Humboldt-Universität Berlin – Philosophische Fakultät III Gender

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Humboldt-Universität Berlin – Philosophische Fakultät III Gender
Humboldt-Universität Berlin – Philosophische Fakultät III
Gender Studies - Geschlechterstudien
Einführung in den Wissenschaftsschwerpunkt II: Literaturwissenschaft
Sommersemester 2002
Prof. Dr. Inge Stephan
Die Dichotomie
Weiblichkeit/ Natur und Männlichkeit/ Kultur
in ausgewählten Gedichten Joseph von Eichendorffs
Birte Bogatz
173720
Neuere/Neueste Geschichte /Gender Studies
Birte.btz@gmx.de
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
S. 2
2. Die Dichotomie Natur/ Weiblichkeit und Kultur/ Männlichkeit
S. 3-4
3. Wasser und Weiblichkeit
S. 5-6
4. Der stille Grund
S. 7-9
5. Waldgespräch
S. 10-12
6. Der Schiffer
S. 12-14
7. Schlusswort
S. 14
8. Gedichte
S. 15-17
Literaturverzeichnis
S. 18
2
1. Einleitung
Viel hab ich von Sirenen sagen hören,
Stimmen, die aus dem Abgrund lockend schallen
Und Schiff und Schiffer ziehn zum kühlen Tode.
Ich muss dem Zauber ewge Treue schwören,
Und Ruder, Segel laß ich gerne fallen,
Denn schönres Leben blüht aus solchem Tode.1
Faszination Nixe: Der Mythos von dem schönen Wesen - halb Menschenfrau, halb
Fischweib - durchzieht die Literatur von der Odyssee bis heute. Die Wasserfrau
ist Verführerin, die den sicheren Tod bringt – wie die Sirenen der Odyssee - ,
aber auch Betrogene und Verletzte, die sich nach wahrer Liebe und Beseelung
sehnt – wie Fouqués Undine. Nicht nur Eichendorff zeigte sich von der Ambivalenz der Wasserfrau fasziniert und schwor ihrem „Zauber ewge Treue“.
In der vorliegenden Hausarbeit werde ich zunächst versuchen, den Mythos der
Nixe in den Zusammenhang von Weiblichkeit und Natur einzuordnen. Dazu werde ich mich im ersten Kapitel mit der Dichotomie Weiblichkeit/ Natur und Männlichkeit/ Kultur auseinandersetzen. Diese Dichotomie bedeutet eine Hierarchisierung und folgt dem „Modell von Sieg und Unterwerfung“2, wobei die Verbindung
von Natur und Weiblichkeit das unterlegene Prinzip ist.
Im zweiten Kapitel werde ich auf eine Spezifizierung dieses Prinzips eingehen.
Dabei handelt es sich um die Verbindung von Wasser und Weiblichkeit, die eine
lange literaturgeschichtliche Tradition hat und ihre Versinnbildlichung in der Nixe
findet.
Anschließend werde ich versuchen, die Dichotomie Männlichkeit/ Kultur und
Weiblichkeit/ Natur in ausgewählten Gedichten Joseph von Eichendorffs sichtbar
zu machen. Dabei möchte ich vor allem auf die Vielschichtigkeit des Nixen-/
Frauenbildes und die verschiedenen Verhaltensweisen der männlichen „Helden“
eingehen, von denen jeweils auf das Verhältnis zwischen Kultur und Natur bzw.
Mann und Frau zu schließen ist.
1
Eichendorff, Joseph von, Sämtliche Werke, Band I/1, Gedichte, Fröhlich, Harry/ Regener, Ursula, Stuttgart/
Berlin/ Köln 1993, Der Schiffer, 1808.
2
Stephan, Inge, Gender, Geschlecht und Theorie, in: Christina von Braun/ Inge Stephan (Hrsg.), Gender Studien. Eine Einführung, Stuttgart; Weimar 2000, S. 81.
3
2. Die Dichotomie Natur/ Weiblichkeit und Kultur/ Männlichkeit
„Es fällt auf, dass in allen Gesellschaften die Unterscheidung zwischen Kultur und Natur eine wesentliche Rolle spielt und dass beide in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gesetzt werden: Kultur gilt als der Natur überlegen.“3
Dieser Gedanke, den Anna Maria Stuby hier darlegt, ist leicht nachvollziehbar:
Während wir keinerlei Respekt vor der Natur haben, sie ausbeuten, verschmutzen und zerstören, zeigen wir umso mehr Achtung vor den Kulturleistungen der
Menschen. Dass eine Hierarchie im Werteverständnis von Natur und Kultur vorherrscht, ist offensichtlich. Die Gesellschaften unterscheiden jedoch nicht nur
zwischen Natur und Kultur, sie ordnen den beiden gegensätzlichen Polen auch
jeweils ein Geschlecht zu: Kultur wird mit Männlichkeit, Natur mit Weiblichkeit
gleichgesetzt – die Hierarchisierung bleibt dabei freilich die Gleiche.
Zu der strikten Zuordnung konnte es deshalb kommen, weil Frauen von jeher
stärker an ihre „Natur“, das heißt an ihre „biologischen Funktionen“4 gebunden
waren als Männer.5 Frauen können ihren Zyklus nicht bewusst steuern, sie konnten – heute ist das anders – nicht sicher bestimmen, ob und wann sie schwanger
wurden. Den Einschränkungen, die Zyklus, Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit
mit sich bringen, ist der Körper des Mannes nicht unterworfen.
