Gestaltpsychologen und Tiefenpsychologen
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Gestaltpsychologen und Tiefenpsychologen
Giuseppe Galli Gestaltpsychologen und Tiefenpsychologen besuchen Ravenna, die Stadt des Mosaiks I. Die Gestaltpsychologen Wolfgang Metzger In den Werken von Metzger wird das Wort Mosaik als Gegenbegriff zur Gestalt benutzt. „Der Gegenbegriff zur Gestalt in diesem Sinne ist das Mosaik. Während bei diesem die einzelnen Steinchen sich in äußerlich bestimmter Anordnung befinden, aber gewissermaßen ‚nichts voneinander wissen‘, befinden sich die Teile und Stellen einer Gestalt in mehr oder weniger enger dynamischer Kommunikation und Interaktion: jede wirkt auf jede andere und empfängt zugleich selbst Einwirkungen von jeder anderen; und sofern dabei etwas Geordnetes zustande kommt, trägt und hält dabei jede Stelle jede andere und wird zugleich von der Gesamtheit der anderen getragen und gehalten“ (Metzger 1954, 131). Fig. 1 Wolfgang Metzger 1963 in Ravenna bei Sant' Apollinare in Classe, mit Anna Arfelli Galli und Giuseppe Galli. GESTALT THEORY © 2012 (ISSN 0170-057 X) Vol. 34, No.1, 55-66 GESTALT THEORY, Vol. 34, No.1 „In die Ansammlungen oder Aggregate gehen die einfachsten Bestandteile unverändert ein wie die Steinchen in ein Mosaik: Sie sind „gegen einander blind“; sie haben in den Ansammlungen keinerlei Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die sie nicht außerhalb, als isolierte Einzelgebilde, der Art und dem Maß nach ebenso haben. Zugleich sind an den Ansammlungen keinerlei Eigenschaften oder Verhaltensweisen aufweisbar außer denjenigen ihrer einzelnen Bestandteile, allenfalls deren Summe oder Mischung“ (Metzger 2001, 48). Ein Mosaik, als physikalischer Gegenstand betrachtet, besteht aus Steinchen, die „gegen einander blind“ sind. Die Anordnung der Steinchen wird vom Künstler geschaffen und so entsteht das Wahrnehmungsbild, wo die echten Teile vom Ganzen abhängen und nicht ident sind mit den einzelnen Steinchen. Rudolf Arnheim* Arnheim hat die Mosaiken von Ravenna mit Hilfe einer ganzheitlichen Betrachtung analysiert und ihre besondere Struktur beschrieben. Im Unterschied zu einem japanischen Mandala, wo man ein konzentrisches System der Komposition beobachtet, sieht man in zwei der byzantinischen Mosaiken der Kirche San Vitale in Ravenna ein exzentrisches System des Aufbaus: „Das Gegenteil ist bei zwei byzantinischen Mosaiken aus dem 6. Jh. aus der Kirche San Vitale in Ravenna der Fall. […] An den Wänden der Apsis werden Kaiser Justinian und seine Gattin dargestellt, jeweils mit Gefolge. In beiden Mosaiken stützt eine Gruppe von aufrecht stehenden Figuren, einer Säulenreihe ähnlich, das Gewölbe der Kapelle. Diese aufrechte Haltung deutet die Dominanz des exzentrischen Systems an, das die Figuren an die Erde bindet, was zur Folge hat, dass diese in stolzer Aufrechthaltung von ihr weg streben. Diese Aneinanderreihung säulenartiger Figuren würde jedoch lediglich wie ein bloßer Zaun wirken, wenn es kein Zentrum gäbe, das sie zusammenhält. In beiden Fällen ist dieses Zentrum von der kaiserlichen Figur besetzt. Kaiserin Theodora, prima inter pares, hebt sich durch ihre Krone, ihr Geschmeide und den Heiligenschein ab und steht unter einer eigenen Kuppel. Die Figur des Kaisers an der gegenüberliegenden Seite ist in ähnlicher Weise hervorgehoben. Ein Vergleich dieser Beispiele veranschaulicht den auffälligen Unterschied zwischen den beiden Kompositionsschemata. In dem japanischen Mandala wird die Macht der zentralen Figur dadurch betont, dass das ganze Bild um sie herum gruppiert ist. Die byzantinischen Mosaiken, beschränkt auf eine Stützfunktion in dem übergeordneten baulichen Zusammenhang der Apsis, bringen die äußeren Kräfte, denen die menschlichen Figuren unterworfen sind, zum Ausdruck. Zugleich aber werden diese in die Lage versetzt, sich der Aufgabe, das heilige Gebäude aufrechtzuerhalten, gewachsen zu zeigen” (Arnheim 1996, 23f). * Arnheim hat Ravenna im September 1938 besucht, als er Italien wegen der Rassengesetze verlassen musste. 