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System Erde GFZ-Journal 2011 – Heft 1 Schwerpunkt Naturgefahren und Frühwarnsysteme systemerde.gfz-potsdam.de Titelfoto: Ballon-Experiment am Karymsky-Vulkan, dem aktivsten Vulkan auf der russischen Halbinsel Kamtschatka, zur Beprobung der Aschepartikel direkt in der Eruptionswolke Foto: Thomas R. Walter, GFZ Impressum Herausgeber: Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Hüttl Dr. Bernhard Raiser Helmholtz-Zentrum Potsdam Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ Telegrafenberg 14473 Potsdam Redaktion: Dr. Oliver Bens Dr. Dietlinde Friedrich (Koordination) Franz Ossing (V.i.S.d.P.) Layout: UNICOM Werbeagentur GmbH Hentigstr. 14a 10318 Berlin Grit Schwalbe, GFZ Druck: Brandenburgische Universitätsdruckerei © Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ 2011 ISSN 2191-8589 Inhalt Plattenrandobservatorium Türkei Global Change-Observatorium Zentralasien 6 36 12 Das Erdbebenrisiko einer Megacity Marco Bohnhoff, Fatih Bulut, Mustafa Aktar, Georg Dresen Computersimulation der Plattenbewegungen südlich von Istanbul Oliver Heidbach, Tobias Hergert, Gottfried Grünthal 18 Sekunden für Istanbul Birger-Gottfried Lühr, Claus Milkereit, Stefano Parolai, Matteo Picozzi, Heiko Woith, Angelo Strollo, Mustafa Erdik, Atilla Ansal, Jochen Zschau Seismische Risikoanalysen in Zentralasien Stefano Parolai, Angelo Strollo, Dino Bindi, Claus Milkereit, Matteo Picozzi, Domenico Di Giacomo, Marc Wieland, Massimiliano Pittore, Morgan Mayfield, Huyan Liu, Marco Pilz und Jochen Zschau Hochwassermanagement 42 Ein neues Modell für die Berechnung von Hochwassergefährdungskarten Sergiy Vorogushyn, Heiko Apel, Karl-Erich Lindenschmidt, Bruno Merz Plattenrandobservatorium Chile Frühwarnsysteme 24 Beobachtung der letzten Phase eines seismischen Zyklus in Nordchile 48 Die „Beule“ von Lazufre 56 Jörn Lauterjung, Winfried Hanka, Tilo Schöne, Markus Ramatschi, Andrey Babeyko, Joachim Wächter, Carsten Falck, Claus Milkereit, Ute Münch, Alexander Rudloff Pia Victor, Bernd Schurr, Dirk Brändlein, Jürgen Klotz, Oliver Ritter, Günter Asch, Thomas R. Walter, Monika Sobiesiak, Onno Oncken 30 Thomas R. Walter, Joel Ruch, Andrea Manconi, Manoochehr Shirzaei, Mahdi Motagh, Jan Anderssohn GITEWS – das Tsunami-Frühwarnsystem für den Indischen Ozean DEWS – Distant Early Warning System Andreas Nikolaus Küppers, Martin Hammitzsch, Rainer Häner, Matthias Lendholt, Joachim Wächter 66Netzwerk 75Preise 66Katastrophenvorsorge: Neuer Umgang mit alten Gefahren 76Bücher 66 Hochwasserprojekt RIMAX erfolgreich abgeschlossen 68 Vertragen sich Erde und Mensch? 69 10 Jahre Erdbeobachtung mit CHAMP 70 Mission SWARM: Hochpräzise Erfassung des Erdmagnetfeldes aus dem All 72 Der Aschersleber Globus und die Potsdamer Kartoffel 72 Neue große Forschungsverbünde Editorial Risiko- und Krisenmanagement – Frühwarnsysteme und Naturgefahren Unser Planet bietet uns Lebensraum, die zum Leben notwendigen Rohstoffe, er ermöglicht uns Landnutzung, er schützt uns vor gefährlicher kosmischer Strahlung, kurzum: der human habitat auf dem Planeten Erde ist ein komplexer Mechanismus, der uns seit Millionen von Jahren Existenzbedingungen liefert, die der Mensch sehr erfolgreich ausgenutzt hat. Das System Erde ist zugleich ein hochdynamisches Gebilde, das ständigen Änderungen unterliegt. Dazu gehören vergleichsweise langsame Prozesse wie die Bewegung der tektonischen Platten oder der Auf- und Abbau von polaren Eismassen. Dazu gehören aber auch sehr schnelle, schlagartige Umlagerungen von Masse und Energie. Erdbeben, Vulkanausbrüche und Stürme machen uns die hohe Dynamik unseres Planeten drastisch erfahrbar. Im System Erde sind diese Ereignisse normale, natürliche Abläufe. Wir Menschen erfahren diese Prozesse häufig als Naturkatastrophen, die viele Menschenleben fordern und enorme Schäden verursachen. Die Tsunamikatastrophe im Indischen Ozean von Ende 2004 kostete etwa einer Viertelmillion Menschen das Leben, dem Haïti-Erdbeben Anfang letzten Jahres fiel eine fast ähnlich große Zahl von Menschen zum Opfer. Diese beiden Katastrophen zeigen aber auch, dass die Menschen der Natur an sich nicht hilflos ausgeliefert sind und welche Rolle die Geowissenschaften beim Aufbau von Vorsorge- und Schutzmaßnahmen spielen können. Natürlich wird ein derart gewaltiges Ereignis wie der Tsunami vom Zweiten Weihnachtstag 2004 sich nie verhindern lassen, eine solche Naturkatastrophe wird auch weiterhin Menschenleben fordern. Aber im Dezember 2004 starben sehr viele Menschen vor allem deshalb, weil es keinerlei Vorkehrungen gegen einen Tsunami