scher“ schien für die BewohnerInnen etwas Besonderes gewesen zu sein, denn sie ließen ihm durch die Briefe meiner Mutter Grüße schicken, ja sogar die Hausbesorgerin
schrieb ihm Karten an die Front. Auch nach dem Ende des Kriegs, als mein Vater „als
Deutscher“ im Herbst 1945 aus der Gefangenschaft zurück in die Kellermanngasse
kam, wurde er in der Hausgemeinschaft geschätzt, ein Verhalten, das ihm von vielen
anderen Wienern aufgrund seines deutschen Akzents nicht entgegengebracht wurde.
8.3 Leopoldine Hübner
Leopoldine Hübner, Private, findet sich als Mieterin im Haus schon seit 1933 im Leh mann. Sie war auch weiterhin Mieterin einer Wohnung bis nach dem Krieg. Im Nachlass meiner Mutter fand ich von Frau Hübner einen Brief, datiert mit 15. 8. 1945, in
welchem sie meiner Mutter für die „Wege, die sie für mich gemacht haben“ dankt. Bei
diesen Wegen handelte es sich um ihre Pension, bei der es ihr darum ging,
„daß sie nicht verfällt oder verloren geht. Dasselbe hoffe ich auch von meiner
Wohnung und ich bitte sie vielmals mich sofort zu verständigen oder zu mir zu
kommen, wenn Gefahr droht, daß ich sie verlieren sollte.“
Vermutlich stand ihre Wohnung zu diesem Zeitpunkt leer und Frau Hübner wohnte an
einer anderen Adresse in Niederösterreich, da sie meiner Mutter anbot, zu ihr zu kom-
140
men:
„Wenn Sie Erdäpfel brauchen, kommen Sie und holen Sie sich welche. Steigen
Sie in Jedlersdorf od. Floridsdorf ein, da ist die Kontrolle nicht zu streng“.
Im gleichen Brief schreibt sie auch, dass bei einem Transport von Kartoffeln nach Wien
diese beschlagnahmt wurden. Eine Kontrolle der „gehamsterten Waren“ begann durch
die Russen bei der Reichsbrücke. Frau Hübner wohnte dort mit ihrer Mutter, da sie von
dieser im Brief auch Grüße bestellte. Leider ist nicht nachvollziehbar, welche Wohnung
sie in der Kellermanngasse meinte, und auch das Historische Meldeamt konnte darüber keine Angaben machen.
8.4 Familie Franz Jandak
Luise und Franz Jandak hatten bereits eine Wäscheerzeugung im 16. Bezirk Ottakring,
Gaulackergasse 17, bevor sie am 3. 1. 1939 von Valerie Taubner die Wohnung Tür Nr.
4 übernahmen (siehe 6.5 Valerie Taubner). Herr Jandak, seine Frau und zwei Töchter,
Edith und Lisi, nach deren beiden Anfangsbuchstaben er seiner Firma den Namen
„EDLI“314 gab, schneiderten in der großen Wohnung in erster Linie Blusen. Als einziger
Mann im Haus bei Kriegsende vermittelte er den jungen Frauen Sicherheit, er verbarrikadierte das Haustor und half ihnen bei den Schwierigkeiten, die durch die Bomben schäden in der Stadt die Versorgung mit Wasser und Strom zeitweilig unmöglich
machten.
8.5 Familie Richard Pribil
Bei der Familie Richard Pribil handelte es sich um drei Personen, ein Ehepaar und ein
kleines Mädchen, das während des Kriegs geboren wurde. Bereits am 3. 5. 1939 zog
die Familie in die arisierte Wohnung Nr. 9 des Willi Kurtz ein. Dieser war zu dieser Zeit,
bevor er 1942 von Buchenau nach Auschwitz deportiert wurde, im Konzentrationslager
Dachau.
8.6 Familie Karl Rieder
Herr Rieder war der Inhaber eines Lebensmittelgeschäftes im Hause. Das Geschäft
hatte den Eingang genau an der Ecke des Hauses zur Lerchenfelderstraße, seine Wohnung befand sich vier Häuser weiter in der Lerchenfelderstraße 19. Es war mir unklar,
warum die Mieter des Hauses nicht bei ihm einkauften, wo sich das Lebensmittelge314
Angela Stein, Telefonat vom 12. 11. 2012.
141
schäft doch im Haus befand. Dass Herr Rieder während des Kriegs aufgrund der Lebensmittelrationierungen den Müttern für ihre Säuglinge nicht mehr Milch und andere
Nahrungsmittel verkaufte, kann ein Grund dafür sein, warum die Hausbewohner nach
dem Krieg nicht bei ihm einkaufen wollten. Es kann aber auch sehr gut möglich sein,
dass es den BewohnerInnen nach dem Krieg peinlich war, als ehemalige Nationalsozialisten bei dem Mann und seiner Frau, die mit ihm das Geschäft führte, und die ihren
Sohn im Krieg verloren hatten, einzukaufen.
Viele Jahre nach dem Krieg, in den 50-er Jahren, hat mich meine Mutter dann doch
„schnell zum Herrn Rieder“ einkaufen geschickt, wenn plötzlich etwas beim Kochen
fehlte. Ich konnte dann, wenn die anderen Lebensmittelgeschäfte schon geschlossen
waren, hinten beim Lieferanteneingang klopfen und das Gewünschte kaufen. Herr Rieder war immer freundlich und zuvorkommend zu mir, ich fühlte mich aber, weil er und
ich wussten, dass wir sonst in einem anderen Geschäft einkauften, immer peinlich beschämt.
8.7 Familie Franz Weindl
Dabei handelte es sich um das Ehepaar Franz und Maria mit ihrer Tochter Herma, eine
ledige und offenbar lebenslustige junge Frau. „Im Luftschutzkeller ging es mit ihr lustig zu“, wurde Frau Stein von ihrer Mutter berichtet. Das erzählte auch der, gegenüber
in der Kellermanngasse 6 befindliche Friseur, Herr Strangfeld, der ebenfalls bei Gefahr,
so wie andere Bewohner der Umgebung, in diesen Luftschutzkeller kam. Das Ehepaar
Weindl führte eine Tabaktrafik, die sich in der Kellermanngasse 3, also schräg gegen über vom Haus Nr. 8 befand und die sicher ein Kommunikationszentrum der einkaufenden BewohnerInnen in der kurzen Gasse darstellte. Am Wochenende wurden Zeitungen, Kreuzworträtsel, Romanhefte und Zigaretten gekauft. Damals durfte noch in
den Trafiken geraucht werden und so hielt man sich dort auch länger auf. Mit Sicher heit wurde über Politik gesprochen, über arisierte Wohnungen und Geschäfte, HausmeisterInnen und auch Blockwarte werden dort verkehrt sein. So wird auch die Familie Weindl, so wie andere der Zugezogenen aus der Umgebung, über die freie Woh nung in der Kellermanngasse
informiert gewesen sein. Sie zogen am 24. 11. 1938
von ihrer vorherigen Wohnung im 6. Bezirk in der Bürgerspitalgasse 17 aus und in die
Kellermanngassenwohnung Nr. 10, die Herr Raffelsberger verlassen hatte, ein.
142
9 Schlussbetrachtung
Bei den Nachforschungen zu den aus dem Haus Kellermanngasse 8 verschwundenen
BewohnerInnen bin ich auf für mich überraschende Ergebnisse gestoßen. So kenne ich
zwar das Haus, aber niemanden, der einst im Haus wohnte. Schon allein die Suche
nach deren Namen und den dazugehörigen Wohnungen war, trotz der Hilfe des Historischen Meldeamts, ein mühsames Unterfangen. Aber so tragisch die Geschichten mancher dieser Wiedergefundenen sind, so wichtig ist es, sie aus dem Vergessen geholt zu
haben. Dass es sich bei der Anzahl nur um wenige MieterInnen des Hauses handelte,
war ein Vorteil bei meiner Recherche.
Drei Generationen, die ich nachverfolgte, haben in den Wohnungen des um die Jahr hundertwende gebauten dreistöckigen Hauses mit nur zehn Wohnungen und einem
Straßengeschäft gelebt. Die meisten der ersten Generation waren um 1900 geboren
und in einem gutbürgerlichen Milieu aufgewachsen. Sie waren, mit Ausnahme der
Hausbesorgerin, von Beruf höhere Beamte oder Akademiker, ein jüdischer Arzt, jüdische Geschäftsleute wie die Familie Frenkel und der jüdische Hausbesitzer und reiche
Antiquitätenhändler Willi Kurtz. Kurz nach dem „Anschluss Österreichs“ 1938 konnte
der im Haus wohnende jüdische Arzt Dr. Jalcowitz noch rechtzeitig ins Ausland flüchten, ebenso wie das Ehepaar Frenkel unter Hinterlassung seines gesamten Vermögens. Deren drei Kinder, konnten sich jedes auf abenteuerliche Weise vor den Nationalsozialisten retten. Helene, die Tochter des Hauseigentümers Isidor Kurtz, floh noch
rechtzeitig in der Pogromnacht nach Frankreich, ihrem Bruder Willi gelang die Flucht
nicht mehr. Er wurde schon beim ersten „Prominententransport“ nach Dachau überstellt und von dort weiter nach Auschwitz, wo er 1942 ermordet wurde. Nur das
Dienstmädchen der Familie Kurtz überlebte und übernahm als neue Besitzerin das
Haus in der Kellermanngasse 8. Die folgende Generation, die 1938-1939 nach Vermittlung des Wohnungsamts in die von den Nationalsozialisten arisierten Wohnungen zog,
waren „arische“ MitbürgerInnen, wie auch meine Mutter und ihr späterer Ehemann,
mein Vater, ein „Reichsdeutscher“, der sich während der Kriegsjahre an der Front befand. Die neuen BewohnerInnen waren aus einem anderen Milieu als die „verschwundenen“. Es waren Handwerker, Arbeiter, kleine Geschäftsleute und Witwen. Sie waren
durch die Nationalsozialisten in den Genuss von Wohnungen gekommen, was eine Verbesserung ihrer Wohnsituation darstellte und ohne ihre Nähe oder Vermittlung durch
eine nationalsozialistische Organisation nicht möglich gewesen wäre. Der Zusammenhalt dieser Hausbewohner festigte sich im Krieg und hatte zweifellos auch mit ihrer
gemeinsamen nationalsozialistischen Gesinnung zu tun. Nach Ende desselben waren
sie mit den Nachkriegsproblemen so beschäftigt, dass ihre Gedanken sich um ihr tägli-
143
ches Überleben und später den Wiederaufbau drehten. Dass sie den Krieg ablehnten,
war wohl allen gemeinsam. Was das Aufarbeiten der Ursachen desselben betraf,
hatten ich und die Kriegs- und Nachkriegskinder im Haus als dritte Generation, nicht
den Eindruck, dass sie ihre Gesinnung verändert und sich schonungslos ihrer Vergangenheit gestellt hätten. So, wie sie über ihre Vergangenheit nicht oder wenig gesprochen haben, so haben wir auch nicht gefragt, ein Versäumnis, das ich jetzt, wo ich
mich mit der Geschichte des Hauses und seiner BewohnerInnen beschäftigt habe, bedaure. Jetzt, wo die ehemaligen BewohnerInnen, die angeblich nichts von oder über
ihre vertriebenen oder ermordeten VorgängerInnen wussten, bereits verstorben sind,
bin ich die Einzige, die noch in diesem Haus wohnt und die MieterInnen, die nach 1945
dort lebten, kannte. Deshalb habe ich auch über sie berichtet, da es für mich einen
kausalen Zusammenhang zwischen den BewohnerInnen vor 1938 und denen danach
gibt und der die Vorgangsweise eines Systems zeigt, von dem bis heute Menschen
profitiert haben. Im Haus Kellermanngasse 8 hängt eine Hausordnung aus dem Jahre
1920. Hinter Glas und durch ein Schloss gesichert, lesen wir nicht ohne Amüsement
die ehemaligen Vorschriften für das Verhalten von MieterInnen. Tausende Male sind
BewohnerInnen an dieser Tafel vorbeigegangen, ohne dieselbe überhaupt und die Unterschrift darauf wahrzunehmen und, wenn es doch der Fall gewesen sein sollte, sagte
ihnen der Name Willi Kurtz nichts mehr. Mit dieser Arbeit will ich seinen Namen und
der anderen „verschwundenen BewohnerInnen“ aus der Vergessenheit in die Gegenwart holen.
144
10 Abbildungen
•
Abbildung 1: Liste des beschlagnahmten Inventars der Wohnung von Willi Kurtz.
•
Abbildung 2: Liste des beschlagnahmten Inventars der Wohnung von Willi Kurtz.
•
Abbildung 3: Seite 4 im Vermögensverzeichnis mit dem Hinweis auf den
Aufenthalt von Willi Kurtz in Dachau.
145
Cornelia Rosenkranz
Die jüdische Seite
Entwurzelung und Vertreibung meiner Familie – Eine Fallstudie
146
Urheberrechts- und Personenschutzbestimmungen:
Diese Arbeit ist als geistige und selbständige Schöpfung zu bezeichnen und damit
durch das Urheberrechtsgesetz geschützt. Die Arbeit oder Teile davon dürfen nicht
vervielfältigt, zitiert, für andere (auch wissenschaftliche!) Arbeiten verwendet oder
ohne Zustimmung der Autorin an Dritte weitergegeben oder übersetzt werden.
Da es sich bei verarbeiteten Daten um persönliche und private Details zum Teil noch
lebender Personen handelt, ist auch eine mündliche Weitergabe von Informationen
nicht gestattet – aus Respekt vor der Geschichte und dem Willen der behandelten Personen.
Daher möchte ich an die Leser und Leserinnen dieser Arbeit appellieren, die Details
und Informationen der erwähnten Personen unter Verschluss zu halten und diese auch
nicht verbal weiterzugeben. Nicht nur meiner bereits verstorbenen Vorfahren wegen,
sondern da auch meine noch lebenden Verwandten mit zu entscheiden haben, ob dies
an die Öffentlichkeit gelangen soll oder nicht. Da ich diese bei der Entscheidung nicht
übergehen möchte, soll die Arbeit so privat wie möglich bleiben.
Ich habe mich gegen eine Verschlüsselung und Anonymisierung der Namen entschieden, da die Arbeit als wissenschaftlich bezeichnet werden soll und dies daher nur hinderlich, sowohl beim Schreiben, als auch beim Lesen und Nachvollziehen der Quellen
wäre. Sollte es je um eine Veröffentlichung dieses Werkes gehen, werden die Namen
und der Hintergrund der Geschichte aber anonymisiert werden.
Die Dokumente, welche aus Privat- und Familienbesitz zitiert werden, befinden sich
größtenteils im Besitz von meiner Großtante Emilie Friedberg, die mich bei der Quellenfindung sehr unterstützt hat. Auch mein Vater Peter Riesenfeld-Zernhof hat mir viele wichtige Quellen zukommen lassen, ohne die ich diese Arbeit nicht so ausführlich
und vollständig hätte schreiben können. In diesem Sinne auch vielen Dank dafür!
147
Inhalt
1 Einleitung
148
2 Hintergrund der Familiengeschichte
148
2.1 Ort und Zeit
148
2.2 Geschichtlicher Hintergrund
149
2.3 Quellen und Methoden als Grundlage der Arbeit
151
2.4 Vorstellung der Familienmitglieder
152
3 Meine Eltern
153
4 Die jüdische Seite – Die Familie meines Vaters
154
4.1 Die Vorfahren meiner Großeltern
154
und deren Ausgangssituation Anfang der 1930er
4.2 August und Mirjam Berendt
154
4.3 Franz, Hannah und Joseph Mandelbaum
160
4.4 Geschichte meiner Großmutter Margarethe
161
und Urgroßmutter Rosa
4.4.1 Vorkriegszeit
162
4.4.2 Auswanderung nach England (Kriegszeit)
163
4.4.3 Nachkriegszeit
165
4.4.4 Rosa und Johann Friedberg
166
4.5 Sara und Emanuel Riesenfeld
168
4.6 Geschichte meines Großvaters Hermann
169
4.6.1 Vorkriegszeit
170
4.6.2 Auswanderung nach England
170
4.6.3 Nachkriegszeit
172
5 Kurzer Exkurs: Die Familie meiner Mutter – Mitläufer und Gleichgültige?
172
6 Umgang mit dem Holocaust in der Familie und meine Rolle
174
7 Schlussthese und Ergebnis der Forschungen
176
8 Abbildungen
178
148
1 Einleitung
Die Geschichte meiner Familie beinhaltet zwei sehr kontroverse Ursprünge, auf der
einen Seite meine jüdischen Vorfahren, und auf der anderen Seite die sogenannten
„Mitläufer“ die ihre Augen vor dem Antisemitismus und der Realität des NS-Regime
verschlossen.
In Rahmen dieser Arbeit möchte ich mit Hilfe von eingehender Recherche versuchen
meine Familiengeschichte zu entschlüsseln sowie die einzelnen Stationen einiger meiner Vorfahren nachvollziehen zu können. Anhand des Beispiels meiner Familie möchte
ich außerdem zeigen, wie ganze Stammbäume und über Jahrhunderte verwurzelte Familien binnen kürzester Zeit verängstigt, entmündigt, denunziert, ihrer Habe beraubt
und schließlich verjagt (wenn nicht davor sogar deportiert und ermordet) wurden.
All diese Vorgänge sind in der Geschichte meiner Vorfahren und meiner Verwandtschaft wiederzufinden, da viele, die nicht wie meine Großeltern nach England flüchteten, im Zuge des Holocaust – sei es durch die Flucht nach Polen, die Deportierung in
Konzentrationslager oder Suizid – umkamen.
Die Individualität einer Familie oder bestimmter Personen so herauszuheben ist angesichts der Massen, die dieses judenfeindliche System durchlaufen mussten, für mich
unzureichend, beinahe fehl am Platz. Nichtsdestotrotz lässt sich so das Schicksal einer
Familie auf einer kollektiven Ebene kontextualisieren, da eine erschreckend große Zahl
an Menschen einen Weg ähnlich dem meiner Familie gehen mussten – allerdings oft
ohne positivem Ende.
2 Hintergrund der Familiengeschichte
2.1 Ort und Zeit
Was den Ort der Geschehnisse anbetrifft wird Wien im Mittelpunkt stehen, da die gesamte Familie dort ihren Ursprung und ihr Leben hatte. Ab 1938/39 wird auch England
ein starker Bezugspunkt sein, da alle überlebenden Familienmitglieder dorthin auswanderten. Als zeitliche Eingrenzung und Hintergrund der hier dokumentierten Geschichte sollen die Jahre zwischen 1938, ab dem Anschluss Österreichs, bis 1945, also
dem Ende des Zweiten Weltkrieges, behandelt werden. Zu diesen Jahren gibt es die
meisten Unterlagen, wodurch sich ein gutes Bild der Ereignisse rekonstruieren lässt.
Dennoch muss man für eine umfassende Darstellung einige weitere Jahre einbeziehen,
was eine Erweiterung des zeitlichen Rahmens zur Folge hat.
149
2.2 Geschichtlicher Hintergrund
Die Geschichte meiner Familie ist stark von den historischen Ereignissen um sie geprägt. Der Antisemitismus war schon vor 1900 in Europa deutlich zu spüren, in den
am stärksten industrialisierten und urbanisierten Ländern Mittel- und Westeuropas
wurde der bereits seit Jahrhunderten existierende Antisemitismus deutlich verstärkt,
in Wien trug beispielsweise vor allem Karl Lueger zu diesem Umstand bei.
Besonders nach dem Ersten Weltkrieg machte sich die Judenfeindlichkeit verstärkt bemerkbar, den Juden wurde ein Boykott gegen den Krieg vorgeworfen und sie wurden
als Wehrdienst- und Frontverweigerer dargestellt.
„[…] die deutsche Niederlage, das wirtschaftliche Chaos nach dem 1. Weltkrieg
bildeten einen fruchtbaren Boden, auf dem antisemitische Konzeptionen wachsen und immer radikaler werden konnten. Sie mündeten schließlich in eine außergewöhnlich brutale Variante – den Antisemitismus des NS-Regimes Deutschlands [und Österreichs].“315
So wanderten schon allein während des Ersten Weltkrieges bis zu eine Million Juden
aus Europa auf andere Kontinente aus. Schon in den 1930er Jahren gab es Verfolgungen, und obwohl hinsichtlich der Gesetzeslage noch offiziell gleichberechtigt, hatten
die Juden unter der zunehmenden Verschlechterung der Umstände und Lebensbedingungen zu leiden. Speziell der Anschluss und besonders die Pogrome (russisch für Gewitter316) nach dem 10. November 1938, sowie die sogenannte Reichskristallnacht, in
der hunderte Synagogen geplündert, Geschäfte in Brand gesetzt und Juden verhaftet
bzw. sogar ermordet wurden317, änderten die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung in Wien grundlegend.
In Deutschland wurden die Juden bereits seit 1933 aus dem wirtschaftlichen Leben
ausgeschlossen, sie wurden entlassen, verhaftet und ihr Eigentum arisiert, ohne dass
ihnen jegliche rechtliche Ansprüche gewährt wurden. In Österreich dauerte dieser Prozess kaum ein Jahr, wodurch die antisemitischen Gesetze und Regelungen sowie Verbote im Vergleich zu Deutschland für die österreichischen Juden viel plötzlicher eintraten. Da man in Deutschland schon Erfahrung damit gemacht hatte, wie man eine
Volksgruppe aus dem wirtschaftlichen und sozialen Leben schnell und effektiv ausgrenzen kann, wurde dies in Österreich erheblich schneller und konsequenter durchgeführt. Damit blieb den Juden nur eine Chance: Die Flucht. Dazu sagte Adolf Eichmann,
wenige Stunden vor seiner Hinrichtung, auf die Frage:
„Was hätten die Juden tun sollen? Wie hätten sie sich nach Ihrer Meinung wehren können?
Frank Stern (Hg.), Universalgeschichte der Juden. Von den Ursprüngen bis zu Gegenwart. Ein historischer Atlas,
Wien 1992, 186.
316
Ebd., 190.
317
Ebd., 226.
315
150
Eichmann: Verschwinden, verschwinden. Unsere empfindlichste Stelle war, daß
sie verschwinden, ehe sie erfaßt und konzentriert waren […].“318
So gut sie es konnten, versuchten auch meine Großeltern und deren Vorfahren zu
flüchten. Vor allem junge oder relativ wohlhabende Juden suchten um Auswanderungspapiere und Visa für diverseste Ländern an. Dies gestaltete sich meist jedoch
nicht allzu einfach und wurde oftmals auch noch erschwert. Selbst wenn man genug
Geld hatte, musste man zuerst eine ganze Reihe an Steuern zahlen, bevor man einen
Reisepass erhielt.319 Überdies musste man ein gültiges Visum nachweisen können. Jedoch reichte dies in vielen Fällen immer noch nicht aus, tausenden Juden, die in Konzentrationslagern eingesperrt waren, durften trotz der gültigen Auswanderungspapiere
erst dann ausreisen bzw. entlassen werden, nachdem sie erhebliche Geldsummen, Autos und andere Besitztümer als „freiwillige Sprende“ an Parteiortsgruppen sowie einzelene Nazi-Funktionäre hinterlassen hatten.320 Damit war die Auswanderung vorwiegend
mühsam, aber auch sehr teuer.
Eine allgemeine Auswanderungsstelle gab es in diesem Sinne nicht, vielmehr waren es
einige Organisationen, die gemeinsam den Juden bei der Emigration halfen. Die Auswanderung aus Wien wurde von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung forciert,
die von Eichmann ins Leben gerufen wurde und viel daran setzte, die Juden schnell
außer Landes zu bringen. Auch die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien half vielen
Flüchtlingen, ihre Papiere zusammenzutragen. Die Gildemeester- Auswanderungshilfsaktion, die Wiener Zentrale der Quäker und die Gesellschaft der Freunde halfen ebenso; vor allem getauften Juden aber auch Christen, die keinen Ariernachweis erbringen
konnten.321
In England waren die größten Hilfsorganisationen einerseits das Jewish Refugees Committee sowie der Council for German Jewry, andererseits für Christen das International
Christian Comittee und das Church of England Committee for „Non-Aryan“ Christians.322
Wie viele Österreicher tatsächlich nach England emigrierten, ist aufgrund der vielen
verschiedenen Organisationen schwer zu sagen. Britische Behörden gaben etwa
15.000 Menschen an, während die IKG und die Jüdische Historische Kommission von
ca. 30.850 Österreichern sprachen (für den Zeitraum zwischen dem 13. 3. 1938 und
November 1941).323
Götz Aly/Karl Heinz Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus,
Berlin 1984, 90.
319
Wolfgang Benz/Claudia Curio/Andrea Hammel, Die Kindertransporte 1938/39. Rettung und Integration, Frankfurt am
Main 2003, 11.
320
Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 19331943, Frankfurt am Main 1988, 152.
321
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes/Wolfgang Muchitsch, Österreicher im Exil. Großbritannien
1938-1945, Wien 1992, 9.
322
Muchitsch, Österreicher im Exil, 9.
323
Ebd., 8.
318
151
Ab Kriegsbeginn am 1. 8. 1939 kam erschwerend hinzu, dass alle Flüchtlinge aus
Deutschland und Österreich als „enemy aliens“ eingestuft wurden, und daher in Internierungslager kamen, um zu prüfen, ob sie eventuell Spione der Nationalsozialisten
wären und diese bei einer Invasion unterstützen würden. Dafür wurden eigens „alien
tribunals“ errichtet, die diese Tatsache genau überprüfen sollten. 324 Diese klassifizierten 90 Prozent der Flüchtigen als Kategorie C, die als entlastend galt.325
2.3 Quellen und Methoden als Grundlage der Arbeit
Bei den Quellen stütze ich mich zum Teil auf die Methode der Oral History, also auf
Zeitzeugengespräche mit meinen Eltern und Großeltern, sowie deren Geschwistern.
Die Grundlage für meine Arbeit bilden zum größten Teil allerdings Dokumente, die sich
im Nachlass meiner Urgroßmutter befanden, bzw. von meinem Vater aufgehoben wurden.
Auch im Österreichischen Staatsarchiv, sowie im Wiener Stadt- und Landesarchiv fanden sich einige Urkunden, wie z.B. diverse Vermögensanmeldungen (VA). Bei diesen
Dokumenten handelt es sich neben Geburts-, Tauf-, und Sterbeurkunden, den erwähnten VA auch um Briefwechsel zwischen Österreich und England, sowie um verschiedene Anfragen, z.B. auf Erlass von Steuern oder Ansuchen um ein Visum für die Vereinigten Staaten. Aufgrund dieser Quellen war es möglich, ein großer Teil der Geschichte
meiner Familie nachzuvollziehen, die durch die eine oder andere Erzählung erweitert
werden konnte.
Muchitsch, Österreicher im Exil, 53.
Gesellschaft für Exilforschung/Societey for Exile Studies, Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Band 19,
Jüdische Emigration zwischen Assimilation und Verfolgung, Akkulturation und jüdische Identität, München 2001, 107.
324
325
152
2.4 Vorstellung der Familienmitglieder
Abbildung 1: Stammbaum meines Vaters Peter Riesenfeld.
Quelle: Cornelia Rosenkranz.
153
Der hier abgebildete Stammbaum (siehe Abbildung 1) stellt nur die Vorfahren meines
Vaters (Peter Riesenfeld) dar. Leider fehlen zu einigen Personen Geburts- und Sterbedaten, die ich im Zuge meiner Recherche nicht ausfindig machen konnte. Die Namen
in Klammer sind die Mädchennamen der weiblichen Verwandten. Darauf nicht zu finden ist die Schwester meines Vaters (Martina Rudolfs, geborene Riesenfeld) und die
Schwester meiner Großmutter (Emilie Fuchs, geboren als Friedberg 1947). Auch Joseph Mandelbaum hatte laut Vermögensanmeldung seiner Mutter einen Bruder namens Leo, geboren 1902.
Auf die Eltern von Emanuel und Sara, sowie von August Berendt werde ich nicht weiter
eingehen, da mir keinerlei Informationen vorliegen. Der Vollständigkeit halber werden
sie jedoch im Stammbaum angeführt.
Leider ist es mir nicht möglich, alle Mitglieder der Familie einzubeziehen, da mir zwar
immer von etwaigen Cousins und Cousinen meiner Großeltern erzählt wurde, ich aber
weder Namen noch Geburtsdaten ausfindig machen konnte. Daher bleiben mir zu diesen Personen der Familie nur kurze Kommentare, die ich nicht belegen kann.
Den Stammbaum meiner mütterlichen Seite werde ich gegebenenfalls in Kapitel 5
(Kurzer Exkurs: die Familie meiner Mutter: Mitläufer und Gleichgültige) darstellen.
3 Meine Eltern
Durch die Heirat meiner Eltern wurden zwei Familien miteinander verbunden, die in
der Geschichte ihrer Vorfahren wohl sonst eher nicht zueinander gefunden hätten.
Doch waren besonders meine Eltern dabei eher unbeteiligt, auch für meine Großeltern
dürfte die Judenvertreibung und -vernichtung nie eine große Diskussion gewesen sein.
Aber auch hier hat die Zeit eine große Rolle gespielt, die Heirat meiner Eltern Peter
und Gabi fand 1984 statt, als in meiner Familie schon länger keine Debatten über die
Auswirkungen der judenfeindlichen Aktionen mehr geführt wurden. Abgesehen davon
war die mütterliche Seite nie aktiv am Nationalsozialismus oder den Denunziationen
beteiligt, hatte nicht von den Arisierungen profitiert, war aber auch nicht im Widerstand tätig gewesen. Allerdings sei hier anzumerken dass meine Großeltern 1938 gerade mal elf bzw. vierzehn Jahre alt gewesen sind.
Mein Vater Peter hatte immer wieder Nachforschungen angestellt, bei denen er durchaus einiges herausfand. Mein Großvater Hermann erzählte immer gerne von den Ereignissen damals, und hatte auch noch genug Dokumente zur Unterstützung seiner
Erzählungen. Seine Frau, meine Großmutter Margarethe dagegen erzählte zwar immer
wieder Ausschnitte, reagierte auf Nachfragen aber sensibel – das hat sich bis heute
nicht geändert.
154
Auch meine Mutter Gabriele versuchte immer wieder mit ihren Eltern über den Krieg
zu sprechen. Doch die beiden gingen nie ausführlich darauf ein, und antworteten meist
ausweichend. So weiß man nur in etwa, was während des Krieges passierte und dafür
viel mehr über die Nachkriegszeit – da war man gleich um einiges gesprächiger. So
bleibt mir nur, die Ergebnisse meiner Eltern auszuwerten, weiterzuverwenden und weiterzuführen, wie es hier in dieser Arbeit geschehen soll.
4 Die jüdische Seite – Die Familie meines Vaters
4.1 Die Vorfahren meiner Großeltern und deren Ausgangssituation Anfang der
1930er
Zur Zeit des Anschlusses und einige Jahre davor lebten drei Generationen meiner Familie in Wien, meine Großmutter Margarethe Rosenkranz (geb. 1932), ihre Mutter
Rosa Mandelbaum (geb. 1905), und deren Eltern Mirjam und August Berendt (geb.
1877/1874). Vermutlich war Rosa Mandelbaum noch mit Joseph Mandelbaum, dem
leiblichen Vater von Margarethe verheiratet, allerdings weiß man nichts darüber, wann
und wo sich dieser zu jenem Zeitpunkt befand.
Auch von den Eltern des eben erwähnten Joseph ist bekannt, dass sie damals noch in
Wien waren: Franz und Hannah Mandelbaum (in Bezug auf Franz fand ich keine Dokumente, Hannah wurde 1859 geboren). Auch mein Großvater Hermann Riesenfeld (geb.
1919) und seine Eltern Sara (geb. 1986) und Emanuel (geb. 1890) lebten zumindest
bis Anfang 1939 in Wien.
4.2 August und Mirjam Berendt
Zu August und Mirjam sind verhältnismäßig viele Quellen vorhanden, da im Nachlass
deren Tochter Rosa Berendt noch viele Dokumente und Briefe zu finden waren, den noch ist kein vollständige Rekonstrukion ihres Lebens möglich. Trotzdem kann man
anhand der vorhandenen Dokumente auf einige wichtige Stationen und Ereignisse ihres Lebens schließen und sich an einer Nachkonstruktion versuchen.
August wurde als Sohn von Scheie Berendt und Resi, geb. Pler, im Juli 1874 in Wien
geboren, und lebte dort auch bis zu seinem Tod am 17. Mai 1939.
Mirjam Berendt wurde als Mirjam Zernhof am im Mai 1877 geboren, an welchem Ort
ist unbekannt. Zu beiden Personen liegt ein Heimatschein vor, der bestätigt, dass August seit 1903 das Heimatrecht in Wien besaß. 326 In Mirjams Fall besagt er, dass sie
326
Heimatschein von August Berendt, 1903. Privatarchiv von Emilie Fuchs.
155
1902 das Heimatrecht in der Gemeinde Eibenschitz (Politischer Bezirk Brünn) in Mähren inne hatte.327
Was Mirjam dazu bewegte, ihren Lebensmittelpunkt nach Wien zu verlegen, ist ungewiss. Möglicherweise war sie schon seit einiger Zeit mit August liiert, und entschloss
sich deswegen dazu. Auch wirtschaftliche Probleme könnten dazu geführt haben. Auch
wenn keine Heiratsurkunde der beiden vorliegt, gibt es eine kurze Notiz vom oder für
das Rabbinat der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, welche die Heirat von Mirjam
und August im Jahre 1904 bestätigt. 328 Das scheint besonders aufgrund des Umstandes plausibel, dass deren Tochter Rosa Berendt im Jahre 1905 in Wien geboren wurde.
Was sich vor ihrer Heirat und danach bis 1938 ereignete ist nicht mehr nachzuvollzie hen, da keinerlei Unterlagen über diese Jahre vorliegen. Obwohl auf unterschiedlichen
Dokumenten abweichende Adressen angegeben sind, dürften August und Mirjam die
Jahre vor 1938 in der Obkirchergasse 11 im 19. Bezirk gewohnt haben. Dies ist auc h
in Lehmann’s Allgemeinem Wohnungsanzeiger verzeichnet.329
Im Zuge der restlosen Erfassung der Juden ab 1938 in Österreich begann auch für
meine Familie die Vermögensanmeldung (VA), Enteignung und Arisierung. Somit wurde die von der Verkehrsvermögensstelle (VVSt) durchgeführten Vermögensanmeldungen für August nach dem Stand vom 27. 4. 1938 gültig. Götz Aly schreibt zu den VA:
„Sie zwang die Juden, ihr gesamtes Vermögen detailliert gegenüber den Finanzämtern zu deklarieren, sofern es 5000 Reichsmark überschritt. […] Von nun an
war anzuzeigen, wenn das Vermögen sich veränderte oder umgeschichtet wurde.“330
So ist im Staats- und Landesarchiv Wien noch Augusts Anmeldung einzusehen. August
führt auf allen Dokumenten den Titel Ingenieur an, was das genau heißt, wird in der
VA erkenntlich; dort führt er unter Beruf oder Gewerbe „Oberbaurat der Bundesbahnen i.R.“ an.331 Er gibt an, eine Pension der Bundesbahnen zu beziehen, dies seit September 1923 und auf Lebensdauer. Seit wann er aber bereits in Pension war, ist nicht
angegeben. Sehr wahrscheinlich ist, dass er im Zuge der Massenentlassungen der
Bundesbahnen wegen der Sanierung des Staatshaushaltes pensioniert wurde. Weiters
schreibt er, in der Canevagasse 5 eine Handelsagentur besessen zu haben, deren
Nichtvertrieb am 1. 7. 1938 angemeldet wurde. Mehr Informationen zu diesem Unternehmen gibt es nicht, aber es ist möglich, dass diese Agentur seiner Gattin Mirjam gehört hatte, aber auf ihn angemeldet war, oder er sich nach der Zwangspensionierung
nach weiteren Einkünften umschauen musste, und so die Agentur gründete.
Heimatschein von Mirjam Berendt, 1902. Privatarchiv von Emilie Fuchs.
Urkunde vom Rabbinat der Israelit. Kultusgemeinde Wien. Notiz, 1904. Privatarchiv von Emilie Fuchs.
329
Obkirchergasse 11, 1938. URL: http://www.digital.wienbibliothek.at/periodical/pageview/271224 (abgerufen am 13.
1. 13 um 17:37).
330
Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2006, 56.
331
Hierzu, sowie die nachfolgenden drei Absätze: ÖStA., Vermögensanmeldung zu August Berendt, 12. 7. 1938, 1-4.
327
328
156
Aus den Unterlagen ist auch zu entnehmen, dass er bei einer Gesellschaft oder Person
in Bradford, England, seit Ende 1937 Schulden hatte, und zwar wegen „englischer
Stoffe“.
Überdies hatte er eine Lebensversicherung zu 19.169 RM bzw. 22.464 Goldschillingen
bei der Versicherungsgesellschaft „Victoria zu Berlin“. Unter Luxusgegenständen führt
er 4 Teppiche zu ca. 200 RM an, sowie einen Ring, eine goldene Uhr und ein Armband.
Unter Wertpapieren schreibt er von einer 6%igen Schuldverschreibung der Stadt Wien
um 4000 Schilling, von denen 2000 S. seiner Gattin Mirjam gehören sollen, und einer
Trefferanleihe zu 500 S. Bei den Bemerkungen erwähnt er extra, dass neben der Trefferanleihe auch die Lebensversicherung an Mirjam gehen sollte.
Neben der VA liegt noch ein Bescheid für die Vermögensverkehrsstelle vom Dezember
1938, die die 20%ige Kontribution für Juden betrifft. Darin bittet August, diese Kontri bution nicht auf seine Pension, die RM 228,- beträgt, anzuwenden. Dazu bemerkt er,
dass er die oben erwähnte 6%ige Schuldverschreibung der Stadt Wien bei der österr.
Creditanstalt verkauft hat, weil er den Erlös für die Führung des Haushalts brauchte.
Die NS-Maßnahmen gegen Juden, sowie diverse Abgaben und Schikanen hatten die
totale Verarmung jener zur Folge.
Dieses Dokument zeigt besonders deutlich die bürokratische Erfassung der Juden und
ihres Vermögens, das bis ins kleinste Detail aufgenommen und später meist enteignet
wurde.
Als letztes Dokument zu August liegt noch seine Sterbeurkunde vor, die bereits ein
Jahr nach der VA ausgestellt wurde. Demnach starb er am 16. 5. 1939 um 20 Uhr „vor
dem Hause Wien, IX., Währingerstraße 16“ 332. Als Todesursache wird Herzlähmung angegeben.
Diese Umstände seines Todes finde ich äußerst kurios und verdächtig. Um 20 Uhr
Abends hatten Juden bereits Ausgangssperre 333, außerdem war er erst in seinem 66.
Lebensjahr. Es deutete soweit nichts auf eine schwere Erkrankung oder schlechten Gesundheitszustand hin, was mich zu dem Schluss führt, dass dies möglicherweise kein
natürlicher Tod war. Gewaltakte und Aktionen gegen Juden waren schon seit dem Anschluss sowie der Reichskristallnacht an der Tagesordnung.
Diskriminierungen, De-
nunziationen und auch Ausschreitungen waren nicht selten. Wie brutal diese waren,
wird von Anthony Grenville geschildert:
„Die Wiener Bevölkerung im Allgemeinen legte in ihrem Verhalten den jüdischen
Bürgern gegenüber einen unerwarteten Hang zur Grausamkeit an den Tag, der
oft einfach aus Habsucht und dem Wunsch nach Ausnutzung einer Gelegenheit
zum eigenen materiellen Vorteil resultiert. Wie Ernst Flesch schilderte, trat daSterbeurkunde von August Berendt, 1939. Privatarchiv von Emilie Fuchs.
Horst Matzerath, Bürokratie und Judenverfolgung, in: Ursula Büttner, Die Deutschen und die Judenverfolgung im
Dritten Reich, Frankfurt am Main 2003, 130-159, 143ff.
332
333
157
bei neben materiellen Motiven auch ein primitiver Sadismus auf: ‚Zuallererst
zwangen sie die armen älteren Juden, das Trottoir zu schrubben. Sie wissen ja,
sie machten sich über sie lustig, sie versetzten ihnen Fußtritte. Es gab in Wien
sehr viel Sadismus, trotz des goldenen Herzens der Wiener […].“334
In Zuge dessen ist es gut vorstellbar, dass August einem dieser Angriffe zum Opfer
gefallen ist. Aber dies bleibt nur eine Vermutung. Nach dem vermeintlich plötzlichen
Tode Augusts war Mirjam mit ihrer Tochter Rosa auf sich allein gestellt. Von ihr sind einige Akten zu diversen Anträgen erhalten, beispielsweise auf die Löschung eines Kontos sowie die Bitte um Erlassung der 5. Juva-Rate sowie Nachweise der Verwendung
von diversen Beträgen.
Die sogenannte Juva, die Judenvermögensabgabe war eine am 21. 10. 1939 eingeführte Steuer, die quasi als Sühneleistung von den Juden an das Reich galt und von
diesen bezahlt werden musste.335 Die Summe betrug für alle Juden im Deutschen
Reich eine Milliarde RM – um diese einzutreiben, musste jeder Jude zuerst 20%, dann
25% seines Vermögens abgeben, weil man die Höhe des Betrages sonst nicht erreicht
hätte.336 Für Juden, die aus dem Wirtschaftsleben bereits mittels der Arisierungen enteignet und gekündigt worden waren, waren 20% eine große Summe, viele konnten
dies nicht finanzieren, was deren Ruin zu bedeuten hatte. Dieser Prozentsatz war spätestens bis zum 15. 8. 1939 in vier Raten zu zahlen. Die bereits erwähnten zusätzlichen 5%, die dann am 15. 11. 1939 fällig wurden, wurde auch die 5. Juva-Rate genannt.337 Darauf bezieht sich Mirjam in ihrem zweiten Antrag mit der Bitte, die 5.JuvaRate zu erlassen bzw. diese zurückzuerstatten. Der erste Teil der Judenvermögenssteuer in der Höhe von 2.800 RM wurde bereits vor dem Tod von August bezahlt. 338 Die
5. Rate, welche im November desselben Jahres fällig wurde, konnte sie sich laut ihrer
Bitte nicht mehr leisten.
Vorerst bleibt unklar wieso sie kein Geld hatte, obwohl August in der Anmeldung seines Vermögens doch eine recht hohe Lebensversicherung angegeben hatte. Ein Hinweis darauf findet sich bei Götz Aly in seinem Werk Hitlers Volksstaat. Dieser schreibt
im Kapitel „Arisierung für den Krieg“:
„Mit Hilfe der Reichsfluchtsteuer und immer restriktiveren Ausfuhrvorschriften
für Devisen, Aktien, Briefmarken, Schmuck, Gold, Edelsteine und Silber, Kunstwerke und Antiquitäten versuchte sich der deutsche Staat nach Kräften zu bereichern. […] [Aber] Juden konnten noch über ihre Lebensversicherungen und
Anthony Grenville, Stimmen der Flucht. Österreichische Emigration nach Großbritannien ab 1938, Wien 2011, 96ff.
Grenville, Stimmen der Flucht, 144.
336
Deutsches Reichsgesetzblatt Teil I, Jahrgang 1939, Erstes Halbjahr, Nr. 207, 2059, Zweite Durchführungsverordnung
über die Sühneleistung der Juden vom 19. 10. 1939, 21. 10. 1939. ALEX Historische Rechts- und Gesetzestexte
Online,
URL: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=dra&datum=1939&size=45&page=2290, (abgerufen am 17. 1. 2013).
337
Gabriele Anderl/Dirk Rupnow, Die Zentralstelle für Jüdische Auswanderung als Beraubungsinstitution, Band 1, Wien
2004, 246.
338
Judenvermögensabgabe, Bitte um Erlassung der 5. Juva-Rate, Mirjam Sara Berendt, 1940. Privatarchiv von Emilie
Fuchs.
334
335
158
Aktien verfügen, sie konnten sich aussuchen, wie sie ihr Vermögen anlegten.“339
Das heißt dass trotz der Arisierungen und der in Beschlagnahme der im Zitat erwähnten Gegenstände, müsste sie die Versicherung erhalten haben, da sie zumindest gesetzlich offiziell nicht beschlagnahmt wurde.
In diesem Antrag weißt sie außerdem darauf hin, dass sie nur mehr Untermieterin in
einem kleinen Kabinett wäre und ihre Möbel, die ihr letzter Besitz sind, nur wenig wert
sind (200-250 RM).
Weiter führt sie an:
„Am 3. 1. 1940 wurde gegen mich die Exekution durchgeführt und bei derselben
die Einrichtungsgegenstände und ein Betrag von RM 300,-- gepfändet.
Aus diesen Gründen stelle ich die Bitte:
1./ die 5. Juva-Rate zu erlassen und der Finanzkasse Währing den Auftrag zu
erteilen, den Betrag von RM 300,-- an mich zurückzuerstatten,
2./ bis zur Erledigung dieses Gnadengesuches die Exekution aufzuschieben.“340
Offensichtlich konnte sie die Rate im November nicht zahlen und wurde deswegen gepfändet. Nicht klar ist, wieso sie bittet die Exekution aufzuschieben, wenn diese bereits durchgeführt wurde. Möglicherweise bezieht sie sich aber auch auf eine weitere
Exekution.
Dem obigen Antrag dürfte nicht sofort stattgegeben worden sein, denn in ihrem
nächsten Antrag vom 08. 1. 1940 (nur 4 Tage später) bittet sie um die Stundung der
5. Juva-Rate.341
In einem weiteren Schreiben an das Finanzamt Währing gibt Mirjam als Betreff die erneute Erlassung des Betrages an, allerdings mit einem Nachweis von diversen anderen
Beträgen, die sie zu zahlen hatte. Aus diesem Akt geht hervor, dass sie tatsächlich die
Lebensversicherung von August geerbt haben dürfte und ihr Vermögen im November
1938 demnach 15.405 RM betrug. Allerdings führte sie im Anhang, wie es scheint
nach einer Aufforderung, eine ganze Liste an Ausgaben an, die erklären was mit dem
Geld passierte.342
Hier unter anderem angeführt: die Erhaltungskosten für ihre Tochter Rosa und deren
Tochter Margarethe, da Rosas Ehemann sie verlassen hatte und sie kein Geld besaß.
Weiters hat sie die Übersiedlungskosten ihrer Tochter, sowie die Anschaffungen der
Fahrkarten nach England für Rosa und Margarethe und deren weitere Ausreisekosten
bezahlt. Sie musste Brenn- und Heizmaterial anschaffen, ihre eigene Wohnung auflassen und übersiedeln, diverse Steuern und das Begräbnis von August bezahlen, sowie
Aly, Hitlers Volksstaat, 54.
Judenvermögensabgabe, Bitte um Erlassung der 5. Juva-Rate, Mirjam Sara Berendt, 1940. Privatarchiv von Emilie
Fuchs.
341
Judenvermögensabgabe, Stundungsgesuch, Mirjam Sara Berendt, 1940. Privatarchiv von Emilie Fuchs.
342
Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Judenvermögensabgabe, Nachhang zu der Bitte um Erlassung der 5. Juva- Rate
mit Nachweis der Verwendung von Beträgen, 1940. Privatarchiv von Emilie Fuchs.
339
340
159
für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen.
Mirjam machte außerdem die Angabe, dass ihr Gatte einem Betrüger zum Opfer gefallen war, dem er 1.800 RM zahlte, um nach Paraguay emigrieren zu können. Dies konnte ich nicht belegen, wäre aber aufgrund der zahlreichen Emigrationen von Juden nach
Südamerika durchaus vorstellbar.
Aus diesen Aufzeichnungen geht deutlich hervor, dass ihr vom Erbe ihres Gatten quasi
nichts übrig blieb, sie schreibt erneut:
„Aus diesem Grunde wiederhole ich die Bitte: die 5. Juva- Rate abzuschreiben
und die bei der Pfändung abgenommenen RM 300,-- mir zurückzustellen.“
Ob diesem Antrag je stattgegeben wurde, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen. Das
letzte Schreiben ist mit 19. 3. 1940 datiert, weitere Dokumente von ihr existieren
nicht mehr.
Einzig die Nachricht von ihrem Ableben ist noch erhalten, nämlich in einem Briefwechsel ihrer Tochter Rosa mit einer gewissen Klara Rosenfeld, deren Identität und Beziehung zu meiner Familie ich nicht klären konnte. Der einzige Hinweis auf Klara, welchen
ich finden konnte, ist die Ähnlichkeit ihrer Adresse in Wien, mit der von Hannah Mandelbaum (siehe Kapitel Franz, Hannah und Joseph Mandelbaum), der Schwiegermutter
von Rosa. Beide wohnten in der Czernigasse im 2. Bezirk, nur drei Hausnummern von
einander entfernt. Damit wäre vorstellbar, dass Klara und Hannah Nachbarn waren,
Klara in Wien verblieb und Rosa Bericht über die Vorgänge in Wien erstattete. Dies
sind aber nur sehr vage Vermutungen, die ich leider nicht belegen kann.
Die Nachrichten zwischen den beiden wurden jedenfalls von der War Organisation of
the British Red Cross and Order of St. John weitergeleitet und lauteten wie folgt:
„LIEBSTE KLARA DANKE FUR ALLE LIEBE ANTEILNAHME BITTE SCHREIBT GENAUESTE TODESURSACHE OHNE VERHEIMLICHUNG. BEKAM MUTTI NOCH MEINE LETZTE NACHRICHT? WO SIND ALLE SCHWESTERN? ALLERHERZLICHST
ROSA.“
Klaras Antwort:
„Mein Liebes! Mutti bei grosser Hitze leblos auf Vaters Grab aufgefunden. Dein
letzter Brief zu spät eingetroffen. Angehörige abgereist
Schreibe. In Liebe
Klara“343
Die erste Nachricht ist mit 14. 9. 1942 datiert, während die Antwort am 20. 10. desselben Jahres erfolgte. Der kurze Nachrichtenwechsel stimmt überein mit den mündlichen, bis jetzt nicht bewiesenen, Erzählungen meines Vaters und seiner Mutter Margarethe über den Tod von Mirjam. Sie habe 1942 den Bescheid für die Deportation in ein
Vernichtungslager erhalten und wollte eher durch eigene Hand (durch die Einnahme
War Organisation of the British Red Cross and Order of St. John, Rosa Mandelbaum und Klara Rosenfeld, 1942,
Privatarchiv von Emilie Fuchs.
343
160
von Gift) und an der Seite ihres Mannes sterben, als deportiert zu werden. Den Beweis
für die anstehende Deportation und die tatsächliche Vergiftung konnte ich nicht finden,
klar ist aber, dass Mirjam 1942 in Wien starb, im Alter von 65 Jahren und in den
Jahren vor ihrem Tod gedemütigt, enteignet, denunziert und entwurzelt wurde. Ihr
Mann starb schon vor Beginn des Krieges, und auch Ihre Tochter und Enkeltochter
waren bereits 1938 nach England ausgewandert, damit hatte sie auch keine Familie
mehr in Wien. Mirjam ist als Opfer des Holocaust auch in der Central Database of
Shoah Victim’s Names angeführt.344
4.3 Franz, Hannah und Joseph Mandelbaum
Über diesen Teil der Familie ist wenig bekannt und nie viel gesprochen worden. Hier
sollen sie deshalb nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Joseph hat Rosa
Mandelbaum in der Zeit zwischen Margarethes Geburt und Kriegsbeginn verlassen,
seitdem wollte niemand mehr über ihn sprechen. Auch sein Verbleiben und weiteres
Leben sind weitgehend unbekannt.
Eher durch Zufall fand ich im Staatsarchiv die Vermögensanmeldung zu Hannah Mandelbaum, die ich hier kurz analysieren möchte.
Hannah wurde im Jänner 1859 als Hannah Neumann geboren. Wo ist unklar, da in
Wien jedoch keine Geburtsurkunde zu finden war, ist anzunehmen, dass sie nicht aus
der Bundeshauptstadt kam.
Von ihr erhalten ist nur die oben erwähnte VA, aus welcher auch nicht allzu viel her auszulesen ist, da Hannah kaum Angaben machte. Aus der VA geht nur hervor, dass
sie die Witwenpension ihres Gatten erhielt (Franz war schon vor der VA im April 1930
verstorben, die Anmeldung stammt vom 14. 7. 1938), die sie seit 1. 5. 1930 bezogen
hatte. Weit interessanter sind ihre Bemerkungen am Ende der VA:
„Ich beziehe von der Reichsbahn nach meinem am 11. IV. 1930 verstorbenen
Gatten Ing. Franz Mandelbaum eine Witwenpension von RM 220.18 monatlich.
Ich bin am 2. I. 1859 geboren. […] Ich muß meinen arbeitslosen, weil arbeitsunfähigen, Sohn Leo Mandelbaum, geb. 22. I. 1902 erhalten und habe diese
Unterhaltslast mit RM 75,- monatlich bewertet.“345
Dies ist deshalb interessant, weil ich dadurch nicht nur erfuhr wann Franz gestorben
war, sondern auch, dass dieser bei der Reichsbahn gearbeitet hatte. Auch zu ihm sind
sonst keinerlei Dokumente vorhanden, nur auf dem Geburtsschein von Joseph ist er
als Ingenieur der Staatsbahnen vermerkt.
Weiters bezieht sich Hannah auf ihren zweiten Sohn Leo, von dem mir sonst ebenfalls
The Central Database of Shoah Vicitms’ Names, URL: http://db.yadvashem.org/names/nameDetails.html?
itemId=4959928&language=en (abgerufen am 17. 1. 2013).
345
ÖStA, Vermögensanmeldung zu Hannah Mandelbaum, 1938, 4.
344
161
nichts bekannt ist, außer dass er drei Jahre nach seinem Bruder Joseph geboren wurde, und wohl im Alter von 36 Jahren arbeitsunfähig wurde.
Vermögen hatte sie sonst keines angegeben, deswegen bleiben auch nach der Auswertung der VA noch viele Fragen offen.
Das letzte Dokument, das mir zu diesem Zweig der Familie noch vorliegt, ist die Ge burtsurkunde von Joseph Mandelbaum. Dieser wurde demnach am 9. 5. 1899 in St.
Veit an der Glan geboren, wie es das Israelitische Matrikelamt für Steiermark, Kärnten
und Krain bestätigt. Die Betonung liegt hier auf „Bestätigung“, da es sich um keine
Geburtsurkunde handelt, sondern diese wohl erst auf Wunsch sechs Jahre später, am
6. 9. 1905, verfasst wurde.346
Besonders Joseph hätte mich als mein leiblicher Urgroßvater sehr interessiert, aber
mehr ist mir zu seinem Leben leider nicht bekannt und auch meine Familie möchte
nicht über ihn sprechen. Nur dass er im Jahr 1928 meine Urgroßmutter Rosa geheiratet hat und mit ihr meine Großmutter zeugte, ist noch nach zu verfolgen. 347 Nachdem
er die beiden verlassen hatte, hat in der Familie niemand etwas Neues erfahren bzw.
jemals wieder von ihm gehört. Auch was mit Hannah geschah, bleibt unbekannt.
4.4 Geschichte meiner Großmutter Margarethe und Urgroßmutter Rosa
Die Erzählungen über Rosa und Margarethe sind aufgrund der Quellenlage und Oral
History bereits wesentlich einfacher nachzuvollziehen. Die Nähe zu meiner Generation
macht sie darüber hinaus auch spannender. Rosa kannte ich selbst noch persönlich,
sie starb als ich zehn Jahre alt war. Meine Großmutter Margarethe lebt bis heute noch
in Wien und aus Respekt ihr gegenüber möchte ich ihr hier auch weniger Beachtung
zukommen lassen. Mit der Befürchtung, ich könnte etwas über sie und ihre Familie
veröffentlichen, hatte sie mir bei ihren Erzählungen (welche sie häufig und detailreich
tätigte) nie Daten und Namen verraten. Dies möchte ich auch hier berücksichtigen und
sie nur am Rande erwähnen, anstatt sie in den Mittelpunkt zu stellen.
Rosa Mandelbaum wurde 1905 in Wien geboren, wo sie auch aufwuchs. Ihre Eltern
sind die bereits erwähnten August und Mirjam Berendt, sie blieb deren einziges Kind.
Über ihre Jugend ist an dieser Stelle wenig zu sagen. Sie wuchs in einem judenfeindlichen Wien auf, legte nichtsdestotrotz die Reifeprüfung ab und begann 1925 ein Pharmaziestudium, dem sie mindestens sieben Semester (bis 1928) nachging.348
1928 heiratete sie Joseph Mandelbaum, der sie in den Jahren zwischen 1930 und 1938
Geburtsschein von Joseph Mandelbaum, 1905. Privatarchiv von Emilie Fuchs.
Heiratsurkunde Hermann und Margarethe Riesenfeld, 1953. Darauf sind auch die Eheschließungen der Eltern beider
Partner vermerkt, Familienarchiv.
348
Meldungsbuch Rosa Berendt, Universität zu Wien, 1925. Privatarchiv von Emilie Fuchs.
346
347
162
verließ (siehe Kapitel Franz, Hannah und Joseph Mandelbaum).
4.4.1 Vorkriegszeit
Alsbald Rosa die Situation ihrer Familie und ihre eigene erkannte, setzte sie alle Hebel
in Bewegung um auswandern zu können. So dürfte sie gegen Ende des Jahres 1938
oder Anfang 1939 um ein Visum für England angesucht haben. Das früheste Dokument, dass sich dazu in ihrem Nachlass fand, ist vom 8. 5. 1939 vom British Passport
Control Office:
„Das Koenigliche Britische Passamt erlaubt sich, Ihnen mitzuteilen, dass fuer Sie
die vorgenannte Einreisbewilligung eingegangen ist. Das Visum wird erteilt gegen Einsendung des gueltigen, nicht kurz befristeten Reisepasses, eines nur von
einem der unten angegebenen Aerzte ausgestellten Gesundheitsattestes und
des beiliegenden, genau ausgefuellten Fragebogens, falls derselbe nicht schon
vorher eingereicht wurde.“349
Diese Bestätigung galt für Rosa und Trude Mandelbaum und war für sie die einzige
Möglichkeit, der ihnen so feindlich gesinnten Umgebung, zu entkommen.
In einem Formular an die Devisenstelle Wien, die für Auswanderungsverfahren und
damit zusammenhängendem Vermögensverfall zuständig war, ergeben sich zwar keine
neuen Informationen über Rosa und Margarethe, im Anhang jedoch findet sich eine
Liste zu den nach England mitgenommenen Gegenständen. Darunter findet sich nichts
besonderes, außer vielleicht einer Reiseschreibmaschine, sonst im Wesentlichen nur
Kleidungsstücke. Das Dokument ist vom 15. 7. 1939, also waren sie zu dieser Zeit
noch in Wien.
Ein Brief selben Datums, an einen gewissen Mr. Cartoux, ist ebenfalls erhalten. Darin
bittet sie um eine Anstellung in England oder Amerika als Pharmazeutin, in einem Labor oder als Bürokraft.
Zu diesem Brief gibt es kein Antwortschreiben, entweder bekam sie nie eines, oder es
ist nicht mehr erhalten. Sicher ist, dass Rosa von dem Herrn keine Anstellung erhielt,
da sie in späteren Briefwechseln immer noch eine Arbeitsstelle suchte.
Rosas Tochter Margarethe kam am 16. 4. 1932 in Wien zur Welt und erlebte daher bereits als Kind (ähnlich wie Emilie Klüger, die ihre Kindheit sehr eindrücklich beschreibt350) die Grausamkeit, der Juden in diesem antisemitischen Umfeld. Einmal hatte ich meine Großmutter dazu befragt, wie sie als kleines Mädchen das judenfeindliche
Wien erlebt hätte. Sie meinte, sich an die Zeit nicht mehr genau erinnern zu können
und wich der Frage aus. Dennoch gibt es viele Zeitzeugenberichte, die davon erzählen,
wie es besonders für jüdische Kinder in Wien war. Allein die auferlegten Verbote waren
349
350
British Passport Control Office über Rosa und Margarethe Mandelbaum, 1939, Familienarchiv von Emilie Fuchs.
Emilie Klüger, Weiter Leben. Eine Jugend, Wien 2007.
163
speziell für diese schwer zu ertragen. Juden durften weder Spielplätze noch Parks be nutzen, auch der Zutritt zu Kinos und Cafés war ihnen nicht gestattet. Emilie Klüger
meint dazu: „[…] der jüdische Friedhof war unser Park und Spielplatz“.351
Trude besuchte noch in Wien die Schule, wurde jedoch durch die Emigration schnell
aus ihrem gerade angewöhnten Umfeld gerissen und kam in eine neue Umgebung.
4.4.2 Auswanderung nach England (Kriegszeit)
Wann die tatsächliche Reise nach England erfolgte, ist nicht bekannt. Nur der nachfolgende Brief deutet darauf hin, dass ihre Auswanderung kurz vor Beginn des Krieges
erfolgt sein muss. Das Schreiben stammt vom 15. 9. 1939 vom Society of
Friends/Germany Emergency Committee (SoF) von einer Rosita Gruenberg und stellt
ein Antwortschreiben auf einen Brief Rosas dar.
„I am afraid that you think that it is easy just now to get your visitor-permit
changed into a domestic one. It is quite unlikely that the Home Office is doing
anythink [sic] now. They are not dealing with this kind of work.
Besides all, you are not allowed to leave your present address without police
permission on both ends. […]
I am sorry I cannot do more for you, for the moment, but if you have your do mestic permit, then I might perhaps know of a job. […]“.352
Doch der Umstand, dass Rosa in ihren Briefen immer wieder ein Tribunal (siehe weiter
unten) erwähnt, spricht für die Theorie, dass sie erst nach Kriegsbeginn auswanderten. Diese Tribunale wurden für Österreicher und Deutsche erst im September 1939
eingeführt, um zu prüfen, ob diese Spione seien und damit eine Gefahr für Großbritannien darstellen (siehe Ende des Kapitels: Geschichtlicher Hintergrund). Oftmals durften Frauen auch nur dann einreisen, wenn sie als Dienstmädchen arbeiteten, wie beispielsweise Traude Bollauf in ihrem Buch beschreibt.353 England hatte einen akuten
Mangel an Dienstmädchen und versuchte durch diese Vorgaben für einreisende Frauen
den Bedarf zu decken.
Aus Rosas Brief geht hervor, dass ihr anfängliches Visum wohl nur einen zeitlich begrenzten Besuch und keinen permanenten Aufenthalt gestattete. Ohne diesen „domestic permit“ bekam man auch keinen Job, der wichtig war, um sich selbst und die Fa milie zu erhalten. All diese Gründe sprechen für die Ansuchung um ein permanentes
Visum. Außerdem ist aus dem Zitat herauszulesen, wie die Umstände für Auswanderer
nach England waren. Man konnte nicht ohne Weiteres den Wohnort ändern und sogar
Klüger, Weiter Leben, 74.
Briefwechsel zwischen Rosa Mandelbaum und Rosita Gruenberg vom Society of Friends/Germany Emergency
Committee, 1939, Privatarchiv von Emilie Fuchs.
353
Trude Bollauf, Dienstmädchen-Emigration. Die Flucht jüdischer Frauen aus Österreich und Deutschland nach England
1938/39, Wien 2010.
351
352
164
für jeden Spaziergang brauchte man Genehmigungen. Bei ihrer Ankunft in Großbritannien sahen sich die österreichischen Flüchtlinge mit zahlreichen Problemen konfrontiert: Arbeitsverbot, limitierte Aufenthaltsgenehmigungen, eingeengte Wohnverhältnisse und spärliche materielle Unterstützung.
„[…] Für die meisten war die Vertreibung mit dem Verlust ihrer materiellen Existenz verbunden gewesen. […] Sie durften ohne Genehmigung des Home Office
keine Stellung, weder bezahlte noch unbezahlte, annehmen und sich an keinen
Geschäften beteiligen.“354
Tatsächlich hatte England mit einem gewaltigen Ansturm jüdischer Flüchtlinge umzugehen, was die bürokratischen und administrativen Strukturen vor gewaltige Herausforderungen stellte. Unterstützt wurden die jüdischen Einwanderer auch vorwiegend
nur von englischen Glaubensgenossen, die mit Spenden notwendige Mittel aufbrachten.355 Der nächste Brief ist ebenso vom SoF und handelt von Margarethe:
„I am very glad to hear from the Childrens’ [sic] Committee that they have now
made arrangements for your little girl. […]“.356
Warum Margarethe von ihrer Mutter getrennt wurde ist nicht klar ersichtlich, allerdings
sprach meine Großmutter immer viel davon, bei fremden Familien zu Gast und darüber sehr unglücklich gewesen zu sein. Möglicherweise musste Rosa erst ein permanentes Visum nachweisen.
Neben der Jobsuche schrieb Rosa in ihren Briefen immer vom Tribunal, in welchem
über das weitere Visum und den Verbleib in England entschieden wurde. Sie suchte
immer wieder um eine schnelle Bearbeitung desselben an, wahrscheinlich damit sie
endlich Geld verdienen konnte, und sie und ihre Tochter sich nicht in verschiedenen
Residenzen aufhalten mussten. Des Weiteren wurde ihr sehr davon abgeraten, sich vor
dem Entschluss des Tribunals einen Job zu suchen. Eine Begründung dafür ist nicht
angegeben.
Erst ein Brief vom 21. 12. 1939 lässt darauf schließen, dass Rosa schließlich ihr Visum
erhielt. Im Zuge eines erneuten Schriftverkehrs mit den SoF im Jänner 1940 werden
ihr einige Stellen als Haushälterin vorgeschlagen. Es wirkt fast, als wolle sie diese gar
nicht (gern) annehmen. Doch als studierte Pharmazeutin wollte man sie trotz ihrer
ausgezeichneten Englischkenntnisse wohl als jüdische Einwanderin nicht für eine höhere Position einstellen.
Zwischen den Briefen mit dem Germany Emergency Committee finden sich immer
wieder auch welche, die von August und Mirjam Berendt handeln. Ähnlich wie im
Schriftstück an Herrn Cartoux bittet sie immer wieder um Zahlungen an ihre Mutter,
Muchitsch, Österreicher im Exil, 50.
Ebd., 10.
356
Briefwechsel zwischen Rosa Mandelbaum und Alice Nike vom Germany Emergency Committee, 1939. Privatarchiv
von Emilie Fuchs.
354
355
165
die von der Western Union geleistet werden sollten, bei der August gearbeitet hatte.
Sie beanstandet, dass ihr Vater nach 1938 nur mehr 120 RM bekommen haben soll,
statt wie zuvor 700 bzw. 800 RM – und bittet daher um eine Nachzahlung an Mirjam
Berendt, damit diese in die Vereinigten Staaten auswandern könne. 357 Sie schreibt
dass ihr Vater 19 Jahre bei der Western Union Telegraph & Co gearbeitet hätte, und
schreibt dabei an eine englische Adresse. Das wird interessant, wenn August in seiner
VA doch als Oberbaurat der Bundesbahnen pensioniert wurde. Dies ist nur schwer in
Zusammenhang zu bringen.
Das chronologisch letzte Dokument aus der Kriegszeit ist mit „Information“ betitelt
und fasst den gesamten Briefwechsel zwischen Rosa und der Western Union zusammen:
„After the outbreak of the war, Mrs. Mandelbaum repeated her request pointing
out that her mother then has an opportunity of going to the United St. and she
would like to know how much she could figure on receiving from the comp. because she wanted her liflehood [sic] in U.S. to be assured at least for the begin.
The comp. answered on the 11 th of October 1939 that the highest amount they
would consider granting would be £ 50 which would hardly be enough for Mrs.
Berendt to emigration. Mrs Mandelbaum replied on 5 th November that as her
father dismissal was only due the Nazi anti Jew decrees and her father could
have claimed damages equivalent to 12 month income (about RM. 8000,-- or /
3000), them comp. could really have paid her mother a lump sum large enough
to allow her to emigrate. […] Mr. Smith promised to put the whole matter before
the American head office to their decision.”
Die dürfte allerdings wohl nie geschehen sein. Mirjam hatte nie genannte Summe erhalten, da sie sonst nicht die zahlreiche Gesuche um Stundungen diverser Beträge
eingereicht hätte. Sie emigrierte auch nicht in die Vereinigten Staaten. Möglicherweise
kam der Krieg dazwischen, und sehr wahrscheinlich wollte sich die Western Union vor
den Zahlungen drücken.
Während der verbleibenden Zeit des Krieges blieb Rosa in England, sie konnte mit Hilfe von einigen Freunden doch noch Arbeit finden. Margarethe ging dort zur Schule und
wuchs bei verschiedenen Familien auf, bis sie schließlich doch mit ihrer Mutter zusammenziehen konnte. Die damaligen englischen Unterstützer sind bis heute enge Freunde der Familie, ihnen hatten und haben wir viel zu verdanken.
4.4.3 Nachkriegszeit
Nach dem Krieg heiratete Rosa in Hampstead 1946 ihren guten Freund Johann Friedberg, mit dem sie 1947 schließlich wieder nach Wien zurückkam (siehe nachfolgendes
Kapitel). Im selben Jahr wurde noch Margarethes Schwester, Emilie Friedberg, in EngHierzu sowie nachfolgendes Zitat: Briefwechsel zwischen Rosa Mandelbaum und unbekannt (General Manager
Western Union), 1939-1940. Privatarchiv von Emilie Fuchs.
357
166
land geboren. Als ich meine Großmutter zur Nachkriegszeit befragte, ob in Wien der
Antisemitismus nach wie vor vorherrschte, antwortete sie nur vage und meinte, in
England sei es ihnen doch immer viel besser gegangen. Dennoch schlug die Familie in
Österreich wieder Wurzeln und fand Arbeit sowie neue Freunde.
Im Jahre 1953 trat Rosa Mandelbaum (ab 1947 Friedberg) aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus. Dieser Akt spricht nach all dem was sie durchmachen musste,
durchaus für sich.
Am 25. 5. 1965 erhielt Rosa einen Opferausweis, der ihr bescheinigte, dass für sie das
Opferfürsorgegesetz zutrifft und sie demnach „als Opfer der politischen Verfolgung im
Sinne dieses Bundesgesetzes zu behandeln ist“. 358 Dies inkludierte Begünstigungen für
Wohnungen und Kleingärten sowie Hilfe bei der Wiederaufrichtung bzw. Stütze der
wirtschaftlichen Existenz. Man erhielt Nachlässe und Ermäßigungen für Studien- und
Prüfungsgelder sowie für Steuer- und Gebührenpflichten. Das Opferfürsorgegesetzt
trat mit Juli 1947 in Kraft, warum sich Rosa den Ausweis erst 18 Jahre später holte, ist
ungewiss. Möglicherweise war es schwer für sie, sich wieder als Teil einer abgegrenzten Gruppe zu sehen, auch wenn es diesmal zu ihrem Gunsten gewesen war. Sie lebte
beinahe den ganze Rest ihres Lebens in Wien, erst kurz vor ihrem Tod am 28. 9. 2001
kam sie mit ihrem Mann Johann in ein Pflegeheim nach Pressbaum.
4.4.4 Rosa und Johann Friedberg
Der Mann, den ich als meinen Urgroßvater „Opl“ kennenlernte, war Johann Friedberg –
also nicht der leibliche Vater meiner Großmutter, sondern ihrer Schwester Emilie. Rosa
und Johann heirateten noch in England 1946, und kamen dann gemeinsam wieder
nach Österreich zurück. Damit trat Johann eigentlich erst nach dem Krieg in meine Familiengeschichte ein, dennoch finde ich seinen Lebenslauf durchaus spannend, da er
einen völlig anderen Weg als der Rest meiner Familie eingeschlagen hatte.
Nachdem ich Johann immer als zur Familie gehörig betrachtete, kam es mir nie in den
Sinn, dass er so gesehen nicht leiblich mit mir verwandt ist. Trotzdem möchte ich auch
ihn und seine Geschichte hier miteinbeziehen. Von ihm liegt praktischerweise sogar
ein eigens verfasster, detailreicher Lebenslauf vor, den er 1994 auf Anfrage an eine
Zeitung geschickt hatte. Durch diesen habe ich viel von ihm erfahren, was ich sonst
wohl nicht mehr hätte nachforschen können. Auch wenn die subjektive Anschauungsweise seines Lebens, wie bei jeder Autobiographie, nicht immer ganz wörtlich genommen werden darf, werde ich dennoch großteils seinen Aufsatz wiedergeben. Auch aufgrund dessen, da bis auf seine Geburtsurkunde im Wr. Stadt- und Landesarchiv keine
358
Opferausweis Rosa Friedberg, 1965. Privatarchiv von Emilie Fuchs.
167
Dokumente hinsichtlich seines Lebens mehr erhalten bzw. mir zugänglich sind.
Johann Georg Friedberg wurde 1901 geboren, und wuchs seinen Worten nach „in einem relativ bürgerlichen Milieu auf.“359 Nach seiner Schulzeit arbeitete er in einer Fabrik mit elektrischen Messgeräten und bewarb sich bald für eine Anstellung als ausländischer Spezialist in der Sowjetunion. Er interessierte sich schon früh für den Sozialismus und war ein großer Anhänger von Karl Marx. So verließ Johann Österreich im Jahr
1931 und begrüßte die Sowjetunion als seine neue Heimat. Nach fünf Jahren reichte
er den Antrag auf die sowjetische Staatsbürgerschaft ein und heiratete eine Russin.
Im September 1938 wurde sein Aufenthaltsvisum nicht mehr verlängert und er musste innerhalb von drei Wochen die Sowjetunion verlassen. Er musste seine Frau zurücklassen, da diese nicht ins Ausland gehen wollte und er so gesehen keine Heimat mehr
hatte. Auf der Reise nach Österreich wurde er von der Gestapo aufgegriffen, durfte
aber mit der Auflage das Land innerhalb von zwei Monaten verlassen zu müssen, weiterreisen. So fuhr er bald zu einem Onkel nach London, wo er auch schnell Arbeit in
der Rüstungsindustrie fand.
Nach dem Krieg wollte er anfänglich wieder nach Russland, um dort wieder zu seiner
Frau zurückzukehren. Diese wurde aber nach Sibirien verschleppt, hatte dort wieder
geheiratet und ein Kind bekommen. Dadurch entschloss er eine „langjährige Freundin“
(Rosa) zu heiraten und wieder nach Wien zurückzukehren, nachdem ihn auch das russisch besetzte Wien anzog.
Danach verbrachte er den Rest seines Lebens in Wien und arbeitete als Kassier bei der
KPÖ. Er starb kurz nach seiner Frau Rosa in Pressbaum in seinem 101. Lebensjahr.
Bei Johann ist außergewöhnlich, dass er wie der Rest meiner Familie kein traditioneller
„Patriot“ seines Herkunftslandes war, sondern dem Sozialismus und Russland zugewandt war. 1901 geboren, verbrachte er seine Jugend in einem Österreich, das von
Krieg und instabiler Wirtschaft sowie Arbeitslosigkeit gebeutelt wurde, und besonders
als junger Jude konnte man dies besonders zu spüren bekommen. Da ist es nur zu logisch, sich einem System und einem Land zuzuwenden, dass für die Gleichheit aller
stand und sich nach dem Feudalismus nicht dem kapitalistischen System zuwandte,
sondern dieses gleich durch den Sozialismus ersetzte.360
Diese Wandlung finde ich prinzipiell nicht untypisch, und obwohl meine Familie politisch kaum aktiv war, ging auch Hermann Riesenfeld (Schwiegersohn von Johann)
denselben Weg und fand so zum Kommunismus. Da Johann erst 2001 starb, in mei nem elften Lebensjahr, hatte ich die Ehre, ihn noch etwas kennenzulernen. Doch leider
war ich noch zu jung, um ihn zu der Geschichte seines Lebens zu befragen.
Hierzu sowie die nachfolgenden Absätze: Mein kurzgefasster Lebenslauf von Johann Friedberg, 1994. Privatarchiv
von Emilie Fuchs.
360
Andreas Kappeler, Russische Geschichte, München 2008.
359
168
4.5 Sara und Emanuel Riesenfeld
Auch über die Eltern meines Großvaters, Hermann Riesenfeld, gibt es leider kaum
mehr Quellen, sondern hauptsächlich Erzählungen. Als einzig erhaltenes Dokument
gibt es nur noch ihre Heiratsurkunde, die uns zumindest einige Informationen geben
kann. Emanuel Riesenfeld wurde im Mai 1890 in Stanislau, heutige Ostukraine, etwa
100km südlich von Lemberg, geboren. Seine Eltern waren Kamil Riesenfeld und Dwore
Chaja Riesenfeld, geborene Szmir.
Sara, geborene Rudolf, wurde am im April 1896 in Nadworna, etwas südlich von Stanislau, zur Welt gebracht. In der Heiratsurkunde steht sogar nur ein „angeblich“ vor
Geburtstag und -ort, also ist auch dies ungewiss. 361 Ihre Eltern waren der Urkunde
nach Efroim Rudolf und Rachel Rudolf, geborene Meisels.
Im Lebenslauf von Hermann Riesenfeld, erwähnt dieser auch kurz seine Eltern. 362 Darin schreibt er von deren Auswanderung nach dem Ersten Weltkrieg aus der heutigen
Ukraine nach Wien, da sein Vater Emanuel ein russischer Kriegsgefangener gewesen
war (laut Erzählungen war er außerdem bei den Freimaurern).
Die beiden heirateten am 22. 12. 1918 in Wien, wie das Matrikelamt der Israelitischen
Kultusgemeinde bestätigt hatte. Allerdings ist am Ende der Urkunde das Datum 11. 5.
1948 angegeben, was entweder ein Druckfehler sein könnte, oder die Urkunde wurde
nachträglich erstellt. Das erscheint mir aber als nicht sehr plausibel, da der einzige
weitere Verweis zu ihrem weiteren (Ab)leben im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) verzeichnet ist, welches von der Deportation der beiden
nach Stanislau/unbekanntes Lager schreibt, dies fand aber sicherlich zu einem früheren Zeitpunkt statt.363
So ist heute weder der Zeitpunkt noch der Ort ihres Todes bekannt. In der mündlich
weitergegebenen Familiengeschichte wurde mir bis jetzt immer erzählt, dass die beiden nach Osten (wohin genau ist unbekannt) geflüchtet wären, und dort aufgegriffen
und erschossen wurden. Diese Erzählungen könnten nah an der Wahrheit liegen, wirft
man einen Blick auf die Geschichte und die Ereignisse in der kleinen Stadt südlich von
Lemberg: Die Stadt Stanislau im ehemaligen Ostgalizien (heute unter dem Namen
Iwano-Frankowsk bekannt, wie sie seit 1957 genannt wird 364) wurde 1939 mit dem
umliegenden Gebiet an die Sowjet-Union angegliedert. Nach dem Überfall DeutschTrauungszeugnis Emanuel und Sara Riesenfeld. Privatarchiv von Emilie Fuchs.
Lebenslauf von Hermann Riesenfeld, 1952. Familienarchiv.
363
Datenbank des DÖW, Eintrag zu Sara Riesenfeld, URL: http://de.doew.braintrust.at/db_shoah_243025.html
(abgerufen am 20. 1. 2013).
364
Elisabeth Freundlich, Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau. NS-Vernichtungspolitik in Polen 1939-1945,
Wien 1986, 135. Anm.: Auf Wikipedia ist die Umbenennung der Stadt zu Iwano-Frankiwsk mit 1962 datiert, und zwar
während einer 300-Jahres Feier der Stadt. Diese Jahreszahl ist auch auf der offiziellen Website der Stadt
wiederzufinden, URL: http://www.sbedif.if.ua/city/src/city.en.html. Deswegen ist nicht sicher, wieso die Autorin
Freundlich in ihrem Buch das Jahr 1957 angibt, möglicherweise war der Namenswechsel schon früher inoffiziell
beschlossen worden.
361
362
169
lands im Jahr 1941 war diese zuerst von Ungarn besetzt und im August desselben
Jahres
schließlich
ins
Generalgouvernement
eingegliedert
worden.
Obwohl
es
angeblich unter sowjetischer Herrschaft kaum Diskriminierungen gegen Juden gegeben haben dürfte, änderte sich dieser Umstand spätestens nach dem Herrschafts wechsel massiv.365
Sobald die Deutschen sich dort etabliert hatten, begannen die unzähligen Massaker an
Juden, durch welche Stanislau traurige Berühmtheit erlangte. Man begann zuerst mit
der jüdischen Elite, die unter falschen Vorwänden zusammenkommen musste und
dann traktiert, gefoltert und schließlich ermordet wurde. Vor allem das Datum 12. 10.
1941 blieb in Erinnerung, da an diesem Tag unter dem Vorwand, das Ghetto in Stanis lau umquartieren zu wollen, die Menschen zusammengetrieben wurden und angeblich
an die 12 000 Juden erschossen wurden. 366 Die jüdischen Anwohner, die nicht erschossen oder verhaftet und dann im späteren Verlauf getötet wurden, sind oftmals in das
KZ Belzec deportiert worden.
Im Falle meiner Urgroßeltern könnte es sich ähnlich zugetragen haben. Nachdem sie
erfuhren, dass sie Wien dringend verlassen müssen, entschieden sie sich, in das noch
zur Sowjetunion gehörige Gebiet, aus dem beide ursprünglich stammten, zurückzukehren. Dies erwies sich jedoch als Fehlentscheidung, da die Deutschen auch dort spätestens seit dem Jahr 1941 Zugriff auf die Juden hatten, und diese mittels Erschießungen liquidierten. Für diese Theorie sprechen weiters Auszüge aus Hermanns Lebenslauf:
„Meine Eltern waren noch im August 1939 illegal nach Polen geflüchtet und hatten sich in Stanislau niedergelassen. Dieser Teil Polens kam später zur Sowjetunion und ich erhielt von dort bis Mai 1941 Post. Nach dem Überfall der Hitlerbanditen auf die Sowjetunion fiel die Stadt [Stanislau] bald in deren Hände und
seither fehlt jede Spur von meinen Eltern.“367
Dabei sollte es auch bleiben. Von den bei den Massakern ermordeten Opfern gab es
keine Auflistungen, und da sie ohnehin illegal in Stanislau waren, waren sie auch sonst
nirgends verzeichnet.
4.6 Geschichte meines Großvaters Hermann
Zu Hermann Riesenfeld gäbe es zwar noch viele Quellen und Dokumente, doch leider
sind mir diese nicht zugänglich. Daher muss das Kapitel über ihn größtenteils auf Oral
History und dem von ihm verfassten Lebenslauf basieren, welcher allerdings äußerst
detailliert und umfangreich ist.
Ebd., 138ff.
Ebd., 163.
367
Lebenslauf von Hermann Riesenfeld, 1952. Familienarchiv.
365
366
170
Mein Großvater Hermann Riesenfeld wurde als Kind von Emanuel und Sara Riesenfeld
1919 in Wien geboren. Auch er wuchs in Wien auf und besuchte dort Volks- und
Hauptschule. Danach arbeitete er ab 1934 in einer Textilfabrik als Praktikant, da er
keine Lehrstelle fand. Da auch sein Vater keinen Beruf erlernt hatte, und sich nur mit
Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten konnte, musste Hermann schon als junger
Mann nicht nur seinen Beitrag zum Familieneinkommen beitragen, sondern diese so
gut wie allein ernähren.
Zur Zeit des Anschlusses war er gerade 18 Jahre alt, und wurde somit schon als volljährig behandelt, wodurch er auch nicht mehr mit einem der Jugendtransporte nach
England mitfahren konnte. Hermann wurde gekündigt und verfolgt, weswegen er versuchte so schnell wie möglich ein Visum für die Auswanderung nach England zu be kommen. Nachdem seine Eltern wahrscheinlich keine Aussicht mehr auf eine Emigration sahen, und deshalb schon 1939 geflüchtet sind, erhielt er zu dieser Zeit auch keine
Unterstützung mehr von ihnen.
Weiters ist zu erwähnen dass ihm am 8. 1. 1924 eine Schwester namens Hanni geboren wurde, die aber nach wenigen Monaten im Juni 1924 im Karolinenspital verstarb.
Über die Umstände ihres Todes und die Todesursache ist nichts bekannt, allerdings
gehe ich von keiner Gewalteinwirkung, sondern eher von einem natürlichen Tod, aus.
4.6.1 Vorkriegszeit
Wie bereits erwähnt suchte Hermann schon sehr bald um die Auswanderung nach
England sowie in die Vereinigten Staaten an. Eine Bestätigung des Polizeipräsidiums
Wien vom 7. 3. 1939 sagt aus, dass ihm das amerikanische Einreisevisum nicht ausgestellt werden konnte.368 Im April erhielt er aber die steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung, die er für die Ausreise benötigte, sowie einen ebenso essentiellen Fremdenpass, in dem er als „staatlos [sic]“ 369 verzeichnet wurde. Das Heimatrecht für Juden wurde am 30. 6. 1939 abgeschafft. 370 Im Mai 1939 erhielt er schließlich doch noch
die Einreisebewilligung für England.
4.6.2 Auswanderung nach England
Damit wanderte er 1939 nach England aus, obwohl er wohl lieber in die Vereinigten
Staaten emigriert wäre. Er kam dort in ein „Auswanderungslager“, von welchem aus
er mit 800 anderen, die ebenso wie er keine Weiterwanderungsmöglichkeiten hatten,
Zeugnis des Polizeipräsidenten Wien zu Hermann Riesenfeld, 1939. Familienarchiv.
Fremdenpass des Hermann Riesenfeld, Ausstellungsdatum unbekannt. Familienarchiv.
370
Auszug aus der Heimatrolle vom Magistrat Wien, 1948. Familienarchiv.
368
369
171
zuerst auf die Isle of Man 371 in der Irischen See und anschließend, sechs Wochen nach
Kriegsbeginn, nach Kanada verschifft wurde.
Das scheint ziemlich extrem, schob Großbritannien seine Flüchtlinge doch eigentlich
nicht ab, dazu schreib Muchitsch:
„Getrieben von der Sorge, unter den Internierten könnten sich faschistische Saboteure befinden, die den Deutschen im Falle einer Invasion nützlich wären, leitete die britische Regierung parallel zur Internierungswelle Verhandlungen mit
den Dominions Kanada und Australien ein, die sich nach längerem Zögern bereit
erklärten, Zivilinternierte […] zu nehmen. Da sich nur wenige, meist junge und
unverheiratete zur Verschickung nach Kanada und Australien meldeten, wurde
der Großteil gezwungenermaßen ‚freiwillig’ auf die Reise geschickt […].“372
Im dortigen Internierungslager freundete er sich mit den Ideen von Marx und Lenin
an, die er mit einigen anderen Internierten teilte. Er schreibt:
„Ich war Feuer und Flamme. Endlich sah ich die Dinge klar. […] Ich wollte endlich mein Schicksal selbst bestimmen […].373
Nach dem Eintritt der Sowjetunion in den Krieg, entschied Hermann sich dafür, wieder
zurück nach England zu kehren, um dort wie er in seinem Lebenslauf schrieb „am
Kriegseinsatz teilzunehmen“. Er machte einen Umschulungskurs zum Schlosser und
wurde 1942 in einer Flugzeugfabrik in London angestellt. Er trat außerdem einer illegalen Sympathisantengruppe des Kommunismus bei.
„In England half ich nach besten Kräften und mit vollem Einsatz mit, die österreichische Emigrationsjugend für den Kriegseinsatz, für die Heimat und für den
Fortschritt zu gewinnen und setzte mich so gut ich konnte auch selbst im
Kriegsdienst ein.“374
Im Jahr 1943 meldete er sich freiwillig zum Dienst in der British Army, wurde aber erst
1944 aufgenommen. Er änderte seinen Namen zu Henry Robertson, da das den Umgang mit den Menschen sowie den Alltag vereinfachte. Er absolvierte einige Ausbildungskurse und hoffte an die europäische Front geschickt zu werden, hatte er extra
darum angesucht. Er wurde jedoch abgelehnt und hätte sich nur für Südostasien melden können. So wurde er vorerst in eine Kanonenfabrik versetzt, bis man ihn schließlich auf sein Ansuchen in ein Kriegsgefangenenlager überstellte, wo er als Dolmetscher
zum Einsatz kam. Dort war er politisch hoch aktiv, er half bei der Organisation einer
Bibliothek mit, betätigte sich als Autor und nahm an Diskussionsrunden teil.
Muchitsch, Österreicher im Exil, 59.
Ebd., 56.
373
Lebenslauf von Hermann Riesenfeld, 1952. Familienarchiv.
374
Lebenslauf von Hermann Riesenfeld, 1952. Familienarchiv.
371
372
172
4.6.3 Nachkriegszeit
Im November bekam er von seinem Militärkommandanten die Erlaubnis, zur Repatriierung wieder nach Österreich kehren zu dürfen. Dafür bekam er ein Certificate of Identity, das als Pass gültig war.
Dort wurde Hermann Mitglied in der Freien Österreichischen Jugend (FÖJ), die zunehmend kommunistisch geprägt war. Von 1947 bis 1948 legte er „nach kriegsbedingter
Unterbrechung“ die Externistenreifeprüfung ab und hatte damit den Abschluss des Realgymnasiums nach dem Krieg nachgeholt. Danach blieb er weiter bei der FÖJ tätig,
wurde aber hauptberuflich Angestellter in einer Firma die für den Großhandel und Im port von chemischen Produkten zuständig war.
Auch er stellte den Antrag auf die Ausstellung eines Opferausweises im Jahr 1950, indem es heißt:
„Nach den vorliegenden Beweismitteln wird als erwiesen erachtet, daß Sie durch
Entlassung von Ihrem Posten und Emigration nach England im Jahre 1938 bis
Mai 1942 als rassisch Verfolgter eine Minderung Ihres Einkommens um mehr als
die Hälfte gegenüber dem Zeitpunkt vor der gesetzten Massnahme von mehr als
3 ½ Jahre erlitten haben.“375
Am 17. 10. 1953 heiratete Hermann Riesenfeld Margarethe Mandelbaum, die einige
Jahre danach Peter und Martina, meinen Vater und dessen Schwester zur Welt brachte. Der Altersunterschied zwischen meinen Großeltern betrug 13 Jahre, was aber weiter kein Problem dargestellt haben dürfte. 1971 erhielt er von der Britischen Botschaft
einige Medaillen für seine Dienste, darunter den „1939-1945 Star, France & Germany
Star, Defence Medal und War Medal“. 376 Hermann lebte den Rest seines Lebens mit
Margarethe in Wien, wo er sich an seinen Kindern und Enkelkindern erfreuen konnte.
Er starb 2006 im 88. Lebensjahr, Margarethe lebt bis heute in Wien.
5 Kurzer Exkurs: Die Familie meiner Mutter – Mitläufer und
Gleichgültige?
Der Weg der mütterlichen Seite meiner Familie ist dem der jüdischen Seite diametral
entgegengesetzt. Sie waren den Standards entsprechend arischer Abstammung, und
hatten daher keine Denunziationen oder Repressionen seitens des Staates zu befürchten. Meine Großeltern waren in den 30er Jahren noch sehr jung, Rosalia war 1938 erst
vierzehn und Franz sogar nur elf Jahre alt. Daher waren beide kaum an Politik interessiert, wie sehr deren Eltern politisch aktiv waren, ist heute nur mehr schwer zu sagen.
375
376
Bescheid des Magistrat der Stadt Wien für Hermann Riesenfeld, 1950. Familienarchiv.
Brief von der British Embassy an Hermann Riesenfeld, 1971. Familienarchiv.
173
Sicher ist, dass der Vater von Franz, Josef Jäger, in der Wehrmacht gedient hatte.
Doch litt er an einer chronischen Bronchitis und einer Schwäche der Nieren, daher
wurde er 1943 pensioniert und erhielt Wehrmachtsfürsorge.
Sein Sohn Franz Jäger, im September 1927 geboren, hätte gegen Ende des Krieges
ebenfalls einrücken müssen, hatte sich aber kurz davor das Bein gebrochen und musste daher nicht kämpfen. Allerdings blieb er der einzige in der Familie, der politisch gesehen eher mitte-rechts angesiedelt war und die FPÖ unterstützte. Dennoch glaube ich
nicht, dass er den Juden gegenüber jemals feindlich gesinnt war, oder dem Antisemitismus zugehörig war. Da er erst vor kurzem, im Jänner 2013, verstarb, schrieb ein
angeheirateter Jude unserer Familie anlässlich seines Todes:
„Ich habe das Bedürfnis mich an eurer Trauer zu beteiligen. Berti war nicht gerade der beste Freund von Juden und trotzdem sah er an erster Stelle den Menschen, ohne Unterschied von Religion und Rasse.“377
Deshalb gehe ich eher davon aus, dass Franz, sollte er tatsächlich nationalsozialistisches Gedankengut in sich getragen haben, dies eher nach dem Beispiel Karl Luegers
(„Wer Jud’ is, bestimme ich!“).
Meine Großmutter Rosalia Jäger, geboren mit ihrer Zwillingsschwester Amalia als
Haschberger im Jahr 1924 (siehe Abbildung 2), war, wie sie mir selbst in einem Zeit zeugengespräch erzählte, nie wirklich an Politik interessiert. Als junges Mädchen hatte
man andere Dinge im Sinn, als die „Anti-Juden-Politik“ der Erwachsenen. Auf meine
Frage, ob sie denn das Verschwinden der Juden bemerkt hätte, antwortete sie mir,
dass das schon auffällig war, hatte doch Baden bei Wien ziemlich viel jüdische Bewohner vor 1938 vorzuweisen. 378 Doch sie meinte weiterhin, dass sie das nicht wirklich interessiert hätte, hieß es doch, die Juden seien freiwillig ausgewandert.379
Dabei war Baden von den Repressionen gegen die Juden nicht weniger verschont geblieben als Wien. So mussten diese auch dort die Straßen reinigen und wurden als
„kapitalistische Ausbeuter“ aus ihren Geschäften vertrieben.380
Rosalia ging während des Krieges zur Schule, verspürte außer einigen kleinen Entbehrungen jedoch keine starken Auswirkungen des Krieges auf ihr Leben. 1945 erfuhr ihre
Familie von der Ankunft der Russen und deren gewaltsamen Racheakten, weshalb sie
nach Tirol auf einen Bergbauerhof flüchtet, wo sie längere Zeit arbeitete.