Dass sich aus dem Zustand des Körpers auch Konsequenzen für soziale Zusammenhänge ergaben, ist obligatorisch. Die biologische Mutterschaft bedingte die
soziale Mutterschaft - während die Frau ausschließlich mit Schwangerschaft, Geburt und Erziehung beschäftigt war (wurde), fungierte der Mann als Schöpfer von
Kulturprodukten.6 Zwangsläufig musste die mangelnde Möglichkeit der Frau zur
Beteiligung an Kultur in ein Absprechen der Fähigkeit dazu münden.
Den Männern als Kulturschöpfern oblag und obliegt es, die Natur – und damit
auch die Frau – zu zivilisieren.
Die Frau musste sich dieser Zuordnung fügen, sie
„war kleiner und schwächer, zwischen ihr und dem Mann bestand ein Unterschied,
den sie nicht überwinden konnte, ein von Natur gesetzter Unterschied, das Beschämendste, Erniedrigendste, was in der Männergesellschaft möglich ist. Wo Beherrschung der Natur das wahre Ziel ist, bleibt biologische Unterlegenheit das
3
Stuby, Anna Maria, Liebe, Tod und Wasserfrau. Mythen des Weiblichen in der Literatur, Opladen 1992, S. 59.
Ebd., S.60
5
Vgl. Ebd.
6
Ebd.
4
4
Stigma schlechthin, die von Natur geprägte Schwäche zur Gewalttat herausforderndes Mal.“7
Genau wie die Kontinente, die Meere, das Innere der Erde und auch der Weltraum von Männern entdeckt, erforscht und eingenommen wurden8, so wurde
auch der Körper und Geist der Frau von Männern kolonialisiert und nach ihrem
Belieben geformt. Wie Inge Stephan ausführt, folgt das Verhältnis von Kultur/
Mann und Natur/ Frau dem „Modell von Sieg und Unterwerfung“.9
Dennoch gibt es auch eine andere Seite in diesem dichotomischen Verhältnis.
Die Natur ist nämlich „in einer besonderen Weise auch im Inneren des Menschen
vorhanden“10 – also auch im Mann.
Bei ihm drückt sich diese unterdrückte, verinnerlichte Natur in einer Sehnsucht
nach Entgrenzung und Verbindung mit der Natur aus. Die Frau ermöglicht ihm
diese Verbindung - dies geht jedoch Hand in Hand mit einem Verlust der Selbstkontrolle einher.
„Die Frau (als Sirene, Sphinx oder Kirke) verheißt lustvolle Entgrenzung, der Mann
sehnt sich nach dieser Erfahrung des Anderen, schreckt aber zugleich davor zurück und vernichtet das, was er begehrt. Die Frau fungiert als Verkörperung all
dessen, was abgewehrt und überwunden werden muss. In der Auseinandersetzung mit ihr formt sich der Mann zum Helden und Kulturträger.“11
(Hervorhebung von mir, B.B.)
Hier werden die Formen aufgezeigt, die die ambivalente, lebensspendende und
todbringende Frau in unserer Vorstellungswelt, bzw. in der Literatur einnimmt.
Uns soll hier vor allem das Bild der Nixe interessieren.
Kommen wir also nun zu einer Spezifizierung der Verbindung Natur und Frau: Im
Folgenden soll es um Wasser und Weiblichkeit gehen.
7
Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S.298.
Vgl. Stephan, Inge, Gender, Geschlecht und Theorie, S.81
9
Ebd., S. 81
10
Bernsmeier, Helmut, Literaturwissen Joseph von Eichendorff, Stuttgart 2000, S. 18.
11
Stephan, Inge, Gender, Geschlecht und Theorie, S. 80.
8
5
3. Wasser und Weiblichkeit
Klaus Theweleit listet in seinem Buch „Männerphantasien“12 zahllose literaturgeschichtliche Beispiele auf, in denen sich die Gleichsetzung von Natur und Frau
zugunsten der Gleichsetzung von Wasser und Weiblichkeit verschiebt. In dieser
Gleichsetzung wird die der Frau zugeteilte Rolle bzw. der ihr zugedachte Charakter auf den Punkt gebracht.
Das vielgestaltige Erscheinungsbild des Wassers kann symbolgebend für die
Wechselhaftigkeit und fehlende Selbstkontrolle der Frau gelten. Das schäumende
Meer steht dem durch Dämme unterjochten Fluss entgegen.
Die Frau ist fluidal. Sie kann sich nicht wie der Mann selbst „verfestigen“ oder
kontrollieren. Andererseits dient sie – wie auch das Wasser – dem Mann als Projektionsfläche für allerlei Abenteuer: Die unendliche Weite des Meeres wartet nur
darauf, beschifft zu werden – genau wie die Frau darauf wartet, bezwungen zu
werden. Unbekannte Gewässer und Küsten wollen wie die Frau kolonialisiert
werden.