im Indischen Ozean gab, obwohl Geowissenschaftler schon lange zuvor auf die drohende Gefahr hingewiesen hatten. Auch das deutsch-indonesische Tsunami-Frühwarnsystem GITEWS wird eine solche Katastrophe nicht völlig verhindern können, aber es kann helfen, die Zahl der Todesopfer deutlich zu reduzieren. Noch deutlicher zeigt sich im Fall des Haïti-Erdbebens vom 12. Januar 2010, was mangelnde Vorsorge verursachen kann. Mit einer Magnitude von 7,2 bebte dort die Erde, wobei mindestens 230 000 Menschen starben. Der Grund für die hohe Zahl an Todesopfern findet sich in der unzulänglichen Bausubstanz, mangelnder Katastrophenvorsorge und dem Fehlen jeglicher Katastrophenschutz-Infrastruktur im Land. Zum Vergleich: das Erdbeben am 27. Februar 2010 von Maule/Concepcion in Chile 4 forderte etwa einen Monat später lediglich 521 Menschenleben, obwohl es mit einer Magnitude von 8,8 etwa 160 mal stärker war als das Haïti-Beben. Hier waren – neben der geringeren Siedlungsdichte – die angepasstere Bauweise und der bessere Katastrophenschutz entscheidend. Die Geowissenschaften spielen eine entscheidende Rolle in der Abschätzung des Risikos durch Naturgefahren. Dazu gehören auf qualitativer Ebene die Bestimmung möglicher Ursachen und die Abschätzung der Folgewirkungen, aber auch die Entwicklung geeigneter Werkzeuge zur Quantifizierung der ablaufenden Prozesse. Die hier vorliegende erste Ausgabe des GFZ-Journals „System Erde“ stellt einige Beispiele vor, wie die modernen Geowissenschaften zum Risiko- und Krisenmanagement im System Erde beitragen können. Diese Beispiele sind nicht zufällig gewählt: Das GFZ befasst sich in seinen Plattenrandobservatorien in der Türkei und in Chile mit den tektonischen Prozessen, die zur Bedrohung einer Megacity in der Türkei und zur akuten Gefährdung des südamerikanischen Kontinentrandes in Chile führen. Im Global Change-Observatorium Zentralasien führen tektonische und Oberflächen-Prozesse zu einem beträchtlichen Risiko für die dort lebende Bevölkerung. Auch in der Tsunami-Frühwarnung läuft methodisch eine Vielfalt von Geodisziplinen, von der Seismologie über die Satellitengeodäsie bis hin zur Küstenforschung zusammen. Hochwasser wiederum gehört in Deutschland zu den ständig präsenten Naturgefahren, weshalb hier Frühwarn- und Managementsysteme unabdingbar sind. Die Geowissenschaften sind im Alltag unserer Gesellschaft überall präsent. Von der effizienten Suche nach Rohstoffen über die präzise Navigation bis hin zur Wettervorhersage reichen die täglichen, anwendungsbezogenen Beiträge der modernen Geowissenschaften. Im GFZ-Journal „System Erde“ berichten wir über die vielen Facetten unserer Arbeit. Das Journal richtet sich vor allem an Entscheidungsträger in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik sowie insbesondere an die interessierte Öffentlichkeit. Wenn darüber hinaus die Faszination deutlich wird, die in den modernen Geowissenschaften steckt, ist das der guten Arbeit der am GFZ tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geschuldet, für die wir an dieser Stelle herzlich danken möchten. Dr. Bernhard Raiser Administrativer Vorstand Prof. Dr. Reinhard Hüttl Wissenschaftlicher Vorstand 5 Plattenrandobservatorium Türkei Das Erdbebenrisiko einer Megacity Seismische Überwachung der Nordanatolischen Verwerfungszone vor Istanbul durch ein Seismometernetz auf den Prinzeninseln Marco Bohnhoff 1, Fatih Bulut 1, Mustafa Aktar 2, 3, Georg Dresen 1 Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Potsdam, 2 Kandilli Observatory and Earthquake Research Institute, 3 Bogazici University, Istanbul 1 The Marmara segment of the North Anatolian Fault Zone (NAFZ) in NW Turkey currently represents a ‚seismic gap’ that has not been activated since 1766 and that has the potential to host a M>7 earthquake in the near future close to the Mega-City Istanbul with its 14 million inhabitants. To characterize the Marmara fault segment a local seismic network was installed offshore Istanbul on the Princes Islands in the direct vicinity to the fault (PIRES campaign) as part of the GFZ Plate Boundary Initiative. Recordings of the local microseismicity now allow for characterization of the fault below the Sea of Marmara for the first time. Distinct seismically active spots indicate that strain is released only partially along the seismic gap. Implementing recordings from seismic stations throughout the area results in stable fault plane solutions at refined hypocentral precision and an unprecedented perception of the seismotectonic setting. Current expansion of the PIRES network will provide for an increase in the data base at improved hypocentral resolution and also enable the performance of comparative studies e.g. with the San Andreas Fault in California. 