Ein Ritt auf der Rasierklinge

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Ein Ritt auf der Rasierklinge
(Bild: Bernd Seydel)
Entwicklung + Test llll Motorsteuerung
Ein Ritt auf der Rasierklinge
Optimale Parametrierung eines Motorsteuergerätes
für Rennsportanwendungen
Bei der Abstimmung von Motorsteuergeräten für Serienfahrzeuge arbeiten
Elektronikentwickler gewöhnlich mit Prüfständen und zahlreichen Test­fahr­
ten mit verschiedenen Streckenprofilen. Bei Spezial-Motorsteuergeräten für
Dragster-Rennen stehen diese Hilfsmittel nicht zur Verfügung. Mit Hilfe des
Vector-Mess- und Kalibrierwerkzeugs CANape wird ein Motorsteuergerät
mit knappem Budget, ohne Prüfstand, unter ständiger Gefahr der
Zerstörung des Motors und innerhalb weniger Testläufe auf
Höchstleistungen getrimmt.
Von Andreas Patzer
W
er an einem Wochenende
Mittelklassefahrzeuge mit
Serienmotoren und vielen
hundert PS unter ohrenbetäubendem
Lärm und mit unglaublichen Beschleunigungen Distanzen von einer viertel
Meile (402,34 m) fahren sieht, ist mit
großer Wahrscheinlichkeit Zuschauer
eines Dragster-Rennens (Bild 1). Da
bei solchen Beschleunigungsrennen
kurzfristig höchste Motorleistungen
gefragt sind, konzentriert sich ein gro-
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ßer Teil des Entwicklungsaufwands auf
die Abstimmung der Motorsteuerung.
Die Kunst für die Renn-Teams besteht
unter anderem darin, mit minimalem
Budget optimale Ergebnisse zu erzielen. Man muss sich der Belastungsgrenze des Motors soweit nähern, dass
er maximale Leistung liefert, ohne
ihn zu zerstören. Nicht nur die Fahrt
selbst, sondern bereits die Abstimmung
gleicht daher einem „Ritt auf der Rasier­klinge“.
ˆ ˆHöchstleistung durch
optimal abgestimmtes
Motorsteuergerät
Ein Fahrzeug für Dragster-Rennen
aufzubauen und zu unterhalten, erfordert neben dem zeitlichen und wirtschaftlichen Aufwand ein großes Maß
an Leidenschaft und Begeisterung.
Dreh- und Angelpunkt dieser Rennsport-Unternehmung ist der Motor, der
als Serienprodukt gekauft und durch
mechanische Umbauten für die Anforderungen des Rennens präpariert wird.
Neben diesem Umbau ist vor allem das
Abstimmen der Motorsteuerung eine
der größten technischen Problemstellungen. Da die Bedatung des Seriensteuergeräts in keiner Weise mehr mit
dem modifizierten Motor harmoniert,
sind hier etliche Herausforderungen zu
meistern.
In der Serienentwicklung ist das
Messen und Kalibrieren von Steuergeräten für den Fahrzeughersteller oder
-zulieferer eine anspruchsvolle, aber
tägliche Routine-Arbeit. Während die
Applikationsingenieure mit dem Motor
auf dem Prüfstand und im Fahrzeug
die verschiedenen Streckenprofile
abfahren, greifen sie über eine A2LBeschreibungsdatei auf die internen
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Motorsteuerung llll Parameter und Messgrößen des Steuergerätes zu und legen die optimalen Parameter fest. Die Komplexität dieser
Aufgabe erhöht sich durch eine Reihe
von Randbedingungen nochmals deutlich: Einerseits sind zahlreiche Motorund Fahrzeugvarianten zu berücksichtigen und unterschiedliche Abgasnormen
einzuhalten, andererseits muss man
gleichzeitig dem Steuergerät das jeweils herstellertypische Fahrverhalten
aufprägen. Alle Optimierungen stehen
zudem unter der Prämisse, bestimmte Verbrauchsgrenzwerte einzuhalten.