„Das Weibliche wird (...) als das Aquatische, Fließende imaginiert und das Männliche als Kraft, die eindämmt und kanalisiert.“13
Auch in ihrer Sexualität ist die Frau dem Wasser nahe. Theweleit zitiert in seinem
Buch Arthur Miller, dessen Beschreibungen einer Vagina an geheimnisvolle Unterwasserwelten denken lassen – die, wie auch anders, vom Mann entdeckt und
bewohnt werden wollen.14
Als Resümee seiner literaturgeschichtlichen Untersuchungen zum Thema Wasser
und Weiblichkeit fasst Klaus Theweleit zusammen:
„Immer wieder: die Frau aus dem Wasser, die Frau als Wasser, als brausendes,
spielendes, kühlendes Meer, als reißender Strom, als Wasserfall, als unbegrenztes
Gewässer, durch das die Schiffe treiben, mit Seitenarmen, Tümpeln, Brandungen,
Mündungen; die Frau als lockende (oder gefährliche) Tiefe, als Becher, in dem der
Saft sprudelt, die Vagina als Welle, als Schaum, als dunkler Ort, umrahmt von Pazifikkränzen;...“15
12
Theweleit, Klaus, Männerphantasien 1 + 2, Band 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Frankfurt am Main/
Basel 2000.
13
Stuby, Anna Maria, Liebe, Tod und Wasserfrau, S. 9.
14
Theweleit, Klaus, Männerphantasien, S. 286f.
15
Ebd., S. 292.
6
Der Nixe kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu: Ihr ist die
unauflösbare Verbindung von Wasser und Frausein „auf den Leib geschrieben“.16
Ihr Oberkörper entspricht dem einer Menschenfrau, ihr Unterkörper ist ein Fischschwanz. Das Bild der Nixe ist also eine nicht zu übertreffende Steigerung – der
Superlativ für die Verbindung von Frau und Wasser/ Natur. Die sonst eher abstrakte Verbindung ist hier mit bloßem Auge sichtbar.
Die Bedeutungsvielfalt, die das Bild der Nixe innehat, und die ambivalenten Assoziationen, die es beim Leser hervorruft, haben es zu einem beliebten Symbol
der Literatur gemacht. Angefangen mit der Odyssee, über den Melusinenmythos
bis hin zur Loreley durchzieht es die Literatur bis heute (z.B. Undine geht von
Ingeborg Bachmann). Besonders häufig wurde das Bild der Nixe in der Romantik
verwendet. Denn die Romantik wollte
„eine Gegenwelt zur Vernunft gestalten (...), für die Bewusstsein und Reflexion,
aber auch die Abgründe des Seelischen, Traum, Sehnsucht, Unbewusstes, Dämonisches und Heiliges als entscheidend galten.“17
Die Nixe ist Teil dieser Gegenwelt, sie ist Traum und Sehnsucht, aber auch Abgrund und Dämon. Sie verkörpert die Natur, mit der der Romantiker als religiös
geläuterter Mensch eine ursprüngliche Verbindung anstrebt.18 Gleichzeitig symbolisiert sie aber auch das Mythisch – Heidnische, das der Mensch in seinem
christlichen Glauben überwinden muss.19
Der Romantiker Joseph von Eichendorff, bei dem man von einer Obsession durch
das Wasserfrauen-Motiv sprechen kann20, verwendet das Bild der Nixe in seiner
ganzen Ambivalenz. Im Folgenden soll an vier Gedichten ein kleiner Einblick in
Eichendorffs unterschiedliche Darstellung von Wasserfrauen gegeben werden.
16
Stuby, Anna Maria, Liebe, Tod und Wasserfrau, S. 51.
Frenzel, Herbert A. und Elisabeth, Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte, Band 1: Von den Anfängen bis zum Jungen Deutschland, München 1998, S. 296.
18
Vgl. Lentwojt, Peter, Die Loreley in ihrer Landschaft. Romantische Dichtungsallegorie und Klischee. Ein
literarisches Sujet bei Brentano, Eichendorff, Heine und anderen, Frankfurt am Main 1998, S.248.
19
Vgl. Frenzel, Daten deutscher Dichtung, S.296
20
Vgl. Stephan, Inge, Weiblichkeit, Wasser und Tod. Undinen, Melusinen und Wasserfrauen bei Eichendorff
und Fouqué, in: Hartmut Böhme (Hrsg.), Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt am Main 1998, S.239.
17
7
4. Der stille Grund21
Joseph von Eichendorff schrieb das Gedicht „Der stille Grund“ im Jahre 1837. Es
ist eines seiner späteren Nixen-Gedichte, bietet aber einen guten Einstieg in die
Vielschichtigkeit, die bei Eichendorff mit der Wasserfrauensymbolik einhergeht.
Die Gegenüberstellung von heidnischer Natur und christlicher Kultur wird hier
besonders deutlich.
In der ersten und zweiten Strophe malt Eichendorff das Bild einer verwunschenen Landschaft: „Mondenschein“ (V.1), einsame „Bächlein“ (V.3) und ein dunkler
Tannenwald, der einen „tiefen See“ (V.8) umschließt, entsprechen genau dem,
was wir uns unter einer romantischen Landschaft vorstellen. Die unberührte Natur ist so idyllisch, dass sie schon fast wieder unwirklich erscheint. Für Eichendorff ist die Natur lebendig, ist Subjekt, wie er mit den Personifikationen „Der
Mondenschein verwirret die Täler“, „die Bächlein (...) gehen durch die Einsamkeit“ und die „Tannen sehen in einen tiefen See“ zum Ausdruck bringt. Mit der
Personifizierung geht eine Aufwertung der Natur einher. Sie ist nicht mehr das
Objekt, über das man ohne Weiteres verfügen kann, sondern verfügt über eigene
Sinne (z.B. „sehen“, Vers 7).