6 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.1 Das Erdbebenrisiko einer Megacity Abb. 1: Verlauf der Nordanatolischen Verwerfungszone (North Anatolian Fault Zone – NAFZ) in der NW-Türkei. Das weiße Rechteck markiert die Lokation des GFZ-Plattenrandobservatoriums Türkei im östlichen Bereich der „seismischen Lücke“ unterhalb des Marmara-Meeres. Rote Linien markieren Hauptzweige der NAFZ, gelbe Linien stehen für die letzten beiden Starkbeben in der Region. Sterne repräsentieren Erdbeben mit Magnituden ≥6,8 während der letzten 2000 Jahre (nach Ambraseys, 2002; Parsons, 2004). Der weiße Pfeil markiert die aus GPS-Messungen abgeleitete Relativbewegung der Anatolischen Kontinentalplatte im Vergleich zu Eurasien. Fig. 1: The North Anatolian Fault Zone (NAFZ) in NW Turkey. The white rectangle indicates the location of the GFZ-Plate Boundary Initiative that focuses on the eastern part of the seismic gap below the Sea of Marmara. Red lines mark fault branches of the NAFZ, yellow bold lines represent the last major ruptures of the region in 1912 and 1999, respectively. Stars indicate hypocenters of major (M>6.8) earthquakes during the last 2000 years (after Ambraseys, 2002: Parsons, 2004). The white arrow indicated the GPS-derived horizontal motion of the Anatolian plate with respect to stable Eurasia. Die tektonische Situation Die Nordanatolische Verwerfungszone (North Anatolian Fault Zone – kurz NAFZ) ist mit etwa 1600 km Länge eine der großen intrakontinentalen Plattengrenzen der Erde (Barka, 1992). GPS-Messungen des horizontalen Geschwindigkeitsfeldes ergeben aktuell Relativverschiebungen an der NAFZ von 20 bis 25 mm pro Jahr (z. B. McClusky et al., 2000), die sich entlang einer schmalen Naht zwischen der Anatolischen Kontinentalplatte im Süden und Eurasien im Norden manifestieren. An dieser Naht dreht sich die Anatolische Platte zwischen der nordwärts wandernden Arabischen Platte im Kontakt: Marco Bohnhoff (bohnhoff@gfz-potsdam.de) System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.1 Osten und der südwärts gerichteten Bewegung der Hellenischen Subduktionszone im Westen gegen den Uhrzeigersinn. Ausgehend vom Erzincan-Erdbeben in Ostanatolien im Jahr 1939 ist es entlang der NAFZ im Verlauf des letzten Jahrhunderts zu einer systematischen, westwärts gerichteten Abfolge von Starkbeben mit Magnituden >7 gekommen. Die katastrophalen Erdbeben von Izmit (M=7,4) und Düzce (M=7,1) im August und November 1999 (Tibi et al., 2001) markieren aktuell die letzten starken seismischen Ereignisse dieser Serie. Seit 1999 verbleibt damit als letzter seit 1766 nicht aktivierter Bereich entlang der gesamten NAFZ das Segment unterhalb des Marmara-Meeres im Nordwesten der Türkei (Abb. 1). Dieses Segment repräsentiert gegenwärtig eine sogenannte „seismische Lücke“, die sich auf bis zu 140 km Länge zwischen den beiden Rupturen des Ganos-Bebens von 1912 im Westen und des Izmit-Bebens von 1999 im Osten erstreckt. 7 Plattenrandobservatorium Türkei mischen Lücke bestmöglich seismisch zu überwachen und den gegenwärtigen physikalischen Zustand des Marmara-Segments quantitativ zu beschreiben. Mit einem Netz aus dicht gestaffelten Seismometerstationen in geringer Entfernung zur Verwerfung können Mikrobeben erfasst werden, also Erdbeben kleinerer Magnitude (M<2,8), die Aussagen über die Geometrie der Verwerfungszone in der Tiefe und die Lage kritisch gespannter Segmente erlauben. Abb. 2: Ägäisch-Anatolischer Raum mit den wichtigsten tektonischen Kontinentalplatten. Die schwarzen Pfeile geben das horizontale Deformationsfeld aus GPS-Messungen in Relation zu Eurasien an (nach McClusky et al., 2000). Die rote Linie markiert den Verlauf der Nordanatolischen Verwerfungszone (North Anatolian Fault Zone – NAFZ). Die Jahreszahlen geben die Lokationen der Starkbeben im letzten Jahrhundert an. Die Region um das Marmara-Meer (weißer Kasten) ist in Abb. 1 vergrößert dargestellt. Fig. 2: Aegean-Anatolian region with major tectonic plates. Black arrows represent the GPS-derived horizontal velocity field with respect to stable Eurasia (after McClusky et al., 2000). The red line indicates the North Anatolian Fault Zone (NAFZ) extending between eastern Anatolia and the northern Aegean. Numbers represent the years of major (M>7) earthquakes during the 20th century. The white rectangle highlights the Marmara region that is enlarged in Fig. 1. Die seismische Lücke verläuft unmittelbar südlich des