Vor allem meine Großmutter hegte nie antisemitische Tendenzen oder beteiligte sich
politisch an jeglichen Aktionen gegen jüdische Mitmenschen, jedoch tolerierte bzw.
ignorierte sie die Denunziationen derselbigen. Als ich das Zeitzeugengespräch mit ihr
Schriftwechsel zwischen Cornelia Rosenkranz und Jochay Goren, Lebenspartner von Susanna Jäger, Tochter aus
erster Ehe von Franz.
378
Johann Meissner/Kornelius Fleischmann, Die Juden von Baden und ihr Friedhof, Baden 2002.
379
Zeitzeugengespräch mit Rosalia Jäger vom 21. 10. 2012. Familienarchiv von Cornelia Rosenkranz.
380
Meissner/Fleischmann, Die Juden von Baden und ihr Friedhof, 103.
377
174
führte, hatte ich das Gefühl, dass sie auch nach der Kriegszeit nicht daran interessiert
war, was mit den Juden geschehen war. Von der Vernichtung und dem Holocaust
sprach sie schon gar nicht. Deshalb bin ich mir gar nicht sicher, ob sie sich bis zum
heutigen Tag jemals damit auseinandergesetzt hat. Dabei denke ich nicht, dass sie
dies absichtlich tat, oder die Augen aus bestimmten Gründen verschloss, sondern
nicht genug bemüht war, etwas über die Dinge zu erfahren und dem allgemeinen
Strom des Nachkriegsschweigens folgte.
Abbildung 2: Rosalia und Amalia Haschberger.
Quelle: In Besitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.
6 Umgang mit dem Holocaust in der Familie und meine Rolle
Nach dem Krieg kehrten von Seiten meiner jüdischen Familie nur die Eltern meines
Vaters und die Mutter meiner Großmutter nach Österreich zurück. Der Rest meiner
leiblichen Familie fiel dem Holocaust zum Opfer (bis auf ein paar wenige namenlose
Cousinen meiner Groß- und Urgroßeltern, die es in die Vereinigten Staaten schafften
oder in England blieben). Diese zurückgekehrten Familienmitglieder mussten mit den
Folgen der Judenvernichtung und der Vertreibung leben, sie verarbeiten und hinter
175
sich lassen. Wie gut ihnen dies gelungen ist, kann ich nur zum Teil wiedergeben. Mit
meinen Urgroßeltern sprach ich nie darüber, da ich noch zu jung war, um sie detailliert
dazu befragen zu können. Auch mit meinem Großvater Hermann sprach ich nie über
diese Zeit, wobei ich zugeben muss dass ich auch nie gezielt nachgefragte. Mit seinem
Sohn Peter hatte er aber einige Gespräche darüber geführt und ihm vieles erzählt.
Außerdem hatte er auch um Entschädigung beim Österreichischen National- und Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus, genauso wie um den Opferausweis, recht bald angesucht. Auch dies zeigt, dass er sich durchaus als Opfer verstand,
dem eine Wiedergutmachung zustand.
Bei meiner Literaturrecherche zu dieser Arbeit stieß ich auf das Buch des DÖW „Österreicher im Exil. Großbritannien 1939-1945“. In diesem Band der Reihe scheint er als
Hermann Riesenfeld aus Wien unter der Liste der Förderer auf. Das zeigt auch seine
Unterstützung für die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschehnisse, die auch ihn
direkt betrafen.
Auch meine Großmutter Margarethe lies in ihren zahlreichen (aber daten- und namenlosen) Erzählungen immer wieder durchblicken, dass auch sie sich immer wieder mit
der Vergangenheit beschäftigt hatte. Bis heute empfiehlt sie mir Literatur zu dem Thema, wie beispielsweise das Tagebuch der Emilie Klüger oder das Totenbuch von Theresienstadt.
Im Allgemeinen lässt die Rezeption und Reaktion auf Fragen meinerseits darauf schließen, dass sie die Geschehnisse nach einer gewissen Aufarbeitungszeit doch hinter sich
gelassen haben, und keinen Groll (mehr) hegen. Auch der Kontakt zu den Freunden in
England ist nach wie vor erhalten, ohne mit den vergangenen Ereignissen negativ belegt zu sein. Dennoch denke ich, dass für meine Vorfahren das größte Problem die ungerechtfertigte Zuordnung zu der Gruppe der Juden darstellte, waren sie doch seit Generationen bereits nicht mehr praktizierende Juden.
Meine Rolle in diesem Gefüge kommt erst sehr spät hinzu, weil ich mich bis vor ca.
drei Jahren noch recht wenig dafür interessierte. Seit dem Beginn meines Geschichtestudiums habe ich viel mehr nachgefragt und mich auch seitdem für eine Dokumentation der Ereignisse interessiert. Als ich die Schwester meine Großmutter Emilie um
Quellen zu der Zeit gebeten hatte, und mit ihr diese durchsprach, meinte sie, dass sie
das alles schon aufwühlen würde, da sie die Geschichte ihrer Mutter und Schwester
sehr berühre. Dennoch fände sie es sehr wichtig, dass ich mich dahintersetze um alles
auszuwerten, und sie hält die Beschäftigung damit für sehr essentiell.
Was mich bei meiner Arbeit erstaunte, war die Tatsache, dass es mir weit weniger
nahe ging als erwartet, geht es doch um meine Familie und größtenteils um Menschen, die mir nahestehen. Aber wie bereits ausgeführt, war das Schicksal meiner Fa-
176
milie nur eines von vielen, und in diesem Fall auch eines, das recht gut ausging, be achtet man die Umstände. Dennoch halte auch ich als Nachfahre die Beschäftigung
mit der Vergangenheit der Familie für sehr wichtig, seien es Opfer des Nationalsozialismus, Mitläufer oder Täter.
7 Schlussthese und Ergebnis der Forschungen
Somit bleibt am Ende meiner Arbeit nur das traurige Fazit zu ziehen: Meine Ururgroß eltern Mirjam und August Berendt, möglicherweise mein Urgroßvater Joseph Mandelbaum und meine Urgroßeltern Sara und Emanuel Riesenfeld fielen dem Holocaust
durch Schikanen, angedrohte und tatsächliche Deportation und Selbstmord, sowie
Massakern zum Opfer.
Der Rest meiner Familie, meine Großeltern Hermann und Margarethe Riesenfeld, deren Mutter Rosa Mandelbaum und Johann Friedberg verloren ihr gesamtes Hab und
Gut, ihre wirtschaftliche Existenz und damit auch ihren Lebensgrundlage. Zum größten
Teil unabhängig voneinander, wurden sie durch Repressionen und Entlassungen (ganz
zu schweigen von den sozialen Denunziationen) dazu gezwungen, so schnell wie möglich Österreich zu verlassen, und im Fall meiner Familie erfolgreich nach England zu
flüchten. Auch dort gelang ihnen der Aufbau einer Existenz, der Schulbesuch und das
Etablieren von Freundschaften.
Dennoch kehrten sie nach dem Krieg wieder zurück nach Wien und fanden sich auch
dort wieder zurecht. Auch wenn die Rückkehr nachvollziehbar ist („ist es doch nirgends so schön wie daheim“) ist es nicht ganz so selbstverständlich, sich wieder in einem Land niederzulassen, indem man erst vor einigen Jahren von seinen Mitmenschen
und vom Staat verstoßen und gedemütigt wurde.
Die Juden wurden in einem beispiellosen Verfahren in eine enorme Vernichtungsmaschinerie gedrängt und mittels Propaganda denunziert, aus ihren Berufen, Betrieben
und sozialen Leben vertrieben, bis ihnen schließlich 1941 auch die Auswanderung verboten wurde und damit meist nur der letzte Weg zur Deportation in eines der Konzentrationslager aufgezwungen wurde.
Bis auf einige ebenfalls namenlose Cousinen meiner Großmutter, die laut ihren Erzählungen nach Theresienstadt deportierten wurden, blieb zumindest meiner Familie (als
einer der wenigen) das Konzentrationslager und die Massenvernichtung erspart.
Auch wenn die Ergebnisse meiner Forschung kein Gesamtbild des Lebens der einzelnen Personen darstellen können, bekommt man durch die noch erhaltenen Dokumente
doch eine Vorstellung der einzelnen „Stationen“ im Leben der Juden im System der
Nationalsozialisten. Die Geschichte meiner Familie im Besonderen ist nur insofern au-
177
ßergewöhnlich, als ein Großteil von ihnen durch die Auswanderung nach England
überlebte, und wieder nach Österreich zurückkehrte.
Doch hatten sie auch viel Glück, wäre beispielsweise der Antrag für das Visum für
England nicht genehmigt worden, würde ich heut als Enkelin wohl kaum über die Erlebnisse der oben behandelten Personen forschen und schreiben können. Dahingehend
kann meine Familie, trotz aller Verluste und mühsamen Prozeduren sowie auferlegten
Hürden in ihrem oft noch jungen Leben, den Menschen dankbar sein, die ihnen in England und nach ihrer Rückkehr in Österreich tatkräftig halfen, und ihr Schicksal positiv
beeinflussten.
178
8 Abbildungen
•
Abbildung 1: Stammbaum meines Vaters Peter Riesenfeld.
Quelle: Cornelia Rosenkranz.
•
Abbildung 2: Rosalia und Amalia Haschberger.
Quelle: In Besitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.
179
David Pöcksteiner
Zwischen Mitgliedschaft und Ablehnung
Kindheitserinnerungen meiner Großeltern an den Nationalsozialismus
180
Inhalt
1 Einleitung
181
2 Hauptteil
183
2.1 Familiärer Hintergrund
183
2.2 Kindheit in der NS-Zeit
191
2.3 Das Jahr 1945
197
2.4 Umgang mit dem Nationalsozialismus nach 1945
209
3 Schluss
211
4 Quellen
214
5 Abbildungen
214
181
1 Einleitung
Österreich ist das erste Opfer des Nationalsozialismus. Dieser Satz prägte lange Zeit
das Verständnis der ÖsterreicherInnen hinsichtlich der sieben Jahre dauernden Herrschaft des Nationalsozialismus. Trotz einer großen Zahl an Mitgliedschaften in der
NSDAP und weit verbreiteter Begeisterung für den Anschluss an das Deutsche Reich
hatte nach dem Krieg plötzlich niemand Verbrechen begangen oder gar von ihnen gewusst. Dieses Bild prägte auch das Selbstverständnis vieler österreichischer Familien.
Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft gab es scheinbar in keinen Fa milien mehr Parteimitglieder. Es gab zwar die zahlreichen Soldaten, aber hatten diese
nicht nur ihre Pflicht getan und das Vaterland verteidigt?
Erst im Laufe der Zweiten Republik brach das Bild von Österreich als Opfer der Aggression Deutschlands langsam auf. Innerhalb von Familien wird aber oft bis zum heutigen Tag – vor allem in Hinblick auf Fragen der Schuld und Täterschaft – weiter ge schwiegen.381
Auch in Teilen meiner Familie war der Nationalsozialismus lange ein Thema, über das
nicht gesprochen wurde. Das lag einerseits an den Erfahrungen der Soldaten an der
Front, die nie darüber sprechen wollten, andererseits aber auch an der Scham, an dieses System geglaubt zu haben.
Wie in so vielen Familien gäbe es auch in meinem Fall eine Reihe von Personen, sowohl Soldaten und Parteimitglieder als auch GegnerInnen und MitläuferInnen, die Bezug zu dieser Zeit haben und über die geforscht werden könnte.
Im Rahmen dieser Seminararbeit habe ich mich entschlossen, mein Forschungsfeld auf
meinen Großvater mütterlicherseits, Johann Eckel, geboren 1930, und meine Großmutter väterlicherseits, Maria Pöcksteiner, geboren 1929 als Maria Luger, zu konzentrieren. Dies habe ich getan, weil mein Großvater väterlicherseits, Franz Pöcksteiner,
geboren 1914, als ehemaliger Soldat zwar interessant für die Geschichte der Familie
ist, dieser aber bereits verstorben ist. Meine Großmutter mütterlicherseits, Maria
Eckel, wurde hingegen erst im Jahr 1939 geboren und hat daher nur wenige eigene
Erinnerungen an die Zeit der NS-Herrschaft.
Die Wahl der Familienmitglieder, Johann Eckel und Maria Pöcksteiner, erweist sich auch
deshalb als interessant, da ich im Rahmen dieser Arbeit Vergleiche zwischen den beiden Personen ausarbeiten kann. Sie kommen zwar aus verschiedenen sozialen Milieus
und sind unterschiedlichen Geschlechts, sie sind aber beinahe gleich alt und stammen
aus dem Mostviertel in Niederösterreich. Außerdem kommen sie beide aus einer Generation, deren VertreterInnen großteils zu jung sind, um als TäterInnen der NS-Zeit be381
Margit Reiter, Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck-Wien 2006, 47.
182
zeichnet werden zu können, aber alt genug um diese Zeit selbst miterlebt zu haben.
Sie stehen also gewissermaßen zwischen ihrer Eltern-Generation, deren VertreterInnen als TäterInnen in Frage kommen und der Generation ihrer Kinder, die nach der
NS-Herrschaft geboren wurden und danach wissen wollten, wie dies alles möglich war.
Ebenso wuchsen sie im nationalsozialitischen Erziehungssystem auf und haben Demokratie erst nach dem Krieg kennengelernt. In meiner Arbeit möchte ich zuerst auf den
familiären Hintergrund meiner beiden Großeltern und danach kurz auf ihr Leben während der NS-Herrschaft eingehen. Am ausführlichsten werde ich mich mit dem Jahr
1945 beschäftigen. Dabei werde ich mich mit den Erfahrungen des Krieges, der Judenvernichtung und dem als Befreiung oder Besatzung empfundenen Einmarsch der Sowjetsoldaten sowie dem Leben nach Kriegsende beschäftigen.
Ziel meiner Arbeit ist es, die Frage zu beantworten, wie sich der familiäre Hintergrund,
die Erziehung und die letzten Monate im Jahr 1945 auf meine Großeltern ausgewirkt
haben und wie ihre Erfahrungen und Eindrücke nach 1945 verarbeitet worden sind.
Nun werde ich noch kurz die von mir verwendeten Quellen sowie die Literatur und die
theoretischen Ansätze erläutern, auf denen meine Arbeit aufbaut.
Grundbaustein meiner Arbeit waren Interviews mit meinen Großeltern Johann Eckel
und Maria Pöcksteiner. Dabei habe ich teilstrukturierte narrative Interviews geführt.
Diese sind in der Oral History und der Zeitgeschichtsforschung üblich. Sie beginnen
mit einer relativ offenen Einstiegsfrage, die den Interviewten/die Interviewte zum Erzählen
auffordert.
Anhand
eines
Interviewleitfadens
soll
der
Interviewer/die
Interviewerin nur dann eingreifen, wenn der Interviewpartner/die Interviewpartnerin
nicht mehr zum Thema spricht oder wenn Verständnisfragen auftauchen. 382 Dazu kommen noch Interviews mit meinen Eltern Johann und Elisabeth Pöcksteiner, bei denen
der Fokus auf dem Umgang ihrer Eltern mit dem Nationalsozialismus nach 1945 lag.
Beim Erarbeiten und Auswerten der Quellen ist mir bewusst, dass Interviews nicht
zwingend die Realität widerspiegeln, sondern dass sie eine selektive Auswahl von Ereignissen wiedergeben, an die sich meine InterviewpartnerInnen erinnern oder zu erinnern glauben. Die Erinnerung an lange zurückliegende Ereignisse kann dabei sehr
leicht Veränderungen unterliegen. Sie können bewusst falsch erzählt werden oder
auch durch das Vergessen und die Aufnahme von Erinnerungen anderer Menschen beeinflusst worden sein.383
Ich versuchte daher in dieser Arbeit die Erzählungen durch schriftliche Quellen und Literatur zu unterstreichen oder zu korrigieren, was allerdings nicht immer möglich war.
Schriftliche Quellen für diese Arbeit waren z. B. Briefe, NSDAP-Mitgliedskarten, Tage382
383
Reiter, Die Generation danach, 32f.
Reiter, Die Generation danach, 38f.
183
bucheinträge und Schulunterlagen. Vor allem bei meinem Großvater Johann Eckel gibt
es eine Vielzahl von schriftlichen Quellen, im Falle meiner Großmutter Maria Pöcksteiner allerdings nicht. Bei ihrer Erzählung stütze ich mich auf die Interviewtranskription sowie Fotos und Literatur.
2 Hauptteil
2.1 Familiärer Hintergrund
Am Beginn meiner Arbeit werde ich nun genauer auf den familiären Hintergrund meiner beiden Großeltern eingehen, der für die Einstellungen und Erlebnisse mit dem Na tionalsozialismus von großer Bedeutung war.
Mein Großvater mütterlicherseits, Johann Eckel, wurde am 5. 12. 1930 im Dorf Kleinrust, nördlich von St. Pölten, geboren. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, lebte
er in einem Haus mit nur zwei Zimmern und einem Hof mit seinen Großeltern Johann
und Anna, seinen Eltern Johann und Rosa, beide 1908 geboren, sowie seinem um 2
Jahre jüngeren Bruder Walter. Wie sein Großvater war auch sein Vater Holzschuhmacher. Dieser fand allerdings nur gelegentlich Beschäftigung und auch seine Mutter
Rosa arbeitete nicht. Bei der Geburt war mein Großvater ein sehr schwächliches Kind,
weshalb meiner Urgroßmutter Rosa gesagt wurde dass er die Kindheit wahrscheinlich
nicht überleben werde. Diese ging daraufhin nach St. Pölten zu dem Arzt Hugo Jury,
dem späteren Gauleiter von Niederdonau, da über diesen erzählt wurde, dass er eine
soziale Ader hätte und nur wenig Geld von armen Familien verlange. Danach wurde
ein zweiter, jüdischer Arzt in der Nachbargemeinde Obritzberg konsultiert. Dieser wird
später noch einmal erwähnt werden, weil er einer der wenigen Juden ist, die mein
Großvater bis zum Kriegsende getroffen hatte. Trotz der prognostizierten geringen
Überlebenschancen starb Johann Eckel nicht im Kleinkindalter.384
Die ersten Erfahrungen meines Großvaters mit dem Nationalsozialismus betreffen dessen Vater Johann Eckel, der noch vor dem Anschluss 1938 der NSDAP beitrat und wöchentlich zu Treffen in den nächstgelegenen größeren Ort Wölbling fuhr. Seine Mitgliedskarte mit dem Namen Hans Eckl trägt die Nummer 6.184.883, das Datum seiner
Aufnahme in die Partei ist der 1. 4. 1938.385
Dies sind beides Beweise für eine Mitgliedschaft bereits vor dem Anschluss, da die
Nummern 6.100.000 bis 6.600.000 für Personen reserviert waren, die schon vor der
Eingliederung Österreichs Parteimitglieder waren. Viele dieser illegalen NationalsoziaInterview mit Johann Eckel, geführt am 10. 11. 2012, Bänder beim Autor.
NSDAP Mitgliedskartei, Eckl Hans, Bibliothek für Zeitgeschichte Wien, Mikrofilmrolle: A3340 MFOK D064, siehe
Anhang 1.
384
385
184
listInnen wurden dann gemeinsam am 1. 5. 1938 in die Partei aufgenommen,
unabhängig davon, wann sie wirklich beigetreten waren bzw. wann sie den Antrag auf
die Aufnahme gestellt hatten.386 Johann Eckel stellte den Antrag bereits vor dem
Anschluss am 6. 1. 1938. Von den wöchentlichen Treffen blieb meinem Großvater
dabei vor allem das Aussehen seines Vaters in Erinnerung, der immer frisch rasiert
war und eine Uniform trug. Nach seinen eigenen Angaben wusste mein Großvater aber
nicht, was bei diesen Treffen genau gemacht und besprochen wurde. Er betont heute,
dass die Zugehörigkeit seines Vaters zur NSDAP vor allem durch dessen Armut und
Arbeitslosigkeit bedingt war und nicht durch ideologische Überzeugung. Die NationalsozialistInnen versprachen eine bessere Zeit und seien die einzigen gewesen, die ihm
geholfen hätten; so beschreibt mein Großvater die Beziehung seines Vaters zu der
NSDAP.387 Heute ist nur schwer nachzuvollziehen, ob mein Urgroßvater Johann überzeugter Nationalsozialist war, oder ob er nur aus wirtschaftlichen Gründen der Partei
beigetreten ist. Das Argument, dass einzig die Arbeitslosigkeit die Menschen zur Mitgliedschaft bei der NSDAP getrieben hätte, ist ein sehr gängiges und wird häufig in Familienerzählungen verwendet, wenn bekannt ist, dass ein Familienmitglied NationalsozialistIn war. Es wird dabei meist als Entschuldigungsgrund für die Mitgliedschaft verstanden, als Abgrenzung zu den sogenannten wirklichen NationalsozialistInnen, die
Verbrechen begangen hatten.388
Die Arbeiterschaft, zu der mein Urgroßvater gehörte, unterstützte in der Ersten Republik vor allem die Sozialdemokratie, deren Hochburgen in erster Linie die großen Städte und Industriezentren waren. In vielen Landgemeinden war dies allerdings anders.
Die Landarbeiter wählten sehr oft die Christlichsoziale Partei oder unterstützen die NationalsozialistInnen. Sie bildeten die unterste soziale Stufe der Landbevölkerung, waren weder gewerkschaftlich organisiert noch Teil der bäuerlichen Lebenswelt, und waren dadurch anfällig für nationalsozialistisches Gedankengut.389
Meines Großvaters Mutter, Rosa Eckel, war laut eigenen Angaben unpolitisch. Auffällig
ist allerdings ein Schreiben des Bürgermeisters von Kleinrust, Karl Bracher, vom 3. 8.
1942 an meinen Urgroßvater (siehe Abbildung 1), in dem er ihn aufforderte, seine
Frau Rosa zum Arbeitseinsatz zu bewegen, da sie an keiner Versammlung der Frauenschaft sowie der dort zu verrichtenden Arbeiten teilnehme. Es sei auch seine Pflicht als
Parteigenosse, seine Frau daran zu erinnern, dass jeder Mensch seinen Beitrag zur
Volksgemeinschaft zu leisten habe, um zu verhindern, dass sich ein Jahr 1918 wiederGerhard Botz, Expansion und Entwicklungskrisen der NSDAP Mitgliedschaft. Von der sozialen Dynamik zur
bürokratischen Selbststeuerung? 1933-1945, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Beruf(ung): Archivar
Festschrift Lorenz Mikoletzky, Teil II, Bd. 55, Wien 2011, 1180.
387
Interview mit Johann Eckel.
388
Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschugnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im
Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002, 153.
389
Dirk Hänisch, Die österreichischen NSDAP-Wähler. Eine empirische Analyse ihrer politischen Herkunft und ihres
Sozialprofils, Wien-Köln-Weimar 1998, 362-370.
386
185
hole. Sie könne ja z.B. bei Flickarbeiten helfen, da sie das Frauenkleidermachen gelernt habe.
Vorangegangen ist ein Brief meines Urgroßvaters im Juli 1942, in dem dieser um die
Aufhebung der Dienstverpflichtung seiner Frau bat. Dieses Schreiben ist allerdings
nicht mehr erhalten.390 Dieser Brief ist ein Indiz dafür, dass Rosa Eckel wahrscheinlich
keine überzeugte Nationalsozialistin war. Die Jahre der NS-Herrschaft verbrachte mein
Großvater Johann großteils ohne seinen Vater. Dieser musste 1940 einrücken und
kam, mit Ausnahme von Fronturlauben, erst nach Ende des Krieges zurück. Im Jahr
1941 soll mein Großvater schließlich einen Brief seines Vaters bekommen haben, in
dem er schrieb: „mich können die Nazi […] mir können die Nazi gestohlen bleiben.“ 391
Bedingt durch die Erfahrungen an der Front soll mein Urgroßvater den NationalsozialistInnen den Rücken gekehrt haben. Mein Großvater betont, dass er diese Karte zwar
noch hat, aber gleich nach dem er sie bekommen hatte, das Geschriebene aus Angst,
dass jemand es lesen könnte, ausradiert hat.
390
391
Karl Bracher, Brief an den Soldaten Johann Eckel, Kleinrust 1942.
Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: Interview mit Johann Eckel.
186
Abbildung 1: Brief an den Soldaten Johann Eckel, Kleinrust 1942.
Quelle: In Privatbesitz des Autors bzw. der Familienmitglieder.
187
Am Beginn des Krieges wurde mein Urgroßvater Johann Eckel in Bayern und in Dänemark stationiert; wegen eines Spreizfußes wurde er zunächst nicht an die Front geschickt. Später musste er allerdings trotzdem an dem Russlandfeldzug teilnehmen,
wurde bei Rschew verwundet und in ein Lazarett in Koblenz gebracht. Nachdem seine
Verletzung geheilt war, wurde er Ende 1943 bzw. Anfang 1944 in Kreta stationiert und
schließlich in Griechenland gefangen genommen.
Der Krieg an der Ostfront gegen die Sowjetunion war von großer Grausamkeit und
Kriegsverbrechen geprägt. Nicht nur die Einsatzgruppen, die hinter der Front nach
Russland vordrangen, ermordeten hunderttausende Juden und angebliche kommunistische Funktionäre, sondern auch die Wehrmachtssoldaten selbst erschossen zahlreiche Jüdinnen und Juden, PartisanInnen und kommunistische „Kommissare“. 392 Es ist
durchaus auch möglich, dass Johann Eckel an Verbrechen gegen Jüdinnen und Juden
sowie der sowjetischen Zivilbevölkerung beteiligt war. Die Schlachten um die Stadt
Rschew, an denen Johann Eckel teilgenommen hatte, dauerten ganze 15 Monate, von
Jänner 1942 bis März 1943, und zählen zu den blutigsten des Zweiten Weltkrieges.
Nach dem erstmaligen Rückzug aus den Stellungen vor Moskau und der Gegenoffensive der Roten Armee konnte Rschew als Brückenkopf von der Deutschen Wehrmacht
gehalten werden, der daraufhin hart umkämpft war. Nach der Niederlage bei Stalingrad konnte die Wehrmacht ihre Stellung bei Rschew nicht mehr halten und musste
sich nach Westen zurückziehen. Die Schlachten endeten mit dem Sieg der Roten Armee, die in der Folge mit dem Vorstoß nach Westen begann.393
Kreta war am Beginn des Krieges für die Deutschen relativ unbedeutend, die Insel
wurde gemeinsam mit Italien besetzt und zwischen den Verbündeten geteilt. Erst mit
der Niederlage im Afrikafeldzug und dem Ausscheiden Italiens aus dem Krieg gewann
diese an Bedeutung. Zuerst wurde der italienische Teil von der Wehrmacht besetzt und
eine größere Anzahl von Truppen dort stationiert. 394 Ob mein Urgroßvater Johann Eckel
an dortigen Kriegsverbrechen beteiligt war, kann im Zuge dieser Seminararbeit nicht
überprüft werden, weil nicht genau feststeht, wann er nach Kreta kam und welcher
Einheit er angehörte. Im Herbst 1943 töteten z.B. deutsche Soldaten über 400 Zivilis tInnen und brannten Dörfer nieder, nachdem Kameraden von Partisanen als Geiseln
gefangen genommen worden waren.395 Im Jahr 1944, in dem Johann Eckel jedenfalls
schon auf Kreta stationiert war, kam es aufgrund von verstärkten Partisanentätigkeiten und eines befürchteten baldigen Angriffs auf die Insel durch die Alliierten zu einer
Zunahme von Repressalien gegen die Zivilbevölkerung. In der letzten großen Aktion
392
393
394
395
Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1990, 312-318.
Albert Seaton, Der russisch-deutsche Krieg 1941-1945, Frankfurt am Main 1973, 214-260.
Alexandra Marianne Stefan, Deutsche Kriegsverbrechen auf Kreta 1941-1945, Dipl. Arb., Wien 1999, 71f.
Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Absätze: ebd.
188
gegen die Partisanen, mit dem Codenamen „Rattenfänger“, wurden über 500 Menschen erschossen und über 1.000 festgenommen. In britischen Berichten sind diese
Zahlen sogar doppelt so hoch. Die im Jahr 1944 verbliebenen 341 Juden auf Kreta
wurden im Mai von der Insel gebracht und das Schiff, wahrscheinlich von der Briti schen Marine, versenkt. Im September 1944 wurde schließlich ein Teil der Deutschen
Truppen auf das griechische Festland überführt und im nachfolgenden Jahr in Gefangenschaft genommen; darunter wahrscheinlich auch mein Urgroßvater. Den Rückweg
von Griechenland nach Österreich musste er schließlich zu Fuß zurücklegen.
Nach seiner Rückkehr war er ein gebrochener Mann und ging eine Zeit lang nur aus
dem Haus, um seiner Registrierungspflicht nachzukommen. Als illegaler Nationalsozialist wurde er als Teil des harten Kernes der Partei in Österreich angesehen und
dementsprechend behandelt. Zuerst sollten vor allem diejenigen, die bereits vor dem
Anschluss 1938 illegal in der Partei engagiert waren, hart bestraft werden. Sie wurden
am Beginn des Jahres 1945 als Hochverräter angesehen. In den Jahren 1945 bis 1947
mussten sich alle ehemaligen NationalsozialistInnen registrieren lassen und waren von
Wahlen ausgeschlossen.396
Die Linie der österreichischen Regierung gegenüber den ehemaligen NationalsozialistInnen änderte sich relativ rasch, nur noch die Parteimitglieder sollten bestraft werden, die ihre Position missbraucht hatten. Nach einigen Änderungswünschen der Alliierten wurde 1947 das Nationalsozialistengesetz beschlossen, dass eine Trennung in
Belastete und Minderbelastete vorsah. Der Großteil wurde schließlich als Minderbelastete eingestuft, diese musste lediglich Geldbußen leisten bzw. waren vom Ausscheiden
aus öffentlichen Ämtern oder Berufen betroffen. Zu diesen Minderbelasteten wurde
auch Johann Eckel gezählt.397
Mein Großvater bezeichnet die Behandlung seines Vaters, trotz der geringen Auswirkungen auf diesen, als unfair, da sich dieser nach seinen Angaben bereits während des
Krieges von den NationalsozialistInnen abgewandt hatte, aber trotzdem wie ein
Kriegsverbrecher und Täter des NS-Systems behandelt wurde. Nur die katholische Kirche hätte sich meines Urgroßvaters angenommen und so geholfen, ihn wieder in die
Gesellschaft zu integrieren.
Das Verhältnis meines Großvaters zu meinem Urgroßvater ist durchaus ambivalent. Einerseits gibt er zu, dass dieser bereits vor dem Anschluss Mitglied der NSDAP gewesen ist. Andererseits soll dies keine ideologischen Gründe gehabt haben. Weiters
spricht er von dem Brief seines Vaters, den er von der Front bekommen hat, erwähnt
Ulrike Riebenbauer, Entnazifizierung. Ein Kapitel österreichischer Nachkriegsgeschichte, Dipl. Arb., Wien 1988), 3336.
397
Winfried R. Garscha, Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung von NS-Verbrechen, in: Emmerich Talos/ Ernst
Hanisch/ Wolfgang Neugebauer/ Reinhard Sieder (Hg.), NS Herrschaft in Österreich, Wien 200, 858-861.
396
189
jedoch nicht die mögliche Teilnahme meines Urgroßvaters an Kriegsverbrechen. Auch
die Behandlung meines Urgroßvaters Johann Eckel nach dem Krieg empfindet mein
Großvater, wie bereits erwähnt, als ungerecht.398
Abbildung 2: Familie Luger im Frühling 1930.
Quelle: In Privatbesitz des Autors bzw. der Familienmitglieder.
Meine Großmutter väterlicherseits, Maria Pöcksteiner 399, wurde am 9. 10. 1929 in
Göttsbach in der Gemeinde Ybbs an der Donau als Maria Luger geboren und kommt
aus gänzlich anderen familiären Verhältnissen als Johann Eckel. Ihre Mutter Maria Luger, geboren als Nahringbauer 1896, und ihr Vater Karl Luger, geboren 1890, hatten
noch fünf weitere Kinder (siehe Abbildung 2). Anna wurde 1924, Karl 1926, Alois
1927, ihr Zwillingsbruder Johann 1929 und Josef 1933 geboren. Mein Urgroßvater Karl
Luger starb nur einen Monat nach der Geburt Josefs an einem Blutgerinnsel im Kopf.
Maria Luger heiratete daraufhin am 30. 7. 1934 Franz Rosenberger, geboren 1886. Sowohl Maria und Karl Luger als auch Franz Rosenberger waren LandwirtInnen.
Der Hof, auf dem meine Großmutter geboren wurde, war von ihren Großeltern mütterlicherseits, Alois und Maria Nahringbauer, gekauft worden, wobei diese Schulden aufgenommen hatten. Ursprünglich hätte der Hof wieder verkauft werden sollen, da die
beiden einzigen Töchter durch Heirat auf andere Höfe kommen sollten. Als Maria dann
Karl Luger heiratete, übernahmen sie den Hof und auch die Schulden. Dies war auch
einer der Gründe, warum Maria Luger nach dem Tod ihres Mannes rasch wieder heiraInterview mit Johann Eckel.
Um die Verständlichkeit zu erhöhen bezeichne ich meine Großmutter als Maria Pöcksteiner und meine Urgroßmutter,
mit demselben Namen, als Maria Luger.
398
399
190
tete. Durch den frühen Tod Karl Lugers kannte meine Großmutter ihren leiblichen
Vater kaum. Allerdings war ihr Stiefvater Franz Rosenberger gut zu meiner Großmutter
und ihren Geschwistern und auch in der Verwandtschaft waren sie willkommen. Die
ganze Familie war stark konservativ-katholisch geprägt und bestand ausschließlich aus
Bäuerinnen und Bauern. Dies führte auch dazu, dass Maria Luger dem NS-Regime negativ gegenüber stand, die die katholischen Lehren einzuschränken versuchte. „Die
war ganz dagegen, nicht nur ein wenig, die war ganz dagegen“ 400, beschreibt meine
Großmutter die Einstellung ihrer Mutter gegenüber der NS-Herrschaft. Als Maria Pöcksteiner und ihre Geschwister am Tag des Anschlusses Flugzettel einsammelten, die
von deutschen Flugzeugen abgeworfen worden waren, und nach Hause brachten, soll
die Mutter zu den Kindern gesagt haben: „… und rennt nicht mit dem Blödsinn her um.“401 Dies ist auch das erste Erlebnis, an das sich meine Großmutter erinnert, wenn
sie auf die NS-Zeit angesprochen wird. „Die Mutter war ja … ein wenig politisch gesinnt, nicht so ich, mir ist alles egal,…“ beschreibt Maria Pöcksteiner einmal mehr die
katholisch geprägte, politische Einstellung meiner Urgroßmutter. Die Ablehnung des
Nationalsozialismus war weit verbreitet, vor allem unter konservativ-katholisch geprägten Bäuerinnen und Bauern. Diese richtete sich unter anderem gegen die Modernisierungstendenzen der NationalsozialistInnen, die gegen das traditionelle, katholisch-bäuerliche Weltbild und die katholische Kirche gerichtet waren. 402 Die ablehnende
Haltung der Familie meiner Großmutter zeigte sich jedoch nicht in Akten des Widerstandes, mit wenigen Ausnahmen am Ende des Krieges.
„Das bäuerlich-katholische Milieu, das sich durch ein stabiles, ortsgebundenes
und klassenübergreifendes Reservoir an Deutungsmustern auszeichnete, wirke
als eine Art „Schutzschild“ gegen den Versuch des NS-Regimes, die Massen zu
mobilisieren.“403
So beschreibt der Historiker Ernst Langthaler die Einstellung vieler katholischer Bauern
gegenüber dem neuen Herrschaftsapparat. Dabei war die Zugehörigkeit zum eigenen
bäuerlichen Milieu wichtiger als das konforme Verhalten gegenüber dem Nationalsozialismus. Dies zeigte sich z.B. in der Einhaltung von abgeschafften bäuerlich-katholischen Feiertagen oder mit der Grußformel „Grüß Gott“ statt „Heil Hitler“.
„Das NS-Regime konnte in diesen Dörfern, so scheint es, das bäuerlich-katholische Milieu kaum aufbrechen.“
„Bei den Bauern gestaltete sich die politische Propaganda als schwieriger“ 404, schreibt
Paul Keusch über die Bauernschaft in Ybbs an der Donau. Auch er sieht in den AngrifInterview mit Maria Pöcksteiner, geführt am 15.12.2012, Aufzeichnungen beim Autor.
Hierzu, sowie das nachfolgende Zitat: ebd.
402
Ernst Langthaler, Eigensinnige Kolonien. NS Agrarsystem und bäuerliche Lebenswelten 1938-1945, in: Emmerich
Talos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS Herrschaft in Österreich, Wien, 370.
403
Langthaler, Eigensinnige Kolonien, 370. Sowie das nachfolgende Zitat.
404
Paul Keusch, Nationalsozialismus in Ybbs an der Donau. Versuch der Durchleuchtung einer betrüblichen
Stadtgeschichte, Dipl. Arb., Wien 1990, 109.
400
401
191
fen gegen die Kirche durch die NationalsozialistInnen einen Grund für die ablehnende
Haltung vieler LandwirtInnen gegenüber der NSDAP. Die Angriffe verstärkten bei
vielen Bauern und Bäuerinnen die Religiosität, die zu vermehrten Kirchgängen und
Teilnahmen an kirchlichen Feiern führte. Diese Handlungen wurden teilweise als passive Akte des Widerstandes und der Ablehnung gewertet.
In diesem ersten Kapitel zeigen sich bereits die unterschiedlichen Ausgangssituationen
und sozialen Hintergründe meiner Großeltern. Vor allem die Erziehung, die soziale
Stellung und die Meinung der Eltern gegenüber dem Nationalsozialismus prägten die
Entwicklung und politische Einstellung
meiner Großeltern, auf die ich im folgenden
Kapitel genauer eingehen werde.
2.2 Kindheit in der NS-Zeit
Prägend für meinen Großvater Johann Eckel war, wie bereits erwähnt, vor allem die
Abwesenheit seines Vaters über beinahe die gesamte Dauer des Krieges. Zum Zeitpunkt des Anschlusses ging er in Kleinrust in die Volksschule, die zwei Klassen hatte,
und zählte zu einem der besten Schüler. Seine Lehrerin durfte ihre Arbeit, obwohl sie
nicht Parteimitglied war, nach dem Anschluss behalten, musste allerdings unentgeltlich
in der Gemeindekanzlei aushelfen. Nachdem mein Großvater bereits durch seinen Vater nationalsozialistisch geprägt war, setzte sich dies auch in der Schule fort. Selbst
Diktate dienten zur Verfestigung der Ideologie, Überschriften in einem Diktatheft aus
der vierten Klasse Volksschule lauteten z.B.: „Das Führerbild im Klassenzimmer“, „Die
Blutfahne“, „Wie ich meinen Körper stähle“ oder „Was aus den Knochen gemacht
wird“.405 Der Oberlehrer der Schule, der die andere Klasse unterrichtete, förderte meinen Großvater und meldete ihn, ohne Benachrichtigung seiner Mutter, im Gymnasium
in St. Pölten an, für das er auch die Aufnahmeprüfung schaffte. Weiters organisierte
der Lehrer ein Stipendium für meinen Großvater, wodurch dieser ab Herbst 1940 das
Gymnasium in St.Pölten besuchen konnte. Ein Schuljahr lang lebte er dort in einem
Schülerheim. Die Erfahrungen, insbesondere die Behandlung durch ältere Schüler, waren für meinen Großvater jedoch so schlimm, dass er drohte sich umzubringen, wenn
ihn seine Mutter nicht aus dem Internat nehme.
„Ich hab das nicht mehr ausgehalten, – dieser, dieser unglaubliche Zynismus,
der dort war und diese Härte, die dort war, man muss ja solche richtig
erziehen“406, beschreibt er seine Erfahrungen im Heim.
Die von ihm geschilderte Härte begann bereits in der Früh beim Aufwachen, als ihn die
älteren Schüler beispielsweise zwangen sein Bett mehrmals zu machen und er so das
405
406
Johann Eckel, Diktatheft der 4. Klasse Volksschule, Kleinrust 1940.
Interview mit Johann Eckel.
192
Frühstück verpasste. Nach einem Schuljahr erlaubte man ihm wieder zu Hause zu
wohnen, von da an fuhr er jeden Tag mit dem Rad oder mit dem Bus von Kleinrust
nach St. Pölten. Bis zum Kriegsende blieb er im Gymnasium. 407 Abseits der Schule war
Johann Eckel auch in nationalsozialistischen Jugendorganisationen tätig. Vom Beitritt
im Jahr 1940 bis zum Alter von 14 Jahren war er Mitglied des Jungvolkes, 1944 wurde
er schließlich Hitlerjunge. Er fand vor allem Gefallen an der Bewegung und der gemeinsamen Zeit im Freien.
„ …, weil ich eigentlich der Einzige war, der im Gymnasium war, war ich auch
der, der also, der muss einmal wieder wohin und das machen und so“, beschreibt er die Aufgaben die er in der Hitlerjugend in Kleinrust hatte.
Oftmals musste er mehrere Tage mit anderen Jungen in Zeltlagern verbringen, die ihm
nach seinen Angaben manchmal sehr gut und manchmal gar nicht gefallen hätten. Die
Bewegung in der Natur und die Kameradschaft mit den anderen Jungen haben ihm dabei sehr viel Spaß gemacht, der militärische Drill in manchen der Lager jedoch nicht.
Er erklärte mir, dass es manchmal schwierig gewesen sei, für die Schule zu lernen und
gleichzeitig in der Hitlerjugend aktiv zu sein.
Im Herbst 1944 wurden die Schüler seiner Klasse in St. Pölten Offizieren der Wehrmacht vorgeführt, die sie für verschiedene Einheiten des Heeres auswählten. Mein
Großvater wurde als Panzerschütze eingeteilt.
„Ich war klein natürlich, kann der schön in den Panzer drinnen sein und schießen kann ich auch […]“.
Er sollte danach ausgebildet werden und verbrachte daher im Herbst 1944 einige Tage
in einem Lager am Eibel bei Türnitz, wo er lernte zu schießen. Dort sah er auch wie
ein deutsches Flugzeug abgeschossen wurde, aus dem ein deutscher Soldat abgesprungen war. Dieser verkündete im Lager seine Überzeugung vom Sieg des Deutschen Reiches. Mein Großvater bekam im Gegensatz zu anderen Schulkollegen und
Hitlerjungen keinen Einberufungsbefehl zum Volkssturm. Männer wurden erst im Alter
von 16 bis 60 eingezogen408, und mit seinen 14 Jahren war mein Großvater dafür noch
zu jung.
Ein weiteres dieser Lager, dass Johann Eckel im Jahr 1944 besuchte, war in Pottenbrunn in der Nähe von St. Pölten, das ihm nach seinen Angaben gar nicht gefallen hat.
Vor allem die Strenge und der Drill setzten ihm zu. Dort wurde den Jungen die Anmeldung für die Napola diktiert, die sie danach zu unterschreiben hatten. Mein Großvater
wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, was der Begriff Napola bedeutete und unterschrieb
die diktierte Anmeldung ebenfalls. 409 Diese nationalpolitischen Anstalten dienten der
407
408
409
Hierzu, sowie die nachfolgenden drei Absätze: ebd.
Manfred Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, Wien 1984, 95.
Interview mit Johann Eckel.
193
Ausbildung und Erziehung der künftigen Elite des Deutschen Reiches. Dabei wurde
großer Wert sowohl auf körperliche Gesundheit als auch geistige Fähigkeiten gelegt. 410
Dazu, dass Johann Eckel die Napola besuchte, kam es allerdings nicht mehr. Neben
der Schule und der Mitgliedschaft in der Hitlerjugend war ebenfalls der beginnende
Luftkrieg über Österreich für Johann Eckel von Bedeutung. Obwohl von England aus
bereits ab dem Jahr 1943 Fliegerangriffe auf deutsche Städte, Betriebe und Infrastruktur durchgeführt wurden, blieb das heutige Österreich anfangs davon verschont. Erst
mit der Eröffnung der zweiten Luftfront und der Schaffung der Alliierten MittelmeerLuftstreitkräfte konnten Ziele in Österreich vom Süden her angeflogen und bombardiert werden. Am Beginn (ab dem Sommer 1943) wurden vor allem die Schlüsselindustriegebiete um Wien und Wiener Neustadt angegriffen, aber auch Innsbruck, Graz
und Klagenfurt. Bis 1945 wurde der Luftkrieg auf ganz Österreich ausgedehnt und neben den Industriezonen wurde auch Verkehrsknotenpunkte bombardiert.411
Am 26. 6. 1944 bombardierten kleinere Verbände erstmals auch St. Pölten, das über
einige wichtige Industriebetriebe verfügte. 412 In Moosbierbaum, zwischen Tulln und
Krems, gab es eine große Flak Stellung die mehrmals bombardiert wurde, wodurch
auch Kleinrust überflogen wurde. 413 Ein weiteres Ziel war ein Munitionslager in der
Nähe von Statzendorf, einer Nachbargemeinde von Kleinrust, sowie Eisenbahnlinien,
die dann jedoch schon von tief fliegenden Jagdflugzeugen bombardiert wurden. Diese
wurden eingesetzt, um Beschuss durch die Flak zu verhindern. 414 Die Stadt St. Pölten
selbst wurde in Folge selbst zehn Mal bombardiert; die Angriffe forderten 591 offizielle
Todesopfer.415 Neben den abgeschossenen Flugzeugen und den Toten erinnert sich
mein Großvater vor allem an das Verbot von Licht in der Nacht, um Geschwadern kein
Ziel zu geben, und dem regelmäßig einsetzenden Fliegeralarm, der allerdings viel öfter
ausgelöst wurde als es tatsächlich zu Angriffen kam.416
Von der Vernichtung der Jüdinnen und Juden gibt er an, nichts bemerkt zu haben. Auf
die Frage, ob er etwas von der Vernichtung der Juden gewusst habe, antwortete er:
„Nein, überhaupt nichts!“417 Er las allerdings regelmäßig die Hetzen im Stürmer gegen
die Juden und gab im Laufe des Interviews zu, doch etwas vom Verschwinden der Juden gehört zu haben. Allerdings wusste er nach eigenen Angaben nur, dass sie weggegangen waren oder weggebracht worden waren, aber nichts von Konzentrationslagern
oder den Erschießungen. Zwei Juden, die nach der Machtergreifung verschwunden
Christa Dorninger, Schulen in „Niederdonau“ von 1938-1945, Dipl. Arb., Wien 1993, 108.
Johann Ulrich, Der Luftkrieg über Österreich 1939-1945 (Militärhistorische Schriftenreihe 5/6), Wien 1994, 3.
412
Norbert Zand, Geschichte der Stadt St. Pölten von 1900-1950 im Wandel der politischen, sozialen und
wirtschaftlichen Umbrüche, phil. Diss., Wien 1997, 898.
413
Leopold Banny, Dröhnender Himmel, Brennendes Land. Der Einsatz der Luftwaffenhelfer in Österreich 1943-1945,
Wien 1988, 180.
414
Franz Küttner, 1848 bis 1945, in: Marktgemeinde Wölbling (Hg.), Wölbling einst und jetzt, Wölbling 2002, 300f.
415
Zand, Geschichte der Stadt St. Pölten, 898.
416
Interview mit Johann Eckel.
417
Hierzu, sowie der nachfolgende Absatz: ebd.
410
411
194
sind, waren ihm selbst bekannt. Einerseits handelte es sich um jenen Arzt aus Obritz berg, der ihn als kleines Kind behandelt hatte, andererseits um einen Geldverleiher
aus Herzogenburg. Dieser hatte seinem Vater im Jahr 1936 oder 1937 Geld geliehen,
damit dieser weiter Holzschuhe anfertigen konnte. Nachdem dieser verschwunden war,
freute sich sein Vater zuerst, dass er den Kredit nicht zurückzahlen müsse. Allerdings
stellte sich heraus, dass er diesen dann in weiterer Folge an den Staat zu zahlen hatte. Raul Hilberg erklärt, dass es oberstes Prinzip der deutschen Verwaltung war, dass
allein diese aus der Vernichtung der Juden finanziell profitieren solle. Daher wurde
eine Verordnung erlassen, die vorsah, dass alle deutschen Schuldner ihre Schulden,
die sie bei Juden aufgenommen hatten, an den deutschen Staat zurückzuzahlen hätten.418
Zusammengefasst, sind die wichtigsten Erlebnisse aus der Kindheit meines Großvaters
vor dem Jahr 1945: die Abwesenheit seines Vaters, der Besuch des Gymnasiums und
des Schülerheimes sowie die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend. Diese haben ihn geprägt und zu einem überzeugten Nationalsozialisten gemacht.
Anders verlief dagegen die Kindheit meiner Großmutter Maria Pöcksteiner. Bis zum
Jahr 1943 waren alle Familienmitglieder am Hof in Göttsbach. Franz Rosenberger war
zu alt, um zur Wehrmacht eingezogen zu werden, und ihre Geschwister zu Beginn des
Krieges zu jung. Wobei ihr ältester Bruder (Karl) 1943 schließlich eingezogen wurde.
Im Gegensatz zur Familie von Johann Eckel war auch die Versorgungslage mit Nah rungsmitteln in der Familie Luger besser. Maria ging zum Zeitpunkt des Anschlusses
Österreichs an das Deutsche Reich in die Klosterschule in Ybbs, die von den Armen
Schulschwestern geleitet wurde. Bis zum Schulschluss 1938 durften die Schwestern
unterrichten, danach wurde ein kommissarischer Leiter bestimmt, das Parteimitglied
Felix Schürrle, um die Schulangelegenheiten zu regeln. Im Schuljahr 1938/1939 wurde die Schule geschlossen und die Mädchen in die Volks- und Hauptschule verlegt. Die
unterrichtenden Ordensschwestern mussten aus dem Kloster ausziehen und durften
nicht mehr unterrichten. Das Schulgebäude wurde allerdings weiter für den Schulunterricht verwendet.419 Durch einen Erlass des Gauleiters Jury vom 17. 10. 1938 wurden
alle Privatschulen im Gau Niederdonau aufgelöst. Als Grund wird die „Einwandfreie Erziehung der Jugend im Sinne der NS-Weltanschauung angeführt“. 420 In der neuen
Schule hatte Maria einen Lehrer, der ein überzeugter Nationalsozialist war und regelmäßig über die Religion schimpfte, was meine Großmutter sehr störte. Sie selbst sagte
aber, dass sie zu Hause nie etwas darüber erzählte, was sie in der Schule von ihrem
Lehrer gehört hatte, um ihre Mutter nicht aufzuregen. Nichtsdestotrotz habe ihre Mut418
419
420
Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 494.
Keusch, Nationalsozialismus in Ybbs an der Donau, 53.
Dorninger, Schulen in „Niederdonau“, 114.
195
ter von den Nachbarskindern erfahren, was in der Schule unterrichtet worden ist. Als
daraufhin der Ybbser Bürgermeister Steinacker und seine Mutter anonyme Drohbriefe
erhalten haben, wurde meine Urgroßmutter Maria Luger beschuldigt, diese geschrieben zu haben. Sie wurde sogar auf den Gendarmerieposten Ybbs zitiert, um von
der Polizei befragt zu werden, allerdings durfte sie wieder nach Hause gehen und wur de trotz Ankündigung nicht mehr einvernommen.421
Ein sehr einschneidendes Erlebnis für Maria Pöcksteiner war die zeitweise Abwesenheit
ihrer Brüder ab dem Jahr 1943, da bis dato die gesamte Familie auf dem Hof zusammenwohnt hatte. Der älteste Bruder Karl musste 1943 im Alter von 18 Jahren zur
Wehrmacht einrücken. Danach wurde er zur Ausbildung nach Kremsier im heutigen
Tschechien geschickt, bevor er in den Krieg nach Frankreich ziehen musste. Vor dem
Transport der Truppen nach Frankreich hatten Maria Pöcksteiner und ihre Mutter noch
ein paar Stunden Zeit, ihn in Wels zu besuchen. Karl starb am 8. 6. 1944 bei der Invasion der Amerikaner in der Normandie im Raum Bassecourt. Begraben wurde er in der
Kriegsgräberstätte Orglandes/Manche in der Normandie. 422 Der Tod von Karl Luger verstärkte die bereits bestehende Ablehnung der Familie gegenüber dem Nationalsozialismus umso mehr. Der zweitälteste Bruder Alois musste regelmäßig zu Wehrertüchtigungen nach Schauboden bei Purgstall, ebenso Marias Zwillingsbruder Johann. Zu
Kriegsende half Alois regelmäßig auf einem Bauernhof von Verwandten in Ennsbach
mit, da in der dort ansässigen Familie auch ein Sohn im Krieg gefallen war. Ein paar
Tage vor Kriegsende wurde Johann mit zwei anderen Schulkollegen, von Schauboden
aus, von deutschen Soldaten nach Spital am Phyrrn mitgenommen und dann dort zurückgelassen. Von dort mussten sie teilweise zu Fuß, teilweise mit der Bahn nach Hause zurückfahren. Sehr eindrücklich und gerne schildert meine Großmutter Maria Pöcksteiner die Heimkehr von Johann mit den beiden anderen Jungen im Mai 1945, die von
der Westbahnstrecke bei Neumarkt über die Felder in Richtung Göttsbach gingen. Dieses Ereignis war umso bedeutender für die Familie, da Karl bereits gefallen war und
die Ungewissheit über den Verbleib von Johann zu Ende des Krieges sehr belastend
war.423
In Erinnerung geblieben ist meiner Großmutter auch die Einquartierung von „Volksdeutschen“ aus Bessarabien und der Dobrudscha in der ehemaligen Klosterschule in
Ybbs.424 Diesen, wie mir meine Großmutter erzählte, war Land im Deutschen Reich
versprochen worden. Sie ist der Meinung, dass Familien wie ihre eigene anschließend
in die eroberten Ostgebiete ausgesiedelt werden sollten, weil sie es waren, die das
Interview mit Maria Pöcksteiner.
Karl Luger, Kriegsgräbersuche, Volksbund, URL: http://www.volksbund.de/index.php?
id=1775&tx_igverlustsuche_pi2[gid]=2968c3071e4ef88e92f4a25fd068998f (abgerufen am 16.4.2013).
423
Interview mit Maria Pöcksteiner.
424
Keusch, Nationalsozialismus in Ybbs an der Donau, 68.
421
422
196
Land in Österreich bereits besaßen und bestellten, um so den neuen Siedlern Platz zu
machen.425 Bei der angeblichen Aussiedelung österreichischer Familien in die Ostgebiete liegt sie jedoch falsch, weil den deutschsprachigen Menschen aus Osteuropa zu
großen Teilen Siedlungsgebiete in den eroberten Ostgebieten versprochen worden waren, wie z.B. in Westpreußen, dem Warthegau oder dem Generalgouvernement, und
keine österreichischen LandwirtInnen ausgesiedelt werden sollten. 426 Die angebliche
Aussiedelung der katholisch-bäuerlichen Bevölkerung aus Österreich in die Ostgebiete
passt zum Bild der Familie Luger über den Nationalsozialismus, der die traditionelle
bäuerliche Lebenswelt zu zerstören drohte. Diese Annahme erweist sich retrospektiv
aber als falsch, nach dem Krieg waren die volksdeutschen Siedler wieder verschwunden, wohin wusste Maria Pöcksteiner nicht. Die Deutschen aus Bessarabien und der
Dobrudscha waren nach Verträgen mit der Sowjetunion und Rumänien im Herbst 1940
umgesiedelt worden. Deutschland verzichtete in dem geheimen Zusatzprotokoll zum
Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion auf den Einfluss in Bessarabien, woraufhin Rumänien Bessarabien an die UdSSR abtreten musste und die ca. 93.000 Bessarabiendeutschen umgesiedelt wurden.427 Auch die ca. 16.500 Dobrudschadeutschen wurden
1940 umgesiedelt und kamen am Beginn ihres Aufenthaltes in Umsiedlungslager, wie
z.B. in Ybbs an der Donau.428
Durch ihren bäuerlichen Hintergrund hatte Maria Pöcksteiner auch Erfahrungen mit
Zwangsarbeitern aus Osteuropa gemacht. Sie berichtet, dass es immer wieder Diebstähle gab, die von Zwangsarbeitern begangen worden sind, welche dann meistens erwischt wurden. Aus einem benachbarten Wirtshaus wurde beispielsweise Fleisch gestohlen, von Männern die wahrscheinlich aus der Sowjetunion kamen. Diese wurden
erwischt und verhaftet. Was dann passiert ist, gibt meine Großmutter an nicht zu wissen.
„Die haben ja Hunger gehabt […] dann haben sie halt eingebrochen, dass sie
was zu essen haben, …“429
Anders als bei Johann Eckel war der Lebensmittelpunkt von Maria Pöcksteiner, der elterlicher Hof, nicht nationalsozialistisch geprägt. Das wichtigste Ereignis für die Familie
während dieser Zeit war der Tod von Karl 1944, der die ablehnende Haltung der Fami lie gegenüber dem Nationalsozialismus noch verstärkte.
Beim Vergleich der wichtigsten Ereignisse und Erlebnisse zeigt sich wiederum die unterschiedliche Entwicklung und die konträren Einstellungen zum Nationalsozialismus.
Während Johann Eckel trotz seiner sozialen Herkunft in das Gymnasium gehen durfte,
Interview mit Maria Pöcksteiner.
Ortfried Kotzian, Die Umsiedler. Die Deutschen aus West-Wolhynien, Galizien, der Bukowina, Bessarabien, der
Dobrudscha und in der Karpatenukraine, München 2005, 24-26.
427
Ebd., 235-240.
428
Ebd., 269.
429
Interview mit Maria Pöcksteiner.
425
426
197
sowie aktives Mitglied in der Hitlerjugend war und daher viel Zeit außerhalb von Zuhause verbrachte, besuchte Maria Pöcksteiner die Volks- und Hauptschule in Ybbs,
während ihr Lebensmittelpunkt der elterliche Hof blieb.
2.3 Das Jahr 1945
Genauer möchte ich nun auf das Jahr 1945 eingehen und die Erlebnisse meiner Großeltern zum Kriegsende schildern, da ein Großteil ihrer Erzählungen diese Monate betrifft.
Am intensivsten und schmerzlichsten ist die Erzählung meines Großvaters über die
letzten Kriegstage 1945, zu denen er seine Erlebnisse in einem Tagebuch aufgeschrieben hat (siehe Abbildung 3/4/5). Dies hat er aber erst rückwirkend nach Ende des
Krieges getan. Der erste Eintrag ist der 14. 4. 1945. An diesem Tag zog er mit seiner
Mutter, seinem Bruder und der Großmutter mütterlicherseits, sowie einigen Nachbarn
in eine Sandgrube in die Nachbargemeinde Großrust, um sich dort vor den Kampfhandlungen zu verstecken, die Kleinrust in den nächsten Tagen erreichen sollten. 430
Die sowjetische Armee hatte an diesem Tag Herzogenburg, östlich von Kleinrust und
nördlich von St. Pölten, eingenommen, verzichtete dann aber darauf, weiter nach
Westen vorzustoßen.431 Am 15. 4. sahen die Flüchtlinge bereits die Front, die am Kölbling westlich von Herzogenburg stand, bevor diese am 16. 4. endgültig zu stehen kam.
Die Sowjetsoldaten standen in St. Pölten und Kleinrust, die deutsche Wehrmacht in
Obritzberg und Oberwölbling, den Nachbargemeinden von Kleinrust.432
„Kleinrust im Bezirk St. Pölten wurde nach etwa vierundzwanzigstündigen Infanterie-, Artillerie- und Panzerkämpfen besetzt“, ist in der Chronik der letzten
Kriegstage in Österreich zu lesen.
Der Stopp des Vormarsches der Roten Armee ermöglichte es der Wehrmacht, die Front
zu festigen und die verschiedenen, verstreuten Truppenverbände in das Korps Schulz
einzugliedern. Daraufhin konnte die Wehrmacht ein weiteres Vordringen der Roten Armee verhindern und einige bereits verlorene Dörfer zurückerobern. 433 Am 16. 4. kamen die ersten russischen Soldaten zur Sandgrube, in der sich die Dorfbewohner aus
Kleinrust versteckt hielten, verlangten Alkohol und zählten die Menschen. „Es sind
freundliche Offiziere“434, schrieb mein Großvater. In der Nacht kamen abermals Russen, die Frauen mit sich zerrten und sie vergewaltigten. In dieser Nacht lag Johanns
Bruder Walter auf einer Decke und stellte sich schlafend. Unter dieser Decke versteck430
431
432
433
434
Johann Eckel, Tagebuch der letzten Kriegstage, Kleinrust 1945.
Theodor Rossiwall, Die letzten Tage. Die militärische Besetzung Österreichs 1945, Wien 1969, 183.
Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: ebd., 199.
Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, 229f.
Johann Eckel, Tagebuch.
198
te sich Rosa Eckel, die in dieser Nacht nicht von den Rotarmisten gefunden und
vergewaltigt wurde. Am darauffolgenden Tag zog die Familie Eckel wieder zurück nach
Kleinrust, während sich noch immer Deutsche und Sowjetsoldaten von den Stellungen
aus beschossen. Die Familie blieb im Bauernhaus der Familie Stelzhammer, mit der sie
von der Sandgrube aus nach Hause gefahren war. Dort schien es ihnen sicherer
gewesen zu sein als im Rest des Ortes, da dort auch die Kommandantur der Sowjets
untergebracht war.435
„… und da ist es natürlich nicht so zugegangen, wie es draußen zugegangen ist,
… “,436 beschreibt mein Großvater das große Bauernhaus und die Offiziere.
Seine Mutter versteckte sich dennoch mit drei anderen Frauen in einem Raum, in dem
Getreidespeicher des Bauernhauses. Der Raum, der von außen nur durch eine Leiter
zugänglich war, wurde laut den Erzählungen meines Großvaters von den Russen nicht
gefunden. Aus diesem Grund sah er seine Mutter zu dieser Zeit nicht. Die Bäuerin des
Hauses selbst war sehr alt und musste sich deshalb nicht verstecken. Mein Großvater
schlief in einem Zimmer mit seinem Bruder, der Bauernfamilie und einer jungen Polin,
die als Zwangsarbeiterin von den Deutschen nach Österreich gebracht worden war. Er
beschreibt, dass jede Nacht einer der Offiziere diese junge Polin vergewaltigt hatte.
„Dann war da noch ein kleines Bett, da hat diese junge Frau, diese Polin geschlafen. […], gekracht hat es sehr viel, wo die dort liegt und so, jeden Tag war
jemand da bei ihr in der Nacht. Da hast du dann auch mitgekriegt was war, was
ist denn da. Dann habe ich öfters ihr Stöhnen gehört.“
Johann selbst wurde nach dem Eintreffen im Bauernhaus der Stelzhammers zum eigenen Haus geschickt, um zu erkunden, was dort passiert war. Auf dem Weg dorthin sah
er zahlreiche tote Soldaten und die Schilderungen stocken ein bisschen, da es für ihn
noch immer sehr schmerzliche Erinnerungen sind. Vor allem an einen toten Soldaten
erinnert er sich sehr gut, über dessen Kopf wahrscheinlich ein Auto oder ein Panzer
gefahren war, wodurch dieser nur noch flach wie eine Scheibe war. Im eigenen Haus
hielten sich einige sowjetische Soldaten auf, die, wie meinem Großvater damals aufgefallen war, sehr viel zu essen hatten. Worüber er sich jedoch mehr wunderte war, dass
keine Autos im Dorf waren, sondern nur Pferde, die Wägen gezogen haben. Da er
nicht sehr groß war, wurde er von den Russen für ein Kind gehalten und konnte sich
relativ frei bewegen.
„Aber die haben den Kindern haben sie, haben sie nichts getan, gerade dass sie
ihnen nichts angeboten haben sogar“, beschreibt mein Großvater das Verhalten
der russischen Soldaten gegenüber den Kindern.
Nachdem er ein weiteres Mal zum Haus zurückkehrt war, fand er dort seinen Großva435
436
Interview mit Johann Eckel.
Hierzu, sowie die nachfolgenden Absätze und Zitate: ebd.
199
ter, der zusammengeschlagen worden war und ihm erzählte dass die Großmutter tot
sei. Dieser konnte allerdings kaum sprechen und ein paar Tage später wurder der
Großvater wieder geschlagen und von Johann in der Küche des Hauses liegend aufgefunden. Er blutete aus der Nase, brachte keine richtigen Worte mehr hervor und auch
Johann erkannte er nicht mehr. Mein Großvater brachte ihm jeden Tag etwas Suppe
und fütterte ihn, um ihn am Leben zu erhalten.437
Die verstorbene Großmutter, die im Garten begraben worden war, wurde mehrmals
ausgegraben, da man vermutete in der frischen Erde versteckte Wertsachen zu finden.
„Holzschuhmacher Johann Eckl von Kleinrust starb an den Folgen durch Rußen
empfangener Schläge. Sein Weib Anna wurde erwürgt. Warum unbekannt.“438
Dies ist in der Chronik der letzten Kriegstage aus Großrust zu lesen und erzählt von
Johann Eckels Großeltern. Am 30. 4. wurden Johann und seine Familie vor einem bevorstehenden Angriff der Sowjetsoldaten auf die deutschen Stellungen informiert und
aufgefordert Kleinrust zu verlassen. Dieser Aufforderung folgten sie nicht sofort, da sie
den im Sterben liegenden Großvater nicht zurücklassen wollten. Am 4. 5. mussten sie
dies schließlich doch tun und verließen mit einem Nachbarn das Dorf sowie den Großvater, der zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr tot sein sollte. Über Herzogenburg fuhren sie
nach Kiling, wo sie bei einem bekannten Bauern unterkommen konnten. 439 Am 7. 5.
notierte mein Großvater: „Es wurde gesagt, der Krieg sei aus.“ 440 Am 8. 5. kehrte
mein Großvater schließlich nach Hause zurück.
Schmerzlich erzählt er davon, sich eigentlich nie darum gekümmert zu haben, wo sich
seine Mutter oder sein jüngerer Bruder, um den sich die andere Großmutter gekümmert hat, zu der Zeit aufhielten. In seiner Erzählung betont er, dass es ihm in diesen
Tagen vor allem darum ging, selbst zu überleben. Erst nach Ende des Krieges wurden
die Leichen meiner Ururgroßeltern bestattet. Mein Großvater Johann erinnert sich vor
allem noch an den Gestank der Leichen auf dem Weg zur Beerdigung in Obritzberg.
Allerdings stand die Kirche dort nicht mehr, da sie von der SS in den letzten Kriegsta gen gesprengt worden war, um Menschen, die sich unter der Kirche in Kellergängen
versteckt hatten, zu töten.441
437
438
439
440
441
Johann Eckel, Tagebuch.
Chronik der letzten Kriegstage in Großrust, URL: http://www.grossrust.at/geschichte/ (abgerufen am 22. 1. 2013).
Johann Eckel, Tagebuch.
Ebd.
Interview mit Johann Eckel.
200
Abbildung 3: Johann Eckel, Tagebuch der letzten Kriegstage, Kleinrust
1945.
Quelle: In Privatbesitz des Autors bzw. der Familienmitglieder.
201
Abbildung 4: Johann Eckel, Tagebuch der letzten Kriegstage, Kleinrust
1945.
Quelle: In Privatbesitz des Autors bzw. der Familienmitglieder.
202
Abbildung 5: Johann Eckel, Tagebuch der letzten Kriegstage, Kleinrust
1945.
Quelle: In Privatbesitz des Autors bzw. der Familienmitglieder.
203
Bei der Erzählung über die sowjetischen Soldaten verwendet mein Großvater mehrere
typische Bilder von Rotarmisten. Einerseits werden sie als Plünderer und Vergewaltiger
dargestellt, was Johann Eckel selbst auch miterlebt hat, andererseits werden sie aber
auch als sehr kinderfreundlich beschrieben. Für die Historikerin Stelzl-Marx lässt sich
diese Kinderliebe zum einen durch die Unschuld der Kinder nach den Gräueln des Krieges, zum anderen durch propagandistische Zwecke der Sowjet-Kommandantur und
-Verwaltung erklären.442 Da er so klein war, hätten ihm die Rotarmisten beinahe etwas
angeboten, erzählte mir mein Großvater. Dies sei auch der Grund gewesen, warum er
sich frei bewegen habe können.
Klaus-Dieter Mulley bestätigt in einem Artikel die Erzählung meines Großvaters über
den ersten Kontakt mit den Rotarmisten. Der vorderste Teil der Soldaten sei rasch
nach Westen vorgestoßen und habe vor allem deutsche Soldaten gejagt, um sie zu töten oder gefangen zu nehmen. Diese haben aber keine oder nur wenige Verbrechen an
der Zivilbevölkerung begangen.443 Auch die ersten Soldaten, die das Versteck der Bewohner von Kleinrust erreichten, sind in der Erzählung meines Großvaters freundliche
Männer. Erst mit der zweiten Welle von Soldaten kam es zu einem Ausbruch der Gewalt – teils Plünderungen, teils Vergewaltigungen, teils Ermordungen.
„Neben sexuellen Übergriffen standen in der ersten Zeit der Besatzung scheinbar wahllose Tötungen von Ortsbewohnern an der Tagesordnung“ 444, beschreibt
Mulley das Verhalten der zweiten Welle von Soldaten.
Die Vergewaltigungen von Frauen und die Ermordung der Großeltern, von denen Johann Eckel erzählt, passen in dieses Bild. Die Führung der Roten Armee wurde vermutlich vom Ausmaß der Gewalt überrascht, wodurch es relativ lange dauerte, die eigenen Soldaten wieder unter Kontrolle zu bringen und bei Verbrechen ebenfalls zu bestrafen.
Zu lange hatte die sowjetische Propaganda auf die Soldaten eingewirkt, die alle Deutschen zum Feindbild erklärt und den Soldaten Rache für die Verbrechen der Wehrmacht an der Ostfront versprochen hatte. Daran änderte auch die Linie der Führung
der Sowjetarmee nichts, die den Soldaten auftrug, als Befreier aufzutreten. Die deutschen Besatzer Österreichs seien mit voller Härte zu verfolgen und zu bestrafen, während die österreichische Bevölkerung in Ruhe zu lassen sei, lautete der Befehl. In der
Realität war eine unterschiedliche Behandlung von Deutschen und ÖsterreicherInnen
nur sehr schwer zu erkennen und die Soldaten hielten sich nur sehr begrenzt an die
Barbara Stelzl-Marx, Freier und Befreier. Zum Beziehungsgeflecht zwischen sowjetischen Besatzungssoldaten und
österreichischen Frauen, in: Stefan Karner/ Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetischen
Besatzung 1945-1955, Graz-Wien-München 2005, 438-440.
443
Klaus-Dieter Mulley, Die Rote Armee in Niederösterreich 1945-1947. Ein ambivalentes Geschichtsbild, in: Stefan
Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetischen Besatzung 1945-1955, Graz-WienMünchen 2005, 471.
444
Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: ebd, 470-472.
442
204
Verordnungen der Spitze der Roten Armee.445
Auffallend ist, dass der Aufenthaltsort seiner Mutter Rosa und deren eventuelle Behandlung durch Rotarmisten in der Erzählung von Johann Eckel keine Rolle spielt. Er
geht davon aus, dass sie nicht das Opfer von Vergewaltigungen wurde, weil sie sich in
der ersten Zeit der russischen Besatzung versteckt hatte. Er gibt aber auch zu, sie in
den letzten Kriegstagen nie gesehen zu haben und spricht die darauffolgenden ersten
Friedensmonate auch nicht an, in denen es ebenfalls zu zahlreichen Vergewaltigungen
kam. Wie auch im Fall meiner Großmutter Maria Pöcksteiner und ihrer Schwester, auf
deren Schicksal ich noch näher eingehen werde, ist es nicht möglich festzustellen, ob
Rosa Eckel das Opfer von Vergewaltigungen durch Rotarmisten wurde.
Das Jahr 1945 stellte einen großen Einschnitt im Leben meines Großvaters dar. Er erlebte das Ende des Krieges, die damit verbundenen Kampfhandlungen sowie den Tod
seiner Großeltern direkt mit. Das politische System und die Ideologie, die ihn seit jeher begleitet haben, waren zu Ende. Neben der Tatsache, dass mein Großvater zu dieser Zeit nichts über den Aufenthaltsort seines Vaters wusste, war eine der schmerzlichsten Erfahrungen, das Ausmaß der Verbrechen des NS-Systems zu erfahren.
Im Gegensatz zu Johann Eckel hat Maria Pöcksteiner nur wenige direkte Kriegserfahrungen, da es keine Kampfhandlungen sowie kaum Fliegerangriffe in ihrem Heimatort
gegeben hatte. Ybbs lag nicht in der Nähe von wirtschaftlich bedeutenden Standorten
und wurde erst nach dem Ende der Kämpfe von der Roten Armee erreicht. Konkret
kann sich Maria Pöcksteiner nur an einen Angriff von Jagdflugzeugen erinnern, welcher
sich zu Ostern 1945 ereignete, als sie sich gerade auf dem Heimweg von der Schule
befand. Um sich vor den Tieffliegern in Sicherheit zu bringen, warf sie sich in einen
Straßengraben.446
In einem Buch des Militärhistorikers Rauchensteiner über den Krieg 1945 in Österreich
wird von zwei Angriffen auf Ybbs berichtet. Einerseits griffen am 17. 2. 1945 Begleitjäger und Jagdbomber im Tiefflug unter anderem Ziele in Ybbs an. 447 Ein weiteres Mal
beschoss ein Geschwader Anfang April 1945 die Donaubrücke in Ybbs, die dabei aber
nur teilweise zerstört wurde.448
Im Jahr 1945 waren immer wieder auch deutsche Soldaten und Polizisten am Bauernhof meiner Großmutter einquartiert. Sie kann sich beispielsweise an zehn Feldpolizisten erinnern, die am Heuboden geschlafen haben. Es waren großteils verheiratete
Männer über dreißig, die in der Nacht immer viel weinten und nur noch zu ihren Familien in das Rheinland zurück wollten. Sie hatten eine Feldküche dabei und saßen am
Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung, Wien-München
2012, 87-92.
446
Interview mit Maria Pöcksteiner.
447
Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, 57.
448
Ebd., 71.
445
205
Abend immer in der Stube bei der Familie meiner Großmutter, wo sie unter anderem
Mensch-ärgere-dich-nicht mit Maria und ihrer Schwester Anna spielten. Weiters waren
auch zwei junge SS-Männer im Hof einquartiert, die die Feldküche betrieben. Einmal
wurde ein Nachbar verhaftet, da er illegale Radiosender gehört hatte, und nach Stein
gebracht, wo er versuchte Selbstmord zu begehen. Als er im Frühling 1945 zurückkam, waren noch Soldaten auf dem Hof meiner Großmutter einquartiert, die sich nach
der Erzählung meiner Großmutter ebenfalls sehr freuten, dass der Nachbar zurückgekehrt war. Als Gegenstück zu den freundlichen Polizisten und Soldaten, die am Hof
einquartiert waren, beschreibt meine Großmutter einen weiteren Soldaten, der erst
später gekommen sei und nicht bei seinen Kameraden geschlafen habe, sondern in
der Stube. „Und wenn der Russe erst im Vorhaus ist, ist er noch immer nicht in der
Stube“449, soll er gesagt und im Gegensatz zu den anderen noch an den „Endsieg“ geglaubt haben.
Eine der berührendsten Erzählungen meiner Großmutter über das Jahr 1945 trug sich
im Frühling zu, als am Tor, das sich direkt neben der Straße befand, ein sehr dreckiger
und hungrig wirkender Mann hereinkam und meine Urgroßmutter Maria Luger um Essen bat. Sie gab ihm übrig gebliebene Griesnockerl und, als immer mehr Menschen
kamen und um Essen baten, gaben sie ihnen auch die Reste der SS-Feldküche und
schließlich auch die Essensreste, die für die Schweine gedacht waren. Nachdem meine
Großmutter gemeinsam mit ihrer Mutter das Essen ausgeteilt hatte, kam ein älterer
Mann in Uniform herein und schrie die beiden an: „Wissen Sie wen sie da füttern?“.
Meine Urgroßmutter soll geantwortet haben: „Ja das weiß ich schon – Hungrige.“ An scheinend hatten die beiden jüdischen Gefangenen zu essen gegeben, die sich auf einem Todesmarsch in Richtung Mauthausen befanden. Meine Großmutter erzählte mir
daraufhin noch, dass sie glaubt, dass diese Gefangenen später bei St. Georgen am
Ybbsfelde erschossen wurden.450
Bei dem Todesmarsch handelte es sich wahrscheinlich um ungarische Juden, die vom
„Südostwall“ an der österreichisch-ungarischen Grenze in Richtung Mauthausen getrieben wurden. Die Evakuierung der Lager begann in der zweiten Märzhälfte 1945 und
erfolgte teilweise zu Fuß, teilweise mit der Bahn. Die Routen nach Mauthausen verliefen entweder durch die Steiermark oder durch das südliche Niederösterreich. Immer
wieder kam es dabei zu Massakern an den Jüdinnen und Juden, z.B. am Präbichl bei
Eisenerz am 7. 4.451, in Persenbeug in der Nacht von 2. auf 3. 5., in Göstling am 13. 4.
oder am 15. 4. in Randegg.452 „Häftlinge, die von Wien-Floridsdorf nach Persenbeug
Interview mit Maria Pöcksteiner.
Ebd.
451
Daniyel Blatman, Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmordes, Reinbek
bei Hamburg 2011, 370f.
452
Eleonore Lappin-Eppel, Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Niederösterreich 1944/45.
Arbeitseinsatz – Todesmärsche – Folgen, Wien-Münster 2010, 178-190.
449
450
206
marschierten, passierten […] und Ybbs.“453 In einer Auflistung von Massakern an Juden
im heutigen Österreich der Israelischen Kultusgemeinde habe ich zwar einen Eintrag
gefunden, dass Juden in St. Georgen am Ybbsfelde erschossen worden waren, allerdings war es mir nicht möglich heraus zu finden ob es sich um den Todesmarsch gehandelt hat, den meine Großmutter beschrieben hat.454
Es ist typisch für die Generationen, die das NS-System miterlebt haben, die wenigen
Akte der Unterstützung für verfolgte Gruppen besonders hervorzuheben, wie im Fall
meiner Großmutter. Vor allem in den letzten Wochen und Tagen des Krieges, wo das
Ende der NS-Herrschaft bereits absehbar war, kam es verstärkt zu Hilfeleistungen an
Jüdinnen und Juden, indem diesen z.B. Essen gegeben wurde, ein Großteil der Bevölkerung stand ihnen aber weiterhin feindselig gegenüber. 455 In den letzten Kriegstagen
wurden schließlich die restlichen Polizisten und Soldaten, die am Hof meiner Großmutter einquartiert worden waren, von Autos abgeholt und nach Westen gebracht, um
diese vor den sowjetischen Soldaten und einer russischen Kriegsgefangenschaft zu be wahren. Meine Großmutter erzählt, dass sie diesen netten Soldaten zum Abschied
sogar noch Kuchen gebacken hätte.
Am 7. 5. war ein Abkommen zwischen der Heeresgruppe Ostmark und der amerikanischen Armee geschlossen worden, dass den Soldaten erlaubte, bis zum 9. 5. in die
amerikanische Besatzungszone zu fliehen, was große Teile der deutschen und österrei chischen Soldaten auch taten.456
Am 8. 5. um ca. 15 Uhr erreichten die Sowjetsoldaten Ybbs an der Donau.
„Der Einzug vollzog sich in aller Ruhe und ohne jeglichen Widerstand“ 457, ist im
Heimatbuch der Stadtgemeinde Ybbs zu lesen.
Allerdings wurden einige erwachsene Männer, unter ihnen Bürgermeister Heinrich
Steinacker, verschleppt sowie zahlreiche Frauen vergewaltigt. Meine Großmutter versteckte sich mit ihrer Schwester Anna eine Zeit lang bei den Klosterschwestern, die
vor dem Anschluss Österreichs die Schule in Ybbs geleitet hatten, aber auch zu Hause
auf dem Heuboden im Schweinestall. Dort war ein kleiner Verschlag mit einem Fenster
zur Straße hin, der nur sehr schwer zugänglich war. Weiters erzählt Maria Pöcksteiner,
dass sie nie beim Tor hinausgegangen seien, wenn sie Russen hörten oder sahen, sondern über den Misthaufen am hinteren Ende des Hofes geklettert waren. Während der
Arbeit auf dem Feld, hätten sie sich jedes Mal auf den Boden geworfen, wenn sie sowjetische Soldaten in der Nähe glaubten. Sie erzählt, dass es schon ein paar Frauen
gegeben habe, die von Russen überfallen und auch vergewaltigt wurden. Sie selbst
Ebd., 170.
Tatorte, Israelitische Kultusgemeinde Wien, URL: http://www.ikg-wien.at/?page_id=1879 (abgerufen am 24. 2.
2013).
455
Lappin-Eppin, Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, 194.
456
Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, 374.
457
Rudolf Grosser, Heimatbuch. Stadt Ybbs an der Donau, Ybbs an der Donau 1967, 62.
453
454
207
sagt aber: „Ja und da, wir sind halt durchgekommen …“ 458 Gewisse Stellen und Orte
haben sie stets gemieden, da bekannt war, dass vor allem dort Russen anzutreffen
waren. Diese Situation sei allerdings schnell wieder besser geworden.
Barbara Stelzl-Marx stellt in einem Artikel zu Beziehungen zwischen Rotarmisten und
österreichischen Frauen klar, dass es eine Vielzahl von Vergewaltigungen gegeben
habe, die genaue Zahl aber nicht bekannt sei. So stieg die Zahl der Geschlechtskrankheiten und unehelichen Schwangerschaften vor allem in der sowjetischen Besatzungszone stark an. Von 70.000 Neuzugängen von Gonorrhoe in Österreich 1945 entfielen
47.000 auf Niederösterreich.459 Bei den Zahlen der Vergewaltigungen greift sie auf die
Studien und Bücher der Historikerin Marianne Baumgartner zurück. Diese geht davon
aus, dass in Wien und Niederösterreich ca. 240.000 Vergewaltigungen und weitere
30.000 im Burgenland, im Mühlviertel und in der Steiermark stattfanden, bei einer
Zahl von 400.000 stationierten Rotarmisten. Dabei wurden jedoch viele Frauen mehrfach vergewaltigt, sowie auch viele Rotarmisten bei mehreren Frauen Vergewaltigungen begangen haben sollen.460 Für den Bezirk Melk, in dem Ybbs an der Donau liegt,
errechnet Marianne Baumgartner aus der Anzahl der Geschlechtskrankheiten sowie
den Korrespondenzen zwischen Gendarmerieposten und Krankenhäusern, dass ca.
1.300 Frauen zwischen Mai und Dezember 1945 vergewaltigt wurden. Dies ergibt
einen Anteil von 5,8% der Frauen zwischen 15 und 60. 461 Sie gibt weiters jedoch an,
dass dies nur eine ungefähre Zahl der Opfer darstellen könne. Vergewaltigungen hat
es aber auf Grund von mehrfachen Übergriffen auf einzelne Frauen bedeutend öfter
gegeben. Dennoch hält Baumgartner die ebenfalls existierenden Erzählungen über
Vergewaltigungen ganzer Dörfer für übertrieben und geht davon aus, dass diese Zahlen aus der Angst und Panik der Bevölkerung heraus entstanden seien. 462 Da, wie bereits erwähnt, keine genauen Zahlen und Studien zu diesen Themen vorliegen und die
meisten Zeitzeuginnen und potentiellen Vergewaltigungsopfer bereits verstorben sind,
ist es heute nicht mehr möglich, genau zu errechnen und festzustellen, wie groß die
Anzahl der tatsächlich vergewaltigten Frauen in den Monaten nach dem Einmarsch der
Roten Armee wirklich war.
Ich bin jedoch der Meinung, dass die von den Autorinnen angegebenen Zahlen zu
niedrig sein könnten, da sie lediglich die registrierten Fälle von Geschlechtskrankheiten als Quelle heranziehen. Möglicherweise gab es eine große Anzahl an Vergewaltigungen, in denen es nicht zur Übertragung von Krankheiten kam. Erschwerend kommt
hinzu, dass ein großer Teil der Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen wurden, dieses
Interview mit Maria Pöcksteiner.
Stelzl-Marx, Freier und Befreier, 424f.
460
Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich, 411f.
461
Marianne Baumgartner, „Jo, des waren halt schlechte Zeiten…“ Das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit
in den lebensgeschichtlichen Erzählungen von Frauen aus dem Mostviertel, Frankfurt am Main 1994, 96.
462
Ebd., 93-95.
458
459
208
nie zugegeben bzw. nicht über ihre Erlebnisse gesprochen haben.
Stelzl-Marx und Baumgartner erörtern, dass stattdessen sogenannte „Davongekommenengeschichten“ von der Mehrzahl der Frauen erzählt worden seien. Gerne wurde
hierbei auch die eigene Kreativität hervorgehoben, sich alt zu machen um Begegnungen mit den russischen Soldaten zu verhindern, sowie den vergewaltigten Frauen
gleichzeitig indirekt vorgeworfen wurde, zu passiv gewesen zu sein und so Mitschuld
an den Taten selbst zu tragen. Es sei heute sehr schwierig zu beweisen und zu erkennen, welche dieser Geschichten wahr sind und welche aus Scham, Tabuisierung und
Verdrängung erfunden werden, beschreibt Baumgartner weiter. 463 Ein weiteres gängiges Erzählmuster ist auch, dass die meisten Frauen berichten, sie hätten lediglich Vergewaltigungen anderer Frauen gesehen bzw. davon gehört, oder es seien Freundinnen, Nachbarinnen oder Verwandte davon betroffen gewesen.464
Meine Großmutter Maria Pöcksteiner fällt ebenfalls in das Schema dieser „Davongekommenengeschichten“. Sie verwendet sogar den selben Wortlaut, wenn sie sagt, sie
sei noch einmal davongekommen. Auch bei ihr kann man heute nicht mehr feststellen,
ob sie in ihrer Erzählung die Unwahrheit sagt oder ob sie tatsächlich Glück hatte, nicht
vergewaltigt worden zu sein. Aufgrund ihres Alters könnten sowohl meine Großmutter
als auch ihre Schwester Anna potentielle Opfer der Vergewaltigungen gewesen sein.
Für Maria Pöcksteiner stellte vor allem der Einmarsch der Roten Armee ein einschneidendes Erlebnis dar, da sie selbst bis zu diesem Zeitpunkt fast keine Erfahrungen mit
Gewalt und Krieg gemacht hatte. Im Großen und Ganzen hatte sich die Lebensführung
und Versorgungslage der Familie Luger, durch das Ende der Herrschaft der NationalsozialistInnen, verhältnismäßig wenig geändert. In Hinblick darauf stellte erst der Umzug
nach Ferschnitz im Bezirk Amstetten, auf den Hof der kinderlosen Schwester ihres
Stiefvaters, einen großen Umbruch im Leben von Maria Pöcksteiner dar. Sie zog dorthin, um bei der Arbeit zu helfen, später hätte sie diesen Hof auch übernehmen sollen.
Dies geschah schlussendlich doch nicht, da ihr Stiefonkel 1945 trotz Blindheit auf einem Auge sowie eines Herzfehler einrücken musste. Er wurde in Parndorf zum Panzersperrenbau eingesetzt, konnte aufgrund seines Herzfehlers nicht fliehen, geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft und verstarb schließlich in Bratislava. Daraufhin heiratete ihre Tante noch einmal, einen Mann, der bereits Kinder hatte. Nichtsdestotrotz
sollte sie auf diesem Hof ihren späteren Ehemann kennenlernen.465
463
464
465
Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich, 426.
Baumgartner, „Jo, des waren halt schlechte Zeiten…“, 131.
Interview mit Maria Pöcksteiner.
209
2.4 Umgang mit dem Nationalsozialismus nach 1945
Im abschließenden Kapitel möchte ich, nachdem ich die wichtigsten Ereignisse meiner
beiden Großeltern während der NS-Zeit geschildert habe, nun etwas genauer auf ihre
Erzählungen über die Zeit danach sowie über den Nationalsozialismus generell
eingehen. Dabei möchte ich erarbeiten, wie Opfer und Täter beschrieben werden und
ob bzw. wann meine Großeltern angefangen haben über ihre Erfahrungen aus der NSÄra zu sprechen.
Bei genauerer Betrachtung sind die Erzählungen meiner beider Großeltern durchaus
ambivalent. Zuerst möchte ich wieder genauer auf die Schilderungen meines Großvaters Johann Eckel eingehen.
Dieser hatte nur wenig Kontakt zu deutschen Soldaten, er beschreibt sie großteils als
nette, freundliche Männer. Einen Unteroffizier, den er in einem Lager der Hitlerjugend
getroffen hat, beschreibt er z.B. so:
„Den ich gehabt habe, das war ein Unteroffizier, der war aber muss ich sagen
nicht. Andere waren dabei, die waren, ganz andere. Die haben wieder, die waren ganz ahm, eigentlich. Der war auch nicht, ich glaub der war gar kein Nazi,
vielleicht sogar.“466
Der Unteroffizier, der immer freundlich war, ist aus seiner Sicht vielleicht gar kein Nazi.
Im Gegensatz dazu blieben ihm vor allem die Soldaten als negativ in Erinnerung, die
bis zum Schluss an den „Endsieg“ des Deutschen Reiches geglaubt hatten. „Aber das
macht nichts, der Krieg wird so weitergehen, bis wir siegen.“ So zitiert mein Großvater
jenen Soldaten, der im anfangs angesprochenen Lager aus einem Flugzeug abgesprungen war. Nationalsozialisten sind in seiner Erzählung vor allem die Menschen, die
ihre Zustimmung zur NSDAP und zum Endsieg öffentlich ausgesprochen haben.
Freundliche Männer, die dies nicht direkt getan haben, sind dagegen wahrscheinlich
keine Nationalsozialisten gewesen.
Interessant ist auch die Sicht von Johann Eckel auf seinen Vater. Einerseits betont er,
dass dieser bereits vor dem Anschluss der NSDAP beigetreten ist, andererseits behauptet er, dies sei nur durch die Arbeitslosigkeit und die Perspektivenlosigkeit seines
Vaters bedingt gewesen. Auch die Erzählung über den Brief von der Front, in dem
mein Urgroßvater Johann Eckel geschrieben haben soll: „mich können die Nazi […] mir
können die Nazi gestohlen bleiben“, hat diese Färbung. Er hat zwar als Soldat gedient,
das Soldatenleben und den Krieg jedoch schnell verabscheut und dies in selbigem
Brief zum Ausdruck gebracht. Ob dies wirklich stimmen kann oder dazu dient, die Mitgliedschaft seines Vaters sowie seine mögliche Begeisterung für den Krieg zu relativieren, ist heute schwer überprüfbar. Überdies zeigt Johann Eckel Unverständnis für die
466
Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Zitate: Interview mit Johann Eckel.
210
Behandlung seines Vaters gleich nach Ende des Krieges, da dieser als Soldat und Parteimitglied wie ein Kriegsverbrecher behandelt worden sei. Gleichzeitig stellt er jedoch
nicht die Frage, ob mein Urgroßvater Johann Eckel nicht vielleicht tatsächlich an
Kriegsverbrechen in der Ostfront oder in Griechenland beteiligt gewesen ist.
Auch in der Erzählung meiner Großmutter lassen sich einige Ambivalenzen finden. Diese vor allem in Hinblick auf die einquartierten deutschen Soldaten und Feldpolizisten.
Wie auch Johann Eckel teilt Maria Pöcksteiner diese in zwei Gruppen: einerseits die
freundlichen Polizisten und Soldaten, die nur noch nach Hause wollen und andererseits
die, die bis zum Schluss an den Sieg des Deutschen Reiches geglaubt und einen negativen Eindruck hinterlassen haben. Dabei stellt sie sich auch nicht die Frage nach den
Aufgaben der Feldgendarmerie, dem polizeilichen Arm der Wehrmacht, die dafür zuständig war, Deserteure aufzuspüren und hinzurichten, Partisanen zu bekämpfen sowie
Kriegsverbrecher zu bewachen, und eng mit der geheimen Feldpolizei zusammenarbeitete. Dies tat die Feldgendarmerie in vielen Gebieten mit Hilfe der Gestapo und lokalen
Polizeieinheiten oft noch bis zum Ende des Krieges.
„Der Terror richtet sich gegen widerspenstige oder verdächtige Ausländer und
Kriegsgefangene, gegen angegriffene Soldaten, die in den Verdacht der Desertion gerieten, Zivilisten, die für politisch unzuverlässig gehalten wurden oder ihrem Zweifel am „Endkampf“ in Wort und Tat Ausdruck gaben, gegen Juden sowie die Häftlinge in Gefängnissen und Lagern.“467
So beschreibt der Historiker Andreas Kunz die Aufgaben der Polizei und Feldgendarmerieeinheiten zu Ende des Krieges.
Beide Großeltern sind, trotz Ambivalenzen in den Erzählungen. heute überzeugte Antifaschisten. Sie zeigen jedoch kein Verständnis dafür, dass freundliche Menschen denen
sie in ihrer Kindheit begegnet sind und die nett zu ihnen waren, NationalsozialistInnen
gewesen sein könnten und möglicherweise an schweren Verbrechen beteiligt waren.
Abschließend bin ich der Frage nachgegangen, ob meine Großeltern damals bzw. wann
sie begonnen haben von ihren Erlebnissen während der NS-Zeit zu sprechen.
Johann Eckel hat sehr lange nicht über seine Erinnerungen an die NS-Zeit gesprochen.
Auch sein Vater, der 1970 starb, berichtete nie über seine Erlebnisse aus dem Kriege
oder seine frühere Begeisterung für die NationalsozialistInnen. Mein Großvater Johann
begann erst vor ca. zehn Jahren regelmäßig über seine Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zu berichten. Heute spricht er sehr oft und ausgiebig darüber, in allen
möglichen Situationen und zu den verschiedensten Anlässen.468
Dieses lange Schweigen über den Nationalsozialismus entspricht unter anderem der
gesellschaftlichen Situation direkt nach dem Krieg, in der prinzipiell nicht über SchuldAndreas Kunz, Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Mach in der Endphase der nationalsozialistischen
Herrschaft 1944 bis 1945, München 2005, 149.