56 Galli, Gestaltpsychologen und Tiefenpsychologen besuchen Ravenna, die Stadt des Mosaiks Im selben Werk beschreibt Arnheim das Mosaik des guten Hirten im Mausoleum von Galla Placidia. Zuerst analysiert er den ganzheitlichen Aufbau des Mosaiks, dann die Ausdrucksqualitäten der Figur des Hirten, die von dessen Körperhaltung getragen sind (ebenda, 173ff): „In dem byzantinischen Mosaik im Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna beherrscht der gute Hirte die halbkreisförmige Szene durch seine auffällige Größe und zentrale Position. Ebenso wichtig ist aber seine aktive Haltung, die sich von der stoischen Ruhe der Lämmer abhebt. Sein Körper ist um die zentrale Säule des Rumpfes organisiert, die Schulterpartie jedoch gedreht. Diese Drehung wird durch die laterale Position der Arme deutlich, während die Beine ihrerseits eine Drehung des Unterleibs in entgegengesetzter Richtung ausdrücken. Der zur Seite gerichtete Blick, die unterschiedlichen Bewegungen der Arme, die Herrschaft und Mitgefühl miteinander verbinden, und die schwungvoll gekreuzten Beine machen den Hirten zum zentralen Knoten der Komposition.” 57 GESTALT THEORY, Vol. 34, No.1 Im Aufsatz Entropie und Kunst analysiert Arnheim ein Mosaik von Sant’ Apollinare Nuovo, um zu beweisen, dass die zwei langen Reihen von Männern und Frauen beim Beobachter den Eindruck der Einheit der Gläubigen erwecken sollen: „Die Prozessionen fast identischer Figuren auf den Wandmosaiken von San Apollinare Nuovo in Ravenna sind nicht redundant. Sie sollen dem Beschauer das Schauspiel einer Vielzahl von Anbetern bieten, die ein gleiches religiöses Verhalten vereint” (Arnheim 1979, 28). Arnheim untersucht also die Teile der Mosaiken mit Hilfe einer ganzheitlichen Betrachtung, das heißt: ohne ihren Platz im Ganzen - und damit das Ganze selbst - aus den Augen zu verlieren. Er kann so auch die Beziehungen der verschiedenen Teile untereinander in einer Art „szenischen Verstehens“ beschreiben. Nach Metzger und Arnheim ist eine grundlegende Komponente des ästhetischen Genusses „die Freude an der Stimmigkeit der Komposition, des Aufbaus, an der Notwendigkeit und Geschlossenheit der Folge im Ganzen und im einzelnen… Wir spüren unmittelbar das Gleichgewicht, die Einheit, den Rhythmus, die Proportionen, aber ebenso auch ihren Mangel“ (Metzger 1965, 506). Die ganzheitliche Analyse der Gestaltpsychologen ist auf die Struktur- und Ausdruckseigenschaften der Mosaiken und auf die Wechselwirkung der beiden Arten von Gestaltqualitäten zentriert. Die Interpretation der symbolischen Bedeutung der Bilder wird beiseitegelassen. 58 Galli, Gestaltpsychologen und Tiefenpsychologen besuchen Ravenna, die Stadt des Mosaiks II. Die Tiefenpsychologen Sigmund Freud Von Sigmund Freud liegen uns zwei Arten der Beschreibung der Stadt Ravenna vor: ein Bericht, den er während der Reise an seine Frau gesandt hat, und einige Bilder der Stadt, die er nach der Reise geträumt hat. Am 3. September 1896 besuchte Freud Ravenna und Faenza. In zwei Postkarten an seine Frau Martha beschreibt er seine Eindrücke von Ravenna in folgender Weise (Freud 2002a, 59f). Postkarte aus Ravenna „Ravenna ist ein elendes Nest, in dem verfallene Ziegelhütten stehen, welche die großartigsten Reste der christlichen Kunst aus 5-8 Jahrhundert u Ostgoten enthalten. Ein Stück vom Palast Theoderich des Großen dient als Mauer für ein elendes Gesindehaus. Wir sind um 4h aufgestanden, um 9h angekommen, gearbeitet bis jetzt. Große Durstanfälle, Salz im Mund, kein Zutrauen zum Hotel. Aber Dante ist hier begraben, die Ostgoten haben hier geherrscht, Theoderich der Große liegt hier, Justinian ist in Mosaik porträtiert, 2 römische Kaiser in ihren Särgen, Byron hat 2 Jahre hier gehaust und somit hoffen wir nachts in Florenz zu sein.