Erleichternd auf die Abstimmung des
Motors wirkt sich der Umstand aus,
dass die Applikationsingenieure und
Software-Entwickler gemeinsam den
kompletten Software-Prozess beherrschen. Dieser reicht von der CodeErstellung und -Entwicklung über den
Compiler/Linker-Lauf bis zur A2LGenerierung und dem Flash-Vorgang.
ˆ ˆMit wenigen Messfahrten
zum optimalen Ergebnis
Das Abstimmen von Motoren für
Dragster-Rennen unterscheidet sich
davon grundlegend. Weder die Einhaltung von Verbrauchswerten noch die
Unterstützung verschiedener Motoroder Fahrzeugvarianten spielen eine
Rolle, sondern alle Anstrengungen
müssen sich dem einen Ziel unterordnen, die rund 400 Meter Distanz möglichst schnell hinter sich zu bringen.
Des Weiteren sind die Renn-Teams
keine finanzstarken Unternehmen,
sondern Privatpersonen, die sich ein
teures Hobby leisten. Sollte aufgrund
einer Fehlbedatung der Motor zerstört
Entwicklung + Test
werden, muss für viel Geld ein neuer
beschafft werden.
Es stehen auch keine Prüfstände für
Motorentestläufe zur Verfügung. Zum
einen gibt es mangels Nachfrage für
diese Nischenanwendung praktisch
keine geeigneten Prüfstände, zum anderen ist es nicht möglich, die Motoren
bei ihren Maximaldrehzahlen von bis
zu 10 000 Umdrehungen pro Minute
und bei Ladedrücken bis zu 3,5 bar
in einem quasi statischen Betrieb zu
optimieren. Die Belastungen sind so
groß, dass die Motoren die Drehzahlen
nur kurze Zeit, d.h. etwa zwei bis drei
Sekunden pro Gang, aushalten würden,
bevor sie aufgrund der thermischen
Belastung zerstört würden.
Der einzig gangbare Weg für die
Renn-Teams besteht darin, während
der Fahrt möglichst viele Messgrößen
zu sammeln und anhand dieser Informationen die Parameter zu optimieren. Aber auch dabei bestehen etliche
Einschränkungen. Einerseits sind die
Motoren nur für wenige Fahrten verwendbar, bevor ein Austausch notwendig ist, andererseits dauern die Fahrten
meistens weniger als zehn Sekunden.
Für den Optimierungsprozess wird
daher eine außergewöhnlich rationelle
Vorgehensweise zum entscheidenden
Faktor über Erfolg oder Misserfolg.
ˆ ˆSpezielle Motorsteuerung
ersetzt Seriensteuergerät
Eine hocheffiziente Motorsteuerung im
Bereich der Dragster-Rennen kommt
aus dem in Berlin ansässigen Unternehmen maf-map-engineering. Das aus
Leidenschaft zum Motorsport gegründete Unternehmen
stellt eine komplette
Lösung zur Verfügung, um aus den
Motoren die maximale Leistung herauszuholen. Seine
Leistungsfähigkeit
stellt das Konzept
zum Beispiel bei
einem VW Polo unter Beweis, der über
eine Leistung von
1047 PS verfügt.
ll Bild 1. Für die optimale Abstimmung des Motorsteuergeräts werAls Grundlage dient
den die Kennwerte während des Testlaufs in Echtzeit auf Basis der
das Motorsteuergeanfallenden Messergebnisse verstellt. (Bild: maf-map-engineering)
rät ECU481, dessen
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Entwicklung + Test llll Motorsteuerung
Hard- und Software das Unternehmen
komplett selbst entwickelt hat, um alle
Komponenten bestmöglich zu kontrollieren. Die Software entsteht auf der
Basis physikalischer Modelle, wobei
man die Modellierungsumgebung
Scilab mit entsprechendem CodeGenerator für die Funktionsschicht
einsetzt. Die Basis-Software entsteht
handcodiert in C.
Da kein Prüfstandbetrieb und nur
wenige kurze Messfahrten möglich
sind, liegt ein Hauptaugenmerk in der
sicheren Erfassung aller relevanten
Größen aus dem Steuergerät über eine
kostengünstige Schnittstelle. Die Wahl
fiel daher auf das standardisierte Messund Kalibrierprotokoll XCP on Ethernet. Außerdem entschied man sich auf
der Suche nach einem entsprechenden
Werkzeug schon sehr früh für das
Mess- und Kalibrierwerkzeug CANape
der Vector Informatik.