Ballungsraums Istanbul mit seinen etwa 14 Millionen Einwohnern und birgt aktuell das Potenzial für ein Erdbeben der Magnitude bis zu 7,5 (Parsons, 2004; Armijo et al., 2005). Das seit 1766 akkumulierte Verschiebungsdefizit entlang des Marmara-Segments beträgt bis zu fünf Meter. Probabilitätsabschätzungen für das Auftreten eines Erdbebens der Magnitude ≥7 bis zum Jahr 2035 liegen je nach Modell zwischen 35 und 70 % (Parsons, 2004). Angesichts der dichten Besiedlung, der konzentrierten Wirtschaftsleistung und der hohen seismischen Gefährdung ist diese Region durch eine verheerende Naturkatastrophe – wie beispielsweise ein großes Erdbeben – besonders verletzbar. Abschätzungen einer von den Vereinten Nationen in Auftrag gegebenen Studie gehen im Fall des Auftretens eines Erdbebens mit der Magnitude M>7 unterhalb des Marmara-Meeres von bis zu 90 000 Opfern und dem Zehnfachen an Obdachlosen aus (Bas & Yagci, 2008). Zudem sind durch historische Beben unterhalb des Marmara-Meeres auch Tsunamis im Bereich Istanbuls mit Wellenhöhen bis zu sechs Meter belegt (Ambraseys, 2002). Messen und analysieren: Wie sieht die Bedrohung aus? Aus geowissenschaftlicher Sicht ist es daher wichtig, den Großraum Istanbul und damit den östlichen Bereich der seis- 8 Trotz der starken sozio-ökonomischen Relevanz und trotz Verdichtung des regionalen, fest installierten türkischen Seismometernetzes seit 1999 lagen bisher keinerlei Langzeitmessungen der Seismizität im Bereich des östlichen Marmara-Meeres und dem Übergangsbereich zwischen der Izmit-Ruptur und dem Marmara-Segment für Magnituden ≤2,8 vor (Erdbebenkatalog des türkischen Seismometernetzes KOERI). Eine zentrale Frage in Bezug auf die Charakterisierung der Verwerfung ist zum Beispiel, ob der Übergangsbereich eine sogenannte seismische Barriere darstellt, an der das erwartete MarmaraBeben möglicherweise seinen Ursprung nehmen könnte. Dies hätte direkte Auswirkungen auf das seismische Gefährdungspotenzial für den gesamten Ballungsraum Istanbul. Weiterhin wird auch die Frage kontrovers diskutiert, ob der Untergrund des Marmara-Meeres von einem einheitlichen Segment der NAFZ durchzogen wird, das als Seitenverschiebung aktiviert werden könnte, oder ob eine Abfolge kleiner Abschiebungsbeben möglich sein könnte. Neben diesen primär seismologischen Fragestellungen stellen Lage und Ausdehnung eines möglichen Starkbebens, die Struktur der Verwerfungszone sowie Aspekte einer optimierten Frühwarnung für Istanbul Hauptmotivationen für die Errichtung des Plattenrandobservatoriums des GFZ an der NAFZ vor Istanbul dar. Das Deutsche GeoForschungsZentrum GFZ ist seit seiner Gründung mit zahlreichen Einzelprojekten in der Türkei, speziell der Region um das Marmara-Meer, aktiv. Basierend auf den langjährigen Erfahrungen und den guten Kooperationsbeziehungen zu lokalen Partnern, speziell zu dem nationalen Erdbebendienst KOERI (Kandilli Observatory and Earthquake Research Institute) in Istanbul, wurde im Jahr 2006 damit begonnen, ein permanentes seismisches Netzwerk auf den Prinzeninseln Sivriada und Yassiada zur seismischen Überwachung der NAFZ im Bereich vor Istanbul zu errichten (Bohnhoff et al., 2007, siehe Abb. 3 a+b). Die in diesem und den beiden folgenden Artikeln vorgestellten Aktivitäten sind Teil des Plattenrandobservatoriums Türkei des GFZ. Ziel ist es, das Marmara-Segment der NAFZ, speziell dessen östlichen Bereich, durch den kombinierten Einsatz verschiedener geowissenschaftlicher Ansätze quantitativ zu beschreiben: Seismologische und geodätische Methoden werden mit numerischer Modellierung verknüpft, die Charakterisierung eines Verwerfungssegments vor und möglicherweise auch während und nach dessen Aktivierung durch ein Erdbeben wird mit ingenieurseismologischen Projekten wie z. B. einer Optimierung der Frühwarnung für Istanbul kombiniert. System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.1 Das Erdbebenrisiko einer Megacity Abb. 3: a) Mikroseismizität entlang des östlichen Marmara-Segments, basierend auf Registrierungen des PIRES-Seismometernetzes (kleine Kreise). Große Kreise markieren Deformationsmechanismen (sogenannte Herdflächenlösungen) der stärkeren seismischen Ereignisse. Das schwarze und das rote Rechteck markieren den in b) und c) gezeigten Ausschnitt. b) Lokation und Stationsverteilung (rote Punkte) des seismischen PIRES-Netzwerks auf den beiden vorgelagerten Prinzeninseln Sivriada und Yassiada. c) Tiefenschnitt des in a) rot markierten SW-NEstreichenden Bereiches mit den Hypozentren, die die beiden Hauptäste der NAFZ unterhalb des östlichen Marmara-Meeres markieren und