“ In dem Bericht benutzt Freud den Gegensatz zwischen „elend” und „großartig”: Ravenna war Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine arme Stadt, die sich mit ihren großartigen Denkmälern nicht sonderlich beschäftigte. Die Denkmäler werden von Freud in einer einfachen Reihe aufgezählt. Er nimmt sich aus Ravenna zwei Bilder mit: ein Porträt von Justinian und ein Foto des Palasts von Theoderich. Postkarte aus Faenza „Ravenna ist noch sehr genussreich worden. Theoderich, Dante, Mandeln, Feigen vom Baum bei Theoderichs Grabmal, alte Kirchen, Mosaik, ein von Dante besungener Pinienwald, Pfirsich, Wein und Café haben sich zu einer großartigen Harmonie vereinigt. […] Es geht uns großartig, ich glaube, der Wein tut viel dabei“ (Freud 2002a, 61). Hier stehen also die gastronomischen Freuden eines angeheiterten Touristen im Vordergrund. Im 5. Kapitel seiner Traumdeutung (Das Infantile als Traumquelle) analysiert Freud dann allerdings einen Traum, in dem die Reise nach Ravenna in folgender Weise auftaucht (Freud 2002b, 132f): „In einem anderen Falle konnte ich merken, dass der Wunsch, welcher den Traum erregt, obzwar ein gegenwärtiger, doch eine mächtige Verstärkung aus tiefreichenden Kindererinnerungen bezieht. Es handelt sich hier um eine Reihe 59 GESTALT THEORY, Vol. 34, No.1 von Träumen, denen die Sehnsucht nach Rom zu kommen, zugrunde liegt. Ich werde diese Sehnsucht wohl noch lange Zeit durch Träume befriedigen müssen, denn um die Zeit des Jahres, welche mir für eine Reise zur Verfügung steht, ist der Aufenthalt in Rom aus Rücksichten der Gesundheit zu meiden.1 So träume ich denn einmal, dass ich vom Coupéfenster aus Tiber und Engelsbrücke sehe; dann setzt sich der Zug in Bewegung, und es fällt mir ein, dass ich die Stadt ja gar nicht betreten habe. Die Aussicht, die ich im Traume sah, war einem bekannten Stiche nachgebildet, den ich tags zuvor im Salon eines Patienten flüchtig bemerkt hatte. Ein andermal führt mich jemand auf einen Hügel und zeigt mir Rom vom Nebel halb verschleiert und noch so ferne, dass ich mich über die Deutlichkeit der Aussicht wundere. Der Inhalt dieses Traumes ist reicher, als ich hier ausführen möchte. Das Motiv, „das gelobte Land von ferne sehen“, ist darin leicht zu erkennen. Die Stadt, die ich so zuerst im Nebel gesehen habe, ist - Lübeck; der Hügel findet sein Vorbild in - Gleichenberg. In einem dritten Traum bin ich endlich in Rom, wie mir der Traum sagt. Ich sehe aber zu meiner Enttäuschung eine keineswegs städtische Szenerie, einen kleinen Fluss mit dunklem Wasser, auf der einen Seite desselben schwarze Felsen, auf der anderen Wiesen mit großen weißen Blumen. Ich bemerke einen Herrn Zucker (den ich oberflächlich kenne) und beschließe, ihn um den Weg in die Stadt zu fragen. Es ist offenbar, dass ich mich vergebens bemühe, eine Stadt im Traume zu sehen, die ich im Wachen nicht gesehen habe. Wenn ich das Landschaftsbild des Traums in seine Elemente zersetze, so deuten die weißen Blumen auf das mir bekannte Ravenna, das wenigstens eine Zeitlang als Italiens Hauptstadt Rom den Vorrang abgenommen hatte. In den Sümpfen von Ravenna haben wir die schönsten Seerosen mitten im schwarzen Wasser gefunden; der Traum lässt sie auf Wiesen wachsen wie die Narzissen in unserm Aussee, weil es damals so mühselig war sie aus dem Wasser zu holen. Der dunkle Fels, so nahe am Wasser, erinnert lebhaft an das Tal der Tepl bei Karlsbad.