468
Interview mit Elisabeth Pöcksteiner, geführt am 10. 2. 2013, Aufzeichnungen beim Autor.
467
211
und Täterfragen im nationalsozialistischen Österreich gesprochen wurde. Die öffentliche Debatte um die Mitschuld von ÖsterreicherInnen an Verbrechen begann erst in
den 1980er Jahren mit der Kandidatur Kurt Waldheims. Das öffentliche Eingeständnis
erfolgte erst am 8. 7. 1991 vom damaligen Bundeskanzler Franz Vranitzky in einer
Rede vor dem Nationalrat.
Ein weiterer Grund, für das Ausklammern der Erfahrungen aus der NS Herrschaft, liegt
meiner Meinung nach, im Falle meines Großvaters, auch an der Scham selbst an den
nationalsozialistischen Staat geglaubt zu haben bzw. Sohn eines illegalen Nationalsozialisten zu sein. Meine Mutter geht davon aus, dass die heutige Offenheit hinsichtlich
dieses Themas, vor allem durch das Alter meines Großvaters bedingt ist, und ihm
schließlich ermöglicht seine Erfahrungen zu verarbeiten und mitzuteilen.469
Maria Pöcksteiner, im Gegensatz zu Johann Eckel, hat immer über ihre Erlebnisse und
Erfahrungen aus der NS-Zeit gesprochen. Dabei betont sie vor allem die Bedeutung
von Religiosität für sie und ihre Mutter, die die Grundlage für die ablehnende Haltung
gegenüber dem Nationalsozialismus war. Für meinen Vater wiederum waren die Gespräche über die NS-Zeit mit seiner Mutter ausschlaggebend für sein Interesse an Politik.470 Anders als bei Johann Eckel gab es in ihrer Familie keine NationalsozialistInnen,
wodurch es meiner Großmutter viel leichter fiel über die eigene Vergangenheit zu
sprechen. Einzig über die Erfahrungen meines Großvaters Franz Pöcksteiner, dem Ehemann Maria Pöcksteiners, der als Soldat an der Ostfront und in Italien gekämpft hatte,
wurde in der Familie meines Vaters nie gesprochen.
3 Schluss
Ausgehend vom familiären Hintergrund habe ich nicht nur gezeigt, wie sich meine
Großeltern Maria und Johann im Verlauf der Herrschaft des Nationalsozialismus entwickelt haben, sondern auch einen kurzen Blick auf deren Einstellung zum Nationalsozialismus nach 1945 gegeben.
Beim Vergleich der beiden Großeltern lassen sich einige gravierende Unterschiede feststellen. Während die Familie von Johann Eckel nationalsozialistisch geprägt war stand
die Familie Luger dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber. Dies ist einerseits
durch die Religiosität, andererseits durch die soziale Stellung als Bäuerinnen und Bauern bzw. LandarbeiterInnen zu erklären. Obwohl die Familie Eckel eher wenig religiös
war hat vor allen die unterstützende Haltung der Kirche gegenüber ehemaligen NationalsozialistInnen, dazu geführt, dass auch Johann Eckel nach dem Ende der NSDAP zu
Interview mit Elisabeth Pöcksteiner.
Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: Interview mit Johann Pöcksteiner, geführt am 17. 2. 2013, Aufzeichnungen
beim Autor.
469
470
212
einem sehr religiösen Menschen wurde.
Auch die familiäre Struktur unterscheidet sich in beiden Fällen sehr. Die Familie Eckel
wurde gleich am Beginn des Krieges durch die Einberufung meines Urgroßvaters auseinandergerissen. Demgegenüber blieb die Familie Luger lange vom Krieg verschont,
hatte dann allerdings mit Karl ein Opfer zu beklagen, während Johann Eckel wieder
aus dem Krieg zurückkehrte, wobei dessen Eltern von Rotarmisten ermordet wurden.
Auch die prägendsten Ereignisse und Erlebnisse meiner beiden Großeltern unterscheiden sich sehr stark. Während Johann Eckel den Krieg, in Form von Kampfhandlungen
und des Luftkrieges, direkt miterleben, war dies bei Maria Pöcksteiner, mit Ausnahme
vereinzelter Luftangriffe, nicht der Fall.
Lediglich bei den Erzählungen über die So -
wjetsoldaten nähern sie sich an, vor allem hinsichtlich der Vergewaltigungsthematik.
Beide geben an, von Vergewaltigungen gehört oder diese gesehen zu haben; Familienmitglieder sollen aber nicht davon betroffen gewesen sein.
Betrachtet man das Jahr 1945 und das Ende der NS-Herrschaft, so stellte jenes für Johann Eckel einen viel größeren Einschnitt dar als für Maria Pöcksteiner. Für Johann war
der Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes gleichbedeutend mit dem
Untergang der Lebenswelt, in der er groß geworden war. Er wurde danach aber zu ei nem überzeugten Antifaschisten und erkannte, dass die Weltanschauung und die Werte die er gelernt hatte, falsch waren.
Für Maria Pöcksteiner war, auf einer persönlichen Ebene, der Wechsel auf den Hof ih rer Tante das wichtigste Ereignis des Jahres 1945, da sie dort die nächsten Jahre ver bringen sollte. Die Religiosität, die durch die Herrschaft der NationalsozialistInnen
noch gestärkt worden war, prägt ihr Leben bis heute. Weiterführend haben ihe Erzählungen über die NS-Zeit auch bei meinem Vater politisches Interesse geweckt und ihn
dahingehend geprägt.
Die Erzählungen meiner Großeltern nähern sich auch, in Hinblick auf die Kategorisierung der Personen aus ihrer Erinnerung, an. NationalsozialistInnen sind diejenigen, die
bis zum Schluss an den Sieg des Deutschen Reiches geglaubt hatten. Demgegenüber
stehen Personen, die ihnen freundlich gegenüber getreten sind, diese waren dadurch
entweder keine NationalsozialistInnen oder im schlimmsten Fall MitläuferInnen.
Diese Arbeit kann nur ein kleiner Teil der Aufarbeitung meiner Familiengeschichte sein,
und ist weit davon entfernt vollständig zu sein. Beim Schreiben der Arbeit bin ich auf
Themen gestoßen, die ich, in diesem Rahmen nicht beantworten bzw. mit denen ich
mich nicht beschäftigen konnte. Das betrifft beispielsweise die Frage nach den Vergewaltigungen von Familienangehörigen, aber auch die Erlebnisse der Soldaten in meiner
Familie. So konnte ich z.B. im Österreichischen Staatsarchiv keine Wehrstammbücher
von Wehrmachtssoldaten meiner Familie finden.
213
Nichtsdestotrotz kann diese Arbeit den Beginn der Aufarbeitung meiner Familiengeschichte darstellen und helfen offener über diese Zeit zu sprechen.
214
4 Quellen
•
Johann Eckel, Tagebuch der letzten Kriegstage, Kleinrust 1945.
•
Karl Bracher, Brief an den Soldaten Johann Eckel, Kleinrust 1942.
•
Johann Eckel, Diktatheft der 4. Klasse Volksschule, Kleinrust 1940.
•
Stammbaum der Familie Luger/ Lueger.
•
NSDAP Mitgliedskartei, Eckl Hans, Bibliothek für Zeitgeschichte Wien,
Mikrofilmrolle: A3340 MFOK D064.
Interviews:
•
Interview mit Johann Eckel, geführt am 10. 11. 2012, Aufzeichnung beim Autor.
•
Interview mit Maria Pöcksteiner, geführt am 15. 12. 2012, Aufzeichnung beim
Autor.
•
Interview mit Elisabeth Pöcksteiner, geführt am 10. 2. 2013, Aufzeichnungen
beim Autor.
•
Interview mit Johann Pöcksteiner, geführt am 17. 2. 2013, Aufzeichnungen
beim Autor.
5 Abbildungen
•
Abbildung 1: Brief an den Soldaten Johann Eckel, Kleinrust 1942.
•
Abbildung 2: Foto/Familie Luger im Frühling 1930.
•
Abbildung 3-5: Johann Eckel, Tagebuch der letzten Kriegstage, Kleinrust
1945.
Quelle: alle Abbildungen befinden sich in Privatbesitz des Autors bzw. der
Familienmitglieder.
215
Kristina Kreutzer
Zwischen Wahrnehmung und Wahrheit
Kindheitserinnerungen meiner Loosdorfer Familie aus dem Jahr 1945
216
Inhalt
1 Einleitung
217
2 Ein Überblick
218
2.1 Loosdorf
218
2.2 Meine Großeltern und ihre Familien
219
2.3 Der zeitliche Ablauf des Kriegsendes rund um Loosdorf
221
3 Die letzten Kriegsmonate in Loosdorf
223
3.1 Erinnerungen an die vermehrten Luftangriffe
223
3.2 Schule und Hitlerjugend in Loosdorf
224
3.3 Projekt Quarz – KZ Melk:
226
Ein Thema, das auch bei Kindern seine Spuren hinterließ
4 Einmarsch der Roten Armee in Loosdorf
228
4.1 „Die Russen kommen“
228
4.2 Dorfklatsch rund um die Entnazifizierungen
232
unter russischer Besatzung
4.3 Bei den Russen hatte ich’s gut …
233
5 „Gehungert haben wir nicht“ - Das Thema Ernährung 1945
234
6 Die Konstruktion von Erinnerungen
237
am Beispiel der Erzählungen meines Großvaters
7 Resümee
241
8 Abbildungen
243
217
1 Einleitung
Jede Generation und jede Familie schreibt ihre eigenen Lebensgeschichten. Diese stehen häufig in Verbindung mit wichtigen historischen Ereignissen. Im Falle meiner Familien spielen hierbei der Zweite Weltkrieg und die Lebensumstände, die sich daraus
ergeben haben, eine große Rolle. Schon als Kind lauschte ich gerne den Erzählungen
meiner Großeltern, sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits, und viele davon
faszinieren mich bis heute. Schnell stand für mich fest: Die Erzählungen und Erlebnisse meiner VorfahrInnen, die in gewisser Weise auch mein Leben geprägt haben, müssen bewahrt und in einen zeitlichen Kontext eingeordnet werden. Gleichzeitig musste
ich aber auch erkennen, dass die Lebensgeschichten meiner Großeltern väterlicherseits und jene ihrer Familien eigentlich schon verloren sind, da diese nur mehr zum
Teil von der nachfolgenden Generation wiedergegeben werden können.
So habe ich begonnen, mich verstärkt mit den Erlebnissen der Familie meiner Mutter
auseinander zu setzen. Besonders ereignisreich für meine Großeltern mütterlicherseits, Anton Brucker, geboren am 14. 8. 1931, und Josefa Brucker, geboren am 19. 9.
1936, waren sicherlich die letzten Kriegsmonate und der Einzug der russischen Besatzung in ihren Heimatort Loosdorf.
Die Geschichten meines Großvaters, damals ein Jugendlicher von 14 Jahren, handeln
von seinen Abenteuern, die er im Jahr 1945, seinen Schilderungen zu Folge, trotz drohender Gefahr erlebt hat. Seine Familie tritt in seinen Darstellungen nur bedingt auf.
Bei den Erzählungen meiner Großmutter hingegen stehen Personen, wie ihre Eltern
oder ihr Bruder, vermehrt im Vordergrund. Obwohl sie zu dieser Zeit erst ein kleines
Mädchen von neun Jahren war, erzählt sie das Erlebte überraschenderweise sehr genau und detailliert. Sie versucht auch über allgemeine Ereignisse aus dem Ort zu erzählen, schwenkt aber meistens in sehr persönliche Erlebnisse um. Je mehr ich im
Zuge meiner Recherche auf die Erzählungen meiner Großeltern einging, verließ mich
die oben genannte Faszination und ich begann die Erzählungen immer stärker zu reflektieren. Ich musste erkennen, dass speziell bei meinem Großvater, die Erzählungen
über den Zweiten Weltkrieg vielfach auch ein Konstrukt seiner selbst sind, die auch
das weitere Leben und seinen eigenen Charakter stark widerspiegeln. Daher erscheint
es für mich wichtig, den schmalen Grad zwischen der subjektiven Wahrnehmung und
den tatsächlichen Geschehnissen zu finden und die kulturellen Prägungen der Erzählungen,
wie
diverse
gelesene
Romane
oder
gesehene
Filme,
herauszufiltern.
Die nachfolgenden Darstellungen gliedern sich deshalb in zwei Teile:
In der ersten Hälfte werde ich versuchen, die Geschichten meiner Großeltern möglichst wertfrei wiederzugeben, diese miteinander zu vergleichen und in einen histori-
218
schen Kontext einzuordnen. Im zweiten Teil soll, am Beispiel der Erinnerungen meines
Großvaters, die Art der Erzählungen, sowie deren Wandel durch sein nachfolgendes
Leben beleuchtet werden.
Doch bevor ich nun näher auf die Geschichten meiner Großeltern eingehe, erachte ich
es als notwendig, einen kurzen Überblick über deren Hintergründe zu geben. Hierbei
möchte ich einerseits auf die kleine Marktgemeinde Loosdorf und deren Rolle während
des Zweiten Weltkrieges Bezug nehmen. Andererseits soll eine Auseinandersetzung
mit den damaligen Lebensumständen der Familien meiner Großeltern mütterlicherseits
erfolgen.
2 Ein Überblick
2.1 Loosdorf
Loosdorf ist eine mittelalterliche Marktgemeinde im Mostviertel in Niederösterreich.
Der Ort liegt an der Westbahn, der heutigen Westautobahn zwischen Wien und Salzburg, und der Wienerstraße (heute auch die Bundesstraße B1 genannt), der damaligen
Reichstraße Richtung Wien. Loosdorf wurde, aufgrund seiner geographischen Lage, im
Zweiten Weltkrieg aus verschiedenen Gründen Bedeutung zugeschrieben. Kurz nach
dem Anschluss an das Deutsche Reich führte Adolf Hitlers Weg nach Wien ihn am 14.
März 1938 auch durch Loosdorf, wo er mit großer Begeisterung empfangen wurde. 471
Später wurde dieser Gemeinde jedoch aus ganz anderem, noch triftigerem Beweggrund Aufmerksamkeit geschenkt. In der benachbarten Ortschaft Roggendorf wurde
im März 1944 unter dem Decknamen "Quarz" eine große Stollenanlage errichtet. Diese
sollte der Steyr Daimler Puch AG als Kugellagerwerk dienen. 472 Loosdorf war nach Melk
der nächste Anschlusspunkt zum Arbeitsstollen in Roggendorf sowie zur Westbahn.
Viele Güter, die man zum Bau und zur Arbeit im Stollen verwendete, wurden in Loosdorf verladen und nach Roggendorf gebracht. 473 Außerdem lag Loosdorf genau zwischen dem Stollen und dem damaligen Luftwaffenstützpunkt Markersdorf, im Zweiten
Weltkrieg einer der größten Militärflughäfen Mitteleuropas.474
471
472
473
474
Gerhard Floßmann, Loosdorf an der Westbahn, Loosdorf 1984, 147.
Markus Schmitzberger, Was die US Army in der Alpenfestung wirklich suchte, Schleusingen 2001, 31.
Bertrand Pertz, Projekt Quarz. Steyer-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk, Wien 1991, 385.
Schmitzberger, Was die US Army in der Alpenfestung wirklich suchte, 116.
219
2.2 Meine Großeltern und ihre Familien
Mein Großvater, Anton Brucker, wurde als einziger Sohn von insgesamt vier Kindern
am 14. August 1931 in Loosdorf geboren (siehe Abbildung 1). Sein Vater, Anton Bru cker senior, mein Urgroßvater, war einer von vier Schmieden im Dorf. Den Aufgabenbereich seines Vaters erklärt mein Großvater so:
„Es hat nur Holzwägen im Krieg gegeben, und da haben wir die Räder drauf machen müssen und einbinden, dass sie nicht auseinander gehen und viele Pferde
hat es gegeben. Jeder hat Pferde gehabt [...] für die Ernte war das, die Trakto ren sind erst nach dem Krieg gekommen.“475
Meine Urgroßmutter, Theresia Brucker, geborene Antzenberger, bewirtschaftete den
Bereich um die Schmiede, den Acker und die Schweine, die die Familie besaß. Außerdem war sie für die Erziehung der Kinder zuständig, die von klerikalen Werten geprägt
und sehr autoritär war. Mein Großvater berichtet jedoch nur, was sie für eine begnadete Bäckerin war:
„Die Mutter hat gebacken, na was glaubst [...] zu Ostern, wenn die ‚Finni-Tant’
gekommen ist, na da ist aufgetischt worden [...] Nusstorte, Sachertorte, Strudel
immer [...]“476
Die Familie Brucker genoss durch die Schmiede des Vaters und durch die kleine Wirtschaft der Mutter anscheinend hohes Ansehen in ihrem Heimatort.
Abbildung 1: Familienbild/Brucker.
Quelle: In Privatbesitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.
475
476
Interview mit Anton Brucker, geführt am 13.01.2013, Bänder bei der Autorin.
Ebd.
220
Meine Großmutter, Josefa Brucker, geborene Stöckl, wurde als jüngste Tochter von
drei Kindern am 19. September 1936 in Hub nahe Schönbühel an der Donau geboren.
Sie zog im Alter von fünf Jahren mit ihren Eltern und Geschwistern (siehe Abbildung
2), zu denen ein deutlicher Altersunterschied bestand, nach Loosdorf.
Abbildung 2: Familienbild/Stöckl.
Quelle: In Privatbesitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.
Ihr Vater, Alois Stöckl senior, der bis zu diesem Zeitpunkt Bauer war, bekam während
des Krieges zunächst eine Anstellung am Markersdorfer Flugplatz. Danach wurde er
bei der Marktgemeinde selbst angestellt. Dieser Berufswechsel birgt eine berührende
Geschichte in sich, die meine Großmutter wie folgt erzählt:
„Mein Vater ist von Markersdorf vor Kriegsende noch nach Schärding eingezogen worden, weil der Flughafen von Markersdorf, ist dann nach Schärding verlegt worden und da ist er auch hingekommen. Wir haben da überhaupt nicht
mehr gewusst, wo er war und dann sind schon die Russen gekommen und sie
hätten ihn ja nach Russland verschleppen wollen und da hat er in Pöchlarn oben
einen Bekannten getroffen und der hat ihm irgendwie ermöglicht, dass er in
einen Zug einsteigen konnte und heimfahren konnte. Das heißt, er ist mit ihm
heimgefahren und meine Mutter und ich, wir sind grad unten in der Waschküche
gestanden und auf einmal kommt mein Vater daher, war eh ganz ausgemergelt
und schlecht ausgeschaut hat er. Ich sag’s dir, das kann man ja gar nicht beschreiben, wir haben einige Monate nichts gehört von ihm, auch mein Bruder
der Alois hat nichts erfahren können, [...] na auf jeden Fall hat er sich dann
eine Zeit lang verstecken müssen, weil er keine Entlassungspapiere gehabt hat
[...] und es hätte ihn nur wer verraten müssen und dann wäre er weg gewesen,
der wäre sicher nicht mehr von Russland heimgekommen, der war ja so magenkrank und der hätte das nicht lange ausgehalten und durch das sind wir dann
zur Gemeinde und der Fischer, der damalige Bürgermeister, der hat ihn gekannt
und der hat ihm dann Papiere ausgestellt. Dann war der ganze Spuk vorbei, er
221
ist zur Gemeinde und hat dort gearbeitet.“477
Die Mutter, Maria Stöckl, geborene Grüner, kümmerte sich um den Haushalt, den Garten und die Kindererziehung. Die älteste Tochter der Familie, Maria, war zu Kriegsende
schon außer Haus. Der größere Bruder meiner Großmutter, Alois, war 1945 bereits 16
Jahre alt und daher auch kaum mehr zu Hause. Meine Großmutter war jedoch gegen
Kriegsende noch sehr an ihre Mutter gebunden und hatte ein besonderes Verhältnis zu
ihr, wahrscheinlich auch deshalb, weil meine Großmutter meistens mit ihrer Mutter alleine war und sie viele Erlebnisse teilten. Sie erinnert sich an ein bestimmtes wiederkehrendes Ereignis, das sie mit ihrer Mutter so erlebt hatte:
„Wenn ich mit der Oma [ihre Mutter] zum Festa-Onkel sein Zimmer, welches er
beim Bauern gehabt hat, gegangen bin – da haben wir oft gelüftet – da hat es
oft sein können, dass wir mitten am Weg waren und dass wir halt dann zurückgehen mussten, weil die Sirenen geheult haben und das war halt dann schon
auch gefährlich, weil ja der Stollen dann schon in der Nähe war, sind wir aber
nicht weiter nach Schrattenbruck, sondern zurück gerannt, und da sind Sträucher gewesen, bei denen haben wir uns dann versteckt und dann sind wir wieder gerannt [...] aber in Richtung Heim.“
Zu erwähnen sein noch, dass die Familie Stöckl weit weniger als die Familie Brucker
besaß, sowohl an Gütern als auch an Ansehen. Auf diesen sozialen Unterschied komme ich jedoch später noch zu sprechen.
2.3 Der zeitliche Ablauf des Kriegsendes rund um Loosdorf
Interessant im Hinblick auf das Kriegsende in Loosdorf erscheint mir ein Auszug aus
dem protokollarischen Tagebuch eines Loosdorfers. Dieser soll dazu beitragen, eine
Vorstellung von den Geschehnissen rund um Loosdorf zu bekommen. Außerdem soll er
zum besseren Verständnis und zur zeitlichen Einreihung der Geschichten meiner Großeltern dienen, da sich diese Erinnerungen im Großen und Ganzen genau in den Monaten April und Mai 1945 wieder finden lassen.
Auszug aus dem Tagebuch eines Loosdorfers478:
01. April 1945: Ostersonntag. Der Fliegerangriff auf Pöchlarn ist von Loosdorf
aus gut zu sehen. Tieffliegerangriff auf die Melker Straße zwischen Loosdorf und
Melk.
02. April: Große Flüchtlingskolonnen auf der Reichsstraße.
04. April: Eine Flüchtlingskolonne, darunter 7 Kamele, ziehen auf der Straße
nach Schollach. Die Reichstraße ist fast unpassierbar. Auch aus Loosdorf
flüchten Leute.
05. April: Die Straßen sind überfüllt mit Flüchtlingen und Militär.
06. April: Große Aufregung unter der Bevölkerung; alles richtet sich zum
Flüchten; viele Nazis flüchten bereits; die „Quarz“ hat ihren Betrieb eingestellt.
477
478
Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Interview mit Josefa Brucker.
Floßmann, Loosdorf an der Westbahn, 150.
222
08. April: Jabo-Angriff auf St. Pölten, in Loosdorf hört man stark die
Detonationen; Abends gehen die ersten Verstärkungen an die Front.
09. April: um ½ 2 Uhr nachts überraschender Bombenangriff auf Loosdorf;
einige kleine Bomben werden geworfen, Sachenschaden gering.
11. April: Nachmittag schießt ein Mustang-Jäger auf Loosdorf.
12. April: ½ 2 Uhr nachts Angriff auf St. Pölten, von Loosdorf aus gut zu
sehen.
13. April: die ganze Nacht und den Tag über ruhig.
14. April: zu Mittag fällt eine schwere Bombe in den Garten bei dem Haus Nr.
29, reißt einen großen Trichter in die Erde, man hört aber keine Explosion,
sondern spürt nur die Luftdruckwelle.
15. April: Angriff mit Bordwaffen um 13 Uhr; nach 14 Uhr nochmals starker
Tieffliegerangriff; abends geht das Gerücht: St. Pölten ist gefallen, SS verübt
nachts ein großangelegte Plünderung im Haus Nr.206. Einem kriegsgefangenen
Franzosen gelingt es, der Besitzerin wenigstens einen Koffer mit Sachen zu
retten und Hilfe herbeizuholen.
16. April: die ganze Nacht hört man Schießen, Man hört in Sierning eine
Bombe explodieren, viele Jabos. Die französischen Kriegsgefangene müssen
weg, schmerzlicher Abschied von der Bevölkerung.
17. April: 16 Uhr Tieffliegerangriff, sonst den ganzen Tag ruhig.
18. April: Tieffliegerangriff.
19. April: Vormittag geht das Gerücht, ganz Loosdorf wird zwangsevakuiert,
viele Tieffliegerangriffe, am Ostrand der Ortschaft viele Geschütze in Stellung
gebracht.
20. April: ruhige Nacht, Vormittags ein Aufklärer mit Kondensstreifen;
vermutlich Amerikaner, 10:15 schwere Detonationen in Richtung St. Pölten.
Munition wird in Häusern eingelagert, die Mannschaft versucht sofort Hühner zu
stehlen.
21. April: Zu Mittag kurzer Tieffliegerangriff, sonst ist es ruhig.
22. und 23. April: ruhig.
24. April: viele Einquartierungen, viele Panzer fahren an die Front
25. April: 2:15 nachts fallen 4 Bomben auf Loosdorf, hernach bis in den
Vormittag hinein, starke Artillerietätigkeit.
26. April: In der Nacht starke Artillerietätigkeit. 10 Uhr vormittags
Tieffliegerangriff.
28. April: „Soldaten“ des Jahrgangs 1929 rücken in Loosdorf ein.
29. April: in der Nacht kommen viele Panzer nach Loosdorf und verstecken sich
in den Hausgärten.
30. April: ruhige Nacht.
02. Mai: die ganze Nacht starke Artillerietätigkeit; die Panzer fahren weg;
mittags kurzer Tieffliegerangriff.
03. bis 05. Mai: Nichts Besonderes.
06. Mai: Viele Loosdorfer erhalten eine Einberufung für Dienstag, den 8 Mai,
Verpflegung für zwei Tage ist mitzunehmen.
07. Mai: wiederholte Tieffliegerangriffe; um 4 Uhr erste Nachricht von der
Kapitulation.
08. Mai: die ganze Nacht schwerste Detonationen von den verschiedenen
Sprengungen; um 08 Uhr früh verlassen die letzten deutschen Truppen den Ort
zum Teil unter künstlicher Vernebelung, die letzten Brücken werden gesprengt,
½ 10 kommen die ersten Russen, Infanterie. Die Panzer kommen erst einige
Stunden später; noch im Verlaufe des Vormittags werden – unter Beteiligung
eines Teils der Zivilbevölkerung – fast alle Geschäfte geplündert; ständige
Hausdurchsuchungen.
09. Mai: Viele Frauen werden überfallen, furchtbare Nacht.
10. Mai: Viele Frauen haben sich künstlich alt gemacht. Falten geschminkt, das
223
Gesicht schmutzig gemacht, zerrissenes Gewand angezogen.
11. Mai: die Radioapparate müssen abgeliefert werden.
13. Mai: Sonntag. Nur wenige Leute besuchen die Kirche. Alles muss für die
Russen arbeiten. Mehrere tausend Ungarn und andere Flüchtlinge ziehen durch
Loosdorf.
14. Mai: eine Explosion in Roggendorf.
15. Mai: Abends große russische Siegesfeier.
3 Die letzten Kriegsmonate in Loosdorf
3.1 Erinnerungen an die vermehrten Luftangriffe
Wie in dem Tagebucheintrag erwähnt wird, gab es seit dem Jahr 1944 rund um Loos dorf einige Tieffliegerangriffe. Der Sachschaden durch diese Art von Angriffen war jedoch eher gering. Aus der Ortschronik Loosdorfs, die großteils auf Ratsprotokollen basiert, geht hervor, dass in Loosdorf durch Luftangriffe nur ein Haus zerstört wurde. 479
Auch meine Großmutter kann dies bestätigen:
„Eigentlich ist Loosdorf nicht direkt zerstört worden, rund herum auf die Äcker,
da sind ein paar Bomben niedergegangen, aber ich kann mich nicht erinnern,
dass in Loosdorf ein Haus durch Bomben zerstört worden ist. [Pause] Aber auf
das eine kann ich mich doch erinnern, und zwar war das eh bei uns, wo wir gewohnt haben, da ist ein kleines Mädchen durch so eine Splitterbombe ums Leben gekommen, das war irgendwie so eine verirrte Bombe, die ist grad da beim
Schranken rein gegangen und die hat sie dann tödlich erwischt [...] nein, das
noch irgendwelche Hauser zerstört wurden, das kann ich mich eigentlich nicht
erinnern.“480
Es scheint, dass es sich dabei um die selbe Splitterbombe handelte, die sowohl das
kleine Kind getötet als auch das Haus zerstört hat, da der Schranken, von dem meine
Oma spricht, in unmittelbarer Nähe zu diesem Haus liegt. 481 Sonst dürfte in Loosdorf
niemand durch Fliegerbomben ums Leben gekommen sein, wofür es zwei Gründe gab.
Zum einen war das Hauptaugenmerk der Angriffe in Richtung Roggendorf, auf die
Baustelle „Quarz“, gerichtet.482 Zum anderen war die Bevölkerung durch gewisse Anzeichen meist schon im Vorhinein vor Tieffliegern gewarnt worden. Meine Großmutter
erklärt dies so:
„Du hast es ja schon brummen gehört, da warst ja schon geschädigt, überhaupt
war das eine Wettersache, wenn es recht klar war, da hat man sie schon gehört,
wenn sie von Amstetten oder Ybbs gekommen sind oder von St. Pölten und das
ist ja nicht einer gewesen, das hast dann schon gehört, wenn es gebrummt hat,
da hat man sich eh schon gefürchtet.“483
479
480
481
482
483
Floßmann, Loosdorf an der Westbahn, 150.
Interview mit Josefa Brucker.
Floßmann, Loosdorf an der Westbahn, 150.
Pertz, Projekt Quarz, 404.
Interview mit Josefa Brucker.
224
Auch mein Großvater berichtet, dass er und seine Freunde immer auf das Wetter geschaut haben, bevor sie das Haus verlassen haben. Er verpackt das Ganze jedoch, wie
er das des Öfteren macht, in eine Lausbuben- und Heldengeschichte:
„Wir haben viel aufs Wetter geschaut und wenn es schön war, haben wir gewusst um zehn ist Fliegeralarm und da sind wir einmal im Kaltbad in St. Pölten
gewesen...’Na heut hamma a Ruahr, heit kemma zuaschaun’ haben wir uns gedacht [Pause] und haben dabei die Luftschutzpolizei ’übernosert’, wo sie gegangen sind, aber dann haben sie uns dann doch erwischt, aber da haben wir schon
gesehen, wie die Punkterl über Markersdorf gefallen sind und dann hat es gekracht [lacht], aber schön, sie haben nur die Rollbahn zusammen gehaut [...]
Splitterbomben, da war der Flughafen weg in Markersdorf, den hat’s nicht mehr
gegeben.“484
Bei dem Tag, von dem mein Großvater hier spricht, handelt es sich vermutlich um den
28. Juli 1944. An diesem Tag wurde der Flugplatz Markersdorf angegriffen und schwer
getroffen.485 Natürlich war ein Fliegerangriff nicht mit so einer Leichtigkeit zu tragen,
wie mein Großvater sie hier zu Tage bringt. Meine Großmutter spricht zum Beispiel in
einem ganz anderen Ton von derartigen Ereignissen:
„Ich habe das so erlebt und zwar in der Schule, wenn irgendwie Fliegeralarm im
Anzug war, haben sie uns heim geschickt. Jeder hat halt geschaut, dass er am
schnellsten Weg nach Hause kommt, und von da aus sind wir dann in den Luftschutzkeller, mit meiner Mutter. Das war so ein alter Keller und der war halt für
die Zwecke hergerichtet. Da haben wir sogar ein Bett gehabt, zum Schlafen,
weil das ja auch oft in der Nacht war. [Pause]
Meistens war meine Mutter und ich, und hin und wieder der Alois, aber der war
auch selten daheim, und mein Vater, der war ja in Markersdorf, der ist erst am
Abend heimgekommen, die Mitzi war da nicht mehr da. Das hat auch ganz gut
geklappt, dass sie uns von der Schule rechtzeitig heimgeschickt haben. Wenn irgendwie eine Gefahr war, so dass man sich gedacht hat, heute könnte Fliegeralarm sein, sind wir auch schon gar nicht mehr in die Schule gegangen, in der
letzten Zeit, das haben uns die Eltern gesagt.“486
3.2 Schule und Hitlerjugend in Loosdorf
Für die Jugendlichen in Loosdorf gab es, wie auch andere Loosdorfer Zeitzeugen berichten, in dieser Zeit nicht viele berufliche Perspektiven oder Aussichten auf bessere
Bildung. Der übliche Bildungsweg war die Grundschule und eine Handwerkslehre. Bestenfalls sollten die Kinder den Familienbetrieb übernehmen. 487 So begann zum Beispiel
der Bruder meiner Großmutter, Alois Stöckl, nach der Grundschule eine Lehre als Elektriker, in der übrigen Zeit musste er bis zum Kriegsende die Hitlerjugend besuchen.
Diese wurde neben Ausbildung und Elternhaus als drittes Standbein der ganzheitlichen
Interview mit Anton Brucker.
Johann Ulrich, Der Luftkrieg über Österreich 1939-1945 (Veröffentlichungen des Heeresgeschichtliches Museum
Wien/Militärhistorisches Institut), Wien 1994, 18.
486
Interview mit Josefa Brucker.
487
Gerhard Floßmann, Loosdorf 1945-1955, Das Kriegsende und der Aufbruch aus dem Chaos; Befragung von
Zeitzeugen, Loosdorf 2005, 31.
484
485
225
nationalsozialistischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen gesehen. Die Kinder
sollten körperlich, sittlich und geistig dem Nationalsozialismus verschrieben werden. 488
Die Hitlerjugend war für alle Kinder und Jugendliche vom zehnten bis zum vollendeten
18. Lebensjahr verpflichtend. Je nach Alter und Geschlecht wurden sie verschiedenen
Einrichtungen zugeteilt.489 Meine Großmutter berichtet, dass ihr Bruder sehr gern zur
Hitlerjugend gegangen sei, da er von den nationalsozialistischen Ideologien überzeugt
war. Auch von den Wehrertüchtigungslagern, die dazu dienten, männliche Jugendliche
auf den militärischen Einsatz vorzubereiten und ideologisch zu indoktrinieren, scheint
er damals begeistert gewesen zu sein. 490 Im Februar 1945 hat man dann schließlich
auch die Einberufung zum Wehrdienst auf den Jahrgang 1929 ausgedehnt. 491 Da mein
Großonkel genau in diesem Jahr geboren wurde, sollte nun auch er den Einberufungs befehl bekommen, doch, wie meine Großmutter erzählt, wurde er für untauglich erklärt.
„Mein Bruder ist deswegen nicht eingezogen worden, weil er von der Körpergröße nicht das vorgeschriebene Maß gehabt hat und irgendwie war er sehr enttäuscht, weil er wäre so gerne gegangen, wie seine Freunde, die alle eingezogen worden sind und er ist dann halt zurückgeblieben.“492
Mein Großvater war in den Anfangsjahren ebenso bei der Hitlerjugend. Da er aber
noch nicht 14 Jahre alt war, wurde er dem Deutschen Jungvolk zugeteilt. Er spricht
aber eher abwertend von dieser Institution:
„Das Deutsche Jungvolk war mir immer zuwider, die habe ich nicht gemocht.
Wir haben, zum Beispiel durch den Schnee robben müssen und ich war frisch
gebadet. Ich habe damit aber nicht viel zu tun gehabt.“493
In den letzten Kriegsjahren wurde mein Großvater von seinem damaligen Dorflehrer
gefördert und dieser veranlasste, dass er nach St. Pölten ins humanistische Gymnasium fahren durfte. Dies war allerdings nur während des Krieges möglich, da das Schulgeld von den Nationalsozialisten bezahlt wurde. 494 In dieser Zeit war er seinen Erzählungen zufolge auch von der Hitlerjugend befreit:
„Ich war befreit vom Deutschen Jungvolk, weil ich ins Gymnasium gefahren bin
und am Nachmittag, wenn Dienst vom Deutschen Jungvolk war, auch Schule
war.“495
Diese Darstellung erscheint durchaus plausibel, da im Reichsgesetzblatt von 1938
488
Werner Helsper/Christian Hillbrandt/Thomas Schwarz (Hg.), Schule und Bildung im Wandel: Anthologie historischer
und aktueller Perspektiven, Wiesbaden 2009, 65.
489
Verordnung: Jugenddienstpflicht, 1939: http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/hjdienst/ (abgerufen am
13.04.2013)
490
Helsper/Hillbrandt/Schwarz (Hg.), Schule und Bildung, 66.
491
Michael Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, 201.
492
Interview mit Josefa Brucker.
493
Interview mit Anton Brucker.
494
Klaus-Jörg Ruhl, Verordnete Unterordnung: Berufstätige Frauen zwischen Wirtschaftswachstum und konservativer
Ideologie in der Nachkriegszeit (1945 - 1963), München 1994, 161.
495
Interview mit Anton Brucker.
226
ebenfalls verankert worden war, dass Kinder und Jugendliche von den Pflichten und
Aufgaben der Hitlerjugend befreit werden sollten, wenn sie die Anforderungen der
Schule sonst nicht erfüllen konnten. Die Dauer der Befreiung war aber immer nur auf
ein Jahr limitiert.496 In den letzten Kriegsmonaten ließ ihn jedoch seine Mutter nicht
mehr nach St. Pöten in die Schule fahren. Sie sorgte sich zum einen, dass ihr Sohn
mit 14 Jahren noch in die Wehrmacht eingezogen werden könnte (in diesem Zusam menhang dürfte sie, wie mein Großvater berichtet, immer Folgendes gesagt haben:
„De solln ihrn Kas selber fertig mochn“). Zum anderen befürchtete die Familie auch die
Zerstörung des Schulgebäudes durch Kriegshandlungen, die dann laut den Erzählungen meines Großvaters auch tatsächlich stattgefunden haben.
Nach dem Krieg konnten die Eltern meines Großvaters das Schulgeld, das zuvor von
der NSDAP übernommen worden war, nicht mehr bezahlen. Außerdem sah die Familie
in der höheren Bildung keine dringende Notwendigkeit und keine Zukunft für ihren
Sohn. Da er der einzige männliche Nachkomme der Familie war, sollte er den Familienbetrieb übernehmen. So musste mein Großvater im Betrieb seines Vaters arbeiten und
den Beruf des Schmiedes erlernen.
3.3 Projekt Quarz – KZ Melk: Ein Thema, das auch bei Kindern seine Spuren
hinterließ
Wie schon anfangs erwähnt, gewann die Gemeinde Loosdorf im Zweiten Weltkrieg
durch den naheliegenden Stollen in Roggendorf und das ebenso nicht weit entfernte
Konzentrationslager Melk an Bedeutung. Die Häftlinge des KZs Melk wurden in verschiedene Arbeitskommandos eingeteilt, von denen sich einige auch in Loosdorf befanden. Ein Teil des Arbeitskommandos war mit dem Bau von Siedlungshäusern beschäftigt. Diese Siedlung am Ostrand der Marktgemeinde sollte Barackengebäude sowie ein
Lager für Arbeiter und Werksangehörige umfassen. Eine weitere Aufgabe des Arbeits kommandos war der Ausbau des Loosdorfer Bahnhofs und einer neuen Bahntrasse.
Von hier sollte auch ein direktes Gleis zum Hauptstollen A verlegt werden, da bis zu
diesem Zeitpunkt eine große Zahl von Baumaterial und Baumaschinen in Loosdorf abgeladen wurden. Für das Ausladen dieser Mengen an Materialien wurden ebenfalls
sehr viele Häftlinge abkommandiert.497 Auf Grund dessen hielt sich auch eine Reihe
von Häftlingen in Loosdorf auf.
In Bezug auf die Frage, welche Bedeutung das KZ Melk und der naheliegende Stollen
für die Bewohner von Loosdorf, insbesondere für die Kinder, hatte und inwiefern die
496
497
Verordnung: Jugenddienstpflicht, 1939.
Pertz, Projekt Quarz, 375.
227
Dorfbevölkerung mit den KZ- Häftlingen in Berührung kam, erhielt ich zwei sehr unterschiedliche Antworten. Meine Großmutter versucht dies wie folgt zu erklären:
„Das mit dem Stollen war schon ein Thema, weil immer davon geredet worden
ist, was die da erzeugen und eben durch die Luftangriffe und durch des KZ war
halt das so, man hat viel gesehen, KZler [...] was weiß ich, die sie zur Arbeit
getrieben haben, da bist als Kind schon gestanden und hast geschaut, weil die
haben’s ja gleich geschlagen auch und das war schon recht deprimierend, muss
man schon sagen, und als Kind hat man das schon sehr arg empfunden, das
heißt ich habe es als arg empfunden, wenn ich da oft gegangen bin und die haben’s irgendwo hintrieben, wo sie arbeiten haben müssen und denen hast ja gar
nichts geben dürfen, manche Leute sind stehen geblieben, das war ganz gefährlich, und wenn das der Aufseher gesehen hätte, hätte er dich gleich irgendwie
[Pause] und auch den Sträflingen was geben, die Leute hätten ja den Sträflingen auch was zugesteckt, ich meine, die Loosdorfer Leute.“498
An dieser Stelle bestärkt mein Großvater die Aussage meiner Großmutter mit den folgenden Worten:
„Ja, da warst du gleich im KZ auch ….“499 Eine weitere Geschichte meines Großvaters dazu: „da haben die Rösser Knödel fallen lassen, die Häftlinge sind hervorgesprungen und haben die Haferkörner herausgeholt und gegessen und da
haben sie sofort ‚Dresch kriagt’, haben sie sofort ‚Dresch kriagt’."
Auf den ersten Blick weisen die Erzählungen meiner Großeltern einige Gemeinsamkeiten auf. Beide sprechen darüber, wie schwer es war, den Häftlingen näher zu kommen
und dass es eigentlich nicht möglich war, diesen etwas zu essen zu geben, ohne dabei
das eigene Leben zu riskieren. Darüber hinaus schildert mein Großvater in seinen Ausführungen, dass es auch für die Häftlinge schwierig war, am Boden liegende Nahrung
aufzuheben ohne dabei erwischt zu werden. Auch aus Berichten von Häftlingen des
KZs Melk oder anderen Zeitzeugen, wie des Melker Landrates Convall, geht hervor,
dass es äußerst schwierig war mit der Zivilbevölkerung in Kontakt zu treten bzw. nur
in deren Nähe zu kommen. Einerseits waren die Häftlinge unter ständiger Aufsicht und
wurden, wenn sie außerhalb des KZ waren, brutal durch die Straßen getrieben, sodass
es nicht denkbar war, stehen zu bleiben. Andererseits war eine Begegnung prinzipiell
nicht gestattet. Der Häftling Pierre Pradales berichtet, auf die Frage hin nach dem
Kontakt mit der örtlichen Bevölkerung, dass ein solcher nicht denkbar gewesen wäre.
Er sagt, die Häftlinge konnten die Menschen auf der Straße oder bei den Häusern se hen, aber mit ihnen zu sprechen sei unmöglich gewesen. Er fügt seinem Bericht noch
hinzu, dass die Zivilbevölkerung nicht das Recht hatte, mit ihnen in Kontakt zu treten.500 Außerdem schien die örtliche Propaganda ebenfalls dafür zu sorgen, dass die
Zivilbevölkerung hinter den Häftlingen sowieso Schwerverbrecher vermutete. Tatsächlich handelte es sich bei vielen dieser Personen um Ärzte, Lehrer, Pfarrer oder Bauern,
498
499
500
Interview mit Josefa Brucker.
Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Interview mit Anton Brucker.
Zit. nach Pierre Pradales, in: Pertz, Projekt Quarz, 85.
228
die im Widerstand gearbeitet haben. Dies geht aus dem Erinnerungsbericht des ehemaligen Häftlings Yves Briand hervor. 501 Sowohl die Erzählungen meiner Großeltern als
auch andere Zeitzeugenberichte bestätigen die Gefahr, die vom Kontakt mit den Häftlingen ausgegangen ist. An dieser Stelle möchte ich noch eine Geschichte meines
Großvaters einfügen, die mir schon als Kind sehr geläufig war:
„Im Ofenloch hinten da waren ältere Herren, die haben gesagt, wenn sie uns erwischt haben beim Brot fallen lassen für die KZler: ‚Buam, losst eich net dawischen, ihr kummt’s in Teufelsküche!!’“ Er beginn laut zu lachen und erzählt weiter: „ ... jetzt haben wir dann aufgepasst.“502
Die beiden widersprüchlichen Aussagen meines Großvaters irritierten mich anfänglich.
Einerseits bekräftigt er die Aussage meiner Großmutter, es sei zu gefährlich gewesen
Kontakt mit den Häftlingen aufzunehmen. Andererseits erzählt er, dass er sehr wohl
Essen fallen gelassen hätte. Fügt man jedoch seine Erzählungen zusammen, hebt der
Widerspruch seine Heldentat hervor. Dies werde ich allerdings später noch weiter ausführen.
4 Einmarsch der Roten Armee in Loosdorf
4.1 „Die Russen kommen“
Am 8. Mai 1945 marschierte die sowjetische Armee in Loosdorf ein. Zuvor hatten
Wehrmachtangehörige, bevor sie Loosdorf verließen, noch zwei Zugangsbrücken gesprengt.503 Dies war zu Kriegsende eine gängige Vorgehensweise, die sich gegen die
Alliierten richtete und meist von nationalsozialistischen Fanatikern durchgeführt wurde, die sich um ihren Sieg betrogen fühlten und das Ende des Krieges nicht akzeptieren wollten.504 Mein Großvater erinnert sich noch genau daran:
„Die Front war unten in Wöbling und die Brücken Albrechtberg und Neuhofen
haben’s um acht Uhr gesprengt, um neun waren die Russen da [...] also die haben übern Funk den Befehl kriegt sprengen und aus.“505
Die ersten Tage der Besatzung waren besonders schwer. Der Einmarsch der Roten Armee brachte bei der niederösterreichischen Bevölkerung viele Emotionen mit sich. Neben positiven Gefühlen, wie Freude und Hoffnung auf ein besseres Leben, herrschte
auch Angst vor dem Unbekannten. Diese rührte daher, da seitens der Nationalsozialisten viel negative Propaganda über die Sowjets verbreitet worden war. Es wurden viele
Ebd., 386.
Interview mit Anton Brucker.
503
Floßmann, Loosdorf 1945-1955, 6.
504
Klaus-Dieter Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, in: Stefan Karner (Hg.), Die Rote Armee in Österreich:
sowjetische Besatzung 1945-1955, Graz 2005, 469-486, 470.
505
Interview mit Anton Brucker.
501
502
229
Stereotypen, wie z.B. „slawische Untermenschen“, die vom „Hort des Bösen“ (hiermit
ist
die
Sowjetunion
gemeint)
kommen,
geschaffen. 506
Die
Unsicherheit
der
Bevölkerung wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass die Soldaten der Roten Armee
durch die Straßen und Gassen streiften, wahllos Häuser betraten und diese auch
plünderten.507
„Wie die Russen gekommen sind, haben sie geplündert, auch die Einheimischen,
Lebensmittel [...] alles ausgeräumt.“508
Diese Ereignisse hinterließen auch in den Erinnerungen meiner Großeltern ihre Spuren. Meine Großmutter erzählt so davon:
„In dem Keller, in dem bewussten Luftschutzkeller, da waren wir schon die ganze Nacht oben und da hat es halt dann in der Früh geheißen, die Russen sind da
und wir haben uns lange Zeit nicht rausgetraut, und wie wir dann am Vormittag
in unsere Wohnung runtergekommen sind, da ist schon unser Nachbar mit der
weißen Fahne gestanden. Der ‚Franzisguti’ war das, mit dem Leintuch hat er gewachelt und hat ‚Wia ergeben uns’ gerufen [lacht] dann haben wir die Russen
eh schon gesehen und gefürchtet haben wir uns. Wir sind in die Wohnung gegangen und so wenig wie möglich heraus […] weil sie sind dann überall herum
gerannt und haben die Leute angeleuchtet und die Frauen und so und die haben
sich dann versteckt. Die ersten zwei, drei Nächte waren schiach.“
Dass der Nachbar meiner Großmutter die weiße Fahne schwenkte, war durchwegs
nicht unüblich. Die niederösterreichische Bevölkerung war großteils unbewaffnet und
versuchte so den „Befreiern“ entgegenzukommen. Die Dörfer wurden mit weißen Fahnen beflaggt und einzelne Männer schwenkten diese auch. 509 Mein Großvater hat eine
eigene Geschichte über diese erste Nacht zu erzählen:
„Wir haben eine Küche, ein Schlafzimmer und ein Kabinett gehabt, da haben
ungefähr 18-20 Personen geschlafen, Loosdorfer und auch polnische Dirndln...
Dienstmadln. [Pause] Ich [betont] bin als einziger munter geworden und habe
gesehen wie ein Russe dem Vater die Pistole anhaltet [grinst] und die hätten
glaubt, es soll eine Frau ins Kabinett gehen, und ich hab das gesehen, hab angefangen zu schreien und alle anderen haben mitgeschrien […] man hat gar
nicht so schnell schauen können, so schnell waren die draußen.“ Mein Großvater
lacht sehr über diese Geschichte und fügt noch hinzu: „Am nächsten Tag war die
‚Offizierskuchl’ da und es hat schon gepasst, hat schon gepasst.“510
Ganz so schnell, wie mein Großvater meint, scheint es dann doch nicht „gepasst“ zu
haben, aber auch meine Oma berichtet unabhängig von den Erzählungen ihres Mannes, dass sich die Lage innerhalb ein paar Tage wieder beruhigt hatte. Mit der Errichtung der ‚Offizierskuchl’, wie mein Großvater sagt, war in erster Linie der Aufbau der
Ortskommandanturen gemeint, wie auch meine Großmutter zu berichten weiß:
Barbara Stelzl-Marx, Freier und Befreier, in: Stefan Karner ( Hg.), Die Rote Armee in Österreich: sowjetische
Besatzung 1945-1955, Graz 2005, 421-449, 440.
507
Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 471.
508
Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Interview mit Josefa Brucker.
509
Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 470.
510
Interview mit Anton Brucker.
506
230
„und dann ist auch bei uns da draußen so eine Russeneinheit einzogen, oben im
Garten beim Stern, mit Pferden rundherum, da waren ja x Pferde.“511
Nach dem Aufbau der Ortskommandanturen, der sicherlich noch vor dem 15. Mai
stattgefunden hatte, war in vielen Orten Niederösterreichs auch wieder ein gewisses
Maß an Sicherheit gegeben.512 Speziell in Loosdorf wird auch von anderen Zeitzeugen
nichts Gegenteiliges berichtet.513 Infolge der Errichtung wurden auch russische Soldaten in Privathäusern einquartiert. Dabei gab es jedoch oft Probleme, da diese Einquartierungen in vielen Fällen mit Zwangsumsiedelungen von Familien bzw. Einzelpersonen
verbunden waren. Die Soldaten der Roten Armee beschlagnahmten wahllos zahlreiche
Gebäude, und befahlen den Bewohnern binnen kürzester Zeit ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen.514
In Loosdorf wurden ebenfalls Familien aus ihren Unterkünften vertrieben. Eine Loosdorferin berichtet beispielsweise, dass sie und ihre Familie ihr Wohnhaus verlassen
mussten, da dort die Telefonzentrale der Kommandantur eingerichtet wurde. 515 Bei
meiner Großmutter hingegen wurde nur ein Soldat einquartiert und die Familie konnte
wie gewohnt bestehen bleiben. Dies war für sie, ihre Mutter und ihren Bruder eher ein
Glücksfall, wie sie selbst erzählt:
„Und in jeder Wohnung haben wir irgendwen aufnehmen müssen, obwohl wir ja
nur zwei Räume gehabt haben und zu dritt waren, haben wir heraußen wen
nehmen müssen und wir haben das Glück gehabt, dass wir einen ganz einen
netten Mann erwischt haben, der war bei uns, das war ein Förster in Russland,
der hat bei uns geschlafen und dadurch haben wir einen Schutz gehabt... der
hat ein Kind gehabt in meinem Alter, darum hat er auch immer geschaut, dass
ich was zum Essen habe.“516
Selbst wenn die Fürsorge dieses russischen Soldaten meiner Großmutter gegenüber
vermutlich auch Propagandazwecken diente, um, wie es häufig der Fall war, das Ansehen der russischen Besatzung aufzuwerten, 517 trug dies dazu bei, dass meine Großmutter und ihre Mutter sich etwas sicherer fühlten.
Viele Frauen mussten nämlich zunächst mit der Angst vor Vergewaltigungen und Plünderungen durch die sowjetischen Soldaten leben. In Loosdorf direkt gibt es zwar soweit keine Meldungen von Frauen, die von solchen Übergriffen berichteten, oft wurden
diese aus Schamgefühl allerdings verschwiegen. In kleinen Orten wie Loosdorf wurden
diese Ereignisse schnell zum Tagesgespräch, wodurch die Vergewaltigungsopfer noch
mehr entmutigt wurden über diese Geschehnisse zu berichten. Viele der betroffenen
511
512
513
514
515
516
517
Interview mit Josefa Brucker.
Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 476.
Floßmann, Loosdorf 1945-1955, 7.
Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 478.
Floßmann, Loosdorf 1945-1955, 11.
Interview mit Josefa Brucker.
Stelzl-Marx, Freier und Befreier, 440.
231
Frauen verstummten ganz oder zogen sogar aus ihrer Ortschaft weg. 518 Meine Großmutter kann hierzu auch einen Dorfklatsch aus Loosdorf erzählen:
„Wie die Russen gekommen sind, da sind sie in der ersten Nacht überall hineingegangen und haben die Leute angeleuchtet. Sie sind dann auch zu unsere
Hausfrauen, die Grete und die Anna hinein und haben sie angeleuchtet, die beiden haben in der Nacht immer ihre Gebisse heraus gegeben und haben sie am
Nachtkasterl liegen gehabt, die Russen sind gekommen und haben sie angeleuchtet, zwei ältere Damen, und sie haben die Gebisse gesehen und haben sofort ‚reißaus gnumma’ und haben ‚Hexen Hexen’ geschrien, die haben das überhaupt nicht gekannt.“ Sie lacht dabei und fügt noch hinzu: „das ist dann gleich
die Runde gegangen.“519
Dieses Anekdote scheint bei weitem nicht so schlimm zu sein, ist im Gegenteil sogar
ganz unterhaltend. Meine Großmutter verweist jedoch darauf, dass sich die beiden
Protagonistinnen der Geschichte für dieses Ereignis sehr geschämt haben. Frauen, die
überfallen und vergewaltigt wurden, wurde oft sogar eine gewisse Mitschuld zugesprochen.520 Hilfe seitens der Kirchen oder von Behörden bekamen sie eher selten. So blieb
ihnen in vielen Fällen nur, das Erlebte zu verdrängen. 521 Gesprächsbereit zeigten sich
nur jene Frauen, die vom Entkommen eines sexuellen Übergriffes berichten konnten.
Meine Großmutter spricht auch darüber, dass sich die Frauen in Loosdorf „verstecken
miaßn“ und „schiach aunziagn“ haben müssen. Oft haben sie sich auch Marmelade ins
Gesicht und auf den Körper geschmiert, um so Ausschläge und Krankheiten vorzutäuschen.522 Im Laufe der Zeit haben einige Frauen im Loosdorf auch Beziehungen mit sowjetischen Besatzungsmitgliedern gehabt. So wie meine Großmutter sagt:
„Es hat schon auch einige gegeben, denen das dann einmal gefallen hat, die
haben russische Freunde gehabt.“
Dies war damals durchaus nicht unüblich, jedoch wurde es von den Familienangehörigen oft nicht gerne gesehen. In einigen Fällen verließen Frauen deshalb auch ihren
Heimatort. Meine Großmutter kann sich sogar an einen konkreten Fall erinnern:
„Neben unsere Wohnung, bei der Frau Plunder, war einer einquartiert, er war
ein Offizier, der hat eine Freundin mitgehabt, die eine Österreicherin war, die hat
mit ihm dann da gewohnt.“523
Diese Beziehungen erfüllten häufig mehrere Funktionen, auch wenn sie heute noch
gerne in Erzählungen unter den Deckmantel der ersten großen Liebe geschoben werden. Verbindungen solcher Art wurden von vielen Frauen eingegangen, um aus ihrem
Elend herauszukommen. Je höher der Rang des Soldaten war, desto mehr konnten
sich diese Frauen erhoffen. Bei einem Offizier bekamen Frauen meist neben GrundEbd., 425.
Interview mit Josefa Brucker.
520
Stelzl-Marx, Freier und Befreier, 426.
521
Klaus-Dieter Mulley, Aspekte sowjetischer Besatzung in Niederösterreich, in: Alfred Ableitinger (Hg.), Österreich
unter alliierter Besatzung, Wien 1998, 388.
522
Ebd.
523
Interview mit Josefa Brucker.
518
519
232
nahrungsmitteln auch Dokumente, Passierscheine und Luxusgüter, wie zum Beispiel
Schnaps und Zigaretten. Ein weiterer Grund eine Beziehung mit einem ranghohen
russischen Soldaten einzugehen, war, dass diese ihnen Schutz vor Übergriffen und
Vergewaltigung boten. Unabhängig davon, ob es sich um eine zweckorientierte oder
eine Liebesbeziehung handelte, steht fest, dass diese Verbindungen und die eventuell
daraus entstandenen Kinder oftmals tabuisiert wurden.524
4.2 Dorfklatsch rund um die Entnazifizierungen unter russischer Besatzung
Grundsätzlich nahm die Rote Armee, im Gegensatz zu den anderen drei Besatzungsmächten, keine Entnazifizierungen vor, solange sich diese nicht den Anweisungen der
sowjetischen Soldaten widersetzten. In den ersten Monaten nach Kriegsende wurden
sogar ehemaligen Nationalsozialisten Ämter überlassen um die Verwaltung aufrecht zu
erhalten.525
In Loosdorf gab es einen besonderen Fall von einem Mann, der sich anscheinend mit
Gewalt den Russen widersetzte und von den Russen ermordet wurde. Diese Begebenheit ist bis heute bei den älteren Menschen in Loosdorf im Gespräch und wird meistens
so erzählt, wie sie mein Großvater wiedergibt:
„Der alte Alfery hat in die Luft geschossen, vor lauter Angst, oder er hat
geglaubt er kann sie alle aufhalten, die Russen haben ihn dann in den
Sierninger Auen erschlagen [...] regelrecht erschlagen, mit dem Pferd hat er
vorher mit rennen müssen und ‚einizaht’ in die Auen und weg war er – das war
ein Narr.“526
Bis heute ist nicht klar, wie sich dies genau zugetragen hat, doch ganz so ein Narr, wie
mein Großvater sagt, dürfte Alfery nicht gewesen sein. Er war bis zu diesem Zeitpunkt
ein angesehener Mann in Loosdorf, als pensionierter Lehrer sollte er während des Krieges aufgrund seines Status die nationalsozialistische Ordnung im Ort übernehmen.
Nichtsdestotrotz, ist er ein NSDAP Mitglied gewesen und wollte sich, laut mehrere
Zeitzeugenberichte, an dem Tag seiner Verhaftung mit dem Stellvertreter des Volkssturms absetzen, wie es viele andere Nationalsozialisten auch gemacht haben. Sein
Neffe, der ihn am besagten Tag noch gesehen hat, berichtet, dass ihm die Russen zuvor gekommen seien und ihn und seinen Stellvertreter gesucht haben. Vermutlich hätte er, als Ortsvorsteher, Loosdorf an die Alliierten übergeben bzw. das Amt des Bürgermeisters übernehmen sollen. Stattdessen hat er sich anscheinend versteckt und ist
dann davon gelaufen. Dabei, so sein Neffe, sei ein Schuss gefallen. 527 Dass er selbst
524
525
526
527
Stelzl-Marx, Freier und Befreier, 429.
Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 481.
Interview mit Anton Brucker.
Floßmann, Loosdorf 1945-1955, 37.
233
geschossen habe, ist aus dieser Warte eher unglaubwürdig, da eine sofortige Erschießung durch die sowjetische Soldaten in der ersten Zeit der Besatzung gängig war,
wenn diese einen Widerstand vermuteten. Dazu reichte allerdings oft schon ein Kopfschütteln oder ein „Nein“.528 Getötet wurde er jedoch nicht gleich. Nachdem die Russen ihn gefasst hatten, haben sie ihn Richtung St. Pölten zur Kommandantur getrieben, auf halbem Weg bei einer kurzen Pause in einem Gasthaus, dürfte er einen erneuten Fluchtversuch gewagt haben und dabei in einem Wald von hinten erschossen
worden sein.529
Wenn die Nationalsozialisten in Niederösterreich weder vor der russischen Besatzung
fliehen, noch von jenen in Ämtern eingesetzt werden konnten, so wie es vermutlich
bei Alfery hätte sein sollen, wurden sie auch häufig zu gemeinnütziger Arbeit, wie Exhumierung und Grabungsarbeiten, herangezogen. 530 In Loosdorf wurden die ehemaligen Nationalsozialisten vor allem zu Aufräumarbeiten und zur Kanalräumung eingesetzt.531 Meine Großmutter erinnert sich sehr gut an eine Frau, da sich ihr Vater für
diese Frau bei der Gemeinde, wo auch er angestellt war, verbürgt hat.
„Die Frau Weidacher, bei ihr und ihrem Mann war der Alois, mein Bruder, als
Elektriker-Lehrling angestellt, die wurde nach dem Krieg recht schikaniert. Sie
hat Straßen kehren müssen, und was weiß ich noch alles. Mein Vater hat sich,
dann für sie eingesetzt, beim Fischer [Bürgermeister] und hat gesagt, die Frau,
die war so gut und hat meinen Sohn als Lehrling genommen, weil er wollte haben, dass sie in Ruhe gelassen wird und das wurde dann auch gemacht.“532
Scheinbar hatte der damalige Loosdorfer Bürgermeister, auf die Bitte meines Urgroßvaters hin, bei den Sowjets interveniert, denn der Großteil (dabei handelt es sich in
etwa um 90%) der nicht zu stark belasteten Nationalsozialisten wurde erst 1948
amnestiert, womit die Entnazifizierung beendet war. 533 „Die geflohenen Nazis sind
nachher wieder alle nach Loosdorf zurück gekommen“, erzählt mein Großvater.
4.3 Bei den Russen hatte ich’s gut …
Trotz dieser Gräueltaten, wie Raub, Diebstahl, Vergewaltigung und Mord, die den Russen im Laufe der Zeit von der Bevölkerung zugeschrieben wurden, äußern sich meine
Großeltern vielfach in einem guten Ton über die alliierte Besatzungsmacht. Während
meine Großmutter die Gefahren auch ein wenig reflektiert, erzählt mein Großvater nur
sehr positive Geschichten, die er während der Besatzung mit den sowjetischen SoldaMulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 472.
Floßmann, Loosdorf 1945-1955, 38.
530
Mulley, Die rote Armee in Niederösterreich, 482.
531
Floßmann, Loosdorf an der Westbahn, 150.
532
Interview mit Josefa Brucker.
533
Oswald Panagl (Hg.), Text und Kontext: Theoriemodelle und methodische Verfahren im transdiziplinären Vergleich,
Würzburg 2004, 142.
528
529
234
ten erlebt hat. Wie schon erwähnt, galten die Russen als sehr kinderlieb, sie beschenkten die Kinder mit Süßigkeiten und anderen Kleinigkeiten. Besonders Buben
hatten einen sehr guten Kontakt zu ihnen und durften kleinere Dienste für sie erledigen.534 Dies bestätigt auch mein Großvater, wobei er in seinen Erzählungen den Rotarmisten meist sogar einen gewissen Heldenstatus zuschreibt.
„Die Russen haben zwei Ponys gehabt, mit denen sind wir immer bis nach Neuhofen zur Wehr geritten [...] da haben wir sie dann schwimmen lassen und dabei sind wir auf den Pferden gesessen. Wir haben die Pferde von den Russen
aus waschen dürfen, aber wie wir sie wieder nach Hause gebracht haben, waren
sie wieder dreckig.“535
Für solche Dienste wurden die Kinder und Jugendlichen dann oft mit Essen und Gebrauchsgegenständen entlohnt.536 Auch an diese Begebenheit kann sich mein Großvater erinnern:
„Die Russen haben eine gute Suppe gehabt, und mit zwei Teller Suppe habe ich
genug gehabt, nur Natur- mit Sauerampfer alles war drin [...] ‚Gregor’, das war
der Suppenkoch, ‚Suppe’, der hat auch schön deutsch gesprochen, und natürlich
habe ich meine Sache bekommen.“537
5 „Gehungert haben wir nicht“ - Das Thema Ernährung 1945
Grundsätzlich blieb auch Loosdorf vom Kampf um das tägliche Brot nicht ganz
verschont. Besonders die Zeit zwischen den letzten Kriegstagen und der Ankunft der
neuen Besatzungsmacht war schwer. Die Felder der Bauern und Geschäfte wurden
sowohl von dem ersten Soldatentrupp als auch von den durch streifenden Flüchtlingen
geplündert.538 Meine Großeltern berichten jedoch beide unabhängig voneinander, dass
sie eigentlich immer etwas zu essen gehabt hätten. So wie es meine Großmutter für
die Familie Stöckl formuliert: „Wir sind schon über die Runden gekommen, ich meine,
dass ich nicht an Hunger gelitten habe.“ 539 Mein Großvater bringt dieses Thema sogar
mit einer großen Heiterkeit zur Sprache und sagt zufrieden über sich und seine
Familie: „Wir haben genug gehabt, mehr wie genug.“540
Dafür dürfte es mehrere Gründe gegeben haben. Einer davon war, dass die
Lebensmittelmarken, welche die nötige Grundnahrung bringen sollten, nach dem Krieg
bestehen blieben. Meine Großmutter erinnert sich so daran:
„Es hat eine Lebensmittelkarte gegeben, im Krieg und auch danach, und da hat
es so Marken geben und da hat man halt verschiedene Stationen gehabt, da
Stefan Eminger/Ernst Langthaler (Hg.), Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, Stichwörter zu Niederösterreich
1945-1955, St. Pölten 2005, 95.
535
Interview mit Anton Brucker.
536
Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 95.
537
Interview mit Anton Brucker.
538
Floßmann, Loosdorf an der Westbahn, 148.
539
Interview mit Josefa Brucker.
540
Interview mit Anton Brucker.
534
235
Opa zum Beispiel Schmiede, Schwerstarbeiter, die haben halt mehr bekommen,
Kinder weniger, und das ist so gestaffelt gewesen. Vier oder fünf Lebensmittelgeschäfte hat es in Loosdorf gegeben […] Dort hat man die Lebensmittelkarten
einlösen können und man hat immer was bekommen - man hat halt nicht die
Auswahl gehabt.“541
Mit der Einführung der Lebensmittelkarten, zu Kriegsbeginn 1939, versuchte man die
Verteilung der so knappen Nahrungsmittel zu lenken. Diese Vorgehensweise wurde
auch nach Kriegsende beibehalten und bis 1949 schrittweise abgeschafft. Bei den Lebensmittelkarten wurde generell in zwei Gruppen unterteilt. Eine Gruppe war die der
„Selbstversorger“542 zu der die Bauernfamilien zählten, diese Gruppe bekam keine
Marken. Die zweite Gruppe war jene der „Nicht-Selbstversorger“, zu der auch die Familien Stöckl und Brucker gehörten. Wie meine Großmutter schon erzählt, wurde hier
wiederum in verschiedene Versorgungsklassen unterteilt: nach Beruf, Zustand (Kranke, Stillende Mütter, Schwangere) und Alter (Babys, Kinder, Alte Menschen).
Ein weiterer Grund dafür, dass die beiden Familien meiner Großeltern nicht hungern
mussten, war, dass sie auf eine erweiterte Selbstversorgung durch vermehrte Hausarbeit, Tierzucht und Gartenbau setzten. Diese Selbstversorgung beinhaltete auch illegale Aktivitäten, die durchaus verbreitet waren, um das Überleben zu sichern, denn die
Nahrung allein, die man durch die Lebensmittelkarten bekam, reichte nicht aus. Zu
diesen kriminellen Handlungen zählten beispielsweise das Schmuggeln von Gütern
oder die Hintergehung der „Ablieferungsvorschriften“.543
Die Familie Brucker hatte einen kleinen Acker, den sie von der Kirche pachtete, sowie
Schweine, die, wenn es nötig war, geschlachtet wurden. Wie mein Großvater lachend
und mit großer Begeisterung erzählt, hätten sie allerdings nur einen Teil der vorgeschriebenen Mengen abgegeben:
„Vier Schweine haben wir abgestochen, zwei schwarz, und zwei angemeldet und
[…] jede hat mindestens 120 kg gehabt und meistens 140 kg und mehr auch
noch, […]‚ kenn ma eh da Brucknerin ihre Sau’ hat der alte Holzer [Wirt] mit
dem Stempel daraufgesagt: ‚120 kg Sau na Moizeit’ ... in der Nacht haben wir
es erledigt, Schussapparat hat es schon gegeben, man hat nichts gehört, und
‚plärrt’ haben sie nicht. Untertags hab ich dann die halben Schweine auf den
Dachboden rauf tragen müssen, und die Halbmeierin [Nachbarin] hat immer gesagt: ‚I was net wos de do tan am Bodn obn, do pumperts oiwei so’, in Wirklichkeit hat meine Mutter die Schweine eingehackt und das hat sie hinüber
gehört.“544
Über den gepachteten Acker der Familie berichtet mein Großvater Folgendes:
„Alles haben wir angebaut, Kukuruz für die Schweine, Erdäpfel, rote und weiße,
die hat die Mutter auch für die Schweine gebraucht, dass sie fett werden […]
und ich habe immer die roten gegessen, die waren gschmackiger. Bohnen zwi541
542
543
544
Interview mit Josefa Brucker.
Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 112.
Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 185.
Interview mit Anton Brucker.
236
schen den Erdäpfel, wir haben nie gegossen, alles trotzdem immer schön gewesen, und Rüben haben wir auch gehabt, [lacht] Zucker haben wir ebenfalls
genug gehabt, auch zum Essen.“
Gerade im Jahr 1945 war es schwierig zu kontrollieren, ob die „Ablieferungspflicht“ für
Lebensmittel tatsächlich eingehalten wurde, da man nicht überprüfen konnte, ob die
Güter gestohlen oder im Zuge der Zerstörungen durch Kriegshandlung abhanden gekommen waren.545 Daher ist diese Erzählung meines Großvaters durchaus glaubwürdig.
Die Familie Stöckl musste sich mit weit weniger durchkämpfen als die Familie Brucker,
dennoch meint meine Großmutter:
„Es war deswegen nicht so schwierig, weil wir ja einen Gemüsegarten gehabt
haben, im Sommer, haben wir Gemüse und Erdäpfel oder so etwas gehabt, und
die Oma, das heißt meine Mutter, ist ja auch ein bisschen zu den Bauern arbeiten gegangen, da hat sie kein Geld bekommen sondern Lebensmittel.“
Außerdem berichtet sie:
„Dann sind wir öfters zu den Bauern gegangen, in der Früh, mit der Milchkanne,
da haben wir bei den Bauern dort gefragt, ob wir eine Milch bekommen oder irgendein Brot oder so etwas, aber wir haben dafür eh bezahlt.“
Dann erzählt sie in diesem Zusammenhang noch eine sehr persönliche Kindheitserinnerung: „Beim Schwinn, bei der Bäckerei, da waren heraußen beim Geschäftseingang
so Jalousien aus Holz und wenn die aufgemacht wurden, da sind verschiedene Mehl speisen, Schokolade und so draufgestanden, also was man da kaufen hätte können.
Das hat es aber im Krieg und lang danach nicht gegeben, und da bin ich immer dort
gestanden und habe geschaut und habe gefragt: ‚des hot ma olles zu kaufen
kriagt’.“546 Ebenso spricht meine Großmutter von Hilfspaketen, die eine wichtige Zuwendung für die Familien gewesen sein dürften. Bei diesen Hilfspaketen handelte es
sich vermutlich um eine Aktion von CARE (Cooperative for American Remittances to
Europe). Zunächst enthielten diese CARE-Pakete nur Grundnahrungsmittel, nach und
nach wurde deren Inhalt durch verschiedene Produkte wie Schokolade, Honig und
Dörrobst erweitert. Darüber hinaus gab es auch Pakete mit Decken und Wollstoff, koscherem Essen, sowie spezielle Pakete für Säuglinge.547
Meine Großmutter erzählt so davon:
„Im Lagerhaus hat man sich so ein Paket holen können, ich weiß nicht, das war
von Amerika oder so, da war halt manchmal auch eine Schokolade oder so drinnen.“
Generell waren die Lebensmittelhilfen der Besatzungsmächte, wie zum Beispiel für
Wien im Jahr 1945, die „Erbsenspende“ der Sowjetunion, eine wichtige Überlebenshil545
546
547
Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 56.
Interview mit Josefa Brucker.
CARE, http://www.care.at/ueber-care/das-care-paket (abgerufen, am 15.04.2013)
237
fe für die Bevölkerung und verhinderten wahrscheinlich sogar eine Massenhungersnot,
besonders in den größeren Städten. 548 Hier war die Nahrungsmittelbeschaffung weit
schwieriger als in den ländlichen Regionen, daher mussten viele Menschen „hamstern“
gehen.549 Daran erinnert sich auch meine Großmutter noch:
„Hungersnot, das war eher in der Stadt; von der Stadt, wie St.Pölten, sind
schon viele Leute gekommen und zu den Bauern mit Sachspenden, Gewand
oder irgendwelchen Sachen, dass sie Lebensmittel bekommen haben. Tausch
war gang und gäbe. Wenn man nämlich gar nichts gehabt hat, keinen Garten
und nichts, wir haben ja zumindest selber anbauen können und wann wir gar
nichts gehabt haben, Erdäpfel und was dazu, das war immer da.“550
Obwohl das „Hamstern“ grundsätzlich verboten war, war dieses sehr weit verbreitet.
Vorwiegend Frauen versuchten dadurch ihr Leben und das Leben ihrer Familien zu sichern, wobei Kleidung, Wäsche und Haushaltsgeräte gegen Nahrungsmittel bei den
Bauern getauscht wurden. Dabei kam es zu einem Aufeinandertreffen der unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen und sozialen Schichten, das in Folge zu Stadt-Land Konflikten führte, da auch die bäuerlichen Selbstversorgen zum Teil an den Kriegsfolgen
litten und selbst ihr Überleben sichern mussten. Abgesehen davon, hatten diese Abgaben zu leisten und konnten daher den Städtern kaum Güter überlassen. Die Bauern
wurden daraufhin von den Stadtbewohnern als gierig bezeichnet, während diese von
den Bauern wiederum als rücksichtslose Diebe beschimpft wurden.551
6 Die Konstruktion von Erinnerungen am Beispiel der Erzählungen
meines Großvaters
Wie zu Beginn schon erwähnt, haben mich die Geschichten meiner Großeltern schon
als Kind fasziniert. Nachdem ich diese (ich denke dabei speziell an die Geschichten
meines Großvaters) nun in einem anderen Kontext gehört habe, habe ich begonnen
diese zu reflektieren und erkenne jetzt viel deutlicher wie sich bestimmte Muster abzeichnen.
Mein Großvater inszeniert sich meist als Held seiner Erzählungen (z.B. hat er sich nicht
vor Luftangriffen gefürchtet, für die Häftlinge Essen fallen gelassen und die Familie vor
den Russen gerettet). Lässt eine seiner Geschichten dies nicht zu, stilisiert er andere
zu Helden, wie beispielsweise die russische Soldaten. Er ist stets darauf bedacht sich
in ein gutes Licht zu rücken und distanziert sich von den Nationalsozialisten mit Aussagen wie
Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 114.
Margarete Kowall, Lebenserinnerungen niederösterreichischer Frauen um 1945, 2005, (unveröffentlichtes
Manuskript), 5. Kopie, im Besitz der Verfasserin.
550
Interview mit Josefa Brucker.
551
Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 56.
548
549
238
„das DJ [Deutsche Jungvolk] woar eh nix“, oder wenn, dann habe er nur im Kollektiv gehandelt: „Olle hoben die Haund aufe grissen, wie da Hitler durch Loosdorf gfoahrn is, also hob is holt a gmocht.“ Mehr oder weniger im selben Atemzug erzählt er aber von einem Russen, den er nicht leiden konnte und sagt:
„Donn is erna Captain kumman, des woa so ana, wie a Jud, hot a ausgschaut,
so a Wamst-Nosn.“
In Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg sowie die Nachkriegszeit konstruiert mein Großvater sich seine eigene Wirklichkeit, die für ihn sowieso, und bestenfalls für alle anderen auch, universelle Gültigkeit hat. Widerspricht man seinen Darstellungen, wie zum
Beispiel seine „geliebten Russen“ betreffend, wird er zornig und trifft Aussagen, wie: „I
waß es, ich woar dabei!“ Eine solche empörte Reaktion lässt sich im Zusammenhang
mit der Befragung von Zeitzeugen sehr häufig beobachten. Laut Harald Welzer ist dies
darauf zurückzuführen, dass das erzählte Erinnern auf Emotionen basiert, gegen die
selbst ein fundiertes historisches Wissen nichts ausrichten kann. Das Problem besteht
darin, dass das historische Wissen für die Betroffenen einen geringen Stellenwert hat,
da es nicht in ähnlicher Weise emotional besetzt werden kann wie die persönlichen Erinnerungen.552
Doch wie sind die emotionalen Heldengeschichten meines Großvaters nun konstruiert?
Hierbei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Die Geschichten meines Großvaters
scheinen durchaus einen gewissen Wahrheitsgehalt zu implizieren. So ist es beispielsweise möglich, dass mein Großvater gerade in den letzten Kriegsmonaten und zu Beginn der Besatzungszeit zahlreiche kleine Abenteuer erlebt hat. Viele Kinder waren in
dieser Zeit auf sich allein gestellt, da die Mütter bzw. (im Fall meines Großvaters) die
Eltern in erster Linie darauf bedacht waren, das Überleben der Familie zu sichern. Diese Situation bot meinem Großvater die Gelegenheit seiner autoritären Mutter, meiner
Urgroßmutter, zu entkommen.
Auch seitens der Schule und der Erziehung hatten die Kinder und Jugendlichen oft
nichts mehr zu fürchten. Einerseits wurden in den letzten Monaten des Krieges viele
Lehrkräfte noch zum Wehrdienst eingezogen und anstelle derer kamen entweder pensionierte oder junge unerfahrene LehrerInnen, denen die Kinder nicht mehr viel Beachtung schenkten. (Mein Großvater berichtet auch, dass er die Schule oft „gspritzt“
hat.) Andererseits gab es auch oft keine Möglichkeiten, den Unterricht abzuhalten, da
viele Schulgebäude durch Luftangriffe zerstört worden waren. 553 Aus diesem Grund
ließ ihn meine Urgroßmutter auch nicht mehr nach St. Pölten fahren, da sie fürchtete,
dass die Schule bombardiert werden könnte. Durch diese Einschränkungen öffneten
sich für viele Kinder neue Freiräume. Dies galt aber in erster Linie für Buben, da die
Friedrich Jaeger/Jörn Rülsen (HG.), Handbuch der Kulturwissenschaften 3. Themen und Tendenzen, Stuttgart 2004,
164.
553
Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 94.
552
239
Mädchen schon früher Tätigkeiten im Haushalt ausführen mussten. Gerade in ländlichen Bereichen nützten die Buben diese Zeit der fehlenden Autorität und waren kaum
mehr Zuhause. Auch meine Großmutter berichtet, dass sie ihren damals 16-jährigen
Bruder Alois in der Zeit selten zu Gesicht bekommen hat.
Ebenso war mein Großvater viel unterwegs gewesen, wodurch er zweifellos viel erlebt
hat. Seine neu gewonnene Selbständigkeit sowie seinen Unternehmungsdrang zog er
über die Jahre hinaus bis weit in die 1950er Jahre. Er war bei der Freiwilligen Feuerwehr, spielte Tischtennis, organisierte mit Freunden Tanzveranstaltungen oder ging ins
Kino. Diese Aktivitäten ermöglichten es ihm, sowie vielen anderen Jugendlichen, neue
Handlungsräume außerhalb der häuslichen Kontrolle für sich zu entdecken. 554 Außerdem versuchte mein Großvater durch diese Art von Beschäftigung sein Ansehen im Ort
und speziell in seiner Familie und bei Freunden zu steigern. Für politische Ereignisse
und das Weltgeschehen interessierte er sich hingegen kaum. Dies war jedoch ein generelles Phänomen unter den europäischen Jugendlichen in den 1950ern Jahren. 555
Auch traumatische Kindheitserfahrungen wurden von meinem Großvater nicht aufgearbeitet. Hierzu zählen einerseits die klerikale und autoritäre Erziehung durch seine
Mutter und die Indoktrinierung mit nationalsozialistischen Werten durch seine Lehrer,
andererseits der unfreiwillige Verzicht auf eine höhere Schulbildung. Anstatt sich mit
den negativen Geschehnissen aus seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, flüchtete mein Großvater lieber in die illusionäre Wirklichkeit der österreichischen Heimatund Schlagerfilme, in denen Gesang, Liebesglück und Klamauk im Vordergrund standen.Die durch diese Filme vermittelten Werte, wie die Festlegung spezifischer Geschlechterrollen556, schienen meinem Großvater sehr wichtig zu sein. Er wollte genau
diese Scheinidylle (z.B. ein perfektes Liebesglück) leben oder zumindest nach außen
hin darstellen.
So kam es auch, dass meine Großeltern sehr zeitig eine Familie gründeten. Eine frühe
Heirat war in der 1950er und frühen 1960er Jahren wieder gängig geworden. Da kurz
nach dem Krieg ein Umbruch im gesellschaftlichen Familienbild stattgefunden hatte,
sehnte man sich wieder zurück zum stereotypen Bild der bürgerlichen Familie mit einer klaren Rollenverteilung und einer autoritären Erziehung.557
Auch meine Großeltern leben und verkörpern genau diese Vorstellungen bis heute. Da
mein Großvater scheinbar damals als eine „gute Partie“ galt und hohes Ansehen im
Ort genoss, hob ihn meine Großmutter von Anfang auf eine Art Podest. Die klassische
Rollenverteilung, die für beide so wichtig war und ist, und die Autorität, die er dadurch
Sebastian Kurme, Halbstarke: Jugendprotest in den 1950er Jahren in Deutschland und der USA, Frankfurt am Main
2006, 101.
555
Ebd., 103.
556
Werner Faulstich, Filmgeschichte, Paderborn 2005, 143.
557
Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas: 1945 bis zu Gegenwart, München 2007, 32.
554
240
auch an den Tag legt, verstärkten diese Verehrung ihrerseits noch mehr. Meine Groß mutter bestärkt ihn bis heute, wo sie nur kann, und ganz gleich, ob sie prinzipiell etwas anderes erzählen würde, unterstreicht sie stets seine Aussagen. Auch bei meinem
Interview vom 13. 1. 2013 war dieses Muster erkenntlich. Als mir mein Großvater die
Geschichte der Russen, die seine Familie in der Nacht bedroht hatten, erzählte, verge wisserte sich meine Großmutter, die ebenfalls gerade im Raum war, mehrmals, ob ich
diese richtig verstanden habe, nämlich so, dass mein Großvater alle gerettet habe.
Genau diese prägenden Faktoren verhafteten sich nun im Laufe der Zeit mit seinen Erinnerungen und formten diese auch. Nachdem er von meiner Großmutter im Bekannten- und Familienkreis immer als Held hervorgehoben wurde und sich selbst auch als
unfehlbar betrachtet, ist er nicht in der Lage seine Schwächen einzugestehen und
preiszugeben. Als Folge dessen grenzt er seine Erinnerungen unbewusst auf ein paar
standardisierte Geschichten ein. Da diese aufgrund ihrer Bedeutung immer wieder erzählt werden, bleiben diese zwar in Erinnerung, werden aber im Laufe der Zeit immer
mehr modifiziert.558 Somit spiegelt sich in den Erzählungen meines Großvaters ein verklärtes Bild seiner tatsächlichen Erlebnisse wider.
Als Beispiel, in einer Geschichte beweist er besonders viel Mut, als er einem Russen
widerspricht. Diese Veränderungen bzw. sogar Ausschmückungen geschehen beim
wiederholten Erzählen aber vielfach auch unbewusst. 559 So ist mein Großvater auch
davon überzeugt, dass sich folgende Geschichte genau so zugetragen hat:
„Da Voter hot nie de Pferd von den Russen beschlogen, de hobn an eigenen
Schmied ghobt […] de hobn für an Huaf braucht wie mia für olle viere. I hob
amoi zugschaut und hob amoi gsogt: ‚DAWEI [LOS]’, mehr hob i net braucht,
[lacht].“560
Natürlich kann man diese Geschichte nicht nachprüfen. Ich persönlich kann mir jedoch
nicht vorstellen, dass ein 14-jähriger Bub, der einen Besatzungssoldat angefeuert hat,
ohne Bestrafung davon gekommen ist, auch wenn die Russen als kinderlieb gegolten
haben und speziell zu Buben einen guten Kontakt hatten. 561 Des Weiteren neigen Personen prinzipiell dazu, Erinnerungslücken mit anderem Füllmaterial zu schließen, egal
ob dies nun gänzlich andere Erlebnisse oder Quellen sind, die mit dem Leben der Betroffenen nichts zu tun haben. 562 Da mein Großvater nach wie vor von einem, durch
die Heimatfilme inspirierten, makellosen Leben träumt, ergänzt er seine Erinnerungen
gerne mit Aspekten aus diesen Heimat- bzw. Schlagerfilmen der 1950er. So erinnert
zum Beispiel die Geschichte mit den Pferden der Russen [siehe Seite 20] stark an ein
558
559
560
561
562
Jaeger/Rülsen, Handbuch der Kulturwissenschaften, 157.
Ebd., 164.
Interview mit Anton Brucker.
Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 95.
Jaeger/Rülsen, Handbuch der Kulturwissenschaften, 162.
241
Abenteuer aus der Immenhof-Filmreihe.563
Grundsätzlich kann man sagen, dass mein Großvater sowie auch meine Großmutter
Kinder ihrer Zeit sind und, wie auch viele ihrer Altersgenossen die zwischen 1930 und
1945 geboren sind, mitunter einen nostalgisch verklärten Blick auf die Kriegs- und Besatzungszeit haben.564 Bei meinem Großvater treten diese Prägungen, durch seine Familie sowie die gesehenen Filme, in Form der vielen herausragenden (Helden-)Geschichten besonders hervor.
7 Resümee
Für mich persönlich war es von großer Bedeutung diese Interviews mit meinen Großeltern zu führen und über diese dann eine Arbeit zu schreiben.
Erstens erfüllte mich die Hoffnung ein paar Familiengeschichten bewahren zu können,
und zweitens habe ich durch die Gespräche mit meinen Großeltern sowie auch mit
meiner Mutter viel Neues über meine Familie und den Kriegsalltag der Loosdorfer Bevölkerung in Erfahrung bringen können. In Hinblick auf die Führung der Interviews erwies es sich als gute Entscheidung, meine Großeltern großteils einzeln zu befragen.
Somit konnte meine Großmutter freier erzählen und wurde nicht durch meinen Großvater beeinflusst.
In Bezug auf meinen Großvater war mir vom Anfang an klar, dass er in standardisierter Form erzählen und sich dabei stets positiv darstellen würde. Letzlich ergaben sich
jedoch auch hier einige neue Erkenntnisse hinsichtlich seiner Persönlichkeit und seiner
subjektiven Wahrnehmung. So erkannte ich zum Beispiel, dass die Geschichten, in denen er sich selbst als Held darstellt, als eine Art Flucht vor der Realität gedeutet werden können. Sie dienen in erster Linie dazu, persönliche Schwächen und Unsicherheiten zu kompensieren und sich nach außen hin als unfehlbar zu präsentieren.
Von den Erzählungen meiner Großmutter und ihren Erinnerungen war ich positv überrascht. Obwohl sie im Jahr 1945 ein kleines Mädchen gewesen ist, konnte sie sehr viel
mehr erzählen als ich es mir erwartet hätte. Möglicherweise hat sie aber auch vieles
wiederholt, dass sie von ihrer Familie erzählt bekommen hat. In Bezug auf meine
Großmutter wurde mir einerseits bewusst, wie schwierig die Lebensumstände der Familie Stöckl in der Kriegs- bzw. Nachkriegszeit waren. Andererseits lässt sich ihren Erzählungen entnehmen, dass ihre Familie die Schwierigkeiten, die sich aus der damaligen Situation ergaben, verhältnismäßig gut gemeistert hat.
Die Conclusio meiner Arbeit ist, dass Lebenserinnerungen, so faszinierend sie auch
563
564
Immenhof-Filmreihe, http://www.imdb.com/find?q=immenhof&s=all ( abgerufen am 15.04.2013)
Eminger/Langthaler, Sowjets, Schwarzmarkt, Staatsvertrag, 93.
242
sein mögen, nur einen Teilaspekt von Geschehnissen widerspiegeln können und nicht
als historisch fundiertes Wissen betrachtet werden dürfen. Besagte Erinnerungen müssen stets kritisch hinterfragt werden, da sie eine starke subjektive Färbung aufweisen.
243
8 Abbildungen
•
Abbildung 1: Familienbild/Brucker.
•
Abbildung 2: Familienbild/Stöckl.
Quelle: alle Abbildungen befinden sich in Privatbesitz der Autorin bzw. der
Familienmitglieder.
244
245
Stephan Turmalin
Die Oma im Stollen
246
Inhalt
1 Einleitung
247
2 Quellenkritik der Selbstzeugnisse
250
3 Taschenkalender 1945
251
3.1 Äußere Quellenkritik
252
3.2 Innere Quellenkritik
253
3.3 Schreibgeräte
254
3.4 Zeitferne Eintragungen
254
3.5 Zeitnahe Eintragungen
256
4 „Stollen-Tagebuch“
4.1 Äußere Quellenkritik
4.1.1 Zur Eingrenzung der Entstehungszeit
257
258
259
der Autobiographie meiner Großmutter
4.2 Innere Quellenkritik
260
4.2.1 Darstellungsform im „Stollen-Tagebuch“
260
4.2.2 Beschreibung der Zeit von 28. 11. bis 31. 12.
261
4.2.3 Feuer im Stollen
263
5 Versuch einer Verortung der Lebenswelt meiner Großmutter
264
– vor und während der Arbeit im Stollen
5.1 Reichsarbeitsdienst
265
5.2 Meine Großmutter, eine Täterin?
268
6 Schluss
269
7 Quellen
271
8 Abbildungen
271
247
1 Einleitung
In meiner Arbeit möchte ich die Aufzeichnungen meiner Großmutter Frauke C. betrachten.565 Einerseits soll unter geschichts- biographischen Aspekten und andererseits
durch eine Kontextualisierung mit dem derzeitigen Stand der Forschung ihre Lebenswelt während der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu verorten versucht werden.
Meine Großmutter wohnte zeit ihres Lebens in Melk und stammte aus einer Familie mit
handwerklichem Hintergrund. Ihr Vater war Binder, dessen Vater Bindemeister. Sie besaßen eine Fassbinderei in der Wachauerstraße in Loosdorf. 566 Sozioökonomisch
stammte sie also aus einer kleinbürgerlichen Familie. Fraukes Eltern starben bereits in
ihrer Kindheit, wodurch sie fortan bei ihrer Großmutter väterlicherseits aufwuchs.
Meine Großmutter arbeitete gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, ihren Angaben nach
vom 29. 11. 1944 bis zum 28. 3. 1945, 567 in einem Rüstungsstollen in der Nähe von
Melk. Sie lernte während ihrer dortigen Arbeitszeit ihren zukünftigen Mann, meinen
Großvater Jens C., kennen. Mein Großvater war ein ab März 1941 in das Deutsche
Reich eingebürgerter Südtiroler.568 Im Dezember des gleichen Jahres wurde er von
Innsbruck nach Steyr umgesiedelt.569 Das genaue Eintrittsdatum hinsichtlich der Arbeit
im Stollen konnte nicht nachvollzogen werden.
Meine Großmutter schrieb in ihren Aufzeichnungen, dass sie ihn am 10. 12. 1944 zum
ersten Mal wahrgenommen hatte. Durch Nachforschungen, die mein Bruder angestellt
hat, konnte nachgewiesen werden, dass Jens C. nach einem kurzen Kriegsaufenthalt
in Russland. durch einen Streifschuss, mehrere Lazarettaufenthalte hatte. 570 Als letzten Abgang konnte der 9. 5. 1944 von Linz nach Steyr durch die Deutsche Dienststelle
nachgewiesen werden. Die Umstände, die ihn von Steyr nach Melk brachten, können
nur vermutet werden, sind aber für meine Arbeit nicht weiter von Belang.
Im Laufe des Krieges veränderte sich das Ortsbild von Loosdorf durch Material- und
Arbeitslager, die für den Bau der Autobahn benötigt wurden. Durch den Bau des Rüstungsstollens "Quarz" im Wachberg bei Roggendorf entstand eine Reihe von Versorgungseinrichtungen in der heutigen Westsiedlung von Loosdorf. Vom Bahnhof Loosdorf
wurde ein Gleis angelegt, das direkt in den sogenannten Stollen A führte (Plan des
Stollens: siehe Abbildung 1).571
Dieser und alle folgenden Namen sind anonymisiert.
Faksimile der Geburtsurkunde von Frauke C, Gerhard Floßmann, Loosdorf. Ansichten, Loosdorf 1999, 54. In meinem
Privatarchiv.
567
So gibt sie es de facto in ihrem „Stollen-Tagebuch“ wieder. Im Zuge der Recherche habe ich auf dem
Versicherungsnachweis der OÖGKK eine de jure Abmeldung am 28. 4. 1945 finden können.
568
Einbürgerungsurkunde, angefordert vom Tiroler LA, in Kopie bei meinem Bruder Nils C.
569
Wehrmacht Suchkarte, angefordert vom Tiroler LA, in Kopie bei meinem Bruder Nils C.
570
Auskunft der Deutschen Dienststelle (WASt), Schreiben bei meinem Bruder Nils C.
571
Gerhard Floßmann, Loosdorf an der Westbahn. [400 Jahre Markt], Loosdorf 1984, 147-151.
565
566
248
Abbildung 1: Stollenanlage Roggendorf/Loosdorf. Nach einer Vermessung
im Jahre 1983.