ab etwa 18 km Tiefe als einheitliche Verwerfung (Master fault) verlaufen. Fig. 3: a) Spatial distribution of microseismicity observed by the PIRES network of seismometers (small circles). Larger circles represent fault plane solution for the larger events that were also seen by regional permanent seismic stations. The black and red rectangles are enlarged in fig. b) and c), respectively. b) Location and station distribution of PIRES stations on the outermost Princes Islands, Sivriada and Yassiada. c) Depth section of the observed microseismicity along the eastern Marmara segment of the NAFZ. The two major fault branches are imaged by hypocenters and interpreted to merge to a master fault below the seismogenic depth (18 km). Thema dieses Beitrags ist die hochauflösende seismische Überwachung der NAFZ vor Istanbul im Übergangsbereich zur Izmit-Ruptur von 1999. Das seismische Netzwerk PIRES Als erster Schritt zur Abschätzung der lokalen mikroseismischen Aktivität wurde Ende 2005 zunächst ein temporäres Netz aus Ozean-Boden-Seismometern (OBS) im östlichen Marmara-Meer ausgebracht. OBS sind auf dem Meeresboden System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.1 stehende Seismometerstationen, die für einen bestimmten Zeitraum positioniert und nach Ende der Messungen wieder eingeholt werden. Mit dem Ziel, den Istanbul vorgelagerten Teil der NAFZ langfristig bei niedriger Magnituden-Detektionsschwelle seismisch zu überwachen, wurde dann im Jahr 2006 damit begonnen, das inselgestützte seismische Netzwerk PIRES (Princes Island high Resolution Earthquake monitoring System) aufzubauen. Dazu wurden zunächst zwei Arrays aus je fünf Stationen auf den beiden vorgelagerten Prinzeninseln Sivriada und Yassiada installiert (Abb. 3b). Beide Inseln befinden 9 Plattenrandobservatorium Türkei sich an der Grenze des kontinentalen Schelfs, etwa 3 km von einem über 1000 m abfallenden submarinen Abhang entfernt, der das Ausstreichen der NAFZ markiert. Das PIRES-Netz wurde an der einzig möglichen Lokation in direkter Nähe zu Istanbul (~15 km) und zum Hauptzweig der NAFZ (~3 km) unterhalb des Marmara-Meeres errichtet. Die seismischen Stationen sind mit kurzperiodischen Seismometern der Eigenfrequenz 1 Hz ausgestattet. Zum Schutz vor Fremdzugriff und aufgrund der unmittelbaren Nähe zur Verwerfung wurden sie in verschlossenen Betonquadern erdbebensicher errichtet. Darüber hinaus wurde eine Station zusätzlich mit einem Beschleunigungssensor ausgerüstet. Die Stromversorgung erfolgt über Solarpaneele. Nach der erfolgreichen ersten Phase wurde PIRES im Jahr 2008 durch zusätzliche Stationen auf den umliegenden Inseln Burgazada und Baliciada erweitert und damit die Apertur des Messnetzes vergrößert. So können jetzt seismische Signale entlang des gesamten zu überwachenden Verwerfungssegmentes mit homogener Magnituden-Detektionsschwelle registriert werden. Mit PIRES soll vor allem die unmittelbar vor den Inseln am Hauptast der Verwerfung auftretende Mikroseismizität erfasst und analysiert werden. Für die Lokalisierung der größeren Ereignisse mit Magnituden >2,8 werden darüber hinaus auch Registrierungen ausgewählter Seismometerstationen des türkischen KOERI-Netzes und des vom GFZ betriebenen ArmutluNetzes (ARNET) auf der Armutlu-Halbinsel (Woith, Baris, pers. comm.) in die Auswertung mit einbezogen, was für die stärkeren Ereignisse zu einer verbesserten Lokalisierungsgenauigkeit führt. ARNET erstreckt sich mit insgesamt 22 seismischen Stationen von der Südküste des Golfs von Gemlik bis an die Südküste des östlichen Marmara-Meeres. Neben seismischen Beobachtungen werden dort auch Fluiddruck und -temperatur gemessen. Die bisher durch PIRES erzielten wissenschaftlichen Ergebnisse konzentrieren sich auf die raum-zeitliche Verteilung der Mikroseismizität vor Istanbul und seismotektonische Aspekte in der Region. 10 Mikroseismizität und seismotektonische Implikationen Durch PIRES gelang erstmals die Erfassung von Mikroseismizität entlang der NAFZ vor Istanbul über einen längeren Zeitraum. Es werden Raten von 20 Beben im Monat für M<2,8 beobachtet, was insgesamt einer niedrigen bis moderaten Aktivität entspricht. Durch den Einsatz moderner Relokalisierungstechniken (Waldhauser und Ellsworth, 2000) gelang eine relative Genauigkeit bei der Bestimmung der Hypozentren von <100 m, was einer Verbesserung um einen Faktor 20 im Vergleich zu Absolutlokalisierungen darstellt (Bulut et al., 2009). Die beobachtete Seismizität weist sowohl räumlich wie auch zeitlich eine starke Häufung, eine sogenannte Clusterung, auf und erlaubt die Identifizierung von lokalen