[…]“ Ravenna erscheint hier wegen des gemeinsamen Schicksals der beiden Städte als Ersatz für Rom, der Hauptstadt des Kaisertums. Aber es handelt sich um einen unbefriedigenden Ersatz im Vergleich zu Rom, das Freud sehr intensiv studiert hatte - um eine wahre „Enttäuschung“. Im Traum tauchen auch einige unschöne Aspekte von Ravenna auf wie etwa die Sümpfe mit schwarzem Wasser, die damals die Stadt umschlossen. Carl Gustav Jung „Schon als ich das erste Mal in Ravenna war (1914), hatte mir das Grabmal der Galla Placidia einen tiefen Eindruck gemacht; es erschien mir bedeutsam und faszinierte mich in ungewöhnlichem Maße. Bei meinem zweiten Besuch, etwa Im selben Kapitel der Traumdeutung analysiert Freud seine „neurotische Rom-Sehnsucht“ (so hatte er an Fliess geschrieben) und die Gründe, wieso er bei seinen ersten Italienreisen zwischen 1895 und 1900 nie weit über den Trasimener See hinausgekommen sei. Er sieht diese Gründe in einer Identifizierung mit Hannibal, dem Lieblingshelden seiner Gymnasialjahre, dem es nicht beschieden war, Rom einzunehmen. 1 60 Galli, Gestaltpsychologen und Tiefenpsychologen besuchen Ravenna, die Stadt des Mosaiks zwanzig Jahre später, erging es mir genau gleich. Wieder geriet ich im Grabmal in eine eigentümlich ergriffene Stimmung. Ich war mit einer Bekannten dort, und wir gingen anschließend in das Baptisterium der Orthodoxen. Was mir hier zuallererst auffiel, war ein sanftes blaues Licht, das den Raum erfüllte, ohne daß ich mich jedoch darüber wunderte. Ich legte mir keine Rechenschaft darüber ab, von wo es ausging, und so kam mir das Wunderbare der mangelnden Lichtquelle gar nicht in den Sinn. Zu meinem Erstaunen sah ich dort, wo sich nach meiner Erinnerung Fenster befunden hatten, vier große Mosaikfresken von unerhörter Schönheit, die ich, wie mir schien, vergessen hatte. Ich ärgerte mich, daß ich mich auf mein Gedächtnis so ganz und gar nicht verlassen konnte. Das Bild auf der Südseite stellte die Jordantaufe dar; ein zweites im Norden den Durchgang der Kinder Israel durch das Rote Meer, das dritte im Osten verblasste bald in der Erinnerung. Vielleicht zeigte es die Abwaschung des Aussatzes von Naeman im Jordan. In der alten Merianischen Bibel in meiner Bibliothek befindet sich eine ganz ähnliche Abbildung dieses Wunders. Am eindrücklichsten war das vierte Mosaik im Westen des Baptisteriums, das wir als letztes betrachteten. Es stellte dar, wie Christus dem untergehenden Petrus die Hand reicht. Vor diesem Mosaik hielten wir uns mindestens zwanzig Minuten auf und diskutierten über den ursprünglichen Taufritus, besonders über die merkwürdige Auffassung der Taufe als einer Initiation, die mit wirklicher Todesgefahr verbunden war. Derartige Initiationen waren oft mit Lebensgefahr verbunden, wodurch der archetypische Gedanke des Todes und der Wiedergeburt ausgedrückt wurde. So war auch die Taufe ursprünglich eine richtige „Eintauchung“ welche die Gefahr des Ertrinkens wenigstens andeutete. Von dem Mosaik des untersinkenden Petrus bewahrte ich die deutlichste Erinnerung und sehe noch heute jedes Detail vor mir: die Bläue des Meeres, die einzelnen Steine des Mosaiks, die Spruchbänder, die aus dem Munde Christi und Petri gingen, und die ich zu entziffern suchte. Nachdem wir das Baptisterium verlassen hatte, ging ich sogleich zu Alinari, um mir Photographien der Mosaiken zu kaufen, konnte aber keine finden. Da die Zeit drängte - es war nur ein kurzer Besuch - verschob ich den Einkauf auf später; ich hatte im Sinn, die Bilder von Zürich aus zu bestellen. Als ich wieder zuhause war, bat ich einen Bekannten, der bald darauf ebenfalls nach Ravenna reiste, mir die Bilder zu beschaffen. Natürlich konnte er sie nicht auftreiben, denn er stellte fest, daß die von mir geschilderten Mosaiken überhaupt nicht vorhanden waren. Inzwischen hatte ich bereits in einem Seminar über die