In der zweiten Strophe wird das zweite Subjekt eingeführt, das lyrische Ich. Damit einhergehend findet ein Wechsel vom Präsens (1.Strophe) zum Präteritum
(2.Strophe) statt: Von der Beschreibung einer verwunschenen Landschaft wird
auf die Beschreibung eines Erlebnisses des lyrischen Ichs übergegangen. Das
lyrische Ich befindet sich in der idyllischen Landschaft und sieht die Überreste
eines Schiffes aus dem See ragen (Strophe 3). Den dazugehörigen Schiffer sieht
es nicht. Das lyrische Ich ist folglich nicht der erste Mensch, der sich in dieser
unberührten Landschaft aufhält – vor ihm muss zumindest schon der Schiffer
dort gewesen sein. Dessen Schicksal ist ungewiss, man kann aber vermuten,
dass er tot ist. Das versenkte Schiff und die damit verbundene Gegenwärtigkeit
des Todes sind eine Warnung für das lyrische Ich. Die Traumlandschaft ist doch
nicht so harmlos, wie sie zu sein scheint.
In der vierten Strophe taucht das dritte Subjekt auf: Eine Nixe. Sie bemerkt die
Anwesenheit des lyrischen Ichs nicht und flicht selbstversunken ihr Haar. Dabei
singt sie „so wunderbar“ (Vers 16), dass es aus der Natur widerhallt: „In den
Bäumen und Quellen rauscht’ es sacht“ (Verse 17f). Von der Nixe geht eine gro-
21
Eichendorff, Joseph von, Sämtliche Werke, Der stille Grund, S. 361
8
ße Verführungskraft aus, der der Schiffer des versunkenen Kahnes wahrscheinlich erlegen ist – auch wenn hier keine direkte Verbindung hergestellt wird22. Eichendorff beschreibt das Aussehen der Nixe nicht, die wenigen Schlüsselbegriffe, die er benutzt, reichen aber schon vollkommen aus, um in uns ein bestimmtes Bild hervorzurufen. Wie die schöne Loreley sitzt auch diese Nixe auf
einem Felsen und betreibt Schönheitspflege. Ihr Haar ist golden (V.14) und damit außergewöhnlich schön – genauso wie ihr Gesang. Es ist überflüssig, den
Körper der Nixe zu beschreiben: Die Symbiose von idyllischer Natur und wunderschönem Gesang drücken ihre Schönheit aus. Die Nixe ist sich selber genug: Sie
ist vollkommen in das Flechten ihrer Haare und in ihren Gesang vertieft, so dass
sie das lyrische Ich, das ihr fasziniert zusieht, nicht wahrnimmt. Was würde passieren, wenn sie den Beobachter bemerkte? Würde ihm das gleiche Schicksal
drohen wie dem Schiffer? Wäre der Tod die Strafe für seinen Tabubruch, die Störung der naturhaften Idylle? Leider bekommen wir von Eichendorff keine direkte
Antwort auf diese Fragen: Das lyrische Ich wird aus dem tranceartigen Zustand
des Schauens durch das Läuten der Morgenglocken herausgerissen ( Strophe 6,
Vers 3). Dieses Herausreißen ist mit einem Gefühl des Erschreckens verbunden.
Warum erschrickt das lyrische Ich hier? Hat es mit der Störung der Idylle Schuld
auf sich geladen hat? Hat es sich von heidnisch-mythischen Kräften bezaubern
lassen? Oder sind die Morgenglocken vielleicht das einzig Reale in diesem Gedicht, und der Rest ist nur ein Traum, aus dem das lyrische Ich hochgeschreckt
wird?
In der letzten Strophe kommt das lyrische Ich zu der Erkenntnis, dass es, ohne
die aufschreckende Wirkung der Glocken, nie wieder aus dem stillen Grund gekommen wäre (Verse 27f) – es wäre verloren gewesen.
Das Verlorensein oder besser der Verlust spielen in Eichendorffs Nixen-Gedichten
eine sehr große Rolle. „Untergehen und Verirren“ sind bei ihm „Synonyme eines
verfehlten Lebensweges“.23 Der Anblick der Nixe verzaubert das lyrische Ich so
sehr, dass es die Kontrolle über sich selbst verliert. Aus eigener Kraft kann es
seinen Blick nicht abwenden, wird sich aber erst in dem Moment darüber bewusst, als der Klang der Morgenglocken zu ihm dringt. Auch die warnende Funktion des Kahnes kann die offensichtliche Sehnsucht des lyrischen Ichs nach Verschmelzung mit der Natur nicht verhindern. Die Gegenwärtigkeit des Todes wird
nicht als bedrohlich empfunden: Die Schönheit der Natur, insbesondere der Nixe,
22
23
Vgl. Stephan, Inge, Weiblichkeit, Wasser und Tod, S. 236.
Lentwojt, Peter, Die Loreley in ihrer Landschaft, S. 240.
9
überlagert alles. Erst durch einen äußeren Einfluss wird dem lyrischen Ich bewusst, dass diese Welt nicht seine Welt ist und dass sein Streben nach Rückkehr
zur Natur mit der realen, ihn umgebenden Welt nicht zu vereinbaren ist. Das lyrische Ich hört im Klang der Glocken die Stimme der (christlichen) Zivilisation, der
ihn umgebenden Kultur. In diesem Moment wird ihm die Natur-Kultur-Hierarchie
wieder bewusst. Die Natur und das heidnisch-mythische Denken, das sich im Bild
der Nixe spiegelt, müssen zugunsten der Kultur überwunden werden. Ein klarer
christlicher und gesellschaftlicher Kodex bestimmen das Leben und Handeln des
zivilisierten Menschen. Die Rückkehr zur Natur ist nicht erstrebenswert.