Aktivitätszentren entlang der Verwerfung. Die beobachteten Muster ähneln denen, die an Segmenten der San Andreas-Verwerfungszone in Kalifornien beobachtet werden. NW-SE-streichende, durch die Mikroseismizität belegte Bruchflächen, weisen die gleiche Orientierung auf, wie am Meeresboden erfasste Strukturen, die parallel zum Hauptzweig der NAFZ verlaufen. Während südöstlich Istanbuls reine Seitenverschiebungen beobachtet werden, liegen weiter westlich auch Überschiebungskomponenten vor. Abschiebungsbeben werden hingegen nicht beobachtet, obwohl sie durch eines der beiden regionalen tektonischen Modelle prognostiziert werden. Die beobachtete Kinematik könnte durch die NW-Migration einer Mikroplatte unterhalb des östlichen Marmara-Meeres erklärt werden. Aufgrund der vergleichsweise kurzen bisherigen Beobachtungsperiode wird in diesem Zusammenhang erst die kontinuierlich wachsende Datenbasis weiteren Aufschluss geben können. Die Tiefenverteilung der Erdbeben erstreckt sich über den gesamten seismogenen Bereich. Sie erlaubt erstmals, den Verlauf der Hauptzweige der NAFZ direkt durch Seismizität abzubilden. Dabei deutet sich eine Konvergenz der einzelnen Segmente zu einer einheitlichen Verwerfung unterhalb von etwa 18 km an, d. h. erst unterhalb der seismogenen Zone (Abb. System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.1 Das Erdbebenrisiko einer Megacity 3c). Zeitliche Aktivitätsmaxima erreichen Raten von mehr als 70 Erdbeben innerhalb von 18 Stunden und repräsentieren raum-zeitliche Cluster, die sich auf wenige Quadratkilometer große Flächen entlang der Verwerfung konzentrieren (Abb. 3a). Dabei übersteigen die kumulativen Magnituden dieser Aktivitätsmaxima jedoch nicht die durchschnittlich pro Zeit freigesetzte seismische Energie und deuten somit eher Schwarm aktivität als Haupt- und Nachbebensequenzen an. Anders als zunächst vermutet, repräsentieren die Mikroerdbeben der Erdbeben-Cluster zudem keine Mehrfachaktivierung derselben Bereiche, sogenannte „seismische Repeater“. Vielmehr findet in den Aktivitätszentren selbst eine sukzessive Verlagerung der Mikroerdbeben hin zu geringeren Tiefen statt, was durch lokale tektonische Prozesse, aber z. B. auch durch aufsteigende Fluide erklärt werden kann (Bulut et al., 2009). Schlussfolgerungen und Ausblick Durch die PIRES-Messkampagne im Rahmen des GFZ-Plattenrandobservatoriums Türkei konnte erstmals Mikroseismizität entlang der östlichen seismischen Lücke unterhalb des Marmara-Meeres über einen längeren Zeitraum beobachtet werden. Die eingesetzten seismologischen Array-Verfahren in Kombination mit modernen Relokalisierungstechniken erlauben eine im Vergleich zu bestehenden Erdbebenkatalogen um den Faktor 20 genauere Lokalisierung der Hypozentren von Mikroerdbeben entlang der NAFZ im östlichen Marmara-Meer. Die unterhalb des Cinarcik-Beckens beobachtete Mikroseismizität weist starke raumzeitliche Clusterung auf. Dies deutet an, dass die tektonisch aufgestaute elastische Verformung entlang des Hauptzweigs der NAFZ vor Istanbul nur lokal und partiell abgebaut wird. Weite Teile der Verwerfung verhalten sich bis hinunter zu Magnituden um 1,5 seismisch inaktiv. Daraus kann abgeleitet werden, dass sich in diesem Bereich seit dem letzten großen Beben 1766 verstärkt Spannungen aufgestaut haben, falls sich die bisherigen Ergebnisse aus einem Beobachtungszeitraum von knapp zwei Jahren auf einen längeren Zeitraum übertragen lassen. Bisher wurden fast ausschließlich Seitenverschiebungs-Bruchmechanismen beobachtet. Abschiebungsmechanismen haben im Beobachtungszeitraum offensichtlich keine Rolle gespielt. Dies macht vor dem Hintergrund der dort vorherrschenden, durch Dehnungsprozesse entstandenen Beckenstruktur deutlich, dass die dominierenden Verschiebungsmechanismen an den Verwerfungssegmenten auch zeitlich variieren können. Diese Beobachtungen liefern wichtige Beiträge nicht nur in Bezug auf die beiden konträren seismotektonischen Modelle für die Region, sondern vor allem für die aus den Beobachtungen abzuleitenden Gefährdungsszenarien für die Megacity Istanbul. Durch eine kürzlich erfolgte und hier noch nicht berücksichtigte Erweiterung des PIRES-Netzes sowie durch den geplanten Aufbau eines bohrlochgestützten geophysikalischen Tiefenobservatoriums (GONAF-Projekt) wird eine weitere Herabsetzung der Magnituden-Detektionsschwelle erfolgen, die die Qualität und System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.1 Quantität der erfassten Mikroseismizität vor Istanbul nochmals um etwa eine Größenordnung verbessern wird. Zudem stehen PIRES-Registrierungen in unmittelbarer Nähe zur NAFZ dem Frühwarnsystem Istanbuls zur Verfügung, das eine verbesserte Erdbeben-Frühwarnung im Bereich des Marmara-Meeres zum Ziel hat und damit wichtige Beiträge im Rahmen der Daseinsvorsorge für diese sensitive Metropol-Region leistet. Literatur Ambraseys, N.N. (1970): Some characteristic features of the Anatolian fault zone. – Tectonophysics, 9, 2-3, 143-165, 10.1016/0040-1951(70)90014-4 Armijo, R., Pondard, N., Meyer, B., Uçarkus, G., Mercier de Lépinay, B., Malavieille, J., Dominguez, S., Gustcher, M.