ursprüngliche Auffassung der Taufe als Initiation gesprochen und bei dieser Gelegenheit auch die Mosaiken erwähnt, die ich im Baptisterium der Orthodoxen gesehen hatte. Die Erinnerung an die Darstellungen ist mir noch heute deutlich. Meine Begleiterin konnte noch lange Zeit nicht glauben, daß das, was sie «mit eigenen Augen gesehen», nicht vorhanden war. Es ist bekanntlich sehr schwierig festzustellen, ob und inwiefern zwei Personen gleichzeitig dasselbe sehen. In diesem Falle jedoch konnte ich mich hinlänglich 61 GESTALT THEORY, Vol. 34, No.1 versichern, daß wir beide in den Hauptzügen wenigstens dasselbe gesehen hatten. Das Erlebnis in Ravenna ist etwas vom Merkwürdigsten, was mir je widerfahren ist. Erklären kann man es kaum.“ (Jung/Jaffé 1962, 288f). Ein Kommentar Die Erinnerungen von Jung wurden von Aniela Jaffé fast dreißig Jahre nach dessen Ravenna-Reise gesammelt. Man könnte also an Erinnerungsfehler denken. Manche Fehler gibt es in der Schilderung auch sicherlich (wie etwa der Besuch in Alinaris Geschäft), aber sie betreffen nicht die Mosaiken, die Jung gesehen hatte. Im Jahre 1932, kurze Zeit nach der Reise, hatte Jung in einem Seminar über „The psychology of Kundalini Yoga“ über „four scenes depicted on the wall in the Baptistry of the Orthodox in Ravenna“ und über den ursprünglichen Taufritus berichtet. (Princeton University Press 1996). Über das merkwürdige Erlebnis von Jung schreibt Aniela Jaffé in einer Fußnote: „Jung erklärte die Vision nicht als ein synchronistisches Phänomen, sondern als eine momentane Neuschöpfung des Unbewußten, im Zusammenhang mit dem archetypischen Gedanken der Initiation. Die unmittelbare Ursache für die Konkretisierung lag in der Animabeziehung zu Galla Placidia und der dadurch hervorgerufenen Emotion“ (Jung/Jaffé 1962, 290). Diese „Neuschöpfung“ benutzt als Bausteine einige Elemente, die im Baptisterium der Orthodoxen vorzufinden sind, und andere Elemente, die der umfangreichen religiösen Kultur von Jung angehören. In dem Baptisterium der Orthodoxen gibt es eine große Wanne, wo die Taufe ursprünglich mit einer richtigen „Eintauchung“ realisiert wurde. In dem Gewölbe gibt es ein Mosaik mit dem Bild der Jordantaufe von Christus. Eine lateinische Inschrift betrifft die Geschichte des untergehenden Petrus (Mt. 14,28-32). Die Themen der anderen Mosaiken, die Jung gesehen hatte, betreffen Szenen, die schon Paulus und die alten Kirchenväter als Symbole der Taufe interpretiert hatten. Über den Durchgang der Kinder Israel durch das rote Meer hat Paulus geschrieben: „Unsere Väter alle sind auf Mose getauft worden durch die Wolke und durch das Meer“ (1. Korinther 10, 1-2). Die gleiche Interpretation gibt es nach den Kirchenvätern für die Geschichte von Naeman (2. Könige 5, 1-14). Auch der Gedanke des Todes und der Wiedergeburt, der mit dem Taufritus in Beziehung steht, ist bei Paulus zu finden: „Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in neuem Leben wandeln“ (Römer 6, 3-4). Jung hat besonders die Gefahr des Ertrinkens unterstrichen, auf die die Taufe als Eintauchung hindeutet. Als prägnantes Beispiel für diese Gefahr beschreibt 62 Galli, Gestaltpsychologen und Tiefenpsychologen besuchen Ravenna, die Stadt des Mosaiks er das Mosaik des untergehenden Petrus (Mt. 14, 28-32). Dann stellt Jung eine Analogie her zwischen der Gefahr des Ertrinkens und der Gefahr, der er selbst während seiner Eigenanalyse begegnet war: „Bei der Auseinandersetzung mit der Anima bin ich tatsächlich den Gefahren begegnet, die ich in den Mosaiken dargestellt sah. Beinahe wäre ich ertrunken. Es ist mir gegangen wie Petrus, der um Hilfe geschrien hat und von Jesus gerettet wurde. Es hätte mir gehen können wie dem Heer des Pharao. Wie Petrus und wie Naeman bin ich heil davongekommen, und die