Roggendorf liegt zwischen Loosdorf und Melk, hier sollte die Stollenanlage des Projektes „Quarz“ in den sogenannten Wachberg ab dem Jahre 1944 gegraben werden. Dieser Hügel bestand aus Sandstein und war daher besonders gut für einen Stollenbau
geeignet. Die Steyr-Daimler-Puch AG (SDP) wollte hier einen Teil ihrer Rüstungsproduktion unter die Erde verlegen.572 Der Grund dafür waren Angriffe alliierter Luftverbände auf Ziele von Rüstungsbetrieben der SDP ab 1944.573
Für den Bau der unterirdischen Anlage wurden KZ-Häftlinge eingesetzt. Dazu wurde
die „Freiherr von Birago“-Pionierkaserne zu einem KZ-Außenlager von Mauthausen und
sollte zur Unterbringung der Häftlinge genutzt werden. 574 Im November 1944 war der
Vortrieb soweit fortgeschritten, dass die SDP ihr Wälzlagerwerk nach Melk verlegen
konnte. Nach dem Bericht meiner Großmutter fertigte sie im Stollen Gewinde bei einer
Maschine an.575 In ihrer Abteilung waren es ausschließlich Frauen, die dieser Tätigkeit
Bertrand Perz, Projekt Quarz. Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk (Industrie, Zwangsarbeit und
Konzentrationslager in Österreich 3), Wien 1991, 160-170.
573
Josef Goldberger/Cornelia Sulzbacher, Oberdonau (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 11), Linz
2008, 70-72.
574
Perz, Projekt Quarz, 219.
575
Frauke C., Stollen-Tagebuch, 4 und 9.
572
249
nachgingen. Nur zur Justierung der Maschinen kamen regelmäßig männliche Arbeiter,
die sie in ihren Aufzeichnungen als Einsteller bezeichnete.
Ihre Selbstzeugnisse sind für mich deshalb interessant, da ich über meine Großmutter
in den Archiven mehr oder minder auf sehr dürres Aktenmaterial gestoßen bin und es
mir aus familiären Gründen zeit ihres Lebens verwehrt geblieben ist, sie richtig kennen
zu lernen. Mit der Annäherung an ihre schriftliche Hinterlassenschaft im Zuge einer
wissenschaftlichen Bearbeitung geht und ging also auch immer eine persönliche einher. Diese hat in jedem Fall, wenn auch nur indirekt, das Ergebnis der Arbeit bereichert. In erster Linie aber hat sie eine mir persönlich eher unbewusste Lücke im Be reich des Möglichen gefüllt.
Die Fragestellungen beziehen sich einerseits auf ihre Selbstzeugnisse, die sie während
der Arbeit im Stollen und in ihrem späteren Leben produziert hat. Dabei möchte ich
die Interdependenzen und Korrelationen bei einer Auswahl ihrer Hinterlassenschaft
herausarbeiten. Es soll geklärt werden, welche Aufzeichnungen wann stattgefunden
haben und weshalb. Dies passiert mit quellenkritischen Methoden und soll anhand der
Ergebnisse interpretiert werden. Meine These ist, dass es nicht alleine ihre zeitnahen
Notizen und Aufzeichnungen aus der Zeit von 1944 bis 1945 waren, die für die Darstellung in ihren späteren Erinnerungsberichten herangezogen wurden. Vielmehr sind
zum Beispiel museale Ausstellungen oder Fernsehberichte genauso in ihre Darstellung
eingeflossen.
Weiter stellt sich mir die Frage, weshalb sie überhaupt in diesem Stollen gearbeitet
hat. Ob dies eine freiwillige Entscheidung war oder ob sie aufgrund von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu dieser Tätigkeit gezwungen wurde. Hierzu habe ich Literatur verwendet, die sich mit der Beschäftigungspolitik von Frauen des „Dritten Reiches“
befassen, genauer gesagt mit dem Reichsarbeitsdienst (RAD). Ich möchte der Frage
nachgehen, ob meine Großmutter für den RAD oder den Kriegshilfsdienst (KHD) eingezogen wurde. Dahingehend hatte sie nie Aussagen gemacht, jedoch erscheint es mir
wegen ihres Alters und ihrer Tätigkeit durchaus möglich. Dazu wird versucht werden,
ihre Situation mit den arbeitsmarktrechtlichen Veränderungen im Laufe des Krieges in
Zusammenhang zu stellen.
Resultierend aus diesen Überlegungen stelle ich überdies die Frage nach der subjektiven Verantwortung meiner Großmutter. Anhand der Forschungsliteratur über Täterinnen im Nationalsozialismus soll versucht werden zu beantworten, wie sich die individuelle Situation von Frauke C. mit diesem Forschungshintergrund verorten lässt. Abgesehen von den bereits erwähnten Selbstzeugnissen konnte ich nur bedingt an Quellen
kommen, die meine Großmutter betreffen. Bei der Recherche im Haus-, Hof- und
Staatsarchiv konnte ich keine sie betreffenden Dokumente finden. Die mir zur
250
Verfügung stehenden Quellen, die nicht von meiner Großmutter produziert wurden,
beschränken sich auf den Eintrag im Taufbuch, einen Versicherungsnachweis ihrer
Arbeitszeit im Stollen, ein Totenbild und ein Zeugnis ihrer Schulzeit.
2 Quellenkritik der Selbstzeugnisse
Im Folgenden sollen die Selbstzeugnisse meiner Großmutter Frauke C. nach inneren
und äußeren quellenkritischen Kriterien betrachtet werden. 576 Meine Großmutter hat
eine Vielzahl an Selbstzeugnissen, die zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens entstanden sind, hinterlassen.
Für diesen Teil der Arbeit sollen vordergründig zwei Dokumente ihrer Hinterlassenschaft genauer betrachtet werden. Erstens ein Taschenkalender von 1945, in welchem
während der letzten Kriegsmonate des Zweiten Weltkrieges und danach bis Mitte November nahezu täglich Notizen über Ereignisse von ihr eingetragen wurden. Und zweitens ein von meiner Großmutter sogenanntes „Stollen-Tagebuch“, in welchem meine
Großmutter die Erinnerungen, Erlebnisse während ihrer Arbeitszeit im Rüstungsstollen
Quarz-Roggendorf in teils erzählerischer, teils diaristischer Form wiedergibt. Die Bezeichnung „Stollen-Tagebuch“ ist von Frauke C. selbst. Angesichts der strukturellen
Gattungsmerkmale wäre ein Tagebuch, welches in seinem Titel bereits einen zeitlichen
Rahmen umreißt, eher die große Ausnahme. Eintragungen in ein Tagebuch erfolgen im
Normalfall schubweise. Der Grund, dass meine Großmutter den zeitlichen Rahmen im
Titel vorgibt, ist, dass sie das „Tagebuch“ erst viel später in ihrem Leben geschrieben
haben muss. Für meine Arbeit möchte ich die Bezeichnung „Stollen-Tagebuch“ übernehmen, im Bewusstsein, dass der in ihrem Lebensabend verfasste Bericht in einer
biographisch-genealogischen Betrachtungsweise nicht als Tagebuch bezeichnet werden
kann.
Zunächst lässt sich sagen, dass die beiden quellenkritisch betrachteten Selbstzeugnisse miteinander verbunden sind. Wobei klarerweise hauptsächlich das „Stollen-Tagebuch“ von den täglichen Notizen des Taschenkalenders beeinflusst ist, dennoch hat
meine Großmutter während ihres Schreibprozesses ihre ursprünglich 1945 entstandenen Notizen adaptiert und gering verändert. Vordergründig dienten ihr die täglichen
Notizen als Erinnerungsstütze für das Verfassen des „Stollen-Tagebuches“. In welchem
Eckart Henning, Selbstzeugnisse. Quellenwert und Quellenkritik, Berlin 2012, 28-43; Günter Müller, „Vielleicht
interessiert sich mal jemand …“. Lebensgeschichtliches Schreiben als Medium familiärer und gesellschaftlicher
Überlieferung, in: Peter Eigner/Christa Hämmerle/Günter Müller, Briefe, Tagebücher, Autobiographien. Studien und
Quellen für den Unterricht, Innsbruck-Wien 2006, 76-95; Andreas Rutz, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion?
Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1 (2002) 2, URL:
http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/rutz/index.html (abgerufen am 02.10.2012); Thomas Winkelbauer
(Hg.), Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und
Autobiographik (Waldviertler Heimatbund 40), Horn-Waidhofen/Thaya 2000.
576
251
Ausmaß, ob es weitere Erinnerungsstützen gab, soll im Zuge der folgenden
Quellenkritik geklärt werden.
In der Frage nach dem Quellenwert ist vor allem beim „Stollen-Tagebuch“ Vorsicht geboten. Alleine die Tatsache, dass dieser Bericht 40 Jahre ex eventu verfasst wurde,
wirft die Frage nach der Wirklichkeitstreue bei der Darstellung auf. Mir geht es jedoch
nicht darum „Unwahrheiten“ in ihrem Bericht aufzudecken. Viel interessanter ist, wenn
aus den Interdependenzen der beiden Selbstzeugnisse verschiedene Daseinsentwürfe
erkennbar werden. Erinnerungen, über die meine Großmutter im Alter schreibt, jedoch
im Taschenkalender keine Erwähnung finden, zeugen in erster Linie von verschiedenen
Erfahrungsebenen.577 Zum Beispiel, wenn meine Großmutter einerseits über ihre Begegnung mit KZ-Häftlingen schreibt und dazu nichts im Taschenkalender notiert hat,
wird diese Erfahrung eher auf eine emotionale Ebene zurückzuführen sein. Andererseits wenn sie während ihres Berichtes über den Stollen plötzlich mehrere Absätze
Fakten über Baubeginn, Dimensionen usw. anführt, kommt eher eine kognitive Erfahrungsebene zu tragen. Bei dem letztgenannten Beispiel wird weniger der Wahrheitsgehalt für mich von Interesse sein, als vielmehr die Provenienz. Dass sie sich vierzig Jahre nach den Ereignissen im Stollen an das genaue Datum des Baubeginnes erinnern
kann, ist genauso unrealistisch, wie die Vermutung, dass sie diesem Baubeginn 1944
irgendeine Bedeutung beigemessen und dies einer Notiz in diesem Jahr gewürdigt hätte.
3 Taschenkalender 1945
Zuerst möchte ich den Taschenkalender behandeln, da dieser meiner Großmutter während ihrer Zeit im Stollen und danach als Notizbuch gedient hat und daher die ältere
der beiden Quelle ist. Dass sie durchaus die Intention hatte, dieses auch als Tagebuch
zu nutzen, zeigt ihr Vermerk am Titelblatt: „Mein Tagebuch! (Kleine Notizen)“.578
Ich folge in der Bezeichnung der Selbstzeugnisse meiner Großmutter weitestgehend
der Strukturlehre nach Eckart Henning. 579 Darin werden Tagebücher in drei Gruppen
unterschieden: Notiztagebuch, Bekenntnistagebuch und Geschäftstagebuch. Letztgenanntes dient im geschäftlichen, behördlichen Bereich als Registraturhilfsmittel, die
anderen beiden Tagebuchformen entstehen im privaten Umfeld. Im Bekenntnistagebuch reflektiert der/die AutorIn bereits über das Erlebte. Es enthält überwiegend Gedanken, Empfindungen oder Werteurteile. Im Notiztagebuch hingegen ist der überwieRobert Montau/Christine Plaß/Harald Welzer, „Was wir für böse Menschen sind!“. Der Nationalsozialismus im
Gespräch zwischen den Generationen (Studien zum Nationalsozialismus in der edition diskord 1), Tübingen 1997, 9.
578
Frauke C., Taschenkalender.
579
Eckart Henning, Selbstzeugnisse, 29-31.
577
252
gende Inhalt Tageschronistik, also alles, was von außen an Begegnungen und Erlebnissen auf den/die SchreiberIn zukommt. Das Erlebte wird eher kommentarlos aneinandergereiht und registriert. Diese Form des Tagebuches wird von Frauke C. wie oben
erwähnt auf dem Titelblatt angekündigt und im weiteren Verlauf auch erfüllt.
Die Stilmerkmale Stereotype, Kürze, Stichworte, Sachlichkeit, Hingeworfenes, Nüchternes und Unpersönlich-Geschäftsmäßiges entsprechen zu einem Großteil dem
Schreibstil meiner Großmutter im Taschenkalender. Wobei eine konjunkturelle Entwicklung in der Intensität ihrer Aufzeichnungen feststellbar ist. Anfangs sind der Umfang
und die Häufigkeit der Einträge nur sporadisch. Bis etwa Ende Mai 1945 werden sie
zahl- und detailreicher. Hier finden sich auch die inhaltsreichsten Einträge. In diesem
Bereich lässt sich auch nur noch schwierig von einem reinen Notitztagebuch sprechen.
Eintragungen wie „…Hilda geht immer andere Wege, wir sind halt 2 grundverschiedene
Naturen […]“580 sind schon reflektierter als sich dies zuvor feststellen lässt.
Ab Juni werden die Einträge wieder kommentarloser, sachlicher und vor allem kürzer,
bis sie gegen Jahresende nur noch wenige Wörter pro Tageseintrag verwendet. Diese
quantitativ unterschiedlichen Einträge hängen stark mit dem Ereignisverlauf in diesem
Jahr zusammen. So ist die Zeit, in der meine Großmutter einen geregelten Alltag hatte. auch die, in der sie sachliche und kürzere Einträge macht. Während der turbulenten Zeit in ihrem Leben, ab in etwa Februar 1945, als es vermehrt zu Fliegeralarmen
gekommen ist, sie ihr Zuhause zurücklassen musste, um in Richtung Steyr zu reisen,
sind die Einträge detailreicher und persönlicher. Ein zweiter Grund wird auch sein, dass
Frauke C. in dieser Zeit viel mehr auf sich alleine gestellt war und weder ihre Großmutter als unmittelbare Bezugsperson noch enge FreundInnen in ihrer Nähe hatte. Die
Frage nach dem Motiv der Aufzeichnung lässt sich bei dem Taschenkalender leicht mit
dem Begriff Gedächtnisstütze beantworten. Sie waren auf jeden Fall nicht für einen
größeren Personenkreis bestimmt, wodurch die enthaltenen Informationen als durchaus aufrichtiger angesehen werden können, als ihre Aufzeichnungen in den 1990er
Jahren, die bereits für einen bestimmten Personenkreis vorgesehen waren.
3.1 Äußere Quellenkritik
Der Taschenkalender für das Jahr 1945 ist 10,4 cm lang und 7,2 cm breit. Wie sie zu
diesem Taschenkalender gekommen ist, lässt sich nicht endgültig klären. Möglicherweise bekam sie ihn von ihrem Arbeitgeber im Stollen der Steyr-Daimler-Puch AG zur
Jahreswende. Genauso ist es möglich, dass sie den Kalender in einem beliebigen Büromaterialladen gekauft hat. Der Umschlag ist abgerissen worden oder hat sich durch
580
Frauke C., Taschenkalender, Eintrag vom 18. April.
253
den Gebrauch gelöst, wobei die olivgrüne Farbe des Umschlages noch an einem
schmalen Papierstreifen erkennbar ist, der am Buchrücken haften geblieben ist. Ansonsten ist der Taschenkalender in einem guten Zustand, abgesehen vom Umschlag
fehlen keine Seiten. Es finden sich darin vorgedruckte Einträge zu bestimmten Daten,
darunter z.B. am 30. 1. 1933: Tag der Machtergreifung Adolf Hitler wird Reichskanzler; oder 23. 2.: Horst Wessel seinen Verletzungen erlegen usw. Ein Taschenkalender,
wie er zu dieser Zeit überall erhältlich war. Es gibt im Kalender selbst keinen Hinweis
auf den Ort des Druckes oder der Druckerei. Möglicherweise stand dieser auf der
Rückseite des Umschlages. Angesichts der vorgedruckten Einträge im Kalender kann
vermutet werden, dass auf dem Umschlag zum Beispiel ein Hakenkreuz abgedruckt
war. Daher wäre es möglich, dass meine Großmutter den Umschlag bewusst abgelöst
hat, um den Taschenkalender im Verlauf des Jahres 1945 weiterführen zu können.
Darüber hinaus scheint der Vorsatz581 und die letzte Seite an die nächste beziehungsweise vorige angeklebt zu sein, was ebenfalls eine bewusste Bearbeitung des Kalenders vermuten lässt.
Dieser Kalender blieb zeit ihres Lebens in ihrem Besitz. Nach ihrem Tod kam ihr
schriftlicher Nachlass teilweise zu ihrer Tochter, meiner Tante, Ramona K. und ihrem
Sohn, meinem Vater, Pascal C. Der Taschenkalender war bis Ende 2005 bei meiner
Tante, dann begann sich mein Bruder Nils C. für den Nachlass zu interessieren und
hortete alles schriftliche Material, welches bei unserem Vater und unserer Tante war
und fing an, den Großteil davon zu kopieren und zu vervielfältigen, um jedem/r von
unserer Familie, der/die Interesse daran hat, ein Exemplar anzufertigen. Für den Ar beitsaufwand bekam Nils C. dafür von unserer Tante den Taschenkalender. Nachdem
ich im Zuge dieser Arbeit versucht habe, den Schreibprozess des „Stollen-Tagebuchs“
zu rekonstruieren und über meine Überlegungen mit meiner Familie gesprochen hatte,
bin ich bald auf den Taschenkalender gestoßen. Im September 2012 wurde er mir von
meinem Bruder vorübergehend für diese Arbeit geliehen.
3.2 Innere Quellenkritik
Meine Großmutter verwendet immer wieder Kürzel. Zum Beispiel für ihre Arbeitsschichten: “10-6“ für die Nachtschicht, „6-2“ für die Frühschicht und „2-10“ für die
Nachmittagsschicht. Ab dem 26. 2. 1945 steht neben ihrer Schicht auch noch eine
zweite in Klammer, zum Beispiel im Eintrag vom 26. 2.: „2-10 (18-6)f“. Das ist die
Schicht von ihrem späteren Mann Jens C., meinem Großvater, den sie im Stollen kenAndreas Fehrmann, Glossar buchgestalterischer und buchtechnischer Begriffe (2010), URL: http://www.jverne.de/verne_buch_buch.html (abgerufen am 17. 2. 2013)
581
254
nengelernt hat. Hinter diesem erweiterten Eintrag steckt also die beginnende Liebesbeziehung einer zu dieser Zeit 23-jährigen Frau. Eine andere häufig auftretende Abkürzung ist „kein All.“ oder „Fl. All“ für kein Fliegeralarm oder Fliegeralarm.
3.3 Schreibgeräte
Für den Zeitraum ihrer Tätigkeit im Stollen sind für die Eintragungen insgesamt fünf
verschiedene Schreibgeräte erkennbar. Durch eine genaue Differenzierung wann sie
welches Schreibgerät verwendet, können bestimmte Aussagen gewonnen werden. Es
geht daraus hervor, dass sie in den 1990er Jahren noch nachträgliche Überarbeitungen
durchgeführt hat, wodurch zwei der fünf Schreibgeräte für zeitnahe Eintragungen ausgeschlossen werden können.
Da die Einträge, die ihre Arbeitsschicht betreffen, in den Monaten Jänner und Februar
über Wochen mit einem anderen Schreibgerät durchgeführt wurden als die übrigen
Eintragungen in dieser Zeit, kann davon ausgegangen werden, dass die zivilen ArbeiterInnen zirka drei bis vier Wochen im voraus über die Arbeitseinteilung Bescheid
wussten.582 Durch die Eintragungen meiner Großmutter im Taschenkalender 1945 ist
ersichtlich, dass unterschiedliche Arbeitsschichten bei den MitarbeiterInnen, die als zivile Arbeitskräfte angestellt waren, geherrscht haben. Meine Großmutter arbeitete in
drei Schichten zu je acht Stunden, Jens C., der als Einsteller beschäftigt war, in zwei
zu je zwölf Stunden. Diese Unterscheidung der Schichtlängen, wie sie aus dem Ta schenkalender ab Jänner 1945 rekonstruiert werden können, sagt jedoch nichts über
die Zeit davor aus. Es kann durchaus sein, dass diese aufgrund des Fachkräftemangels
erst im Laufe der Zeit erhöht wurden.
3.4 Zeitferne Eintragungen
Die Einträge, die ich als nachträgliche Überarbeitungen identifiziert habe, tauchen das
erste Mal im Bereich des 4. und 5. Jänners des Taschenkalenders auf.
Diese lauten:
„29. 11. 44 – 29. 3. 1945
im Stollen gearb.
v. bis 5. 5. 1945
Kabelbr. 1. 2. 45“583
Bei diesen Einträgen, die einerseits einen höheren Schriftgrad und eine deutlich andere Schriftfarbe als zeitnahe Einträge aufweisen, hat sie auch mit einem helleren Kugel582
583
Perz, Projekt Quarz, 372.
Frauke C., Taschenkalender.
255
schreiber die Daten korrigiert. Von „28. 4.“ zu „29. 3.“ sowie anstelle von „5. 5. 145“
„5. 5. 1945“. Diese Daten bezeichnen einerseits die Arbeitszeit von Frauke C. im Stollen, die Rückkehr ihres Bruders Frank N. von seinem Kriegsdienst und das um einen
Tag früher angelegte Datum des Kabelbrandes im Stollen, zu dessen Zeitpunkt sie gerade Dienst hatte. Der ganze Eintrag hat ein einheitliches Schriftbild, muss also in einem Zuge gemacht worden sein. Das Schriftbild und die verwendeten zwei Schreibgeräte dieses Eintrages ähneln denen im „Stollen-Tagebuch“.
Ein weiterer Hinweis auf eine spätere Überarbeitung ist der Buchstabe <K>. Dieser
wurde von Frauke C. im Taschenkalender bei zeitnahen Einträgen aus drei sich berührenden Strichen geschrieben. In den frühen 1990er Jahren schreibt sie dieses <K> so,
dass der untere diagonale Strich aus dem oberen herausgezogen wird. Diese spätere
Form des <K> benutzt meine Großmutter, wenn sie im Bereich des 5. Januar im Taschenkalender von 1945 <Kabelbrand> schreibt. Trotz des unterschiedlichen Schriftbildes kann nicht daran gezweifelt werden, dass beide, zeitnahe und spätere Eintragungen aus ihrer Hand stammen. Die unterschiedliche Erscheinung hängt in erster Linie mit dem Entstehungszeitraum dieser Eintragungen zusammen.
Weiters sind folgende drei Einträge, die miteinander zusammenhängen, im Taschenkalender mit diesem Schreibgerät geschrieben worden.
Montag, 5. Februar 1945:
„[…] heute kam ein neu Trup
Arbeiter, darunte auch P […]
Bruder“
Montag, 12. Februar 1945:
„[…] heute erzählt P.
daß sein Bruder am
Samstag auch im Stollen als
Einsteller zu arb. beginnt“
Freitag, 16. Februar 1945:
„Nachmittags P […] u. Herbert
besucht! [Anm.: ab hier mit dickem Kugelschreiber] hier
erzält heut daß sein Bruder morgen“
Anscheinend hatte sie noch in Erinnerung, dass der Bruder von Jens C., Frederik C.,
kurz nach dem Brand im Stollen Anfang Februar gekommen war und konnte sich auch
noch erinnern, dass ihr mein Großvater davon vorab erzählt hatte. Aber sie hatte von
der Ankunft des Bruders von Jens C. ursprünglich nichts im Taschenkalender vermerkt. Im „Stollen-Tagebuch“ schreibt sie am 17. Februar 584 über die Ankunft von Frederik C. Diese Eintragung steht in Zusammenhang mit den später ergänzten Eintragungen im Taschenkalender. Im Wehrpass des Bruders lässt sich das tatsächliche Da584
Frauke C., Stollen-Tagebuch, 56.
256
tum der Überstellung von Steyr nach Melk genau feststellen. Hier erfolgte die Anmeldung im Wehrmeldeamt Steyr bereits am 24. 1. 1945 585. Auch die dreimalige Erwähnung der Mitteilung von Jens C. über die Ankunft des Bruders wäre bei einem zeitna hen Eintrag in dieser Form unmöglich. Der nächste Eintrag in dickerer Tinte ist am 24.
Februar:
„[…] heute Abschied Loni Kleid […]“. Einen Tag später schreibt sie, jedoch ist es
hier ein zeitnaher Eintrag: „[…] Heimweg Loni getroff. (trg. warum?) […]“.
In ihrem „Stollen-Tagebuch“ beschreibt meine Großmutter hier den Abschied einer ihr
nahestehenden Kollegin in der Abteilung im Stollen, da sich diese für eine Arbeitsstelle
außerhalb des Stollens beworben hatte und diese auch bekam. Wenn der Eintrag vom
24. Februar auch an diesem Tag gemacht worden wäre, hätte sie sich wohl nicht einen
Tag später gefragt, warum Loni traurig sei.
Zusammenfassend lässt sich durch diese drei Beispiele sagen, dass die Schreibgeräte
mit höherem Schriftgrad erst viel später im Taschenkalender hinzugefügt wurden und
daher eine nachträgliche Überarbeitung darstellen. Diese Überarbeitung fand meiner
Ansicht nach statt, als sie das „Stollen-Tagebuch“ geschrieben hat. Ein zusätzlicher
Hinweis hierzu ist zum einen, dass dieser Kugelschreiber auch dann auftaucht, wenn
sie etwas durch Unterstreichen herausgehoben hat. Sehr oft unterstreicht sie z.B. ihre
Schicht bzw. Eintragungen, auf die sie in ihrem „Stollen-Tagebuch“ näher eingeht. Am
eindeutigsten offenbart dies jedoch der Eintrag am 29. 3. 1945, der Tag mit dem ihr
Bericht endet, den sie „Stollen-Tagebuch“ nennt. Hier steht zwischen zwei zeitnahen
Einträgen gezwängt „…Ende…“.
3.5 Zeitnahe Eintragungen
Sie verwendet drei verschiedene Schreibgeräte für die zeitnahen Einträge im Taschenkalender. Einen Bleistift, zwei Bleistifte mit bläulich-grauem Farbbild, davon einer mit
eher hellerem und einer mit eher dunklerem Schriftbild. Anhand des Auftretens der
verschiedenen Schreibgeräte und des Schriftbildes lässt sich sagen, dass sie nahezu
täglich Notizen im Taschenkalender ergänzte, die Eintragungen also relativ nahe an
dem Erlebten sind. Interessant ist das Schreibgerät, das Frauke C. für die Notiz ihrer
Arbeitsschichten verwendet. Sie führt die Schicht einmal pro Woche am Montag an.
Wie viele Tage in der Woche sie genau Arbeiten musste, geht aus den Aufzeichnungen
nicht hervor, jedoch war es in der Regel eine Sechs-Tage-Arbeitswoche.586 Diese ist von
Montag, dem 1. bis Montag dem 15. 1. mit dem hellen, bläulich-grauen Bleistift, von
585
586
Im Besitz seines gleichnamigen Sohnes.
Perz, Projekt Quarz, 371.
257
Montag dem 22. 1. bis Montag dem 12. 2. mit dem dunkleren, bläulich-grauen
Bleistift, am 19. 2. mit dem helleren, bläulich-grauen Bleistift und vom 26. 2. bis zum
19. 3. mit grauem Bleistift angezeichnet. Da sie ab dem 24. 2. bis zum Ende ihrer
Tätigkeit im Stollen ausschließlich mit Bleistift schreibt, lässt sich ab hier nichts mehr
darüber aussagen, wie lange im Vorhinein ihr die Schichten mitgeteilt wurden. Aber
immerhin lässt sich durch die unterschiedlichen Schreibgeräte herauslesen, dass sie
am 1. 1. den Dienst für die nächsten drei Wochen wusste und ab 22. 1. für die
nächsten vier Wochen.
Weiters findet sich in ihrem Taschenkalender am 1. 2. ein Eintrag zu dem Kabelbrand
im Stollen (der bei Quartz587 jedoch am 2. 2. angegeben ist):
„5h Morgens Schreckenstunde im Werk
mit Pepi u. Herbert nach Hause
nachmittags Besuch v. Pepi u. Herb. Bericht.
Schnee ausgeführt“
Der Grund, weshalb Frauke C. hier den Brand einen Tag früher ansetzt, ist sehr wahrscheinlich der, dass sie den Brand in ihrer Nachtschicht vom 1. auf den 2. 2. in der
Früh erlebt hat. Angesichts der zeitlichen Nähe zwischen dem Erlebten und der Niederschrift ist auffallend, dass sie den Eintrag nicht von den anderen hervorhebt. Von dem
Ereigniswert her wird dieser Eintrag mit den Schneearbeiten vor ihrem Haus auf eine
Ebene gestellt. Anscheinend ist ihr in diesem Moment noch nicht das Ausmaß des Vorfalles und das Glück, mit dem Leben davon gekommen zu sein, bewusst. Viel akzentuierter ist ihre Darstellung der Vorkommnisse, wenn sie sich in den 1990er Jahren in ihren autobiographischen Darstellungen daran erinnert.
4 „Stollen-Tagebuch“
Im Sinne der Strukturlehre von Henning ist dieses Selbstzeugnis eine Autobiographie.588 In ihr steht das „Ich“, sowie dessen innere Entwicklung und persönliche Beziehungen im Mittelpunkt der Darstellung. Der Unterschied zum Tagebuch ist eine bewusste Auswahl des Geschilderten. Diese determiniert sich bereits in der durch meine
Großmutter vorgenommene Benennung „Stollen-Tagebuch“. Auch die Vorwegnahme
späterer Ereignisse und eine bewusste Stilisierung von Erlebtem sind in diesem Selbstzeugnis gehäuft anzutreffen. Ein typisches Merkmal von Autobiographien, nämlich die
tagesenthobene Distanz, versucht meine Großmutter bewusst zu unterwandern. Durch
ihre Vorgabe ein „Tagebuch“ schreiben zu wollen, versucht sie dem/der LeserIn das
Gefühl zu vermitteln, der Bericht sei in der Zeit um 1945 aufgezeichnet worden. Je587
588
Perz, Projekt Quarz, 399-403.
Henning, Selbstzeugnisse, 31f.
258
doch kann dies nicht als bewusster Täuschungsversuch gewertet werden, da sie die
zeitliche Distanz zwischen dem Selbstzeugnis und dem Geschehen zwar nicht wörtlich
offenlegt, jedoch den Schein der zeitlichen Nähe durch Zeitsprünge in die Gegenwart
oder in spätere Ereignisse durchbricht. Sie bewertet die Geschehnisse mehrmals in einer Weise, die im Augenblick des eigentlichen Geschehens nicht möglich gewesen
wäre.589 Bei diesen Beispielen ist sehr gut das Wechselspiel zwischen dem „erzählenden Ich“ („Gegenwarts-Ich“) und einem „erzählten Ich“ (Vergangenheits-Ich“) zu sehen.590 Dieser Versuch meiner Großmutter, vierzig Jahre nach den Geschehnissen in
diaristischer Form über ihre Erlebnisse zu schreiben, ist ein bewusster Entschluss. Dabei scheint ihr das chronologische Einteilungsprinzip angesichts der ihr zur Verfügung
stehenden Erinnerungsstütze einerseits als sinnvoll, gleichzeitig tradiert eine Einteilung mit exakten Datumsangaben mehr Authentizität. Dieser Erinnerungsbericht
diente ihr auch als Versatzstück für eine Schriftenkompilation, die sie „Familiengeschichte“ nannte. Dieser Nachlass sollte ihr gesamtes Leben, angefangen bei ihrer
Kindheit, über ihre Jugend- und Ausbildungsjahre, die Stollenzeit, die Zeit nach dem
Krieg bis hin zu der Geschichte ihrer Kinder, enthalten. Was sie noch alles geplant hat te, lässt sich nicht sagen, da sie vor Vollendung der Niederschrift über ihre Kinder ver storben ist.
Nichtsdestotrotz findet sich hier, in diese Familiengeschichte eingebettet, auch die frühere Fassung des „Stollen-Tagebuches“, wenn auch mit gewissen Adaptierungen, Einschränkungen und Veränderungen. Ob sie das „Stollen-Tagebuch“ lediglich als Vorlage
für die Familiengeschichte geplant hatte, bleibt offen.
4.1 Äußere Quellenkritik
Es handelt sich um einen Chefkalender (B 14,5 x H 21,5) von 1985, der ein
Werbegeschenk der Firma Liebherr war. Das „Stollen-Tagebuch“ wurde nach dem Tod
meiner Großmutter bei meiner Tante aufbewahrt und, wie bereits erwähnt, wurde es
nur kurzfristig meinem Bruder zur Verfügung gestellt, um es zu vervielfältigen. Ab
dem Spätsommer 2012 hat es meine Tante mir für diese Arbeit überlassen.
Andreas Rutz, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des
frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1 (2002) 2,
URL: http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/rutz/index.html (abgerufen am 2. 10. 2012).
590
Günter Müller, „Vielleicht interessiert sich mal jemand …“. Lebensgeschichtliches Schreiben als Medium familiärer
und gesellschaftlicher Überlieferung, in: Peter Eigner/Christa Hämmerle/Günter Müller (Hg.), Briefe, Tagebücher,
Autobiographien. Studien und Quellen für den Unterricht, Bozen-Innsbruck-Wien 2006, 76-95.
589
259
4.1.1 Zur Eingrenzung der Entstehungszeit der Autobiographie meiner
Großmutter
Frauke C. hat überdies ein weiteres Erinnerungszeugnis in einem solchen Chefkalender
hinterlassen. Dieser ist von 1987 und behandelt die Zeit unmittelbar nach ihrer Arbeit
im Stollen. Diese beiden Dokumente sind offensichtlich im Laufe der jeweiligen Jahre
als Kalender benutzt worden, was daran erkennbar ist, dass immer wieder Seiten zusammengeklebt wurden, bestimmte Seiten fehlen (da sie herausgerissen wurden) und
die Ecken mit Abrissvorlochung auch durchgehend abgerissen sind. Bei den Seiten des
Zeitraumes vom 1. 1. bis einschließlich 12. 2. 1985 ist auffällig, dass Kalenderseiten
eines fortgeschrittenen Datums vor die eines früheren geklebt wurden. Wobei dies nur
bis zur zwölften geschriebenen Seite ihres Erinnerungsberichts auftritt. Der Grund dafür könnte sein, dass Frauke C. anfangs unsicher war, ob für ihr Schreibvorhaben genug Platz im Kalender ist. Nachdem sie gemerkt hat, dass es genug ist, hört sie auf,
Seiten aufzuheben, die nur auf einer Seite beschrieben sind. Die Nummerierung der
Seitenzahlen wurde, abgesehen von S.101, von Frauke C. selbst vorgegeben. Auch
der Appendix von Seite 68 hat keine Nummerierung, bei dem es sich um ein in der
Hälfe zerschnittenes Kalenderblatt handelt. Durch das Jahr der Chefkalender lässt sich
der Entstehungszeitraum des „Stollen-Tagebuch“ nur bedingt eingrenzen. Sehr wahrscheinlich ist es nach dem Jahresbeginn 1988, jedoch sicher nach 1986 entstanden.
Für eine genauere Eingrenzung wären andere Aufzeichnungen von Frauke C. notwendig.
Meine Großmutter hat in der Zeit zwischen 1. 1. 1966 und 31. 12. 1994 täglich Notizen über Tagestemperatur, verrichtete Arbeiten, persönliche Treffen, telefonische Kontakte, usw. in insgesamt vier DIN A5 Hefte eingetragen. 591 Daraus lässt sich auch rekonstruieren, dass sie Anfang der 1990er Jahre begonnen hat, ihre schriftlichen Auf zeichnungen, die sich im Laufe ihres Lebens angesammelt haben, zu ordnen. Anhand
ihrer Gedichte, täglichen Notizen und Fotos hat sie dann ihr Leben reflektiert und
schriftlich in mehreren Abschnitten zusammengefasst. Ab März 1990 taucht immer
wieder der Eintrag „…gz. Tag geschr….“ in diesen DIN A5 Heften auf, insgesamt elf Mal,
davon neun Mal an einem Sonntag. Dem Umfang ihres schriftlichen Nachlasses nach
zu schließen hat sie diesen (ihren Nachlass) nicht an einem dieser elf Tage weiter bearbeitet. Sie hat dieser Tätigkeit lediglich dann einen Eintrag gewürdigt, wenn sie den
ganzen Tag hinter dem Schreibtisch gesessen hatte. Das letzte Mal notiert sie ihre
Schreibtätigkeit am 28. 8. 1994. Nach Aussagen meiner Tante hat sie jedoch bis kurz
vor ihrem Ableben immer wieder geschrieben. Ihr Vorhaben bzw. die Fertigstellung
591
Diese Aufzeichnungen befinden sich im Privatarchiv meines Vaters.
260
wurde, wie bereits erwähnt, durch ihren Tod vorzeitig beendet. Anhand des schriftli chen Nachlasses lässt sich erkennen, dass sie chronologisch vorgegangen ist. Das
„Stollen-Tagebuch“ war bis spätestens Mai 1994 fertig, ein Eintrag am Schluss grenzt
die Entstehungszeit ein.
„Tatens-Fernsehn 1993:
Der Stolen hatte angeblich eine Fläche v. 65,000 km²(?)
80% wurden davn fertiggestellt.
Und er hatte eine Höhe von 4m
(16,000 haben dort gearbeitet
KZler
„ 4,000 davon sind gestorben
20-30 Tote gab es am Tag“.592
Eine Antwort auf die Frage, wann sie mit dem Schreiben des Stollen-Tagebuches begonnen hat, lässt sich nur vermuten. Am 22. 4. 1990 schreibt sie in ihren täglichen
Aufzeichnungen, dass sie einen Spaziergang mit ihrer Familie in den Stollen unternommen hat. Eventuell ist ihr dabei die Idee gekommen, auch darüber etwas schriftlich zu
hinterlassen. Ein zweites Ereignis, das ihr den Anstoß dazu geben hätte können, war
die Eröffnung der Gedenkstätte Melk am 8. 5. 1992. 593 Aufgrund ihres Eintrages am
Ende des „Stollen-Tagebuches“ über den Fernsehbericht, sowie ihrer Einträge über den
Spaziergang durch den Stollen drei Jahre zuvor und die Eröffnung der Gedenkstätte im
Mai 1992 lässt sich vermuten, dass diese Ereignisse sie zum Schreiben bewegt haben.
Ihre Ausführungen in diesem Selbstzeugnis sind, wie im Folgenden gezeigt werden
soll, einerseits von ihren Erinnerungen und andererseits von der medialen und musealen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, geprägt.
4.2 Innere Quellenkritik
4.2.1 Darstellungsform im „Stollen-Tagebuch“
Frauke C. versucht nahezu 45 Jahre nach den Ereignissen im Stollen sich in ihre jun gen Jahre zurückzuversetzen und aus dieser Vorstellung heraus ihre Erinnerungen in
Form eines Tagebuchs darzustellen. Dabei springt sie allerdings immer wieder aus dieser Erzählposition, wie z.B. auf Seite 2 ihres Berichtes, wo Frauke C. sich an ihre erste
Begegnung mit KZ-Häftlingen erinnert und schreibt, dass sie diese Menschen fortan
täglich sehen sollte. Beziehungsweise auf Seite 4, wenn sie auf eine späteres Ereignis
vorgreift:
Es gab einen Beitrag über das KZ Melk in einem Inlandsreport. Dieser war jedoch am 26. 5. 1994 und dauerte 6
min 52 sec. ORF Archivsignatur: 1994F09205.
593
Bertrand Perz, Konzentrationslager Melk. Begleitbroschüre zur ständigen Ausstellung in der Gedenkstätte des
ehemaligen Konzentrationslagers Melk, Wien 1992.
592
261
„Diesbezüglich [Anm.: Tätigkeit im Stollen] gab es mal eine Mißere,-die
mir u. einem Einsteller fast zum Verhängniß ge=
worden wäre,-doch näheres darüber später.“594
Das Selbstzeugnis hat also nicht die Charaktereigenschaften eines Tagebuches. 595 Es
ist keine Serie von Einträgen, in denen die Erzählerin immer wieder neu einsteigt. Das
am häufigsten angewandte Tempus in der Erzählung ist das Präteritum. Auch werden
Ereignisse, die sich in der Zukunft als signifikant herausstellten, klar herausgehoben,
so zum Beispiel ihre erste kurze Begegnung mit ihrem zukünftigen Mann.596
4.2.2 Beschreibung der Zeit von 28. 11. bis 31. 12.
Da ihre Erinnerungsstütze der Taschenkalender von 1945 ist, dienten ihr zur Darstellung der Zeit davor entweder allein ihre Erinnerungen oder sie besaß weitere Aufzeichnungen, die mir nicht vorliegen. Endgültig lässt sich dies nicht klären. Ein Eintrag auf
Seite 16 in ihrem „Stollen-Tagebuch“ verweist auf ein Tagebuch der Zeit vor 1945. Hier
heißt es:
„Laut Aufzeichnung meines Tagebuchs‘
von damals, arbeiteten wir vom 29. Nov. 44 bis 31. Dez. 44
in zwei Schichten,- u. v. 1.1.45-29.März 45 in
drei Schichten.“
Der Erinnerungsbericht, den Frauke C. vor 1945 in den Aufzeichnungen skizziert, ist
jedoch sehr vage, die Verwendung von konkreten Daten betreffend. Sie beschreibt
diesen Abschnitt597 hauptsächlich in einem allgemeinen Ton; wie sie den Arbeitsalltag
im Stollen erlebt hat, die Luftqualität, die mangelhafte Beleuchtung, ihre ArbeitskollegInnen und vieles mehr. Das einzige Datum, das auch im Taschenkalender von 1945
festzumachen ist, ist der 10. 12. 1944. Dieser Eintrag steht auf der Seite des Januars
1945 im Bereich vor dem 1.1.:
„Am 10. Dez. 44 (1. Arbeitssonntag)
Pepi kennen gelernt! (schneidiger Südtiroler!)„
Von den anderen vor 1945 vermerkten Daten ist eines der 24. 12. 1944 und die ande ren vier der 13., 14., 15. und 17. Dezember. Abgesehen vom 24. 12. sind alle innerhalb der Woche nach dem 10. 10. 1944. Meine Vermutung ist, dass sie anhand dieses
für sie sicheren Datums, an dessen Begebenheit sie sich auch erinnern konnte, die Ereignisse, die ihr als zeitnah zu diesem Tag in Erinnerung waren, in ihrem Bericht angehängt hat.
594
595
596
597
Vorgriffe wie diese gibt es auch auf Seite 11.
Henning, Selbstzeugnisse, 29.
Frauke C., Stollen-Tagebuch, 17.
Frauke C., Stollen-Tagebuch, 1-25.
262
Bei ihrem Eintrag vom 17. 12. schreibt sie, dass sie bis 14:00 gearbeitet hatte. Danach berichtet sie über ihre sonntäglichen Unternehmungen mit Freunden und dass
sie mangels adretter Kleidung ihr einziges Kleid, das sie auch im Stollen trug, ordentlich reinigen musste. Dann spricht sie über die Schuhe ihrer Mutter, wobei sie erwähnt,
dass sie diese ein paar Tage zuvor bei einer Schuhumtauschstelle in Melk abgegeben
hatte. Auch in ihrem Taschenkalender schreibt sie über einen Schuhumtausch in Melk,
jedoch ist dieser Eintrag hier am 1. 1.:
„[…] Schuhumtauschstelle Melk Wienerstraße
G. Vrtseliner 207“
Frauke C. berichtet im Abschnitt vor der ersten Datumsnennung (10. 12. 1944) über
einen Vorfall im Stollen, an dem sie aufgrund von Übermüdung „Eine ganze Kiste Ausschuß […]“598 Gewinde produzierte. Diese wurde mithilfe des zuständigen Einstellers
„In einem unfertigen Teil eines Stollens […] zugeschüttet“. 599 Auch dieser Eintrag korreliert nicht mit den Notizen im Taschenkalender von 1945, hier findet sich ein Eintrag
am Freitag, dem 16. 3. 1945:
„[…]in d. Nachtschicht v. Freitag
auf Samstag Pech (Ausschuß) […]“ und am folgenden Montag:
„[…] (Pech, doch wieder alles gut
Selbstvorwürfe)“
Jedoch schreibt sie im „Stollen-Tagebuch“, dass dieses Ereignis in einer Nachtschicht
passiert ist und weiter unten, dass sie erst ab 8. 1. in der Nachtarbeit eingesetzt war.
Im Abschnitt in dem sie über die Ereignisse um den 16. 3. schreibt, erwähnt sie diesen
Vorfall jedoch nicht mehr. Entweder war es ein bewusster Vorgriff oder sie hat den Eintrag in ihrem Taschenkalender nicht entdeckt, da das Erlebnis für sie allerdings ein
sehr emotionales war, hat sie ihre Erinnerung niedergeschrieben. Auch sind es Formulierungen wie
„Mit Wiederwillen betrat ich tgl. dieses Areal“ (S.4), „Die neue Arbeit, war eine
große Umstellung […]“ (S.4), „[…]daß ich in naher Zukunft, damit konfrontiert
werden würde,-“ (S.5), „Am Anfang war der Aufenthalt für mich im Stollen […]“
(S.5), „So viel ich mich erinnern kann,[…]“ (S.5),
die darauf schließen lassen, dass es ihr in der Darstellung vor der ersten Datumsnennung eher um eine allgemeine Beschreibung ging. Auf den Seiten sieben bis acht
schreibt sie im Allgemeinen über den Stollen, wie es zu dessen Bau kam, seine Funktion, usw. Dieser Teil des Berichts wirkt, als wäre er aus einem Fernsehbericht oder
Ähnlichem entnommen. Diese Beschreibung, genauer gesagt die darin enthaltenen
Eckdaten über den Stollenbau könnten eventuell auch aus dem Begleitheft der Gedenkstätte Melk stammen.
598
599
Frauke C., Stollen-Tagebuch, 15.
Frauke C., Stollen-Tagebuch, 15.
263
Dagegen gibt es aber auch Eintragungen, die auf andere Erinnerungsstützen schließen
lassen. So schreibt sie im „Stollen-Tagebuch“ am Ende des Monats Dezember ihren erhaltenen Lohn für die Zeit von „[…] 29.11.-31.12.=RM 110,67“. Diese Einträge macht
sie ab Jänner auch im Taschenkalender. Ein weiterer Hinweis ist ihr Bericht über den 3.
1. im „Stollen-Tagebuch“, hier schreibt sie über eine Begegnung mit KZ-Häftlingen, die
ihr auffielen, da sie durch „gutaussehende Gesichter mit menschlichem Blick u. aufrechter Gestalt“600 für sie ungewöhnlich aussahen. Einer der Einsteller berichtete ihr,
dass diese Häftlinge erst heute angekommen sind. Tatsächlich kamen an diesem Tag
518 Häftlinge in Melk an.601 In ihrem Taschenkalender findet sich im Bereich des 3. 1.
kein Eintrag, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie sich 45 Jahre später noch an
das genaue Datum erinnern konnte, muss davon ausgegangen werden, dass sie noch
über weitere Aufzeichnungen aus dieser Zeit verfügte. Vor allem angesichts ihrer Einnahmen- und Ausgabenrechnung und der genauen Datumsangabe des Häftlingstransportes ist es wahrscheinlicher, dass Frauke C. noch andere Quellen besaß. Hauptsächlich lässt sich jedoch sagen, dass der Taschenkalender ihr als Erinnerungsstütze
diente, da die meisten Datumsangaben und konkret beschriebenen Ereignisse – sei es
ein Kino-Besuch, sei es der Brand im Stollen – aus diesem Dokument stammen.
4.2.3 Feuer im Stollen
In den Morgenstunden um zirka 5 Uhr des 2. 2. entfachte im Stollen aufgrund eines
Kabelbrandes ein Feuer.602 Frauke C. hatte zu dieser Zeit ihre letzte Arbeitsstunde vor
Ende der Nachtschicht. Sie beschreibt im „Stollen-Tagebuch“, wie sie dieses Ereignisses erinnert. Ihrem Bericht nach wurde sie von einer rettenden Hand aus dem Stollen
gezogen. Als Datum des Ereignisses gibt sie, wie auch im Taschenkalender den 1. 1.
an. Jens C. und Herbert, der Einsteller, besuchen sie später und berichten ihr über die
Ereignisse. Laut ihrem Bericht wurde bereits über den Kabelbrand gesprochen und
dass es eventuell ein Sabotagefall war. Es lässt sich nicht eindeutig klären, ob sich diese Vermutung erst durch die spätere Diskussion um diesen Vorfall so geformt hat. In
ihrem Taschenkalender von 1945 schreibt sie dahingehend noch nichts.
In dem Eintrag vom Montag, dem 5. 2., der Tag an dem sie die Arbeit wieder aufgenommen hat, schreibt sie über die noch vorhandenen Zeugnisse des Vorfalls:
„Im Gelände vor dem Stollen ahnt
man, daß sich grauenhaftes abgespielt haben muß.
Frauke C., Stollen-Tagebuch, 27.
Perz, Quarz, 495.
602
Perz, Quarz, 399-403; Sammlung Bertrand Perz, Institut für Zeitgeschichte Uni Wien, Archiv Steyr-Daimler-Puch
AG, Ordner Steyr Verlagerungen Quarz.
600
601
264
Berge von verkohltem Kabelmaterial,
angesengtes Holz, - u. Baumaterial,
liegt umher.
Im Innern des Stollens noch Gestank
vom Kabelbrand, – verußtes Mauerwerk.“
Zusammenfassend betrachtet geht hervor, dass meine Großmutter das „Stollen-Tagebuch“ auf Grundlage ihres Taschenkalenders aufgebaut hat. Für ihre Ausführungen zu
Beginn des Selbstzeugnisses hat sie auf Informationsmaterial zurückgegriffen, an das
sie erst durch die mediale oder geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung des Rüstungsstollens gekommen ist.
5 Versuch einer Verortung der Lebenswelt meiner Großmutter – vor und
während der Arbeit im Stollen
In der Darstellung meiner Großmutter tritt der Dienstantritt im Rüstungsstollen Quarz
plötzlich ein. In ihrem vierteiligen Erinnerungsbericht, den sie „Kindheitserinnerungen“
nennt,603 schreibt sie, dass sie zuvor eine Lehre als Schneiderin in Neuspielberg absolvierte, die sie laut ihren Angaben im August 1939 begonnen und 1942 abgeschlossen
hat. Nachdem sie ihre Gesellenprüfung bestanden hatte, wechselte sie zuerst nach
Melk, dann nach St. Pölten und schließlich wieder zurück nach Melk. Bei ihrem letzten
Wechsel in eine Schneiderei nach Melk hatte sie eigentlich vor, eine Halbtragarbeitsstelle anzunehmen. In ihrem Bericht schreibt sie, dass sie deshalb in ein Büro der
NSDAP Loosdorf zitiert wurde, wo ihr die dortigen Beamten wegen ihres Wunsches weniger zu arbeiten Vorwürfe machten. In welchem zeitlichen Ausmaß sie letztendlich in
Melk arbeiten musste geht aus dem Bericht nicht hervor. Das Ende ihrer Tätigkeit in
diesem Betrieb war im Oktober 1944, da der Leiterin der Schneiderei durch das Arbeitsamt mitgeteilt wurde, dass insgesamt drei ihrer MitarbeiterInnen, darunter meine
Großmutter, zur Arbeit im Rüstungsstollen verpflichtet werden würden. Drei andere
Mitarbeiterinnen hatten noch das „Arbeitsdienstjahr“ abzulegen. 604 Mit diesem Arbeitsdienstjahr meint meine Großmutter sehr wahrscheinlich den Reichsarbeitsdienst. Sie
erwähnt jedoch nicht, ob und wann sie selbst diesen abgeleistet hätte, bzw., ob die
Verpflichtung im Rüstungsbetrieb Quarz zu arbeiten mit diesem Dienst in Verbindung
stand.
Dies ist jedoch nicht auszuschließen, da die rechtliche Lage über die Rekrutierung und
Verpflichtung von „Arbeitsmaiden“ zum RAD, Frauen in ihrem Alter betraf. Im Folgenden soll die rechtliche Situation des RAD beleuchtet werden sowie dessen Anwendung.
603
604
Im Familienarchiv meiner Tante, in Kopie bei mir.
Frauke C., Kindheitserinnerungen 3. Buch 77.
265
Damit versuche ich zu beantworten, weshalb meine Großmutter anscheinend kein obligatorisches halbes Jahr RAD leisten musste bzw. ob sie gleich zum Kriegshilfsdienst
(KHD) eingezogen wurde, oder ob ihre Abberufung eine Maßnahme des totalen Krieges war.
Des weiteren möchte ich versuchen, den Handlungsspielraum meiner Großmutter einzugrenzen und anhand des Erinnerungsberichtes mich der Frage ihrer subjektiven Verantwortung anzunähern.605
5.1 Reichsarbeitsdienst
Der Reichsarbeitsdienst wurde in Österreich am 1. 10. 1938 eingeführt. 606 Für die sogenannten „Arbeitsmaiden“ wurde der Reichsarbeitsdienst der weiblichen Jugend
(RADwJ) aufgebaut, dieser wurde von Maria Lechner-Burgstaller und Lotte Eberbach
geleitet.607 Der RAD wurde von der NSDAP als „Erziehungsschule“ gesehen, in der die
deutsche Jugend im Geiste des Nationalsozialismus geformt werden sollte. 608 Mit Ausbruch des Krieges wurde am 4. 9. 1939 die RAD-Pflicht eingeführt. 609 Dass meine
Großmutter hier nicht herangezogen wurde, hängt mit ihrer Schneiderinnen lehre zusammen, die sie einen Monat vor Kriegsausbruch begonnen hatte. Im § 2 des Reichsgesetzblattes (RGBl.) heißt es, dass
„ledige Mädchen im Alter von 17 bis 25 Jahren, die nicht voll berufstätig sind,
nicht in beruflicher oder schulischer Ausbildung stehen […] zur Erfüllung der
Reichsarbeitsdienstpflicht heranzuziehen“ sind.
Sie ist also nur knapp der Vereinnahmung im Zuge des RAD durch die NSDAP entgan gen, da sie zum Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses bereits 17 Jahre alt und somit in
einem (im ideologischen Sinne) noch durchaus formbaren Alter war. Hätte sie sich
zum RAD melden müssen, wäre sie in eines der Lager gekommen, wo sie sich fern von
ihrer Familie ein halbes Jahr lang zusammen mit ihr unbekannten jungen Frauen, unter Verlust ihrer Individualität, hätte völlig unterordnen müssen.
In Interviews, die mit ehemaligen „Arbeitsmaiden“ geführt wurden, wird diese Zeit im
Großen und Ganzen als ein freiwilliger Zusammenschluss von Gleichgesinnten gesehen.610 Die Infiltration mit nationalsozialistischer Propaganda und die Tatsache, dass es
sich um einen Zwangsdienst handelte, wurden auch rückblickend von den ZeitzeugInnen oft nicht erkannt. Im Jahre 1941 wollte man die Zahl der „Arbeitsmaiden“ bis Oktober auf 130.000 erhöhen, eine weitere Erhöhung auf 150.000 sollte vom Reichsar605
606
607
608
609
610
Kathrin Kompisch, Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 2008, 7-18.
RGBl. I, 400.
Sieglinde Trybek, Der Reichsarbeitsdienst in Österreich 1938-1945, phil. Diss., Wien 1992, 41.
Trybek, Der Reichsarbeitsdienst, 132.
RGBl. I, 1693.
Trybek, Der Reichsarbeitsdienst, 149.
266
beitsführer vorbereitet werden.611 Erstmals wurde die Anzahl an jungen Frauen im RAD
1938 von 30.000 auf 50.000 erhöht und 1939 nach Beginn des Krieges auf 100.000.612
Zusätzlich wurde der RAD um ein halbes Jahr verlängert, alle, die das erste halbe Jahr
abgeleistet hatten, mussten danach den KHD ableisten. Dieser beschränkte den möglichen Einsatzort der jungen Frauen nicht mehr auf ein Frauenlager des RAD, sondern
wurde auf das gesamte „Großdeutsche Reich“ ausgedehnt. Meldepflichtige Frauen
wurden zum Hilfsdienst im Bürobetrieb bei Dienststellen der Wehrmacht, bei Behörden, in Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen sowie bei hilfsbedürftigen, insbesondere kinderreichen Familien herangezogen. In erster Linie ging es den Entscheidungsträgern des Regimes bei der Inauguration des KHD darum, möglichst viele
männliche Kräfte für die Front freizumachen. Diese sollten durch „Arbeitsmaiden“ ersetzt werden.613 Da meine Großmutter zu dieser Zeit noch mitten in ihrer Lehrzeit war,
betraf sie diese Maßnahme nicht. Auch standen bei dieser Ausweitung des Tätigkeitsfeldes für die RAD leistenden Frauen, Einsätze in Rüstungsbetrieben noch nicht im Vordergrund. Dies stellte sich im Verlaufe des Krieges als arbeitsmarktpolitische Fehlent scheidung heraus, da ein solcher Einsatz aufgrund von geringerer Einarbeitungszeit für
ungelernte Arbeitskräfte viel zweckmäßiger gewesen wäre, als der Einsatz von fachfremden Personen im Bürobetrieb von Wehrmacht und Behörden. Diese Situation änderte sich nach dem Winter 1941/1942, durch das Scheitern des Blitzkrieges und dem
Ausbleiben der rückkehrenden Soldaten, die bis zu ihrem nächsten Einsatz in die
Kriegsindustrie eingegliedert hätten werden sollen, kam es zu einem Arbeitskräfteengpass in der Rüstungsindustrie.614
Eine erneute arbeitsmarktpolitische Maßnahme im Jänner 1943 sollte jedoch auch auf
meine Großmutter Einfluss haben. Am 27. 1. 1943 verabschiedete der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, die „Verordnung über die Meldung von
Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung“. 615 Folglich waren alle im
Reichsgebiet wohnenden Frauen zwischen dem vollendeten 17. und dem vollendeten
45. Lebensjahr bei Androhung von Strafmaßnahmen angehalten, sich bei dem für sie
zuständigen Arbeitsamt zu melden. Befreit von dieser Meldung waren neben anderen
Ausnahmen auch Frauen, die mindestens seit dem 1. 1. 1943 in einem Beschäftigungsverhältnis standen und deren Arbeitszeit 48 Stunden oder mehr in der Woche
betrug. Wie bereits erwähnt, hatte sich meine Großmutter bei ihrem letzten Arbeits platzwechsel vor ihrer Arbeit im Rüstungsstollen für eine Halbtagsarbeit beworben. In
ihren Aufzeichnungen, die sie Kindheitserinnerungen genannt hat, schildert sie dies
611
612
613
614
615
RGBl. I, 464.
Trybek, Der Reichsarbeitsdienst, 212.
Trybek, Der Reichsarbeitsdienst, 210.
Trybek, Der Reichsarbeitsdienst, 241.
RGBl. I, 67f.
267
wie folgt so:
„Vortsetzung meiner Arbeit von St.Pölten nach Melk.
Durch Zufall erfuhr ich, daß die Damenschneiderin Fr. Ferlé in Melk
auch Halbtags-Beschäftigung vergab,- das war gerade das
richtige, für mich,-so konnte ich Großmutter daheim mehr unter=
stützen als bis jetzt her.
Doch die damalige Loosd. NSDAP fand es nicht richtig
+ forderte mich auf, am Posten zu erscheinen.Ich wurde barsch, weiß Gott was alles gefragt, - +
behandelt wie eine Verräterin, weil ich zeitgemäß dem
Arbeitspensum nicht entsprach – und mit Nachdruck
darauf hingewiesen, daß jeder einzelne mit äußester
Kraft seinen Teil zum Sieg für Führer+Vaterland beizutragen
hatte.- Und das von einem Bekannten, der vor diesem Regime nett + freundlich war.-“616
Den genauen Zeitpunkt dieses Arbeitsplatzwechsels gibt sie in ihrem Erinnerungsbericht nicht an, jedoch ist aufgrund der Meldepflichtverordnung von 1943 anzunehmen,
dass dies nach dem 27. 1. 1943 war. Der Anlassgrund für die Vorladung in die örtliche
NSDAP-Dienststelle von Loosdorf wird wegen einer Meldung des Arbeitsamtes gewesen sein, da sie sich für eine Halbtagsarbeit beworben hatte, welche sie zu dieser Zeit
aufgrund ihres Alters nicht hätte ausführen dürfen. Nachdem sie aber letztendlich
trotzdem in der Schneiderei Ferle zu arbeiten begann, ist entweder anzunehmen, dass
sie sich Vollzeit anstellen hat lassen oder dass sie zwar als einsetzbar beurteilt wurde,
jedoch aus bestimmten Gründen vorerst nicht eingeteilt wurde. Nach einer Aufstellung
über gemeldete Frauen, die sich bis zum 31. 3. 1943 bei den Arbeitsämtern in Niederdonau gemeldet hatten, geht hervor, dass von insgesamt 31.386 als einsetzbar gel tenden Frauen (von insgesamt 96.298 gemeldeten) tatsächlich nur 25.628 zum RAD
eingesetzt wurden.617 Es kann also durchaus sein, dass von der Möglichkeit, meine
Großmutter in einem Arbeitslager einzusetzen, abgesehen wurde. Nachdem am 25. 7.
1944 der Erlass über den „totalen Kriegseinsatz“ herausgegeben wurde, sollte „das
gesamte Leben den Erfordernissen der totalen Kriegsführung in jeder Beziehung“ angepasst werden.618 Mit einer weiteren Verordnung über die Meldung von Männern und
Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung waren die Arbeitsämter von nun an angewiesen, zweimal jährlich zur Meldung aufzurufen. 619 Im Spätsommer 1944 wurde mit
weiteren „Umschichtungen“ versucht, genügend Arbeitskräfte für den Einsatz in
kriegswichtigen Betrieben zu akquirieren. Im Zuge dieser Maßnahmen wurden im September 1944 die Arbeitsämter dazu angehalten hauswirtschaftliche Kräfte planmäßig
Frauke C., Kindheitserinnerungen 3. Buch, 66.
Karin Berger, Zwischen Eintopf und Fließband. Frauenarbeit und Frauenbild im Faschismus Österreich 1938-1945,
Wien 1984, 85.
618
RGBl. I, 161.
619
RGBl. I, 133.
616
617
268
zu erfassen.620 Die „Umschichtung“ meiner Großmutter von ihrer Arbeit in Melk in den
Rüstungsstollen fällt ebenfalls in diese Zeit. Obwohl sie keiner hauswirtschaftlichen Tätigkeit nachging, ist zu vermuten, dass das Arbeitsamt auch angehalten wurde, Frauen, die nicht kriegsnotwendige Arbeiten leisteten, zu rekrutieren. Für die Arbeitgeberin
sollte dies zur Folge haben, dass sie insgesamt sechs MitarbeiterInnen abgeben musste.
5.2 Meine Großmutter, eine Täterin?
Dies ist für mich persönlich das schwierigste Kapitel der Arbeit. Auch wenn es vordergründig keinen Grund zur Annahme gibt, dass meine Großmutter mit der Ideologie
des Regimes im „Dritten Reich“ sympathisierte, so ist es meiner Ansicht nach dennoch
notwendig, sie auf der Grundlage ihres Handlungsraumes im Sinne des Opfer-, Täterbegriffs zu verorten.621 Wie bereits erwähnt stammte meine Großmutter aus sozioökonomischer Sicht aus einer kleinbürgerlichen Familie.
Zunächst möchte ich jedoch den Terminus Täterin gegenüber Mittäterinnen und Mitläuferinnen abgrenzen.622 Täterin, als Begriff in einem juristischen Verständnis, wäre
nur dann gerechtfertigt anzuwenden, wenn die Person eine strafrechtliche Handlung
begangen hätte. Jedoch ist damit der Geschichtswissenschaft wenig geholfen, da in
vielen Fällen bei Frauen die juristische Verantwortung noch nicht einmal geklärt worden ist. Die meisten Verbrechen von NS-Täterinnen sind heute ohnehin verjährt. Zudem wären aus heutiger Sicht viele Handlungen von Frauen und Männern im „Dritten
Reich“ strafbar, auch jene, die nicht unmittelbar das Leben anderer bedrohen - zum
Beispiel kann das Wegsehen bei Gewalt am Arbeitsplatz als unterlassene Hilfeleistung
gelten. Als Mitläuferinnen werden Frauen bezeichnet, die die nationalsozialistische
Ideologie teilweise akzeptierten und in ihrem Handeln umsetzten. Diesen Frauen wird
eine gewisse Kenntnis der NS-Verbrechen zugesprochen, doch müssen sie dabei nicht
zwangsläufig in diese involviert gewesen sein. Dazu muss die Frage gestellt werden,
was diese Kategorie der Mitläuferinnen von den sogenannten kleinen „Rädchen“ in diesem System abgrenzt, die genauso das Regime aufrechterhalten haben. Genauer gesagt stellt sich die Frage, ob alleine des Motivs wegen regimetreueren Frauen in RüsBerger, Zwischen Eintopf und Fließband, 97.
Werner Goldschmidt/Bettina Lösch/Jörg Reitzig (Hg.), Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Beiträge zur Dialektik der
Demokratie (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften 68), Frankfurt/Main-Berlin-Bern-Bruxelles-New YorkOxford-Wien 2009, 249-262; Kathrin Kompisch, Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus, Köln-Weimar-Wien 2008,
7-18; Gisela Bock, Ganz normale Frauen. Täter, Opfer, Mitläufer und Zuschauer im Nationalsozialismus, in: Kirsten
Heinsohn/Barbara Vogel/Ulrike Weckel (Hg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im
nationalsozialistischen Deutschland (Geschichte und Geschlechter 20), Frankfurt/Main-New York 1997, 245-277;
Gabriella Hauch (Hg.), Frauen im Reichsgau Oberdonau. Geschlechtsspezifische Bruchlinien im Nationalsozialismus,
Linz 2006; Ingrid Bauer, Eine Freuen- und Geschlechtergeschichtliche Perspektivierung des Nationalsozialismus, in:
Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.)/Emmerich Tálos, NS-Herrschaft in Österreich. Ein
Handbuch, Wien 2000, 409-443.
622
Kathrin Kompisch, Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus, Köln-Weimar-Wien 2008, 15.
620
621
269
tungsbetrieben mehr Verantwortung zuzuschreiben ist als Frauen, die genauso
freiwillig diese Tätigkeit ausgeführt haben, jedoch keine nationalsozialistischen Ambitionen hatten. In Bezug auf den Rüstungsstollen und die Verantwortung stellt sich zusätzlich die Frage nach den „Systemerhalterinnen“, die, wie meine Großmutter, anscheinend nach den getroffenen arbeitspolitischen Maßnahmen während des totalen
Krieges aus ihren Berufen abgezogen wurden und möglicherweise ihren Arbeitsplatz
und die Tätigkeit mit den oben beschriebenen Mitläuferinnen geteilt haben. Auch der
Terminus Mittäterin ist wenig befriedigend, da er Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft subsumiert. Dies läuft insofern ins Leere, da es Frauen nicht nur eine aktive
Rolle bei Verbrechen, sondern ihnen genauso jegliche Zivilcourage abspricht. Alle diese
Begriffe sind also nur eingeschränkt sinnvoll, wenn es darum geht Erkenntnisse über
die Rolle von Frauen im Allgemeinen und der Rolle meiner Großmutter im Besonderen
zu gewinnen.
Sofern dies aus ihren Darstellung herauszulesen ist, wurde sie bis zum Eintritt in den
Rüstungsstollen nur peripher mit dem NS-Regime konfrontiert. Andeutungen dazu finden sich in der Familiengeschichte. 623 Während ihrer Gesellenprüfung, die sie 1942
hatte, schreibt sie etwa, dass sie in der Prüfungssituation gefragt wurde, wann der
„Führer“ geboren wurde. Beispiele wie diese finden sich immer wieder in ihren Darstellungen und deuten auf Fragen hin, die sie sich selbst stellte. Es scheint ein Erwägen zu
sein, ob sie Schuld an den NS-Verbrechen hatte, deren sie Zeugin geworden war. Ob
sie den „Führer“ faszinierend fand, genauer gesagt, ob sie selbst gar eine „Nazine“ 624
gewesen war. Indem sie sich distanziert, versucht sie Unterstellungen, die es meines
Wissens gegenüber meiner Großmutter nie gegeben hat, präventiv auszuräumen. Hier
tritt ein Tradierungstypus auf, der nach Harald Welzer als der Typ der Distanzierung
bezeichnet wird.625
6 Schluss
Es konnte gezeigt werden, dass durch die quellenkritische Betrachtung der Selbstzeugnisse ein differenzierterer Blick auf die Entstehung ihres „Stollen-Tagebuchs“ herausgearbeitet werden kann. In ihren Schreibprozess sind nicht ausschließlich Erinnerungen und ihre zeitnahen Notizen eingeflossen, es spiegeln sich auch die medial geführten Debatten Anfang der 1990er Jahre, sehr wahrscheinlich auch die Eröffnung
Frauke C., Kindheitserinnerungen 2. Buch, 166.
Diese feminine Form entnehme ich aus dem Roman von Hermynia Zur Mühlen, Unsere Töchter, die Nazinen, Wien
1935.
625
Robert Montau/Christine Plaß/Harald Welzer, „Was wir für böse Menschen sind!“. Der Nationalsozialismus im
Gespräch zwischen den Generationen (Studien zum Nationalsozialismus in der edition diskord 1), Tübingen 1997, 172185.
623
624
270
der Gedenkstätte Melk, sowie die familiäre Auseinandersetzung in ihrem Bericht als
Einflussfaktoren für das Selbstzeugnis wieder. Ergänzend zu dem Forschungsstand
über
den
Arbeitsalltag
Taschenkalender
im
möglich,
Rüstungsstollen
Aussagen
über
war
die
es
anhand
ihrer
Arbeitszeiteinteilung
Notizen
zu
im
treffen.
Zusätzlich konnte ich durch Vergleiche der Morphologie ihres Schriftbildes zeitnahe
und nachträgliche Eintragungen in ihren Notizen von 1945 herausarbeiten. Durch
diese wiederum, konnte ich Aussagen über Erinnerungs- und Entstehungsprozess
treffen.
Zur Frage ob sie freiwillig den Dienst angetreten hat konnte ich keine endgültige Aussage treffen. Jedoch scheint es angesichts des Führererlasses über den totalen Krieg
vom 25. 7. 1944 sehr wahrscheinlich. 626 In Anbetracht dessen konnte ich meine Ausgangsthese verwerfen, dass meine Großmutter diese Arbeit im Zuge des RAD oder des
KHD abgeleistet hatte. Durch die Auseinandersetzung mit ihrer Rolle als Frau in der
Rüstungsproduktion und der Opfer/Täterin-Debatte, haben die Erkenntnisse eher offene Fragen als Antworten gebracht. Es war für mich eine persönliche Gratwanderung,
einerseits sachlich zu bleiben, die notwendige wissenschaftliche Distanz zum Thema zu
wahren und andererseits, angesichts der Forschungsdebatten über Täterinnen, meine
Großmutter nicht in eine solche Kategorie zwängen zu müssen. Dennoch bin ich mit
dem Ergebnis zufrieden. Zusammengefasst hoffe ich mit der vorliegenden Arbeit meiner Familie und meinem akademischen Weg gedient zu haben.
626
RGBl. I, 161.
271
7 Quellen
•
Frauke C., Kindheitserinnerungen in vier Büchern.
•
Frauke C., Stollen-Tagebuch.
•
Frauke C., Tägliche Aufzeichnungen zwischen 1966 und 1994.
•
Reichsgesetzblätter zwischen 1939 und 1944.
•
Sammlung Bertrand Perz, Institut für Zeitgeschichte Uni Wien, Archiv SteyrDaimler-Puch AG, Ordner Steyr Verlagerungen Quarz.
•
Taschenkalender von 1945 mit Notizen von Frauke C.
•
Versicherungszeitenauszug der oberösterreichische Gebietskrankenkasse von
Frauke C.
•
Wehrpass von Frederik C.
8 Abbildungen
•
Abbildung 1: Stollenanlage Roggendorf/Loosdorf. Nach einer Vermessung im
Jahre 1983.
272
273
Andreas Lampl
Vom „Täter“ zum „Helden“ und zurück
Die Ambivalenz eines Menschenbildes in der Familienerinnerung
274
Inhalt
1 Einleitung
275
2 Methoden
277
2.1 Oral History
277
2.2 Schriftliche Quellen
279
3 Der Hof und die Familie
3.1 Die Frauen der Familie
280
282
4 NSDAP-Mitgliedschaften
283
5 Karl und die Chronik
287
6 Leopolds Karriere, Anklagen und Prozesse
290
7 Der Mythos
296
8 Die NS- und Nachkriegszeit im Gedächtnis der Familie
299
9 Quellen
305
10 Abbildungen
305
275
1 Einleitung
In jeder Familie gibt es Geschichten, die über die Jahre immer wieder erzählt werden.
Vor allem werden diese Geschichten meist so erzählt, als würden sie erstmalig zur
Sprache kommen. Oft handelt es sich dabei um amüsante Anekdoten oder manchmal
auch um tragische Begebenheiten, die Personen aus dem familiären Umfeld widerfahren sein sollen. Peinliches, Unangenehmes oder gar Verwerfliches wird meist ausgespart, kommt bestenfalls auf Nachfragen zur Sprache und wird nur im allernötigsten
Umfang beantwortet.
So gibt es auch in meiner Familie einige Klassiker, die ich schon seit frühester Kindheit
immer wieder erzählt bekommen habe und die dadurch auch Teil meiner Geschichte
und meines Blickes auf die Vergangenheit meiner Verwandtschaft geworden sind.
Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich mir einen Überblick über meine Familie väterlicherseits verschaffen, mit Fokus auf meinen Großonkel Leopold Lampl, sein Leben zur
Zeit des Nationalsozialismus, sowie sein Verhältnis zu meinem Familienzweig. Als Ortsgruppenleiter von Sankt Florian wurde er nach Kriegsende automatisch in Haft genommen und in der Folge auch am Volksgericht Linz angeklagt.627 Diesbezüglich stehen mir
als Quellen die Akten der Verhandlungen am Landesgericht Linz, sowie Interviews, die
ich mit einer Reihe meiner Onkel und Tanten geführt habe, zur Verfügung.
Vor allem wenn es um die Zeit des Nationalsozialismus geht, darf nicht vergessen werden, dass die Menschen, die für diese Arbeit über die „TäterInnengeneration“ befragt
wurden, damals selbst noch Kinder waren. Dadurch kann sich eine verklärte Sicht auf
die Taten des Onkels ergeben, beziehungsweise gab es Leopold unter Umständen auch
die Möglichkeit das Bild zurechtzurücken, sodass in Erzählungen über ihn vielleicht das
Eine oder Andere ausgespart wird.628
Gestoßen bin ich auf seine Geschichte aufgrund einer Begebenheit aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, die in meiner Familie schon seit dem ich mich erinnern kann kur siert. Mein Onkel Franz, dem von mehreren Seiten ausgezeichnete Musikalität attestiert wurde, wollte nach Kriegsende bei den Florianer Sängerknaben eintreten. Er wurde 1934 geboren und war somit etwa 11 Jahre alt, als er sich im Stift St. Florian dafür
bewarb. Die Aufnahme wurde ihm jedoch verwehrt, was für den kleinen Buben damals
ein herber Rückschlag war. In der Familie wird die Ablehnung von Onkel Franz bei den
Sängerknaben bis zum heutigen Tag wie folgt dargestellt: „Der Name Lampl genügt
uns“ bzw. „Den Namen Lampl brauchen wir im Stift nicht mehr“, soll ihm gesagt worden sein. Natürlich war dies nicht die offizielle Begründung derer, die die Leistung meiVerbotsgesetz 1947, §11.
Harald Welzer, "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main
2002, 50-56.
627
628
276
nes Onkels beim Vorsingen zu beurteilen hatten, sondern seine bzw. meines Großvaters Interpretation, warum Franz trotz seiner tadellosen Leistung nicht bei den Sängerknaben aufgenommen wurde. Auch Franz selber hat erst später die Zusammenhänge verstanden, die hier vielleicht mitgewirkt haben und seinen Eintritt in St. Florian
verhinderten.629 Jedenfalls wurde die Geschichte innerhalb der Familie immer so erzählt, als wäre sein Nachname der einzige Grund für das Scheitern von Franz gewesen.
Dadurch zeigte sich für mich, dass innerfamiliär anscheinend ein starkes Bewusstsein
für die Rolle meines Großonkels in der Zeit vor 1945 vorhanden war und ist. Somit be schloss ich, ein bisschen genauer nachzufragen und mehr über meinen Großonkel herauszufinden. Denn neben dieser eher negativ behafteten Erzählung zu seiner Person
tauchte auch eine Geschichte auf, die ihn als den „Retter“ von St. Florian darstellt.
Ihm alleine sei es zu verdanken gewesen, dass Markt und Stift St. Florian nicht von
den anrückenden amerikanischen Truppen beschossen und zerstört wurden. 630 Sollte
dies eine Selbstdarstellung meines Großonkels sein oder wurde ihm diese Retter-Rolle
von anderen zugeschrieben? Fakt ist: Leopold war während des gesamten Krieges
Ortsgruppenleiter in St. Florian, somit eine Person, die auch noch in den letzten
Kriegstagen sicherlich eine gewisse Rolle gespielt hat. Sollte diese Geschichte wirklich
stimmen, kann aber aus meiner Sicht nichtsdestotrotz nicht von Rettung gesprochen
werden, sondern maximal von Schadensbegrenzung.
Daraus ergeben sich für mich einige Fragen, die im Rahmen dieser Arbeit beantwortet
werden sollen. Erstens: Als das zweifellos am tiefsten in die Machenschaften der NSDiktatur verstrickte Familienmitglied, drängt sich zu seiner Person die Frage „Hat er es
gewusst?“ förmlich auf. Die Rede ist natürlich vom industriellen Massenmord, den die
Nazis an Millionen unschuldiger Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, Homosexueller,
körperlich und geistig Beeinträchtigter sowie vielen politisch verfolgten Personen begangen haben. Auch die räumliche Nähe zu den Konzentrationslagern Gusen und
Mauthausen (weniger als 20 km entfernt) sind mögliche Indizien für eine eventuelle
Mitwisserschaft.
Zweitens: Eine weitere Frage, die in Bezug auf meinen Familienzweig zu klären sein
wird, ist die der Beeinflussung, die von Leopold ausgegangen sein könnte, und inwieweit er eine gewisse „Vordenkerrolle“ in der Großfamilie innehatte. Dagegen sprechen
würde, dass beispielsweise mein Großvater kein Mitglied der NSDAP war, und ich auch
sonst keinen definitiv „braunen“ Einschlag in meinem Familienzweig finden konnte.
Drittens: Was allen Familienmitgliedern gemeinsam ist, ist ein tiefer Katholizismus,
629
630
Interview mit August Lampl vom 21. 11. 2012, 1:38:00 bis 1:41:20. Bänder beim Autor.
VGA Vg 11 Vr 3644/46.
277
der, wie aus der Literatur bekannt, durchaus einen Grund für die Verweigerung der
NS-Ideologie darstellen könnte. Verhinderte dieser Umstand womöglich eine engere
Annäherung an die Nazis? Diese Frage könnte natürlich eine Antwort auf Frage zwei
implizieren, wobei man hier jedoch keinesfalls von einem „Entweder-oder“-Prinzip ausgehen darf. Wie so oft, kann die Wahrheit auch irgendwo dazwischen liegen.
2 Methoden
2.1 Oral History
Mündliche Weitergabe von Familiengeschichte ist vor allem in sozial schwächeren Milieus in Ermangelung schriftlicher Aufzeichnungen oft die einzige Möglichkeit, um ein
Bild der Alltagsgeschichte der Menschen zu rekonstruieren. Die erste Phase der Interviews wurde von mir so angelegt, dass ich nach der ersten Kindheitserinnerung gefragt habe und mir dabei erhoffte, eventuell schon Erzählungen über Ereignisse zu stoßen, die sich in irgendeiner Weise in den Kontext der NS- bzw. Nachkriegszeit stellen
lassen und somit Anknüpfungspunkte bieten könnten. Im Fall meiner Familie und der
von mir ausgewählten InterviewpartnerInnen, war es für alle Beteiligten, inklusive
meiner Person, eine Premiere, im Kontext einer wissenschaftlichen Aufarbeitung von
Themen aus dem familiären Umfeld, miteinander zu sprechen und diese Gespräche
auch mit dem Diktiergerät aufzuzeichnen. Mir bereitete es im Gespräch einige Schwierigkeiten, die Erzählungen, die ich schon seit vielen Jahren kannte, mit den Informa tionen, die ich durch meine Recherche in Archiven und der Literatur schon gesammelt
hatte, nicht zu vermischen. Im Fall von Leopold fiel mir auf, dass ich durch die Einsicht
in seinen Gerichtsakt über viele Informationen verfügte, die im Gedächtnis meiner InterviewpartnerInnen nicht vorhanden bzw. noch nie gehört worden waren. Obwohl ich
als Teil dieser Familie bereits über einen sehr guten Informationsstand verfügte, blieb
es nicht aus, öfter nachfragen zu müssen. Vor allem bei Unsicherheiten, bedingt durch
die Namensgleichheiten über die Generationen, ob von einem meiner Onkel oder
Großonkel die Rede war. Aber auch wenn es um Personen ging, die ich weder selbst
gekannt noch von ihnen gehört hatte, oder um Orte, die es heute in dieser Form oder
unter den genannten Namen nicht mehr gibt, stand ich vor der Herausforderung, dies
in meine Recherche richtig einzuordnen. Diese „asymmetrische Relation“ 631, mit meiner Person als dem Unwissenden, kehrte sich aber ganz schnell um, wenn ich zu viel
an Information aus meinen Nachforschungen preisgab. Dies wirkte sich teilweise sehr
Herwart Vorländer, Mündliches Erfragen von Geschichte, in: Herwart Vorländer (Hg.), Oral History. Mündlich erfragte
Geschichte, Göttingen 1990, 17-18.
631
278
einschüchternd auf die InterviewpartnerInnen aus, worauf ich versuchte, solche Situationen weitgehend zu vermeiden.Die ersten Gespräche waren deshalb ohnehin als narrative, lebensgeschichtliche Interviews angelegt, erst im letzten Drittel versuchte ich
durch gezieltes Nachfragen, Zusätzliches zu erfahren, beziehungsweise an Stellen zurückzukehren, bei denen ich das Gefühl hatte, es sei noch nicht alles erzählt worden.
Eine weitere Herausforderung bei der Analyse der Erzählungen ist die Verschmelzung
der persönlichen Erinnerungen mit einem „kollektiven Gedächtnis“, wie Maurice Halbwachs es nennt.632 Dieses lässt sich aber, nach Jan und Alaida Assmann, noch um die
Kategorien des kulturellen und des kommunikativen Gedächtnisses erweitern, was in
Abhängigkeit des Erzählten, vor allem im Fall meiner Familie, eine weitere Ausdifferenzierung in Subgruppen erforderlich macht. Während das kommunikative Gedächtnis,
welches auf direkte Kommunikation der Menschen innerhalb einer Gruppe angewiesen
ist und, aufgrund der Notwendigkeit sich selbst erinnernder Personen, auf einen Zeitraum von ca. 80 Jahren zu begrenzen ist, wirkt das kulturelle wesentlich länger. 633 Es
speist sich aus den Informationen, die durch Medien, Bildung, Religion usw. aufge nommen werden und sich als Teil des gemeinsamen Selbstverständnisses manifestieren. Erinnerung ist kein Abspulen der immer gleichen Informationen, sondern eine Rekonstruktion der Erlebnisse in Abhängigkeit der Art und Weise, wie etwas wahrgenommen wurde, welche zusätzlichen Informationen und Einflüsse den eigenen Horizont in
der Zwischenzeit zu diesem Thema erweitert haben und in welcher Situation das Gefragte erinnert wird. So werden Teile der Gegenwart in die Rekonstruktion der Vergangenheit mit eingeschlossen.634 Auch der Gemütszustand in dem sich die befragte Person im Augenblick des Erinnerns befindet, spielt dabei eine große Rolle. Diese Kombination aus individuellem und kollektivem Gedächtnis zeigt sich deutlich an folgendem
Beispiel aus einem Interview: Ein Bericht über KZ-Häftlinge, die zum Wiederaufbau
des durch Bombentreffer zerstörten Nachbarhauses herangezogen wurden, wird um
folgenden Nachsatz erweitert: „die KZ’ler san gstorben und de håms hoid wo, wieder
wo eini und zugscherrt.“ 635 Auf meine Rückfrage, ob dies auch selbst beobachtet wurde, bekam ich die Antwort: Nein, aber das habe man ja im Nachhinein erfahren. Hier
wird selbst Erlebtes mit im Nachhinein Gehörtem verschmolzen, was auf eine spätere
Auseinandersetzung mit dem Thema, bewusst oder unbewusst, hinweisen könnte.
Werden zum gleichen Sachverhalt mit verschiedenen Personen Interviews geführt, ist
schnell festzustellen, dass Erinnerung natürlich etwas sehr Subjektives ist. Kann das
Interview daher als Quelle fungieren? Die gleichen Geschichten werden mit unterDaniel Bertaux/Isabelle Bertaux-Wiame, Autobiographische Erinnerung und kollektives Gedächtnis, in: Lutz
Niethammer (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis, Frankfurt am Main 1985, 152-155.
633
Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen,
München 1997, 50.
634
Bertaux/Bertaux-Wiame, Autobiographische Erinnerung, 152-155.
635
Interview mit Johanna Matscheko, vom 29. 1. 2013, 00:38:10-00:40:30, Bänder beim Autor.
632
279
schiedlichen Protagonisten erzählt, sind zeitlich und regional anderswo verortet. Doch
nicht nur die historischen Fakten können stark divergieren, auch die Gefühlsebene
spielt dabei eine wichtige Rolle. Während zum Beispiel der Besuch russischer Besatzungssoldaten bei den meisten Familienmitgliedern Angst und Unsicherheit auslöste, erinnerte sich meine Tante Sigrid, damals sieben Jahre alt, mit Freude daran zurück, weil sie von einem der Soldaten ein kleines Geschenk bekam. Doch das Grundgerüst der Erzählungen ist im Fall meiner InterviewpartnerInnen weitgehend ident.
Also liegt es an mir „formale, sprachliche, sachliche und ideologische Kritik“ 636 zu
üben, um das Chaos zu entwirren und die Informationen sinnvoll verwerten zu können.
2.2 Schriftliche Quellen
Zusätzlich zu den Interviews mit den Geschwistern meines Vaters, stand mir auch
noch eine Reihe von schriftlichen Quellen zu Verfügung, die einer ausführlichen qualitativen Analyse zu unterziehen waren. Über meinen Großonkel Leopold gibt es jede
Menge Dokumente aus den Volksgerichtsakten, die neben den Anklageschriften auch
ZeugInnenaussagen und Stellungnahmen beinhalten, die es ermöglichen, seine NSKarriere nachzuvollziehen. Ich konnte auch auf Chroniken aus St. Florian zurückgreifen. Sein Verhältnis zu meinem Familienzweig lässt sich aber anhand dieser Unterlagen nicht ausreichend rekonstruieren und auch seine private Gesinnung nach dem
Krieg lässt sich nur vermuten. Ein weiteres schriftliches Dokument, das einzige, das
aus der Familie stammt, ist die Chronik, die mein Großonkel Karl zwischen 1958 und
1962 geschrieben hat. Ein Manuskript, das einer sehr genauen Prüfung zu unterziehen
war, und mehr über den Verfasser selbst, als über die Personen, die er beschreibt,
aussagt. In punkto Quellenkritik waren für dieses Dokument genau dieselben Maßstäbe anzusetzen wie für die Interviews. Denn auch die Chronik wurde etwa 15 Jahre
nach den für diese Arbeit relevanten Ereignissen angefertigt und somit ebenfalls aus
Karls Gedächtnis rekonstruiert. Für drei der vier Brüder der Großelterngeneration
standen auch NSDAP-Mitgliedskarten zur Verfügung.
Zur Zitation ist zu sagen, dass die Gerichtsakten zu Leopold alle in den Schachteln 94
und 567 des Bestandes „Akten der Sondergerichte in Linz“ des Oberösterreichischen
Landesarchivs zu finden waren. In den Fußnoten habe ich die Aktennummer, die auf
dem jeweiligen Dokument angegeben waren, verwendet. Ich habe alle relevanten Dokumente, in der Reihenfolge wie sie bei meiner Einsichtnahme in der Mappe vorzufinden
636
waren,
fotografiert.
Dabei
entstanden
Vorländer, Mündliches Erfragen von Geschichte, 15.
172
Fotos
mit
den
Dateinamen
280
P1000110.jpg bis P1000300.jpg, die Differenz ergibt sich aus gelöschten oder doppelten Bildern. Die Zahl am Ende der Fußnote stellt die letzten 3 Ziffern des Dateinamens
dar, wie die Bilder bei mir archiviert sind. Bei den Fußnoten der Interviews ist zusätzlich Start- und Endzeit des Abschnitts der Aufzeichnung, in dem das betreffende Zitat
vorkommt, angegeben.
3 Der Hof und die Familie
Die Geschichte des Elternhauses meines Vaters lässt sich aufgrund von Grundbucheintragungen bis ins Jahr 1827 zurückverfolgen und wurde von meinem Großonkel Karl
gründlich recherchiert und niedergeschrieben. Diese Chronik, die in einem späteren
Kapitel auch noch ausführlich analysiert werden wird, besteht bis zum Jahr 1864 rein
aus Zahlen und Fakten aus den Grundbuchakten. Erst ab diesem Jahr kommen persönliche Informationen zu den BewohnerInnen des Hauses und der Liegenschaft in
Pulgarn 15 in der Gemeinde Steyregg hinzu.
Daraus ist ersichtlich, dass Leopold Hauser den Hof kaufte und im Jahr 1868 seine
Frau Maria Karlinger per Ehevertrag als Mitbesitzerin eintragen ließ. Nachdem das Anwesen 1870 bei einem Gewitter durch Blitzschlag in Brand geriet und zerstört wurde,
bauten die beiden das Haus in der Form neu auf, in der es auch heute noch in Pulgarn
steht. Da eigene Kinder ausblieben, nahm das Paar die zwei Schwestern Theresia und
Aloisia Stadlbauer – letztere sollte später meine Urgroßmutter werden – auf, da diese
aufgrund prekärer finanzieller Verhältnisse von ihrer eigenen Familie nicht mehr versorgt werden konnten. Nachdem Leopold Hauser 1897 verstarb, übergab dessen Wit we Maria Hauser den Hof an Aloisia und ihren zukünftigen Ehemann Josef Lampl, der
vom Pfingsterbauerngut am Hohenstein unweit von Pulgarn abstammte.
Schon ein Jahr später, am 1. 7. 1898, kam mein Großonkel Leopold als erstes von
acht Kindern zur Welt. Maria wurde am 11. 9. 1899, Josef am 19. 8. 1902, Franz am
23. 7. 1905, Aloisia am 2. 11. 1906, das Zwillingspaar Theresia und Cäcilia am 18. 10.
1909 und Karl am 20. 12. 1910 geboren (für einen Teil der Familie: siehe Abbildung
1). Aufgrund dieses Kinderreichtums und der relativ kleinen landwirtschaftlichen Fläche von 16 Joch (ca. 9,2 Hektar), strebte mein Urgroßvater Josef einen Häusertausch
gegen ein größeres Anwesen in Gallneukirchen an. Dazu kam es aber aufgrund eines
Arbeitsunfalles am 28. 9. 1910, in dessen Folge Josef vier Monate später verstarb,
nicht mehr. Aloisia heiratete 1912 wieder und zwar Leopold Aichhorn, einen Bauernsohn aus Holzwinden, einer nördlich von Pulgarn gelegenen Ortschaft, die ebenfalls im
Gemeindegebiet von Steyregg liegt. 1914 musste Leopold Aichhorn einrücken und
nahm bis 1918 am Ersten Weltkrieg teil. 1916 folgte ihm auch sein Stiefsohn Leopold
281
Lampl an die Front, wobei beide nach Kriegsende wieder zurückkehrten.
Durch die Abwesenheit zweier wichtiger Arbeitskräfte im Laufe des Ersten Weltkrieges
und der schwierigen wirtschaftlichen Lage danach kam die Familie in immer größere finanzielle Nöte.637 Daran änderte sich auch nachdem mein Großvater Josef und seine
Frau Katharina den Hof 1930 übernahmen wenig.
Abbildung 1: Geschwister und Mutter meines Großvaters am 25.08.1928,
(hinten vlnr) Karl, Franz, Josef, Leopold, (vorne vlnr) Theresia, Aloisia
(Mutter), Aloisia (Sr. Blanda), Maria.
Quelle: Nachlass Sr. Blanda, Privatarchiv August Lampl.
Zwischen 1931 und 1944 bekamen meine Großeltern zehn Kinder: 1931 Josef, 1932
Johanna, 1933 Johann, 1934 Franz, 1937 August, 1938 Aloisia (Sr. Sigrid), 1939-2011
Wilhelm, 1941 Leopold, 1942 Paul und 1944 Florian. Als InterviewpartnerInnen standen mir Josef, Johanna, August und Sr. Sigrid zur Verfügung. Josef ist gelernter Elektriker und arbeitete später als Postbeamter. Er und seine Frau Gertrude haben zwei
Kinder und wohnen in Linz. Johanna heiratete den ÖBB-Bediensteten Paul Matscheko
und baute mit ihm ein Haus in der Pulgarnerstraße, die beiden haben vier Kinder. Paul
ist zu Anfang der 2000er Jahre verstorben, seither bewohnt Johanna das Haus alleine.
August übernahm 1962 mit seiner Frau Rosa den elterlichen Hof, den sie noch einige
Jahre im Nebenerwerb betrieben, bis sie schließlich die Landwirtschaft aufgaben. Die
beiden haben drei Kinder und den Hof mittlerweile an ihren jüngsten Sohn Hubert
637
Interview mit August Lampl, 00:15:00-00:25:00.
282
übergeben. Sigrid, die als Aloisia zur Welt kam, trat 1958 bei den Kreuzschwestern in
Linz ein und arbeitete dort bis zu ihrer Pensionierung als Kindergärtnerin. Danach
wechselte sie in das Haus der Besinnung in Gaubing bei Wels.