Und doch ist da diese Sehnsucht nach Verschmelzung mit der Natur, die mit der
Verschmelzung mit einer Frau/ Nixe einhergeht. Die Verführung durch, bzw. der
Geschlechtsakt mit der Nixe würde für das lyrische Ich ein Auflösen in der Natur,
ein „Selbst-Zur-Natur-Werden“ bedeuten. Ein Zustand, in dem man „selbst namenlos wird und grenzenlos“, in dem man „ichlos treiben kann, wie „Schottermassen“, Gott selber, aufgelöst ins Prinzip des genießenden Mannes“.24
Eichendorff lässt es bei den meisten seiner männlichen Helden jedoch nicht zu
dieser Erfahrung kommen: Zwar setzt er sie einer Versuchung aus, die sie vom
„rechten Weg“ abbringen soll25, sie besinnen sich aber meist schnell wieder auf
die christlich-zivilisatorische Ordnung.
Selbstverlust und die Auflösung der Grenzen des Ichs bzw. der Grenzen zwischen
Traum und Wirklichkeit oder Lust und Pflicht stellen für Eichendorff eine essentielle Gefahr dar: Der Mensch/ Mann befindet sich bei ihm in einem „steten
Kampf zwischen miteinander ringenden heidnischen und christlichen Mächten“26,
wobei das Weibliche das Heidnische symbolisiert.
Die Frau ist ständige Versuchung und steht zwischen dem Mann und Gott: Die
Liebe zu ihr ist untrennbar mit der Liebe zum Weltlichen verbunden27. Dennoch
lässt es Eichendorff nie zu einem „Showdown“ kommen. Das Mythisch-Heidnische
wird in keinem der behandelten Gedichte gänzlich ausgerottet: Die nixenhafte
Frau taucht immer wieder auf.
„Scheinbar trägt den Sieg zwar immer die christliche Seite davon. Der Reiz, der vom
Aufeinandertreffen der einander widersprechenden Prinzipien ausgeht, ist aber so
groß, dass ihn Eichendorff wieder und wieder thematisiert.“28
24
Theweleit, Klaus, Männerphantasien, S.293.
Vgl. Lentwojt, Peter, Die Loreley in ihrer Landschaft, S.236f.
26
Ebd., S.233.
27
Vgl. Ebd., S.237.
28
Ebd. S. 248.
25
10
5. Waldgespräch29
Das 1812 verfasste Gedicht „Waldgespräch“ stellt in diesem Zusammenhang eine
Ausnahme dar. Wo es dem lyrischen Ich in „Der stille Grund“ mit Hilfe der Morgenglocken gelingt, der Versuchung der Nixe zu widerstehen, ist dem „Helden“
hier ein anderes Schicksal beschieden.
Wie schon im Titel angedeutet, handelt es sich bei diesem Gedicht um ein Gespräch zwischen einem Mann und einer fremden, schönen Frau, die zu später
Stunde im Wald aufeinander treffen. In der ersten Strophe wundert sich der
Mann, dass die schöne Frau zu dieser Zeit alleine durch den Wald reitet. Mit den
Worten „Du schöne Braut! Ich führ dich heim!“ (Vers 4) bietet er ihr an, sie nach
Hause zu begleiten. Die Frau lehnt dies ab. Sie klagt die Männer ob ihrer „Trug
und List“ (Vers 5) an, ihr Herz ist „vor Schmerz“ (Vers 6) gebrochen. Dann fordert sie den Mann vehement auf, seiner Wege zu ziehen: „O flieh! Du weißt
nicht, wer ich bin.“ (Vers 8).
Der Mann folgt dieser Warnung nicht. Er ist beeindruckt von der Schönheit und
dem Reichtum der jungen Frau. Als er endlich bemerkt, mit wem er es zu tun
hat, ist es schon zu spät: „Jetzt kenn ich dich – Gott steh mir bei! Du bist die Hexe Lorelei.“ (Vers 11f). Die Frau bestätigt diese Vermutung und eröffnet ihm,
dass er „nimmermehr aus diesem Wald“ (Vers 16) komme.
Hier gibt Eichendorff seinen Helden dem Untergang preis, und auch die Nixe
nimmt eine andere Rolle ein als in dem Gedicht „Der stille Grund“. Wieso schafft
es die männliche Figur dieses Mal nicht, auf den „rechten Weg“ zurückzukehren?
Einen interessanten Erklärungsansatz hierzu liefert Alexander von Bormann. Aus
seinen Ausführungen ist zu schließen, dass Eichendorffs Held schon lange vorher
vom „rechten Weg“ abgekommen ist. Er will von der schönen Loreley gegen ihren Willen Besitz ergreifen. Er erwartet kein Einverständnis von ihr, sondern setzt
einfach fest, was er mit ihr zu tun gedenkt: „Du schöne Braut! Ich führ dich
heim!“(Vers 4).