-A., Schmidt, S., Beck, C., Çagatay, N., Çakir, Z., Imren,C., Eris, K., Natalin, B., Özalaybey, S., Tolun, L., Lefèvre, I., Seeber, L., Gasperini, L., Rangin, C., Emre, O., Sarikavak, K. (2005): Submarine fault scarps in the Sea of Marmara pull-apart (North Anatolian fault): Implications for seismic hazard in Istanbul. – Geochemistry, Geophysics, Geosystems, 6, 6, Q06009, 10.1029/2004GC000896 Barka, A. A. (1992): The North Anatolian Fault. - Annales Tectonicae, 6,Supplement, 164-195. Baş, M., Yağci, M. Ö. (2008): Disaster Prevention Mitigation Studies for a Safer Urban Life Measures for Preventing Disaster of Istanbul Metropolitan Municipality. – In: Erdik, M. and Zschau, J. (Eds.), Megacity Istanbul Megacity Project Reports, Municipality Disaster Management Center (AKOM), Istanbul, Turkey (http://www.cedim.de/ download/Megacity_Istanbul_Final_Report2008.pdf). Bohnhoff, M., Bulut, F., Aktar, M., Childs, D. M., Dresen, G. (2007): The North Anatolian Fault zone in the broader Istanbul/Marmara region: monitoring a seismic gap, (EOS, Transactions, American Geophysical Union, Suppl., 88 (52), vol. 2), AGU 2007 Fall Meeting (San Francisco 2007) Bulut, F., Bohnhoff, M., Ellsworth, W. L., Aktar, M., Dresen, G. (2009): Microseismicity at the North Anatolian Fault in the Sea of Marmara offshore Istanbul, NW Turkey. – Journal of Geophysical Research, 114, B09302, 10.1029/2008JB006244 McClusky, S., Balassanian, S., Barka, A., Demir, C., Ergintav, S., Georgiev, I., Gurkan, O., Hamburger, M., Hurst, K., Kahle, H., Kastens, K., Kekelidze, G., King, R., Kotzev, V., Lenk, O., Mahmoud, S., Mishin, A., Nadariya, M., Ouzounis, A., Paradissis, D., Peter, Y., Prilepin, M., Reilinger, R., Sanli, I., Seeger, H., Tealeb, A., Toksöz, M. N., Veis, G. (2000): Global Positioning System constraints on plate kinematics and dynamics in the eastern Mediterranean and Caucasus. – Journal of Geophysical Research, 105, B3, 5695-5719, 10.1029/1996JB900351 Parsons, T. (2004): Recalculated probability of M≥7 earthquakes beneath the Sea of Marmara, Turkey. – Journal of Geophysical Research, 109, B05304, 10.1029/2003JB002667 Tibi, R., Bock, G., Xia, Y., Baumbach, M., Grosser, H., Milkereit, C., Karakisa, S., Zünbül, S., Kind, R., Zschau, J. (2001): Rupture processes of the 1999 August 17 Izmit and November 12, Düzce (Turkey) earthquakes. – Geophysical Journal International, 144, 2, F1-F7, 10.1046/j.1365246x.2001.00360.x Waldhauser, F., Ellsworth, W. L. (2000): A double-difference earthquake location algorithm: Method and application to the northern Hayward fault, California. – Bulletin of the Seismological Society of America, 90, 6, 1353-1368, 10.1785/0120000006 11 Plattenrandobservatorium Türkei Computersimulation der Plattenbewegungen südlich von Istanbul Oliver Heidbach 1, Tobias Hergert 2, Gottfried Grünthal 1 Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Potsdam, 2 Geophysikalisches Institut, Karlsruher Institut für Technologie (KIT) 1 The Izmit earthquake of August 1999 with a magnitude 7.4 is the latest of an earthquake sequence that started in 1939 in Eastern Turkey. This sequence brought the plate boundary between the Anatolian plate and the Eurasian plate successively from East to West to fail. Thus, the next event in this series is expected to take place West of Izmit, i.e. South of Istanbul under the Marmara Sea. This segment is a so-called seismic gap – the stresses resulting from the plate motion have not been released since the last major earthquake in 1766. One important parameter for earthquake hazard assessment is the slip rate along plate boundaries. However, the precise estimation of these fault slip rates is difficult to determine in this area for two reasons. The plate boundary under the Marmara Sea is split into several splays with complex geometries. Furthermore, the main part of this fault system is below the Marmara Sea and classical observation methods cannot be applied. In order to estimate the fault slip rates a computer simulation is necessary. The simulation results show that the slip rate along the main fault is 10 to 45 % smaller than previously assumed and that it varies along the main fault by 40 %. The latter indicates that the accumulated stresses at this fault will potentially not be released with one strong earthquake, but in several events with smaller magnitude. However, it is important to emphasise that Istanbul, situated at a short distance to the main fault (15 km), still faces a very high seismic hazard. 