3.1 Die Frauen der Familie
Bei der Recherche ist ganz stark aufgefallen, dass die Kontakte meiner InterviewpartnerInnen zu den Brüdern meines Großvaters viel intensiver waren als zu dessen
Schwestern, ihren Tanten. Durch deren frühes Verlassen der Familie waren sie in den
geführten Interviews weniger präsent als die Lampl-Brüder, deren Besuche am Hof in
Pulgarn, sowie deren Unterstützung bei der Arbeitssuche meiner Onkel, mehrmals zur
Sprache kamen. Zwar heiratete die erste Tochter Maria nach Steyregg, das eigentlich
unweit von Pulgarn liegt, doch dürfte das Verhältnis durch ihre nicht ganz standesgemäße Hochzeit mit dem Töpfer Johann Würzburger, auch „Loamhans“ genannt, geschwächt worden sein.638 Die zweite Tochter Aloisia ging schon früh ins Kloster nach
Lauffen, wo sie den Namen Blanda annahm und auch nur mehr wenig Kontakt zur Familie pflegen konnte. Eine gewisse Rolle kommt ihr aber später wieder zu, als sie Teile
der Familie, vor allem die von Leopold, mit Nahrungsmitteln versorgte, da diese durch
dessen Haft und Berufsverbot über wenig bis gar keine Einkünfte verfügten. Theresia
heiratete 1939 den Postangestellten Franz Stumhofer und zog mit ihm nach Pressbaum. So war sie räumlich relativ weit von der Familie entfernt, wodurch sich der Kontakt ebenfalls einschränkte. Theresias Zwillingsschwester Cäcilia ist im Alter von achteinhalb Jahren verstorben.
Doch nicht nur der Auszug aus dem Hof in Pulgarn, auch die sehr traditionelle Rollenverteilung innerhalb der Familie drängten die Frauen eher in den Hintergrund. Die
Mädchen wurden einzig darauf vorbereitet, nach der Volksschule die Hausarbeit zu erlernen, vielleicht noch einige Jahre am Hof mitzuhelfen, bevor sie schließlich heirateten. Der katholische Glaube sowie eine patriarchale Familienstruktur spielten dabei
eine sehr große Rolle. Nicht nur in meiner Großelterngeneration ist dieses Muster er kennbar, auch noch bei den Schwestern meines Vaters behält dieser Verlauf Gültigkeit.
Leider ist mir nicht bekannt, wie meine Großtanten darüber dachten und wie sie sich
in diese Rolle fügten. Bei meinen Tanten Johanna und Sigrid war der Drang nach mehr
Bildung und einem selbstbestimmteren Leben jedenfalls sehr stark. So war das erste,
was die älteste Tochter Johanna im Interview, nachdem sie sich vorgestellt hatte, sagte:
„Wir san nach Steyregg in’d Schul gånga, weil nåch Linz hama hoid, ham nur
638
Interview mit Sigrid Lampl, geführt am 28. 1. 2013, 00:28:23-00:29:29, Bänder beim Autor.
283
meine Brüder gehen derfn, weil die solln wås lernen und da Våta hod gsågt, d’Mendscha brauchn eh nix lerna, die solln d’Årbeit lerna und’s spårn.“639
Danach ging sie noch auf die Arbeitsteilung innerhalb der Familie ein, derzufolge sie
und die Mutter immer in der Küche waren um zu kochen, abzuwaschen und aus den
Rohmaterialien, die der Hof hergab, wie Milch und Getreide, die Endprodukte wie Butter, Topfen und Brot herzustellen. Die Männer waren indes mit Kartenspielen oder Ausgehen beschäftigt. Auch im Gespräch mit Sr. Sigrid wurde das Thema Bildung in ähnlicher Weise angesprochen. So erkannte ihr Lehrer in der Volksschule Steyregg schon
früh ihr Talent für Musik und Kunst, worauf er ihren Eltern vorschlug, Aloisia in die
Kunstgewerbeschule nach Salzburg zu schicken, was die Eltern im Gespräch auch befürworteten. Doch wieder Zuhause angekommen, war keine Rede mehr von diesem
Vorhaben und Aloisia trat vorerst denselben Weg wie ihre große Schwester Johanna
an, bis sie sich im Alter von 20 Jahren entschied, ins Kloster der Kreuzschwestern in
Linz einzutreten. Seither trägt sie den Namen Sigrid.
4 NSDAP-Mitgliedschaften
Wie ich bereits aus bis dahin geführten Interviews wusste, waren alle drei Brüder
meines Großvaters Anhänger des Nationalsozialismus und mit aller Wahrscheinlichkeit
auch Parteimitglieder. Die Recherche nach meinen Familienmitgliedern in der NSDAPHauptkartei am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien bestätigte diese
Vermutungen. Allerdings hielten die Mikrofiche mit den Karteikarten einige neue
Aspekte für mich bereit.640
Leopold war als Ortsgruppenleiter in St. Florian natürlich auch Parteimitglied. Gemäß
seiner Mitgliedskarte hat er die Mitgliedschaft am 30. 5. 1938 beantragt und wurde
rückwirkend mit 1. 5. 1938 in die NSDAP aufgenommen. Als Mitgliedsnummer wurde
ihm die Nr. 6.366.006 zugewiesen. Ansonsten wurde auf der Karteikarte nur noch sein
Geburtsdatum, sein Wohnort, seine Ortsgruppe und sein Beruf „Justizaktuar“, eine
veraltete Bezeichnung für einen Gerichtsangestellten 641, vermerkt. Sein Geburtsdatum
stimmt um einen Tag nicht (statt 1. 7. 1898 ist der 2. 7. eingetragen) wobei es sich
aber wahrscheinlich nur um einen Tippfehler handelt. 642 Interessanter erweist sich da
schon seine Mitgliedsnummer, beziehungsweise das Aufnahmedatum in die NSDAP. In
seinen Aussagen behauptet Leopold, dass er vor dem „Anschluss“ Österreichs nichts
mit der NSDAP zu tun gehabt hätte und seine Frau Elisabeth sagte aus, er sei sogar
639
640
641
642
Interview mit Johanna Matscheko, 00:12:28-00:17:50.
Seite 15 dieser Arbeit.
Duden online, URL: http://www.duden.de/rechtschreibung/Aktuar (abgerufen am 10. 9. 2013).
Mikrofilm der NSDAP-Hauptkartei (Bundesarchiv Berlin), Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien.
284
von Parteigenossen als „Märzveilchen“, ein Ausdruck für österreichische Parteimitglieder die erst nach dem 13. 3. 1938 der NSDAP beigetreten waren, bezeichnet wor den.643 Er rechtfertigte sich damit gegen den Vorwurf der Illegalität gemäß §10 des
Verbotsgesetzes. Seine Mitgliedsnummer sowie das eingetragene Eintrittsdatum verraten jedoch etwas anderes. Diese Daten stellten einen wichtigen Faktor innerhalb der
Hierarchie der NSDAP dar und waren auch mit gewissen repräsentativen Privilegien
verbunden. So wurde vielen zusätzlich der Ehrentitel „Alter Kämpfer“ verliehen, was
sie auch berechtigte das goldene Parteiabzeichen zu tragen. Ob Leopold diesen Titel
oder irgendwelche Parteiauszeichnungen erhalten hat, konnte nicht festgestellt werden, doch zeigen seine Mitgliedsnummer und das Beitrittsdatum, dass er bereits vor
dem „Anschluss“ als „Illegaler“ aktiv war. Da im „Altreich“ die Nummernvergabe schon
Jahre früher begonnen hatte und somit alle ÖsterreicherInnen, die vor 1933 noch
nicht Mitglied der NSDAP waren, eine sehr hohe Nummer bekommen hätten, wären
sie automatisch am unteren Ende der Hierarchie gestanden. Deshalb bediente sich die
Verwaltung einer Speziallösung. Alle Personen, die bereits vor dem Verbot der NSDAP
in Österreich am 19. 6. 1933644 Parteimitglieder waren, erhielten nach Prüfung ihrer
Angaben, ihre alte Mitgliedsnummer wieder zugewiesen. Für all jene, die vor 1933 keine Parteimitglieder waren, sich aber in der Zeit zwischen 1933 und 1938 als National sozialistInnen betätigt hatten, wurde eine Mitgliedsnummer aus dem durch Adolf Hitler
definierten Nummernblock von 6.100.000 bis 6.600.000 zugewiesen. Als Eintrittsdatum wurde bei all diesen meist einheitlich der 1. 5. 1938 eingetragen, unabhängig davon, wann der Antrag um Aufnahme gestellt worden war. 645 Leopold war bis Kriegsende Parteimitglied und wurde danach aufgrund seiner Ämter, die er zwischen 1938 und
1945 ausübte, im Camp Marcus W. Orr, dem sogenannten Lager Glasenbach, inter niert.
Der nächste in der Reihe der Brüder war mein Großvater Josef. Zu seiner Person ließ
sich in der NSDAP-Hauptkartei nichts finden, auch die Aussagen sowie die Beschreibung über ihn in der Familienchronik lassen auf keine Parteimitgliedschaft schließen.
Für ihn bracht die Machtübernahme Hitlers in Österreich finanzielle Vorteile, die ihm
ermöglichten, den Hof aus der wirtschaftlichen Krise zu führen und sogar durch die
Anschaffung einiger Maschinen zu modernisieren. 646 Ein anfängliches Naheverhältnis
zum nationalsozialistischen System könnte daher vermutet werden. Aus mehreren
Quellen geht auch hervor, dass er zu Kriegsende noch am „Volkssturm“ teilnahm. In
Hierzu, sowie nachfolgender Absatz: VGA Vg 8 Vr 5387/47, 150-153.
Winfried R. Garscha, Nationalsozialisten in Österreich 1933-1938, in: Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer (Hg.),
Austrofaschismus: Politik, Ökonomie, Kultur; 1933-1938, Wien 2012, 101.
645
Gerhard Botz, Expansion und Entwicklungskrisen der NSDAP-Mitgliedschaft. Von der sozialen Dynamik zur
bürokratischen Selbststeuerung? (1933-1945) (Veröffentlichung des Ludwig-Boltzmann-Institutes für historische
Sozialwissenschaft), Wien 2011, 18.
646
Karl Lampl, Chronik. Die Geschichte unseres Elternhauses in Pulgarn Nr. 15, 1958-1962 (unveröffentlichtes
Manuskript), Kopie im Besitz des Verfassers.
643
644
285
welcher Art und Weise ist nicht überliefert, jedenfalls hat er die nähere Umgebung seines Hofes nicht verlassen. Er wird von seinem Bruder in der Chronik als „[…] christlicher Bauer althergebrachter Tradition“ 647 bezeichnet, womit aus der Sicht Karls, der
selbst Nationalsozialist und Parteimitglied war, durchaus eine christlich motivierte Opposition zum Regime gemeint sein könnte. Die Nazi-Symbolik lehnte Josef jedenfalls
ab, als ihn seine Brüder dazu bringen wollten, statt dem Bild des Heiligen Josef das
Portrait Hitlers in der Stube aufzuhängen. 648 Aus meinen eigenen Erinnerungen und
von alten Fotos weiß ich, dass mein Großvater bis ins hohe Alter das „Hitlerbärtchen“
getragen hat. Ob aus ideellen oder ästhetischen Gründen konnte mir bisher noch niemand beantworten.
Der einzige der Brüder, der zur Wehrmacht eingezogen wurde, war Franz. Er nahm
1940 am Westfeldzug teil, von wo er, am Bein verwundet, bald wieder zurückkehrte.
Seine NSDAP-Mitgliedsnummer war die 9.828.379 und scheint in Verbindung mit dem
sehr späten Aufnahmedatum 1. 1. 1944, bei einer Beantragung am 25. 11. 1943,
recht plausibel. Jedenfalls waren die Daten nicht prestigeträchtig genug, um ihm einen
Vorteil gegenüber einer „ganz normalen“ Parteimitgliedschaft zu verschaffen. Beruflich
war er aber schon seit seiner Rückkehr aus Frankreich in einer Vorfeldorganisation der
NSDAP, der Hitlerjugend, tätig. Als Verwaltungsleiter ging er nach Strub bei Bischofswiesen im Berchtesgadener Land, damals im Gau München-Oberbayern gelegen, und
wohnte dort im Adolf Hitler Jugendheim. 649 Nach Kriegsende kehrte er nach Linz zurück und hatte laut Familienchronik auch noch einige Zeit mit der Entnazifizierung zu
tun.650 Da jedoch keine Volksgerichtsakten zu seiner Person zu finden sind, kam es
möglicherweise zu keiner Anklage oder die Akten gingen verloren.
Karl, der Verfasser der Familienchronik und jüngster der vier Brüder, fand sich auch in
der NSDAP-Hauptkartei, was mich, aufgrund der geführten Interviews, nicht weiter
verwunderte. Seine Mitgliedsnummer war die 8.433.257 mit dem Aufnahmedatum 13.
2. 1942, was genau in die Zeit nach der Verhängung einer totalen Aufnahmesperre
durch Reichsschatzmeister Schwarz am 2. 2. 1942 und vor die Lockerung selbiger
durch Adolf Hitler am 14. 7. 1942 fällt. 651 Dies deutet darauf hin, dass auch dieses
Aufnahmedatum rückwirkend vergeben wurde, oder dass die Weisungen in Oberdonau
nicht so streng zur Anwendung kamen. Als Beruf wurde nur die Abkürzung „Ang.“, für
„Angestellter“, eingetragen. Das Datum der Antragstellung fehlt. Lediglich die Ortsgruppenzugehörigkeit wurde einmal von Ohldsorf zu Traunkirchen geändert.652
Doch dann die Überraschung: Gleich als nächstes tauchte auf dem Mikrofilm eine
647
648
649
650
651
652
Karl Lampl, Chronik.
Interview mit Sigrid Lampl, 01:01:26-01:04:35.
Mikrofilm der NSDAP-Hauptkartei.
Karl Lampl, Chronik.
Gerhard Botz, Expansion und Entwicklungskrisen, 22.
Mikrofilm der NSDAP-Hauptkartei.
286
zweite Mitgliedskarte Karls auf, nämlich eine österreichische, „gelbe“ Mitgliedskarte,
wie sie vor dem Verbot der NSDAP in Österreich angefertigt wurden. Laut Eintrag wurde ihm am 8. 2. 1932 eine provisorische Mitgliedskarte ausgestellt und rückwirkend
das Eintrittsdatum 1. 1. 1932 zugewiesen. Der Grund, warum er später nicht wieder
seine alte sehr niedrige Mitgliedsnummer 783.163 bekommen hat, ist ebenfalls auf der
Karte vermerkt. Karl ist nämlich am 1. 9. 1932 selbst wieder aus der Partei ausgetreten. Die Karte wurde in der Kartei belassen und nach seinem erneuten Ansuchen um
Aufnahme weiterverwendet. Die alte Mitgliedsnummer und das Eintrittsdatum wurden
durchgestrichen und die erste Aufnahme sowie der Austritt mit „ungültig“ gestempelt.
Das neue Aufnahmedatum auf dieser Karte lautet 13. 2. 1942. Weiters findet sich
ohne sichtbare Erklärung auch zweimal das Datum 1. 1. 41, erstens mit einem „/E.“
davor, neben dem durchgestrichenen Austrittsdatum, und zweitens über der Zeile
Ortsgruppe, mit einem nachgestellten „M“. Dies könnte das Datum sein, mit dem er
1942 rückwirkend wieder in die NSDAP aufgenommen wurde, sodass das /E für Eintritt
stünde. Es besteht auch die Möglichkeit, dass sein Parteiaustritt 1938 übersehen wurde und die Änderung seiner Mitgliedsnummer und seines Aufnahmedatums erst 1942
erfolgten.653 Nach dieser Interpretation hätte er bis 1942 als illegaler Nationalsozialist
gegolten. Abweichungen gibt es auch bei den eingetragenen Wohnorten, die hier mit
Wels (wahrscheinlich der Wohnort beim ersten Eintritt 1932) und dann zu Traun
(eventuell der Wohnort beim erneuten Parteieintritt) geändert wurden. 654 Dies würde
auch darauf hindeuten, dass diese alte Mitgliedskarte zu einer Zeit aktualisiert wurde,
als Karl gar nicht in der Partei war. Denn er selbst gibt an, dass er 1935 seinen Dienst
bei der österreichischen Gendarmerie in Traun angetreten hatte und danach in Orten
um Gmunden, zu denen Ohlsdorf und Traunkirchen gehören, seinen Dienst versah. Im
Anschluss berichtet er von seinem Einsatz als Feldgendarm. Die Feldgendarmerie bestand aus regulären Polizeieinheiten, die bei Vorkriegseinsätzen und bei Kriegsbeginn
direkt der Wehrmacht unterstellt wurden. Karl nahm am Einmarsch in die Tschechoslowakei und später nach Polen teil (siehe Abbildung 2). 655 Auch Karl war bis Kriegsende
Mitglied in der NSDAP und danach gemäß § 19 bb des Verbotsgesetzes vom Dienst bei
der Gendarmerie ausgeschlossen, welchen er aufgrund der immer lockerer werdenden
Entnazifizierung in Österreich 656 1948 wieder aufnehmen durfte. Da zu seiner Person
keine Volksgerichtsakten zu finden sind, erfolgte vermutlich auch keine Anklage.
Besprechung mit Dr. Gerhard Botz am 6. 9. 2013.
Mikrofilm der NSDAP-Hauptkartei.
655
Karl Lampl, Chronik.
656
Die Entnazifizierung in Oberösterreich, Verbund Oberösterreichischer Museen,
URL: http://www.ooegeschichte.at/Entnazifizierung.227.0.html (abgerufen am 15. 3. 2013).
653
654
287
Abbildung 2: Karl Lampl in Uniform. 1940 in Polen.
Quelle: Nachlass Sr. Blanda, Privatarchiv August Lampl.
5 Karl und die Chronik
Neben mündlichen Quellen zur Familiengeschichte steht mir auch eine Familienchronik, die mein Großonkel Karl geschrieben hat, zur Verfügung. Karl (geb. 1910) war das
Jüngste der Geschwister meines Großvaters und der erste der, im Alter von 22 Jahren,
Mitglied der NSDAP wurde. Bei allen Interviews, die ich geführt habe, wurde im Zusammenhang mit der Geschichte von Leopold auch meist sofort Karl erwähnt und als
„so richtiger Nazi“ bezeichnet. Er schlug ursprünglich eine Laufbahn als Priester ein,
verließ aber das Petrinum in Linz, damals auch „kleines Seminar“ genannt, wieder
ohne den Abschluss zu machen. 657 Interessanterweise kommt diese Geschichte in seiner eigenen Personenbeschreibung gar nicht vor. Er selbst erzählt nur von seiner
Schneiderlehre, seiner Arbeitslosigkeit und seiner Zeit als Krankenpfleger in Wien, bevor er 1934 in das österreichische Bundesheer eintrat. Im Rang eines Korporals war er
als Aufseher im Anhaltelager Wöllersdorf stationiert. 1935 ging er zur Gendarmerie,
wo er auch bis Kriegsende blieb und nach dreijähriger Zwangspause noch bis 1954 arbeitete. Danach ging er krankheitsbedingt in Ruhestand. Karl heiratete 1940 und hatte
zwei Kinder, er verstarb 2006. Ich selbst habe ihn zwar ein paar Mal gesehen, kann
aber nicht behaupten ihn gekannt zu haben. Aus Erzählungen weiß ich, dass er als der
„Intellektuelle“ der Familie gegolten hat. Er hatte zwar nicht studiert oder zumindest
657
Interview mit Sigrid Lampl, 01:08:10-01:09:25.
288
kein Studium abgeschlossen, schrieb aber Gedichte, verfasste Leserbriefe, und eben
auch die Familienchronik. Politisch ist er seiner Gesinnung treu geblieben, was im
Folgenden auch noch gezeigt werden soll. Die wenigen Informationen, die ich zu
seiner Persönlichkeit habe, zeichnen für mich das Bild eines nachdenklichen, oft
unzufriedenen, ja vielleicht sogar getriebenen Menschen, der sein Leben nie wirklich in
den Griff bekommen hat.658
Die Chronik ist leider nicht datiert und auch der Verfasser wurde nicht angegeben, je doch haben mehrere Familienmitglieder meinen Großonkel Karl als den Autor der
Chronik genannt. Außerdem gibt es noch eine andere schriftliche Aufzeichnung in
Form einer reinen Bestandsaufnahme meiner Großelterngeneration sowie deren Kinder
und Enkelkinder. Dieses Papier ist von Karl am 15. 11. 1978 erstellt worden und weist
bei der Formatierung große Ähnlichkeiten mit dem älteren Dokument auf, dessen Entstehung sich auf die Jahre 1958 bis 1962 eingrenzen lässt, da die letzte Jahreszahl,
die der originale Schreibmaschinentext enthält, 1958 und die erste handschriftlich ergänzte Jahreszahl, das Jahr 1962 ist. Wer diese handschriftlichen Ergänzungen vor nahm und wann diese gemacht wurden, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Es handelt sich dabei aber nur um Sterbedaten meiner Großtanten und –onkel, sowie das
Datum der Hofübernahme durch meinen Onkel August, welche sich auch anhand anderer Quellen belegen lassen. Wie schon an anderer Stelle erwähnt gibt dieses Schriftstück mehr über seinen Verfasser preis als über die beschriebenen Personen selbst.
Natürlich stimmen die biografischen Daten, sowie wahrscheinlich auch die Aussagen
über Mentalität und Lebenswandel der Genannten, aber die Maßstäbe, die er ca. 15
Jahre nach Kriegsende bei seinen Schilderungen ansetzte, sowie die Formulierungen,
die er wählte, sind teilweise mehr als bedenklich. Dazu einige Beispiele aus den Beschreibungen seiner Geschwister:
Leopold:
„In der großdeutschen Ära bekleidete er politische Ehrenämter, die mit einer
Lockerung seiner konfessionellen Bindung verbunden waren. Nach Kriegsende
mußte er deswegen bittere Verfolgung, Freiheits- und Existenzberaubung auf
sich nehmen.“659
Karl benutzte nach wie vor die Terminologie der nationalsozialistischen Propaganda
und verwendete diese auch in sehr positiv klingender Formulierung. Leopold bekleidete zwar als Ortswalter der NS-Volkswohlfahrt (NSV) und später als Ortsgruppenleiter
in St. Florian tatsächlich Ehrenämter im Sinne einer unentgeltlichen, nebenberuflichen
Tätigkeit660, doch ist zu bezweifeln, dass Karl nicht viel mehr in äußerst pathetischer
Anmerkung des Verfassers: In mehreren Interviews in ähnlicher Weise geäußert.
Karl Lampl, Chronik.
660
Phillip Wegehaupt, Funktionäre und Funktionseliten der NSDAP. Vom Blockleiter zum Gauleiter, in: Wolfgang Benz
(Hg.), Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt am Main 2009, 44-49.
658
659
289
Weise die Bedeutung seines Bruders zu jener Zeit hervorheben wollte. Die Lockerung
von Leopolds konfessioneller Bindung ist mit dessen Kirchenaustritt zu übersetzen und
rein nach der deutschen Grammatik bezieht sich der darauffolgende Satz auf die Ehrenämter. Für die/den LeserIn aber tritt die „Lockerung seiner konfessionellen Bindung“ in den Vordergrund, als trüge dieser Umstand Mitschuld an der „bitteren Verfolgung,…“, die er nach Kriegsende „auf sich nehmen“ musste. Diese Formulierung könnte auf eine biographische Parallele hinweisen; Karl selbst brach das Priesterseminar
ab, schloss sich der NSDAP 1932 an und trat vermutlich 1938 aus der Kirche aus. Diese Vorgangsweise ließe sich mit der „Nicht-Vereinbarkeit von Kirche und Nationalsozialismus“661 begreifen. Nach Ende des Krieges trat Karl allerdings nicht wie Leopold wieder in die katholische Kirche ein. Aber grundsätzlich stellte er Leopold als völlig un schuldiges Opfer hin und dachte auch 15 Jahre danach nicht daran, nur ein Wort zu
schreiben, das den Hauch einer Einsicht vermuten lässt.
Franz: „Die Nachkriegsfurie hat auch ihn noch eine Zeit gepeinigt.“
Karl: „Nachdem er sich auch der nat. soz. großdeutschen Idee und Weltanschauung angeschlossen hatte, musste er nach Kriegsende ebenfalls Dienstenthebung und Zurücksetzung hinnehmen.“
Hier zeigt sich dasselbe Muster wie zuvor bei Leopold. NS-Termini, beide befinden sich
in der Opferrolle. Er bedient sich sogar des Wortes „Furie“, der Name der römischen
Rachegöttinnen, um die Unrechtmäßigkeit der verhängten Sühnepflicht 662 zu unterstreichen, die sie für ihn darstellte.
Theresia: „Nach Kriegsende vor des Mannes Rückkehr, mußte Resi während der
militärischen Besatzungszeit in Österreich bittere Erfahrungen machen.“
Bei der Konfrontation meiner InterviewpartnerInnen wurde die Vermutung, dass es
sich um eine Vergewaltigung handeln könnte, bestätigt. Es ist interessant, dass diese
Begebenheit in solch einem Schriftstück überhaupt Erwähnung findet, da Vergewaltigungen in den Familien meist nicht offen angesprochen und schon gar nicht schriftlich
festgehalten wurden. Doch Karl benutzte dieses Thema ohnehin für seinen Zweck, zur
weiteren Unterstreichung seiner konstruierten Nachkriegs-Opferrolle, in die er die gesamte Familie hier drängt, aber eigentlich den gesamten Nationalsozialismus damit
meint.
Theresia: „In frommer Gesinnung kennt sie nur die eine Pflicht- ein Leben für
Haus und Familie.“663
Aloisia Lampl (1872-1944): „Sie wurde während der großdeutschen Zeit mit
dem ,goldenen Mutterkreuz‘ ausgezeichnet.“
661
662
663
Josef Goldberger/Cornelia Sulzbacher, Oberdonau, Linz 2008, 199.
Verbotsgesetz 1947, §19 bb.
Hierzu, sowie die nachfolgenden zwei Zitate: Karl Lampl, Chronik.
290
Diese beiden Zitate erklären, warum meinen Tanten Johanna und Sigrid weitere Bildung nach der Volksschule verwehrt blieb. Natürlich wurde in den Interviews erwähnt,
dass es an Geld mangelte, dass die richtige Kleidung nicht vorhanden war, dass die
Arbeitskraft am Hof gebraucht wurde. Doch der wahre Grund war ein in Nationalsozialismus wie Katholizismus vorgegebenes Bild, welche Rolle eine Frau in der Gesellschaft
einnehmen muss und welche Aufgaben sie dabei zu erledigen hat. Denn die Söhne der
Familie haben ja schließlich auch Lehren gemacht, ja einer sogar studiert.
„Das Schicksal der Geschwister nahm einen sehr verschiedenen Verlauf, weil ihr
Leben mitten in größte geschichtliche Ereignisse fiel: Die Angliederung Österreichs an Deutschland und der 2. Weltkrieg. Am 8. 5. 1945 endet dieser Krieg
mit einer Niederlage für Großdeutschland. Österreich wurde wieder von
Deutschland getrennt und zur selbständigen Republik erklärt.“
Dieses, eigentlich für sich selbst sprechende Zitat zeigt noch einmal welch „größte geschichtliche Ereignisse“ für Karl vor dem 8. 5. 1945 stattfanden und wie ernüchternd
die Nachkriegsordnung der Siegermächte für ihn war.
6 Leopolds Karriere, Anklagen und Prozesse
Über die Kindheit Leopolds ist aus den mir zur Verfügung stehenden Quellen nur wenig
bekannt. Es dürfte sich aber um eine in mehrerlei Hinsicht schwierige Zeit gehandelt
haben. Es geht aus der Chronik hervor, dass mein Urgroßvater Josef den Hof gegen
ein größeres Anwesen tauschen wollte, da die in Pulgarn zu erwirtschaftenden Erträge
für die Familie nicht ausreichend waren. Durch den frühen Tod des Vaters 1911 (Leo pold war erst 12 Jahre alt) musste er auch schon sehr früh Verantwortung für Hof und
Familie übernehmen. 1912 heiratete meine Urgroßmutter Leopold Aichhorn, der 1914
schon in den ersten Weltkrieg einrücken musste. 1916 wurde schließlich auch mein
Großonkel Leopold zur k.u.k. Armee eingezogen. 664 Es lässt sich vermuten, dass ihn
diese schwierige Situation in seiner Jugend zu einer gewissen Härte erzogen hatte. So
ist überliefert, dass er schon als junger Mann Menschen, die von den Lampl´schen
Obstbäumen Kirschen oder Äpfel entwendeten, stellte und diese sofort zur Gendarmerie nach Steyregg getrieben haben soll. 665 Nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg wurde Leopold Gendarmeriebeamter und nahm 1921 an der Burgenlandbeset zung teil. Nachdem er 1925 im Dienst angeschossen wurde, wechselte er 1926 in den
Justizdienst, von 1926-1929 in Graz, danach bis 1931 am Bezirksgericht in Mondsee.
Ab 1931 war er am Bezirksgericht St. Florian beschäftigt, welches 1943 aufgelöst und
dem Gerichtsbezirk Linz eingegliedert wurde, wo er schließlich bis 1945 seinen Dienst
664
665
Karl Lampl, Chronik.
Interview mit Sigrid Lampl, 01:07:15-01:08:05.
291
versah.
Die folgende Darstellung Leopolds beruflicher und politischer Karriere, sowie seiner
Prozesse in der Nachkriegszeit, ist sowohl aus den ZeugInnenaussagen und Protokollen der Gerichtsakten, als auch aus den Interviews mit seinen Nichten und Neffen rekonstruiert. Es soll gezeigt werden welche für die Entnazifizierungsprozesse typischen
Verteidigungsstrategien von Leopold angewandt wurden und welche Informationen
aus den Akten und Interviews dem gegenüberstehen. Die hier herangezogenen ZeugInnenaussagen stammen aus zwei Prozessen in denen sich Leopold zu verantworten
hatte. Die erste Anklage, gemäß §§10,11 des Verbotsgesetzes 1947, wegen des Vorwurfs der Illegalität, erfolgte am 26. 11. 1947 666. Die Zweite am 12. 1. 1950, gemäß §
8 StG, wegen des Vorwurfs der versuchten Denunziation. 667 Im Folgenden geht es
nicht darum, die Prozesse an sich Revue passieren zu lassen, sondern darum, mithilfe
der Quellen, die dabei entstanden sind, seine Rolle in der NS-Zeit zu beleuchten.
Aus politischer Sicht begann er schon früh sich in diversen Verbänden zu beteiligen.
Aufgrund seiner Herkunft wenig überraschend, war er von 1918 bis 1920 Obmann des
christlichen Landarbeiterbundes in Steyregg. Durch seine Abwesenheit von Steyregg
nach seinem Eintritt bei der Gendarmerie konnte er dieses Amt nicht mehr länger aus üben. 1934 schloss er sich der Vaterländischen Front (VF), der Einheitspartei des österreichischen „Ständestaats“ 668 an, in der er auch als Dienststellenleiterstellvertreter
aktiv war. Er verstand sich in der Zeit bis 1938 selbst als unpolitisch und begründet
dies bei seiner Einvernahme am 25. 4. 1949 am Landesgericht Linz folgendermaßen:
„Als ich 1926 in den Gerichtsdienst übertrat, habe ich mich keiner politischen
Richtung angeschlossen, da von unserer Berufsvertretung aus eine politische
Verbindung unerwünscht war und wir Beamte vollkommen überparteiisch sein
mussten.“669
Auch seinen Eintritt in die NSDAP erklärte er mit dem gleichen Pragmatismus wie seine unpolitische Haltung zuvor. Aus Angst, seine Anstellung beim Bezirksgericht zu verlieren, hätte er Ende April 1938 das Ansuchen um Aufnahme bei der Ortsgruppe St.
Florian eingebracht. Eine Betätigung in der NSDAP vor 1938 bestritt er und zog dazu
das auf seiner Mitgliedskarte vermerkte Aufnahmedatum (1. 5. 1938), sowie seine
Mitgliedsnummer (6.366.006) als Beweise heran. Von 29. 6. 1938 bis 4. 9. 1939 über nahm er das Amt des Ortswalters der NS-Volkswohlfahrt (NSV) und hat diese Organi sation in St. Florian nach eigener Aussage auch selbst aufgebaut. Ab dem 5. 9. 1939
bekleidete Leopold die Funktion des Ortsgruppenleiters der NSDAP in St. Florian und
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 162.
VGA Vg 8 Vr 5387/47, 184.
668
Verena Pawlowsky, Vereine im Nationalsozialismus: Vermögensentzug durch den Stillhaltekommissar für Vereine,
Organisationen und Verbände und Aspekte der Restitution in Österreich nach 1945, Oldenbourg 2004, 57.
669
VGA Vg 8 Vr 5387/47, 165-167.
666
667
292
behält dieses Amt bis Kriegsende bei.670 Leopold wurde nach Kriegsende aufgrund
seiner Funktion als Ortsgruppenleiter durch die amerikanischen Streitkräfte in
„automatische Haft“671 genommen und am 15. 5. 1945 im Camp Marcus W. Orr bei
Glasenbach interniert. Diese Vorgangsweise galt für alle Parteimitglieder, die ein Amt
in der NSDAP ausgeübt hatten und sollte dazu beitragen, die gesamte Parteistruktur
zu zerschlagen. Leopold befand sich bis 25. 6. 1947 in Glasenbach und wurde
anschließend dem Landesgericht Linz überstellt. Dort wurde er wegen des Verdachtes
der Illegalität nach §§10, 11 des Verbotsgesetzes 1947 in Untersuchungshaft genommen. Nach seinen eigenen Aussagen ist er zu allen seinen Ämtern innerhalb von
VF und NSDAP berufen worden und habe dies nur aus Angst vor Entlassung
mitgemacht. Er versuchte sich damit als kleines Rädchen im System darzustellen und
so zu überzeugen, dass ihn die Zwänge der NS-Herrschaft dazu veranlasst hätten
mitzumachen und nicht die Begeisterung für die NS-Ideologie selbst. Dabei handelte
es sich um ein gängiges Muster in der Verteidigungsstrategie der Angeklagten im
Entnazifizierungsprozess. So hatte auch Leopold einen prominenten Fürsprecher, Dr.
Johannes Hollnsteiner, der ihm eine weiße Weste bescheinigte, ihm gar zugestand, das
Stift und den Markt St. Florian vor der Zerstörung durch die anrückenden Amerikaner
gerettet zu haben.672 Es geht aus den Gerichtsakten hervor, dass Leopold behauptete,
zum Ortsgruppenleiter nach dem deutschen Beamtengesetz dienstverpflichtet worden
zu sein. Die Dienstverpflichtung bezog sich im Sinne der Nazis rein auf die
Kriegswirtschaft und da auch nur auf Betriebe, die ihren Bedarf nachweislich mit den
eigenen
Ressourcen
nicht
mehr
abdecken
konnten.
Diese
Form
der
Ar-
beitskräftebeschaffung diente den Arbeitseinsatzbehörden als wirksames Instrument,
um die erforderlichen Kräfte bereitzustellen 673 und nicht, um die NSDAP-Kader
aufzufüllen. Die offensichtliche Unrichtigkeit dieser Argumentation wurde ihm bereits
am 10. 11. 1950 in einem Schreiben des Innenministeriums dargelegt, da es sich
(auch falls es tatsächlich eine Berufung war) sicher um keine Dienstverpflichtung nach
beschriebenem Muster handelte.674 Dieses Schreiben war die Antwort auf das
Ansuchen Leopolds aus der Liste der Belasteten gestrichen zu werden. Außerdem
argumentierte er, dass er offiziell erst am 9. 11. 1942 vom Gauleiter Eigruber zum
Gemeinschaftsleiter der NSDAP mit der Dienststellung als Ortsgruppenleiter betraut
wurde. Nach eigener Aussage und Aussagen Dritter in den Prozessakten, übte er
dieses Amt aber bereits seit September 1939 aus. 675 Auffallend ist bei den von ihm
Karl Lampl, Chronik.
Oskar Dohle/Peter Eigelsberger, Camp Marcus W. Orr. "Glasenbach" als Internierungslager nach 1945, Linz 2009,
106-116.
672
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 191.
673
Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, Nachdr. der Ausg. von 1998, Berlin 2000, 153-154.
674
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 212-213.
675
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 192.
670
671
293
selbst geschilderten Funktionen und Tätigkeiten, dass seine politisch aktive Zeit erst
begann, als in Österreich die Demokratie ausgeschaltet wurde und ein autoritärer
Einparteienstaat an ihre Stelle trat. Seine politische Laufbahn begann mit dem Eintritt
zur VF und ging nahtlos in die NSV und NSDAP über. Seine Beweggründe bleiben dabei
verborgen, doch lässt dieser Umstand eine antidemokratische Einstellung Leopolds
vermuten. Seine Mitgliedschaft in der VF befreit ihn auch nicht vom Verdacht der
Illegalität, da viele seiner damaligen Parteikollegen auch bereits in der NSDAP aktiv
waren. Ein Schwenk vom „Austrofaschismus“ zum Nationalsozialismus war somit kein
Bruch, sondern eher eine Kontinuität in seiner politischen Entwicklung gewesen zumal
der Dienststellenorganisation für den öffentlichen Bereich bereits 1934 bekannt war,
„dass viele Beamte den Nationalsozialisten nahestanden und nur aus Gründen
der Erhaltung ihrer beruflichen Existenz der VF beigetreten waren.“676
Aus den Akten geht ebenfalls hervor, dass Leopold ein begeisterter Anhänger des Nationalsozialismus gewesen sein und wegen seiner Radikalität sogar bei Parteigenossen
unbeliebt gewesen sein soll. Entgegen seiner Angabe, er hätte erst im Mai 1938 Kontakt zur NSDAP gehabt und sei auch nur aus rein pragmatischen Gründen der Organi sation beigetreten, zeichnen die ZeugInnenaussagen aus seinen Prozessen ein anderes Bild. So habe er sich bereits am 13. 3. 1938 als Nationalsozialist zu erkennen gegeben, als er gemeinsam mit anderen Nazis das Strafregister in der Gemeindekanzlei
beschlagnahmte. Nach Aussage von Franz Huber, dem damaligen Gemeindesekretär,
soll sich Leopold damit gebrüstet haben, mit der NSDAP in Verbindung zu stehen und
für diese zu arbeiten.677
Seine Position als Leiter der NSV-Ortsgruppe brachte ihn auch von Anfang an in direkten Kontakt mit der NS-Ideologie und da vor allem mit der Vorstellung vom „Herrenmenschen“ und der Rassenlehre. Die NS-Volkswohlfahrt hatte zum Ziel, die traditionellen Wohlfahrtsverbände entweder ganz auszuschalten, oder zumindest zurückzudrängen. So wurden in Deutschland bereits ab 1933 die meisten Wohlfahrtsverbände
entweder aufgelöst oder der NSV angeschlossen. Eigenständig aber in ihren Kompetenzen beschnitten blieben nur die konfessionellen Verbände Caritas, Innere Mission
und das Deutsche Rote Kreuz. Während sich diese Organisationen auf die Alten- und
Behindertenbetreuung beschränken sollten, hatte die NSV laut ihrem Leiter Erich Hilgenfeldt die Aufgabe,
„die Gesundheitsführung des deutschen Volkes zu übernehmen und ihm rassehygienisches Denken und Handeln beizubringen‘ Wohlfahrtspflege im nationalsozialistischen Sinne treiben heiße, ,in allem Handeln und Tun zuerst die Gemeinschaft und dann an den Einzelnen zu denken‘. Aber nur die gesunden
Emmerich Tálos, Aspekte der politischen Struktur des Austrofaschismus, in: Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer
(Hg.), Austrofaschismus: Politik, Ökonomie, Kultur; 1933-1938 Wien 2012, 149.
677
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 151-152.
676
294
und ,wertvollen‘ Mitglieder der Volksgemeinschaft sollten gefördert werden; von
jeglicher Fürsorge auszuschließen seien ,Gemeinschaftsfremde‘, ,Asoziale‘
und ,Arbeitsscheue‘ “.678
Daraus ist zu ersehen, dass Leopold bereits von Beginn seiner NS-Karriere an mit der
Rassenhygiene und der rigorosen Umerziehung der Bevölkerung in Berührung kam.
Inwieweit er diese Vorgaben in St. Florian auch umsetzte ist aus seiner Zeit in der NSV
nicht belegt. Seine Tätigkeit in dieser Organisation legte er im Herbst 1939 ab, um
tags darauf Leiter der NSDAP-Ortsgruppe zu werden.
„[…] er habe sich als Ortsgruppenleiter bemüht, politische Härte auszugleichen
und dafür gesorgt, dass keinem Bürger von St. Florian etwas zu leide getan
werde.“679
Diese Selbstdarstellung, festgehalten in einem Vernehmungsprotokoll, ist allerdings
anhand einer Reihe von ZeugInnenaussagen in Zweifel zu ziehen. Laut diesen habe er
mehrere Personen angezeigt, was für die Betroffenen, angefangen bei Vernehmungen
und Gefängnisaufenthalten über Einberufungen zur Wehrmacht bis hin zur Deportation
einer geistig behinderten Frau nach Niedernhardt zur Konsequenz hatte. Die Heil- und
Pflegeanstalt Niedernhardt fungierte als Zwischen- bzw. Sammelanstalt für die berüchtigte Euthanasieanstalt Hartheim, wurde aber auch selbst zu einem Schauplatz der dezentralen Euthanasie, in der PatientInnen mithilfe von Medikamenten getötet wurden.680 Die besagte Frau wurde, laut der Aussage ihres Vaters, im Sommer 1939 nach
Deutschland überstellt und verstarb dort am 11. 7. 1940, angeblich an einer plötzlich
auftretenden fiebrigen Krankheit. 681 An welchen Ort sie tatsächlich gebracht wurde war
nicht mehr zu klären. Weitere Begebenheiten: Dem Fleischergehilfen Alois Pfenningberger wurde von Leopold mit der Inhaftierung im KZ-Mauthausen gedroht, weil sich
dieser abfällig über Adolf Hitler geäußert hatte.682 Der Orgelbauer Georg Windtner, der
an der Ostfront im Einsatz war, hatte auf Fronturlaub zuhause den Ortsgruppenleiter
Leopold einmal zu spät gegrüßt. Daraufhin erging die Meldung an Windtners Bataillonskommandanten, der ihn, als er zurück an die Ostfront kam, zum Rapport bestellte.
Windtners Glück war, dass sein Vorgesetzter die Angelegenheit mit den Worten, „der
Herr Lampl soll selber mal hier raus kommen“ abtat und von weiteren Maßnahmen absah.683 Diese Geschichte behielt er lange für sich und erzählte sie erst viele Jahre später seiner Familie. Die letzten durch die Pfarrchronik belegten Anzeigen, die Leopold
bei der Gendarmerie einbrachte, betreffen einige Frauen und Mädchen aus St. Florian.
Mario Wenzel, Die NSDAP, ihre Gliederung und angeschlossene Verbände, in: Wolfgang Benz (Hg.), Wie wurde man
Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt am Main 2009, 33-34.
679
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 222.
680
Waltraud Häupl, Der organisierte Massenmord an Kindern und Jugendlichen in der Ostmark 1940-1945,
Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Euthanasie, Wien 2008, 165.
681
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 290.
682
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 233.
683
Interview mit Georg Windtner Jun., geführt am 7. 4. 2013, 00:30-01:30, Bänder beim Autor. Wörtliches Zitat aus
einer Nacherzählung.
678
295
Als am 16. 4. 1945 ein ca. 6000 Personen umfassender Zug von KZ-Häftlingen, die
bereits vom Burgenland zu Fuß bis nach St. Florian getrieben worden waren, den
Markt passierte, versuchten diese Frauen den Häftlingen vom Straßenrand aus Äpfel
zuzurollen. Dies unterband Leopold und brachte es zur Anzeige. Die örtliche Gendarmerie leitete die Anzeigen jedoch nicht mehr weiter. Pfarrer Nikolussi berichtet in seinen Aufzeichnungen, dass bereits am nächsten Tag wieder ca. 6000 Menschen durch
den Ort getrieben wurden und zählt für diese beiden Tage 83 Personen, die auf dem
Gemeindegebiet von St. Florian erschossen worden waren. 684 Es handelte sich dabei
hauptsächlich um ungarische Jüdinnen und Juden. Das über Leopold, gemäß Verbotsgesetz 1947, verhängte Berufsverbot blieb bis 1958 aufrecht. Ein Freispruch bzw. eine
Verurteilung wegen des Vorwurfs der Illegalität findet sich in den Gerichtsakten nicht.
Vom Vorwurf der versuchten Denunziation wurden er und sein Mitangeklagter Karl
Banhuber „mangels ausreichender Beweise“ 685 am 16. 1. 1952 freigesprochen. Zusätzlich zum Freispruch fügte das Gericht noch folgenden Satz ein:
„Gem. §263 StPO. wird der Staatsanwaltschaft die selbständige Verfolgung des
Leopold Lampl wegen der bei der Hauptverhandlung neu hervorgekommenen
Straftaten vorbehalten.“686
Es handelte sich dabei um die oben auszugsweise erwähnten Vorwürfe und deren Konsequenzen. Weitere Anklagen erfolgten jedoch nicht mehr. Auch nach Kriegsende dürfte Leopold, der sich selbst als Mitläufer darstellte, seiner nationalsozialistischen Gesinnung treu geblieben sein und diese teilweise auch an seine Kinder weitergegeben haben.687 Bezugnehmend auf die Frage nach einer Mitwisserschaft am Holocaust stelle
ich fest, dass er von Mauthausen wusste. Er drohte Anderen mit der Inhaftierung in
Mauthausen688, um, wie es scheint, mehr Druck aufzubauen als die Androhung einer
„normalen“ Anzeige bewirkt hätte. In seinem Einflussbereich wurden auch Zwangsarbeiterinnen aus den KZs eingesetzt, er könnte also Kenntnis von deren schlechtem
Gesundheitszustand und Sterben gehabt haben. Auch die erwähnten Berichte aus den
letzten Kriegstagen weisen auf eine bis zuletzt regimetreue Haltung gegenüber den
sogenannten „Volksfeinden“ hin, für die er jede Unterstützung unterband. Ob er aber
vom industriellen Massenmord wusste ist mit den zur Verfügung stehenden Informationen nicht zu klären. Auch die Anschuldigung, er sei verantwortlich für den Abtrans port einer jungen Frau nach Niedernhardt ist kein Beweis, dass sich Leopold über die
Konsequenzen dieses Vorgangs im Klaren war.
Egbert Bernauer, St. Florian in der NS-Zeit, phil. Diss., Wien 2004, 103-108.
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 267.
686
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 263.
687
Interview mit Sigrid Lampl, 01:06:35-01:08:05, Auszug: “du und des årge is eigentlich, dass der Helmut, der
Helmut der is jå schon gstorben, åber da Rudl, der wår jå då a scho do in Gaubing, und dass das solche sind, der sollt
a, den ganzen Nationalsozialismus leugnen.“
688
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 233.
684
685
296
7 Der Mythos
Zum Thema meiner Arbeit hat mich, wie schon eingangs erwähnt, die Geschichte meines Onkels, der sich erfolglos bei den Florianer Sängerknaben beworben hatte, gebracht. Schnell wurde klar, dass hinter dieser Geschichte weit mehr steckt, als nur dieses eine Ereignis. Mein Vater erzählte mir eine Begebenheit, die sich ca. Mitte der
1960er (er war gut 20 Jahre alt) an seiner Dienststelle abgespielt hat. Ihm wurde ein
neuer Kollege vorgestellt, der in St. Florian wohnhaft war. Auf dessen Frage, ob mein
Vater aufgrund der Namensgleichheit mit Leopold Lampl verwandt sei, antwortete
mein Vater voller Überzeugung: „Ja, das ist mein Onkel. Der hat ja im Krieg euer Stift
gerettet!“ Worauf ihm zu seinem Erstaunen geantwortet wurde: „Nein, gerettet hat
der gar nichts!“ Mein Vater hatte damals nichts verschweigen oder beschönigen wollen, er hat es schlicht und einfach nicht besser gewusst und die Erzählungen, die in
der Familie kursierten bzw. die Geschichten, die sein Onkel erzählt hatte, vorbehaltlos
geglaubt und wiedergegeben. Es war für meinen Vater das erste Mal, dass er die Ge schichte in Frage stellte und über die tatsächliche Rolle Leopolds nachdachte.
Schon in mehreren Gesprächen mit Personen aus St. Florian konnte ich einen bis heute wirkenden bitteren Nachgeschmack aus der Zeit meines Großonkels als NSDAPOrtsgruppenleiter feststellen. Damit bestätigt sich, was ich aus den Erzählungen meines Vaters gehört habe. Doch wie ist dieser Mythos überhaupt entstanden und warum
wird er teilweise bis heute, zu Recht oder nicht, noch geglaubt?
Als Ausgangspunkte dieser Version der Geschichte sind zwei wesentliche Faktoren
festzumachen. Erstens natürlich das Bild, das Leopold nach dem Krieg und seiner
Haftzeit in Glasenbach selbst über sich in der Familie verbreitete. Zweitens eine Erklärung des ehemaligen Augustiner Chorherrn Dr. Johannes Hollnsteiner, der in den
1930er Jahren enger Berater Kurt Schuschniggs war und eine sehr enge Beziehung zu
Alma Mahler-Werfel pflegte. Er bekam einen Lehrstuhl für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät der Universität Wien und setzte sich für von den Nazis verfolgte
KünstlerInnen ein. Er wurde nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland
verfolgt und in Dachau interniert. Nach seiner Freilassung arrangierte er sich mit dem
NS-System, so dass er sich als einziger der Augustiner Chorherren nach der Enteignung des Stiftes noch frei darin bewegen konnte. 1941 trat Hollnsteiner aus dem Orden aus und heiratete. Er wurde Mitglied bei der NSV und hatte auch sonst gute Kontakte zu Nazi-Eliten, sodass er von den Amerikanern nach Kriegsende ebenfalls nach
Glasenbach gebracht wurde.689 Sein Biograph Friedrich Buchmayer schreibt dazu folgendes:
689
Bernauer, St. Florian in der NS-Zeit, 209-211.
297
"Es gab in seiner Generation nicht viele Personen, die sowohl in einem Konzentrationslager der Nationalsozialisten als auch in einem Entnazifizierungslager
waren.“690
Hollnsteiner, der nach seiner Haft in Dachau vermutlich aufgrund seiner politischen
Verbindungen nicht mehr nach Wien zurückkehren durfte, verbrachte die gesamten
Kriegsjahre in St. Florian. Er dürfte Leopold wohlgesonnen gewesen sein, da er sowohl
in den Prozessen zu Leopolds Gunsten aussagte, als auch in einer schriftlichen Erklä rung darlegte, dass Leopold in seiner Funktion als Ortsgruppenleiter wesentlichen Anteil an der kampflosen Übergabe von St. Florian an die amerikanischen Truppen ge habt habe. Hollnsteiner gibt an, als Teil einer Personengruppe, die sich gegen eine
Verteidigung von Sankt Florian engagierte, zu Leopold gegangen zu sein, um diesen
zur Mithilfe zu bewegen. Daraufhin habe Leopold selbst einige HJ-Mitglieder, die zum
Kampf entschlossen waren, entwaffnen und eine im Stift einquartierte SS-Abteilung
unter der Führung von SS-Obergruppenführer Dr. Glasmeier (siehe Abbildung 3/4)
zum Abzug bewegen können. Er bestätigte Leopold somit, dass er wesentlichen Anteil
daran hatte, dass Markt und Stift St. Florian den Krieg nahezu unbeschadet überstan den, wodurch unersetzliche Kunstwerke, unter denen sich auch Beutekunst befand,
erhalten blieben.691
Nach Durchsicht der Gerichtsakten, stellt sich das Bild allerdings etwas anders dar.
Glasmeier hat das Stift bereits zwei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner in St.
Florian verlassen und sich, wie wenig später auch der Rest seiner Einheit, in Zivilkleidung aus dem Staub gemacht. Als Grund hierfür wird nicht eine Unterredung mit dem
Ortsgruppenleiter angegeben, sondern der Versuch, so der Gefangennahme durch die
Amerikaner zu entgehen. Die amerikanischen Luftstreitkräfte sollen auch strikt angewiesen worden sein, das Stift und den ganzen Ort St. Florian nicht zu bombardieren.
Dies ist im Prozess auch mit Hilfe amerikanischer Luftkarten belegt worden.692
Buchbeschreibung: Friedrich Buchmayr; Der Priester in Almas Salon, Bibliothek der Provinz. URL:
http://www.bibliothekderprovinz.at/buecher.php?id=198 (abgerufen am 25. 4. 2013).
691
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 221.
692
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 222, Anmerkung des Verfassers: Diese Luftkarten lagen dem Gerichtsakt nicht bei.
690
298
Abbildung 3: Ortsgruppenleiter Leopold Lampl und Reichsrundfunkintendant
Dr. Heinrich Glasmeier.
Quelle: Egbert Bernauer, St. Florian in der NS-Zeit, phil. Diss., Wien 2004, 234.
Das Stift lief nur einmal Gefahr, ins Visier der amerikanischen Bomber zu geraten,
nämlich als Gauleiter Eigruber 1943 plante, die Stiftskeller als Ausweichquartiere für
das Kugellagerwerk Steyr zu verwenden. Von dieser Idee soll auch Leopold sehr begeistert gewesen sein. Der Plan wurde jedoch von Leopold Weginger, dem Weinkellereidirektor des Stiftes St. Florian, vereitelt, indem er durch persönliche Intervention
beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW) erwirkte, dass in den Kellern größere
Weinvorräte für das deutsche Heer eingelagert wurden. 693 Inwieweit die Entwaffnung
der HJ-Einheiten den Tatsachen entspricht, war mit dem mir zur Verfügung stehenden
Material nicht zu klären.
Leopold wird in mehreren Quellen als fanatischer Nationalsozialist bezeichnet, was sowohl für die Zeit vor als auch nach dem 8. 5. 1945 gilt. So hat er in der Stube seines
Elternhauses, als er meinen Großvater besuchte, noch laut gerufen: „Wir müssen sie gen, wir müssen siegen! Aber wehe wir siegen nicht!.“694
693
694
VGA Vg 11 Vr 3644/46, 222.
Interview mit August Lampl, 21. 11. 2012.
299
Abbildung 4: Erntedankfest am Sportplatz St. Florian, Ortsgruppenleiter
Leopold Lampl und Reichsrundfunkintendant Dr. Heinrich Glasmeier.
Quelle: Egbert Bernauer, St. Florian in der NS-Zeit, phil. Diss., Wien 2004, 235.
Auch der bereits erwähnte Eintrag in der Pfarrchronik zum Durchmarsch jüdischer
Häftlinge zeigt, dass Leopold bis in die letzten Kriegstage noch an der NS-Ideologie
festhielt. In mehreren ZeugInnenaussagen aus seinen Volksgerichtsprozessen wird erklärt, dass Leopold gar nicht mehr die Möglichkeit gehabt hätte, die Amerikaner am
Vorrücken zu hindern, da sich die versprengten Wehrmachtseinheiten nur noch darauf
vorbereiteten, sich zu ergeben. Somit ist völlig irrelevant, welche Pläne Leopold gehabt hat, die nahenden Ereignisse konnte er in keine Richtung mehr beeinflussen.
8 Die NS- und Nachkriegszeit im Gedächtnis der Familie
Im Folgenden soll, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ein ausgewähltes Sample einen
Einblick in die Erinnerungskultur meiner Familie geben und in zwei Blöcke geteilt einerseits die individuell erinnerten Fakten und andererseits die Verschmelzung dieser
Einzelerinnerungen zu einer kollektiven Familienerinnerung aufzeigen.
Einzelne Ereignisse sollen als Narrative der gemeinsamen Geschichte in den Fokus gerückt werden, während andere Aspekte einer noch kleineren Subgruppe bzw. nur einer
einzelnen Person zuzuordnen sind. Vorausgeschickt sei, dass das Reden über den Nationalsozialismus, auch im Fall meiner Familie, ein Reden über den Krieg ist. 695 Die ersten Kindheitserinnerungen meiner InterviewpartnerInnen hingegen sind in den meis695
Reiter, Margit, Die Generation danach: der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck-Wien 2006, 49.
300
ten Fällen weder mit dem Nationalsozialismus noch mit dem Krieg in Verbindung zu
bringen sondern sehr persönliche Ereignisse.
Bei der Durchsicht der Interviews fällt sehr stark auf, dass der Krieg mit all seinen negativen Auswirkungen erst im Juli 1944 im Ort und in der Familie angekommen war. In
allen Interviews nahm die Beschreibung der ersten Luftangriffe der Alliierten auf die
Hermann Göring Werke in Linz eine zentrale Rolle ein. Pulgarn war davon ebenso be troffen, da eine Flakstellung ganz in der Nähe auf einem Hügel stationiert war und die
Bomber beim Anflug auf diese oft auch schon über dem kleinen Ort ihre Fracht entlu den. Im Zuge dieser Erzählungen werden sowohl die regelmäßige Flucht in den knapp
einen Kilometer entfernten Luftschutzkeller, als auch der Einschlag einer Brandbombe
in den Hof, die aber glücklicherweise nicht zündete, in allen Interviews gleichermaßen
erwähnt. Bei diesem Angriff wurde auch das Nachbarhaus getroffen, welches dadurch
völlig ausbrannte.
Doch nicht nur die Ereignisse des letzten Kriegsjahres, sondern vor allem die Nachkriegszeit in der Sowjetischen Besatzungszone sind in den Erinnerungen tief verwurzelt: Betrunkene Soldaten, die drohten, den Vater zu erschießen, aber schlussendlich
mit etwas Speck und Schnaps wieder von dannen zogen sowie „displaced persons“,
die aufgrund der völlig zusammengebrochenen Infrastruktur festsaßen. Durch die
räumliche Nähe zu Mauthausen und Gusen befanden sich ebenfalls noch viele ehemalige KZ-Häftlinge in der Gegend um Pulgarn, die um Nahrung und Unterkunft bettelten
bzw. sich diese auch gewaltsam verschafften.
Für alle Onkel und Tanten spielt schon während des Krieges Genowewa, eine polnische
Fremdarbeiterin, die wie so viele junge Mädchen unter falschen Versprechungen ins
„Deutsche Reich“ gelockt worden war, eine wichtige Rolle. Nach Aussagen meiner Verwandten wurde ihr eine lukrative Arbeit versprochen, tatsächlich musste sie aber ohne
Bezahlung am Hof arbeiten und war vom Wohlwollen der Familie abhängig. Sie war
damals nur wenige Jahre älter als die Kinder des Hofs und wurde somit zu einer wich tigen Bezugsperson. Ihre Erfahrungen mit dem Krieg, den sie bereits in Polen durch
den deutschen Überfall erlebt hatte sowie ihre Sprachkenntnisse haben meine Familienmitglieder vor einigen Gefahren bewahren können. So wusste sie sofort was zu tun
war, als die ersten Bomber im Juli 1944 Pulgarn erreichten und konnte in der Nachkriegszeit oft besser einschätzen, ob von herannahenden Soldaten bzw. KZ-Häftlingen
eine Gefahr ausging, indem sie deren Gespräche belauschte. Meine Großmutter hielt
mit Unterbrechungen noch bis in die 1970er Jahre Kontakt zu Genowewa und auch
nach dem Tod meiner Großmutter gab es noch Besuche von Familienmitgliedern in Polen sowie von Genowewas Familie in Österreich.
Das Thema Leopold kam in den Interviews meist nur auf gezieltes Nachfragen hin zur
301
Sprache und handelte mehr von dessen imposanter Erscheinung und seinem schneidigen Auftreten als von seiner Involvierung in den Machtapparat des Nationalsozialismus. In Bezug auf seine Nazi-Vergangenheit wurde verstärkt auf seine Zeit in Haft und
die schlechten Jahre danach, in denen er und seine Familie unter dem Berufsverbot litten, eingegangen. Mein Großvater hat ihm auch regelmäßig Pakete mit Lebensmitteln
nach Glasenbach geschickt und nach der Haft half meine Großtante Blanda ebenfalls
mit Nahrungsmitteln aus. Er beklagte auch selbst die prekären Haftbedingungen wie
mehrere Quellen belegen.696 Zweifellos war die Versorgungslage der Häftlinge nicht die
beste, doch betrachtet man die Gesamtsituation der Nachkriegsjahre, ist der Literatur
zu entnehmen, dass den Häftlingen in den Lagern der Westalliierten mehr Nahrungsmittel zur Verfügung standen, als der Zivilbevölkerung.697
Das Thema KZ-Mauthausen kam nur einmal von selbst zur Sprache. Und zwar in Zusammenhang mit dem zerstörten Nachbarhaus, das Ende 1944 von KZ-Häftlingen wieder aufgebaut wurde. Die Tochter des Nachbarn erkrankte während des Wiederaufbaus an Typhus und verstarb kurze Zeit später. 698 Die Häftlinge wurden durch die SS
von der Bevölkerung abgeschirmt. Der schlechte gesundheitliche Zustand der Häftlinge blieb meiner Familie jedoch nicht verborgen, was auch in den Interviews bestätigt
wurde. Das Unrecht, das diesen Menschen widerfuhr, wurde jedoch nicht in vollem
Umfang erkannt, da die NS-Propaganda ihr bestes tat, um diese Menschen als
Schwerverbrecher und „Volksfeinde“ darzustellen. Der Nachbar z.B. forderte hingegen
von der SS einen ordentlichen Umgang mit den Menschen, die beim Wiederaufbau seines Hofes beschäftigt waren, ein. 699 Dies zeigt, dass in der Bevölkerung des Ortes sehr
wohl das Bewusstsein, wie mit den KZ-Häftlingen in Mauthausen normalerweise verfahren wurde, vorhanden war.
Beim Versuch, einen Querschnitt durch die Interviews zu machen, fällt stark auf, dass
es einerseits einen Anteil sehr homogener Geschichten gibt, die bei allen Personen in
gleicher Weise vorkommen und andererseits natürlich sehr individuelle Begebenheiten,
die für die Einzelperson von besonderer Bedeutung waren. Ein dritter Aspekt im Erinnern meiner Interviewpartnerinnen ist eine weitere Ausdifferenzierung in noch kleinere
Gruppen als die ganze Familie.
So ist in Bezug auf das Verhältnis zu und deren Bild von den Eltern ein großer Unterschied zwischen den älteren Geschwistern, Josef und Johanna, und den Jüngeren, Sigrid und Florian, festzustellen. Dies findet vor allem in der Rolle meiner Tante Johanna
als Erzieherin für die Jüngeren seinen Ausdruck, da sie in gewisser Weise aus der Ge 696
697
698
699
VGA Vg 8 Vr 5387/47, 146-148.
Dohle/Eigelsberger, Camp Marcus W. Orr. "Glasenbach", 234-258.
Interview mit Johanna Matscheko, 00:38:10-00:30:30.
Interview mit Josef Lampl, 01:31:20-01:36:10.
302
meinschaft der Geschwister heraus in den Status einer Respektsperson und Verant wortungsträgerin gestellt wurde. Daraus ergab sich eine starke Bindung an die Mutter,
was auch im Interview in sehr emotionaler und für mich berührender Weise zum Ausdruck kam. Diese Beziehung war aber kein klassisches Eltern-Kind-Verhältnis, sondern
ist durch die gemeinsame Führung des Haushalts und vor allem die Übernahme der
Erziehung der jüngeren Geschwister durch Johanna eher als innige Bindung auf Augenhöhe zu betrachten.
Dieselbe Differenzierung zwischen älteren und jüngeren Geschwistern, zeigt sich auch
in Bezug auf die Kriegserinnerungen. Hier kann eine Generationengrenze zwischen denen, die Krieg und Nationalsozialismus schon aktiv erlebt hatten, die Ängste und Sor gen der Eltern teilen mussten, und denen, die erst in den letzten Kriegsjahren geboren
wurden und somit keine persönliche Erinnerung daran haben, gezogen werden. Während die Jüngeren zwar darüber informiert sind, sowie einige Geschichten, die vor ihrer Zeit passiert sind, aus den Familienerzählungen reproduzieren können, ist bei den
älteren Familienmitgliedern, die in Bezug auf den Nationalsozialismus noch unter dem
Begriff „Erlebnisgeneration“ eingeordnet werden können 700, ein emotionalerer Umgang
mit dem Thema erkennbar.
Auch die persönliche Aufarbeitung des Erlebten als Erwachsene dürfte bei den älteren
Geschwistern eine intensivere gewesen sein. Dazu möchte ich zwei Beispiele vergleichen. Mein Vater (Jahrgang 1944) hat sich, wie oben bereits ausgeführt, erst durch
einen Arbeitskollegen der Konfrontation mit seiner Familiengeschichte gestellt und begann dadurch die Erzählungen seines Onkels zu hinterfragen. Er bleibt dabei trotzdem
ein Außenstehender und kann nur, wohl auch etwas emotional berührt, auf die Erzählungen der Erlebnisgeneration zurückgreifen. Ganz anders verlief die Auseinandersetzung bei meinem Onkel Josef (Jahrgang 1931). Beim Gespräch über das KZ-Mauthausen kam von ihm bald das Thema „Mühlviertler Hasenjagd“ ins Spiel. Die Häftlinge,
die am 2. 2. 1945 aus Mauthausen fliehen konnten, flohen in Richtung Norden und Osten, um hinter den Linien der bereits anrückenden Roten Armee in Sicherheit zu gelangen.701 In Pulgarn, das ca. zehn Kilometer westlich von Mauthausen liegt, kamen
somit keine Häftlinge vorbei. Mein Onkel erklärte dazu, dass er die gesamte Propaganda, die über die entflohenen Häftlinge verbreitet wurde, geglaubt hat. Hätte er einen
gesehen, hätte er sofort nach einem Erwachsenen gerufen, um den Häftling zu stellen.
Alleine die Tatsache, dass auch er sich so verblenden ließ und sich so leicht an den
Verbrechen der Nazis mitschuldig hätte machen können, beschäftigt ihn bis heute. 702
In seinem Fall war es sehr schön zu sehen, wie eine Aufarbeitung der persönlichen
700
701
702
Reiter, Die Generation danach, 20.
Gordon J. Horwitz, In the shadow of death, living outside the gates of Mauthausen, New York 1990.
Interview mit Josef Lampl, 01:28:40-01:30:00.
303
Rolle in der Geschichte funktionieren kann und, losgelöst von falschem Stolz oder
Scham, Einsicht und Erkenntnis zu Tage fördert. Er fordert im Interview auch ganz vehement ein, niemals zu vergessen und die Erinnerung daran am Leben zu erhalten,
wie leicht es ist, durch Verblendung Schuld auf sich zu laden, die ihn persönlich, zwar
nur in Form einer Imagination, aber dennoch bis heute verfolgt. Auch die lang gehegte
Opferthese zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurde von ihm selbst
angesprochen und sofort, sogar unter der Verwendung des Begriffes „Täter“, dekon struiert.
Eine weitere Unterteilung der Großgruppe der zehn Geschwister in Bezug auf deren
Wissen um die Familiengeschichte zeigt sich im Vergleich derer, die in der näheren
Umgebung des Elternhauses verblieben sind und derer, die das regionale und soziale
Umfeld verlassen haben. Interessanterweise wird dabei die Gruppe der Gebliebenen
von der der Weggegangenen als die wissende Gruppe definiert. Diese Differenzierung
ist aber einseitig und in die andere Richtung nur in Bezug auf konkrete spätere Ereignisse, und nicht in dieser generalisierenden Form festzustellen.
Ganz wichtig ist hier natürlich, wie in anderem Kontext bereits des öfteren erwähnt,
die Kategorie des Geschlechts. Es werden von meinen Tanten ganz klar andere
Schwerpunkte in der Aufarbeitung gesetzt als von meinen Onkeln, wie sich beispielsweise bei den bereits erwähnten Themen Bildung und Beruf deutlich zeigt. Auch die
Kommunikation mit der Mutter war bei den Mädchen und auch später bei den Schwiegertöchtern, vor allem was „Frauenthemen“ anging, deutlich offener. Meine Großmutter bekam von Frühjahr 1931 bis Winter 1944 zehn Kinder. Auf die Frage, warum in
manchen Jahren kein Kind zur Welt kam, antwortete mein Onkel, dass er es nicht
wüsste, aber dass sie in diesen Jahren vielleicht Fehlgeburten hatte. Als ich meine
Mutter auf das Thema ansprach, sagt sie sofort:
„Sie war wirklich jedes Jahr schwanger und wenn sie kein Kind bekam, hatte sie
einen Abort. Das hat mir die Oma selbst erzählt.“
Einige der Söhne wissen das bis heute nicht.
Eine Opfer-Täter-Umkehr ist am stärksten in den Erzählungen über meinen Großonkel
Leopold zu erkennen. In den Interviews wurde meist nur kurz seine Funktion als Ortsgruppenleiter erwähnt, um gleich anzuhängen, dass er seine Beteiligung am nationalsozialistischen Machtapparat „bitter bezahlen musste.“703
Bei allen Indizien über ein angespanntes Verhältnis der Familienzweige hinsichtlich des
Nationalsozialismus versus der Konfession als Reibungspunkt,während des Krieges
scheinen danach das Mitgefühl und der Familiensinn das Verhältnis wieder gebessert
703
Interview mit August Lampl, 01:26:00-01:27:40.
304
zu haben. Dies ließ Leopold für meine Familie eher zum Opfer dieses Krieges 704 als
zum Täter des Regimes werden. Hartnäckig hält sich auch der an anderer Stelle beschriebene Mythos von der Rettung des Stiftes St. Florian durch Leopold. Es wird ihm
von mehreren Seiten zugestanden, dass diese Erzählung einen Wahrheitsanspruch hat
und dass er in seiner Position sehr wohl die Möglichkeit gehabt hätte, die Ereignisse,
so wie von ihm selbst geschildert, zu beeinflussen. Doch sehr wohl kritisch und vorsichtig, da ja in diesem Fall die Ablehnung von Onkel Franz bei den Sängerknaben das
Heldenbild etwas stört. Bis auf die Ausformung seines eigenen Bildes hatte Leopold offensichtlich eher wenig Einfluss auf die Familie. Er und sein Bruder Karl wurden vorsichtig als Fanatiker bezeichnet und dafür auch eher belächelt.
Im größeren Kontext wird die intensive Beteiligung der ÖsterreicherInnen am Nationalsozialismus zwar nicht verteidigt, aber zumindest gerechtfertigt. Der Hof hätte verkauft werden müssen, wäre Hitler nicht einmarschiert, er brachte Arbeitsplätze und
Kinderbeihilfe. Doch hätte man gewusst, worauf das ganze hinausläuft, wäre man der
Faszination nicht erlegen.705
Auch wenn dieser Satz etwas polemisch klingt, denke ich doch, dass meine InterviewpartnerInnen damit recht haben. Denn ich würde mir auch nicht anmaßen zu behaupten, im Jahr 1938 meine heute klar antifaschistische Einstellung in gleicher Weise gehabt zu haben. Dieses Rechtfertigungsmuster stellt sich sehr pauschal dar. Die eigene
Ablehnung des Nationalsozialismus wird mit der tiefen Religiosität meiner Familienmitglieder erklärt. Die Ablehnung des Hitlerbildes im Haus durch meinen Großvater und
eine Anekdote meiner Tante Johanna aus ihrer Schulzeit unterstreichen diesen Umstand. Johanna erzählte, dass jeden Tag in der Früh ein Spruch aufzusagen war, in
dem die ganzen „oberen Bonzen“ wie Goebbels, Göring und natürlich Hitler vorkamen.
Dazu sagte Johanna: „Weil anders hätt ma hoid a Vater Unser g’bet, das wär gscheiter
gwesn.“706 Auch die Nähe zu den Augustiner Chorherren, die nach ihrer Vertreibung
aus St. Florian im Kloster Pulgarn lebten und natürlich auch Kontakt zur Bevölkerung
pflegten, zeigten meinen Familienmitgliedern, wie die Nazis mit den Geistlichen und
der Kirche verfuhren. Aus diesen Beobachtungen stelle ich fest, dass der katholische
Glaube in meinem Familienzweig durchaus eine Rolle spielte, die Nazi-Ideologie abzulehnen. Hier aber von Opposition oder gar Widerstand zu sprechen, wäre etwas zu
weit gegriffen. Die Familie hat es im möglichen Rahmen vermieden und sich im not wendigen mit den Nazis arrangiert. Man könnte vielleicht von einem „Ich tu dir nichts
und du tust mir nichts“-Verhältnis sprechen.
704
705
706
Reiter, Die Generation danach, 21.
Anmerkung des Verfassers: In mehreren Interviews in ähnlicher Weise geäußert.
Interview mit Johanna Matscheko, 00:21:00-00:23:00.
305
9 Quellen
•
Karl Lampl, Chronik. Die Geschichte unseres Elternhauses in Pulgarn Nr. 15,
1958-1962 (unveröffentlichtes Manuskript), Kopie im Besitz des Verfassers.
•
NSDAP-Hauptkartei, Mitgliedskarten von Leopold, Franz und Karl Lampl, Institut
für Zeitgeschichte der Universität Wien.
•
Volksgerichtsakten (VGA).
•
Vg 8 Vr 5387/47, Vg 11 Vr 3644/46.
•
Verbotsgesetz 1947.
Interviews:
•
Interview mit August Lampl, geführt am 21. 11. 2012, Bänder beim Autor.
•
Interview mit Johanna Lampl, geführt am 29. 1. 2013, Bänder beim Autor.
•
Interview mit Josef Lampl, geführt am 26. 3. 2013, Bänder beim Autor.
•
Interview mit Sigrid Lampl, geführt am 28. 1. 2013, Bänder beim Autor.
•
Interview mit Georg Windtner, geführt am 7. 4. 2013, Bänder beim Autor.
10 Abbildungen
•
Abbildung 1: Geschwister und Mutter meines Großvaters am 25.08.1928,
(hinten vlnr) Karl, Franz, Josef, Leopold, (vorne vlnr) Theresia, Aloisia (Mutter),
Aloisia (Sr. Blanda), Maria.
Quelle: Nachlass Sr. Blanda, Privatarchiv August Lampl.
•
Abbildung 2: Karl Lampl in Uniform. 1940 in Polen.
Quelle: Nachlass Sr. Blanda, Privatarchiv August Lampl.
•
Abbildung 3: Ortsgruppenleiter Leopold Lampl und Reichsrundfunkintendant Dr.
Heinrich Glasmeier.
Quelle: Egbert Bernauer, St. Florian in der NS-Zeit, phil. Diss., Wien 2004, 234.
•
Abbildung 4: Erntedankfest am Sportplatz St. Florian, Ortsgruppenleiter Leopold
Lampl und Reichsrundfunkintendant Dr. Heinrich Glasmeier.
Quelle: Egbert Bernauer, St. Florian in der NS-Zeit, phil. Diss., Wien 2004, 235.
306
307
Bettina Pirker
Zwischen Opfermythos, Heroisierung und Verharmlosung
Eine Murauer Familie und der Nationalsozialismus
308
Inhalt
1 Die Quellen
310
1.1 Familienchronik und Lebenslauf von Hilde Maier
310
1.2 Die Interviews
311
2 Murau – Dreh- und Angelpunkt meiner Familie
313
2.1 Zahlen und Fakten zum Bezirk Murau
314
2.2 Nationalsozialismus in Murau
315
2.2.1 Vorgeschichte
315
2.2.2 Die jüdischen Bürger Muraus
316
2.2.3 Die Familie Schwarzenberg
318
2.2.4 Zwangsarbeiter
318
2.2.5 Der Kreisleiter Franz Amberger
319
2.3 Erinnerungen und Schicksalsgemeinschaft
4 Familiengeschichte
321
323
4.1 Johann Fritsch – von Böhmen nach Murau
323
4.2 Maria Fritsch
324
4.3 Paula Grössing, geb. Pernthaler
324
4.4 Othmar Pernthaler
324
4.5 Die Familie Grössing
327
4.5.1 Johann Grössing sen.
327
4.5.2 Ella Hernach, geb. Grössing
328
4.5.3 Johann Grössing jun.
329
4.5.4 Franz Xaver Grössing
330
4.5.5 Josef Grössing
330
4.5.6 Friedrich Grössing
332
4.5.7 Maria Weys, geb. Grössing (Tante Mitzi)
333
4.6 Die Familie Höfinger
335
4.7 Hilde Maier, geb. Ponholzer (meine Oma)
342
4.8 Verharmlosung und Opfermythos
353
5 Resümee
355
6 Anhang: Karl Brunner – Muraus „Retter vor den Russen“
357
7 Quellen
364
8 Abbildungen
366
309
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich all jenen Menschen Dank aussprechen, ohne die vorliegende Arbeit, in dieser Form, nicht möglich gewesen wäre.
Die Zeitzeugen Hilde Maier und Friedrich Höfinger jun. haben mit mir sehr ausführlich
und offen über ihre Erlebnisse gesprochen. Friedrich Höfinger jun. danke ich außerdem
für unsere Familienchronik, aus der ich viele, für diese Arbeit wertvolle, Erkenntnisse
gewinnen konnte.
Der Leiter des Stadtamtes Murau, Herr Mag. Alfred Balzer, hat mir rasch und unbürokratisch Zugang zu den Akten im Gemeindearchiv Murau gewährt. Frau Uli VonbankSchedler und Herr Dr. Werner Koroschitz haben mich mit ihren Hinweisen auf so manche Spur gebracht. Der Bürgermeister der Stolzalpe, Herr Wolfgang Hager, hat mir ein
Exemplar seines bereits vergriffenen Buches „Die Arbeiterbewegung im Bezirk Murau“
kostenlos zur Verfügung gestellt. Herr Prof. Dr. Stefan Karner hat mir einen sehr hilfreichen Tipp zu den Vorgängen rund um die britische Besetzung Muraus gegeben.
Die Professoren Dr. Gerhard Botz und Dr. Peter Dusek haben mich immer wieder angespornt und ließen stets Nachsicht walten, wenn ich als Mutter einer kleinen Tochter
den vorgegebenen Zeitplan nicht immer einhalten konnte.
Mein innigster Dank gilt meinen Großeltern Hilde und Dr. Anton Maier, die mir durch
ihre persönliche und finanzielle Unterstützung dieses Studium erst ermöglicht haben.
Danke, dass ihr immer an mich geglaubt habt!
310
1 Die Quellen
Neben wissenschaftlicher Literatur und Archivquellen waren mir bei dieser Arbeit
unsere Familienchronik sowie der, von meinem Onkel Heimo Taus erstellte, Lebenslauf
meiner Oma Hilde Maier eine große Hilfe. Um derartige Quellen im Rahmen einer
wissenschaftlichen Arbeit nutzen zu können, bedarf es zunächst einer Quellenkritik.
Ich habe mich bemüht, sämtliche Informationen aus diesen beiden Werken mit
anderen Quellen abzugleichen, was mir vielfach auch gelungen ist. Auch auf die, für
diese Arbeit, geführten Interviews mit den Zeitzeugen werde ich in diesem Kapitel
näher eingehen.
1.1 Familienchronik und Lebenslauf von Hilde Maier
Viele Kenntnisse über meine Familie verdanke ich unserer Familienchronik. Die meisten in dieser Arbeit erwähnten Personen konnte ich nie persönlich kennen lernen.
Friedrich Höfinger jun., der Cousin meiner Oma Hilde Maier, erstellte diese Familienchronik im Sommer 2008 und hat sie seinen Geschwistern gewidmet. Im Geleit erwähnt er, dass er es wichtig findet, dass man seine Vorfahren kennt. 707 Alle angegebenen Daten hat Friedrich Höfinger mit vorhandenen Dokumenten wie Geburts-, Heiratsoder Sterbeurkunden abgeglichen. Die Erzählungen und Anekdoten über die Familienmitglieder kennt er teils aus eigener Erfahrung, teils aus Erzählungen anderer Familienmitglieder. Ich sehe diese daher nicht unbedingt als historische Wahrheit an, sondern vielmehr als Erinnerungskultur unserer Familie. Familienchroniken werden in erster Linie dazu erstellt, die Erinnerung an Vorfahren am Leben zu erhalten und diese
Familiengeschichte zukünftigen Generationen zugänglich zu machen. Daher neigen sie
oft dazu, positive Dinge besonders hervorzuheben und negative Dinge unter den Tisch
fallen zu lassen. Obwohl Friedrich Höfinger jun. beim Thema Nationalsozialismus die
Tendenz zeigt, vor allem seinen Vater von aller Schuld reinzuwaschen, muss ich ihm
hoch anrechnen, dass er auch diesen Abschnitt im Leben unserer Familie ausführlich
und weitgehend ehrlich behandelt hat. Er lässt keine Vorkommnisse aus und thematisiert offen die NSDAP-Mitgliedschaft einiger Mitglieder der Familie. Wohl versucht er,
diese zu erklären oder zu entschuldigen.
Das Leben meiner Oma Hilde Maier, geb. Ponholzer, hat Friedrich Höfinger in der Familienchronik nur kurz im Kapitel über ihren Vater Othmar Pernthaler behandelt. Weitere
Aufschlüsse gab mir hier ein Lebenslauf von Hilde Maier, den ihr Sohn Heimo Taus verfasst hat. Heimo Taus hat die Kindheit und Jugend meiner Oma anlässlich ihres 80.
707
Friedrich Höfinger, Familienchronik. Murau 2008, 1.
311
Geburtstags im Jahr 2007 zu Papier gebracht. Er hatte ursprünglich noch einen zweiten Teil geplant, der die restlichen Jahre ihres Lebens darstellen sollte. Aus Zeitgründen hat er diesen aber noch nicht geschrieben. Der Lebenslauf basiert hauptsächlich
auf Erinnerungen, die Hilde Maier ihrem Sohn selbst erzählt hat. Da ihr Gedächtnis
mittlerweile altersbedingt etwas getrübt ist, umfasst er auch Episoden, an die sie sich
heute nur noch auf Nachfrage mühsam erinnert. Ihrem Sohn hat sie allerdings schon
seit seiner Kindheit Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt, damals waren die Erinnerungen natürlich noch viel frischer. Daher war mir dieser Lebenslauf eine große Hilfe,
etwaige Lücken in ihren Erzählungen aufzufüllen. Die Zeit des Nationalsozialismus hat
mein Onkel allerdings so gut wie ausgespart. Erst mitten im Text erscheint anlässlich
des „Pflichtjahres“ meiner Oma plötzlich das Jahr 1941. Heimo Taus folgt hier der Taktik, diese Zeit so gut wie möglich auszusparen. Diese Vorgangsweise ist in lokalen geschichtlichen Abrissen sehr häufig zu finden.
1.2 Die Interviews
Ich habe für diese Arbeit insgesamt drei Interviews geführt, wobei ursprünglich mehr
geplant waren. Leider bin ich mit meinem Wunsch, diesen Teil der Geschichte unserer
Familie aufzuarbeiten, teils gegen verschlossene Türen gerannt. Mein besonderer Dank
gilt meiner Oma Hilde Maier sowie ihrem Cousin Friedrich Höfinger jun., welche beide
sofort meinem Ansinnen nach einem Interview nachgekommen sind und sehr ausführlich mit mir gesprochen haben. Auch die Nutzung eines Aufnahmegerätes stellte hierbei kein Problem dar.
Während des Interviews mit meiner Oma taten sich jedoch auch einige Schwierigkeiten auf. Meine Oma war eigentlich die einzige Person aus meiner Familie, die schon
immer offen mit mir über dieses Thema gesprochen hat. Da wir im Vorfeld bereits viele Stunden diskutiert haben, kannte sie natürlich, sowohl meine Einstellung, als auch
die Tatsache, dass ich im Rahmen meines Studiums, und auch aus eigenem Interesse
heraus, schon einige Kenntnisse über jene Zeit habe. Dementsprechend vorsichtig waren daher oft ihre Antworten und sie fragte immer wieder nach, ob ich dieses oder je nes schon wüsste. Aus dieser Vorsicht heraus hat sie wohl oft nicht so offen gesprochen, wie sie es bei einem anderen Interviewer vielleicht getan hätte. Da wir schon
vor dem Interview so viel über dieses Thema gesprochen haben, werde ich in diese
Arbeit auch einige dieser früheren Gespräche einfließen lassen. Ein weiteres Problem
war, dass das Gedächtnis meiner Oma altersbedingt schon etwas nachlässt. Dies betrifft aber vor allem das Kurzzeitgedächtnis, an die weiter zurückliegende Vergangenheit hat sie noch relativ klare Erinnerungen. Trotzdem ist mir aufgefallen, dass ich bei
312
manchen Themen, von denen sie mir vorher schon einmal erzählt hat, der Erinnerung
auf die Sprünge helfen musste. Mein persönlicher Eindruck war aber, dass dies
hauptsächlich jene Themen betraf, über die zu sprechen ihr unangenehm war.
Das Interview mit Friedrich Höfinger jun. fand unter ganz anderen Voraussetzungen
statt. Erst im Zuge dieses Interviews habe ich diesen Verwandten überhaupt kennen
gelernt. Er wusste wohl, dass ich Geschichte studiere, wusste aber nichts über meine
Vorkenntnisse auf diesem Gebiet. Hier ist es mir also viel besser gelungen, möglichst
ahnungslos zu wirken und ihn einfach erzählen zu lassen. Friedrich Höfinger jun. war
Hauptschullehrer und zuletzt Direktor der Hauptschule Murau. Ein durchaus gebildeter
Mann also, der sich selbst als geschichtlich interessierten Menschen bezeichnet.
Die größten Schwierigkeiten bereitete mir das Interview mit Maria Weys, der Tante
meiner Oma, genannt „Tante Mitzi“. In der Familie war stets bekannt, dass sie immer
noch dem Nationalsozialismus zugetan ist und sogar den Führergeburtstag bis heute
feiert. Meine Oma zitierte immer wieder ihren Satz: „Der Hitler war ja so gut, nur den
Krieg hätte er nicht anfangen sollen.“ Den millionenfachen Mord an den Juden kommentierte sie laut meiner Oma damit, dass das ja auch eine andere Rasse waren. Ich
persönlich kam nie in die Situation, mit ihr solche Themen zu besprechen. Mit Kindern
redet man darüber ja sowieso nicht, als Jugendliche habe ich mich genau wegen die ser Einstellung von ihr komplett zurückgezogen und seit ich mich wieder versöhnlicher
zeigte, hatte ich mich der Taktik der Familie angepasst, die lautete: ignorieren – man
kann sie sowieso nicht
umstimmen; sofort das Thema wechseln; nie von sich aus das Thema ansprechen. Inzwischen war auch ihre Lust, darüber zu reden, schon ziemlich vergangen. Die Familie
hatte ihr nämlich immer wieder zu verstehen gegeben, dass niemand ihre Einstellung
teilt und keiner ihre Lobeshymnen auf den Nationalsozialismus hören wollte. Nur meiner Oma vertraute sie sich noch hie und da an und auch das hatte immer wieder zu
Streitgesprächen geführt.
Dementsprechend negativ waren auch die Reaktionen in der Familie, als ich nun ausführlich mit ihr „darüber“ sprechen und „alles wieder aufrühren“ wollte. Dazu kam,
dass Maria Weys mittlerweile 91 Jahre alt und nicht mehr sehr guter Gesundheit ist,
was sich u.a. auch an starken Gedächtnisproblemen äußert. Lange musste ich daher
um das begehrte Interview betteln, von dem ich mir den spannenden Einblick in die
Seele einer überzeugten Nationalsozialistin versprach. Bevor ich die Tante mit der Bitte um ein Interview anrief, hat mich meine Oma darauf eingestimmt, was ich sagen
sollte und was nicht. Ich dürfe auf keinen Fall sagen, dass ich mit ihr über die Zeit des
Nationalsozialismus reden wolle, sondern über die „Kriegszeit“. Ich habe mich lange
darauf vorbereitet, wollte ihr sagen, dass ihre Anonymität gewahrt wird. All den Vor-
313
bereitungen zum Trotz hat Tante Mitzi mein Ansinnen sofort mit den Worten „darüber
weiß ich nichts“ abgelehnt. Nach langem Bitten und erklären, dass sie mir lediglich
über ihre persönlichen Erfahrungen erzählen soll, hat sie mich vertröstet. Ich soll te
mich noch einmal melden, wenn es ihr gesundheitlich besser geht. Monatelang musste
ich um dieses Interview betteln und nachdem ich schon fast aufgegeben hatte, war es
Mitte September 2013 dann endlich soweit. Ich hatte einen Termin, ich durfte nach
Graz fahren und die Tante erwartete mich. Freudig machte ich mich auf mit der
Erwartung, in meiner bereits jahrelangen Forschung über die „kleinen Nazis“ ein
großes Stück weiter zu kommen. Dementsprechend enttäuschend war das Interview
dann für mich. Nachdem ich stundenlang warten musste, bis sie sich für das Interview
bereit fühlte, stellte sie von Anfang an klar, dass eine Tonbandaufnahme für sie nicht
infrage kam. Dann erzählte sie mir einige Belanglosigkeiten und Episoden von Familienmitgliedern, gefolgt von ständigen Seufzern, dass es eine so schlimme Zeit war. Harald Welzer nennt diese Form der Erzählung
„Sätze, die nicht als Erinnerung sondern als Überzeugungen definiert werden.
Sätze wie […] ‚es war eine schlimme Zeit‘“.708
Nach ca. 10 Minuten erklärte sie mir, dass ihr nicht mehr einfällt und auf all meine
vorsichtigen Fragen meinte sie nur, dass sie darüber nichts wisse.
Außerdem wollte ich noch Hertha Ölknecht interviewen. Sie ist die zweite Tochter von
Othmar Pernthaler, meinem Urgroßvater und vier Jahre jünger als meine Oma. Ich
hätte mir mehr Informationen über Othmar Pernthaler erhofft, da seine Rolle nach
dem Anschluss sehr lückenhaft ist. Mit seinem Tod im Lazarett wurde er in der Familie
zu einem der vielen Opfer von „Hitlers Krieg“ stilisiert und seine nationalsozialistischen
Aktivitäten gerieten in den Hintergrund. Mehr als die Tatsache, dass er illegaler Nazi
war und schließlich nach Polen einberufen wurde, konnte mir keiner erzählen. Hertha
Ölknecht hat das Interview aber leider strikt verweigert, mit der Begründung, dass sie
damals noch ein Kind war und daher dazu nichts sagen könne.
2 Murau – Dreh- und Angelpunkt meiner Familie
Der Großteil der Geschehnisse, über die ich in dieser Arbeit schreibe, spielten sich im
Bezirk Murau ab. Teilweise jedoch auch im Bezirk Judenburg, da meine Oma auch einige Jahre dort gelebt hat. Zum Bezirk Judenburg hatten wir nie eine besondere Verbindung, wohingegen Murau mit den Jahren zur Heimat meiner Familie wurde. Obwohl einige Familienmitglieder im Laufe der Zeit weggezogen sind, und manche gar nicht dort
Harald Welzer, „Opa war kein Nazi“ Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main, 8.
Aufl. 2012, 136.
708
314
geboren wurden, kommen alle doch immer wieder nach Murau zurück. Dies wird in
den Lebensgeschichten der Protagonisten noch ausführlich beschrieben. Auch ich habe
die ersten Tage meines Lebens in Murau verbracht, obwohl meine Mutter damals in
Graz und meine Großeltern in Mürzzuschlag wohnten. Trotzdem war es in der Familie
klar, dass meine Mutter zur Geburt nach Murau kommen sollte.
2.1 Zahlen und Fakten zum Bezirk Murau
Ich wurde in Judenburg geboren, weil der Bezirk Murau bis heute kein Krankenhaus
mit einer Geburtenstation hat. Das zeigt auch schon, dass die Infrastruktur in Murau
immer noch mangelhaft ausgebaut ist. Der Bezirk Murau liegt eher abgelegen im Westen der Steiermark an der sogenannten Mur-Mürz-Furche, nahe Kärnten im Süden und
im Westen liegt nur 22km entfernt der Salzburger Lungau. Der Bezirk ist ungewöhnlich dünn besiedelt, was vor allem daran liegen dürfte, dass er sehr viel unbewohnbares oder nur spärlich besiedeltes Bergland aufweist. Der Bezirk besteht aus vielen kleinen Orten, die zersplittert im umliegenden Bergland liegen. Nach Bad Radkersburg ist
Murau die zweitkleinste Bezirkshauptstadt der Steiermark. Im Gegensatz zu den
obersteirischen Industrieorten wie Judenburg und Knittelfeld, ist der Bezirk Murau fast
ausschließlich agrarisch geprägt und verfügt über keinerlei Industrie. Hauptwirtschaftszweige waren seit jeher die Landwirtschaft, in Form kleiner, in den umliegenden
Bergen verstreuter Bauernhöfe, sowie die Forstwirtschaft. Einen Namen über die Grenzen der Steiermark hinaus hat sich in erster Linie die Murauer Brauerei gemacht, immer noch einer der größten Arbeitgeber des Bezirkes. Murau war und ist von einer
starken Abwanderung betroffen, vor allem die besser ausgebildete Jugend zieht es in
die Städte. Zur mangelhaften Infrastruktur kommt eine schlechte Verkehrsanbindung.
Der nächste Autobahnanschluss liegt bei Judenburg und die einzige Verbindung zur
Bahn ist die 1894 eröffnete Murtalbahn, die bis zum Bahnhof Unzmarkt fährt und im
Personenverkehr nur im Zweistundentakt verkehrt.