Als sich die schöne Frau weigert, erfolgt die Dämonisierung von Seiten des Mannes, weil sie sich nicht fügt – „dem Mann ist ein Widerstand von einer Nicht-Hexe
29
Eichendorff, Joseph von, Sämtliche Werke, Waldgespräch, S. 366.
11
unvorstellbar“30. Als Hexe bezichtigt, kann die Frau nicht anders: Sie nimmt die
Dämonisierung als Dimension ihres Wesens an und gibt den Bann zurück“31.
Auch Peter Lentwojt betont die Zwanghaftigkeit des Handelns, der sich die Loreley nicht entziehen kann:
„Auch wenn es ihr möglicherweise leid tut – sie warnt ihr männliches Gegenüber
ja noch vor ihrem verderblichen Einfluß und rät ihm, zu fliehen - , kann sie doch
nicht gegen ihre Natur handeln und muß zwanghaft ihre Rolle zu Ende spielen.“32
(Hervorhebung von mir, B.B.)
Wieder stoßen wir auf die „Natur“ der Frau: Nach bestimmten Gesetzen funktionierend, kann sie eine einmal in Gang gebrachte Handlung nicht mit Hilfe ihrer
Vernunft stoppen. Sie handelt unter Zwang und kann sich nicht bewusst für oder
gegen etwas entscheiden.
Indem Eichendorff die Frau/ Nixe zwanghaft – ihrer Natur folgend – handeln
lässt, entbindet er sie jeder Verantwortung. Sie ist nicht „Herr“ über ihre Natur.
Ausschließlich der Mann ist die frei und selbständig agierende Figur, der es obliegt, sich für den falschen oder richtigen Weg zu entscheiden: Entweder er erliegt der Versuchung und ist verloren oder er wendet sich rechtzeitig von der
Natur ab und besinnt sich auf die christlich-zivilisatorische Ordnung. Die eigentliche Frage ist hier also, ob der Mann seinem Wunsch nach einem Zurückkehren
zu „seiner Natur“ nachgeben darf bzw. ob er seine sogenannte „weibliche Seite“
zulassen darf oder nicht.
Eichendorff beantwortet diese Frage negativ. Der Verlust der Kultur bedeutet bei
ihm den Tod. Die Sehnsucht nach einem „Sich-Treiben-Lassen“ – auch ein Begriff
aus der Wassermetaphorik – widerspricht dem männlichen Prinzip der Selbstkontrolle, dem Zwang des Angepasstseins an Zivilisation und Kultur.
Nicht umsonst legt Eichendorff den Ort, an dem die Versuchung stattfindet, in
den Wald, der die Gegenwelt zur zivilisationsgeprägten Stadt repräsentiert33. Im
Wald werden dem Menschen
„neue Zugänge eröffnet (...), auch die Möglichkeit zur Loslösung von der Gesellschaft.
Der Wald ist aber andererseits auch der Ort, wo das Mythische seinen Ursprung hat,
30
Bormann, Alexander von, „ >Das zertrümmerte Alte<. Zu Eichendorffs Lorelei-Romanze Waldgespräch“, in:
Gedichte und Interpretationen 3: Klassik und Romantik, Wulf Segebrecht (Hrsg.) Stuttgart 1987, S.316.
31
Ebd., S.311.
32
Lentwojt, Peter, Die Loreley in ihrer Landschaft, S. 240.
33
Vgl. Bernsmeier, Helmut, Literaturwissen, S. 128.
12
wo die verführerischen heidnischen Gottheiten wohnen, die den falschen Weg weisen.“34
Aus diesem Grund lässt Eichendorff die sonst am Rhein heimische Loreley im
Wald auftreten. Das aus Brentanos Ballade „Lureley“ entliehene Bild von der
fluchbelegten, liebeskranken Frau, bei deren Anblick die Männer sterben müssen,
und die aufgeführte Bedeutung des Waldes ergeben zusammen eine gefahrvolle
Mischung, die Eichendorffs Helden das Leben kostet.
6. Der Schiffer35
Anders als andere Poeten oder Autoren legt sich Eichendorff nicht auf einen Wasserfrauentypus fest, wie man anhand der bereits behandelten Gedichte erkennen
kann. Dennoch lässt sich meiner Meinung nach eine bestimmte Entwicklung in
seinem Werk feststellen: Mit fortschreitendem Alter und dem Übergang in die
spätromantische Phase tritt der Sehnsuchtsgedanke immer mehr zurück und
weicht einem gefestigten, christlichen Standpunkt. Nachzuvollziehen ist dies an
zwei Gedichten, die beide den Titel „Der Schiffer“ tragen und um 1808 bzw. im
Jahr 1836 geschrieben wurden.
Bei dem früheren Gedicht handelt es sich um eine Liebeserklärung an eine Nixe.
Das lyrische Ich, bei dem es sich dem Titel nach um den Schiffer handeln muss,
beschreibt in den ersten beiden Strophen die Schönheit einer Frau. Indem er
Begriffe aus dem Bereich des Wassers verwendet, wird deutlich, dass diese Frau
eine Nixe sein muss. Er setzt sie mit dem Meer gleich („Ein Meer bist du“, Vers 2)
und vergleicht ihren Mund mit dem Rot der Korallen. Die schöne Nixe weckt in
dem Fischer verschiedene Gefühle. Voll Vertrauen setzt er die Segel, um sich
seine „Wünsche“ (Vers 4) zu erfüllen. Die Magie, die von der Nixe ausgeht („wo
Blicke zaubrisch laden“, Vers 2), jagt ihm keine Angst ein, sondern erfüllt ihn
„mit süßem Schauer“ (Vers 8). Auch die wohlbekannten Warnungen vor der Verführungskraft der Sirenen, die die Schiffer in den Tod locken, lassen seine Sehnsucht nicht verstummen. Er „muß dem Zauber ewge Treue schwören“ (Vers 12)
und geht sogar soweit, den Tod bereitwillig in Kauf zu nehmen, wenn er ihn auf
diese Weile ereilt: „Denn schönres Leben blüht aus solchem Tode“ (Vers 14).