Integration der unbewußten Inhalte hat Wesentliches zur Vervollständigung meiner Persönlichkeit beigetragen. Was einem geschieht, wenn man vordem unbewußte Inhalte dem Bewusstsein integriert, kann mit Worten wohl kaum beschrieben werden. Man kann es nur erfahren“ (Jung/Jaffé 1962, 290f). Um diese Analogien besser zu verstehen, können wir die Personen, die Jung in den verschiedenen Szenen beschreibt, als Teilaspekte seiner Persönlichkeit ansehen. Er selbst sagt ja, dass seine „Anima“ in der Figur von Galla Placidia „einen passenden Ausdruck“ gefunden hat. „Von der Gestalt der Galla Placidia war ich unmittelbar betroffen, und die Frage, was für diese hochgebildete Frau von differenziertester Kultur das Leben an der Seite eines Barbarenfürsten bedeutet haben mußte, beschäftigte mich. Ihr Grabmal erschien mir wie der letzte Rest, durch den ich sie noch persönlich erreichen konnte. Ihr Schicksal und ihre Art berührten mich zutiefst, und in ihrer intensiven Wesensart fand meine Anima einen passenden historischen Ausdruck. Mit dieser Projektion war jenes zeitlose Element des Unbewußten und jene Atmosphäre erreicht, wo das Wunder der Vision stattfinden konnte. Sie unterschied sich im Augenblick nicht im geringsten von der Wirklichkeit Die Anima des Mannes trägt einen eminent historischen Charakter. Als Personifikation des Unbewußten ist sie getränkt mit Geschichte und Vorgeschichte. Sie enthält die Inhalte der Vergangenheit und ersetzt das im Manne, was er von seiner Vorgeschichte wissen sollte. Alles schon gewesene Leben, das noch in ihm lebendig ist, ist die Anima. Im Verhältnis zu ihr bin ich mir immer vorgekommen wie ein Barbar, der eigentlich keine Geschichte hat - wie ein eben aus Nichts Gewordener, ohne Vorher, ohne Nachher“ (Jung/ Jaffé 1962, 290). In den beschriebenen Szenen gibt es immer die Gefahr des Ertrinkens, aber das Verhalten der Personen ist sehr unterschiedlich. Galla Placidia: „bei einer stürmischen Überfahrt von Byzanz nach Ravenna mitten im Winter tat sie das Gelübde, eine Kirche zu bauen, falls sie gerettet würde“. Petrus wollte anfänglich auf dem Wasser gehen, um Christus nachzuahmen, dann aber musste er nach Christus um Hilfe schreien. 63 GESTALT THEORY, Vol. 34, No.1 Naeman ist am Anfang sehr stolz und will dem Befehl von Elisa, sich „siebenmal im Jordan zu waschen“, nicht gehorchen. Dann folgt er jedoch den Rat seiner Diener und durch das Wasser wird er geheilt. In all diesen Szenen kann man eine Wende beobachten, wo die Person die Rechnung für ihre Schwäche präsentiert bekommt und diese am Ende auch akzeptiert. Zwei Perspektiven Beinahe in einem „experimento in vivo“ haben wir nun also gelesen, wie zwei Gestaltpsychologen auf der einen Seite, zwei Tiefenpsychologen auf der anderen Seite den gleichen Gegenstand gesehen und beschrieben haben: Ravenna mit seinen berühmten Mosaiken. Ich bin mir dessen bewußt, dass es sich um Texte handelt, die mit verschiedenen Absichten verfasst wurden. Doch erlauben sie uns, die Perspektiven zu erfassen, nach denen die Stadt mit ihren Werken betrachtet wurde. Die Gestaltpsychologen sind dabei auf die Eigenschaften und auf die Struktur der künstlerischen Werke zentriert. Diese Werke beherrschen für sie das psychische Gesamtfeld; der Ich-Pol verschwindet oder wird gewissermaßen in Klammern gesetzt. Die Struktur des Feldes ist in diesem Fall jene des Staunens (Galli 2005, 82ff). Die beiden Tiefenpsychologen hingegen betrachten die künstlerischen Werke aus der Ich-Perspektive. Freud sieht Ravenna im Vergleich mit Rom und mit seiner Sehnsucht nach dieser Stadt. Jung wird von den Themen der Taufe als Initiation gefesselt und schafft „ex novo“ Bilder, die mit diesen Themen in Beziehung stehen. Die Bilder werden nicht in ihren „objektiven Eigenschaften“, sondern