ˆ ˆAutomatisierte EchtzeitParameteroptimierung
Die wichtigen Kennwerte des Steuergeräts verstellen die Berliner Spezialisten beziehungsweise die jeweiligen
Renn-Teams während des Testlaufs
in Echtzeit auf Basis der anfallenden
Messergebnisse. Denn aufgrund der
extrem kurzen Fahrzeiten ist es dem
Fahrer während einer Messfahrt nicht
möglich, alle bei der Fahrt anfallenden Daten mental zu erfassen, daraus
sinnvolle Entscheidungen abzuleiten
Matlab/Simulink
Real-Time Workshop
optimierte Parameter
CANape Target
QuellCode
Modell
A2L
MAP
CANape
I/O
Compiler
Linker
Modell
DLL
XCP
ll Bild 2. Neben der Entwicklung eines Regel­
algorithmus, der mit konkreten Daten aus
Steuergeräten, Bus- und Analogdaten etc.
versorgt wird, deckt CANape noch andere
Anwendungen ab, wie z.B. Online-Berechnungen während einer Messung.
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ll Bild 3. CANape visualisiert die verschiedenen Parameter und bietet komfortable Verstellmöglichkeiten.
und auch noch die richtigen Werte an
das Steuergerät zu schicken. So profitiert man hier in besonderer Weise
von CANape-Spezialfunktionen, die
eine Automatisierung dieses Vorgangs
erlauben: Aus Simulink-Modellen wird
über den Real-Time Workshop Code
generiert, der nach dem Compilieren
und Linken als DLL in CANape läuft.
Zur Laufzeit der Messfahrt erhält der
Algorithmus in der DLL die Messdaten aus dem Motorsteuergerät, ermittelt
daraus die optimalen Parameter und
verstellt über XCP-Mechanismen und
CANape selbstständig die Parameter
im Steuergerät (Bild 2).
Da der Aufwand zu hoch ist, für alle
Parameter eigene Applikationsmodelle
zu entwickeln, stellt man viele Parameter nach wie vor manuell ein. Eine
genaue Analyse der aufgezeichneten
Messdaten nach einer Fahrt mit CAN­
ape offenbart die kritischen Stellen
und erlaubt zügig entsprechende Korrekturen (Bild 3). Außerdem hilft das
Werkzeug, die Anzahl der notwendigen Testfahrten so gering wie möglich
zu halten. Aus den Ergebnissen leiten
sich die neuen Parameterwerte ab, die
die Entwickler entweder online im
RAM des Steuergeräts verstellen oder
als neue Werte im Modell vor einer
erneuten Code-Generierung berücksichtigen.
Dass das Konzept funktioniert und
aufgeht, zeigte sich beispielsweise auch
bei der Veranstaltung „King of Germany 2010“, bei der ein Fahrzeug mit der
Motorsteuerung der maf-map-engineering den ersten Platz in der Klasse der
frontangetriebenen Fahrzeuge erreichte. Der Erfolg der Gesamtlösung hat
inzwischen auch in anderen Branchen
für Aufmerksamkeit gesorgt. So gibt es
bereits Kontakte zu Wassersportlern,
die sich für ihre schnellen Rennboote
eine vergleichbare Lösung wünschen:
eine optimal auf den Einsatzbereich
zugeschnittene Motorsteuerung mit
effizienten Mess- und Kalibriermöglichkeiten. sj
Dipl.-Ing. Andreas Patzer
studierte an der Technischen Universität zu
Karlsruhe Elektrotechnik. Schwerpunkte
waren dabei Mess- und Regelungstechnik
sowie Informations- und Automatisierungstechnik. 2003 wechselte er zur Vector Informatik GmbH nach Stuttgart, wo er sich als
Business Development Manager in der Pro­
dukt­linie Measurement & Calibration um die
Schnittstelle zwischen Kunden, Entwicklung
und Vertrieb kümmert.
andreas.patzer@vector.com
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