34
35
Ebd. S. 128 f.
Eichendorff, Joseph von, Sämtliche Werke, Der Schiffer, S. 310.
13
Dieses Nixenbild steht also in extremen Gegensatz zu den bereits bekannten Bildern. Hier überwiegt der Sehnsuchtsgedanke. Für die Vereinigung mit der Nixe/
Natur wird sogar der Tod in Kauf genommen. Die Natur ist so reizvoll, dass noch
nicht einmal der Gedanke an Kultur bzw. Zivilisation in dieses Gedicht einfließt.
Indem sich der junge Schiffer auf das Meer begibt, kehrt er dem Land und der
Kultur den Rücken zu. Vielleicht hat er sich, wie der junge Eichendorff, noch nicht
in den Netzen gesellschaftlicher Zwänge verfangen. In jugendlichem Leichtsinn
ist er bereit, die strikten Grenzen zu überschreiten. Die Sehnsucht nach Hingabe
an eine Frau wird von ihm noch nicht mit dem Verlust an Männlichkeit gleichgesetzt. Er handelt nach der Philosophie des „Carpe diem“ und hat sich noch nicht
mit der christlichen Heilsvorstellung beschäftigt. Das Gedicht ist durchzogen von
Sehnsucht und Leidenschaft, für die das Morgen uninteressant ist.
Eichendorff hat dieses Gedicht nicht so stehen lassen. Das in der Jugend leichtfertig geschriebene wird durch ein gemäßigtes, wegweisendes Gedicht ergänzt.
Im später verfassten Gedicht wird der Schiffer durch einen Sturm aus seinem
Traum, in dem „Sirenen tauchend lächeln“ (Vers 3), herausgerissen. Er erinnert
sich an frühere Tage, in denen er „stolz und klug“ (Vers 10) war und keiner Hilfe
bedurfte, weil er sich selber genug war (vgl. Vers 12). Seine Erfahrungen zeigen
ihm jedoch, dass Glück vergänglich ist ( „Du hast das Glück zerschlagen“, Vers
13) und dass Schicksalsschläge ein jedes Leben bedrohen können („mächtge
Stürme“, Vers 17 und „es sinken Land und Türme“, Vers 19). In diesem Bewusstsein der Vergänglichkeit sucht der Schiffer einen Lebenssinn und findet ihn
im christlichen Glauben. Der jugendliche Leichtsinn und die Sehnsucht nach dem
vollkommenen Glück sind einer tiefen Ehrfurcht und Dankbarkeit gewichen. „Kein
Meerweib will sich zeigen, kein Laut mehr langt zu mir“ (Vers 21f) – der Schiffer
ist gegen jede Versuchung, die ihn vom rechten Weg abbringen will, immun. Im
Vertrauen auf den allmächtigen Gott (vgl. Vers 26) will er die Hindernisse, die
das Leben birgt („Riffe(...)“, Vers 25), überwinden, um schließlich an den „Heimatsstrand“ (Vers 28) zu gelangen.
Nur am Rande tauchen hier noch die Nixen auf. Sie sind nicht mehr an der Wasseroberfläche, sondern tief unter Wasser: Sie tauchen lächelnd (Vgl. Vers 3). Außerdem existieren sie nur noch im Traum des Schiffers, also in einem Bereich,
der schwer zu kontrollieren ist. Im bewussten Zustand hat der Schiffer die Sehnsucht nach einer Wasserfrau bzw. nach Hingabe längst überwunden. Für ihn gibt
es keine Verlockung mehr. Er ist in seinem christlichen Glauben so gefestigt,
14
dass er für äußerliche Reize nichts mehr übrig hat. Er legt sein Leben demütig in
die Hände Gottes – nur noch im Traum scheint eine leise Sehnsucht nach dem
„Anderen“ durch.
7. Schlusswort
Die Sehnsucht nach Entgrenzung und Hingabe - einhergehend mit der Angst vor
dem Verlust der Selbstkontrolle - durchzieht die Nixengedichte Eichendorffs. Immer wird der mythisch-heidnischen Natur, symbolisiert durch die Nixe, ein Kulturträger gegenübergestellt. Nicht immer gelingt es diesem Kulturträger, auf
dem rechten, christlichen Weg zu bleiben. Die Nixe ist Versuchung – ihr verfällt
der männliche Held in „Waldgespräch“ genauso wie der junge „Schiffer“. Das lyrische Ich in „Der stille Grund“ erlangt nur mit äußerer Hilfe die Kontrolle über sich
selbst zurück, wohingegen der christliche Glaube des älteren „Schiffers“ so fest
verankert ist, dass ihn nichts in Versuchung führen kann.