in ihren symbolischen Bedeutungen betrachtet. Die Bedeutung entsteht durch die Interaktion zwischen den beiden Polen des Feldes: Ich und Gegenstand. Wir haben hier zwei Perspektiven: die phänomenologische einerseits und die hermeneutische andererseits - zwei Perspektiven die sich integrieren lassen. Nehmen wir als Beispiel für eine solche Integration das Mosaik des guten Hirten. Im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung analysiert Arnheim das „strukturelle Skelett“ der Darstellung des Hirten. Dieses hat sich der Künstler erarbeitet, um die prägnanten Ausdrucksqualitäten von „Herrschaft und Mitgefühl“ zu erreichen, Ausdrucksqualitäten, die nun jeder Beobachter wahrnehmen kann. Die symbolischen Bedeutungen hingegen hängen von der kulturellen und persönlichen Welt des Beobachters ab. Ein gebildeter christlicher Beobachter kann das Mosaik als eine getreue Transponierung des Psalmes 23 „Der Gute Hirte“ oder der Worte von Jesus: „Ich bin der gute Hirte“ (Gv 10, 1-30) ansehen. Er kann in dieser Transponierung auch etwas Neues und Anregendes finden (vgl. dazu auch Galli 2006). 64 Galli, Gestaltpsychologen und Tiefenpsychologen besuchen Ravenna, die Stadt des Mosaiks Anhang Wenn man die Ego-Anteile bei der Betrachtung eines Kunstwerkes genauer untersucht, scheint es mir von Interesse, die Betrachtungen von Arnheim, die man in seinem Tagebuch (September 1938) finden kann, zu zitieren: „Da wir nun Italien so bald verlassen müssen haben wir uns vorgenommen, Rom zu guter Letzt noch gründlich zu betrachten, manchen jahrelang aufgeschobenen Besuch noch durchzuführen, manches Schöne wiederzusehen. Auch braucht man in diesen Tagen entsetzlicher Spannung die Augenblicke der Ruhe an Orten, die außerhalb der Zeit und ihrer Schrecken sind... Es interessierte mich, nach Ravenna, nun (die) Mosaiken zu sehen, die schon in romanischer Zeit entstanden sind“. Arnheim besuchte verschiedene Kirchen in Ravenna und beschreibt einige Mosaike in ihren Einzelheiten. Er meint, in einem Mosaik einen Weinstock mit einem Dornbusch verwechselt zu haben, weil er Betrachtungen über das “Motiv der Marter und des Leidens” gemacht hatte. Ein Motiv, das ihm selbst als Flüchtling sehr nahe war. “Im Hauptfelde der Wölbung sieht man unter einem großen Kruzifix einen Weinstock aufwachsen, von dem aus sich Ranken nach links und rechts abzweigen und so die ganze Fläche mit regelmäßigen Kringelmedallions füllen.... Ich hatte die sich verzweigende Pflanze zunächst für einen Dornbusch gehalten und Betrachtungen darüber aufgestellt, ob der Einfall, aus dem Motiv der Marter und des Leidens ein Kringelmuster zu entwickeln, ein Zeichen der Verflachung des religiösen Gefühls sei oder aber gerade der Ausdruck eines Seelenzustandes, der so ganz durchdrungen von Religion ist, dass er alles aus diesem Religiösen entwickelt, selbst Schmuck und Spiel. Nun, da der Dornbusch ein Weinstock ist, verliert die Überlegung ihren Anlass, aber wohl doch nicht allen Grund“. 2 Zusammenfassung Die äußerst unterschiedlichen Beschreibungen von Ravenna´s weltberühmten Mosaiken durch Wolfgang Metzger, Rudolf Arnheim, Sigmund Freud und C.G. Jung, lassen die verschiedenen Schwerpunkte einer gestaltpsychologisch/phänomenologischen und einer tiefenpsychologisch/hermeneutischen Betrachtungsweise deutlich werden. Am Ende der Betrachtungen stehen daher auch vollkommen unterschiedliche „Ergebnisse“. Die ganzheitliche Analyse der Gestaltpsychologen Metzger und Arnheim ist auf die Struktur- und Ausdruckseigenschaften der Mosaiken und auf die Wechselwirkung der beiden Arten von Gestaltqualitäten zentriert. Die beiden Tiefenpsychologen Freud und Jung hingegen betrachten die künstlerischen Werke aus der Ich-Perspektive, Freud sieht Ravenna im Vergleich mit Rom, Jung ist von den Themen der Taufe als Initiation gefesselt, die Mosaike werden in ihren symbolischen Bedeutungen betrachtet. Schlüsselwörter: Mosaik, Struktureigenschaften, symbolische Bedeutung,Taufritus. 