Die Murauer Gesellschaft lebte also stets relativ abgeschieden und unter sich, quasi in
ihrer eigenen kleinen heilen Welt, mit grünen Wiesen, blauem Himmel und hohen Bergen. Ich habe mich hier immer wohl gefühlt, die Gastfreundschaft der Murauer gelobt,
die mich stets sehr freundlich empfangen haben, auch ohne Hinweis auf meinen familiären Hintergrund. Erst mit der Zeit begann ich, diese Gastfreundschaft zu hinterfragen. Immer wieder habe ich fremdenfeindliche Bemerkungen vernommen. Ich wurde
einige Male gefragt, wie ich es in Wien denn aushalten könne, dort seien ja so viele
Ausländer. Ich begann mich zu fragen, ob ich auch so freundlich aufgenommen würde,
wenn ich anders wäre, z.B. dunkelhäutig. Folgendes Zitat beschreibt dieses Dilemma
315
zwischen freundlicher Harmonie auf der einen und Ressentiments auf der anderen
Seite:
„Denn jeder, der sich der Regionalgeschichte zuwendet, muss damit rechnen,
dass dahinter oft die Sehnsucht nach Harmonie, Geborgenheit und Überschaubarkeit steht. Harmonische Gesellschaften aber sind statische Gesellschaften;
sie stehen angeblich in Gegensatz zur bewegten, konfliktbeladenen Außenwelt,
verteidigen ihre geordneten Innenbeziehungen. In Wahrheit bedeutet dies, dass
die soziale Durchlässigkeit gering ist, dass Fremdes ausgegrenzt, abweichendes
Verhalten stigmatisiert wird.“709
2.2 Nationalsozialismus in Murau
Regionalgeschichte birgt gewisse Schwierigkeiten, vor allem bei einem Thema wie dem
Nationalsozialismus. In Murau stand in jener Zeit kein Konzentrationslager, es gab keine öffentlichen Hinrichtungen, kein Jude ist direkt in Murau ermordet worden. Trotzdem passierte die Verfolgung und Entrechtung jener Menschen, die vom Regime zu
„Feinden“ erklärt wurden, vor aller Augen.
2.2.1 Vorgeschichte
Der Vorläufer der NSDAP, die Deutsche Arbeiterpartei (DAP), hatte bereits in der Monarchie ihren Schwerpunkt, neben den deutschsprachigen Gebieten in Böhmen und
Mähren, in der Steiermark; und zwar in Graz und einigen obersteirischen Gebieten.
Während die DAP bei den Reichstagswahlen 1911 insgesamt nur 0,54% erreichen
konnte, kam sie im Bezirk Murau auf erstaunliche 26,8% der Stimmen. Stärkste Partei
im rechten Lager wurden allerdings die Deutschfreiheitlichen, die insgesamt doppelt so
viele Stimmen wie die DAP erreichten. In der Obersteiermark stimmte etwa ein Viertel
der Wähler für eine der beiden deutschnationalen Parteien. Murau, Liezen und Gröbming waren die steirischen Bezirke mit der stärksten NS-Affinität. 710 Bei den Gemeinderatswahlen 1925 kamen in Murau erstmals Nationalsozialisten in den Gemeinderat
und erreichten zwei von 14 Mandaten.711
Auch der Antisemitismus war in Murau bereits in den 1920er Jahren stark verbreitet.
1925 fasste der Gemeinderat einen Beschluss, Juden künftig die Sommerfrische in Murau zu verwehren.712 Dies war der übliche Gang der Dinge: zuerst waren die jüdischen
Helmut Konrad, Regionalgeschichte, in: Sirikit M. Amann, Elisabeth Morawek, Veronika Ratzenböck (Hg.), Die zwei
Wahrheiten. Eine Dokumentation von Projekten an Schulen zur Zeitgeschichte im Jahr 1988, Wien 1989, 117-135, hier
118.
710
Kurt Bauer, „Steiermark ist einmal gründlich verseucht…“ Regionale Unterschiede bei der Affinität zum
Nationalsozialismus in der Phase des Durchbruchs zur Massenbewegung. Mögliche Ursachen und Erklärungsansätze,
in: Österreich in Geschichte und Literatur, 43. Jahrgang, Heft 5-6 1999, 295-316, hier 305.
711
Wolfgang Wieland, Murau. Eine Stadt stellt ihre Geschichte vor, Band 2: Von 1850 bis zur Gegenwart, Murau 1998,
67f.
712
StLA, Murau Stadt, Gemeinde-Sitzungsprotokolle 1923-1936, H 4779. Gemeinderat-Sitzungsprotokoll, Murau, 29. 5.
1925.
709
316
Bürger Muraus noch in die Gesellschaft integriert. Man wetterte zwar gegen „die
Juden“, meinte damit aber meist noch nicht seine eigenen Bekannten, sondern „den
Juden“ als anonymes Feindbild. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme
sollte sich dieses Feindbild aber sehr schnell auf bisherige Nachbarn und sogar
Freunde ausweiten.
2.2.2 Die jüdischen Bürger Muraus
Bis 1938 lebten in Murau zwei jüdische Familien; die Familie Humburger hatte einen
Gemischtwarenhandel und ein Sägewerk. Die Familie Reitmann-Fuchs hatte eine Eisenwarenhandlung und eine Installationswerkstatt. Außerdem lebte in Murau die zum
katholischen Glauben übergetretene „Jüdin“ Franziska Huwer, die mit einem „arischen“
Murauer verheiratet war. Die Eheleute Huwer waren nach dem „Anschluss“ bereits beide über 60 Jahre alt. Gleich nach dem „Anschluss“ begann die Entrechtung und Enteignung der Murauer Bürger mit jüdischer Herkunft. Da sie in einer sogenannten „privilegierten Mischehe“ lebte, also mit einem „Arier“ verheiratet war, durfte Franziska
Huwer in Murau bleiben. Das Ehepaar musste aber im Rahmen der „Zwangsentjudung
der Liegenschaft“ ihr Haus weit unter Wert an ein „arisches“ Ehepaar verkaufen. 713 Die
Brüder Reitmann wanderten mit ihren Familien nach Montevideo aus. 714 Der 81-jährige
verwitwete Julius Fuchs dürfte wohl aufgrund seines Alters in der „Ostmark“ geblieben
sein. Die genauen Umstände seines Todes sind nicht bekannt. Das Ehepaar Humburger konnte den 15-jährigen Sohn Ernst mit einem Kindertransport nach England schicken, bevor die beiden in Murau verhaftet wurden. Nach der Entlassung aus der Haft
floh das Ehepaar nach Jugoslawien. 715 Jugoslawien war damals ein beliebter Zufluchtsort für steirische „Juden“. An der Grenze hatte sich eine regelrechte Schlepperszene
gebildet. Meist „arische“ Schlepper brachten die „Juden“ gegen Bezahlung über die
Grenze.716 Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen am 6. 4. 1941 begann die Verfolgung auch dort auf Hochtouren zu laufen. Adolf Humburger wurde vermutlich am 4.
8. 1941 in ein Konzentrationslager in Daruvar deportiert und ist dort gestorben. 717 Das
letzte Lebenszeichen von seinen Eltern war ein 1942 über das internationale Rote
Kreuz an Ernst Humburger übermittelter Brief von Malvine Humburger.718
1948 kam Elsa Blau, die Schwester von Malvine Humburger, nach Murau. Sie hatte
StLA, Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung LG 2295 (Huwer).
StLA, Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung HG 01211 (Fuchs).
715
Wolfgang Hager, Gerhard Weilharter, „Wir haben die Zeit erlebt!“ Die Arbeiterbewegung im Bezirk Murau 1918-1938,
Zeitzeugen berichten, Stolzalpe 1998, 45-49.
716
Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938-1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und
kulturellen Entwicklung, 3. Aufl. Graz 1994, 171.
717
URL: http://www.lettertothestars.at
718
Hager/Weilharter, Die Arbeiterbewegung im Bezirk Murau, 49.
713
714
317
den Holocaust überlebt, ihr Mann war aber im Vernichtungslager Treblinka ermordet
worden. Sie hatten gemeinsam in Villach ein Textilgeschäft geführt, weshalb sie zuerst
nach Villach ging.719 Da Ernst Humburger zu jener Zeit in London studierte, kämpfte
sie vor Ort für die Rückstellung des Humburger-Vermögens. Dieser Kampf sollte sich
als sehr schwierig erweisen. Nach der Flucht des Ehepaares Humburger waren in ihrem Haus Gliederungen der NSDAP, unter anderem auch die Kreisleitung, untergebracht. Im Zuge dessen wurden umfangreiche Umbauarbeiten vorgenommen. Elsa
Blau forderte von der Gemeinde Murau die Wiederherstellung in den vorherigen Zustand. Sie erhielt einen ablehnenden Bescheid, in dem ihr die Stadtgemeinde mitteilte,
dass
„[…] die Gemeinden nicht Rechtsnachfolger der Gemeinden während der NSZeit [sind], sondern das Deutsche Reich.“
Es stehe ihr aber frei, gegen den ehemaligen Bürgermeister Ersatzansprüche zu stellen. Außerdem hätte das Gebäude durch die Umbaumaßnahmen nur an Wert gewonnen.720 In drastischem Gegensatz dazu steht die Wahrnehmung der Bevölkerung. Meine Oma betonte im Interview mehrmals, dass die Juden alles wieder genau so bekommen mussten, wie es vorher war. Die Gebäude wären wieder hergerichtet und einge richtet worden, wie sie vorher waren. Auf meine ungläubigen Nachfragen, wieso sie
das denke, antwortete sie, das sei Gesetz gewesen, weil „[…] den Krieg haben wir ja
verloren.“ Als Bekräftigung dieser Sichtweise nennt sie als weiteres Beispiel das Kaufhaus Benedek in Fohnsdorf. Auch dort wäre alles wieder so hergerichtet worden, wie
es vorher war.721
Die Familie Benedek führte viele Jahre lang ein Kaufhaus in Fohnsdorf. Nach dem „Anschluss“ 1938 wurde das Gebäude „arisiert“, das Kaufhaus „liquidiert“. Auch dort wurden Verwaltungsstellen der NSDAP, unter anderem die Kreisleitung, eingerichtet. Die
Familie Benedek floh nach New York. Nach 1945 wurde das Gebäude verlassen, nie mand kümmerte sich mehr um die Instandhaltung. 1946 wurden Rückstellungsmaßnahmen eingeleitet, 1948 kehrte die Familie zurück. Sie bekamen lediglich das mittlerweile ziemlich verfallene Gebäude zurück. Entschädigung für die Umbaumaßnahmen,
die entwendete Einrichtung und die abverkauften Waren erhielten sie keine. Für Einrichtung und Renovierung musste die Familie einen Kredit aufnehmen, damit sie das
Kaufhaus wieder eröffnen konnte. 722 Die Bevölkerung sah aber nur das neu renovierte,
wiedereröffnete Kaufhaus und war überzeugt, dass dies alles im Rahmen von Rück Helga Embacher, Michael John, Remigranten in der österreichischen Wirtschaft nach 1945. Wiederaufbau und
Wirtschaftswunder am Beispiel der Provinz, in: Österreichisch-jüdisches Geistes- und Kulturleben, Band 4, Wien 1992,
5-82, hier 62.
720
StLA, Murau Stadt 4624, Stellungnahme des Bürgermeisters der Stadt Murau an Rechtsanwalt August Bichler,
Murau, 3. 2. 1948.
721
Interview mit Hildegard Maier am 3. 4. 2013.
722
Embacher/John, Remigranten, 56-58.
719
318
stellungsmaßnahmen geschehen war.
Elsa Blau lebte in Murau sehr isoliert, niemand wollte etwas mir ihr zu tun haben. Mei ne Oma erzählte, dass die Leute Angst vor ihr hatten, weil sie einen bösen Gesichts ausdruck hatte. Herr Trojak, der Chef meiner Oma bei der Handelskammer, soll sogar
gesagt haben, Frau Blau habe „den typischen jüdischen Blick.“ Es kursierten sogar
Witze in Murau, dass Frau Blau nicht verheiratet war und keinen Mann finden würde. 723
Niemand machte sich die Mühe herauszufinden, dass ihr Mann in einem Vernichtungslager ermordet worden war. Auch für das Schicksal des Ehepaares Humburger interessierte sich offenkundig kaum jemand in Murau. Es wurde erzählt, dass das Ehepaar
Humburger ausgewandert wäre.724 Damit hatte es sich erledigt, mehr wollte man nicht
wissen. Elsa Blau verstarb 1950 in Murau.725
2.2.3 Die Familie Schwarzenberg
Die Familie Schwarzenberg, in deren Eigentum sich das Schloss Murau und viele
Hektar Wald- und Grundbesitz befanden, war in Murau bis zum „Anschluss“ 1938 sehr
angesehen. Nachdem aber vor allem das Familienoberhaupt Adolph Schwarzenberg
durch Handlungen gegen das nationalsozialistische Regime aufgefallen ist, wurde die
Familie verfolgt. Zu Kriegsbeginn 1939 hatte die Gestapo die Verhaftung von Adolph
Schwarzenberg angeordnet, er konnte aber noch rechtzeitig nach Italien fliehen. 726 Die
umfangreichen Besitztümer der Schwarzenbergs in Österreich und der Tschechoslowakei wurden vom Regime enteignet. Das Schloss Murau wurde danach von einigen NSOrganisationen genutzt.727
2.2.4 Zwangsarbeiter
Auch in Murau wurden, wie im gesamten Deutschen Reich, zahlreiche sogenannte
„Ostarbeiter“ eingesetzt. Diese waren hauptsächlich Kriegsgefangene und, aus den besetzten Gebieten, verschleppte Menschen. Manche hatten sich aber auch freiwillig zum
Arbeitseinsatz im Deutschen Reich gemeldet. Meine Oma erinnert sich an Polen, die in
der Brauerei beschäftigt waren, an Russen, die bei Bauern arbeiten mussten und an
einen französischen Kriegsgefangenen, der in ihrer Nähe in Murau wohnte. Der Franzose hatte ihren Erinnerungen zufolge eine eigene kleine Wohnung zur Verfügung und
durfte sich in Murau frei bewegen. Wesentlich stärkerer Bewachung unterlagen Polen,
723
724
725
726
727
Interview Maier.
Interview mit Friedrich Höfinger jun. am 7. 1. 2013 in Murau.
Meldezettel von Elsa Blau, Gemeindearchiv Murau.
http://restitution.cz/de/historie/exil-a-zabaveni-majetku-nacisty
Wieland, Murau, 275.
319
am stärksten überwacht wurden Russen. Erstaunlich ist, dass meine Oma den
Zwangsarbeitereinsatz nicht besonders ungewöhnlich oder verwerflich findet. Sie erklärte mir, dass die Bauern froh waren, „Weißt eh, was ein Knecht gekostet hat“. Auf
meine Nachfrage, ob die Bauern dafür keinen Lohn zahlen mussten, meinte sie nur
„Gefangene Russen, was willst du“. Sie erzählte mir auch von einigen russischen
Kriegsgefangenen, die in Murau in einem Keller eingesperrt waren. Diesen gab sie Brot
durch die Gitterstäbe. Aber auch deren Hunger und Notsituation schwächt sie gleich
wieder ab:
„Sie haben eh zu essen bekommen, aber sie hatten halt eine Freude, wenn man
ihnen was gibt“.728
Zu Kriegsende kam es in Murau zu einem Verbrechen an Zwangsarbeitern. Sechs Menschen, darunter ein zweijähriges Kind, wurden erschossen. Am Murauer Friedhof gibt
es daher bis heute ein sogenanntes „Russengrab“, in dem die Ermordeten nach
Kriegsende begraben wurden. Da sich unter den Opfern, aller Wahrscheinlichkeit nach,
auch ein französischer Kriegsgefangener befand, fand im November 1947 eine Ver handlung vor dem französischen Militärgericht in Innsbruck statt. Drei Murauer wurden
wegen der Ermordung von Zwangsarbeitern zu Gefängnisstrafen und Zwangsarbeit
zwischen vier und fünfzehn Jahren verurteilt.729
2.2.5 Der Kreisleiter Franz Amberger
Nach dem Anschluss wurde Franz Amberger Kreisleiter von Murau. Im Jahr 1910 geboren galt er als der „jüngste Kreisleiter des Großdeutschen Reiches“. 730 Amberger war
bereits am 16. 9. 1930 der NSDAP beigetreten und erhielt die Mitgliedsnummer
198.632.731 Bereits in der illegalen Zeit brachte er es zum SA-Standartenführer. Wegen
seiner NS-Betätigung wurde er strafweise einer sogenannten „Putzschar“ zugeteilt. 732
Hierfür wurden ortsbekannte Nationalsozialisten herangezogen, die Hakenkreuzschmierereien und Ähnliches beseitigen mussten. Schließlich wurde er im Ständestaat
zu über einem Jahr schweren Kerker verurteilt. Aus diesem Grund erhielt er vom NSRegime 1941 den sogenannten „Blutorden“. 733 Am 13. 5. 1945 wurde Amberger zunächst im Lager Wolfsberg interniert. Am 7. 12. 1946 wurde er in die französische
Zone überstellt und kam dort in Untersuchungshaft. Auch er wurde wegen der Ermordung von Zwangsarbeitern zu Kriegsende in Murau angeklagt. 734 Da ihm keine Mit728
729
730
731
732
733
734
Interview Maier.
Tiroler Nachrichten vom 3. 10. 1947 und vom 15. 12. 1947, Österreichische Nationalbibliothek, Wien.
Wieland, Murau, 271.
NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle A022, Nr. 1910.
Wieland, Murau, 269.
ÖSTA/AdR, Gauakten 1938-1945, 300.575, Personal-Fragebogen der NSDAP, Franz Amberger.
ÖSTA/AdR, Gauakten 1938-1945, 300.575, Einträge in der Lagerkartei Wolfsberg.
320
schuld nachgewiesen werden konnte, wurde er freigesprochen.735
Er wurde direkt nach Graz in Untersuchungshaft überstellt und vom Volksgericht Leoben wegen § 1 Abs. 6 KVG736 und § 11 VG737 zu acht Jahren und wegen § 4 KVG 738 zu
weiteren vier Jahren schweren Kerker verurteilt739. Die Verurteilung wegen § 4 KVG erfolgte, weil eine Apothekerin aus St. Lamprecht Anzeige wegen „Herabwürdigung ihrer
Frauenehre“ gegen ihn eingebracht hatte. Amberger soll sie im Februar 1940 beschuldigt haben, ihrer Bedienerin die Teilnahme an einer örtlichen NS-Veranstaltung untersagt zu haben. Daraufhin hängte er ihr eine Tafel mit der Aufschrift „Ich bin ein
Schwein“ um und ließ sie so von SA-Männern durch den Ort treiben. Da sogar Fotos
von Frau Hutter mit der Tafel gemacht wurden, erschien dem Gericht der Vorwurf
glaubhaft.740 Nachdem er unter Anrechnung der Internierungszeit in Wolfsberg, sowie
der Untersuchungshaft, vier Jahre verbüßt hatte, stellte Amberger ein Gnadengesuch
an den Bundespräsidenten. Darin rühmte er sich zahlreicher Hilfsmaßnahmen für Verfolgte und behauptete sogar, die Stelle als Kreisleiter nur angenommen zu haben, um
vom NS-Regime Verfolgten helfen zu können. Er legt eine Liste mit den Namen von 24
„Antifaschisten“ bei, welche „bereits listenmäßig erfasst in das Konzentrationslager
nach Dachau kommen sollten“. Es sei ausschließlich Amberger zu verdanken, dass ihnen dieses Schicksal erspart blieb. In der Anlage finden sich insgesamt 56 Fürspra chen für Amberger. Neben dem späteren ÖVP-Nationalrat Karl Brunner (siehe Anhang)
haben sich die Stadtgemeinde Murau, einige Ministerialräte, der Dekan Josef Vögl, alle
politischen Gemeinden des Bezirkes Murau sowie viele andere für Amberger eingesetzt.741 Das Gnadengesuch tat seine Wirkung. Am 8. 2. 1950 wurde Amberger aus
der Haft entlassen und kehrte zurück nach Murau. 742 Bald danach fand er eine Anstellung bei der Handelskammer Murau, wo er bis zu seinem Tod beschäftigt war.743
Tiroler Nachrichten vom 15. 12. 1947, Österreichische Nationalbibliothek, Wien.
Kriegsverbrechergesetz, § 1 Abs 6: „Kriegsverbrecher […] sind auch diejenigen Personen, die während der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Österreich, […] als Mitglieder der Reichsregierung, Hoheitsträger der NSDAP
vom Kreisleiter oder Gleichgestellten aufwärts, […] tätig waren.“ Zu finden unter URL: http://www.nachkriegsjustiz.at
737
Verbotsgesetz, § 11 Abs. 1: „Ist eine der im § 10 Abs. 1 genannten Personen politischer Leiter vom
Ortsgruppenleiter oder Gleichgestellten aufwärts gewesen […] oder ist sie Blutordensträger […] gewesen, so wird sie
mit Freiheitsstrafe von 10 bis zu 20 Jahren bestraft, wenn die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung strenger
strafbar ist.“ Zu finden unter URL: http://www.ris.bka.gv.at
738
Kriegsverbrechergesetz, § 4: Verletzung der Menschlichkeit und der Menschenwürde aus politischer Gehässigkeit
oder unter Ausnützung dienstlicher oder sonstiger Gewalt. Zu finden unter URL: http://www.nachkriegsjustiz.at
739
StLA, Landesgericht für Strafsachen Graz, Vr. 1021-1949 (Amberger), Gnadengesuch von Franz Amberger an den
Bundespräsidenten der Republik Österreich, 25. 7. 1949.
740
StLA, Landesgericht für Strafsachen Graz, Vr. 1021-1929 (Amberger), Urteilsbegründung des Volksgerichtes Graz,
Senat Leoben.
741
StLA, Landesgericht für Strafsachen Graz, Vr. 1021-1949 (Amberger), Gnadengesuch von Franz Amberger an den
Bundespräsidenten der Republik Österreich, 25. 7. 1949.
742
Meldezettel von Franz Amberger, Gemeindearchiv Murau.
743
Interview Maier.
735
736
321
2.3 Erinnerungen und Schicksalsgemeinschaft
Der Tenor, in allen Fürsprachen für Amberger, war jener, dass dieser ein guter Mensch
war, seine Position als Kreisleiter niemals ausgenutzt hätte und eigentlich nur Kreisleiter wurde, um Verfolgte vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu schützen. Nach
dem Krieg wurde die Schuld, an den in der NS-Zeit verübten Verbrechen, alleine Hitler,
den Deutschen und einigen führenden Nationalsozialisten zugeschrieben. Der Großteil
der Bevölkerung versteifte sich auf die Behauptung, von all dem nichts gewusst zu haben. Dies war ein weit verbreiteter Vorgang in den ländlichen Gemeinschaften des
ehemaligen Dritten Reichs. Malte Thießen schreibt, dass sich kommunale Gesellschaften schon bald als „friedliche Inseln im braunen Meer“ definierten. So befindet Hartmut Berghoff:
„Lokale Nationalsozialisten gab es anscheinend nicht. Amtsträger haben dagegen beherzt ‚Schlimmeres‘ verhindert.“
Dieser Vorgang sei wichtig für die „lokale Identitätsbildung“ gewesen. 744 Sogar Ernst
Humburger, der einzige der Familie Humburger, der den Holocaust überlebt hat, propagiert die Legende von den guten Murauern und den bösen Nazis von auswärts. Er
erzählte, dass sich die Murauer seinem Vater gegenüber sehr korrekt benahmen. „Die
Scharfmacher von den Nazis kamen von auswärts!“ 745 Die Augen so zu verschließen
war wohl die einzige Möglichkeit für Ernst Humburger, weiterhin in der Murauer Gesellschaft zu verkehren. Er lebte nach dem Krieg zwar in Kanada, kam aber regelmäßig zu
Besuch nach Murau. Das Haus seiner Eltern, das sich nach einem langen und mühsamen Rückstellungsprozess wieder in seinem Besitz befand, vermietete er sogar an den
ehemaligen Kreisleiter Amberger, mit dem er gemeinsam die Schule besucht hatte.
Die Frau von Amberger eröffnete im ehemaligen Geschäft von Malvine Humburger
einen Modesalon.746
Dass Franz Amberger die Position als Kreisleiter nur angenommen hat, um Verfolgte
zu schützen, ist zweifelhaft. Er denunzierte z.B. den Kaplan Lettmayer aus Murau, weil
dieser
„[…] eine politisch vollkommen unzuverlässige, ja sogar gefährliche Figur [sei],
die durch geheime Machenschaften die Bevölkerung gegen das nationalsozialistische Regime aufzuhetzen versucht und das mit solcher Schlauheit tut, dass
man ihm nicht beikommen kann. [Lettmayer ist] schon längst Gestapo-reif, weil
er sich auf seinen zahlreichen Fahrten durch das Kreisgebiet bestimmt nicht nur
seelsorgerisch, sondern vor allem politisch und propagandistisch gegen die
Zitiert bei Malte Thießen: Schöne Zeiten? Erinnerungen an die „Volksgemeinschaft“ nach 1945, in: Frank Bajohr,
Michael Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main
2009, 165-231, hier 171.
745
Ernst Humburger zitiert bei Hager, Weilharter, Zeit, 49.
746
Ebd. 45.
744
322
NSDAP betätigt.“747
Ob ein Mann, dessen größtes Anliegen es ist, Verfolgte vor den Nationalsozialisten zu
schützen, solche Worte schreibt, darf wohl bezweifelt werden.
Alle Schuld an den Verbrechen auf die NS-Führung zu schieben war auch in Deutschland ganz normaler Alltag nach dem Krieg. Sönke Neitzel erklärt in der Dokumentation
„Davon haben wir nichts gewusst“, wie sich die Deutschen schon in der Endphase darauf vorbereitet haben, die Mitschuld an den Verbrechen abzuwenden:
„Je länger der Krieg dauert desto mehr erkennen die Deutschen natürlich, dass
der Krieg möglicherweise auch verloren gehen kann. Das führt aber gleichzeitig
dazu, dass man sich als Individuum auch auf eine Niederlage vorbereitet und
das führt dann dazu, dass man selber nicht schuld sein will und sich selber aus
der Verantwortung herauszieht und ein Interpretationsschema schafft, das ganz
scharf nach gut und böse unterscheidet. Böse ist die NS-Führung, böse ist Hitler, böse ist Goebbels und die NS-Entourage, die haben auch die Verbrechen begangen und wir, wir konnten nichts dafür, wir haben auch nichts davon gewusst.
Wir sind eigentlich eher Opfer dieses Regimes, wir sind Opfer des Krieges aber
wir sind auf keinen Fall dafür verantwortlich, was dieses Regime angerichtet
hat.“748
Nach dem Krieg positionierten sich die Täter als Opfer. Dies fängt bei den Haupttätern
an, die sich im Rahmen ihrer Prozesse in der Nachkriegszeit oft sogar nicht nur als Opfer, der ungerechten Behandlung durch die Alliierten mit ihrer „Siegerjustiz“ sahen,
sondern auch noch als Opfer ihrer schweren Aufgabe, die sie ja nicht gerne erfüllt hätten, die Befehle aber ausführen mussten. Wie oft hat man folgenden Satz wohl schon
gehört: „Ich musste es tun, sonst wäre ich ja gleich erschossen worden oder ins KZ
gekommen!“ Plötzlich sahen sich alle Deutschen als Opfer des nationalsozialistischen
Terrorregimes.
In Österreich ging dies einen Schritt weiter, Österreich wurde gleich als Ganzes zum
Opfer der Deutschen, die bei uns einmarschiert sind. Die Gründungslüge der Zweiten
Republik, gestützt auf einer falschen Interpretation der Moskauer Deklaration. Die einzelnen Menschen waren plötzlich alle Opfer des Krieges, ehemalige Nationalsozialisten
zusätzlich Opfer der Alliierten und der ungerechten Maßnahmen der Entnazifizierung.
Außerdem war man Opfer der Not und Entbehrung nach dem Krieg. 749 Wir waren alle
Opfer – so der Tenor – warum sollte man da einzelne Opfer mehr beachten? In der öffentlichen Wahrnehmung wurden die Opfer des rassistischen Vernichtungsfeldzuges
gleichgesetzt mit Opfern des Krieges. Eine sehr zynische aber nicht seltene Form dieser Sichtweise ist die Aussage, dass im Zweiten Weltkrieg mehr Deutsche als Juden
getötet wurden.
StLA, Bezirkshauptmannschaften, BH Murau, 341/1939.
ZDF History, „Davon haben wir nichts gewusst“ Die Deutschen und der Holocaust.
749
Gerhard Botz, Geschichte und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Republik, in: Wolfgang Kos, Georg Riele (Hg.),
Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, 51-85, hier 59.
747
748
323
Diese gesellschaftliche Entwicklung konnte man auch darin erkennen, dass der gesellschaftlichen Wiedereingliederung der ehemaligen Nationalsozialisten von allen Seiten
weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde, als der Wiedereingliederung der überlebenden Opfer. Die wenigen Überlebenden, die zurück in ihre Heimat gekommen sind,
mussten oft ihr Leben lang gesellschaftliche Ausgrenzung erfahren. Die in dieser Arbeit beschriebene Elsa Blau (siehe Kapitel 3) ist hier nur ein Fall unter vielen. Niemand
machte sich die Mühe, denjenigen die in der Emigration überlebt hatten, die Rückkehr
zu erleichtern oder zumindest ein Signal zu setzen um ihnen zu zeigen, dass ihre
Rückkehr erwünscht sei.
4 Familiengeschichte
Im Folgenden möchte ich einen kurzen Überblick über die Geschichte meiner Familie
geben, seit sie sich im Bezirk Murau niedergelassen hat. Da es hierfür keine offiziellen
Quellen gibt, muss ich mich größtenteils auf die Familienchronik von Friedrich Höfinger
jun. und Aussagen von Familienmitgliedern verlassen. Nur was jene Personen betrifft,
die nähere Verbindungen zur NSDAP hatten, konnte ich auf Archivquellen und die
NSDAP-Mitgliedskartei zurückgreifen.
4.1 Johann Fritsch – von Böhmen nach Murau
Unser Urahn Johann Fritsch war der Erste, der sich im Bezirk Murau niedergelassen
hat. Fritsch, welcher ursprünglich aus Duppau in Böhmen stammte, erwarb im Jahre
1848 das Schloss in Feistritz am Kammersberg, Bezirk Murau. Das Schloss Feistritz
hat im Laufe der Jahre sehr oft seine Besitzer gewechselt. 750 Dort lebte die Familie
Fritsch 59 Jahre lang. Sein Bruder Wenzel Fritsch war von 1873 bis 1888 Pfarrer in St.
Peter ob Judenburg. Wieso es die Gebrüder Fritsch aus Böhmen ausgerechnet nach
Feistritz verschlagen hat, ist nicht belegt, es gibt nur Vermutungen. Angeblich sollen
die Brüder Fritsch an der Märzrevolution 1848 beteiligt gewesen sein und sich deshalb
in diese abgelegene Gegend zurückgezogen haben. Dafür lassen sich aber keine Beweise finden, nur mündliche Überlieferungen der Bevölkerung.751
Chronik Schloss Feistritz, zu finden unter URL: http://www.diefeistritzerinnen.at/images/chronik%20schloss
%20feistritz.pdf
751
Höfinger, Familienchronik, 5.
750
324
4.2 Maria Fritsch
Die Urgroßmutter meiner Oma, Maria Fritsch, wurde 1858 auf Schloss Feistritz geboren. Ihr Bruder, Johann Fritsch, heiratete die Murauerin Maria Mitteregger. Offensichtlich verschuldet verkaufte er das Schloss 1907 und zog mit seiner Familie nach Klagenfurt, wo er 1921 verstarb. Nach einem weiteren Besitzerwechsel wurde das
Schloss 1913 an Erzherzog Karl I. verkauft, welcher es seiner Frau Zita als Morgengabe schenkte.752 Warum sich Karl ausgerechnet das abgelegene, und damals schon
ziemlich heruntergekommene, Schloss Feistritz, ausgesucht hat, darüber kann nur
spekuliert werden. Maria Fritsch heiratete einen verwitweten Großbauern aus Scheiben
bei Unzmarkt, Peter Pernthaler. Meine Urgroßmutter Paula war das erste Kind des Paares – insgesamt hatten sie vier Kinder – wobei Maria ein Kind in die Ehe mitbrachte.
Obwohl es zu jener Zeit sehr ungewöhnlich war, ließ sie sich von ihrem Mann scheiden,
welcher sein Gut verkaufte. Maria bekam einen Teil dieses Erlöses und ließ sich mit ihren Kindern in St. Peter am Kammersberg nieder, wo sie einen Bauernhof kaufte.753
4.3 Paula Grössing, geb. Pernthaler
Paula Pernthaler bekam drei ledige Kinder, alle von verschiedenen Vätern, was zur damaligen Zeit am Land zwar keine Seltenheit war, offiziell aber trotzdem nicht gern gesehen wurde. Schließlich kam es doch noch zu einer Ehe, und zwar mit Hans Grössing,
dem Vater ihres zweiten Kindes Ella. Hans Grössing hatte von seinen Eltern mittlerweile ein Gasthaus samt Fleischerei in Haus im Ennstal übernommen, wo Paula dann mit
ihm lebte. Sie nahm nur Ella, ihr Kind mit Hans Grössing mit nach Haus im Ennstal, ihr
erster Sohn Othmar blieb bei Großmutter Maria und die zweite Tochter Wilhelmine
kam auf einen Pflegeplatz in Feistritz. So blieben Othmar und Wilhelmine also im Bezirk Murau. Das Ehepaar Grössing bekam noch die Kinder Franz, Hans, Josef, Friedrich
und Maria. Später trennte sich das Ehepaar und Paula kam mit ihren Kindern nach Murau zurück.754
4.4 Othmar Pernthaler
Othmar war der erste Sohn von Paula Grössing und meinem Urgroßvater. Er wurde am
15. 11. 1901 in St. Peter am Kammersberg geboren. Sein Vater war ein Fleischergeselle und im örtlichen Gasthaus tätig. Othmar begann nach dem Pflichtschulbesuch
752
753
754
Chronik Schloss Feistritz.
Höfinger, Familienchronik, 8f.
Höfinger, Familienchronik, 11-13.
325
eine Lehre als Kaufmann bei Jakob Wesiak in Murau. Später führte er ein eigenes
Geschäft in Murau, eine Gemischtwarenhandlung mit Tabak-Trafik. Meine Oma sagt,
dass ihn sein Vater beim Aufbau des Geschäftes finanziell unterstützt hat. 755 Er soll
auch der erklärte Liebling seiner Großmutter Maria gewesen sein, die ihm im Geschäft
half und den Haushalt führte. Sein Bruder Franz war Lehrling bei ihm im Geschäft.
Othmar ging eine Beziehung mit meiner Urgroßmutter Anna Ponholzer ein, die im
Hotel Sonne in Murau als Stubenmädchen beschäftigt war. Sie hatten eine Tochter,
meine spätere Oma Hilde Maier, geb. Ponholzer. Die Beziehung ging jedoch in die
Brüche und Othmar heiratete im Februar 1931 die Bauerntochter Maria Hauser, mit
der er seine zweite Tochter Hertha bekam.756
Ein großer Einbruch für die Familie war der Konkurs des Geschäftes von Othmar
Pernthaler 1932. Die Ursache wurde in der schlechten wirtschaftlichen Lage gesehen,
allerdings kursiert in der Familie unter der Hand die Meinung, dass Othmar nicht besonders geschäftstüchtig gewesen sei. So erzählte mir auch Maria Weys (Tante Mitzi)
im Interview, dass Othmar von seiner Großmutter sehr verwöhnt wurde. Ihr eigener
Sohn Peter besuchte ein Gymnasium, worauf seine Mutter sehr stolz war. Allerdings
verstarb dieser bereits mit 18 Jahren. Angeblich war er zu lange einem Heuwagen
nachgelaufen, weil sich ein Knecht einen Scherz erlaubte. Er erlitt deshalb eine Lungenentzündung, an der er verstarb. Maria Fritsch soll danach all ihre Zuneigung auf ihren Enkel Othmar übertragen haben. Tante Mitzi ist der Meinung, dass er deshalb so
untüchtig im Leben war, weil er als Kind so verwöhnt wurde. Ihrer Ansicht nach war
sein Bruder Franz ganz anders und hätte nie Konkurs anmelden müssen. 757 Die Geschäftspleite war für Othmar auch mit dem Verlust seines Wohnhauses, und in weite rer Folge mit dem Ende seiner Ehe verbunden. Seine Frau zog mit Tochter Hertha zurück in ihr Elternhaus, Othmar bewohnte fortan eine kleine Wohnung in Untermiete.758
Mit diesen traumatischen Erfahrungen wird seine Zuwendung zur NSDAP erklärt. Dies
wurde in der Familie auch nie als problematisch gewertet, ich wusste schon lange,
dass er „illegaler Nazi“ gewesen ist. Die NS-Parteimitgliedschaft, aufgrund wirtschaftlicher Nöte und ohne persönliche Überzeugung war seit Kriegsende eine Begründung,
die keiner näheren Erklärung bedurfte. Dementsprechend überrascht war ich nach
meiner Einsichtnahme in die Mitgliederkartei. Othmar Pernthaler trat bereits am 1. 10.
1930 der NSDAP bei und erhielt am 17. 11. 1930 seine provisorische Mitgliedskarte
der Ortsgruppe Murau mit der Mitgliedsnummer 301.462. 759 Es ist wahrscheinlich, dass
seine wirtschaftliche Situation zu diesem Zeitpunkt bereits schwierig war, eine direkte
755
756
757
758
759
Interview Maier.
Höfinger, Familienchronik, 14f.
Interview mit Maria Weys am 20. 11. 2013.
Interview Maier.
NSDAP-Mitgliederkartei, A 3340, Rolle Q061, Nr. 0014.
326
Folge seines Konkurses war sein Beitritt jedoch nicht. Othmar zählte aufgrund seines
frühen Beitritts zu einem der etwa 68.000 „Alten Kämpfer“, die der Partei bereits vor
dem Verbot 1933 beigetreten waren, und nach dem „Anschluss“ 1938 hohes Ansehen
unter den Nazis genossen. 760 Die fünf Jahre zwischen seinem Konkurs und dem
„Anschluss“ war er arbeitslos und schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. 1938
sollte sich das Blatt für ihn wenden und er wurde für seinen Status als „Alter Kämpfer“
belohnt.
Die folgende Episode in Othmars Laufbahn ist äußerst undurchsichtig, da ich sie nur
aus vorhandenen Akten rekonstruieren kann. Er wurde zum „kommissarischen Verwalter“ des, in jüdischem Besitz befindlichen, Geschäftes von Malvine Humburger ernannt. Am 14. 6. 1938 teilte der Gauwirtschaftsleiter dem Reichsstatthalter für das
Land Österreich mit, dass er
„In sinngemäßer Anwendung des § 7 des Gesetztes über die Bestellung von
kommissarischen Verwaltern und kommissarischen Überwachungspersonen [...]
bei der Fa. Malvine Humburger, Kaufhaus, Murau Herrn Othmar Pernthaler, Murau, als kommissarischen Verwalter bestellt habe, da in diesem Fall Gefahr der
Vermögensverschleppung vorliegt.“761
Othmar Pernthaler scheint diese Funktion aber nie ausgeführt zu haben. Aus einem
Schreiben von Franz Vasold, der schließlich „kommissarischer Verwalter“ des Geschäftes wurde, geht hervor, dass Othmar die Stelle „nicht ausüben konnte“ und ihn (Vasold) gebeten habe, diese anzutreten. Zuvor hat Othmar aber noch seinen Schwager
Friedrich Höfinger als Experten hinzugezogen, der bis zur Geschäftsauflösung dort verblieben ist und Bezüge verrechnet hat. 762 Warum mein Urgroßvater die Stelle niemals
angetreten hat, muss offen bleiben. In der Familie scheint sich niemand daran zu erinnern, dass er überhaupt jemals zum kommissarischen Verwalter bestellt wurde.
Ziemlich bald danach dürfte Othmar zum Leiter der Ortskrankenkasse Murau ernannt
worden sein. Es war mir nicht möglich dieses Detail zu belegen, weshalb ich mich auf
familiäre Erzählungen sowie den von meinem Onkel Heimo verfassten Lebenslauf meiner Oma Hilde Maier verlassen muss. Trotz seines Status als „Alter Kämpfer“ und seiner angeborenen Schwerhörigkeit gelang es ihm nicht, sich der Einberufung an die
Front zu entziehen. 1943 wurde er als Pferdeführer ins heutige Polen beordert. Meiner
Oma schießen heute noch Tränen in die Augen, wenn sie an diese Zeit zurückdenkt.
Sie stand mit ihm in regem Briefkontakt, in dem er ihr sein Leid geklagt hat. Besonderen Schmerz bereitete ihm die Tatsache, dass sich die jüngeren Unteroffiziere oft über
Gerhard Botz, Nazi, Opportunist, „Bandenbekämpfer“, Kriegsopfer. Dokumentarische Evidenz und
Erinnerungssplitter zu meinem Vater, in: Gerhard Botz (Hg.), Schweigen und Reden einer Generation.
Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2007, 135-159, hier 139.
761
StLA, Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung, Komm 1938, Humburger Adolf/Murau, Schreiben des
Gauwirtschaftsberaters an den Reichsstatthalter des Landes Österreichs.
762
StLA, Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung, Komm 1938, Humburger Adolf/Murau, Schreiben von Franz Vasold an
den Staatskommissar in der Privatwirtschaft.
760
327
seine Schwerhörigkeit lustig machten. Auch sein Umgang mit den Pferden, mit denen
er vorher keinerlei Erfahrung hatte, dürfte nicht sehr gut gewesen sein, weshalb er
mehrfach von Pferden verletzt wurde. Nachdem er einen Magendurchbruch erlitten
hatte, kam er nach Graz ins Lazarett. Dort konnte ihn die Familie zum ersten Mal besuchen, bald darauf verstarb er. Meine Oma hat bis heute großes Mitleid mit ihm. Dies
liegt wohl auch an ihrer schwierigen Kindheit, die ich noch näher ausführen werde. Ihr
Vater war ihre wichtigste Bezugsperson. Trotzdem bringt sie ein Zitat im Zusammenhang mit dem Tod ihres Vaters immer wieder vor: „Des hot er ghobt von sein illegalen
Nazi-sein!“763
4.5 Die Familie Grössing
Wie bereits erwähnt hatte Paula Grössing außer Othmar noch sieben weitere Kinder.
Über Wilhelmine werde ich noch im Rahmen der Familie Höfinger ausführlicher berichten. Ihre weiteren sechs Kinder Ella, Franz, Hans, Josef, Friedrich und Maria hatte sie
mit ihrem Ehemann Hans Grössing, mit dem sie während ihrer Ehe in Haus im Ennstal
wohnte. Die Mitglieder der Familie Grössing waren vom Nationalsozialismus sehr angetan. Wie weit sich die Familie, auch noch lange nach 1945, über den Nationalsozialis mus und den Einsatz in der Wehrmacht definiert hat, erkennt man schon daran, dass
für die Familienchronik, von allen Brüdern, ausgerechnet jene Fotos ausgewählt wurden die sie in Wehrmachtsuniform zeigen. Es gibt allerdings von dieser Zeit relativ wenige Familienfotos. Die Familie war arm und hatte kein Geld für Fotoapparate und
Filmentwicklungen übrig. Man war darauf angewiesen, hie und da von Bekannten fotografiert zu werden; nur einmal ließ man ein Familienportrait in einem Fotostudio anfertigen (siehe Abbildung 1).
4.5.1 Johann Grössing sen.
Auffällig ist, dass die meisten der Geschwister dem Nationalsozialismus stark zugetan
waren. Während bei meinem Urgroßvater Othmar die Begeisterung für diese Ideologie
mit seiner wirtschaftlichen Lage als selbstständiger Kaufmann erklärt wird, gibt es in
der Familie keine nähere Erklärung dafür, wie es beim Rest der Familie Grössing dazu
kam. Die NS-Begeisterung dürfte aber wohl von ihrem Vater ausgegangen sein. Zuerst
habe ich mich von seinem Parteibeitritt täuschen lassen, da auf seiner Mitgliedskarte
mit der Mitgliedsnummer 6.120.062 nämlich der 1. 5. 1938 vermerkt ist 764 – ein Da763
764
Interview Maier.
NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle G025, Nr. 615.
328
tum das mich anfangs davon ausgehen ließ, dass er erst im allgemeinen Ansturm nach
dem Anschluss beigetreten ist. Nach genauerer Recherche konnte ich aber herausfinden, dass es eine einvernehmliche Verfügung des Beauftragten des Führers für
die NSDAP in Österreich und des Reichsschatzmeisters vom 28. 4. 1938 gibt. Zum
Aufbau der Partei in Österreich wurde einerseits die Erfassung derjenigen Mitglieder
bestimmt, die bereits Mitglied NSDAP waren. Andererseits wurden aber auch jene Österreicher, die sich bis zum 11. 3. 1938 „als Nationalsozialisten betätigt hatten“, erst mals für die Zentralkartei beim Reichsschatzmeister der NSDAP erfasst und als „Illegale“ eingestuft. Somit wurden sie der Beitragsordnung vom 29. 10. 1935 unterworfen
und erhielten eine Mitgliedsnummer aus dem eigens für diese österreichischen Mitglieder reservierten Nummernblock von 6.100.001 bis 6.600.000. Als einheitlicher Aufnahmetag wurde für diese Mitglieder der 1. 5. 1938 festgesetzt. 765 Johann Grössing
sen. zählte also zu diesem Personenkreis der „Illegalen“. Auf welche Art er sich genau
„als Nationalsozialist betätigt“ hat, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Johann Grössing sen. hatte von seinen Eltern ein Gasthaus mit Fleischerei geerbt,
1911 ging der Betrieb in Konkurs. Damit wurde der endgültige wirtschaftliche Abstieg
der Familie eingeläutet.766 Da wirtschaftliche Gründe bis heute die Standarderklärung
für den Beitritt zur NSDAP sind, könnte diese Tatsache natürlich als Begründung für
Johann Grössings Betätigung für die Partei, und auch jene seiner Kinder, gelten. Dies
bleibt aber Spekulation, die wirklichen Gründe für diese Begeisterung wollte in der Familie nie jemand wissen. Nach dem Krieg wurde all dies stark unter den Teppich gekehrt, man positionierte sich lieber als „Opfer“ der ungerechten Entnazifizierungsmaßnahmen. „Es waren halt schlechte Zeiten“, diese Aussage soll bereits alles erklären.
4.5.2 Ella Hernach, geb. Grössing
Die älteste Tochter von Paula und Johann Grössing, Eleonore (genannt Ella), wurde
noch vor der Eheschließung am 6. 3. 1908 in St. Peter am Kammersberg geboren. Da
Johann Grössing ihr Vater war, nahm ihre Mutter sie als einziges ihrer drei Kinder nach
der Eheschließung 1911 mit nach Haus im Ennstal. Sie erlebte den wirtschaftlichen
Niedergang der Familie, als das elterliche Gasthaus in Konkurs ging. Es folgten mehrere Umzüge. Ende der 20er Jahre zog sie zu ihrem Bruder Othmar nach Murau und
führte ihm den Haushalt. In Murau lernte sie Richard Hernach kennen, Fahrdienstleiter
bei der Murtalbahn, den sie 1930 heiratete. 1931 kam Sohn Richard zur Welt.767
Deutsches Bundesarchiv, PG – zum Mitgliedschaftswesen der NSDAP, 18. Zu finden unter URL:
http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00757/index-17.html.de
766
Höfinger, Familienchronik, 12.
767
Höfinger, Familienchronik, 16f.
765
329
Abbildung 1: Paula Grössing mit ihren Kindern und Enkelin Hilde. Hinten
(vlnr.): Johann, Franz Xaver, Josef. Vorne (vlnr.): Maria (Mitzi), Wilhelmine,
Paula, Hilde, Othmar, Ella, Friedrich. Die Aufnahme entstand zwischen 1929
und 1931.
Quelle: Höfinger, Familienchronik.
Richard Hernach trat am 1. 3. 1932 der NSDAP bei und erhielt die Mitgliedsnummer
898.514768. Auch er war also ein „Alter Kämpfer“. 1936 übersiedelte die Familie aus
beruflichen Gründen nach Graz. Über die Zeit von 1938 bis 1945 konnte ich nichts in
Erfahrung bringen, auch nicht über einen etwaigen Einsatz an der Front oder im Volkssturm. Laut Familienchronik wurde Richard Hernach nach dem Krieg wegen seiner NSVergangenheit aus dem Bahndienst entlassen. Er fand dann Arbeit bei einem Optiker,
trauerte aber sein Leben lang seiner Arbeit als Fahrdienstleiter nach.769
4.5.3 Johann Grössing jun.
Der älteste Sohn von Paula und Johann Grössing, Johann Grössing jun., wurde am 12.
3. 1912 in Strechau bei Rottenmann geboren, wo seine Eltern nach dem Konkurs des
Familienbetriebes ein Gasthaus gepachtet hatten. Nachdem er eine Bäckerlehre abgebrochen hatte, ging er zur Eisenbahn, wo er es bis zum Fahrdienstleiter brachte 770 –
ein häufiger Beruf in unserer Familie. Auch er wurde, wie sein Vater, zum „Illegalen“
erklärt. Seine Mitgliedskarte wird mit der Aufnahme am 1. 5. 1938 datiert und trägt
die Mitgliedsnummer 6.297.828. 771 Auch bei ihm ist nicht bekannt, auf welche Weise
768
769
770
771
NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle H0102.
Höfinger, Familienchronik, 16f.
Ebd., 40.
NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle G025, Nr. 616.
330
er sich vor dem 11. 3. 1938 „als Nationalsozialist betätigt“ hat. Laut Familienchronik
wurde er nach dem Krieg „als NSDAP Mitglied bei der Bahn entlassen.“ Johann Grössing jun. verstarb 1950 an den Folgen eines Autounfalls.772
4.5.4 Franz Xaver Grössing
Franz Xaver Grössing wurde am 13. 10. 1913 ebenfalls in Strechau geboren. Nach der
Schulzeit begann er eine Kaufmannslehre bei Bruder Othmar in Murau, wechselte
dann aber zur Eisenbahn und wurde ebenfalls Fahrdienstleiter. 773 Am 15. 3. 1933, also
noch vor dem Parteiverbot, trat er der NSDAP, Ortsgruppe Haus im Ennstal, bei. 774 Im
Herbst 1943 musste er an die Front, zuerst nach Pula und Görtz, später nach Tschechien. Von dort erhielt die Familie am 17. 4. 1945 seine letzte Nachricht. Seither gilt er
offiziell als vermisst. Sein Bruder Josef erklärte immer wieder „die Tschechen haben
ihn erschlagen“.775
4.5.5 Josef Grössing
Am 2. 11. 1919 wurde Josef, von allen Pepi genannt, geboren. Die Familie hatte mittlerweile ein bescheidenes Haus in Öblarn erworben, wo Pepi die Volksschule besuchte.
Auch dieses Haus konnte die Familie nicht lange halten und musste wieder umziehen,
diesmal nach Ruperting im Ennstal. Dort besuchte Pepi die ersten beiden Jahre der
Hauptschule, danach trennten sich seine Eltern. Seine Mutter ging zurück nach Murau,
wo sie mit den drei jüngsten Kindern, Pepi, Friedrich und Maria, sehr beengt bei ihrem
Sohn Othmar untergebracht war. In Murau beendete Pepi im Jahr 1935 die Hauptschule, danach kam er ins Gymnasium nach Graz. Gleich nach der Matura ging er 1939 an
die Front, laut Familienchronik wurde er sofort „eingezogen“. 776 Es wäre aber durchaus
möglich, dass er sich freiwillig gemeldet hat, was nach Kriegsausbruch 1939 sehr viele
getan haben. Er soll ein sehr begeisterter Soldat gewesen sein. Nach einiger Zeit bei
der Infanterie und einer Offiziersausbildung wurde er zum Leutnant befördert. Im
Herbst 1944 kämpfte er an der Westfront gegen die Alliierten und erlitt dabei eine
schwere Verletzung. Er kam für einige Monate ins Lazarett und wurde nach seiner Genesung kurz vor Kriegsende mit der Führung einer Kosakenkompanie in Italien beauftragt. Diese löste sich im Mai 1945 in Klagenfurt auf. Er schlug sich zu Fuß nach St.
Peter am Kammersberg durch, versteckte sich dort bei seiner Schwester Wilhelmine
772
773
774
775
776
Höfinger, Familienchronik, 40.
Ebd., 42.
NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle G025, Nr. 600.
Höfinger, Familienchronik, 42.
Ebd., 44.
331
und entging somit der Kriegsgefangenschaft. 1946 begann er ein Jusstudium in Graz,
welches er 1950 mit dem Doktorat abschloss. Während seines Studiums schloss er
sich der schlagenden Studentenverbindung Corps Joannea an. Nach dem Studium
machte er sich in Graz als Immobilienhändler selbstständig.777
Josef war Zeit seines Lebens glühender Nationalsozialist, obwohl es in der NSDAP-Mitgliedskartei keinen Hinweis auf eine Parteimitgliedschaft gibt. Das kann mit seinem Alter zu tun haben. Schließlich war neben der Unbescholtenheit und der „rein arischen
Abkunft“ auch die Vollendung des 18. Lebensjahres eine der Aufnahmevoraussetzungen, was erst 1944 für Angehörige der Hitlerjugend und des Bundes Deutscher Mädel
auf 17 Jahre herabgesetzt wurde.778 Im November 1937 feierte Josef Grössing seinen
18. Geburtstag. Damals besuchte er das Gymnasium in Graz und ging nach dessen
Abschluss sofort zum Militär. Eventuell hat es etwas mit der in Österreich nach dem
„Anschluss“ eingeführten Aufnahmesperre für Neumitglieder zu tun, dass Josef nicht
Parteimitglied wurde, was bei seinem familiären Hintergrund aber eher unwahrscheinlich ist. Maturajahr, „Anschluss“, danach sofort an die Front – nach seinem 18. Ge burtstag ging es bei ihm Schlag auf Schlag. Er strebte eine Karriere in der Wehrmacht
an und dieser stand seine fehlende Parteimitgliedschaft nicht im Weg.
Josef Grössing war dem Alkohol sehr zugetan und ließ vor allem unter Alkoholeinfluss
die Nazizeit und sogar den Krieg hochleben. Bis zu seinem Tod 1988 soll er „ein strammes Auftreten und einen barschen Befehlston beibehalten“ 779 haben. Bei seinen häufigen Besuchen bei der Familie Höfinger grölte er gerne bis in die Nacht Soldatenlieder
und erzählte Heldengeschichten aus dem Krieg. Friedrich Höfinger jun. vermerkt dazu
in der Familienchronik:
„Bei seinen Kriegsberichten ist bei ihm eine gewisse Skepsis angebracht, im
Nachhinein wurden die Erzählungen seiner Heldentaten nämlich von Mal zu Mal
immer heroischer.“
Seinen Offiziersdolch bewahrte er, gemeinsam mit seiner Promotionsrolle, auf dem
Dachboden der Familie Höfinger auf. Als meine Mutter sich verlobte, lud er meinen
Stiefvater in seine Wohnung in Graz ein, wo er ihm stolz verschiedene Andenken an
die Nazizeit und auch an den Krieg zeigte. In der Familie war er nicht sehr beliebt, was
aber wohl eher an seinem schwierigen Charakter lag. Friedrich Höfinger jun. erklärt
diesen in der Familienchronik damit, dass er „durch diesen Krieg mit seinen schrecklichen Erlebnissen geprägt“ wurde. Wenn man den Erzählungen über Onkel Pepi glauben darf, waren die Erlebnisse für ihn aber gar nicht so schrecklich, sondern die bes ten Jahre seines Lebens. Hinter vorgehaltener Hand wird er bis heute in der Familie
Ebd., 44f.
Bundesarchiv, PG, 2. Zu finden unter URL:
http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00757/index-3.html.de
779
Hierzu, sowie die folgenden Absätze: Höfinger, Familienchronik, 44.
777
778
332
„fester Nazi“ genannt. Die meisten Familienmitglieder haben versucht, Gespräche mit
ihm über das Thema Nationalsozialismus zu vermeiden, weil sie es als aussichtslos erachtet haben, mit ihm über dieses Thema zu diskutieren. Seine Geschwister sollen seine Meinung Zeit ihres Lebens geteilt haben. Offen dazu bekannt hat sich nur seine
Schwester Maria.
4.5.6 Friedrich Grössing
„Friedl“ wurde am 3. 8. 1921 als zweitjüngstes Kind von Paula und Johann Grössing in
Weissenbach geboren. Er besuchte die Volksschule in Öblarn, danach folgte der Umzug
der Familie nach Ruperting. Nach der Trennung der Eltern wohnte er, mit seiner Mutter
und den Geschwistern Josef und Maria, in Murau bei seinem Bruder Othmar, wo Friedl
die Hauptschule besuchte. Dann kam er, wie Bruder Pepi, ins Gymnasium nach Graz,
wo er im Sommer 1941 maturierte. Es folgte sofort die Einberufung zur Wehrmacht,
wo er nach einer Ausbildung als Eisenbahn-Pionier am russischen Kriegsschauplatz
eingesetzt wurde. Gegen Kriegsende wurde er schwer verwundet und kam in Berlin in
russische Kriegsgefangenschaft. Aus dieser wurde er aber sehr schnell entlassen. Sein
körperlicher Zustand soll so schlecht gewesen sein, dass die Russen ihn nicht nach
Russland mitnahmen, weil sie davon ausgingen, dass er sowieso bald sterben würde
und ihn daher laufen ließen. 1946 begann er ein Lehramtsstudium für Geografie und
Geschichte in Graz und unterrichtete anschließend bis zu seiner Pensionierung am
Gymnasium in Stainach. 1949 heiratete er Elfriede Zöchling, welche am 8. 7. 1925 in
Wien geboren wurde. Elfriede diente im Krieg in der Flugzeugabwehr und steckte sich
in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit TBC an. In Folge musste ihr ein Lungenflügel
entfernt werden und sie blieb Zeit ihres Lebens kränklich; 1999 verstarb sie an Darm krebs. Bis zu seinem Tod im Jahre 2003 lebte Friedrich Grössing in Stainach.780
Friedrich soll den Krieg sehr verabscheut haben und auch selbst gesagt haben, dass er
nie ein Kriegsheld war. In seiner Familie ist er der einzige, dem man keinerlei Begeis terung für den Nationalsozialismus nachsagt. Friedrich Höfinger jun. sagte mir im Interview, Friedrich sei „national eingestellt“ gewesen; „aber kein Nazi“. 781 Er dürfte
auch kein Parteimitglied gewesen sein, in der Mitgliedskartei konnte ich ihn nicht finden. Er war allerdings als schwieriger, autoritärer und konservativer Mensch bekannt.
Meiner Oma Hilde Maier brachte er ganz offen allergrößte Verachtung entgegen, weil
sie sich von ihrem ersten Mann scheiden ließ. Scheidung war für Onkel Friedl eines der
schlimmsten Vergehen überhaupt. Er soll sehr katholisch gewesen sein, Friedrich Hö780
781
Höfinger, Familienchronik, 47.
Interview Höfinger.
333
finger jun. erzählte mir im Interview, dass er jeden Sonntag in die Kirche ging. Sei ne
Tochter Gerrit leidet bis heute unter den, ihrer Meinung nach, viel zu strengen Erziehungsmethoden ihres Vaters. Wie er auf ihre Scheidung von ihrem ersten Mann im
Jahre 1989 reagiert hat, kann nur erahnt werden. Friedrich Höfinger jun. versucht
auch bei Friedrich Grössing, seinen schwierigen Charakter mit den „schrecklichen Erlebnissen“ im Krieg zu erklären.782
4.5.7 Maria Weys, geb. Grössing (Tante Mitzi)
Die schon oben erwähnte Maria, genannt „Mitzi“, war das jüngste Kind von Paula und
Johann Grössing und wurde am 31. 1. 1923 in Öblarn geboren. In Murau, nach dem
Umzug zu Bruder Othmar, besuchte sie sowohl die Volks- als auch die Hauptschule, bis
zu einem neuerlichen Umzug mit ihrer Mutter nach Haus im Ennstal, wo sie die letzten
beiden Schuljahre absolvierte. Nach dem Besuch der Hauptschule arbeitete sie von
1937 bis 1941 als Hausmädchen in verschiedenen Haushalten. 1941 folgte die Anstellung im Postdienst in Oberwölz bei Murau, wo sie bis 1954 am Postschalter beschäftigt
war.783
Es wurde ihr die Leitung des Postamtes angeboten, welche sie aber abgelehnt hat. Damals wurden die Pensionen meist bar mit der Post ausgezahlt. Sie hatte Angst, für so
viel Geld verantwortlich zu sein. Über diese Zeit bei der Post hat sie mir erzählt, dass
immer viele Bauern am Postamt auf Feldpost von ihren Söhnen an der Front gewartet
haben. Viele Familien haben so die Nachricht über den Tod ihres Sohnes erhalten. Gegen Kriegsende hat sie ihren Bruder Pepi gefragt, was sie denn mit den Poststempeln
machen solle, weil da überall „Heil Hitler“ draufsteht. Er wies sie an, diese zu vernichten, was sie auch getan hat. Über die Zeit der Besatzung hat sie mir nur von einer Erinnerung erzählt. Oberwölz war in der britischen Zone; sie hatten damals nur wenige
Telefonleitungen, welche vom Postamt aus verwaltet wurden. Die Engländer haben
häufig telefoniert und dadurch die Leitungen lange blockiert. Da Mitzi kein Englisch
konnte, hat sie wieder ihren Bruder Pepi um Rat gefragt. Dieser brachte ihr dann den
Satz „Get out of the line“ bei.784
Über die restlichen Begebenheiten aus ihrem Leben wollte Tante Mitzi nicht mit mir
sprechen, daher weiß ich das alles lediglich von meiner Oma Hilde Maier. Meine Oma
und ihre beste Freundin Hella haben kurz nach Kriegsende bei Tante Mitzi in Oberwölz
gewohnt, nachdem sie aus Fohnsdorf, welches in der russischen Besatzungszone lag,
geflüchtet waren. Mitzi bewohnte damals ein kleines Zimmer in einem Gasthof. Für
782
783
784
Höfinger, Familienchronik, 44.
Ebd., 49.
Interview Weys.
334
kurze Zeit haben sie zu dritt in diesem Zimmer gewohnt. Dort kamen sie auch mit britischen Besatzungssoldaten in Kontakt, die ebenfalls Zimmer in diesem Gasthof bewohnten. Nach den Erzählungen meiner Oma waren sie und Mitzi aber äußerst distan ziert und hatten ein eher mulmiges Gefühl, obwohl meine Oma die Briten als „vornehme Herren“ und „fesche Kerle“ bezeichnet, „im Vergleich zu den Russen“.785
Relativ bald nach Kriegsende lernte Mitzi ihre erste große Liebe kennen, die sie bis
heute stark geprägt hat. Es handelte sich um einen Sudetendeutschen namens Ernst,
der als Flüchtling in die Region Murau gekommen war. Seine Familie war laut meiner
Oma in einem Flüchtlingslager in Linz untergebracht. Bis heute spricht Tante Mitzi im mer wieder wehmütig von Ernst. Die Beziehung zerbrach, weil es sein Traum war, nach
Amerika auszuwandern, was er auch bald getan hat. Für Mitzi kam es jedoch nicht infrage, ihre Heimat zu verlassen. Ernst hat dann in Amerika geheiratet, die beiden blieben aber bis zu seinem Tod brieflich in Kontakt. Heute noch weint Tante Mitzi um
Ernst, weil sie der sicheren Ansicht ist, dass er ihre große Liebe war und ihr Leben an
seiner Seite glücklicher verlaufen wäre.
Nachdem Ernst ausgewandert war, lernte sie in Oberwölz den Wiener Hermann Weys
kennen. Hermann Weys wurde 1904 geboren und ist am 1. 1. 1941 der NSDAP beigetreten.786 1949 haben Maria Grössing und Hermann Weys die Ehe geschlossen. Es handelte sich aufgrund finanzieller Überlegungen um eine Doppelhochzeit. Meine Oma Hilde Maier heiratete am selben Tag ihren ersten Mann Josef Taus. 1950 brachte Mitzi
ihre einzige Tochter Eva zur Welt. Das Paar lebte in Murau, wo Hermann Weys von sei nem Onkel Anton Müller ein Haus geerbt hat. Anton Müller hatte viele Jahre in Amerika gelebt und dort viel Geld verdient, in Murau hat er sich zur Ruhe gesetzt. Es war
keine glückliche Ehe, Erzählungen zufolge war Hermann Weys nicht sehr lebenstüchtig. Er wechselte in Murau mehrmals den Job, konnte aber keinen davon lange halten.
Deshalb musste Mitzi viele Jahre die Wintersaison in der Schweiz verbringen, um als
Zimmermädchen Geld zu verdienen. Ihre Tochter Eva war in der Zwischenzeit bei Verwandten untergebracht, was Mitzi sehr zu schaffen machte. Nach Hermanns Tod und
einem verwandtschaftlichen Erbschaftszwist verkaufte Mitzi das Haus in Murau und
zog mit ihrer Tochter Eva nach Graz, wo sie bis heute in einer Eigentumswohnung leben.787
785
786
787
Interview Maier.
NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle Y052, Nr. 1642.
Höfinger, Familienchronik, 50.
335
4.6 Die Familie Höfinger
Wilhelmine Pernthaler wurde am 5. 11. 1909 in St. Peter am Kammersberg als drittes
uneheliches Kind der Paula Grössing geboren. Paulas dritte uneheliche Schwangerschaft wurde von deren Mutter Maria Fritsch nicht gerade freudig aufgenommen. Wilhelmines Vater war der Handelsangestellte Anton Janisch, der St. Peter bald nach Bekanntwerden der Schwangerschaft wieder verließ. Maria Fritsch beschloss, dass sie die
drei Enkelkinder nicht im Haus behalten werde. Ein Spruch von ihr ist bis heute in der
Familie überliefert: „Das Fräulein Janisch wird dem Othmar nix die Milch wegtrinken!“.
Tochter Paula gehorchte schließlich und willigte ein, die neugeborene Wilhelmine wegzubringen. Sie machte sich mit Wilhelmine mit einem Pferdewagen auf den Weg nach
Schöder zu Markus Petzl, einem entfernten Verwandten und Taufpaten aller drei Kinder. Diesen wollte sie bitten, ihre Tochter aufzunehmen. Auf der Fahrt kam sie in
Feistritz bei Juliane Mohr vorbei, einer Bekannten die vor ihrem Haus auf einer Holz bank saß. Diese bot sich an, das Kleinkind aufzunehmen. Juliane Mohr wohnte mit ihren beiden Töchtern in einem gepachteten Haus und verdiente sich ihren Lebensunterhalt damit, Dirndlkleider zu nähen. Wilhelmine lebte von da an in ihrer Obhut und berichtete von einer sehr schönen Kindheit. Juliane Mohr war zwar eine arme Frau, sie
soll aber äußerst liebevoll gewesen sein. Wilhelmine absolvierte die Pflichtschulzeit in
der Volksschule in St. Peter. Danach kam sie als Lehrling in die Gemischtwarenhandlung zum Kaufmann Friedrich Höfinger.788
Friedrich Höfinger sen. wurde am 6. 6. 1886 in Wien, als unehelicher Sohn der Köchin
Franziska Capek, geboren. Sein Vater ist laut Geburtsurkunde unbekannt. Er kam bereits als Kleinkind zu Pflegeeltern, über die ebenfalls nichts Näheres bekannt ist. Sein
Sohn Friedrich Höfinger jun. geht davon aus, dass sie in der Nähe von St. Pölten gelebt haben. Über den Lebensweg des Vaters weiß auch Friedrich jun. eher wenig. Der
Vater soll nie viel erzählt haben und Friedrich jun. war bei seinem Tod erst 16 Jahre
alt. Einige Informationen konnte er einem Lebenslauf entnehmen, den Friedrich Höfinger sen. anlässlich seines 70. Geburtstags für Karl Brunner verfasst hat (zu Karl Brunner siehe Anhang). So schreibt er darin, dass für ihn „nach der Schulzeit sofort der Lebenskampf“ begonnen habe. Mit 15 Jahren begann er eine Kaufmannslehre in Marbach
an der Donau, danach kam er als Gehilfe nach Schärding am Inn. Weiter ging die Rei se nach Scheibbs an der Erlauf und dann nach St. Pölten. Von dort rückte er 1907 zum
Militär ein und absolvierte eine Soldatenausbildung in Wien und Hohenmauth beim
Landwehrinfanterieregiment Nr. 30. Nachdem er es bis zum Korporal gebracht hatte,
nahm er sein Wanderleben wieder auf. Er arbeitete als Kaufmann in Görtz und Triest.
788
Höfinger, Familienchronik, 18f.
336
1913 kam er schließlich nach St. Peter am Kammersberg, wo er ursprünglich ein Geschäft pachten wollte. Nachdem dieses Vorhaben nicht gelang, blieb er bis 1914 als
Angestellter in diesem Geschäft. Es gibt in der Familie nicht einmal Vermutungen, wie
er ausgerechnet an diesen abgelegenen Ort gelangt war.
Nach Kriegsausbruch im Sommer 1914 wurde er an den russischen Kriegsschauplatz
berufen. Er wurde dreimal verwundet und kam schließlich in russische Kriegsgefangenschaft. Zwei Jahre war er in Kriegsgefangenschaft in Sibirien, danach kam er nach
Omsk, wo er als Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft eingesetzt wurde. Im März
1918 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und Anfang 1919 kam er wieder nach St. Peter am Kammersberg. Später erzählte er seinem Sohn, dass er in der
russischen Kriegsgefangenschaft relativ gut behandelt worden ist, was diesen sehr erstaunte.789 Schließlich gelang ihm sein Vorhaben, sich als Kaufmann selbstständig zu
machen und er pachtete ein kleines Geschäft. Nach einigen Jahren kaufte er ein klei nes Bauernhaus und baute das untere Stockwerk zu einem Kaufmannsladen um. Im
Jahre 1920 gründete er in St. Peter den ersten „Fremdenverkehrs- und Verschönerungsverein“, mit dem Ziel, den Tourismus anzukurbeln. In dieser Funktion regte er
den Bau eines Schwimmbades 1929 an, wofür er sehr viel von seinem eigenen Kapital
investiert haben soll. Die Gemeinde konnte sich nicht auf eine Kostenübernahme einigen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Investition soll er in den wirtschaftlich schwierigen
30er Jahren in große finanzielle Bedrängnis gekommen sein. 790 Jedenfalls steht im
Schwimmbad in St. Peter noch heute eine Gedenktafel für Friedrich Höfinger, die aber
erst viele Jahre nach seinem Tod errichtet wurde.791
Ende der 20er Jahre gingen er und Wilhelmine eine Beziehung ein und lebten zunächst
in „wilder Ehe“ in seinem Haus in St. Peter. 1931 kam die älteste Tochter Elly als uneheliches Kind zur Welt. Obwohl zwischen dem Paar 23 Jahre Altersunterschied bestanden, erzählen alle in der Familie, dass es sich um eine äußerst glückliche Bezie hung gehandelt hat (Abbildung 2). 1938 kam die zweite Tochter Margret zur Welt.
1939 wurde standesamtlich geheiratet; 1941 folgte Sohn Friedrich jun. und 1943
Sohn Heinrich.
In der Familie ist bekannt, dass das Ehepaar Höfinger dem Nationalsozialismus stark
zugetan war. Bei Friedrich Höfinger sen. ist, genauso wie bei Johann Grössing sen. und
jun., der Beitritt zur NSDAP auf seiner Mitgliedskarte mit dem 1. 5. 1938 vermerkt und
auch er hat mit der Mitgliedsnummer 6.218.157 792 eine der ausgesuchten Nummern
für jene österreichischen Nationalsozialisten, die sich bereits vor dem 11. 3. 1938 „als
789
790
791
792
Interview Höfinger.
Heide Stöckl, Wie es bei uns einmal war..., Eibiswald 1997, 84f.
Höfinger, Familienchronik, 23f.
NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle I27, Nr. 894.
337
Nationalsozialisten betätigt“ hatten. Somit wurde auch er als „Illegaler“ eingestuft.
Auch über ihn ist nicht genau bekannt, auf welche Art er sich „als Nationalsozialist betätigt“ hat. Sogar seine Frau Wilhelmine war Parteimitglied, was zur damaligen Zeit
eher ungewöhnlich war. Die NSDAP verstand sich hauptsächlich als Männerpartei und
nahm kaum Frauen als Mitglieder auf. Dafür waren andere der Partei angegliederte Organisationen zuständig, z.B. die NS-Frauenschaft. Wilhelmine Höfinger wurde am 1. 4.
1942 in die Partei aufgenommen, nachdem sie die Aufnahme am 1. 1. 1942 beantragt
hatte.793
In St. Peter am Kammersberg soll eine von einem deutschen Staatsbürger gegründete
Pelztier-Zuchtanstalt zur Keimzelle des Nationalsozialismus im ganzen Bezirk rangiert
sein. 1932/33 wurde auf diesem Anwesen ein Raum für Schulungszwecke zur Verfügung gestellt und ein SA-Sturm gegründet, dessen Kern die Mitarbeiter des Unternehmens waren. Obwohl es in St. Peter während des Juliputsches ruhig geblieben war,
dürften die Anstrengungen doch erfolgreich gewesen sein. Im Mai 1933 rangierte der
Gerichtsbezirk Oberwölz, zu dem St. Peter damals gehörte, auf Platz 3. in der Steiermark, die NSDAP Mitgliedszahlen betreffend. 794 Inwieweit Friedrich Höfinger in diese
Aktivitäten einbezogen war, kann nicht mehr nachvollzogen werden; St. Peter am
Kammersberg ist jedoch ein sehr kleiner Ort. Bei der Volkszählung 1934 wurden für
die ganze Gemeinde St. Peter am Kammersberg 2.146 Einwohner gezählt. 795 Da ist es
eher unwahrscheinlich, dass Friedrich Höfinger nichts von diesen Vorgängen mitbekommen hat. Kurt Bauer weist jedenfalls nach, dass sich in der Steiermark sehr oft
Gewerbetreibende mit ihrer ganzen Familie für die Nazis engagiert haben.796
NSDAP Mitgliederkartei, A 3340, Rolle I27, Nr. 923.
Kurt Bauer, Struktur und Dynamik des illegalen Nationalsozialismus in der obersteirischen Industrieregion 1933/34,
Dipl. Arb. Universität Wien, 1998, 122.
795
Statistik Austria, Volkszählungsergebnisse, Statistik der Standesfälle, Datenbank POPREG. Zu finden unter URL:
http://www.statistik.at/blickgem/blick1/g61425.pdf
796
Bauer, Struktur, 121.
793
794
338
Abbildung 2: Das Ehepaar Friedrich (mit NSDAP-Parteiabzeichen) und
Wilhelmine Höfinger, 1944.
Quelle: Höfinger, Familienchronik.
Von 1938 bis 1945 war Friedrich Höfinger nationalsozialistischer Gemeinderat in St.
Peter am Kammersberg.797 Außerdem war er als „Aufsichtsperson“ dem „kommissarischen Verwalter“ in der Gemischtwarenhandlung Humburger in Murau zugeteilt, die
sich im Besitz der „Jüdin“ Malvine Humburger befand. Diese Stelle hatte ihm sein
Schwager Othmar Pernthaler vermittelt, der ursprünglich als „kommissarischer Verwalter“ bestellt wurde.798 Friedrich Höfinger stellte sogar einen Antrag, das Geschäft
von Malvine Humburger im Rahmen der „Arisierung“ zu erwerben. 799 Auf Wunsch der
Murauer Kaufmannschaft wurde nach Beratung mit der Murauer Kreisleitung allerdings
beschlossen, das Geschäft zu „liquidieren“. 800 Die sogenannte „Liquidierung“ jüdischer
Klein- und Mittelbetriebe war eine beliebte Strategie der Nationalsozialisten, die Modernisierung der Wirtschaft in der „Ostmark“ voranzutreiben. Inventar und Lagerbestände des Geschäftes von Malvine Humburger wurden zu günstigen Preisen an die
Murauer Kaufmannschaft verkauft. Auch Friedrich Höfinger profitierte davon. Ernst
Humburger, der Sohn des Ehepaares Humburger, der den Holocaust als einziges Familienmitglied überlebt hatte, stellte nach dem Krieg ein Restitutionsbegehren gegen
Friedrich Höfinger und die anderen Kaufleute, zog ihn aber 1951 zurück.801
Walter Brunner: St. Peter am Kammersberg. Die Marktgemeinde stellt ihre Geschichte vor. St. Peter am
Kammersberg 1997, 405.
798
STLA, Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung, Komm 1938, Humburger Adolf/Murau, Schreiben von Franz Vasold an
den Staatskommissar in der Privatwirtschaft.
799
STLA, Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung, Komm 1938, Humburger Adolf/Murau, Schreiben von Friedrich
Höfinger an die Vermögensverkehrsstelle Wien, Zweigstelle Graz.
800
STLA, Finanzlandesdirektion, Arisierung, Komm 1938, Humburger Adolf/Murau, Schreiben der
Vermögensverkehrsstelle Wien, Zweigstelle Graz an den Kreiswirtschaftsberater der NSDAP Kreisleitung Murau.
801
StLA, Finanzlandesdirektion Graz, Rückstellung, L17-0374-1948, Amt der Steiermärkischen Landesregierung an die
797
339
Selbst durch seine nationalsozialistische Betätigung konnte sich Friedrich Höfinger
nicht der Einberufung in den sogenannten Volkssturm entziehen. Im Herbst 1944 wurde dieser aus allen wehrfähigen Männern im Alter von 16 bis 60 Jahren aufgestellt.
Friedrich Höfinger war damals 58 Jahre alt und wurde als „Volkssturmmann“ in der Untersteiermark eingesetzt.802 Der Murauer Volkssturm wurde im Kampfabschnitt Kalch
am sogenannten „Südostwall“ eingesetzt. Er kam zwei Tage zu spät am Abschnitt an,
da sämtliche Zufahrtsstraßen rund um Murau von Wehrmachtseinheiten auf dem
Rückzug sowie von Flüchtlingsströmen verstopft waren. Am 31. März wurde das gerade erst eingetroffene Murauer Volkssturm-Bataillon von russischen Panzern geradezu
überrollt. Erzählungen zufolge haben einige Mitglieder, des äußerst schlecht ausgerüsteten Bataillons, bereits die Flucht ergriffen, als die sowjetischen Panzer sich näherten.
Im allgemeinen Chaos löste sich das Bataillon auf. 803 Ob auch Friedrich Höfinger die
allgemeinen Auflösungserscheinungen genutzt hat, um den Heimweg anzutreten, ist
nicht bekannt. Jedenfalls geriet er nicht in Kriegsgefangenschaft und kam schon bald
wieder nach Hause zurück.
Nachdem die Briten den Bezirk Murau besetzt hatten, begannen die Entnazifizierungsmaßnahmen. Prominente Nationalsozialisten wurden in Internierungslager gebracht;
darunter auch Friedrich Höfinger. Sein Sohn Friedrich jun. erinnert sich heute noch,
wie die Engländer mit einem „Jeep“ gekommen sind und seinen Vater „raufverladen“
haben. Er ist sich sogar heute noch sicher, dass es ein Dodge war. Friedrich sen. war
dann zwei Jahre in Wolfsberg interniert, bis zum Herbst 1947. 804 In Murau gibt es
einen Linolschnitt mit der Aufschrift „Weihnacht 1945 Wolfsberg“; darauf sind die Unterschriften von 29 Murauern, neben der von Friedrich Höfinger auch die des ehemali gen Murauer Kreisleiters Franz Amberger.805
In der Familie wird über Friedrich Höfinger und seine Frau Wilhelmine oft in lobender
Weise gesprochen; Erzählungen über ihre Taten erinnern stark an die von den Nationalsozialisten propagierten Eigenschaften des „deutschen Mannes“ und der „deutschen
Mutter“. Tante Mitzi erzählte Friedrich Höfinger jun. über seine Eltern:
„Vater war ein Ehrenmann, der beste Gatte und Vater und unsere Mutter, von
allen liebevoll Minerl genannt, die Seele der Familie, tüchtig, fleißig, umsichtig,
geduldig und 100 Prozent Mutter.“806
Beide scheinen von der Ideologie des Nationalsozialismus wirklich überzeugt gewesen
zu sein. Sie waren deshalb auch aus der Kirche ausgetreten. 807 Meine Oma Hilde Maier
Bezirkshauptmannschaft Murau, 18. 9. 1951.
802
Interview Höfinger.
803
Karner, Steiermark 1986, 407f.
804
Interview Höfinger.
805
Wieland, Murau, 145.
806
Höfinger, Familienchronik, 19.
807
Höfinger, Familienchronik, 25.
340
erinnert sich, dass Wilhelmine sehr geweint hat, als im Radio durchgesagt wurde, dass
Hitler tot ist und bezeichnet sie dezidiert als „Nazi“:
„Wie dann der Hitler vom Führerbunker, wie der Krieg verloren war, hat ja der
Hitler auch aufgeben müssen, da hat er die Eva Braun erschossen und dann
sich. Da haben die Nazi geweint, unter anderem die Tante Minerl. Jaja, die sind
halt so eingestellt gewesen.“808
Während Friedrich sen. in Wolfsberg interniert war, kümmerte sich seine Frau Wilhelmine alleine um das Geschäft und die vier Kinder. Unterstützung bekam sie dabei von
Verwandten, die größte Hilfe war aber Maria Mohr. Maria war die Tochter jener Juliane
Mohr, die Wilhelmine als Baby in Pflege genommen hat. Die Familie Höfinger hatte
stets intensiven Kontakt zur Familie Mohr. Bereits während des Krieges, und noch viel
mehr danach, hat Maria Mohr viel im Haus und im Geschäft geholfen. 809 Auch meine
spätere Oma Hilde hat einige Zeit bei der Familie Höfinger verbracht und im Haushalt
sowie im Geschäft mitgearbeitet. So schaffte es Wilhelmine, das Geschäft zu erhalten.
Nach Friedrichs Heimkehr aus Wolfsberg normalisierte sich das Familienleben wieder.
1948 kam die jüngste Tochter Christine zur Welt. Man wollte die Vergangenheit hinter
sich lassen. So traten sie auch wieder in die Kirche ein und im März 1949 wurde kirchlich geheiratet.810
Friedrich Höfinger jun. steht dem Nationalsozialismus äußerst kritisch gegenüber. Dennoch ist es für ihn sehr schwierig bis unmöglich sich einzugestehen, dass seine Eltern
etwas Unrechtes getan haben. Er versucht mit allen Mitteln, den Vater zu verteidigen.
So schreibt er in der Familienchronik:
„In schlechten wirtschaftlichen Zeiten folgen die Menschen gerne Rattenfängern,
die das Blaue vom Himmel versprechen. Mein Vater trat 1938 der NSDAP bei
und war während der NS-Zeit Gemeinderat in St. Peter.“811
Die Internierung seines Vaters in Wolfsberg war seiner Ansicht nach völlig ungerechtfertigt:
„Seine Anhängerschaft zu diesem Regime musste er mit einer fast zweijährigen
Internierung im Lager Wolfsberg büßen. Die Leute, die dort inhaftiert waren,
waren durchwegs keine ‚Schwerbelasteten‘. Viele von ihnen hatten einer ‚Idee‘
gedient, ohne um die furchtbaren Folgen zu wissen. Auch der Pfarrer von St.
Peter, Johann Kots, bestätigte mir einmal, dass mein Vater keinem Ortsbewohner in dieser dunklen Zeit je geschadet hat.“
Friedrich jun. sagte im Interview, dass seine Eltern kaum über die Zeit des Nationalsozialismus gesprochen haben. Er habe auch nicht viel nachgefragt, weil er sie nicht
drängen wollte und außerdem erst 16 Jahre alt war, als der Vater starb. In diesem Alter habe er sich noch nicht für die Vergangenheit interessiert. Die Mutter zu fragen ist
808
809
810
811
Interview Maier.
Höfinger, Familienchronik, 19.
Ebd., 25.
Hierzu, und zum folgenden Zitat: Höfinger, Familienchronik, 26.
341
ihm nicht in den Sinn gekommen. Es wäre durchwegs möglich, dass er gar nicht zu
viel wissen wollte. Seine Frau Juliane bestätigt, dass auch ihre Mutter nicht über diese
Zeit sprechen wollte und sie die Kinder nicht drängen wollten. Friedrich jun. erzählt
von einem dicken Stapel an Briefen, die seine Eltern sich geschrieben haben, während
der Vater in Wolfsberg war. Im Interview erzählt er, dass er diese Briefe nie
angeschaut, keinen einzigen gelesen habe und sie vor einiger Zeit alle im Garten
verbrannt hatte. Als Begründung dafür gibt er an:
„Ich wollte mit diesen Geschichten die irgendwie sehr viel Unglück über die Familie und über die damalige Zeit gebracht haben, eigentlich nichts mehr zu tun
haben.“812
Mir persönlich erscheint es sehr drastisch, die Briefe einfach zu verbrennen. Friedrich
jun. nimmt hier die typische Haltung an, die nach dem Krieg üblich und bis heute auf recht war: die Familie war ein Opfer, zuerst ein Opfer Hitlers und seiner verführerischen Ideologie, dann ein Opfer des Krieges und nicht zuletzt ein Opfer der ungerechtfertigten Entnazifizierung. Selbst hat Friedrich jun. nur wenige Erinnerungen an die
Zeit des Nationalsozialismus, er wurde ja erst 1941 geboren. Er erinnert sich, dass vor
ihrem Haus eine riesige Hakenkreuzfahne gehangen hat. Damals war in St. Peter ein
RAD-Lager. Im selben Gebäude war auch der Kindergarten untergebracht, den Friedrich jun. ein paar Monate lang besucht hat. Am 16. 10. 1944 wurden Bomben auf St.
Peter am Kammersberg abgeworfen. Vermutungen legen nahe, dass das RAD-Lager
als Ziel geplant war, welches jedoch verfehlt wurde. 813 Friedrich jun. erinnert sich, dass
er später mit der oben erwähnten Maria Mohr den Bombentrichter auf einem Feld besichtigt hat. Auch an die Kolonnen von Soldaten, die auf dem Rückzug durch den Ort
gezogen sind, erinnert er sich. 814 Obwohl Friedrich jun. nicht viel nachgefragt hat und
auch nicht viel Veranlassung dazu sah, kann man aus so mancher Alltagsgeschichte
doch einiges ableiten. In der Familienchronik schreibt er, dass seine Eltern in seiner
Kindheit Tiere gehalten haben, neben Hühnern auch ein paar Schweine. Ein besonders
verunstaltetes Schwein, es war bucklig und schielte, erhielt den Namen „Churchill“. 815
Dies sagt meiner Ansicht nach viel darüber aus, dass auch nach dem Krieg noch eine
„gewisse“ Ideologie in der Familie bestand. Solche kleinen Scherze waren damals weit
verbreitet, offiziell sagte man nichts Belastendes. Gleichgesinnte verstanden jedoch
sehr gut, was man meinte. Da alle Geschwister von Wilhelmine stark dem Nationalsozialismus zugetan waren, kann man hier sicher von einem Milieu der „Ehemaligen“ im
Sinne von Margit Reiter sprechen816.
Interview Höfinger.
Wieland, Murau, 119.
814
Interview Höfinger.
815
Höfinger, Familienchronik, 27.
816
Gemeint sind ehemalige Nationalsozialisten, die auch nach dem Verbot der NSDAP noch in der NS-Ideologie
verhaftet waren. Siehe: Margit Reiter, Die Last der Erinnerung. Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, 2.
812
813
342
4.7 Hilde Maier, geb. Ponholzer (meine Oma)
Meine spätere Oma Hilde Maier wurde am 30. 3. 1927 als Hildegard Ponholzer in der
Wohnung ihrer Tante Maria Huber in Fohnsdorf geboren. Sie war die uneheliche Tochter von Anna Ponholzer und Othmar Pernthaler. Die Beziehung ihrer Eltern zerbrach
bald. Ihre Mutter Anna Ponholzer war als Stubenmädchen im Hotel Sonne in Murau
beschäftigt. Da es damals kaum Schutzvorschriften für Mütter und Kinder gab, musste
Anna bereits drei Wochen nach der Geburt wieder zur Arbeit gehen. Hilde kam auf ihren ersten Pflegeplatz zu einem älteren Ehepaar namens Moser in Murau. Bald darauf
brach in Murau Scharlach aus, weshalb man die Kleinkinder aus der Stadt bringen
musste. Anna fand für ihre Tochter einen Pflegeplatz bei zwei armen alten Frauen, die
sprichwörtlich in einer Hütte wohnten. Die beiden sollen bitterarm aber sehr liebevoll
gewesen sein und gut für das Baby gesorgt haben. Nach vier Wochen war die Scharlach-Gefahr gebannt und Hilde wurde mit der Pferdekutsche wieder zum Ehepaar Moser gebracht. Nachdem Frau Moser schwer erkrankte, erlaubte Frau Bayer, die Chefin
des Hotel Sonne, dass Anna ihr Kind mit ins Hotel brachte. In einem geflochtenen Wäschekorb wurde das Baby auf der Veranda untergebracht. Frau Bayer fand Gefallen an
der kleinen Hilde und nahm sie mit in die Hotelküche. Nachdem sie dort allerdings ihre
ersten Schritte gemacht hatte, wurde der Aufenthalt in der Küche, neben dem riesigen
Herd, für das Kind zu gefährlich. Frau Moser hatte sich mittlerweile erholt und so kam
das Kleinkind wieder zum Ehepaar Moser in Pflege.817
Abbildung 3: Hildegard Ponholzer mit ihren Eltern, Mai 1928.
Quelle: Foto im Privatbesitz der Autorin.
Heimo Taus, Aus dem Leben von Hilde Maier. Erinnerungen anlässlich ihres 80. Geburtstags, 1. Teil: Kindheit und
Jugend, Stainach 2007, 3.
817
343
1929 lernte Othmar Pernthaler seine spätere Frau Maria Hauser, eine Bauerntochter
aus Triebendorf, kennen. Das Haus, in dem Othmar Pernthaler im Erdgeschoss sein
Geschäft und im ersten Stock seine Wohnung hatte, lag gleich neben dem Hotel Sonne. Ab Weihnachten 1929 lebte Hilde im Haus ihres Vaters und seiner Lebensgefährtin.
1931 heirateten Othmar und Maria; 1932 kam Hildes Halbschwester Hertha zur
Welt.818 Später im Jahr 1932 musste Othmar Pernthaler Konkurs anmelden. Im Zuge
dessen wurde das Haus versteigert, die Familie verlor neben dem Geschäft auch die
Wohnung. Im Rahmen dieser Ereignisse ging auch die Beziehung zwischen Othmar
und seiner Frau Maria in die Brüche. Maria zog mit Hertha wieder in ihr Elternhaus
nach Triebendorf, Othmar bewohnte fortan ein kleines Zimmer in Untermiete. 819 Meine
Oma kam wieder zum Ehepaar Moser in Pflege.820
Als ihre Mutter Anna eine Stelle als Zahlkellnerin in Trieben bekam, nahm sie Tochter
Hilde mit. In Trieben war sie wieder bei Pflegeeltern untergebracht. Anlässlich des
Schuleintritts ihrer Tochter, war Anna der Meinung, dass Hilde nun alt genug sei und
keiner ganztägigen Aufsicht mehr bedurfte, weshalb sie von da an bei ihrer Mutter
wohnen durfte. Dies schien nicht so gut funktioniert zu haben, weshalb Hilde noch
während des ersten Schuljahres wieder umziehen musste; Anna brachte sie zu ihren
Eltern nach Judenburg. Diese bewohnten eine komfortlose Küche-Zimmer Wohnung.
Das Ehepaar Ponholzer war sehr arm, weshalb Maria Ponholzer, Hildes Großmutter,
nach ihrer Pensionierung als Schuldienerin in St. Peter ob Judenburg ein Zubrot ver diente. Darüber hinaus hatte das Ehepaar insgesamt zwölf Kinder, und einen Ehemann
der etwas zu sehr dem Alkohol zugeneigt war. Meine Oma erinnert sich aber, dass ihre
Großeltern sehr liebevoll waren und nennt diese Zeit „bescheidenes Kinderglück in der
fröhlichen Armut“. Dieses endete jäh während ihres zweiten Volksschuljahres. Hilde
kam am Faschingsdienstag von der Schule nach Hause und ihre Großmutter lag im
Sterben. Nach ihrem Tod führte Tante Rosl, die ledige Tochter ihres Großvaters, den
Haushalt.821
Im Herbst hatte Hilde noch die dritte Klasse der Volksschule in Judenburg begonnen.
Dann bekam ihre Mutter jedoch eine neue Stelle als Zahlkellnerin in Wald am Schoberpass. Dort lebte sie dann bei ihrer Mutter, wo sie auch die vierte Klasse der Volksschu le begann. Warum sie dann mitten im Schuljahr wieder nach Judenburg zu ihrem
Großvater und Tante Rosl übersiedeln musste, ist ihr nicht mehr in Erinnerung. Sie war
dort aber nur für kurze Zeit; ihre Mutter hatte in der Zwischenzeit den Pferdefrachter
Reicher aus Fohnsdorf geheiratet und holte ihre Tochter zu sich, wo diese die vierte
818
819
820
821
Taus, Aus dem Leben von Hilde Maier, 5.
Höfinger, Familienchronik, 14.
Taus, Aus dem Leben von Hilde Maier, 5.
Hierzu, sowie die folgenden Absätze: Taus, Aus dem Leben von Hilde Maier, 6-7.
344
Klasse der Volksschule beendete. Ihre Mutter fand in Fohnsdorf wieder eine Stelle als
Zahlkellnerin, weshalb Hilde teils bei ihrer Mutter und teils bei der Schwester ihrer
Großmutter, welche sie Tante Poldi nannte, wohnte. Tante Poldi lebte in großer Armut
und verbesserte ihr Auskommen, indem sie sich um die Wäsche der in Fohnsdorf beschäftigten Bergknappen kümmerte. Jeden Sonntag holte sie von den Bergarbeiterunterkünften zu Fuß die Wäsche in einem riesigen Wäschekorb.
Dann musste sie diese mit der Hand waschen, bügeln und flicken und brachte sie am
folgenden Sonntag wieder zurück. Hilde begleitete sie oft dabei und half ihr beim
Tragen des schweren Korbes. Mit dem bescheidenen Lohn kauften sie beim Kaufmann
Reis und Tee. Nach Abschluss der ersten Klasse der Hauptschule in Fohnsdorf holte ihr
Vater sie nach Murau, wo sie teils bei einer Familie namens Gandler und teils wieder
beim Ehepaar Moser in Pflege war. In dieser Zeit besuchte sie die zweite und dritte
Klasse der Hauptschule in Murau. Die vierte Klasse besuchte sie wieder in Fohnsdorf,
wo sie teils bei ihrer Mutter und teils bei Tante Poldi wohnte.