Die Nixe ist entweder passiv - wie in „Der stille Grund“ - oder aktiv - wie in dem
Gedicht „Waldgespräch“. Sie handelt zwanghaft, ihrer Natur folgend – die Männer
erliegen ihr jedoch nur dann, wenn sie ihren Wirkungsort betreten und sich auf
ihren Zauber einlassen. Der Wunsch nach Entgrenzung kommt also immer vor
der Versuchung.
Dass Eichendorff diese Sehnsucht immer wieder thematisiert, zeigt, dass er sich
von ihr nie ganz freimachen kann. Er zieht keine definitiven Grenzen zwischen
„Gut und Böse“ oder Männlichkeit/ Kultur und Weiblichkeit/ Natur, denn sonst
wäre eine endgültige Entscheidung für eines der beiden Prinzipe unumgänglich.
Joseph von Eichendorffs Gedichte spiegeln die Gesellschaftsordnung und das Rollenverständnis seiner Zeit wieder. Er kann sich vom christlichen und gesellschaftlichen Kodex nicht freimachen, sonst wäre es vielleicht zu einer anderen Behandlung des Wasserfrauenmythos gekommen.
Mit der Aufweichung des traditionellen Rollenverständnisses erhielt nämlich eine
andere Sichtweise auf die Nixe Einzug in die Literatur: Bei Ingeborg Bachmanns
„Undine geht“ (1961) emanzipiert sich die Nixe und klagt ihre Unterdrücker an.
Judith Hermann geht mit „Rote Korallen“ sogar noch einen Schritt weiter: Sie
kehrt die Rollenzuweisung gänzlich um und zieht eine Verbindung zwischen Wasser und Männlichkeit.
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8. Gedichte:
Der stille Grund
(1837)
Der Mondenschein verwirret
Die Täler weit und breit,
Die Bächlein, wie verirret,
Gehn durch die Einsamkeit.
Da drüben sah ich stehen
Den Wald auf steiler Höh,
Die finstern Tannen sehen
In einen tiefen See.
Ein’ Kahn wohl sah ich ragen,
Doch niemand, der es lenkt,
Das Ruder war zerschlagen,
Das Schifflein halb versenkt.
Eine Nixe auf dem Steine
Flocht dort ihr goldnes Haar,
Sie meint’, sie wär alleine,
Und sang so wunderbar.
Sie sang und sang, in den Bäumen
Und Quellen rauscht’ es sacht,
Und flüsterte wie in Träumen
Die mondbeglänzte Nacht.
Ich aber stand erschrocken,
Denn über Wald und Kluft
Klangen die Morgenglocken
Schon ferne durch die Luft.
Und hätt ich nicht vernommen
Den Klang zu guter Stund,
Wär nimmermehr gekommen
Aus diesem stillen Grund.
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Waldgespräch
(1812)
Es ist schon spät, es wird schon kalt,
Was reitst du einsam durch den Wald?
Der Wald ist lang, du bist allein,
Du schöne Braut! Ich führ dich heim!
„Groß ist der Männer Trug und List,
Vor Schmerz mein Herz gebrochen ist,
Wohl irrt das Waldhorn her und hin,
O flieh! Du weißt nicht, wer ich bin.“
So reich geschmückt ist Roß und Weib,
So wunderschön der junge Leib,
Jetzt kenn ich dich – Gott steh mir bei!
Du bist die Hexe Lorelei.
„Du kennst mich wohl – von hohem Stein
Schaut still mein Schloß tief in den Rhein.
Es ist schon spät, es wird schon kalt,
Kommst nimmermehr aus diesem Wald!“
Der Schiffer
(um 1808)
Du schönste Wunderblume süßer Frauen!
Ein Meer bist du, wo Flut und Himmel laden,
Fröhlich zu binden von des Grüns Gestaden
Der Wünsche blühnde Segel voll Vertrauen.
So schiffend nun auf stillerblühten Auen,
In Lockennacht, wo Blicke zaubrisch laden,
Des Munds Koralln in weißem Glanze baden,
Wen füllt’ mit süßem Schauer nicht solch Schauen!
Viel hab ich von Sirenen sagen hören,
Stimmen, die aus dem Abgrund lockend schallen
Und Schiff und Schiffer ziehn zum kühlen Tode.
Ich muss dem Zauber ewge Treue schwören,
Und Ruder, Segel laß ich gerne fallen,
Denn schönres Leben blüht aus solchem Tode.
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Der Schiffer
(1836)
Die Lüfte linde fächeln,
Aus stillen Meeres Schaum
Sirenen tauchend lächeln,
Der Schiffer liegt im Traum.
Da faßt der Sturm die Wellen,
Durchwühlt die Einsamkeit:
Wacht auf, ihr Traumgesellen,
Nun ists nicht Schlafenszeit! –
In jenen stillen Tagen
Wie war ich stolz und klug,
In sichern Glücks Behagen
Mir selber gut genug.
Du hast das Glück zerschlagen;
Nimm wieder, was Du gabst,
Ich schweig und will nicht klagen,
Jetzt weiß ich, wie du labst.
Da sind die mächtgen Stürme,
Die wecken, was da ruht,
Es sinken Land und Türme
Allmählich in die Flut.
Kein Meerweib will sich zeigen,
Kein Laut mehr langt zu mir,
Und in dem weiten Schweigen
Steh ich allein mit Dir.
O führe an den Riffen
Allmächtig Deine Hand,
Wohin wir alle schiffen,
Uns zu dem Heimatsstrand!
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Literaturverzeichnis
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