1 Jeden zweiten Mittwoch im Monat präsentiert Lyrikmail in

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1 Jeden zweiten Mittwoch im Monat präsentiert Lyrikmail in
Mittelalterliche Texte in der Lyrikmail – (c) Dr. Martin Schuhmann, Frankfurt
m.schuhmann@lingua.uni-frankfurt.de
Jeden zweiten Mittwoch im Monat präsentiert Lyrikmail in Zusammenarbeit mit Dr. Martin
Schuhmann (Universität Frankfurt/Main) Texte aus dem Mittelalter in Original und Übersetzung.
Martin Schuhmann freut sich auf Ihr Feedback: m.schuhmann@lingua.uni-frankfurt.de;
http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb10/IDLD/ADL/mitglieder/schuhmann/Lyrikmail.html
-----------------------------Lyrikmail Nr. 2444, 14.05.2011
-----------------------------Lied 17 der „Carmina Burana“: „O Fortuna“ – „Ach, Glück“
(Übersetzung folgt nach dem Original)
[Original]
(I)
O Fortuna, velud luna
statu uariabilis,
semper crescis aut decrescis,
uita detestabilis!
nunc obdurat et tunc curat
ludo mentis aciem,
egestatem, potestatem
dissoluit ut glaciem.
(II)
Sora inmanis et inanis,
rota tu uolubilis,
status malus, uana salus,
semper dissolubilis.
obumbrata et uelata
michi quoque niteris;
nunc per ludum dorsum nudum
fero tui sceleris.
(III)
Sors salutis et uirtutis
michi nunc contraria;
est affectus et defectus
semper in angaria.
hac in hora sine mora
cordis pulsum tangite:
quod per sortem sternit fortem,
mecum omnes plangite!
[Übersetzung]
(I)
Ach, Glück! Wie der Mond
veränderst du dich,
immer wirst du mehr, immer schrumpfst du,
verabscheuungswürdig ist dein Wandel!
Erst hemmst du, und dann beflügelst du
den Kampf des Geistes, nach deinen Regeln.
Bittere Armut, höchste Macht,
schmelzen wie Eis.
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Mittelalterliche Texte in der Lyrikmail – (c) Dr. Martin Schuhmann, Frankfurt
m.schuhmann@lingua.uni-frankfurt.de
(II)
Schicksal, fürchterlich und nichtig,
du bist ein sich drehendes Rad,
ein böser Zustand, ein leeres Heil,
immer von Auflösung bedroht.
Dunkel und verschleiert
glänzt du auch mir.
Wegen deines scheußlichen Spiels
habe ich jetzt einen nackten Rücken.
(III)
Das Glück, einfach so oder durch meine Leistung,
kommt nicht mehr zu mir;
Gefühle und Schwächen
stehen stetig unter seiner Herrschaft.
Jetzt sofort, ohne Zögern,
schlagt die Saiten:
Durch Losziehen wird entschieden, welche Helden fallen –
das sei mein und aller Klagelied!
-------------------------------------------------Der Text des Originals entspricht dem Text in der Ausgabe der „Carmina Burana“ von Benedikt
Konrad Vollmann im Deutschen Klassiker Verlag, Frankfurt 1987 (erschienen als Taschenbuch 2011;
diese Ausgabe enthält eine Einführung, die Miniaturen der Handschrift, Übersetzungen der Lieder
und Kommentare). Das übersetzte Lied ist Carmen Buranum 17. Übersetzung: Martin Schuhmann.
------------------------------------------------------Unter den vielen Texten des Mittelalters, die uns heute Rätsel aufgeben, sind die 254 „Lieder von
[Benedikt]beuren“ (das ist die Übersetzung von „Carmina Burana“) eines der größeren Rätsel.
Aufgeschrieben vor 1250, sind die Lieder meist im Latein des Mittelalters verfasst (wie das Lied
oben), seltener finden sich in der Handschrift Strophen im mittelalterlichen Deutsch, Französisch
oder der Sprache der Provence. Das ist noch kein Rätsel, denn die Kulturen im mittelalterlichen
westlichen Europa sind immer mindestens zweisprachig: Latein als Sprache der Gelehrten und
Kirchenleute (was meistens das Gleiche ist), dazu Französisch als die Sprache der neuen weltlichen
Kultur, daneben die jeweilige Volkssprache... Rätsel gibt dagegen vor allem die
Textzusammenstellung auf: Am Anfang der Handschrift finden sich 55 moralisch-satirische
Dichtungen, dann folgen 131 Liebeslieder und 40 Trinklieder, dann zwei geistliche Dramen. Unter den
Liebes- und Trinkliedern finden sich ziemlich derbe Beispiele, und das in nicht geringer Zahl – wie das
zur Frömmigkeit manch anderer Texte in der Sammlung passt, wissen wir nicht. Wir wissen auch
nicht, wer das verfasst hat. Man kann nur sagen, dass die Texte immer eine erstaunliche
Gelehrsamkeit zeigen – auch unser Text oben, der auf mancherlei Weise auf den spätantiken
Philosophen Boethius Bezug nimmt.
Das Glück jedenfalls ist ein zerbrechliches und unzuverlässiges Ding – nicht nur im Mittelalter wird
das oft ausgedrückt. Es hat nur vorne am Kopf Haare, hinten fehlen sie oder sind kürzer, damit man
es nicht festhalten kann (dieses Bild findet sich in einem anderen Lied der Handschrift, CB 16);
vielleicht ist davon auch das Bild vom „nackten Rücken“ in der letzten Zeile der zweiten Strophe
unseres Liedes beeinflusst, das wohl allgemein Nacktheit und Armut ausdrücken soll). Besonders
fromm ist unser Lied eigentlich auch nicht, denn es enthält nicht das, was man in einem solchen Lied
erwarten könnte: Die Aufforderung, sich vom unsteten Lauf der Dinge abzukehren und sich Gott
anzuvertrauen; und es geht auch nicht von einer persönlichen Erfahrung aus, was die Hörer vielleicht
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eher zu einer Bekehrung hätte bringen können. Trotzdem haben die Verse durch ihre Rhythmik und
das relativ einfache, aber effektive eingesetzte Latein eine starke Wirkung. Das ist vielleicht auch der
Grund, warum Carl Orff dieses Lied als Eingangsstück seiner Vertonung der Carmina Burana benutzt
hat, wo es noch wuchtiger und dunkler in Szene gesetzt wird, als der Text im Original schon ist (ja,
das ist genau dieses Lied, das sie schon so oft gehört haben).
Auch wenn Glück und Unglück, Liebe und Leid, Wirtschaftsboom und Wirtschaftskrise mal
schleichend, mal mit Wucht kommen: Wir wünschen Ihnen einen schönen Restseptember.
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