2 Ich bin Ingrid Scharman sehr verpflichtet, die mich auf Grund ihrer tiefen Kenntnis der Werke Arnheims auf die Tagebücher und die darin enthaltenen, Ravenna betreffenden Texte hingewiesen hat. Gemeinsam mit ihr konnte ich manche Bedeutungen dieser Texte erhellen. 65 Summary The extremely different descriptions of Ravenna’s world famous mosaics by Wolfgang Metzger, Rudolf Arnheim, Sigmund Freud and C.G. Jung reveal the various key aspects of a Gestalt psychological/phenomenological and a depth-psychological/hermeneutic view. Those observations result in completely different outcomes. The holistic analysis of the Gestalt psychologists Metzger and Arnheim emphasize the composition and expression of the mosaics and the interdependency of both forms of shape qualities. Both depth-psychologists Freund and Jung, however, consider the artistic works from an ego perspective. Freud compares Ravenna with Rom while Jung is fascinated from the aspects of christening as initiation – the mosaics are seen from their figurative importance. Keywords: Mosaic, composition, figurative meaning, christening ritual. Literatur Arnheim, R.: Tagebuch, Smithsonian Archives of American Art, Washington, Nachlaß Arnheim, Box 5. Arnheim R. (1971): Entropy and Art. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press. Deutsche Ausgabe 1979: Entropie und Kunst. Ein Versuch über Unordnung und Ordnung. Köln: DuMont Buchverlag. Arnheim R. (1988): The Power of the Center. New Version. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press. Deutsche Ausgabe 1996: Die Macht der Mitte. Eine Kompositionslehre für die bildenden Künste. Neuausgabe. Köln: DuMont Buchverlag. Freud, Sigmund (2002a): Unser Herz zeigt nach dem Süden. Reisebriefe 1895-1923. Berlin: Aufbau-Verlag. Freud, Sigmund (2002b): Die Traumdeutung. New York: Adamant Media (Reprint der Erstveröffentlichung Leipzig/Wien 1900). Galli, Giuseppe (2005): Psychologie der sozialen Tugenden. Zweite, erweiterte Auflage. Wien: Böhlau. Galli, Giuseppe (2006): La trasposizione intersemiotica tra fedeltà e innovazione, in: G. Bartoli & S. Mastandrea (ed.), Rudolf Arnheim: una visione dell’arte, Roma: Anicia, 69-79. Jung, C.G. (1962): Erinnerungen, Träume, Gedanken. Aufgezeichnet von Aniela Jaffé. Zürich und Düsseldorf: Walter Verlag. Englisch: Jung, C.G.; Aniela Jaffé (1965). Memories, Dreams, Reflections. New York: Random House. Metzger, Wolfgang (1954): Grundbegriffe der Gestaltpsychologie. In: Metzger 1986, 124-133. Metzger, Wolfgang (1965): Der Beitrag der Gestalttheorie zur Frage der Grundlagen des künstlerischen Erlebens. In: Metzger 1986, 497-508. Metzger, Wolfgang (1986): Gestaltpsychologie – Ausgewählte Werke aus den Jahren 1950-1982. Herausgegeben von M. Stadler und H. Crabus. Frankfurt: Waldemar Kramer. Metzger, Wolfgang (2001): Psychologie. Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit Einführung des Experiments. 6. Auflage, Wien: Krammer. Giuseppe Galli, Prof. Dr. med, geb.1933 in Ravenna, ist emeritierter ordentlicher Professor für Allgemeine Psychologie an der Universität Macerata, an der er eine zwanzigjährige Reihe der Colloqui sulla Interpretazione organisiert hat. Im Bereich der Gestalttheorie führte er zahlreiche Untersuchungen über das Selbstbild (phänomenales Ich) und zur Psychologie der sozialen Tugenden durch. Neben vielen Publikationen, die Prof. Galli herausgebracht hat, ist er auch beratender Herausgeber der Gestalt Theory. Adresse: Dipartimento di Scienze della formazione- Universitá di Macerata. Piazzale Bertelli 1, 62100 Macerata, Italia. E-Mail: galli@unimc.it