An ihre Kindheit hat meine Oma keine sehr glückliche Erinnerung. Natürlich haben die
vielen Umzüge und Schulwechsel und auch die vielen Pflegeplätze sie stark belastet.
Noch schwerer waren für sie aber jene Zeiten, in denen sie bei ihrer Mutter gelebt hat,
da diese sie regelmäßig geschlagen hat. Zur damaligen Zeit war dies noch in weiten
Kreisen üblich, die „gsunde Watschn“ war ein akzeptiertes Mittel der Kindererziehung
und es gab kaum jemanden, der ein Kind vor Misshandlungen geschützt hätte. Schon
oft erzählte mir meine Oma eine Episode aus ihrer Kindheit, die ihr bis heute sehr
nahe geht. Ihre Mutter hat mit einem Zweig so lange auf ihre Beine geschlagen, bis
diese bluteten. Am nächsten Tag wollte sie Strümpfe anziehen, damit man in der
Schule ihre Striemen nicht sah. Ihre Mutter hat ihr das aber verboten und gesagt, es
sollen nur alle ihre „Landkarten“ sehen.
1941 hat Hilde die vierte Klasse der Hauptschule in Fohnsdorf abgeschlossen. An den
„Anschluss“ hat sie keine besonderen Erinnerungen. Die erste Episode, an die sie sich
im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus erinnert, hat sie mir bereits oft erzählt. In Fohnsdorf veranstalteten die Nationalsozialisten eine Maifeier, wo die Kinder
des Ortes (wohl im Rahmen der Hitlerjugend) singen sollten. Dies fand abends statt
und Anna hatte, aufgrund ihrer Berufstätigkeit, nicht die Möglichkeit Hilde hinzubringen und wieder abzuholen. Da sie nicht wollte, dass ihre Tochter so spät noch alleine
aus dem Haus ging, verweigerte sie ihr die Teilnahme. Meine Oma erzählte mir, dass
bereits am nächsten Tag Vertreter der Ortsgruppe Fohnsdorf am Arbeitsplatz ihrer
Mutter erschienen und ihr sagten, dass sie ihre Tochter in Zukunft zu den Veranstaltungen gehen lassen soll, wenn sie ihren Arbeitsplatz nicht verlieren möchte. Derartige
Drohungen waren damals äußerst üblich, die lokalen NS-Größen sorgten penibel dafür,
345
dass alle Einwohner den örtlichen NS-Veranstaltungen beiwohnten, wie wir schon am
Beispiel des Murauer Kreisleiters Amberger sehen konnten.
Ihre nächste Erinnerung an das NS-Regime stammt aus dem Jahr 1938. Sie und ihre
Freundin Hella sahen das jüdische Ehepaar Humburger im Hof des Murauer Gefängnisses Marhof, da man vom Park des Schlosses Schwarzenberg aus in den Gefängnishof
sehen konnte. Meine Oma erzählte im Interview, dass sie und Hella zum Gefängnis
gingen, um mit dem Ehepaar Humburger zu sprechen. 822 Dies war damals durchaus
möglich; das Gefängnis Marhof scheint keine besonders hohen Sicherheitsstandards
gehabt zu haben und Murauer gingen dort sehr oft hin, um heimlich mit Inhaftierten
zu sprechen.823 Erstaunlich finde ich es, dass meine Oma es für notwendig befunden
hat zu betonen, dass das Ehepaar Humburger perfekt Deutsch sprach. 824 Schließlich
hatte die Familie Humburger schon lange vor der Geburt meiner Oma in Murau gelebt.
Hier tut die Propaganda der Nationalsozialisten, dass Juden keine Deutschen bzw. Österreicher seien, noch immer ihre Wirkung. Bei diesem Gespräch soll das Ehepaar geweint haben, weil sie ihren einzigen Sohn nach England schicken mussten.
Eine weitere bittere Erinnerung meiner Oma ist die Ermordung des behinderten Bruders eines guten Freundes. Im Rahmen der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, im
NS-Jargon mit dem Wort „Euthanasie“ verschleiert, wurden zahlreiche Menschen mit
Behinderung ermordet. Diese wurden von den Nationalsozialisten als „unnütze Esser“
und als ein „Ballast am deutschen Volkskörper“ gesehen. Ein Programmpunkt war die
Ermordung geistig oder körperlich behinderter Kinder. Diese begannen mit 18. 8. 1939
und wurden bis Kriegsende fortgesetzt. Mit einem Erlass vom 18. 8. 1939 wurden Ärzte und Hebammen angehalten, Kinder mit bestimmten Leiden zu melden. Hierfür wurden ihnen eigene Meldebögen zugesandt. Meldepflichtig waren zunächst Kinder bis
drei Jahre, 1941 wurde das Alter aber auf 16 Jahre angehoben. 825 Um alle Kinder zu
erfassen, die zu Hause bei ihren Eltern versorgt wurden, waren die Meldebögen bei allen Gesundheitsämtern erhältlich und wurden von den Amtsärzten an den Reichsausschuss weitergegeben. Von dort gingen sie an drei ärztliche Gutachter, die alleine auf grund dieser Informationen entschieden, ob das Kind getötet werden sollte. Hauptsächliche Entscheidungskriterien waren Erbkrankheiten und der zukünftige Nutzen der
Kinder für die „Volksgemeinschaft“. Den Eltern sollte Hoffnung auf Heilerfolge gemacht
werden, um die Abgabe der Kinder zu beschleunigen. Wenn die Eltern ihrem Kind „die
notwendige Behandlung verweigerten“, wurden ihnen wirtschaftliche Belastungen oder
der Entzug der Obsorge angedroht. Die Kinder wurden in sogenannte „Kinderfachab822
823
824
825
Interview Maier.
Hager, Weilharter, Zeit, 35f.
Interview Maier.
Karl Cervik, Kindermord in der Ostmark: Kindereuthanasie im Nationalsozialismus 1938-1945, Münster 2004, 14.
346
teilungen“ gebracht und dort ermordet. In vielen Fällen wurden sie von den Ärzten vor
ihrer Ermordung noch monatelang für medizinische Experimente missbraucht. 826 Die
Kinder wurden hauptsächlich durch Injektionen getötet oder man ließ sie schlichtweg
verhungern; es dürften nur wenige Kinder vergast worden sein. 827 Schließlich erhielten
die Eltern Todesmeldungen unter Angabe einer erfundenen Todesursache. 828 Diese
Morde sind nicht zu verwechseln mit der „Aktion T4“ 829, in deren Zuge ab September
1939 Erwachsene mit Behinderung ermordet wurden. Die „Aktion T4“ wurde nach Protesten aus kirchlichen Kreisen und der Bevölkerung offiziell eingestellt, ging jedoch
heimlich weiter. Die sogenannte „Kindereuthanasie“ war unabhängig von der Ermordung behinderter Erwachsener organisiert. Sie begann früher, bereits im August 1939,
und wurde bis Kriegsende ununterbrochen weitergeführt. Nach Schätzungen wurden
im Rahmen der „Kindereuthanasie“ in der „Ostmark“ rund 5.000 Kinder und Jugendliche ermordet.830
Die Geschichte der Familie Wohleser verlief genau nach diesem Schema. Die Familie
Wohleser lebte in Ranten; meine Oma war sehr gut mit Max Wohleser befreundet.
Sein Bruder war geistig behindert, wodurch ihn jeder im Ort kannte. Eines Tages wurde seinen Eltern mitgeteilt, dass er in eine Heilanstalt kommen sollte; es gebe neue
Möglichkeiten der Heilung. Seine Eltern hatten ein wenig Hoffnung; nach einigen Monaten bekamen sie aber die Mitteilung, dass er an Masern verstorben sei. Dies kam allen etwas seltsam vor und sie hörten sich in der Umgebung um. Da erfuhren sie, dass
es vielen Eltern, die ein behindertes Kind hatten, so ergangen war. Meine Oma ver wechselt hier in der Erinnerung zwar etwas, sie glaubt, dass die behinderten Kinder
nach Mauthausen gebracht und dort ermordet wurden. Dies verwundert allerdings
nicht, wenn man bedenkt, dass im Rahmen der Ermordung erwachsener Menschen mit
Behinderung oft als Duschen getarnte Gaskammern verwendet wurden. Dieses Bild
assoziieren wir in erster Linie mit den Vernichtungslagern. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, dass meine Oma erzählte, sie und einige Bekannte hätten sich
umgehört und bald erfahren, dass die Ermordung Behinderter System hat. Was den
Holocaust betrifft hält sich nämlich auch meine Oma an die allseits bekannte Aussage
„Davon haben wir nichts gewusst.“831
An eine Mitgliedschaft im Bund Deutscher Mädel (BDM) erinnert sie sich nicht. Der
BDM war eine Unterorganisation der Hitlerjugend (HJ), der dafür zuständig war, die
weibliche Jugend losgelöst vom Elternhaus ideologisch zu schulen und für die körperliMatthias Dahl, Die Tötung behinderter Kinder in der Anstalt Am Spiegelgrund 1940 bis 1945, in: Eberhart Gabriel,
Wolfgang Neugebauer (Hg.), NS-Euthanasie in Wien, Wien, Köln, Weimar 2000, 75-92, hier 76-82.
827
Cervik, Kindermord, 14.
828
Dahl, Tötung, 85.
829
Benannt nach der Zentraldienststelle der Nationalsozialisten, welche die Morde plante in der Tiergartenstraße 4 in
Berlin. Die Bezeichnung „Aktion T4“ findet sich in zeitgenössischen Quellen nicht und wurde erst nach 1945 üblich.
830
Dahl, Tötung, 76.
831
Interview Maier.
826
347
che Ertüchtigung zu sorgen. Im BDM sollten die Mädchen lernen, was es für die
Nationalsozialisten bedeutete, eine „deutsche Frau“ zu sein. Ab März 1939 galt die
Zwangsmitgliedschaft aller Kinder ab zehn Jahren für die HJ, alle Mädchen ab zehn
Jahren mussten daher dem BDM beitreten. Eltern, die ihre zehnjährigen Kinder nicht
zur HJ anmeldeten, wurden mit Geldstrafen oder sogar Haft bedroht. Dies ist historisch gesehen aber selten vorgekommen, die meisten Kinder traten mit Freude in die
HJ ein.832 Auch bei meiner Oma gehe ich davon aus, dass sie im BDM war. Über die
Einstellung ihrer Mutter zum Nationalsozialismus ist zwar nichts bekannt, wir wissen
aber bereits, dass ihr Vater ein „Alter Kämpfer“ war. Daher werden die Eltern den Eintritt ihrer Tochter in die HJ (BDM) sicher nicht verhindert haben.
Die erste tiefergreifende Veränderung in ihrem Leben war die Absolvierung des sogenannten „Pflichtjahres“. 1938 führte das Regime eine einjährige Arbeitsverpflichtung
für Frauen unter 25 Jahren ein. Diese durften von öffentlichen und privaten Betrieben
nur eingestellt werden, wenn sie eine mindestens einjährige Beschäftigung in der Land- oder Hauswirtschaft nachweisen konnten.833 Meine Oma verbrachte ihr Pflichtjahr
auf einem kleinen Bauernhof auf der Schlatting. Laut ihrem Arbeitsbuch war sie von 1.
8. 1941 bis 10. 8. 1942 „Pflichtjahrmädchen“ bei Fanni Gandler, landwirtschaftlicher
Betrieb. In diesem Arbeitsbuch gab es sogar eine eigene Seite, auf der bestätigt werden musste, dass man „Die Voraussetzungen der Anordnung über den verstärkten Einsatz weiblicher Arbeitskräfte in der Land- und Hauswirtschaft vom 15. 11. 38“ erfüllt
hat. Bei meiner Oma scheint hier ein Eintrag vom Arbeitsamt Judenburg auf, dass sie
die Voraussetzungen am 7. 8. 1942 erfüllt hat. 834 Während ihres „Einsatzes“ musste
sie sämtliche anfallende Arbeiten verrichten: Gartenarbeit, Hilfe bei der Ernte, Versorgung der Tiere, Arbeit im Haushalt. Sie erzählte mir immer, dass sie dort nicht gut behandelt worden war und sogar Hunger leiden musste. Einmal musste sie eine verschimmelte Brotscheibe essen, weil sie sonst nichts zu essen bekam. Nach dem
Pflichtjahr hätte sie einen bescheidenen Lohn bekommen sollen; die Familie weigerte
sich aber ihr diesen Lohn zu zahlen. Ihr Vater sagte daraufhin, sie solle „keinen Wirbel
machen“ und auf ihren Lohn verzichten. 835 Er verdiente mittlerweile gut in seiner, von
den Nationalsozialisten vermittelten, Stellung als Leiter der Ortskrankenkasse.
Durch seine neue Position hatte er auch gute Beziehungen und konnte seiner Tochter
Hilde so eine Lehrstelle als Industriekauffrau in der Brauerei Murau vermitteln. Auch
Herr Kuntschak, der Direktor der Brauerei, dürfte der NSDAP nahe gestanden haben.
Meine Oma erzählte mir nämlich im Interview, dass er zu dieser Zeit auch für die VerGisela Miller-Kipp, „Der Führer braucht mich“ Der Bund deutscher Mädel (BDM): Lebenserinnerungen und
Erinnerungsdiskurs, Weinheim, München 2007, 13-15.
833
Detlev Humann, „Arbeitsschlacht“ Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NS-Zeit 1933-1939, Göttingen 2011,
148-151.
834
Arbeitsbuch von Hildegard Ponholzer, im Privatbesitz von Heimo Taus.
835
Interview Maier.
832
348
waltung des Schlosses Schwarzenberg zuständig war. Da das Schloss von der NSDAP
enteignet wurde, gehe ich davon aus, dass sie die Verwaltung jemandem übergaben,
der aus ihrer Sicht „politisch zuverlässig“ war. Als Arbeitgeber war er für meine Oma
ein Glücksfall, was natürlich auch an der „Parteifreundschaft“ zu ihrem Vater liegen
konnte. Er bezahlte ihr die doppelte Lehrlingsentschädigung und brachte ihr immer
wieder selbstgemachte Mehlspeisen seiner Frau. Außerdem durfte sie jeden Tag so viel
Bier mitnehmen, wie sie in ihre Tasche packen konnte. Zu dieser Zeit wohnte sie bei
ihrer Großmutter väterlicherseits, Paula Grössing, in St. Egidi. Dieses Bier war in jener
Zeit sehr willkommen zur Versorgung der Familie, da die Lebensmittel im Laufe des
Krieges immer knapper wurden. Sie tauschten das Bier bei den umliegenden Bauern
gegen Lebensmittel.836 Ein großer Einschnitt in ihrem Leben war, als ihr Vater 1943
nach Polen eingezogen wurde und bald darauf an einem Magendurchbruch verstarb.
Ihr Vater war ihre wichtigste Bezugsperson gewesen und bis heute hält sie sein Andenken in allen Ehren.837 Ihre Lehre dauerte vom 1. 9. 1942 bis 3. 8. 1944. Laut ihrem
Arbeitsbuch war sie nach ihrem Lehrabschluss noch von 1. 9. 1944 bis 3. 5. 1945 als
Stenotypistin bei der Brauerei Murau beschäftigt. 838 Hier scheinen aber die Einträge
nicht präzise zu sein. Meine Oma erzählte mir, dass sie zu Beginn des Frühjahres 1945
zum Reichsarbeitsdienst (RAD) eingezogen wurde.839
1935 wurde in Deutschland eine halbjährige Arbeitsdienstverpflichtung für die männliche Jugend zwischen 18 und 25 Jahren eingeführt. Erst nach dem Überfall auf Polen
im September 1939 wurden auch Frauen verpflichtet. Es galten viele Ausnahmebestimmungen, z. B. konnte man sich wegen Schulbesuch, Ausbildung und Berufstätigkeit befreien lassen. In seinen Anfängen hatte der RAD hauptsächlich erzieherische
Funktionen. Er galt als „Ehrendienst am deutschen Volke“ und sollte die klassenlose
Gemeinschaft und die befriedigende Wirkung harter Arbeit vermitteln. Im Verlauf des
Krieges diente der RAD immer stärker kriegsbedingten Zielen und die Verpflichteten
wurden immer öfter für Kriegshilfsdienste in Anspruch genommen. Vor allem in der
Landwirtschaft sollten sie auch die, aufgrund des Kriegseinsatzes fehlenden, Arbeits kräfte ersetzen. Die jungen Frauen und Männer wurden während ihres Arbeitsdienstes
in geschlossenen Lagern fern ihres Heimatortes eingesetzt. Die RAD-Lager mit ihren
Strukturen wurden von den Verantwortlichen als „Vorform des nationalsozialistischen
Staates“ bezeichnet. Durch das Lagerleben sollten die jungen Menschen zu guten
„Volksgenossen“ erzogen werden. So wurden in den Lagern auch umfangreiche ideologische Schulungen vorgenommen.840
836
837
838
839
840
Taus, Leben, 8.
Interview Maier.
Arbeitsbuch von Hildegard Ponholzer.
Interview Maier.
NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, Jugend in Deutschland 1918-1945: Reichsarbeitsdienst. Zu finden
349
Hilde kam in ein RAD-Lager nahe Schloss Hunnenbrunn in St. Veit an der Glan. Kärnten wies eine außerordentliche Dichte an RAD-Lagern auf, in denen besonders viele
Steirerinnen untergebracht waren.841 Aber auch einige Mädchen aus dem „Altreich“
waren mit meiner Oma in dem Lager. Sie mussten dort schwere Feldarbeit verrichten.
Sie war dort nur für kurze Zeit, denn als die russische Front immer näher rückte, lies
die Leiterin das Lager auf. Sie wies die Mädchen an, sich schnellstmöglich auf den
Heimweg zu machen, damit sie nicht „den Russen in die Hände fallen“. 842 Die Angst
vor den Russen war damals in der Bevölkerung stark verbreitet. Jahrelang waren die
Russen als Todfeind propagiert worden. Geschürt wurden Gerüchte über Gräueltaten
von aus Russland nach Hause gekehrten Soldaten, bei denen wohl auch das Wissen
um die deutschen Kriegsverbrechen im Osten die Angst vor Rache verstärkt hat. Hilde
machte sich mit vier Mädchen aus dem „Altreich“ auf den Weg. Sie hatten Glück und
am Bahnhof hielt ein Lazarettzug, der in Richtung Fohnsdorf fuhr. Die Mädchen bestie gen den Zug, der jedoch bei Zeltweg auf offener Strecke unerwartet zum Stehen gebracht wurde. Dort stiegen sie aus und erreichten nach einem zweistündigen Fußmarsch das Haus von Hildes Mutter Anna Reicher in Fohnsdorf. Diese war nicht sehr
begeistert, dass ihre Tochter kurz vor Kriegsende vier fremde Mädchen mitbrachte.
Schließlich wurde den Mädchen aber erlaubt, zwei Nächte im Pferdestall zu schlafen.
Danach hielten sie eine Gruppe von Wehrmachtssoldaten auf, die gerade durch Fohnsdorf zogen. Meine Oma ist sich nicht sicher, ob es sich um Deserteure oder Wehrmachtssoldaten auf dem Rückzug handelte. Diese waren jedenfalls unterwegs ins „Altreich“ und willigten ein, die vier Mädchen mitzunehmen. Meine Oma weiß bis heute
nicht, ob diese gut zu Hause angekommen sind. 843 Wenn man aber die allgemeinen
Wirren zu Kriegsschluss, und die sich von allen Seiten nähernden Alliierten, in Betracht
zieht, ist es aus heutiger Sicht wohl fraglich, ob die Entscheidung sich einer Gruppe
von Wehrmachtssoldaten anzuschließen, die Beste war.
Kurz vor Kriegsschluss hatte Hilde noch ein Erlebnis, das ihr bis heute sehr nahe geht.
In Zeltweg gab es einen Fliegerhorst. Kurz vor Kriegsende kursierte in der Bevölkerung das Gerücht, dass der Fliegerhorst aufgelöst wird und dort Bettwäsche für die
Bevölkerung verteilt wird. Hilde und ihre Mutter fuhren daher mit dem Fahrrad nach
Zeltweg, um Bettwäsche zu bekommen. Auf dem Weg fanden sie am Straßenrand ein
ausgehobenes Grab, in dem einige junge deutsche Soldaten lagen. Anbei war ein
Schild befestigt, mit der Aufschrift:
„So ergeht es Vaterlandsverrätern. Wegen unerlaubter Entfernung von der Trupunter URL: http://www.jugend1918-1945.de/thema.aspx?s=1610
841
Bernhard Gitschtaler, Gailtaler Jugend im Nationalsozialismus. Hitlerjugend, Bund deutscher Mädel und
Reichsarbeitsdienst im Gailtal, Wien, Hermagor 2012, 31.
842
Taus, Leben, 8f.
843
Interview Maier.
350
pe standrechtlich erschossen“.
Hilde war darüber sehr erschüttert. Sie hat dann beim Fliegerhorst nachgefragt und
dort wurde ihr mitgeteilt, dass das Standrecht verhängt wurde und daher das Recht
bestand, aufgegriffene, desertierte Soldaten zu erschießen. Am 20. 4. 1945 waren tatsächlich sechs junge Deserteure vom Standgericht am Fliegerhorst zum Tode verurteilt
und nahe der Hauptstraße erschossen worden.844
Am 8. 5. 1945 ging der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation Deutschlands zu Ende.
Es herrschten chaotische Zustände. Flüchtlinge und Wehrmachtssoldaten versuchten,
sich von den nahenden sowjetischen Truppen abzusetzen. Entlang der Rückzugsrouten
fand man überall zurückgelassene Fahrzeuge, Waffen und Munition. 845 Die Menschen
versuchten panisch, Gegenstände aus ihren Haushalten verschwinden zu lassen, die
sie mit dem NS-Regime in Verbindung bringen konnten. So wie Maria die Poststempel
mit der Aufschrift „Heil Hitler“ vernichtet hat (siehe Kapitel 3). Am 9. 5. erschienen die
ersten sowjetischen Panzer in Knittelfeld, Zeltweg und Judenburg. Am 10. 5. begann
die eigentlich Besetzung durch die nachrückenden Truppenverbände der Roten Armee.
Am 10. 5. waren auch britische Truppen in Judenburg eingetroffen und verhandelten
mit Offizieren der Roten Armee. Danach zogen sich die Sowjets auf das nördliche Murufer zurück. Judenburg war somit doppelt besetzt, südlich der Mur britisch und nördlich der Mur sowjetisch. Der ganze Bezirk wurde zweigeteilt; Fohnsdorf blieb zunächst
in der sowjetischen Besatzungszone. 846 Die Murbrücke wurde zur Demarkationslinie,
die man anfangs noch mit einem Ausweis überschreiten konnte. Schließlich wurde
aber auch das verboten.847 Die Truppen der Roten Armee taten einiges, um den in der
Bevölkerung verbreiteten Schreckensbildern zu entsprechen. In der Oststeiermark
wurden zwischen 8. 5. und 4. 8. 1945 an die 9.493 vergewaltigten Frauen registriert.848 Man kann davon ausgehen, dass die Dunkelziffer um einiges höher war. In
vielen Regionen kam es zu Plünderungen und Diebstählen. Diese wurden allerdings
nicht nur von Angehörigen der Roten Armee und Fremdarbeitern begangen, sondern
auch die Bevölkerung der Umgebung, die schon länger unter Lebensmittelknappheit
litt, beteiligte sich an den Plünderungen.849
Meine Oma schildert den Einmarsch der Roten Armee in Fohnsdorf äußerst drastisch.
Sie erzählte im Interview, dass die Russen nur Wodka getrunken hätten und besoffen
mit Panzern kreuz und quer durch Fohnsdorf gefahren wären. Dabei hätten sie die
Heimo Halbrainer, Erinnern und Gedenken. Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum der Region Aichfeld-Murboden
für die Zeit 1938 bis 1945, in: Heimo Halbrainer, Michael Georg Schiestl (Hg.), Adolfburg statt Judenburg. NSHerrschaft: Verfolgung und Widerstand in der Region Aichfeld-Murboden, Graz 2011, 237-256, hier 241.
845
Meinhard Brunner, Ende mit Schrecken. Die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs in der Region Aichfeld-Murboden,
in: Halbrainer, Schiestl (Hg.): Adolfburg, 175-194, hier 181.
846
Brunner, Ende mit Schrecken, 181-183.
847
Günther Jones, Günter Schilhan, Vom Anschluss bis zum Staatsvertrag. Die Steiermark 1938-1955, Graz 2007, 95.
848
Karner, Steiermark, 98.
849
Brunner, Ende mit Schrecken, 183f.
844
351
Straßenlaternen beschossen und die Bauern ausgeraubt. Das Spital in Judenburg sei
voll von vergewaltigten Frauen gewesen. Hilde und ihre beste Freundin Hella waren
damals gerade einmal 18 Jahre alt. Sie versteckten sich bei ihrer Mutter im Taubenschlag vor den Sowjetsoldaten; drei Nächte verbrachten sie dort. Ihre Mutter war
1945 gerade 40 Jahre alt; sie soll sich als alte Frau verkleidet haben, um den Vergewaltigungen zu entgehen. Kurz bevor die inneren Zonengrenzen zu den jeweiligen Besatzungsräumen der übrigen Alliierten, und somit auch die Demarkationslinie an der
Murbrücke, von den Briten geschlossen wurden 850, überquerten Hilde und Hella die
Murbrücke, um die britische Zone zu erreichen. Vor den Sowjetsoldaten hatten sie
große Angst. Der Bezirk Murau war damals schon britisch besetzt. Sie gingen zu Tante
Mitzi, welche in Oberwölz in der britischen Zone wohnte und lebten einige Zeit bei ihr
in einem Untermietzimmer.851 Nach kurzer Zeit machte sich Hilde auf den Weg nach
St. Peter am Kammersberg, zu Wilhelmine Höfinger. Hella ging zu einer bekannten
Bauernfamilie nach Schöder. Friedrich Höfinger war damals bereits in Wolfsberg interniert und so half Hilde im Geschäft aus. Sie blieb bis zum 31. 8. 1945 bei der Familie
Höfinger.852
Im Geschäft Höfinger lernte sie Herrn Trojak kennen, der gerade die Bezirksstelle der
Handelskammer Murau aufbaute. Sie begann dort als Stenotypistin zu arbeiten und
mietete eine kleine Wohnung in Murau. Die Handelskammer war im Haus der Familie
Humburger untergebracht. Im selben Gebäude hatte auch der spätere ÖVP-Nationalrat
Karl Brunner (zu Karl Brunner siehe Anhang) sein Büro. Hilde verrichtete für ihn regelmäßig Schreibdienste, da er damals noch keine Sekretärin hatte. Als Entlohnung gab
er ihr silberne Löffel, welche sie wiederum bei Bauern gegen Lebensmittel eintauschte.
So diktierte er ihr auch das Schreiben für das Gnadengesuch des inhaftierten ehemaligen Murauer Kreisleiters Franz Amberger. An einen Satz kann sich meine Oma noch
genau erinnern: „Wir bitten für den Sohn unserer Stadt.“853
1948 lernte Hilde bei einer Tanzveranstaltung in St. Peter am Kammersberg Josef Taus
kennen. Im Frühjahr 1949 fand die Doppelhochzeit statt, Hilde heiratete Josef Taus,
ihre Tante Maria heiratete Hermann Weys. 854 Im Zusammenhang mit dieser Hochzeit
fand ich es sehr erstaunlich, als meine Oma mir erzählte, dass sie ein schwarzes
Hochzeitskleid getragen hat, weil auch die Braut von Franz Amberger ein schwarzes
Hochzeitskleid getragen hatte und das hat ihr damals so gefallen, weil es „einmal was
anderes“ war. Die Hochzeit des Kreisleiters, die im enteigneten Schloss Schwarzenberg
stattgefunden hatte855, blieb als ein großes Fest für die gesamte Murauer „Volksge850
851
852
853
854
855
Siegfried Beer, Die „britische“ Steiermark 1945-1955, Graz 1995, 470.
Interview Maier.
Arbeitsbuch von Hildegard Ponholzer.
Interview Maier.
Taus, Leben, 10.
Wieland, Murau, 279.
352
meinschaft“ der NS-Zeit in Erinnerung.
Am 30. 7. 1949 kam Gerhard, der erste Sohn des Paares, zur Welt. Am 23. 2. 1952
wurde der zweite Sohn Heimo geboren. Josef Taus hatte ein unberechenbares Temperament und war sehr eifersüchtig. Dies äußerte sich mit den Jahren immer stärker in
Form von psychischer und physischer Gewalt gegen seine Frau und seine Kinder, weshalb es 1958 schließlich zur Scheidung kam.
Abbildung 4: (vlnr.) Hildegard Ponholzer (meine Oma), Maria Grössing
(Tante Mitzi), Josef Grössing, Maria Mohr, vorne die vier Kinder von
Friedrich und Wilhelmine Höfinger (St. Peter am Kammersberg, 1945).
Quelle: Foto im Privatbesitz der Autorin.
1959 wurde der Jurist und Sozialdemokrat Dr. Anton Maier aus Graz in die Bezirkshauptmannschaft Murau versetzt; er sollte mein Großvater werden. Bald nachdem Hilde und er sich kennen lernten, wurden sie ein Paar. 1961 folgte die Hochzeit und im
April 1962 kam meine Mutter Luise Maier zur Welt. Berufsbedingt übersiedelte die Familie mehrmals, zuerst nach Bad Aussee, wo Anton Maier Expositurleiter der Bezirkshauptmannschaft wurde, schließlich nach Mürzzuschlag, wo er Bezirkshauptmann wurde. Immer wieder zog es das Ehepaar jedoch zurück nach Murau, obwohl Anton Maier
ursprünglich aus Weiz stammte und nur wenige Lebensjahre in Murau verbracht hatte.
Nichtsdestotrotz hatte auch er dort seine Heimat gefunden. Einige Jahre vor seiner bevorstehenden Pensionierung kauften sie ein Grundstück auf der Stolzalpe, auf dem sie
353
ein Haus bauten. Nach der Pensionierung übersiedelte das Paar in ebenjenes Haus, wo
sie bis zum Tod meines Großvaters im Jahr 2005 glücklich zusammen lebten. Meine
Oma lebt bis zum heutigen Tag in diesem Haus.
4.8 Verharmlosung und Opfermythos
Im Rahmen dieser Arbeit habe ich erstmals bewusst erfahren, dass einige Punkte unserer Familiengeschichte ausgeblendet, verharmlost oder gar geleugnet werden. Ich
schließe z.B. aus der langjährigen Betätigung für die NSDAP, dass Friedrich Höfinger
sen. und mein Urgroßvater Othmar Pernthaler bereits lange vor 1938 antisemitisch
eingestellt waren. Ihre Kinder hingegen schließen dies kategorisch aus. Hilde Maier
antwortete mir auf die Frage, ob ihr Vater einmal etwas gegen Juden geäußert hätte:
„Nein, dazu war er ein viel zu guter Mensch.“ 856 Friedrich Höfinger jun. meinte auf die
Frage hin, ob sein Vater einmal etwas zu seiner Einstellung gegenüber Juden geäußert
hätte, dass sein Vater nie etwas zu diesem Thema gesagt hätte, wobei er aber sofort
anfügte:
„Der war sicher kein Rassist oder hätte irgendwas gegen Juden gehabt. […] Dieser ganze Juden-Rassenhass war ja in Murau vor 1938 gar nicht existent. Aber
wenn man den Menschen sagt, wir nehmen den Juden das weg und wenn du
uns hilfst, dann kriegst du was davon, dann sieht man erst die Gier der Menschen.“857
Dass die Aussage, dass es in Murau vor 1938 keinen Antisemitismus gegeben habe,
falsch ist, konnte ich in dieser Arbeit bereits belegen. Dass er aber mit dem zweiten
Satz genau seinen Vater beschrieben hat, war Friedrich Höfinger jun. natürlich nicht
klar. Ich habe ihm nämlich nichts von meiner Entdeckung erzählt, dass sein Vater das
Humburger Geschäft im Rahmen der „Arisierung“ erwerben wollte. Ich wollte seine Illusionen über den eigenen Vater nicht zerstören.
Die Verleugnung der Existenz von Antisemitismus in Österreich vor 1938, sowie die
Meinung, dass dieser erst von den „bösen Nazis“ aus Deutschland zu uns gebracht
wurde, zieht sich bis heute durch breite Teile der Gesellschaft. Dies zeigt z.B. die Reaktion meiner Mutter, nachdem sie durch die Medien vernommen hatte, dass der „Dr.Karl-Lueger-Ring“ aufgrund Luegers antisemitischen Agitationen in „Universitätsring“
umbenannt wird. Meine Mutter ist als Religionslehrerin eine gebildete Frau, und hatte
im Zuge ihres Studiums auch Lehrveranstaltungen im Fach Geschichte. Trotzdem erzählte sie mir ganz schockiert, dass sie erst jetzt erfahren habe, dass „der Lueger ja
auch ein Nazi war“. Bisher hatte sie nämlich immer nur gehört, dass er so viel Gutes
856
857
Interview Maier.
Interview Höfinger.
354
für Wien getan hat. Diese Aussage ist für mich in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Sie
zeigt die weit verbreitete Meinung, dass Antisemiten mit Nazis gleichgesetzt wurden,
und es vor 1938 in Österreich keinen Antisemitismus gegeben habe (nach 1945
natürlich sowieso nicht). Zweitens finde ich es bedenklich, wenn eine Lehrerin, die ich
wirklich als keinesfalls antisemitisch oder rassistisch bezeichnen kann, den Mann, der
neben Schönerer als Begründer des politischen Massenantisemitismus österreichischer
Prägung gilt, bisher nur als Wohltäter wahrgenommen hat. Diese Wahrnehmung
erfolgte hier keinesfalls aus Ignoranz sondern lediglich aus reiner Unwissenheit.
Es ist österreichische Lebenslüge, dass vor 1938 in Österreich alles in Ordnung war
und „die bösen Deutschen“ und „der böse Hitler“ Österreich durch militärische Übernahme in die Verbrechen hineingezogen hätten. Meine Oma meinte im Interview, „Der
Hitler hätte nicht einmarschieren sollen.“ Auf meine verständnislose Nachfrage, wo er
nicht einmarschieren hätte sollen, in Polen, in Russland; antwortet sie: „Der Hitler? Na
Österreich hat er okkupiert.“858 Gerhard Botz bringt diese Einstellung in der Dokumentation „Hitlers Österreich“ auf den Punkt:
„Es war der Führer und es waren die Deutschen. Sonst nix. Es waren nicht wir.
Die anderen waren‘s, der war‘s und die waren‘s. […] Das sind nicht wir, sondern
wir haben auf Befehl gehandelt, wir sind verführt worden oder wir sind vergewaltigt worden.“859
Wenn ich in den Interviews die Ermordung der Juden ansprach, kam sofort die übliche
Antwort „Davon haben wir nichts gewusst“. Die ewig wiederkehrende Beteuerung,
dass man von den Konzentrationslagern erst nach dem Krieg erfahren habe, weil das
ja alles so heimlich abgelaufen sei. Ich möchte hier nicht in Frage stellen, wie viel man
wirklich gewusst hat. Dies haben einige Wissenschaftler bereits ausführlich erforscht,
die jüngsten Arbeiten zu dieser Frage sind u.a. von Peter Longerich 860 und Bernward
Dörner861. Mir geht es hier um einen ganz anderen Aspekt dieser Aussage. Selbst
wenn man nichts vom Massenmord gewusst hat, geschah die völlige Entrechtung, Beraubung, Misshandlung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung vor aller Augen.
Obwohl auch dies immer wieder geleugnet wird, muss im Endeffekt doch jeder zugeben, davon etwas mitbekommen zu haben. Das Schlimme ist jedoch, dass das alles
bis heute noch als harmlos angesehen wird, im Angesicht des noch viel stärkeren
Grauens, das noch folgen sollte. Durch die Schrecken des Völkermordes wurde der
Maßstab für das Unrecht nivelliert. Die Zeitzeugen fühlen sich nicht bemüßigt, sich zu
rechtfertigen, wie sie all das davor zulassen konnten und werden letztlich auch selten
Interview Maier.
ZDF Dokumentation „Hitlers Österreich“, Teil 2: Der Krieg.
860
Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945, München
2006.
861
Bernward Dörner, Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte, Berlin
2007.
858
859
355
danach gefragt. Lediglich die Frage nach dem Völkermord ist leicht dahingehend zu
beantworten, dass man davon ja nichts gewusst habe. Die Einsicht, dass jegliche
Benachteiligung – und sei es nur ein böses Wort - die man nur deshalb erfährt, weil
man einer tatsächlichen oder konstruierten Gruppe zugeordnet wird, so wie es damals
mit den Juden geschah, Unrecht ist, kommt hierbei unter die Räder.
Ich habe meine Oma im Interview auf diesem Punkt festgenagelt. Ich sagte ihr, dass
sie ja zumindest mitbekommen haben muss, dass den Juden alles weggenommen
wurde, dass sie öffentlich beschimpft und misshandelt, im Gefängnis eingesperrt, dass
sie vertrieben wurden oder ins Ausland flüchten mussten. Sie versuchte es mit Ausflüchten, dass sie das damals wohl gar nicht wirklich verstanden hätten. Erst auf nochmalige Nachfrage meinerseits kam endlich der Durchbruch in unserem Gespräch:
„Vielleicht ist auch so viel gehetzt worden damals, dass einem gar kein richtiges
Mitleid, verstehst, so ähnlich“.862
Schließlich gab sie also zu, sehr wohl einiges mitbekommen zu haben, aber durch die
NS-Propaganda so beeinflusst gewesen zu sein, dass sie kein richtiges Mitleid gehabt
hätte. Auch Friedrich Höfinger jun. spricht seinem Vater jegliches Wissen über den Genozid ab, obwohl er selbst sagt, dass er nie mit ihm über dieses Thema gesprochen
hätte. Er stellt seinen Vater als unwissendes Opfer dar, das an eine Bewegung geglaubt hat und schließlich von diesem Regime betrogen wurde.
5 Resümee
Ich habe mich schon vor meinem Studium viel mit der Zeit des Nationalsozialismus
beschäftigt und mich im Laufe des Studiums (sofern es der Studienplan zuließ) vor allem auf dieses Thema konzentriert. Mit meiner Oma Hilde Maier habe ich zwar oft private Gespräche über die Zeit des Nationalsozialismus geführt, auf die Idee einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Familiengeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus bin ich aber vor dieser Arbeit nicht gekommen. Einige Dinge waren mir schon bekannt, z.B. dass mein Urgroßvater illegaler Nationalsozialist war oder dass meine Tante Mitzi bis heute vom Nationalsozialismus überzeugt ist. Erst im Rahmen dieser Arbeit
habe ich aber erfahren, wie tief die NS-Verstrickung meiner Familie reicht. Es ist zwar
beruhigend, dass zumindest keine Mörder im wörtlichen Sinn unter meinen Vorfahren
sind, dass jedoch so gut wie alle männlichen Familienangehörigen Mitglieder der NSDAP waren, hat mich stark getroffen. Dass sie alle auch noch „Alte Kämpfer“ oder „Illegale“ waren, noch mehr. Sehr schlimm war es für mich zu erfahren, dass mein Urgroßvater zum „kommissarischen Verwalter“ des Geschäftes von Malvine Humburger be862
Interview Maier.
356
stellt wurde. Noch schlimmer war es für mich, dass Friedrich Höfinger sen. versucht
hat, das Geschäft von Frau Humburger im Wege der „Arisierung“ zu erwerben. Immerhin lebte die Familie Humburger schon seit vielen Jahren in Murau und war allseits bekannt.
Dass der Nationalsozialismus auch in Murau existiert hat war mir zwar bewusst, ich
habe aber nie ernsthaft darüber nachgedacht. Ich kann mich zwar erinnern, dass meine Oma mir schon früher einmal davon erzählt hat, dass das jüdische Kaufmannsehepaar im Gefängnis war. Aber all das habe ich psychisch in den Kontext „NS-Zeit“ eingeordnet, es stimmte auch mit meinen bisherigen Informationen über die NS-Zeit
überein. Ich habe es aber nicht wirklich in Zusammenhang mit der Stadt Murau, und
schon gar nicht mit meiner Familie, gebracht. Meine Oma spricht hauptsächlich vom
„Krieg“, wenn sie vom Nationalsozialismus spricht. Auch im Interview sagte sie zwei
Mal „38 bis 45 haben wir Krieg gehabt.“ 863 Das ist kein Einzelfall, in den meisten Familien ist das Reden über den Nationalsozialismus automatisch Reden über den Krieg. 864
Auch ich sah meine Vorfahren in der NS-Zeit hauptsächlich als Opfer oder Akteure des
Krieges. Ich konnte mir vorstellen, wie sie als Soldaten an der Front kämpfen, oder
wie sich meine Oma als junge Frau im Taubenschlag vor den Sowjetsoldaten versteckt,
und wie die Briten Murau besetzen. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass schon
lange in Murau wohnhafte Bürger verfolgt, enteignet und vertrieben werden, weil sie
als „Juden“ klassifiziert wurden. Ich habe nie bedacht, dass Mitglieder meiner Familie
unter diesen „Nazis“ waren, die den Menschen das antaten.
Mir persönlich ist es ob all dieser Entdeckungen und Erkenntnisse zeitweise wirklich
schwer gefallen, diese Arbeit zu schreiben. Es fällt um einiges leichter, über fremde
Menschen zu schreiben, als über die eigene Familie. Auch, dass all dies in meiner Heimatstadt Murau passierte, war für mich schwer zu verkraften. Ich spürte oftmals eine
tiefe Verbundenheit zur Familie Humburger, teils hatte ich Tränen in den Augen, je
mehr ich über ihr Schicksal herausgefunden habe. Dies ist zwar soweit nichts Beson deres, mir kommen oftmals auch die Tränen wenn ich von Massenerschießungen, Konzentrationslagern, etc. lese, noch näher gehen mir die dazugehörigen Bilder in Dokumentationen. Bei den Murauer Juden kommt aber ein starkes Schuldgefühl hinzu, weil
einige Mitglieder meiner Familie direkt daran beteiligt waren und auch, weil jene, die
nicht beteiligt waren, nicht geholfen haben. Auch dass sich die Murauer gegenüber der
Holocaust-Überlebenden Elsa Blau so übel benommen haben, hat mich mitgenommen.
Ich habe die Murauer immer als besonders freundlich und gastfreundlich erlebt. So
war es für mich schwer einzusehen, dass sie ausgerechnet eine Frau, der so viele
863
864
Interview Maier.
Reiter, Last, 2.
357
grausame Dinge angetan wurden, so ausgegrenzt haben. Dass meine Oma diese
Ausgrenzung mitgetragen hat, kann ich nicht mit meinem Bild von ihr in Einklang
bringen. Ich kenne sie nur als gutherzigen und extrem mitleidsvollen Menschen, wir
können z.B. bei keinem Bettler vorbeigehen, ohne dass sie ihm Geld gibt.
Alles in allem bin ich aber froh, diese Arbeit geschrieben zu haben, und jetzt besser
über die Geschichte meiner Familie sowie über die Geschichte Muraus informiert zu
sein.
6 Anhang: Karl Brunner – Muraus „Retter vor den Russen“
Der Name Karl Brunner ist in Murau wohl jedem bekannt und untrennbar mit der Geschichte des Nationalsozialismus verbunden. Es gibt kaum einen Zeitzeugenbericht,
der ohne den Namen Karl Brunner auskommt, als Beispiel sei hier der Bericht von
Dietrich Derbolav, der die Kriegszeit als Kind auf der Stolzalpe verbracht hat, genannt,
in der wie selbstverständlich Karl Brunner erwähnt wird. 865 Nach dem Krieg wurde
Brunner Nationalrat der ÖVP und Erster Landtagspräsident der Steiermark. 866 In Murau
spricht man über ihn stets nur als „Nationalrat Brunner“. Brunner wurde in Murau die
Ehrenbürgerschaft verliehen, es wurde ihm in der Stadt ein Denkmal errichtet, eine
Siedlung nach ihm benannt, die Landesberufsschule sowie das Europahaus in Neumarkt tragen seinen Namen.867 Auch in den beiden Zeitzeugeninterviews mit meiner
Oma Hilde Maier und mit Friedrich Höfinger jun. wird Karl Brunner erwähnt. Die Inter views zeigen, dass sich um diesen Mann viele Mythen ranken, weshalb ich mich um
Aufklärung der tatsächlichen Rolle Brunners bemüht habe. Eine ausführliche Recherche rund um Karl Brunner würde, aufgrund der Fülle der Ereignisse, den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Mein Hauptaugenmerk gilt der Frage, wie weit die in Murau tradierte Geschichte wahr ist, dass Karl Brunner durch eine List die russische Besetzung
Muraus verhindert hat.
Karl Brunner wurde am 31. 12. 1889 in Vitis, im Bezirk Waidhofen an der Thaya, als
Sohn eines Baumeisters geboren. Er erlernte den Kaufmannsberuf und ließ sich 1918,
nachdem er im Ersten Weltkrieg an der Ostfront gekämpft hatte, in Murau als selbstständiger Kaufmann nieder. Er begann, sich politisch zu betätigen und war von 1924
bis 1938 christlich-sozialer Gemeinderat, einige Jahre davon war er auch Vizebürgermeister. Im Zuge der immer stärker werdenden Paramilitarisierung gründete Brunner
1919 als erster im Bezirk Murau die Heimwehr und wurde deren Gauführer. Mit Beginn
Gert Dressel, Günther Müller, 1945 erinnern. Ein lebensgeschichtliches Leseheft. „Dokumentation
lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“, Institut f. Wirtschafts- u. Sozialgeschichte, Universität Wien 2005, 37-38.
866
URL: http://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_00110/
867
URL: http://murau.riskommunal.net/system/web/zusatzseite.aspx?detailonr=220272637
865
358
des Jahres 1921 standen ihm rund 500 Männer im Bezirk Murau zur Verfügung. 868 Ab
1930 spaltete sich der Heimatschutz in einen großdeutschen Flügel, den nunmehr
nationalsozialistischen steirischen Heimatschutz, unter der Führung von Konstantin
Kammerhofer, und einen regierungstreuen Flügel, die sogenannten Legalisten, den
Österreichischen Heimatschutz unter Ernst Rüdiger Starhemberg. 869 Die Murauer
Gruppe unter Brunner blieb stets regierungstreu. 870 Murau wies von allen steirischen
Bezirken die größte Anzahl an regierungstreuen Heimatschützern auf. 871 Dies dürfte
vor allem mit Brunners vielgelobtem Charisma und seiner Führungspersönlichkeit zu
tun gehabt haben, da der Bezirk Murau den Nationalsozialisten im Allgemeinen sehr
zugetan war (siehe Kapitel 2).
Hilde Maier erzählte mir im Interview, dass Brunner in Lind bei Scheifling ein paar Soldaten erschlagen hätte, und deshalb kein so schönes Grab in Murau verdienen würde.
Sie schildert Brunners Tat als äußerst grausam. Er hätte den Zuschauern sogar stolz
den Gewehrkolben mit dem Hirn der Erschlagenen gezeigt. 872 In einem früheren Gespräch zu diesem Thema hat sie mir gesagt, dass ihr der ehemalige Murauer Kreisleiter Franz Amberger diese Geschichte erzählt hat und dass es sich bei den erschlagenen Männern um Nazis gehandelt hätte. Bereits damals konnte sie sich aber nicht
mehr an die Zusammenhänge erinnern, warum Brunner Nazis erschlagen sollte. Im
Interview erzählte sie mir, dass Brunners Tat zu Kriegsende geschehen sei und rätselte, ob es sich bei den erschlagenen Männern um Engländer oder Deutsche gehandelt
habe. Als abschließende Erklärung bringt sie vor „Es ist ja zugegangen damals!“.
Somit komme ich nun zur Rekonstruktion der Ereignisse rund um den Juliputsch der
Nationalsozialisten. Im Juli 1934 wurden die Heimwehren des Bezirkes Murau zum Einsatz beordert, um bei der Niederschlagung des Aufstandes der Nationalsozialisten mitzuwirken.873 Brunner selbst schilderte die Ereignisse bei einer Einvernahme 1945.
Nachdem zwei Heimatschützer in Niederwölz angeschossen worden waren, wurde er
telefonisch verständigt und befahl einen MG-Zug und einen Sturmzug zum Abmarsch
nach Niederwölz, wo er mit den beiden Zügen um 22 Uhr eintraf. Unter Brunners Kommando stürmten sie den Gasthof Raß, der von den Nationalsozialisten besetzt worden
war. Im Zuge dessen kam es zu Kampfhandlungen. Der SA-Mann Marchl verletzte
Brunner mit einem Bajonett. Daraufhin wurde Marchl vom Murauer Heimatschützer
Georg Pezl erschossen. Bei Kämpfen in den folgenden beiden Tagen wurden weitere 10
Aufständische erschossen. Über 100 Nationalsozialisten wurden verhaftet. Soweit
868
869
870
871
872
873
Wieland, Murau, 305f.
Bauer, Steiermark, 231.
Wieland, Murau, 77.
Bauer, Steiermark, 31.
Interview Maier.
Schreiben des Gendarmeriepostenkommandos St. Lamprecht vom 30. Juli 1934, zitiert bei Wieland, Murau, 82.
359
Brunners Darstellung der Ereignisse. 874 Die Gendarmeriechronik des Postens Murau
spricht von über 100 festgenommenen Nationalsozialisten, die in der Turnhalle
interniert und am 29. 7. nach Graz transportiert wurden. 875 Dies deckt sich mit
Brunners Aussagen.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs am 12. 3. setzten auch im Bezirk Murau umgehend
Verhaftungen politischer Gegner ein, einige Personen begingen Selbstmord. Karl Brunner wurde am 13. 3. in Judenburg von der SA verhaftet und in das dortige Gericht
eingeliefert.876 Am 20. 9. wurde ihm in Leoben der Prozess gemacht. Die Anklage lautete auf Anstiftung zum Mord und schwere Körperverletzung. In der Anklageschrift ist
auch festgehalten, dass Brunner und seine Männer gefangene Nationalsozialisten mit
Gewehrkolben schwer misshandelt hätten. Dies deckt sich mit der Geschichte, die Amberger meiner Oma erzählt hat, wobei die Ereignisse in ihrer Erzählung noch weiter
ausgeschmückt wurden. Brunner und ein weiterer Heimwehrmann wurden wegen der
Erschießung des Nationalsozialisten Marchl, welcher laut Anklageschrift bereits wehrlos
am Boden lag, als Brunner den Befehl gab ihn zu erschießen, und wegen schwerer
Körperverletzung am SA-Scharführer Feuchter, welcher laut Anklageschrift ebenfalls
bereits entwaffnet am Boden lag, als Brunner mit dem Gewehrkolben auf ihn einschlug, zu lebenslangem schweren Kerker verurteilt.877
Brunner erzählte bei seiner Einvernahme 1945, dass die Anklage eigentlich auf Todesstrafe gelautet hatte und nur auf lebenslangen Kerker gemindert wurde, weil für
die Todesstrafe keine Stimmeneinheit zustande kam. Seine schwere Bestrafung soll
zustande gekommen sein, weil die NSDAP-Kreisleitung Murau, unter Angabe schwerster Unwahrheiten in mehreren Schreiben an die Staatsanwaltschaft Leoben, die Todesstrafe für Brunner gefordert hatte. 878 In Anbetracht dessen erstaunt der Einsatz
Brunners für den inhaftierten ehemaligen Kreisleiter Amberger noch viel mehr (siehe
Kapitel 2). Am 22. 2. 1940 wurde das Urteil vom Reichsgericht Leipzig auf 15 Jahre
schweren Kerker gemindert. Am 13. 3. 1940 wurde Brunner in das Zuchthaus Karlau
in Graz zur Verbüßung seiner Strafe überstellt.879
Für die folgenden Vorkommnisse in Brunners Leben konnte ich keinerlei Quellen finden
und kann daher hier nur jene Gerüchte wiedergeben, die Wolfgang Wieland in seinem
Buch über Murau aufgegriffen hat:
„Am 6. April wurden bei einem Bombenangriff auf die Strafanstalt Karlau 15
Niederschrift vom 6. 6. 1945 beim Gendarmerieposten Murau über Karl Brunner, Public Record Office Kew, London
W 170/7127. Zitiert bei Kurt Bauer, Juliputsch 1934 in der Steiermark. Auszüge aus Prozessberichten, 11.
875
Gendarmerie-Chronik des Postens Murau, zitiert bei Wieland, Murau, 582.
876
Wieland, Murau, 101f.
877
Kleine Zeitung, Graz, 20. September 1939, 9. Zitiert bei Bauer, Juliputsch, 10f.
878
Niederschrift vom 6. Juni 1945 beim Gendarmerieposten Murau über Karl Brunner, Public Record Office Kew,
London, WO 170/7127. Zitiert bei Wieland, Murau, 102.
879
Wieland, Murau, 102.
874
360
Wachebeamte
verletzt.“880
und
150
kriminelle
[sic!]
Häftlinge
getötet
oder
schwer
Ich zweifle an der Richtigkeit der Datierung. Walter Brunner hat eine Liste der Bombentoten von Graz in den Jahren 1941-1945 erstellt. Diese Liste beruht auf den Aufzeichnungen von Rudolf Weißmann, welcher von Mai 1942 bis Mai 1945 stellvertretender Kommandant der Schutzpolizei Graz war. In dieser Funktion hat er Aufzeichnungen
über die Bombenangriffe auf Graz geführt, welche sich im Steirischen Landesarchiv
befinden. Sämtliche Tote, aufgrund eines Bombenangriffes auf die Strafanstalt Karlau,
sind hier auf den 19. 2. 1945 datiert; am 6. 4. 1945 werden keine Toten in der Karlau
verzeichnet.881 Auch in der Chronologie der Luftangriffe auf Österreich des virtuellen
Militärluftfahrt-Journals ist für den 6. 4. 1945 kein Angriff auf Graz verzeichnet. 882 Daher kann man davon ausgehen, dass Wieland das Ereignis falsch datiert hat. Auch
Friedrich Höfinger jun. erzählt im Interview davon, dass Brunner nach dem Bombenangriff mitgeholfen hat, Gefängniswärter aus dem Schutt auszugraben und somit zu
retten, weswegen er begnadigt und „nach Murau zurückgeschickt“ wurde. 883 Ich konnte keine verlässlichen Quellen finden, die dies bestätigen bzw. widerlegen.
Relativ bald nach seiner Rückkehr nach Murau wurde Brunner eine der zentralen Figuren der lokalen Initiative der Widerstandsgruppe „Österreichische Freiheitsbewegung“.
Laut dem Gendarmen Johann Glettler, welcher ebenfalls der Widerstandsbewegung
angehörte, soll Brunner bereits am 1. 5. 1945, als einziger in Murau, die rot-weiß-rote
Fahne gehisst haben. Ein SS-Offizier, der auf dem Rückzug durch Murau kam, soll die
Fahne mit einem Säbel zerrissen und versucht haben, in Brunners Haus einzudringen,
wovon Glettler ihn aber abhalten konnte.884
Einer der Mitinitiatoren der Freiheitsbewegung war Alfred Weitzendorf, welcher später
als Generaldirektor der Steirerbrau AG bekannt werden sollte. 885 Weitzendorf erzählte
Prof. Stefan Karner von seinen Erinnerungen. Ab Ende April 1945 war Weitzendorf im
Lazarett auf der Stolzalpe untergebracht. Der damalige ärztliche Leiter Dr. Schosserer
soll äußerst regimekritisch gewesen sein und im Lazarett ein Refugium für regimedistanzierte Personen geschaffen haben. So kam Weitzendorf mit der Gruppe der Murauer Freiheitsbewegung in Kontakt, der auch Brunner angehörte. 886 Gemeinsam mit
Ebd. 136. Interessant ist, dass Wieland ausgerechnet in diesem Zusammenhang von 150 „kriminellen“ Häftlingen
schreibt. Brunner war schließlich einer der Häftlinge in der Karlau und es war bekannt, dass dieser nur wegen seiner
politischen Gegnerschaft zur NSDAP inhaftiert wurde.
881
Walter Brunner, Die Bombentoten von Graz 1941-1945, aus der Dokumentation Weissmann.
882
URL: http://www.airpower.at/news03/0813_luftkrieg_ostmark/timeline.htm
883
Interview Höfinger.
884
Wieland, Murau, 142.
885
Mein Dank gilt Prof. Stefan Karner für den entscheidenden Tipp, der mich mit dem Namen Alfred Weitzendorf auf die
richtige Spur der Ereignisse rund um die Besetzung Muraus gebracht hat.
886
Prof. Stefan Karner im Gespräch mit DDr. Alfred Weitzendorf. Gesprächsprotokoll vom 24. 4. 1985. Zitiert bei Klaus
Heitzmann, „Die Wiesen wurden buchstäblich kahlgefressen“ Aspekte der Kriegs- und frühen Nachkriegsgeschichte im
Lungau um 1945, Salzburg in Geschichte und Politik, Mitteilungen der Dr.-Hans-Lechner-Forschungsgesellschaft, 9.
Jahr 1999, Nr. 2/3, 7f.
880
361
dem ehemaligen Oberleutnant Strenitz, der sich gegen Kriegsende ebenfalls im
Lazarett auf der Stolzalpe aufhielt, schloss sich Weitzendorf dieser an. Nachdem sie
am 8. 5. über Rundfunk vernommen hatten, dass der Krieg zu Ende ist, besetzten sie
die Kreisleitung. Gerhard Stepantschitz kam auf dem Weg in seine Heimatstadt Graz
durch Murau. Später erzählte er, dass er die rot-weiß-rote Fahne an der Kreisleitung
hängen sah und deswegen sofort hinein ging. 887 Stepantschitz gelang es, telefonisch
Kontakt
zu
einem
Freund
bei
der
Polizeileitung
im
russisch
besetzten
Graz
aufzunehmen. Nach dessen Angaben „merkten wir schon, dass es in Graz nicht sehr
gemütlich sein konnte.“888
So fasste die Widerstandsbewegung den Plan, die russische Besatzung Muraus zu verhindern. Zuerst dachten sie, die Amerikaner würden die Besatzung Muraus planen. Es
stellte sich jedoch heraus, dass dies nicht der Fall war. Sie konnten in Erfahrung bringen, dass die Engländer bereits in Villach waren, diese jedoch nicht nach Murau kom men konnten, weil sämtliche Straßen und befahrbaren Wege verstopft waren.889 In den
letzten Kriegstagen waren die Straßen in und um Murau voll mit der Wehrmacht, der
SS und der Bevölkerung. Die einen auf dem Weg zur „Alpenfestung“ in den Salzburger
Alpen, die anderen wollten sich in amerikanische Kriegsgefangenschaft begeben, manche versuchten, über Salzburg das „Altreich“ zu erreichen, wieder andere wollten einfach nur so weit wie möglich weg von der Roten Armee.890
Die Sowjets hatten bereits Judenburg besetzt, es bestand daher täglich die Gefahr,
dass die Rote Armee von dort aus in Murau einmarschieren würde. Die Freiheitsbewegung fasste daher den Plan, eine britische Besatzung Muraus vorzutäuschen. In Murau
befanden sich einige britische Kriegsgefangene, die zumeist als Zwangsarbeiter in der
Landwirtschaft beschäftigt waren. Diese wurden von den Höfen geholt und von der Bevölkerung mit Waffen ausgestattet. Außerdem wurden britische Fahnen genäht, welche aus einem Lexikon kopiert wurden. Ab hier variieren die Angaben der Zeitzeugen
ein wenig, was wohl auch daran liegen mag, dass die Zeitzeugenberichte erst viele
Jahre später festgehalten wurden, und bis dahin nur Gerüchte kursierten.
„Glettler meint, dass Brunner und er selbst die Kriegsgefangenen ausgerüstet
hätten, die dann eine britische Besatzung in Murau vortäuschten, indem sie die
Bundesstraße beim Mauthofbauern, eineinhalb Kilometer östlich von Murau, absperrten. Stepantschitz hingegen erinnert sich, dass er selbst mit den Gefangenen gesprochen und an dem Coup mitgewirkt habe. Die englischen ‚Besatzer‘
seien dann in Richtung Judenburg in Marsch gesetzt worden, bis sie auf russische Verbände stießen. Dies entspricht auch der Erinnerung Weitzendorfs, der
ergänzend hinzufügt, dass die bewaffneten Kriegsgefangenen mit der Murtalbahn nach Judenburg transportiert wurden. Im übrigen sei diese Vorgangsweise
887
888
889
890
Heitzmann, Wiesen, 7f.
Gerhard Stepantschitz, zitiert bei Heitzmann, Wiesen, 8.
Ebd., 7-9.
Wieland, Murau, 139-144.
362
mit den Briten in Kärnten abgesprochen worden.“891
Hugo Portisch berichtete in seiner Dokumentation Österreich II über die Ereignisse,
über die Glettler als Zeitzeuge spricht. In der TV-Dokumentation werden sogar von einem Hobbyfilmer aufgenommene Szenen der damaligen Vorgänge gezeigt.892
Dass trotz widersprüchlicher Erinnerung der Zeitzeugen zumindest der Kern der Geschichte wahr ist, beweist aber eine knapp drei Monate später vermerkte Meldung des
Amerikanischen „Office of Strategic Services‘‘ (OSS):
"Upper Mur Valley adjoining Lungau: This area was first occupied by Austrian
and British ex-PW's [PW = Prisoner of War] who were armed by the Austrian
Freedom Movement. Local Nazis were arrested even before the arrival of Allied
troops. The Freedom Movement in Murau (about 120 km southeast of Salzburg)
consists of leftists and members of the clergy who collaborate with them.
[...]"893
Auf jeden Fall gelang der Plan, die Russen blieben in Judenburg und die Briten besetzten Murau. Möglich war dieser, mir zunächst sehr unglaubwürdig erscheinende Verlauf
der Ereignisse, wohl deshalb, weil der Verlauf der Besatzung Österreichs nicht immer
wie geplant vor sich ging, sondern variabel je nach Kampferfolgen. Oft wurde lange
um kleine Geländegewinne gekämpft. Die Sowjets rückten nach der Kapitulation der
Deutschen Wehrmacht am 8. bzw. 9. 5. jeweils so weit vor, bis sie auf die Briten oder
die Amerikaner trafen. Murau war die letzte Bezirkshauptstadt Österreichs, die von alliierten Truppen besetzt wurde.894
Dass sich Brunner aufgrund seiner Verurteilung durch die Nationalsozialisten der Besatzungsmacht als regimefeindlich positionieren konnte, war sicher hilfreich. Am 9. 5.
1945 tagte in Murau erstmals der provisorische Gemeinderat, in den auch Brunner
einberufen wurde.895 Brunner konnte seinen Beitrag zur Vermeidung der russischen
Besatzung Muraus politisch hervorragend für sich nutzen. Weiter steigern konnte er
seine Beliebtheit bei der Bevölkerung durch seinen Einsatz für die ehemaligen Nationalsozialisten, wie wir es am Beispiel des ehemaligen Kreisleiters Franz Amberger gesehen haben. Auch Friedrich Höfinger jun. erzählt im Interview, dass sein Vater während seiner Internierung in Wolfsberg mit Brunner in Kontakt stand. Bei einer Wahlversammlung gab Brunner einen Satz von sich, für den er bis heute in Murau berühmt
ist:
„Ich bin sieben Jahre in der Karlau gesessen und habe in dieser Zeit beten und
Heitzmann, Wiesen, 8.
Hugo Portisch, Sepp Riff: Österreich II. Die Wiedergeburt unseres Staates, Wien 1985, 275-277 sowie die
gleichnamige Fernsehdokumentation Österreich II, Folge 6, Das Erbe des Krieges.
893
NA, Record Group 226, E108, B187, Intelligent Dissemination, LS-266, 28 June 1945. Zitiert bei Heitzmann,
Wiesen, 7.
894
Karner, Steiermark, 94-96.
895
Einladung vom 9. 5. 1945 des Bürgermeisters der Stadt Murau und Verhandlungsschrift der ordentlichen Sitzung
des provisorischen Gemeinderates der Stadt Murau um 20:30 Uhr, Stadtarchiv Murau. Zitiert bei: Wieland, Murau,
138f.
891
892
363
verzeihen gelernt.“896
Dies war seine Begründung für seinen Einsatz für die ehemaligen Nationalsozialisten
aus dem Bezirk. Ich denke aber, dass da wohl auch einiges an politischem Kalkül mitgespielt hat. Brunner agierte im Rahmen des allgemeinen Zeitgeistes. „Verzeihen“ war
plötzlich das große Wort, man hatte das große Wählerpotential der ehemaligen Nationalsozialisten und den Wunsch der Bevölkerung, von aller Schuld reingewaschen zu
werden, erkannt. Immer größer wurde der Ruf nach einem „Schlussstrich“ unter die
Vergangenheit. Meiner Ansicht nach trugen “versöhnliche“ Gesten wie die von Brunner
noch stärker dazu bei, Überlebende des Holocaust zu diskreditieren. Es entstand der
Eindruck, dass NS-Opfer wie Brunner vergeben können – warum vergeben die Juden
nicht? Für die wahren Opfer hat Brunner jedenfalls weniger getan als für die Täter.
Dies entspricht wohl ganz dem politischen Kalkül, da die Opfer ein weitaus geringeres
Wählerpotential darstellten. Brunner scheint die Judenverfolgung nie thematisiert zu
haben. Sein Streben nach Versöhnung hat wohl nur den Tätern gegolten und nicht den
Opfern.
896
Wieland, Murau, 146.
364
7 Quellenverzeichnis
•
Steiermärkisches Landesarchiv (StLA):
Murau Stadt, Gemeinde-Sitzungsprotokolle 1923-1936.
Finanzlandesdirektion Graz, Arisierung.
Finanzlandesdirektion Graz, Rückstellung.
Landesgericht für Strafsachen Graz.
Bezirkshauptmannschaften, BH Murau.
Murau Stadt 4624.
•
Österreichisches Staatsarchiv (ÖstA):
Archiv der Republik (AdR), Zivilakten der NS-Zeit/Gaupersonalamt des
Reichsgaues Wien („Gauakten“) 1938-1945.
•
Gemeindearchiv Murau:
Meldezettel von Franz Amberger.
Meldezettel von Elsa Blau.
•
Österreichische Nationalbibliothek, Wien.
•
Tiroler Nachrichten vom 3. 10. 1947 und vom 15. 12. 1947.
•
NSDAP-Mitgliederkartei/Berlin Documents am Institut für Zeitgeschichte der
Universität Wien, A 3340.
•
Brunner, Walter: Die Bombentoten von Graz 1941-1945. Aus der
Dokumentation Weissmann. Zu finden unter:
http://www.landesarchiv.steiermark.at/cms/dokumente/11683562_77969250/d
c300a5c/103%20bis%20240%20aus%20Mitteilungen%2039-Die
%20Bombentoten%20von%20Graz%201941%20-%201945.pdf
•
Höfinger, Friedrich: Familienchronik. Murau 2008.
•
Taus, Heimo: Aus dem Leben von Hilde Maier. Erinnerungen anlässlich ihres 80.
Geburtstags. 1. Teil: Kindheit und Jugend. Stainach 2007.
Interviews mit Zeitzeugen: (Bänder bei der Autorin)
•
Interview mit Friedrich Höfinger jun. am 7.1.2013 in Murau
•
Interview mit Hildegard Maier am 3.4.2013 auf der Stolzalpe
•
Interview mit Maria Weys am 20.9.2013 in Graz
365
Internetquellen (alle zuletzt besucht am 20. 11. 2013):
•
Murau auf der Landkarte:
http://www.plz-suche.org/at/steiermark/bezirk.murau/12c76.html
•
Bevölkerungsentwicklung der Gemeinde Murau, Statistik Austria:
http://www.statistik.at/blickgem/blick1/g61411.pdf
•
Datenbank der ermordeten Holocaust Opfer: http://www.lettertothestars.at
•
Verweigerte Rehabilitation: Der Fall Adolph Schwarzenberg:
http://restitution.cz/de/historie/exil-a-zabaveni-majetku-nacisty
•
Kriegsverbrechergesetz (KVG), gesamte Rechtsvorschrift im Wortlaut von 1947:
http://www.nachkriegsjustiz.at
•
Verbotsgesetz (VG), Gesamte Rechtsvorschrift für Verbotsgesetz 1947, Fassung
vom 27.11.2013: http://www.ris.bka.gv.at
•
Biografie von Karl Brunner auf der Webseite des österreichischen Parlaments:
http://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_00110/
•
Informationen über Karl Brunner auf der Webseite der Stadtgemeinde Murau:
http://murau.riskommunal.net/system/web/zusatzseite.aspx?
detailonr=220272637
•
Chronologie der Luftangriffe auf Österreich des virtuellen MilitärluftfahrtJournals: http://www.airpower.at/news03/0813_luftkrieg_ostmark/timeline.htm
•
Chronik des Schlosses Feistritz:
http://www.diefeistritzerinnen.at/images/chronik%20schloss%20feistritz.pdf
•
Deutsches Bundesarchiv: PG – zum Mitgliedschaftswesen der NSDAP:
http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00757/ind
ex-17.html.de
•
NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln: Jugend in Deutschland 1918-1945:
Reichsarbeitsdienst: http://www.jugend1918-1945.de/thema.aspx?s=1610
Filme:
•
Portisch, Hugo/Riff, Sepp: Österreich II, Folge 6, Das Erbe des Krieges.
Neuauflage 2013, Erstausstrahlung 23.11.2013 auf ORF 3.
•
ZDF History, „Davon haben wir nichts gewusst“ Die Deutschen und der
Holocaust. Deutsche Erstausstrahlung 16.1.2011 auf ZDF.
•
ZDF Dokumentation „Hitlers Österreich“. Teil 2: Der Krieg. Erstausstrahlung
18.3.2008 auf ZDF.
366
8 Abbildungen
•
Abbildung 1: Paula Grössing mit ihren Kindern und Enkelin Hilde. Hinten (vlnr.):
Johann, Franz Xaver, Josef. Vorne (vlnr.): Maria (Mitzi), Wilhelmine, Paula,
Hilde, Othmar, Ella, Friedrich. Die Aufnahme entstand zwischen 1929 und 1931.
Quelle: Höfinger, Familienchronik.
•
Abbildung 2: Das Ehepaar Friedrich (mit NSDAP-Parteiabzeichen) und
Wilhelmine Höfinger, 1944.
Quelle: Höfinger, Familienchronik.
•
Abbildung 3: Hildegard Ponholzer mit ihren Eltern, Mai 1928.
Quelle: Foto im Privatbesitz der Autorin.
•
Abbildung 4: (vlnr.) Hildegard Ponholzer (meine Oma), Maria Grössing (Tante
Mitzi), Josef Grössing, Maria Mohr, vorne die vier Kinder von Friedrich und
Wilhelmine Höfinger (St. Peter am Kammersberg, 1945).
Quelle: Foto im Privatbesitz der Autorin.
367
Veronika Siegmund
Der lange Schatten der Napola
Nachwirkungen der „nationalpolitischen Erziehung“ auf das Leben meines Großvaters
368
Inhalt
1 Einleitung
369
2 Bezugnahme auf den aktuellen Forschungsstand
370
3 Kritische Reflexion der eigenen Position
372
innerhalb des Forschungsprozesses
4 Quellenmaterial und methodische Überlegungen
375
4.1 Überblick über das verwendete Quellenmaterial
375
4.2 Erläuterungen zur angewandten Interviewmethode
376
4.3 Möglichkeiten und Grenzen des lebensgeschichtlichen Interviews 377
4.4 Reflexion der konkreten Interviewsituation
5 Von der Napola zur „Göringdivision“ – ein biographischer Abriss
5.1 Familiärer und sozialer Kontext
5.2 Die ersten Jahre in der Nationalpolitischen
378
379
379
380
Erziehungsanstalt Wien Theresianum
5.3 Rekrutierung zum Flugabwehrkommando in Linz
385
5.4 „Freiwillige Meldung“ zum Fallschirm-Panzerkorps
387
Hermann Göring
6 Kadettenanstalt, Charakterschmiede, Lebensretter?
389
Die Napola in der Erinnerung meines Großvaters
6.1 Idealisierende Darstellung der Napola
389
6.2 Faktoren, die zur Entwicklung eines
392
positiven Napola-Bildes beitrugen
7 Mentale Prägung durch die Napola
7.1 Schule als Ort der Sozialisation und Prägung
394
395
– die Sonderstellung der Napola
7.2 Selbstbild
395
7.3 Fremdbild
398
8 Schlussbetrachtung und Ausblick
402
9 Quellen
404
10 Abbildungen
404
369
1 Einleitung
„Des, .. des woar ned so, wie sie die Trottln des vorgstöt ham, dass mir mit am
Messer im Mund umadumgrennt san, wo is a Jud, den ma dastechen kenna.“897
Solche und ähnliche Bemerkungen meines Großvaters über den Zeitraum zwischen
September 1938 und Jänner 1945, in dem er Internatsschüler der Nationalpolitischen
Erziehungsanstalt Wien Theresianum war, haben mich dazu bewogen, mich näher mit
dieser Phase seines Lebens auseinanderzusetzen. Der Entschluss dazu fiel mir alles
andere als leicht, ein Umstand, den ich in erster Linie darauf zurückführe, dass mein
Großvater noch heute Ansichten über die NS-Zeit vertritt, die mir zutiefst widerstreben
und in der Vergangenheit immer wieder zu Spannungen und Konflikten im engeren Familienkreis geführt haben.
Im Laufe der letzten Jahre sind diese innerfamiliären um den Nationalsozialismus kreisenden Diskussionen und Streitgespräche deutlich weniger geworden, einerseits wohl
als Begleiterscheinung des zunehmenden Alters meines Großvaters, andererseits auch
aufgrund einer merklich abnehmenden Diskussionsbereitschaft der restlichen Familie.
Im Vorfeld dieser Arbeit habe ich mir aufgrund dessen wiederholt die Frage gestellt,
ob und inwiefern es sinnvoll ist, diesen über die Jahre mühselig hergestellten „Burgfrieden“ aufs Spiel zu setzen, zumal mir bewusst war, dass ich durch meine Nachfor schungen zu diesem Thema einiges an Staub aufwirbeln und somit auch Potential für
neue Konflikte schaffen würde. Ausschlaggebend für meine Entscheidung, dennoch
diesen Schritt in die Vergangenheit zu wagen, war zum einen der Wunsch nach einer
Aufarbeitung und kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte.
Zum anderen ließ mich der Gedanke nicht los, das Privileg, noch einen Zeitzeugen bei
der Hand zu haben, nützen zu können. „Damit es nicht verlorengeht…“ 898, wie der österreichische Historiker Michael Mitterauer eine, auf lebensgeschichtlichen Erinnerungen basierende historische, Editionsreihe sehr treffend betitelte.
Die Intention nachfolgender Darstellungen besteht nicht, wie Franz Leopold von Ranke
dies einst für geschichtswissenschaftliche Darstellungen forderte, darin zu „zeigen, wie
es wirklich gewesen ist899“. Diesem Anspruch kann man, wie in der zeitgenössischen
Fachliteratur bereits hinlänglich verdeutlicht wurde, als HistorikerIn nicht gerecht werden. Anliegen der vorliegenden Arbeit ist vielmehr, die heutige Sichtweise meines
Großvaters auf seine Napola-Zeit zu erfassen und nachzuvollziehen. Darüber hinaus
soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Erziehung in der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt – die offizielle Abkürzung für diesen Schultypus lautete
Interview mit Gerhard Siegmund, geführt am 14. 12. 2012, Bänder bei der Autorin.
„Damit es nicht verloren geht“…, hg. vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“,
Wien 1983-2013.
899
Franz Leopold von Ranke, Leopold von Ranke´s sämmtliche Werke, Bd. 33-34, Leipzig 1885, 7.
897
898
370
„NPEA“, speziell in Österreich setzte sich umgangssprachlich jedoch bald die Bezeichnung „Napola“ durch – sein weiteres Leben prägte. Bedeutsam in diesem Zusammenhang scheint es, von einer eindimensionalen Opfer-Täter-Kategorisierung Abstand zu
nehmen. Nicht ein Urteilen meinerseits, sondern der Versuch, zu verstehen soll im
Vordergrund stehen und die Basis für die nachfolgenden Untersuchungen bilden. Zu
Beginn meiner Arbeit soll einerseits auf bisherige (geschichts-)wissenschaftliche Forschungen zur Napola Bezug genommen werden. Andererseits gilt es an dieser Stelle
meine eigene Position in diesem Forschungsprozess kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren. Anschließend werde ich auf die im Rahmen meiner Nachforschungen herangezogenen Quellen eingehen und die gewählte methodische Vorgehensweise näher erläutern.
Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit wird darin bestehen, die Lebensgeschichte meines
Großvaters zu skizzieren, wobei eine Verknüpfung zwischen vorhandenem Quellenmaterial, Familienerzählungen und dem historischen Hintergrund hergestellt werden soll.
Im Anschluss daran wird eine Auseinandersetzung mit den Erinnerungen meines Großvaters an die NPEA erfolgen. Im Zusammenhang damit gilt es zu untersuchen, welches Bild er von der genannten Institution zeichnet und welche Faktoren zu der Entstehung dieses Bildes beitrugen. Darüber hinaus soll der Frage nachgegangen werden,
inwiefern die Erziehung in der Napola Auswirkungen auf das spätere Leben meines
Großvaters zeigte.
2 Bezugnahme auf den aktuellen Forschungsstand
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten –
mittlerweile hat sich auch in der Fachliteratur die Bezeichnung „Napola“
durchgesetzt – erfolgt seitens unterschiedlicher Disziplinen. Hervorzuheben sind hierbei die Geschichtswissenschaft, die Erziehungswissenschaft und die Psychologie. Eine
verstärkte Beschäftigung mit „NS-Ausleseschulen“ seitens der historischen Forschung
lässt sich seit den späten 1960ern bzw. 1970ern erkennen. Ein frühes, bahnbrechendes Werk in diesem Zusammenhang stellt Horst Ueberhorsts Monographie „Elite für
die Diktatur“900 dar. In Form eines Dokumentarberichts gibt der Autor darin einen umfassenden Überblick über die Entstehungsgeschichte, Organisation und Ausrichtung
der NPEAs, sowie über die mit der Schaffung dieser Einrichtung verfolgten Ziele und
die in den Anstalten zur Anwendung kommende Erziehungspraxis. Neben einer Fülle
von Dokumenten, die dem amtlichen Schriftverkehr entstammen, führt Ueberhorst
Horst Ueberhorst, Elite für die Diktatur. Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten 1933-1945. Ein
Dokumentarbericht, Düsseldorf 1969.
900
371
auch eine nicht unbeträchtliche Anzahl autobiographischer Dokumente, beispielsweise
Erlebnisberichte und Tagebuchaufzeichnungen an, die jedoch zumeist unkommentiert
bleiben. Eine weitere bedeutende Monografie im Kontext der Erforschung Nationalpolitischer Erziehungsanstalten ist Harald Scholtz Werk „NS-Ausleseschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates“.901 Ähnlich wie Ueberhorst setzt sich der Erziehungswissenschaftler und Historiker darin vor allem mit der Struktur und Organisation der
genannten Erziehungseinrichtung auseinander. Scholtz richtet den Fokus jedoch weniger stark auf die Napola, sondern nimmt in seinen Ausführungen auch auf andere NSAusleseschulen Bezug. Im Rahmen zeitgenössischer geschichtswissenschaftlicher Darstellungen zu den „Eliteschulen“ des NS-Systems wird stets auf die Forschungsergebnisse von Ueberhorst und Scholtz zurückgegriffen. Bemerkenswert dabei ist, dass trotz
der zunehmenden Popularität der „Oral History“ in den letzten Jahrzehnten kaum der
Versuch unternommen wurde, sich der Thematik „Napola“ aus einer erfahrungsgeschichtlichen Perspektive zu nähern bzw. Verknüpfungen mit einer solchen herzustellen. Eine Ausnahme diesbezüglich stellen einige Diplomarbeiten jüngeren Datums dar,
die erste Schritte in diese Richtung setzen.
Der Gedanke, das genannte Themenfeld von Seite der Zeitzeugen her aufzurollen,
geht eher von der Erziehungswissenschaft bzw. der Psychologie aus. Ein Beispiel hierfür ist die 1996 von Christian Schneider, Cordelia Stillke und Bernd Leinweber publi zierte Monografie „Das Erbe der Napola“ 902. Auf der Basis biographischer Gespräche
kommen hier ehemalige Napola-Schüler und deren Nachkommen direkt zu Wort. Abseits der wissenschaftlichen Fachliteratur sind in den letzten Jahren einige Werke erschienen, die Erlebnisberichte ehemaliger NS-Eliteschüler aufgreifen. Hierbei handelt
es sich einerseits um autobiografische Darstellungen in Romanform, andererseits um
Aneinanderreihungen von Zeitzeugenberichten, die einen Einblick in die subjektive Erfahrungswelt der Betroffenen geben. Publikationen dieser Art lassen jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit den lebensgeschichtlichen Darstellungen, sowie eine historische Kontextualisierung der geschilderten Ereignisse vermissen.
Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, eine Brücke zwischen der Erfahrungsgeschichte und den faktenorientierten Forschungen zur Napola zu schlagen. Ausgangspunkt der erfahrungsgeschichtlichen Ebene bilden die lebensgeschichtlichen Darstellungen meines Großvaters. Diese sollen jedoch nicht unkommentiert bleiben, sondern
einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Ebenso sollen Verknüpfungen mit
dem historischen Kontext und aktuellen Forschungen zur Institution Napola erfolgen.
Harald Scholtz, NS-Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, Göttingen 1973.
Christian Schneider/Cordelia Stillke/Bernd Leineweber, Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte
des Nationalsozialismus, Hamburg 1996.
901
902
372
3 Kritische Reflexion der eigenen Position innerhalb des
Forschungsprozesses
Der Auseinandersetzung mit der Napola-Vergangenheit meines Großvaters möchte ich
eine kritische Reflexion meiner eigenen Position in diesem Forschungsprozess voranstellen.
Wie vor allem seitens postmoderner TheoretikerInnen verdeutlicht wurde, können HistorikerInnen dem Anspruch einer objektiven Darstellung der Vergangenheit nicht gerecht werden. Objektivität in der Historiographie lässt sich, wie Gabriele Metzler in ihrem Werk „Einführung in das Studium der Zeitgeschichte“ aufzeigt, nur im Sinne einer
„intersubjektiven Nachprüfbarkeit“ erreichen. 903 Die Geschichtsschreibung unterliegt
schon alleine deshalb einer subjektiven Färbung, weil die Subjektposition der WissenschaftlerInnen Einfluss auf deren Forschungen nimmt, sowohl im Bezug auf die Auswahl der Fragestellungen als auch in Hinblick auf die Interpretation des Quellenmaterials.
Folglich liegt es in der Verantwortung des Historikers/der Historikerin sich seine/ihre
Position als „forschendes Subjekt“ bewusst zu machen und diese kritisch zu hinterfragen. Hinsichtlich der historischen Forschung zur eigenen Familie scheint mir diese Forderung von besonderer Bedeutung, zumal diese mit speziellen Forschungsbedingungen und -voraussetzungen einhergeht, die es transparent zu machen gilt.
Wesentlich in Bezug auf die Forschung zur eigenen Familie ist, dass man nicht zu
gänzlich Fremden forscht, sondern zu Personen, zu denen durch die bestehende Verwandtschaft ein besonderer Bezug gegeben ist. Die Spannweite reicht hierbei von über
das Familiengedächtnis transportierten Erinnerungen an Personen bis hin zu einem engen persönlichen Kontakt zu diesen. Wenn, wie in meinem Fall, ein Naheverhältnis zur
beforschten Person besteht, lässt sich ein gewisse Emotionalität nicht verhindern.
Letztere kann sich sowohl positiv als auch negativ auf den Verlauf der intendierten
Forschung auswirken. Einerseits geht die persönliche Beziehung zu einer Person häufig
mit einem besonders Interesse für deren Leben einher, ein Umstand, der dem Forschungsprozess durchaus zuträglich sein kann. Andererseits können die im Zusammenhang damit auftretenden Emotionen dabei hinderlich sein, die im Kontext wissenschaftlicher Forschungen notwendige kritische Distanz zu wahren. So kann ein Naheverhältnis zu Eltern oder Großeltern bewirken, dass man deren NS-Verstrickung nicht
oder nur teilweise wahrnimmt bzw. (un-)bewusst übergeht. Tendenzen dieser Art äußern sich beispielsweise dadurch, dass Handlungen und Verhaltensweisen der Eltern
bzw. Großeltern, die auf eine solche hinweisen, relativiert bzw. gerechtfertigt werden.
903
Gabriele Metzler, Einführung in das Studium der Zeitgeschichte, Paderborn-Wien 2004, 43.
373
Die Soziologin Gabriele Rosenthal macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass Betroffene hierbei häufig auf den „Mythos vom Befehlsnotstand“ zurückgreifen. Dieser spricht Täter und Mitläufer von jeglicher Schuldzuweisung frei, mit Verweis darauf, dass diese unter Zwang gehandelt hätten. 904 Harald Welzer, Sabine Moller
und Karoline Tschuggnall weisen im Rahmen ihrer Untersuchungen zum Nationalsozialismus im Familiengedächtnis darauf hin, dass speziell Angehörige der Enkelgeneration
dazu neigen, ihre Großeltern unreflektiert als Opfer darzustellen. 905 Eine solche Sichtweise bezüglich der Rolle der Großeltern im Kontext des Nationalsozialismus erwächst
einerseits aus dem Bedürfnis, die eigenen Verwandten vor Anschuldigungen zu bewahren. Andererseits spielt laut Rosenthal hier auch der Wunsch mit, sich vor einem solchen Wissen, das das bisherige im Familiengedächtnis verankerte positive Bild der
Großeltern in Frage stellen könnte, zu schützen.906
Im Zuge selbstreflexiver Überlegungen kam ich zu der Erkenntnis, dass meine Umgangsweise mit der NS-Verstrickung meines Großvaters durchaus ambivalent ist. Auf
der einen Seite wurde mir, speziell im Gespräch mit Familienmitgliedern und Freunden,
bewusst, dass ich trotz der meiner Arbeit zu Grunde liegenden Intention, zu verstehen
statt zu urteilen, speziell anfänglich dazu neigte, über Verhaltens- bzw. Denkweisen
meines Großvaters zu richten. Mein Urteil fiel dabei deutlich härter aus, als dies wahrscheinlich gegenüber einer fremden Person der Fall gewesen wäre. Basis dieser tendenziell anklagenden Haltung gegenüber meinem Großvater bildete weniger seine Napola-Vergangenheit bzw. Verwicklung in das Kriegsgeschehen, sondern vielmehr der
Umstand, dass er nach wie vor an nationalsozialistischem Gedankengut festhält. Auf
der anderen Seite bereitete mir, wie ich ebenfalls erst im Laufe des Forschungsprozesses feststellte, der Gedanke Unbehagen, ich könnte im Zuge meiner Recherchen auf
Informationen stoßen, die meinen Großvater als aktiv in das NS-System involviert
bzw. an NS-Verbrechen beteiligt ausweisen würden.
Erstmals wurde mir dies bewusst, als ich im Rahmen meiner Nachforschungen am Institut für Zeigeschichte die von den Alliierten erfasste NSDAP-Mitgliedskartei durchsuchte, um die Aussage meines Großvaters, kein NSDAP-Mitglied gewesen zu sein, auf
ihre Richtigkeit zu überprüfen. Auch wenn besagte Kartei aufgrund bestehender
Lücken keinen endgültigen Beweis dafür darstellt, dass er tatsächlich kein NSDAP-Mitglied war, verspürte ich doch eine gewisse Erleichterung darüber, dass ich beim Durch sehen des Mikrofilms seinen Namen nicht fand. Der Bericht meines Großvaters hingeGabriele Rosenthal, Nationalsozialismus und Antisemitismus im intergenerationellen Dialog, in: Gabriele Rosenthal
(Hg.), Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoa und von Nazi-Tätern,
Gießen 1999, 351.
905
Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im
Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002, 31.
906
Gabriele Rosenthal/Christine Müller, Die Übertragung der Schuld an die Enkel: Die Familie Sonntag, in: Gabriele
Rosenthal (Hg.), Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoa und von NaziTätern, Gießen 1999, 374.
904
374
gen, dass er als Napola-Schüler an der sogenannten „Mühlviertler Hasenjagd“ beteiligt
war, löste Entsetzen in mir aus, zumal er dies in bisherigen Erzählungen nie erwähnt
hatte. Derartige Reaktionen meinerseits führten mir vor Augen, dass ich, trotz des
erklärten Ziels meiner Recherchen, bisher Verschwiegenes aufzudecken, doch eine
gewisse Scheu davor hatte, mich den damit verbundenen Erkenntnissen zu stellen.
Rosenthal beschreibt diese Form des Umgangs mit der NS-Vergangenheit der
Großeltern auch als „ein Pendeln zwischen Aufdecken und Verhüllen“907.
Wie oberhalb bereits angedeutet, birgt das Naheverhältnis zur beforschten Person
nicht nur Gefahren und Schwierigkeiten, sondern kann durchaus auch einen positiven
Einfluss auf den Forschungsprozess nehmen. So macht beispielsweise der Zeithistoriker Gerhard Botz in der Einleitung des Sammelbandes „Schweigen und Reden einer
Generation“908 darauf aufmerksam, dass ein Naheverhältnis zwischen den InterviewerpartnerInnen auch zu einem „verständnisvollen, verstehenden Blick“ 909 beitragen
kann. Im Hinblick auf das Verstehen sieht Botz die Enkelgeneration gegenüber der
Kindergeneration sogar im Vorteil, weil diese, bedingt durch den größeren Generatio nenabstand, Schilderungen der Großelterngeneration zur NS-Zeit aus einem differenzierten Blickwinkel betrachten kann. Anders als die Generation ihrer Eltern, die der
Kriegsgeneration vor allem anklagend entgegentrat und damit entscheidend am Bau
des Schweigepakts zwischen den Generationen beteiligt war, sind Angehörige der dritten Generation viel eher dazu in der Lage, ihren Großeltern das für einen Dialog erforderliche Verständnis entgegenzubringen. Dies wiederum ermöglicht es ihnen, zu bisher Verschwiegenem vorzudringen.910
Gerade im Zusammenhang mit der Durchführung eines lebensgeschichtlichen Interviews, wie dieses im Rahmen der vorliegenden Arbeit Anwendung fand, spielt die Art
der Beziehung zwischen den InterviewpartnerInnen eine ganz wesentliche Rolle. Eine
Vertrautheit zwischen ForscherIn und interviewter Person kann sich sowohl auf die Inhalte als auch auf die Tiefe der Erzählung nachhaltig auswirken und durchaus eine
günstige Voraussetzung für das Gelingen einer Interviewsituation darstellen. Im Bezug
auf das Interview mit meinem Großvater bin ich davon überzeugt, dass das nahe Verwandtschaftsverhältnis und der gute Kontakt zwischen uns ausschlaggebend dafür waren, dass er sich zu diesem bereit erklärte. Auch seine im Laufe des Interviews zunehmende Offenheit hinsichtlich der Bewertung nationalsozialistischer Ideologien führe ich
auf das zwischen uns bestehende Naheverhältnis zurück.
Rosenthal/Müller, Die Übertragung der Schuld an die Enkel, 374.
Gerhard Botz, Jenseits der Täter-Opfer-Dichotomie lebensgeschichtlich forschen und essayistisch schreiben, in:
Gerhard Botz (Hg.), Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern
des Nationalsozialismus, Wien 2005, 9-20.
909
Ebd., 16.
910
Ebd., 14-15.
907
908
375
4 Quellenmaterial und methodische Überlegungen
4.1 Überblick über das verwendete Quellenmaterial
Das für die vorliegende Arbeit herangezogene Quellenmaterial gliedert sich in zwei
Sparten. Zum einen ermöglichte mir mein Großvater Zugang zu Quellen aus seinem
Privatfundus. Neben diversen schriftlichen Quellen wie Briefen, Schulzeugnissen, Antragsstellungen an die NPEA, etc. umfassten diese auch bildliche Quellen, beispielsweise Fotos, die ihn in seiner Napola-Uniform bzw. als Flakhelfer zeigen. Darüber hinaus
stellte er mir diverse dingliche Quellen aus seiner Napola-Zeit zur Verfügung, z. B.
Reste seiner Uniform, Wäscheetiketten der NPEA Theresianum, die seinen Namen aufweisen, und einige Abzeichen für sportliche Leistungen. Im Rahmen meiner Recherchen versuchte ich auch relevante Quellen außerhalb des privaten Archivs meines
Großvaters ausfindig zu machen, von denen ich mir weitere Informationen über die
Napola- und Wehrmachtszeit meines Großvaters, bzw. in Hinblick auf den Grad der
Einbindung meiner Familie väterlicherseits, in den NS-Kontext erhoffte. Meine Nachforschungen in diese Richtung verliefen jedoch bislang weitgehend erfolglos. Ausständig ist in diesem Zusammenhang noch die Antwort der „WASt“ (Deutsche Dienststelle
für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der Deutschen
Wehrmacht) von der ich mir detailliertere Auskünfte über die Stationierung meines
Großvaters in Polen erwarte.
Zum anderen bildeten das lebensgeschichtliche Interview, das ich im Vorfeld dieser
Arbeit mit meinem Großvater führte, sowie auch über das Familiengedächtnis tradierte
mündliche Erzählungen eine wesentliche Grundlage für die Auseinandersetzung mit
der Napola-Vergangenheit meines Großvaters. Voraussetzung für eine seriöse historische Quellenarbeit ist der kritische Umgang mit den ausgewählten Quellen. Aufgrund
des begrenzten Umfangs der vorliegenden Arbeit und des beträchtlichen Spektrums
des verwendeten Quellenmaterials erscheint es mir wenig sinnvoll, eine kritische Analyse jeder im Zuge meiner Nachforschungen bearbeiteten Quelle anzuführen. Da je doch das lebensgeschichtliche Interview mit meinem Großvater und dessen Auswertung einen besonderen Stellenwert im Rahmen meiner Forschungen einnimmt, sollen
in der Folge ausführlichere methodische und quellenkritische Überlegungen zu diesem
angestellt werden.
376
4.2 Erläuterungen zur angewandten Interviewmethode
Im Hinblick auf die Durchführung von Zeitzeugeninterviews steht der „Oral History“
mittlerweile ein breit gefächertes Spektrum an Techniken zur Verfügung. Methodisch
orientiert sich die Geschichtswissenschaft hierbei an Erkenntnissen der empirischen
Sozialforschung.911 Einen zentralen Stellenwert im Rahmen zeitgeschichtlicher Studien
nimmt das „lebensgeschichtliche Interview“ ein, eine spezielle Form des narrativen Interviews, bei der, wenn auch häufig mit dem Fokus auf bestimmte Lebensphasen, Bezug auf die gesamte Lebensgeschichte der interviewten Person genommen wird.912
In der Unterredung mit meinem Großvater orientierte ich mich lose an methodischen
Anregungen der Zeithistorikerin Roswitha Breckner, die vorschlägt, das lebensgeschichtliche Interview in einen „Erzählteil“ und einen „Nachfrageteil“ zu gliedern. 913
Unter Rückgriff auf dieses Konzept leitete ich den ersten Teil des Gesprächs mit einer
erzählgenerierenden Frage ein, die meinen Großvater dahingehend motivieren sollte,
seine Lebensgeschichte zu erzählen. Um eine thematische Akzentuierung zu erreichen,
bat ich ihn, im Kontext seiner lebensgeschichtlichen Darstellungen besonderes Augenmerk auf den Zeitraum zu legen, in dem er Schüler der NPEA Wien Theresianum war.
Mein Interesse galt hierbei speziell der Frage, welche Erfahrungen und Erlebnisse ihm
aus dieser Zeit in besonderer Erinnerung geblieben sind, bzw. inwiefern diese, seiner
Auffassung nach, Auswirkungen auf sein späteres Leben hatten. Entscheidend in dieser ersten Phase eines narrativen Interviews ist die Zurückhaltung seitens der befragenden Person.914 Dementsprechend agierte ich zunächst vor allem als Zuhörerin und
beschränkte mich weitgehend auf Äußerungen paraverbaler Art. Fragen stellte ich, abgesehen von der Eingangsfrage, nur dann, wenn der Erzählfluss deutlich ins Stocken
geriet, bzw. durch Fragen wie: „Was soll ich dir noch erzählen?“ oder „Was willst du
noch wissen?“ seitens meines Großvaters abgebrochen wurde. In diesem Kontext griff
ich auf einen im Vorfeld des Interviews entwickelten Leitfaden zurück, wobei ich versuchte, diesen dem Gesprächsverlauf weitgehend anzupassen. Der an die Erzählphase
anschließende Nachfrageteil umfasste einerseits Fragen, die auf das Erzählte Bezug
nahmen. Andererseits sprach ich in dieser zweiten Phase des Interviews auch Bereiche
an, die mein Großvater im Rahmen seinen Erzählungen nicht thematisiert hatte, die
mir jedoch für meine Arbeit von Relevanz erschienen.
Margit Reiter, Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck-Wien-Bozen 2006,
32.
912
Roswitha Breckner, Von den Zeitzeugen zu den Biographien. Methoden der Erhebung und Auswertung
lebensgeschichtlicher Interviews, in: Julia Obertreis (Hg.), Oral History (Basistexte Geschichte 8), Stuttgart 2012, 135.
913
Ebd., 137-141.
914
Uwe Flick, Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung, Reinbeck bei Hamburg 2007, 228.
911
377
4.3 Möglichkeiten und Grenzen des lebensgeschichtlichen Interviews
Eine Besonderheit des lebensgeschichtlichen Interviews besteht darin, dass dem
Gegenüber der Freiraum gewährt wird, seine Erzählung selbst zu strukturieren. Die
interviewte Person entscheidet selbst darüber, welche Ereignisse sie darstellt, bzw.
welchen Stellenwert sie diesen im Rahmen ihrer lebensgeschichtlichen Darstellungen
einräumt. Diese Vorgangsweise ermöglicht es ihr, Aspekte einzubringen, die seitens
des Forschers/der Forscherin gar nicht berücksichtigt worden wären. Außerdem
werden
durch
den
lebensgeschichtlichen
Zusammenhang
die
Aussagen
der
interviewten Person, hinsichtlich forschungsrelevanter Fragen, in einen zeitlichen und
thematischen Kontext eingebettet.915
Bedeutsam zu erwähnen scheint, dass die Durchführung lebensgeschichtlicher Interviews nicht auf die Rekonstruktion einer Faktengeschichte abzielt. Die dargestellten
Erinnerungen dürfen nicht als Abbild vergangener Ereignisse betrachtet werden. 916
Demzufolge war das Interview mit meinem Großvater weniger auf die Suche nach historischen Fakten ausgerichtet, sondern vielmehr darauf, seine subjektive Wirklichkeit
bzw. heutige Sichtweise auf vergangene Ereignisse und Erlebnisse zu erfassen und
nachzuvollziehen. Im Hinblick auf die inhaltliche Analyse des Interviews ist festzuhal ten, dass Erinnerungen nicht als statisch betrachtet werden dürfen, sondern als dynamisches Konstrukt gedacht werden müssen, das durch den weiteren Verlauf der Lebensgeschichte bzw. durch diverse äußere Einflüsse Veränderungen ausgesetzt ist.
Dabei kommt es zu Umdeutungen und Modifizierungen der Erinnerungen. Die Zeithistorikerin Margit Reiter macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass Interviews immer kontextgebunden sind, da sie in einem „vergangenheitspolitischen und
lebensgeschichtlichen Kontext“ stattfinden.917
Aber auch die konkrete Interviewsituation nimmt Einfluss auf den Verlauf eines Interviews. Das lebensgeschichtliche Interview muss folglich auch als komplexe soziale Interaktion verstanden werden, die durch ein wechselseitiges Agieren der InterviewpartnerInnen geprägt wird.918 Hierbei spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle, auf die
in der Folge noch genauer eingegangen werden soll.
915
916
917
918
Breckner, Von den Zeitzeugen zu den Biographien, 134-136.
Ebd., 132.
Reiter, Die Generation danach, 33.
Ebd., 35.
378
4.4 Reflexion der konkreten Interviewsituation
Als ich meinen Großvater im Vorfeld dieser Arbeit erstmals fragte, ob er dazu bereit
wäre, mir im Rahmen eines Interviews von seiner Napola-Vergangenheit zu erzählen,
willigte er ohne zu zögern ein. Diese Reaktion entspricht seiner prinzipiellen Bereitschaft im Familienkreis über die NS-Zeit und seine Anschauungen zum Nationalsozialismus zu sprechen. In der Interviewsituation selbst agierte er jedoch zunächst ungewohnt zurückhaltend. Dies schlug sich vor allem in seinem Erzählstil nieder. Während
er im Rahmen informeller Gespräche üblicherweise sehr lange und ausführlich über Erlebnisse der Vergangenheit berichtet, oft ohne dabei sein Gegenüber aktiv in die Unterhaltung miteinzubeziehen, brach er, speziell zu Beginn des Interviews, seine Darstellungen immer wieder recht abrupt ab, wobei er Fragen wie: „Was willst du noch
hören?“ oder „Was soll ich noch erzählen?“ an diese anfügte. Mitgrund für dieses von
seiner herkömmlichen Erzählweise abweichende Verhalten war sicherlich der ungewohnt formelle Charakter unseres Gesprächs. Verstärkt wurde der Gegensatz zu unseren alltäglichen Unterhaltungen dadurch, dass wir uns nicht wie üblich in seinem
Wohnzimmer, sondern im Kaminzimmer aufhielten, das in der Regel nur sehr selten
genutzt wird. Auch das Diktiergerät, das während des Interviews sichtbar vor uns auf
dem Tisch lag, dürfte zur Formalisierung der Situation beigetragen haben. Darüber
hinaus schien mein Großvater trotz meiner ausführlichen Erklärungen, welchen Zweck
ich mit dem Interview verfolgte, Bedenken zu haben, woher mein Interesse für seine
Vergangenheit rührte. Einige skeptische Bemerkungen zu Beginn unseres Gesprächs
erweckten den Eindruck, dass er erwartete, sich im Zuge seiner Erzählungen für seine
Vergangenheit rechtfertigen zu müssen.
Bei mir selbst ortete ich sowohl im Vorfeld als auch zu Beginn des Interviews ebenfalls
eine subtile Nervosität, die ich im Nachhinein auf mehrere Ursachen zurückführe. Einerseits stellte die Durchführung eines lebensgeschichtlichen Interviews methodisches
Neuland für mich dar, andererseits gründete sich diese wohl auf der Befürchtung, dass
das Interview meinen Großvater, dessen physischer Zustand sich in der letzten Zeit
zusehends verschlechtert hat, kräftemäßig überfordern könnte. Darüber hinaus machte ich mir Gedanken darüber, wie er auf meine Fragestellungen reagieren würde.
Die genannten Faktoren trugen dazu bei, dass zu Beginn unserer Unterhaltung beiderseits eine gewisse Anspannung spürbar war. Mit der Fortdauer des Interviews entspannte sich die Gesprächssituation jedoch zusehends. Förderlich für diese Entwicklung war, dass die zweite Frau meines Großvaters, die sich anfänglich mehrmals ungefragt in das Gespräch eingeschalten hatte, den Raum nach wenigen Minuten verließ
und wir die verbleibende Zeit des Interviews nur zu zweit zubrachten. Weiters dürfte
379
sich die Erkenntnis meines Großvaters, dass ich keine Rechtfertigungen seinerseits
einforderte, positiv auf den Verlauf des Interviews ausgewirkt haben. Je länger das
Gespräch dauerte, umso unbekümmerter und befreiter erschienen mir seine Erzählungen. Während er zu Beginn unserer Unterhaltung seine Anschauungen zum National sozialismus, die er sonst sehr offen preisgibt, sichtlich zurückhielt, kam er gegen Ende
des Interviews ganz von selbst auf diese zu sprechen.
5 Von der Napola zur „Göringdivision“ – ein biographischer Abriss
5.1 Familiärer und sozialer Kontext
Mein Großvater, Gerhard Siegmund, wurde am 26. 6. 1927 in Wien geboren. Die Familie mütterlicherseits, zu der eine sehr enge Bindung bestand, gehörte der städtischen
Mittelschicht an. Die Großeltern meines Großvaters, Johann und Maria Haberkorn betrieben eine Gastwirtschaft in der Garelligasse im 9. Bezirk, die vor allem von der Verköstigung der Soldaten aus der benachbarten Alserkaserne lebte. In den frühen
1920er Jahren wurde die Gaststätte veräußert. Mit dem Erlös wurde das nahe der Vo tivkirche gelegene „Café Maximilian“ in der Universitätsstraße gegründet, in dem auch
die Mutter meins Großvaters, Maria Haberkorn, arbeitete. In ihrer Funktion als Kassiererin lernte sie dort ihren späteren Mann, Arthur Siegmund, kennen, einen Vertreter
für Eisenwaren, der aus Siebenbürgen stammte und als Junggeselle häufig im Kaffeehaus zu Gast war. Am 15. 9. 1925 wurde trotz Vorbehalte der Familie Haberkorn wegen des bestehenden Standesunterschieds geheiratet. Die Ehe war jedoch nicht von
langer Dauer. Im September 1932, fünf Jahre nach der Geburt ihres gemeinsamen
Sohnes, suchten Arthur und Maria Siegmund, wie aus einem Bescheid des Hietzinger
Bezirksgerichts hervorgeht, einvernehmlich um die „Scheidung von Tisch und Bett“
an.919 Am 27. 10. 1938 erfolgte schließlich die endgültige Auflösung der ehelichen Verbindung.920 Aus der Zeit ihrer Ehe ist nur ein einziges Foto erhalten, das die beiden mit
ihrem Sohn zeigt. Laut der Schilderung meines Großvaters wurde es ihm nach der
Scheidung seiner Eltern verwehrt, seinen Vater weiterhin zu sehen. Erst im Alter von
16 Jahren nahm er eigenmächtig wieder Kontakt zu diesem auf.
Die ersten zehn Lebensjahre verbrachte Gerhard Siegmund vorwiegend im großelterlichen Kaffeehaus, wo er seinen Darstellungen zufolge von seiner Großmutter und dem
größtenteils weiblichen Küchenpersonal des Betriebs sehr verwöhnt wurde. Diesen
Bewilligung der Scheidung von Tisch und Bett, Antragsteller: Maria und Arthur Siegmund, Geschäftszahl 7 P 192/32,
ausgefertigt von Dr. Leopold Wilfinger für das Bezirksgericht Hietzing, 15. 9. 1932, Privatarchiv Gerhard Siegmund,
Einsichtnahme am 4. 11. 2012.
920
Scheidungsbeschluss, Geschäftszahl 7 Nc 965/38, ausgefertigt von Dr. Leopold Wilfinger für das Amtsgericht
Hietzing, 27. 10. 1938, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012.
919
380
Umstand betrachtet er rückblickend als Ursache dafür, dass sein Großvater beschloss,
ihn auf das Dollfußkolleg in Traiskirchen zu schicken, eine Bundeserziehungsanstalt, in
der er „zum Mann“ erzogen werden sollte. Die Wahl der Schule deutet darauf hin, dass
sich die Familie mit dem damals herrschenden austrofaschistischen Regime arrangierte
bzw. möglicherweise sogar Sympathien für dieses hegte.
Welche Haltung die engere Verwandtschaft meines Großvaters später gegenüber dem
Nationalsozialismus einnahm, lässt sich aus den mir zur Verfügung stehenden Quellen
nicht eruieren. NSDAP-Mitglieder dürften, wie meine Recherche am Institut für Zeitgeschichte ergab, nicht darunter gewesen sein. Laut den Erzählungen meines Großvaters
war seine Mutter jedoch Anwärterin auf eine Parteimitgliedschaft.
Da sein Enkel die für den Eintritt in das Dollfußkolleg abzulegende Aufnahmeprüfung
nicht bestand, bewirkte Johann Haberkorn, Familienerzählungen zufolge, dessen Aufnahme über den Umweg der Protektion. In einem Brief des Bundesministeriums für
Unterricht vom 2. 7. 1937 wurde Gerhard Siegmund schließlich ein Stiftsplatz in der
Anstalt zugesagt, am 16. 9. 1937 trat er in die als Internat geführte Schule ein.921
5.2 Die ersten Jahre in der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Wien
Theresianum
Nach dem „Anschluss“, im März 1938, wurden die Bundeserziehungsanstalten (BEA)
Österreichs sowie auch das Theresianum Wien zunächst in Staatserziehungsanstalten
(STEA) umgewandelt. Am 29. 7. 1938 erging seitens des Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Unterricht der Erlass, die genannten schulischen Einrichtungen
zu Nationalpolitischen Erziehungsanstalten umzugestalten. 922 Die Umsetzung dieses
Beschlusses erfolgte schließlich im Frühjahr 1939.923
Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten waren vom NS-Regime installierte, staatliche Internatsschulen, die die Sekundarstufe umfassten. Begründet worden war dieser
neue nationalsozialistische Schultypus, der sich in mehrfacher Hinsicht auf das Prinzip
der Auslese stützte, bereits 1933 auf Initiative des Reichserziehungsministers Bernhard Rust. Anlässlich des „Führergeburtstages“ am 20. 4. 1933 hatte dieser unter
Rückgriff auf das von seinem Mitarbeiter Joachim Haupt entwickelte „nationalpolitische
Erziehungsmodell“ die Umwandlung der ehemaligen Kadettenanstalten Plön, Köslin
und Potsdam zu NPEAs veranlasst. Bis zum Jahr 1944 wurden auf dem Gebiet des sogenannten „Altreichs“ 22 Napolas gegründet. Auch in den neueingegliederten bzw. beBundesministerium für Unterricht an Maria Siegmund, ZI. 23.204/10/ZD, 2. 7. 1937, Privatarchiv Gerhard
Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012.
922
Merkblatt der Staatserziehungsanstalt für Knaben, Wien Theresianum, 1938/39, Privatarchiv Gerhard Siegmund,
Einsichtnahme am 4. 11. 2012.
923
Sebastian Pumberger, Führen und gehorchen: Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten in Österreich 1938-1945,
Dipl. Arb., Wien 2013, 84.
921
381
setzten Gebieten wurden NPEAs eingerichtet. Hier erfolgten insgesamt 15 Gründungen, darunter zwei Internate für Mädchen. 924 In Österreich lassen sich im Hinblick auf
die Napolas zwei Gründungsphasen unterscheiden. 1938/39 wurden die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten Traiskirchen, Wien Theresianum, Wien-Breitensee und Hubertendorf-Türnitz gegründet. In den Jahren 1940/41 erfolgte die Gründung fünf weiterer Schulen.925
Wie aus der Literatur zur nationalsozialistischen Schul- und Erziehungspolitik hervorgeht, sind die NPEAs in Abgrenzung zu anderen NS-Ausleseschulen zu sehen. In diesem Zusammenhang ist zum einen die im Herbst 1933 vom Stabschef der SA Ernst
Röhm gegründete Reichsschule der NSDAP Feldafing zu erwähnen. Nach dem „RöhmPutsch“ im Juni 1934 übernahmen andere bedeutende NS-Funktionäre die Schirmherrschaft über die ursprünglich als Private Oberschule der SA konzipierte Erziehungseinrichtung, darunter auch der Stellvertreter Hitlers, Rudolf Heß. Die Reichsschule nahm
einen Sonderstatus gegenüber den anderen NS-Eliteschulen ein. Dieser äußerte sich
zum einen in der großzügigen finanziellen Ausstattung der Schule, kam andererseits
jedoch auch in der weitgehenden Selbstständigkeit zum Ausdruck, die dieser zugestanden wurde.926
Zum anderen sind in diesem Kontext auch die im Jänner 1937 von Reichsorganisationsleiter Robert Ley begründeten Adolf-Hitler-Schulen zu nennen, die konkurrierend
zu den NPEAs als Parteischulen installiert wurden. Ein wesentlicher Unterschied zwi schen den Adolf-Hitler-Schulen und den NPEAs bestand darin, dass es sich bei den
NPEAs um staatliche Schulen handelte. Sie unterstanden nicht der Partei und deren
unmittelbarem Einfluss, sondern dem Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und
Volksbildung. Sowohl die Erstellung des Lehrplans, der, abgesehen vom Wehrsport,
weitgehend jenem der deutschen Oberschule entsprach, als auch die „Auslese“ der
Schüler und Zuteilung der Lehrkräfte oblag damit der staatlichen Aufsicht. 927 Während
aus den Adolf-Hitler-Schulen künftige Parteiführer und -funktionäre hervorgehen sollten, wurde den Absolventen der NPEA eine freie Berufswahl zugestanden. Änderungen
diesbezüglich erfolgten erst ab Dezember 1944, mit dem Befehl Hitlers den aktiven
Offziersnachwuchs aus den Eliteschulen zu beziehen.928
Von ihrem Gründungsgedanken her zielten die NPEAs darauf ab, eine regimetreue Elite
zur Besetzung öffentlicher und ziviler Berufe heranzuziehen. 929 Obwohl der vormilitärischen Erziehung der Schüler eine bedeutende Rolle zukam, ging es in erster Linie darElke Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, in: Johannes Leeb (Hg.), „Wir waren Hitlers
Eliteschüler“. Ehemalige Zöglinge der NS-Ausleseschulen brechen ihr Schweigen, Hamburg 1998, 192-210.
925
Sebastian Pumberger, „Der Einzelne ist nichts – die Gemeinschaft ist alles“, in: Gedenkdienst (2010) 1, 6.
926
Pumberger, Führen und gehorchen, 57.
927
Ueberhorst, Elite für die Diktatur, 9.
928
Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, 247.
929
Dirk Gelhaus/Jörn-Peter Hülter, Die Ausleseschulen als Grundpfeiler des NS-Regimes, Würzburg 2003,
51-52.
924
382
um, „politische Kämpfer“ auszubilden, die sowohl im öffentlichen als auch im privaten
Bereich zur Durchsetzung und Festigung des nationalsozialistischen Gedankenguts
beitragen sollten.930
Im Rahmen einer schriftlichen Mitteilung vom 8. 9. 1938 wurden die Zöglinge der
STEA Traiskirchen und deren Eltern über die Umwandlung der Schule in eine NPEA informiert. Seitens der Direktion der Anstalt wurde verfügt, dass ein Teil der „Schülerschaft“, darunter auch Gerhard Siegmund, fortan die NPEA Wien Theresianum, Favoritenstraße 15 besuchen sollte.931 Die Übernahme der Schüler der Staatserziehungsanstalten in die Napolas erfolgte nicht automatisch. Ihr Verbleib an den Schulen war, wie
sich anhand eines von der Direktion ausgegebenen Merkblattes erkennen lässt, davon
abhängig, ob sie die von der Schulleitung angekündigte Überprüfung auf „rassische
und körperliche Tauglichkeit“ bestanden.932
Abbildung 1: Gerhard Siegmund.
Quelle: In Privatbesitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.
Kriterium für die Ausstellung der „rassischen Tauglichkeit“ war die Erbringung des sogenannten „Ariernachweises“, mittels dessen die „arische Abstammung“ der Schüler
nachgewiesen werden sollte. Laut der Aussage meines Großvaters verfügte er lediglich
über den sogenannten „Kleinen Ariernachweis“, der seine „nichtjüdische Abstammung“
Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, 248.
Mitteilungen der Direktion der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Traiskirchen an alle Zöglingserhalter, 8. 9.
1938, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012.
932
Merkblatt der Staatserziehungsanstalt für Knaben, Wien Theresianum, 1938/39, Privatarchiv Gerhard Siegmund,
Einsichtnahme am 4. 11. 2012.
930
931
383
zurückgehend bis zu den Großeltern bestätigte. Für den „Großen Ariernachweis“ musste die „arische Abstammung“ zurückgehend bis 1800 nachgewiesen werden. 933 Welcher Gesellschaftsschicht die Schüler entstammten, spielte hingegen für die Entscheidung über ihren Verbleib an den Anstalten keine Rolle. Die im Rahmen der Auslese der
Schüler zum Tragen kommenden Kriterien geben Aufschluss über die ideologische
Ausrichtung der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten. Ganz deutlich kommt hier die
vom Nationalsozialismus propagierte Rassenlehre zum Ausdruck. Darüber hinaus spiegeln sich in den Aufnahmekriterien der Anstalten auch die vom NS-Regime vermittelten pädagogischen Vorstellungen wider, die den Charakter der Schulen wesentlich
prägten. Letztere fußten zum einen auf den Erziehungsvorstellungen Adolf Hitlers, die
dieser sowohl in seiner Propagandaschrift „Mein Kampf“ als auch im Rahmen diverser
öffentlicher Reden kundtat.934 Zum anderen orientierten sich diese auch an der von
ihm beeinflussten Nationalsozialistischen Pädagogik.
Gemäß den Aussagen Hitlers über Erziehung wurde an den NPEAs der physischen Ausbildung der Schüler ein besonderer Stellenwert beigemessen. Im Vergleich zu den Regelschulen wurde diese an den NPEAs deutlich intensiver betrieben und war auch wesentlich vielseitiger angelegt. Neben zahlreichen zum Teil aufwendigen Sportarten wie
Reiten, Rudern, Boxen, Schi fahren, Segeln, Fechten und Segelfliegen, umfasste die
Leibeserziehung an den NPEAs auch wehrsportliche Übungen wie Orientierungsläufe
und
Schießübungen.935
Mein
Großvater
hebt
in
seinen
Erzählungen
über
die
vormilitärische Ausbildung im Theresianum zum einen die Exerzierübungen besonders
hervor, die mehrmals täglich durchgeführt wurden. Zum anderen berichtet er von langen Nachtmärschen mit Gepäck, die seiner Aussage nach zuweilen auch zur Disziplinierung der Schüler eingesetzt wurden. Alle diese körperlichen Tätigkeiten waren im
Endeffekt auf die Erlangung der Wehrhaftigkeit ausgerichtet.936 Gleichzeitig sollten das
harte physische Training und die hohen Anforderungen, denen die Schüler in diesem
Zusammenhang ausgesetzt waren, auch der Ausbildung des Charakters dienen. Hierbei standen im Hinblick auf den Kriegsdienst bedeutende Werte wie „Disziplin“, „Gehorsam“ und „Einsatzbereitschaft“ im Vordergrund.937
Der wissenschaftlichen Ausbildung der Schüler, die sich im Wesentlichen nicht von jener der Regelschulen unterschied, wurde weit weniger Bedeutung zugemessen. Doch
auch auf diesem Gebiet mussten die Internatszöglinge gewissen Leistungsanforderungen gerecht werden. War dies nicht der Fall, so war ihr Verbleib an den Anstalten geDer Ariernachweis, Deutsches Historisches Museum,
URL: http://www.dhm.de/lemo/html/nazi/antisemitismus/ariernachweis/ (abgerufen am 3. 4. 2013).
934
Stefan Baumeister, NS-Führungskader. Rekrutierung und Ausbildung bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 19331939, Konstanz 1997, 15-16.
935
Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 36.
936
Ueberhorst, Elite für die Diktatur, 251.
937
Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, 242.
933
384
fährdet.
Der Umstand, dass man der körperlichen Leistungsfähigkeit der Schüler eine besondere Bedeutung beimaß, kam wie bereits oben angemerkt, auch im Rahmen des Ausleseverfahrens der Anstalten zum Ausdruck. Die Überprüfung der körperlichen Eignung
erfolgte im Zuge der Durchführung sportlicher Aktivitäten. Über die charakterliche Eignung angehender „Jungmannen“ – eine seitens der Anstalten geprägte Bezeichnung
für die Schüler der NPEAs – wurde, wie aus den Darstellungen diverser „Ehemaliger“
hervorgeht, mittels der Durchführung von Mutproben entschieden. So wurden, laut
der Aussage meines Großvaters, die Zöglinge des Theresianums dazu angewiesen, von
einem Dreimeterbrett ins Wasser zu springen, ohne Rücksichtnahme darauf, ob sie bereits schwimmen konnten. Schüler, die dies verweigerten, wurden seinen Schilderungen zufolge der Anstalt verwiesen. Im Rahmen des mit ihm geführten lebensgeschichtlichen Interviews schilderte mein Großvater seine Erinnerungen an dieses Ereignis mit folgenden Worten:
„Und dann hams gsagt, oiso wir müssen (.) und i hab damois no ned schwimmen kenna, wer äh…wer vom Dreimetterbre (,) oiso vom Dreimeterbrett einespringt, braucht si ned fiarchtn, unten schwimmen eh die Großen. Und i bin
hoid einegsprungen, weu i ma gedocht hab: dasaufen kamma eh nur amoi. Nur
einer woar dabei, der hat gsagt: (`) Meine Mami hat gesagt .. (Lachen) das
brauch ich nicht machen, (.) no der hat glei hamgehen diafn.“938
Einer praktischen Überprüfung ihrer geistigen Fähigkeiten mussten sich die ehemaligen Schüler der Bundes- bzw. Staatserziehungsanstalten, wie aus den hierzu untersuchten schriftlichen Quellen hervorgeht, nicht unterziehen. In diesem Punkt bestand
ein Unterschied zu jenen Schülern, die sich von außerhalb um einen Platz an den
NPEAs bewarben. Allerdings musste Gerhard Siegmund im Rahmen eines schriftlichen
Gesuchs zur Aufnahme an der NPEA neben Personalblättern, HJ-Dienstleistungszeugnissen und einem Lebenslauf auch Schulzeugnisse beilegen.939
Aus der Zeit, die mein Großvater in der NPEA Wien Theresianum verbrachte, sind einige Fotos und etliche Schulzeugnisse erhalten. Letztere zeugen davon, dass Gerhard
Siegmund kein besonders guter Schüler war. Sowohl in den sportlichen, als auch in
den geistigen Disziplinen wurden seine Leistungen als eher dürftig beurteilt. Aufgrund
seiner mittelmäßigen bis schlechten Noten war seine Versetzung in die nächste Schulstufe mehrmals gefährdet. Besonders aufschlussreich sind die auf den Zeugnissen aufscheinenden verbalen Beurteilungen. Sie geben darüber Auskunft, welche Ansprüche
seitens der Anstaltsleitung an die Schüler gestellt wurden und lassen Schlüsse darauf
zu, welches Gewicht einzelnen Bereichen zukam. Auffällig ist, dass im Rahmen der Be938
939
Interview mit Gerhard Siegmund.
Aufnahmeantrag für die NPEA Wien Theresianum, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012.
385
urteilungen zunächst immer auf die körperliche Beschaffenheit und die sportlichen
Leistungen der „Jungmannen“ Bezug genommen wurde. Dies ist wiederum ein Indiz
dafür, dass die physische Ausbildung besonders hohe Priorität hatte. Erst in weiterer
Folge wird in den Zeugnissen auch auf den Charakter und die geistigen Fähigkeiten
der Schüler eingegangen.
5.3 Rekrutierung zum Flugabwehrkommando in Linz
Ab Februar 1943 war Gerhard Siegmund, wie sich anhand seiner Schulzeugnisse erkennen lässt, als Luftwaffenhelfer tätig. 940 In der Umgangssprache entwickelte sich für
diese Tätigkeit die noch heute gängige Bezeichnung „Flakhelfer“.
Die Entscheidung, Minderjährige für die Luftverteidigung einzusetzen, ging mit der
Entwicklung des Kriegsgeschehens im Winter 1942/1943 einher. Nach den schwerwiegenden personellen Verlusten in Stalingrad sah sich die militärische Führung des Dritten Reiches dazu gezwungen „eine totale Mobilisierung aller vorhandenen Kräfte“ 941
herbeizuführen. Am 26. 1. 1943 erging seitens des Oberbefehlshabers der Luftwaffe,
Hermann Göring, der Erlass, Schüler der Oberen und Mittleren Schule als Luftwaffenhelfer einzusetzen.942 Betroffen davon waren zunächst nur die Jahrgänge 1926 und
1927. Die Schüler sollten in unmittelbarer Umgebung ihres Heimatsortes eingesetzt
werden. Ausgenommen von dieser Regelung waren nur „Heimschüler“, wodurch es
möglich war, meinen Großvater im Raum Linz einzusetzen. 943 Neben dem Großraum
Wien, Wiener Neustadt, Graz, Klagenfurt, Spittal an der Drau, Villach, Innsbruck,
Steyr, St. Valentin und Ranshofen, zählte Linz zu den Verteidigungsschwerpunkten Österreichs. Dies hing damit zusammen, dass die Stadt einen zentralen Verkehrsknotenpunkt darstellte. Außerdem war der Raum Linz auch im Hinblick auf die Rüstungsindustrie von großer Bedeutung.944 Wichtig in diesem Zusammenhang erschien unter anderem der Schutz der „Hermann-Göring-Werke“, zu dem Gerhard Siegmund, seinen
Erzählungen zufolge, herangezogen wurde. Die Aufgabenbereiche der Luftwaffenhelfer
umfassten ein weites Spektrum. Zunächst setzte man die Jugendlichen vorwiegend im
Fernsprech- und Fernmeldedienst, in der Aus- und Umwertung bzw. zur Bedienung
von Funkmessgeräten und leichten Geschützen ein. Der immer prekärer werdende
Personalmangel führte jedoch dazu, dass die Flakhelfer vermehrt auch an den schweLuftwaffenhelferzeugnis für Gerhard Siegmund, ausgestellt von der NPEA Theresianum Wien, 26. 7. 1944,
Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012.
941
Norbert Schausberger, Der Einsatz der Luftwaffenhelfer in Österreich. Zur Situation der Jugend unter dem
Nationalsozialismus, in: Ernst Nöstlinger, Martin Wimmer und der totale Krieg. Fünfzehnjährige als Luftwaffenhelfer,
Wien 1987, 162.
942
Leopold Banny, Dröhnender Himmel. Brennendes Land. Der Einsatz der Luftwaffenhelfer in Österreich 1943-1945,
Wien 1988, 26.
943
Ebd., 25.
944
Ebd., 209.
940
386
ren Geschützen zum Einsatz kamen.945
Mein Großvater wurde laut seinen Schilderungen mit der Aufgabe betraut, das Signal
zum Abschuss weiterzuleiten. Die Ausbildung der Flakhelfer dauerte meist nur wenige
Wochen. Im Anschluss an diese Grundausbildung erfolgte die Zuteilung der Jugendlichen zu einer bestimmten Flakbatterie, wobei man sich darum bemühte, Schul- und
Klassengemeinschaften weitgehend zu erhalten.946
Abbildung 2: Gerhard Siegmund.
Quelle: In Privatbesitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.
Parallel zu ihrem Dienst im Rahmen des Flugabwehrkommandos besuchten die Luftwaffenhelfer einen vor Ort eingerichteten Schulunterricht, der sich, wie anhand der
Luftwaffenhelferzeugnisse meines Großvaters deutlich wird, auf eine geringe Anzahl
von Fächern beschränkte. Die Schüler der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten
wurden von eigenen den Anstalten angehörenden Lehrern unterrichtet. Speziell in der
Endphase des Krieges dürfte der schulische Unterricht jedoch kaum mehr von Bedeutung gewesen sein, ein Umstand der sich in einer drastischen Senkung der vorgesehenen Stundenzahlen manifestierte.947 Als Wohnraum wurden den Flakhelfern Baracken
zugewiesen. Meinem Großvater, der laut seinen Schilderungen zunächst in einer Baracke am Pöstlingberg und später im Barackenlager Haid untergebracht war, blieb vor al945
946
947
Ebd., 73.
Schausberger, Der Einsatz der Luftwaffenhelfer in Österreich, 168.
Banny, Dröhnender Himmel, 105.
387
lem die eisige Kälte in Erinnerung, die dort im Winter herrschte.
5.4 „Freiwillige Meldung“ zum Fallschirm-Panzerkorps Hermann Göring
Im Jänner 1945, zu einem Zeitpunkt als sich die endgültige Niederlage des Dritten
Reiches immer deutlicher abzeichnete, meldete sich Gerhard Siegmund freiwillig zum
„Fallschirm-Panzerkorps Hermann Göring“. Die Formulierung „freiwillig“ ist deshalb mit
Vorsicht zu genießen, weil die Anstalten gegen Kriegsende vermehrt auch die jüngeren
Jahrgänge zu einem „freiwilligen Fronteinsatz“ nötigten. Sebastian Pumberger macht
in seinen Ausführungen zu den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten darauf aufmerksam, dass sich fallweise ganze Klassen zu einem vorgezogenen Kriegsdienst meldeten.948 Laut den Erzählungen meines Großvaters hatte man ihm und seinen Klassenkollegen seitens der Schulleitung nahegelegt, sich der SS anzuschließen. Dies erklärt
sich aus der im Laufe der Jahre immer stärker werdenden Anbindung der NPEAs an die
SS. Seitens diverser anderer Organisationen, beispielsweise seitens der Wehrmacht,
der SA und der HJ war ebenfalls versucht worden, auf die NPEAs einzuwirken, um so
den eigenen Fortbestand zu sichern. Die SS erwies sich jedoch im Machtkampf um die
Einflussnahme auf die Napolas am erfolgreichsten. 949 Bereits 1934 hatte der SSReichsführer, Heinrich Himmler, die Finanzierung der Ausrüstung und Bekleidung der
„Jungmannen“ übernommen. Ab März 1936, mit der Ernennung August Heißmeyrs,
dem Leiter des SS Hauptamtes, zum Inspektor der NPEAs, verstärkten sich seine Machansprüche.950 Folglich war es nicht verwunderlich, dass viele Napola-Schüler der SS
beitraten. In den Schilderungen über seine Napola-Zeit betont mein Großvater stets,
dass er sich bewusst gegen einen Eintritt in die SS entschied. Als Grund dafür nennt er
eine persönliche Abneigung gegenüber einigen Erziehern der Anstalt, die der SS angehörten:
„Eingerückt bin ich zur Göring Division, weil ich nicht zur SS wollte, weu a poar
unserer Erzieher so wie ma heit sagt goschert woarn und freiwillig melden
mussten wir uns, oiso bin ich zur Göring Division gekommen.“951
Wie sich den Dokumenten meines Großvaters entnehmen lässt, wurde er dem „Fallschirm- Panzer- Ers.- und Ausb. (Ersatz und Ausbildungs-) Regiment 1 Hermann Göring“, einer Untereinheit der „Fallschirm-Panzer-Ers. und Ausb. Brigade Hermann Göring“, zugeteilt.952 Dieses wiederum war dem „Fallschirm-Panzerkorps Hermann Göring“ unterstellt, dessen Ursprünge bis in die 1930er Jahre zurückreichen. Im Oktober
Pumberger, Führen und gehorchen, 188.
Baumeister, NS-Führungskader, 26.
950
Scholtz, NS-Ausleseschulen, 89.
951
Interview mit Gerhard Siegmund.
952
Kriegsgefangenen-Formular, ausgestellt für Gerhard Siegmund, 9. 6. 1945, Privatarchiv Gerhard Siegmund,
Einsichtnahme am 4. 11. 2012.
948
949
388
1942 war die „Flakbrigade Hermann Göring“, die aus dem „(Flak-)Regiment General
Göring“ und dem „Schützenregiment General Göring“ entstanden war, zur „Division
Hermann Göring“ erweitert worden. Aus den Resten der größtenteils in Tunis vernichteten Truppen ging im Jahr 1943 in Sizilien eine neue „Division Hermann Göring“ hervor, die im September 1944 gemeinsam mit anderen Truppen zum „Fallschirm-Panzerkorps Hermann Göring“ zusammengefasst wurde. 953 Letzeres war formal den deutschen Luftstreitkräften unterstellt. Namensgeber der Division war der Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, Hermann Göring. Die Einheiten des „Fallschirm-Panzerkorps Hermann Göring“ kamen einerseits in Italien, andererseits an der Ostfront zum
Einsatz.954 Die Einheit meines Großvaters war im an der Weichsel gelegenen Landkreis
Rippin (Westpreußen) stationiert, der dem Wehrkreis XX (Danzig) angehörte. Bereits
im Dezember 1944 war es zu einer massiven Schwächung der deutschen Truppen an
der Weichselfront gekommen. Verantwortlich dafür war einerseits die am 16. 12. 1944
gestartete „Ardennenoffensive“, die letzte Großoffensive der deutschen Wehrmacht im
Westen. Andererseits spielten hier auch die aktuellen Entwicklungen am Kriegsschauplatz Ungarn eine bedeutende Rolle. Nachdem es der Roten Armee am 24. 12. 1944
gelungen war, Budapest einzuschließen, entschied sich die militärische Führung des
Dritten Reiches Anfang Jänner zur Durchführung einer Gegenoffensive. 955 Die beiden
als Entsatzoffensiven gedachten militärischen Operationen der Deutschen machten
den Abzug von Reservekräften notwendig. Schließlich verblieben lediglich fünf Panzerdivisionen an der Weichselfront. Die Sowjets hingegen verstärkten ihr Truppenkontingent an der Weichsel zusehends, so dass sich Anfang Jänner 1945 bereits eine klare
zahlenmäßige Überlegenheit gegenüber den Deutschen abzeichnete. Am 12. 1. gelang
der Roten Armee der Durchbruch an der Weichsel, bereits fünf Tage später, am 17. 1.
wurde Warschau eingenommen. Das Vordringen der Sowjets bewirkte den Rückzug
deutscher Truppen.956 Auch die Division meines Großvaters flüchtete in Richtung Westen. Seiner Aussage nach wurde er aufgrund des fluchtartigen Rückzugs seiner Truppe
nicht mehr in direkte Kampfhandlungen mit den Sowjets verwickelt. Schenkt man seinen Erzählungen Glauben, so kam es Ende Jänner zur Auflösung seiner Einheit. Den
Darstellungen des Militärhistorikers Georg Tessin nach zu schließen, erfolgte der endgültige Vernichtungsschlag der Roten Armee gegen das „Fallsch. Panzer-Ers. und Ausb.
Rgt. 1 Hermann Göring“ im März 1945 in Graudenz.957
Beim Versuch, über Norddeutschland wieder nach Hause zu gelangen, geriet mein
Fallschirmpanzerkorps „Hermann Göring“, Das Bundesarchiv.
Georg Tessin, Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg
1939-1945, Osnabrück 1980, 118-119.
955
Hans Magenheimer, Abwehrschlacht an der Weichsel 1945. Vorbereitung, Ablauf, Erfahrungen (Einzelschriften zur
militärischen Geschichte des Zweiten Weltkrieges 20), Freiburg 1976, 26-31.
956
Anderson Duncan/Lloyd Clark/Stephen Walsh, Die Ostfront 1941-1945 Barbarossa, Stalingrad, Kursk und Berlin,
Wien 2002, 217-221.
957
Georg Tessin, Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS, 123.
953
954
389
Großvater, seinen Schilderungen zufolge, in der Gegend von Uelzen, kurzfristig in
amerikanische Gefangenschaft, aus der er jedoch fliehen konnte. Belege für diese Internierung existieren allerdings nicht. In weiterer Folge dürfte er über diverse Umwege
nach Oberösterreich gelangt sein. Wie sich sowohl seinen Erzählungen, als auch einem
Kriegsgefangenen-Formular vom 9. 6. 1945 entnehmen lässt, wurde er in der im
Mühlviertel gelegenen Ortschaft Leonfelden, die von Mai 1945 bis Juli 1945 der Kontrolle der Amerikaner unterstand 958, erneut gefangen genommen. 959 Laut seinen Schilderungen gelang es ihm jedoch, sich im Rahmen der ihm zugewiesenen Funktion als
Schreibkraft selbst einen Entlassungsschein auszustellen. Eine von der Polizei ausgestellte Meldebestätigung gibt Auskunft darüber, dass Gerhard Siegmund ab 25. 6.
1945 wieder in Wien, in der Wohnung seiner Mutter, wohnhaft war. 960 Im Herbst des
selben Jahres begann er Medizin zu studieren. Zu Beginn des Jahres 1947 wurde meinem Großvater seitens der Medizinischen Fakultät der Universität Wien eine „politische
Überprüfung“ angekündigt, höchstwahrscheinlich deshalb, weil er eine Napola besucht
hatte.961
Am 3. 9. 1954 heiratete Gerhard Siegmund meine Großmutter, Ilse Seltenhammer.
Aus der Ehe meiner Großeltern gingen drei Söhne hervor, darunter auch mein Vater,
Ernst Siegmund. Nach Abschluss seines Studiums arbeitete mein Großvater zunächst
als Spitalsarzt im Krankenhaus Lainz, wo er mehrere Jahre als Oberarzt der 2. Medizinischen Abteilung tätig war. In den frühen 1970er Jahren bewarb er sich für das Amt
des stellvertretenden Chefarztes der Pensionsversicherungsanstalt, das er bis zu seiner Pensionierung ausübte.
6 Kadettenanstalt, Charakterschmiede, Lebensretter?
Die Napola in der Erinnerung meines Großvaters
6.1 Idealisierende Darstellung der Napola
Wie bereits im Zuge der Einleitung angedeutet, besteht ein zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit darin, das heutige Bild meines Großvaters von der Institution Napola
herauszuarbeiten. Die Analyse des mit ihm geführten Interviews bestätigten mich in
meiner bis dahin lediglich auf informellen Gesprächen basierenden Annahme, dass er
Gerhard Jagschitz, Regierungs- und Verwaltungsaufbau in Österreich 1945 im Spannungsfeld sowjetischer
Besatzung, in: Andreas Hilger/Mike Schmetzer/Clemens Vollnhals (Hg.), Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen
sowjetischer Besatzung in Deutschland und Österreich 1945-1955 (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für
Totalitarismusforschung 32), Göttingen 2006, 390.
959
Kriegsgefangenen-Formular, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012.
960
Meldebestätigung für Gerhard Siegmund, 25. 6. 1945, Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11.
2012.
961
Dekanat der Medizinischen Fakultät Wien an Gerhard Siegmund, Dek. Zl. 60 aus 1946/47, 30. 12. 1946,
Privatarchiv Gerhard Siegmund, Einsichtnahme am 4. 11. 2012.
958
390
die Erfahrungen, die er im Rahmen seiner Napola-Zeit machte, rückblickend als durchaus bereichernd für den weiteren Verlauf seines Lebens betrachtet. Dementsprechend
positiv fällt auch seine Bewertung der NPEA als Erziehungseinrichtung aus. Der pädagogische Verdienst der NPEAs bestand den Schilderungen meines Großvaters zufolge
darin, den Jugendlichen moralische Werte zu vermitteln, die sie dabei unterstützen
sollten, zu ehrbaren Menschen heranzuwachsen und sich im späteren Leben zu bewähren. In diesem Zusammenhang hebt er Werte wie „Kameradschaft“, „Aufrichtigkeit“ sowie eine „verantwortungsbewusste Haltung gegenüber dem weiblichen Geschlecht“ in besonderer Weise hervor, ein Umstand, auf den im Rahmen des nächsten
Kapitels meiner Arbeit noch näher eingegangen werden soll.
Charakteristisch für das Bild meines Großvaters von der Napola ist auch sein
Bestreben die NPEAs den „Kadettenanstalten“ gleichzusetzen:
„Na es war ja auch so, oiso wenn einer Kadettenschüler woar, aus da
Monarchiezeit, so woar des was Positives … ja.“962
Die von Klaus Schmitz durchgeführte Studie zur deutschen Bildungsgeschichte lässt
darauf schließen, dass tatsächlich gewisse Parallelen zwischen den genannten Erziehungseinrichtungen bestanden.963 Schneider, Stillke und Leineweber führen dies vor
allem darauf zurück, dass man im Zuge der Errichtung der Napolas Anleihe an Konzepten diverser renommierter schulischer Institutionen nahm. 964 Neben den Kadettenanstalten spielten hierbei auch die „Landeserziehungsheime“ und die „Public School“
eine bedeutende Rolle. Die Leitbildfunktion der Kadettenanstalten äußerte sich vor allem im Bemühen der NPEAs um die Wahrung einer soldatischen Tradition. Letztere
kam sowohl in der Hochhaltung von militärischen Tugenden wie „Gehorsam“, „Zucht“
und „Ordnung“ zum Ausdruck als auch in der Betonung einer praktischen vormilitärischen Erziehung.965
Abgesehen von diversen wehrsportlichen Übungen, auf die bereits an anderer Stelle
Bezug genommen wurde, manifestierte sich diese auch in der Übernahme militärischer
Organisationsformen, sowie im Hinblick auf die vorherrschenden Kleidungsvorschriften. Hinsichtlich der Zielsetzung und Organisation bestanden jedoch wesentliche Unterschiede zu den Kadettenanstalten. Zum einen waren letztere daraufhin ausgerichtet, ihre Schüler auf eine Offizierslaufbahn vorzubereiten, wohingegen den Absolventen der Napola bis 1944 die Berufswahl freigestellt wurde. Zum anderen legten die
NPEAs, im Gegensatz zu den Kadettenanstalten, starkes Gewicht auf die politische ErInterview mit Gerhard Siegmund.
Klaus Schmitz, Militärische Jugenderziehung. Preußische Kadettenhäuser und Nationalpolitische Erziehungsanstalten
zwischen 1807 und 1936 (Veröffentlichung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung, Studien
und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte 67), Köln-Weimar-Wien 1997, 297.
964
Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 36.
965
Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, 247.
962
963
391
ziehung und ideologische Formung der Schüler. 966 Ziel war die Verinnerlichung der
nationalsozialistischen Weltanschauung als Basis für eine dem „Führerwillen“ entsprechende Denk- und Handlungsweise. 967 Die Tendenz vieler ehemaliger Napola-Schüler,
die NPEAs mit Kadettenanstalten gleichzusetzen, impliziert eine Ausblendung dieser im
Zusammenhang mit den NPEAs bedeutsamen ideologischen Komponente.
So sehr mein Großvater im Rahmen seiner Erzählungen darauf bedacht scheint, die
Nähe zwischen den Kadettenanstalten und den NPEAs aufzuzeigen, so sehr bestreitet
er jegliche Ähnlichkeit der Napolas mit den Adolf-Hitler-Schulen:
„Oiso (,) die Mähr, die Erzählung, dass man geglaubt hat, da kommen nur die
Kinder von Parteifunktionären hin, des is ned woahr, des hat hechstens .. des
hat nur gegolten, für die sogenannten Adolf-Hitler-Schulen.“968
Unmissverständlich wird im Rahmen dieser Aussage der Wunsch meines Großvaters
deutlich, die NPEAs von den Adolf-Hitler-Schulen abzugrenzen. Dieses Bedürfnis lässt
sich einerseits aus der Konkurrenz zwischen den beiden Erziehungseinrichtungen erklären, ist andererseits jedoch auch darauf zurückführbar, dass nach Ende des Zweiten
Weltkriegs die Adolf-Hitler-Schulen im öffentlichen Raum weitaus negativer bewertet
wurden als die Napolas.
Neben der seiner Ansicht nach positiven Wirkung der Napola auf die Charakterformung
der Jugendlichen schreibt mein Großvater der NPEA auch eine lebensrettende Funktion
zu. Mehrmals verlieh er im Rahmen des durchgeführten Interviews seiner Überzeu gung Ausdruck, dass er ohne den Besuch der NPEA den Krieg nicht überlebt hätte:
„Summarisch muss i sogn: Wäre ich nicht in der Napola gewesen, hätt ich den
Krieg nicht überlebt.“
Mit diesen und ähnlichen Aussagen spielt er, wie der Erzählkontext entsprechender Bemerkungen erkennen lässt, auf das harte physische Training an, dem die Schüler der
NPEAs ausgesetzt waren. Eingang in die Schilderungen meines Großvaters finden hierbei Berichte über ausgedehnte Nachtmärsche mit Gepäck, die Überquerung der Do nau, sowie Ausführungen zu den täglichen Exerzierübungen. Wie bereits im Rahmen
des vorhergehenden Kapitels angemerkt, lassen die Schulzeugnisse meines Großvaters darauf schließen, dass seine physische Leistungsfähigkeit im Vergleich zu seinen
Altersgenossen eher unterdurchschnittlich war. Seine Bemerkungen zu den wehrsportlichen Übungen in der Napola scheinen diesen Eindruck zu bestätigen. Umso schwerer
dürfte es ihm gefallen sein, dem Leistungsdruck, der in der Anstalt im Hinblick auf die
körperliche Ertüchtigung herrschte, standzuhalten. Dennoch klagt er im Rahmen seiner Erzählungen kaum über die hohen Anforderungen, die diesbezüglich an ihn ge966
967
968
Ueberhorst, Elite für die Diktatur, 38-39.
Gelhaus/Hülter, Die Ausleseschulen als Grundpfeiler des NS-Regimes, 52.
Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Interview mit Gerhard Siegmund.
392
stellt wurden. Die wenigen subtilen Unmutsäußerungen in diesem Kontext werden entweder durch humorvolle Äußerungen entschärft, oder aber, wie bereits angemerkt, mit
dem Verweis darauf abgetan, dass ohne derartige Maßnahmen ein Überleben im Krieg
nicht möglich gewesen wäre.
Auffallend im Bezug auf die durchgängig positive Bewertung der Napola seitens meines Großvaters ist der Kontrast zu den Darstellungen anderer Napola-Schüler. Sowohl
diverse Zeitzeugenberichte von „Ehemaligen“ als auch die geschichtswissenschaftlichen Darstellungen zu den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten weisen darauf hin,
dass Gewalt, Demütigung und Drill in den NPEAs an der Tagesordnung standen. Dennoch finden Erlebnisberichte, die dies bestätigen würden, keinen Eingang in die Erzählungen meines Großvaters. Seine Darstellung der Napola vermittelt vielmehr das Bild
einer idealen Erziehung, die als Basis für Erfolge im späteren Leben diente, sowohl auf
privater als auch auf beruflicher Ebene. Den Schilderungen von Schneider, Stillke und
Leineweber zu Folge, die im Rahmen von Gesprächen mit ehemaligen Napola- Schülern mit ähnlichen Bildern der NPEA konfrontiert wurden, handelt es sich hierbei um
eine nachträgliche Idealisierung der genannten Erziehungseinrichtung, welche die realen Bedingungen, die an den Anstalten vorherrschten, ausblendet.969
6.2 Faktoren, die zur Entwicklung eines positiven Napola-Bildes beitrugen
Eine bedeutende Frage, die sich im Zusammenhang mit der idealisierten Darstellung
meines Großvaters von der Napola aufdrängt ist, wie diese zustande kam. Obwohl es
aufgrund der dieser Fragestellung anhaftenden Komplexität fast unmöglich scheint,
eine hinreichende Antwort auf diese zu finden, soll in der Folge dennoch der Versuch
unternommen werden, Faktoren zu eruieren, die zur Entwicklung besagten Bildes beigetragen haben.
Mitgrund dafür, dass mein Großvater die Napola in so positiver Weise darstellt, ist sicherlich der Umstand, dass er bis heute Sympathien für gewisse, im Rahmen des NSSystems propagierte Ideologien hegt. Seine Äußerungen im Bezug auf die NS-Zeit erwecken zwar den Eindruck, dass er den Krieg und die Grausamkeiten, die seinen Darstellungen zufolge auf beiden Seiten passiert sind, kritisiert, lassen jedoch eine Verurteilung des NS-Regimes vermissen. In Gesprächen über die NS-Zeit weist er stets darauf hin, dass die politische Führung des Dritten Reiches heute in der Öffentlichkeit vor
allem deshalb so scharf kritisiert wird, weil der Krieg verloren wurde. Die Aussage
„Der Sieg hat viele Väter, die Niederlage nur einen“, die er in diesem Zusammenhang
gerne tätigt, impliziert eine Relativierung der vom NS-Regime initiierten und begange969
Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 36.
393
nen Gräueltaten. Die Erziehung in der Napola, die auf der nationalsozialistischen
Weltanschauung aufbaute, dürfte großen Anteil daran gehabt haben, dass mein
Großvater eine positive Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus entwickelte. In
diesem Kontext muss auch darauf hingewiesen werden, dass es, wie Ralph Schörken
im Rahmen seines Werkes „Die Niederlage als Generationserfahrung“ verdeutlicht, für
Jugendliche, die so eindringlich mit nationalsozialistischem Gedankengut konfrontiert
worden waren, besonders schwer gewesen sein dürfte, sich nach der Niederlage von
diesem zu lösen und neu zu orientieren.970
Sowohl der Besuch der Napola, als auch die damit verbundene Infiltrierung mit nationalsozialistischen Ideologien entschuldigen jedoch nicht den Umstand, dass mein
Großvater seine positive Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus bis heute
nicht abgelegt hat. Am Beispiel anderer ehemaliger NS-Ausleseschüler, die sich gegenwärtig sowohl vom Nationalsozialismus selbst als auch von dem im Rahmen der „nationalpolitischen Erziehung“ vermittelten ideologischen Gedankengut distanzieren,
wird deutlich, dass eine Abkehr von im Jugendalter indoktrinierten Werten und politischen Ideologien sehr wohl bewerkstelligt werden kann. Voraussetzung dafür ist jedoch die Anerkennung der Niederlage des NS-Systems und zwar nicht nur im Hinblick
auf die Tatsache, dass der Krieg verloren wurde, sondern auch im Sinne einer kritischen Hinterfragung des Regimes und den von diesem vermittelten Wertvorstellungen.
Einer solchen Umorientierung, die einen persönlichen Willensakt seitens der Betroffenen erfordert, hat sich mein Großvater bisher verwehrt. Dementsprechend findet sich
bei ihm auch keine Verurteilung sondern eine positive Bewertung nationalsozialistischer Erziehungseinrichtungen. Neben der bis heute ausständigen Distanzierung gegenüber dem Nationalsozialismus dürften auch die speziellen familiären Bedingungen,
denen Gerhard Siegmund in seiner Kindheit bzw. Jugendzeit ausgesetzt war, dazu beigetragen haben, dass er ein positives Bild von der Napola entwickelte. Wie im Rahmen
des vorigen Kapitels bereits erwähnt wurde, dauerte die Ehe seiner Eltern nur wenige
Jahre an. Nach der Scheidung bestand kein Kontakt zum Vater und seine Mutter war
zu beschäftigt, um sich hinreichend um ihren Sohn zu kümmern. Seinen Erzählungen
zufolge bestand zwar eine innige Beziehung zu den Großeltern mütterlicherseits, dennoch dürfte die NPEA für meinen Großvater als eine Art Ersatz- bzw. Zweitfamilie fungiert haben.
Eine weitere Bestätigung erfuhr die positive Sichtweise meines Großvaters auf die Napola dadurch, dass sich verhältnismäßig viele Napola-Schüler in ihrem späteren Leben
beruflich sehr erfolgreich zeigten. Viele von ihnen nahmen Führungspositionen in WirtRolf Schörken, Die Niederlage als Generationserfahrung. Jugendliche nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft
(Materialien zur Historischen Jugendforschung), München 2004. 13.
970
394
schaft, Politik, Journalismus und anderen öffentlichkeitswirksamen Berufsfeldern ein.971
Dieser Umstand, der sich sowohl im Hinblick auf Deutschland als auch auf Österreich
feststellen lässt, bekräftigt die unter ehemaligen Napola-Schülern nicht selten anzutreffende Auffassung, die Erziehung in der NPEA habe sie optimal auf das Leben vorbereitet.
Darüber hinaus kann die positive Darstellung der Napola auch als eine Art Abwehrmechanismus gegen Urteile und Anschuldigungen gedeutet werden, mit der ehemalige
NS-Eliteschüler aufgrund ihrer Napola-Vergangenheit konfrontiert wurden. Zwar verneinte mein Großvater im Rahmen des mit ihm durchgeführten Interviews die Frage,
ob er aufgrund des Besuchs einer NPEA jemals Anfeindungen erfahren hat:
„Des hat mir eigentlich immer nur weiter geholfen, oiso niemois, (,) oiso niemois hat ma des oiso geschadet.“972
Diverse im Rahmen des Interviews getroffene Bemerkungen seinerseits lassen jedoch
darauf schließen, dass er mit der Offenlegung seiner Napola-Vergangenheit sehr wohl
auch auf negative Reaktionen stieß:
„Des, des woar ned so, wie sie die Trottln des vorgstöt ham, dass mir mit am
Messer im Mund umadumgrennt san, wo is a Jud, den ma dastechen kenna.“
Auch im Hinblick auf mein Forschungsvorhaben äußerte er Bedenken, dass es dabei sicher nur darum gehe, die Napola in einem schlechten Licht darzustellen. Den Hintergrund solcher Aussagen bildet vermutlich die negative Bewertung, die die Napola gegenwärtig durch diverse Medien erfährt. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei
dem Fernsehen zu, das seit den 1990er Jahren vermehrt Dokumentationen zur NSZeit ausstrahlt. In diesen wird zuweilen auch auf die NPEAs Bezug genommen, wobei
häufig auch ehemalige Schüler zu Wort kommen. Aber auch der 2004 in Deutschland
produzierte Spielfilm „Napola-Elite für den Führer“ nahm Einfluss auf das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild von der Institution Napola.
7 Mentale Prägung durch die Napola
Eine zentrale These der vorliegenden Arbeit ist, dass die Erziehung in den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten das weitere Leben ehemaliger Napola-Schüler nachhaltige
prägte. Im Rahmen des folgenden Kapitels soll anknüpfend an einleitende Anmerkungen zur Sozialisationsfunktion der Institution Schule die Sonderstellung der Napola in
diesem Zusammenhang aufgezeigt werden. Darüber hinaus möchte ich untersuchen,
inwiefern die Napola-Zeit meines Großvaters und die damit einhergehenden Erfahrun971
972
Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 37.
Hierzu, sowie nachfolgendes Zitat: Interview mit Gerhard Siegmund.
395
gen und Erlebnisse Einfluss auf sein späteres Leben nahmen. Bedeutsam in diesem
Kontext scheint es, eine Differenzierung zwischen Selbst- und Fremdbild vorzunehmen. Auf der einen Seite soll veranschaulicht werden, wie mein Großvater selbst im
Hinblick auf etwaige Nachwirkungen seiner Napola-Zeit denkt. Auf der anderen Seite
werde ich auch die im Zuge meiner Nachforschungen und Analysen gewonnen Erkenntnisse diesbezüglich darstellen.
7.1 Schule als Ort der Sozialisation und Prägung – die Sonderstellung der
Napola
Der Institution Schule kommen unterschiedliche gesellschaftliche Aufgaben zu. Neben
ihrer Funktion als Bildungs-, Selektions-, und Legitimationsanstalt ist die Schule auch
ein Ort der Sozialisation und nimmt als solche wesentlichen Einfluss auf Denkweisen,
Wertvorstellungen und Haltungen des Individuums. 973 In den NPEAs wurde ganz gezielt der Versuch unternommen, die Schüler zu prägen, sowohl im Bezug auf ihren
Charakter als auch im Hinblick auf ihre politische Auffassung und Weltanschauung.
Voraussetzung für das Gelingen dieses Vorhabens bildete die Erziehungsform des Internats.974 Dadurch, dass die Schüler den Großteil ihrer Zeit in den Anstalten verbrachten, konnte die Wirkung äußerer Einflüsse, beispielsweise seitens der Familie oder des
Bekanntenkreises, reduziert werden. Ziel stellte es, wie bereits andernorts ausgeführt,
dar, eine führertreue Elite heranzubilden, die dafür Sorge tragen sollte, der nationalsozialistischen Gesinnung in möglichst allen gesellschaftlichen Bereichen zur praktischen
Umsetzung zu verhelfen.
7.2 Selbstbild
Wie sich einerseits im Zuge des lebensgeschichtlichen Interviews, andererseits auch in
vorangehenden informellen Gesprächen mit meinem Großvater herausstellte, vertritt
er die Auffassung, dass die Erziehung in der Napola ihn primär in Hinblick auf die Ent wicklung moralischer Wertvorstellungen prägte. Seinen Schilderungen zufolge fungierte die Napola als eine Art Charakterschmiede, die den Jungendlichen sowohl in privater als auch in beruflicher Hinsicht den Weg zu einem erfolgreichen Leben bahnte. In
besonderem Maße betont er, dass die Napola-Schüler seitens der Erzieher zu einem
verantwortungsvollen Umgang mit dem weiblichen Geschlecht angehalten wurden.
Roland Reichenbach, Die Tugend der Dissenstauglichkeit: Schule und Pluralität, in: Marian Heitger (Hg.), Wozu
Schule? (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg,
Neue Folge 76), Innsbruck-Wien 2002, 22.
974
Scholtz, NS-Ausleseschulen, 7.
973
396
Dieser implizierte seiner Aussage nach unter anderem die Forderung, im Falle der
Zeugung eines Kindes, die Kindesmutter zu heiraten und dafür Sorge zu tragen die
eheliche Verbindung ein Leben lang aufrecht zu erhalten:
„Mitgegeben hat ma uns wie gsagt, des Vahoitn zum ondern Geschlecht, dass
ma imma .. wie i scho gsagt hab, a Frau ka Spüzeig is und dass ma Konsequenzen zu trogn hat. Und, und keine Scheidung, (.) des Wort hats nicht gegeben.
Und meine (,) äh Kameraden die heite des überlebt ham, san alle ihren Frauen
treu geblieben, es hat sie kana scheiden lassn. Oiso insofern woar des scho sehr
prägend, aber des is uns dort eingeimpft wordn.“975
Ähnliche Darstellungen im Bezug auf die in der Napola vermittelten Wertvorstellungen
finden sich bei einem ehemaligen Schüler der NPEA Traiskirchen, der ebenfalls das
Verhalten gegenüber Frauen als einen Kernpunkt der moralischen Erziehung in den
NPEAs hervorhebt:
„Wir wurden dazu erzogen, das andere Geschlecht als „hoch und hehr“ zu betrachten und uns überall so zu benehmen.“976
Wie mein Großvater verweist auch er darauf, dass die meisten Ehen seiner ehemaligen
Klassenkollegen nicht geschieden wurden. Durch die Positionierung dieser Aussage
ganz am Ende seiner Ausführungen bringt er zum Ausdruck, dass er diesen Umstand
als Folgeerscheinung der Erziehung betrachtet, die ihm und seinen Schulkameraden in
der Napola zu Teil wurde:
„Zum Abschluß (sic!) möchte ich noch ergänzen: Von den 15 Jungmannen meines Zuges (Klasse), welche den Krieg überlebten, waren alle verheiratet, nur einer wurde geschieden.“977
Die Vermutung ehemaliger Napola-Schüler, dass die Erziehung in den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten eine positive Auswirkung auf die Dauerhaftigkeit ihrer Ehen
hatte, lässt sich nicht belegen. Die Entwicklung der Scheidungsrate in Österreich zeigt
jedoch, dass die Gesamtscheidungsrate in den beiden Jahrzehnten nach 1945, abgesehen von einem kurzfristigen, steilen Anstieg direkt nach Kriegsende, im Vergleich zu
den Folgejahrzehnten relativ niedrig war. 978 Folglich liegt der Schluss nahe, dass die
geringe Scheidungsrate unter den Napola-Kollegen meines Großvaters weniger als
eine direkte Folge der Napola-Erziehung, sondern vielmehr als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Phänomens betrachtet werden muss. Einen massiven, stetigen Anstieg erfuhr die Scheidungsrate, ähnlich wie in Deutschland, erst Ende der 1960er Jahre. Der
Soziolge Helmut Klages begründet diese Entwicklung mit einem
„Wertwandelsschub“, der „im Wandel von Pflicht- und Selbstentfaltungswerten
Interview mit Gerhard Siegmund.
Interview mit D. R., in: Herbert Kocab, Die Nationalpolitische Erziehungsanstalt. Eine Ausleseschule als
Herrschaftsmittel des NS-Regimes, Dipl. Arb., Wien 1993, 125.
977
Ebd., 143.
978
Ehescheidungen, Scheidungsrate und Gesamtscheidungsrate seit 1946, Statistik Austria,
URL: https://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/scheidungen/index.html (abgerufen am 25. 5. 2013).
975
976
397
seinen Ausdruck fand und auch zu Veränderungen in den subjektiven Eheauffassungen führte.“979
Ein weiterer Wert, der den Schilderungen Gerhard Siegmunds zufolge in der NPEA besonders hervorgehoben wurde, war die aufrichtige Haltung gegenüber den Mitmenschen:
„Denn einen Erzieher zweimal anlügen woar gleichzeitig mit dem Ausscheiden
aus der Napola, (.) oiso a des woar ned gfrogt.“980
Auch im Hinblick auf diese Aussage finden sich Parallelen zu den Erzählungen des bereits zuvor genannten ehemaligen Schülers der NPEA Traiskirchen:
„Wir hatten im Keller des Hauptgebäudes Lebensmittelmagazine, welche durch
Lattenverschlag abgesichert waren. Schüler einer höheren Klasse stahlen dort
Äpfel. Sie wurden sofort entlassen.“981
Beide Darstellungen erwecken den Eindruck, dass man in den NPEAs großen Wert auf
die Aufrichtigkeit der Schüler legte und ein diesbezügliches Fehlverhalten entsprechend hart bestraft wurde. Die Auffassung meines Großvaters, dass diese Forderung
nach einer ehrlichen Grundhaltung Auswirkungen auf sein späteres Leben hatte, wird
unter anderem in der folgenden Passage des mit ihm geführten Interviews deutlich.
Diese lässt erkennen, dass er sein, seinen Angaben nach redliches Verhalten im Berufsleben, als Nachwirkung der Napola-Erziehung betrachtet:
I: „Würdest du sagen, dass sich der Umstand, dass du in der Napola warst, auf
dein späteres Leben, vielleicht auch in beruflicher Hinsicht, ausgewirkt hat?“
GS: „Sicha, oberster Grundsatz woar: Man .. man betrügt niemand und als
Chefarzt, i hab ja nie jemandem was weg (,) weggenommen, was ma (,) äh,
was ma äh, jede Form von Bestechung hab i oiso entrüstet zurückgewiesen ..
nedwoar, dadurch hab i a nix (Lachen), kane Besitztümer, und hab ma .. hab
ma a nix ongeeignet, ja..“982
Neben dem ehrbaren Verhalten gegenüber dem weiblichen Geschlecht und einer aufrichtigen Haltung zählte laut den Schilderungen meines Großvaters auch Kameradschaft zu den moralischen Grundsätzen, die in der Napola vermittelt wurden. Schneider, Stillke und Leineweber machen im Rahmen ihrer Darstellungen zu den NPEAs darauf aufmerksam, dass beinahe alle der von ihnen interviewten ehemaligen NapolaSchüler den in den Anstalten herrschenden Gemeinschaftssinn in besonderer Weise
hervorhoben.983 In diesem Kontext verweisen sie auf den einstigen Napola-Zögling Harald Völklin. Dieser zeigte sich im Rahmen des mit ihm geführten biographischen GeGitta Scheller, Wertwandel und Anstieg des Ehescheidungsrisikos? Eine qualitative Studie über den Anspruchs- und
Bedeutungswandel der Ehe und seine Konsequenzen für die Ehestabilität (Soziologische Studien 9), Pfaffenweiler 1992,
14-15.
980
Interview mit Gerhard Siegmund.
981
Interview mit D. R., 130.
982
Interview mit Gerhard Siegmund.
983
Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 63.
979
398
sprächs davon überzeugt, dass in der NPEA die Basis für die Entwicklung eines
Teamgeistes geschaffen wurde, der sich für seine spätere berufliche Laufbahn als bedeutsam erwies.984
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Gerhard Siegmund gemäß dem idealisierten Bild, das er von der Napola zeichnet, davon ausgeht, dass ihn die Zeit in der
NPEA Wien Theresianum ausschließlich in positiver Weise geprägt hat. Der Gedanke,
dass die Napola-Erziehung auch negative Auswirkungen auf seine persönliche Entwicklung bzw. auf sein späteres Leben gehabt haben könnte, findet keinen Eingang in seine Darstellungen. Meine Frage, ob in den Anstalten politischer Einfluss auf die Schüler
ausgeübt wurde, verneinte er entschieden. Auf diese unter ehemaligen Napola-Schülern durchaus verbreitete Auffassung und deren Hintergründe soll zu einem späteren
Zeitpunkt noch genauer eingegangen werden.
7.3 Fremdbild
Im Rahmen des vorhergehenden Abschnitts meiner Arbeit wurde der Versuch unternommen, die Perspektive meines Großvaters hinsichtlich seiner Prägung durch die Napola herauszuarbeiten. Im nun folgenden Teil möchte ich meine eigene Sichtweise
diesbezüglich darstellen. Hierzu sei angemerkt, dass lediglich Vermutungen darüber
angestellt werden können, inwiefern die Erziehung in der Napola Auswirkungen auf
das spätere Leben meines Großvaters hatte bzw. immer noch hat. Die in diesem Zu sammenhang getroffenen Annahmen basieren einerseits auf Recherchen zur Institution Napola, andererseits auf der Lebensgeschichte meines Großvaters und dem mit
ihm geführten Interview. Ziel stellt es dar, grundlegende Denkweisen, Wertvorstellungen und Haltungen zu eruieren, die durch seine Erziehung in der NPEA mitgeprägt
wurden, wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird. Die Formulierung „mitgeprägt“ verwende ich an dieser Stelle ganz bewusst. Sie soll zum Ausdruck bringen,
dass auch andere Faktoren jenseits der NPEA Einfluss auf die Entwicklung besagter
Denkweisen, Wertvorstellungen und Haltungen nahmen.
In diesem Kontext sei auf Margit Reiter und ihre Forschungen zum Nationalsozialismus
im Familiengedächtnis verwiesen. Die Zeithistorikerin macht darauf aufmerksam, dass
die Kinder bzw. Enkelkinder jener Generation, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat,
dazu neigen, bestimmte Wesenszüge ihrer Eltern bzw. Großeltern unreflektiert auf den
Nationalsozialismus bzw. auf eine Verstrickung in NS-Ideologien zurückführen. Reiter
betont jedoch, dass bestimmte Prägungen und Strukturen, die als durch nationalsozialistische Ideologien geprägt wahrgenommen werden, bereits vor der Machtübernahme
984
Ebd., 137.
399
der Nationalsozialisten fest in der Gesellschaft verankert waren und keineswegs ein
NS-Monopol darstellten, auch wenn sie im Kontext des Nationalsozialismus eine
besondere Ausformung erfuhren.985
Einen Wesenszug meines Großvaters, den ich, wenn auch nicht ausschließlich, als
Nachwirkung seiner Napola-Vergangenheit betrachte, ist seine in Gesprächen mit ihm
immer wieder zum Ausdruck kommende Auffassung, einer elitären Schicht anzugehören. Diese Annahme stützt sich nicht etwa auf den Besitz materieller Güter, sondern
vielmehr auf die Vorstellung, aufgrund moralischer Qualitäten und beruflicher Leistungen der breiten Masse überlegen zu sein. Wie sich bisherigen geschichtswissenschaftlichen Studien zur Napola entnehmen lässt, spielte die Vermittlung eines Elitebewusstseins in den NPEAs eine ganz wesentliche Rolle. Das Gefühl der Schüler, etwas Besonderes zu sein, speiste sich unter anderem aus der Gewissheit, zu den wenigen „Auserwählten“ zu gehören, die eine solche Einrichtung besuchen durften. 986 Im Rahmen des
Aufnahmeverfahrens mussten die Schüler, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, neben ihrer „rassischen Tauglichkeit“ auch ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. Laut dem Zeitzeugenbericht von Harald Ofner trug auch der
Stolz darüber, das harte Leben in der NPEA auszuhalten, dazu bei, dass die NapolaSchüler eine Art Herrenbewusstsein entwickelten. 987 Seitens der Anstalten versuchte
man unter anderem durch eine gezielte Förderung des Gruppenbewusstseins derartige
Prozesse zu fördern.988 Die Vorstellung der Napola-Schüler einer elitären Gemeinschaft
anzugehören fand zum einen in der Anfertigung spezieller Uniformen Ausdruck, durch
die sie sich von anderen Jugendorganisationen abhoben. 989 Andererseits spiegelte sich
diese auch in der abwehrenden Haltung der NPEAs gegenüber den Adolf-Hitler-Schulen
und der Hitlerjugend wider. Das für die damalige Zeit ungewöhnlich vielfältige Angebot
an exklusiven Sportarten sowie die paramilitärische Ausbildung und der damit verbundene Drill waren ausschlaggebend dafür, dass die NPEAs auch seitens der Öffentlichkeit als Eliteschulen wahrgenommen wurden. Eng verbunden mit dem Elitedenken,
das in den Anstalten vermittelt wurde, war die Erwartung an die Schüler hohe Leistungen zu erbringen. Die Schilderungen von Ueberhorst lassen darauf schließen, dass
hierbei ein kausaler Zusammenhang hergestellt wurde. Einer elitären Gruppe durfte
man sich demnach nur dann zugehörig fühlen, wenn man entsprechende Leistungen
erbrachte, sei es auf physischer, intellektueller oder charakterlicher Ebene. 990 Basierend auf dieser Schlussfolgerung waren die Napola-Schüler einer ständigen BewähReiter, Die Generation danach, 72.
Baumeister, NS-Führungskader, 27.
987
Harald Ofner, „Wir hätten jeden Befehl bedingungslos befolgt“, in: Johannes Leeb (Hg.), „Wir waren Hitlers
Eliteschüler“. Ehemalige Zöglinge der NS-Ausleseschulen brechen ihr Schweigen, Hamburg 1998, 175.
988
Gelhaus/Hülter, Die Ausleseschulen als Grundpfeiler des NS-Regimes, 61.
989
Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, 252.
990
Ueberhorst, Elite für die Diktatur, 30.
985
986
400
rungsprobe ausgesetzt. Wer den Leistungsanforderungen, auf welcher Ebene auch
immer, nicht entsprach, musste mit einem Verweis von der Schule rechnen. Die
starkeLeistungsorientierung an den NPEAs manifestierte sich unter anderem in dem
Ausspruch: „Mehr sein als scheinen“. Diese ursprünglich vom preußischen Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke geprägte Formulierung, der sich mein Großvater auch
heute noch gerne bedient, fungierte als einer von mehreren Wahlsprüchen der Napolas.991 Er wurde auf den Ehrendolch eingraviert, den die Schüler mit 16 Jahren erhielten, ein Umstand der vermuten lässt, welche Bedeutung diesem zukam.
Der große Leistungsdruck, den mein Großvater in der Napola erfuhr, dürfte im Zusammenspiel mit anderen Faktoren dazu beigetragen haben, dass er ein unverhältnismä ßig starkes Leistungsstreben entwickelte. Dieses äußert sich zum einen darin, dass er
sich selbst sehr stark über erbrachte Leistungen definiert, kommt jedoch auch dadurch
zum Ausdruck, dass er die Wertigkeit anderer Menschen an deren Leistungen festmacht. Bedeutsam in diesem Zusammenhang erscheint, dass er fast ausschließlich
berufliche Erfolge als Leistung anerkennt. Die starke Leistungsorientierung meines
Großvaters wirkte sich unter anderem auch auf die Erziehung seiner Söhne aus. Sowohl mein Vater als auch einer seiner beiden Brüder gaben im Rahmen informeller Gespräche zur Napola-Vergangenheit meines Großvaters an, dass sie im Hinblick auf ihre
beruflichen Karrieren stets einen großen Erwartungsdruck seitens ihres Vaters verspürten.
Bezüglich der Frage, inwiefern in den NPEAs der Versuch unternommen wurde, die
Zöglinge auch in politischer Hinsicht zu prägen, besteht Uneinigkeit unter ehemaligen
Napola-Schülern. Während die einen den politischen Charakter der genannten Ausleseschule hervorheben, betonen die anderen, „daß (sic!) es sich bei den Anstalten nur
am Rande um politische Einrichtungen gehandelt habe“ 992. Gerhard Siegmund zählt,
wie sich auch im Zuge des mit ihm geführten Interviews zeigte, zur letzteren Gruppe:
I: „Du hast gesagt der Schwerpunkt war Sport und Schulunterricht, ist euch
auch auf politischer Ebene was vermittelt worden?“
GS: „Na, an politischen Unterricht hats nicht gegeben. Na, die Erzieher ham uns
hoid des vorgelebt, was ma hoid ham weidermochn soin. Und wie gsagt, es (,)
es hat sie kana von meine Kameraden je scheiden lassn, ned?“993
Diese Aussage meines Großvaters widerspricht den Ergebnissen geschichtswissenschaftlicher Forschungen zur Napola. Sowohl Ueberhorst als auch Baumeister machen
im Zuge ihrer Darstellungen darauf aufmerksam, dass die Zöglinge der NPEAs im Rahmen des Schulunterrichts sehr wohl mit politischen Inhalten konfrontiert wurden. Auf
991
992
993
Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, 253.
Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 36.
Interview mit Gerhard Siegmund.
401
der
einen
Seite
fand
die
„nationalpolitische
Bildung“
Eingang
in
bestehende
Unterrichtsfächer. Vor allem in Fächern wie Biologie, Geschichte, Deutsch, Erdkunde
und Kunst unterlagen die vermittelten Inhalte einer starken politischen Färbung. 994 Auf
der anderen Seite wurde ein eigener „nationalpolitischer Fachunterricht“ installiert, der
sich jedoch auf die Oberstufe beschränkte und mit zwei Stunden wöchentlich von eher
geringem Ausmaß war.995 Abseits des Schulunterrichts wurden, beispielsweise im
Rahmen von Sportveranstaltungen und Festen, hochrangige NS-Funktionäre dazu
eingeladen, Vorträge zu halten, die ebenfalls politischen Charakter hatten. 996 Seitens
der Anstalten wurde kein Hehl daraus gemacht, dass man darauf abzielte, die
„Jungmannen“ auch in politischer Hinsicht zu formen. Dies wird beispielsweise in der
aus dem Jahr 1938 stammenden Festschrift anlässlich der Eröffnung der Napola
Stuhm deutlich:
„Die Gesamterziehung der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten hat die Aufgabe, den politischen Menschen zu formen, der von nationalsozialistischem
Glauben und von seinem Wissen her in der Lage ist, später auch in den schwierigen Lagen richtig politisch zu urteilen und zu handeln.“997
Diverse Aussagen, die mein Großvater im Rahmen seiner Erzählungen über die Napola
tätigt, lassen darauf schließen, dass die Vermittlung einer antisemitischen Haltung
einen Kernpunkt der politischen Prägung in den NPEAs darstellte. Folgende Passage
des mit ihm geführten Interviews scheint diesen Eindruck zu bestätigen:
„Aber wie gsagt: (´) Ein Volk, ein Reich ein Führer, das Volk wird immer dürrer,
der Jud wird immer fetter, Heil Hitler, unsern Retter. (Pause) Du, ganz so unrecht (,) is des ned, denk nur heit noch, was die Juden olles onstön (schnell)
was die in Palästina onstön. Wie vüle Juden (,) wie vüle Juden beim (…) oiso
heit a wieder beteuligt san (,) oda hast des ned mitkriagt? Schau, da Strauss
Kahn, .. der woar do a so a Typ, ned? (Pause) Waßt mit die Judn, man hat uns
nicht zu Mördern erzogen, aber ma hat uns nur gsagt, von denen soi ma si
fernhoiten, weu die ham in ihrer Tora stehen, dassd´an Gol bescheißen derfst,
des is ka Sünde, ja, oiso die ham si scho religiös versichert (,) ja, rückversi chert. Und du sikst ja was die in Palästina unten treiben, ned? Das ist an und
für sich denen ihr Land was sie besetzt ham, ned? (Pause) Na denn.“998
Seine antisemitische Haltung rechtfertigt mein Großvater mit einem Verweis auf eine
vermeintliche Unredlichkeit der Juden gegenüber den Nichtjuden. Diese basiert seiner
Auffassung nach auf der Tora, in der angeblich der Wortbruch von Juden gegenüber
Andersgläubigen legitimiert wird, eine Behauptung, die theologisch betrachtet keineswegs haltbar ist. Die generalisierenden, abschätzigen Bemerkungen meines Großvaters über „die Juden“ lassen eine Verknüpfung zwischen traditionellen Formen des AnBaumeister, NS-Führungskader, 38.
Ueberhorst, Elite für die Diktatur, 183.
996
Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, 37.
997
Festschrift zur Eröffnung der NPEA Stuhm, 1938, in: Horst Ueberhorst, Elite für die Diktatur. Die Nationalpolitischen
Erziehungsanstalten 1933-1945. Ein Dokumentarbericht, Düsseldorf 1969, 180.
998
Interview mit Gerhard Siegmund.
994
995
402
tisemitismus und einem „Sekundären Antisemitismus“ erkennen. Zum „traditionellen
Antisemitismus“ zählen sowohl der „religiöse Antisemitismus“ als auch der „Rassenantisemitismus“999, die mein Großvater in seinen Aussagen über die Juden undifferenziert miteinander vermengt.
Als Ausdruck eines traditionellen Antisemitismus können beispielsweise die mit rassistischen und religiösen Vorurteilen behafteten Judenwitze gewertet werden, die er in
Gesellschaft gerne erzählt. Der Versuch hingegen, seine Vorbehalte gegenüber Juden
mit der israelischen Politik zu begründen und zu legitimieren, ist Ausdruck eines „Sekundären Antisemitismus“. Der Begriff des Sekundären Antisemitismus wurde zu Beginn der 1950er Jahre von Peter Schönbach, einem engen Mitarbeiter Theoder W. Adornos, geprägt und bezeichnet laut Wolfgang Benz eine „subtilere, indirekte Form der
Judenfeindschaft“.1000 Vorrangiges Ziel dieser speziellen Form des Antisemitismus ist
die Schuldabwehr bzw. -umkehr. Mittels unterschiedlicher Strategien versuchen
Vertreter eines Sekundären Antisemitismus die Verbrechen des Holocausts und die
damit einhergehende Schuld Deutschlands und Österreichs zu relativieren. Dies
geschieht, wie anhand des oberhalb angeführten Zitats meines Großvaters deutlich
wird, beispielsweise, indem auf ein einseitiges Fehlverhalten der Israelis gegenüber
den Palästinensern hingewiesen wird. Verbrechen des NS-Regimes an den Juden
werden
mit
Vergehen
der
Israelis
an
den
Palästinensern
verglichen
und
aufgerechnet.1001
Im Hinblick auf den traditionellen Antisemitismus scheint es naheliegend, dass dieser
durch die Erziehung Gerhard Siegmunds in der Napola mitgeprägt wurde. Der Sekundäre Antisemitismus hingegen kann nicht als direkte Prägung durch die Napola gedeutet werden, zumal sich diese spezielle Ausformung der Judenfeindlichkeit erst nach
1945 herausbildete.
8 Schlussbetrachtung und Ausblick
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde einerseits der Versuch unternommen, die
Lebensgeschichte meines Großvaters, speziell jenen Zeitraum, den er als Schüler der
NPEA
Wien
Theresianum
verbrachte,
nachzuzeichnen.
Die
Verknüpfung
von
Familienerzählungen, relevantem Quellenmaterial und dem historischem Kontext
ermöglichte es, einzelne, im Familiengedächtnis kursierende Episoden über seine
Napola-Zeit
bzw.
Kriegserlebnisse
chronologisch
zu
ordnen
und
in
einen
Steven Beller, Antisemitismus (Reclams Universal-Bibliothek 18643), Stuttgart 2009, 105.
Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Gesellschaft und Gegenwart (Begriffe,
Theorien, Ideologien 3), Berlin-New-York 2010, 300-301.
1001
Reiter, Die Generation danach, 61.
999
1000
403
Zusammenhang zu bringen. Andererseits wurde der Frage nachgegangen, wie mein
Großvater die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten aus heutiger Sicht bewertet. Die
Analyse des lebensgeschichtlichen Interviews ergab, dass er ein ausschließlich
positives Bild von der genannten Erziehungseinrichtung zeichnet, wobei darauf
aufmerksam gemacht wurde, dass unterschiedliche Faktoren an der Entstehung dieses
Bildes beteiligt waren. Neben der speziellen familiären Situation und seiner bis heute
ausstehenden Distanzierung von nationalsozialistischen Ideologien spielten hierbei
auch äußere Umstände, wie der berufliche Werdegang ehemaliger Napola-Schüler und
die nachträgliche Bewertung der Institution durch diverse Medien eine entscheidende
Rolle. Darüber hinaus konnte am Beispiel meines Großvaters verdeutlicht werden,
dass die Erziehung in den NPEAs das weitere Leben ehemaliger Napola-Schüler
nachhaltig prägte.
Hinsichtlich der Frage, inwiefern die Zeit in der Napola Nachwirkungen auf seine
Persönlichkeitsentwicklung zeigte, wurde festgestellt, dass hierbei eine Differenzierung
zwischen Selbst- und Fremdbild
vorgenommen
werden
muss. Während
mein
Großvater selbst davon ausgeht, dass die Erziehung in der NPEA ihn lediglich im
Hinblick auf die Ausbildung moralischer Qualitäten geprägt hat, kam ich im Zuge der
Beschäftigung
mit
seiner
Biographie,
der
Analyse
des
durchgeführten
lebensgeschichtlichen Interviews, sowie durch eine Auseinandersetzung mit der
Institution Napola zu dem Schluss, dass der Besuch besagter Schule auch die
Entwicklung diverser Denkweisen, Wertvorstellungen und Haltungen mitprägte.
In diesem Zusammenhang wurde zum einen auf die starke Leistungsorientierung und
das
Elitedenken
meines
Großvaters,
zum
anderen
allerdings
auch
auf
seine
antisemitische Haltung, die in Gesprächen mit ihm immer wieder deutlich wird,
verwiesen. Weiterführend würde es sich anbieten, die Nachwirkungen der Napola auf
die zweite und dritte Generation zu untersuchen. Ursprünglich hätte eine solche
Auseinandersetzung mit dem „Erbe der Napola“ ebenfalls Gegenstand meiner
Forschungen sein sollen. Aufgrund des begrenzten Umfangs der vorliegenden Arbeit
entschied ich mich jedoch dazu, diese Fragestellung vorläufig auszuklammern. Gerade
im
Sinne
der
Intention,
die
Aufarbeitung
der
eigenen
Familiengeschichte
voranzutreiben, wäre eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik jedoch von
großem Interesse.
404
9 Quellen
Aus dem Privatarchiv von Gerhard Siegmund (Einsichtnahme am 4. 11. 2012):
•
Aufnahmeantrag für die NPEA Wien Theresianum, 1938.
•
Bewilligung der Scheidung von Tisch und Bett, Antragsteller: Maria und Arthur
Siegmund, Geschäftszahl 7 P 192/32, ausgefertigt von Dr. Leopold Wilfinger für
das Bezirksgericht Hietzing, 15. 9. 1932.
•
Bundesministerium für Unterricht an Maria Siegmund, ZI. 23.204/10/ZD, 2. 7.
1937.
•
Dekanat der Medizinischen Fakultät Wien an Gerhard Siegmund, Dek. ZI. 60
aus 1946/47, 30. 12. 1946.
•
Kriegsgefangenen-Formular, ausgestellt für Gerhard Siegmund, 9. 6. 1945.
•
Luftwaffenhelferzeugnis für Gerhard Siegmund, ausgestellt von der NPEA
Theresianum Wien, 26. 7. 1944.
•
Meldebestätigung für Gerhard Siegmund, 25. 6. 1945.
•
Merkblatt der Staatserziehungsanstalt für Knaben, Wien Theresianum, 1938/39.
•
Mitteilungen der Direktion der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Traiskirchen
an alle Zöglingserhalter, 8. 9. 1938.
•
Scheidungsbeschluss, Geschäftszahl 7 Nc 965/38, ausgefertigt von Dr. Leopold
Wilfinger für das Amtsgericht Hietzing, 27. 10. 1938.
Interviews:
•
Interview mit Gerhard Siegmund, geführt am 14. 12. 2012 in Wien, Bänder bei
Autorin.
10 Abbildungen
•
Abbildung 1/2: Gerhard Siegmund.
Quelle: In Privatbesitz der Autorin bzw. der Familienmitglieder.
405
Autorinnen und Autoren
Gerhard Botz, geb. 1941 in Schärding, studierte in Wien, war Professor an den Universitäten Linz, Salzburg und Wien. Hier als Emeritus weiter tätig leitet er auch das
Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft.
Peter Bystricky, geb. 1979 in Wien. Seit 2007 Studium der Geschichte, Numismatik
(Nebenfach) und Volkswirtschaft an der Universität Wien. Steht kurz vor dem Abschluss seines Bachelors.
Nikolaus Domes wurde am 5. 5. 1988 in Wien geboren. Dort besuchte er auch die
Schule und begann 2008 mit dem Bachelorstudium Geschichte an der Universität
Wien, welches er 2013 mit dieser Arbeit abschloss. Seit 2013 studiert er im Master
Geschichtsforschung, Historische Hilfswissenschaften und Archivwissenschaft.
Peter Dusek wurde am 20. 5. 1945 in Waidhofen an der Thaya geboren. Er ist Hono rar-Professor für Zeitgeschichte und Archivwissenschaft und war, zwischen 1988 und
2008, ORF-Hauptabteilungsleiter des FS-Archivs, sowie von 1995 bis 2008 Präsident
der Freunde der Wiener Staatsoper.
Kristina Kreutzer wurde 1981 in St. Pölten geboren und wuchs in der Marktgemeinde Loosdorf auf. 2008 begann sie an der Universität Wien das Bachelorstudium Geschichte und beendete dies im Frühjahr 2014 mit der vorliegenden Arbeit. Während
ihres Studiums arbeitete sie u.a. als Kulturvermittlerin bei der Niederösterreichischen
Landesausstellung 2011.
Martina Lajczak, geb. 1990 in Wien, absolvierte ihr Studium der Publizistik- und
Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien, welches sie 2013 abschloss.
Momentan studiert sie im Masterstudium Theater-, Film- und Mediengeschichte und
arbeitet als freie Journalistin. Seit 2011 ist sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft tätig.
Peter Liszt wurde 1988 in Oberwart, Burgenland geboren. Studium der Geschichte in
Wien. Zurzeit arbeitet er als Historiker und studiert Ausstellungsdesign in Graz. Entwicklung und Gestaltung mehrerer historischer Ausstellungen, u.a.: „Besser die Hände
als der Wille gefesselt – Franz Jägerstätter“ (2009), und „Geldgeschichte.n“ (2010).
2013 erschien in der edition lex liszt 12: Peter Liszt, Aaron Sterniczky (Hg.): „Herrn
406
Max und einen Milchkaffee, bitte! Erinnerungen an den Spanischen Bürgerkrieg“.
Bettina Pirker begann 2007 ihr Geschichtsstudium an der Universität Wien.
David Pöcksteiner wurde am 22. 7. 1990 in Scheibbs, Niederösterreich geboren. Er
studiert zurzeit im Masterstudium Zeitgeschichte, sowie die Lehramtsstudien Geschichte und Physik an der Universität Wien. Dort hat er die Bachelorstudien Geschichte (mit dieser Arbeit) und Politikwissenschaft im Sommersemester 2013 abgeschlossen.
Cornelia Rosenkranz wurde 1990 in Wien geboren, macht derzeit ihren Master der
Zeitgeschichte an der Universtität Wien sowie eine Ausbildung zur Gebärdensprachdolmetscherin. Davor hat sie mit dieser Arbeit im Wintersemester 2012/13 ihren Geschichte Bachelor und im Sommersemester 2013 ihren Bachelor in vergleichender Literaturwissenschaft abgeschlossen.
Lucinda Schmatz-Rieger wurde 1944 in Wien geboren, und studierte Geschichte,
Psychologie, Philosophie und Pädagogik an der Universität Wien. Sie ist Prof. ObStR.
für Geschichte, PPP und Informatik am BG Wien 1 (Stubenbastei 6-8) und absolviert
seit 2010 ihr Doktoratsstudium für Zeitgeschichte an der Universität Wien.
Veronika Siegmund wurde am 12. 5. 1985 geboren. Seit 2009 studiert sie Geschichte an der Universität Wien. Ihre Interessensschwerpunkte sind der Nationalsozialismus
in Österreich sowie die Habsburgermonarchie im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Neben ihrem Studium arbeitet sie in einem Medienvertrieb an der Realisierung
von Buchprojekten zum Thema Stadtgeschichte.
Stephan Turmalin (geb. Wurm) wurde 1985 in Korneuburg geboren. Er studiert Zeitgeschichte und Germanistik an der Universität Wien, sowie Israel Studies an der BenGurion University Beer Sheva in Israel, wobei er im Februar 2014 seinen Geschichte
Bachelor mit der vorliegenden Arbeit abschloss. Nebenbei arbeitet er als Fremdenfüh rer.