12 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.2 Computersimulation der Plattenbewegungen südlich von Istanbul Migration der Erdbeben und aktuelles Risiko Im August 1999 ereignete sich ein schweres Erdbeben der Magnitude 7,4 in der Nordwesttürkei, das mehrere Wochen im Medieninteresse stand. Umgestürzte Wohnblocks, verbogene Eisenbahnschienen und die tagelang brennende Raffinerie von Izmit sind bleibende Eindrücke dieser Naturkatastrophe. In den umliegenden Dörfern erinnert heute fast nichts mehr an diese Katastrophe. Die wieder eingekehrte Normalität kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch unter dem Marmara-Meer in absehbarer Zukunft ein ähnliches Erdbeben ereignen kann. Durch die Stadt Izmit am östlichen Rand des Marmara-Meeres verläuft die Nordanatolische Verwerfung, die sich unterhalb des Meeres fortsetzt. Entlang dieser Verwerfung bewegen sich die Anatolische und die Eurasische Platte mit etwa 25 mm pro Jahr aneinander vorbei (Abb. 2). Dem Izmit-Beben war im Lauf des vorigen Jahrhunderts eine Reihe von schweren Erdbeben vorausgegangen, die 1939 im Osten Anatoliens begann und mit dem Izmit-Erdbeben 1999 zunächst endete. Würde sich diese Serie fortsetzen, so stünde ein Erdbeben unterhalb des Marmara-Meeres bevor. Der zentrale Abschnitt der Verwerfung hat sich seit dem letzten Starkbeben im Marmara-Meer im Jahr 1766 verhakt und baut kontinuierlich Spannung auf (Hergert & Heidbach, 2010). Dies ist besorgniserregend, da die einzige europäische Metropole Istanbul mit seinen etwa 14 Millionen Einwohnern nur 15 Kilometer von der Verwerfung entfernt am nördlichen Rand des MarmaraMeeres liegt. Da etwa 50 % des Bruttoinlandprodukts der Türkei im Großraum Istanbul erwirtschaftet werden, müsste im Fall eines Starkbebens neben dem möglichen Verlust vieler Menschenleben auch mit erheblichen Auswirkungen auf die Ökonomie der gesamten Türkei gerechnet werden (Erdik et al., 2004). Eine exakte zeitliche Vorhersage des nächsten Erdbebens ist auch mit aufwändigen Computersimulationen, umfangreichen Beobachtungsdaten der Plattenbewegung, der Seismizität und physikalischer Parameter nicht möglich. Kennt man jedoch die Struktur des Untergrunds, können daraus Modelle erstellt werden, welche die Bewegungsraten entlang der Plattengrenze mit hoher Genauigkeit vorhersagen. Mit diesen Daten kann die Lage und Stärke des zukünftigen Bebens abgeschätzt werden. Diese Ergebnisse fließen wiederum in Modelle ein, welche die Schadenswirkung des zukünftigen Bebens auf die Infrastruktur der Stadt simulieren – eine wichtige Grundlage für die Berechnungen der seismischen Lastannahmen für erdbebengerechte Baunormen am GFZ (Grünthal et al., 2009; Grünthal, 2005), die entsprechende Verstärkung von Gebäuden, Vorbereitungen für den Notfall sowie das Katastrophen-Management (Erdik et al., 2004). Abb. 1: Koseismischer Versatz einer Mauer in der Stadt Gölcük 10 km südwestlich von Izmit nach dem Izmit-Erdbeben 1999 mit einer Magnitude von 7,4. Fig. 1: Coseismic displacement of a wall in the citiy of Gölcük about 10 km southwest of Izmit due to the 1999 Izmit earthquake with magnitude 7.4. Kontakt: Oliver Heidbach (heidbach@gfz-potsdam.de) System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.2 Eine Basisgröße zur Abschätzung der Stärke des möglichen zukünftigen Bebens ist die Bewegungsrate entlang der Plattengrenze. Die Bewegungsrate bestimmt auch die Wiederkehrrate von Starkbeben und ist somit eine wichtige Eingangsgröße für die Methoden der seismischen Gefährdungsabschätzung, die am GFZ entwickelt und eingesetzt werden. Die exakte Bestimmung dieser Bewegungsraten in der Region südlich von Istanbul ist aber aus zwei Gründen besonders schwierig: Zum einen ist die Plattengrenze in dieser Region in ein komplexes System tektonischer Verwerfungen aufgeteilt (Abb. 2b). Zudem entzieht sich die Region direkten Beobachtungsmethoden, da ein Großteil der Plattengrenze unter dem Marmara-Meer liegt. Die Bewegungsraten können daher nur über eine dreidimensionale Computersimulation bestimmt werden. 13 Plattenrandobservatorium Türkei 44° 44° 20° 24° 32° 20 mm/Jahr 24° 20°GPS-Geschwindigkeiten 32° Eu Eurasische 20 mm/Jahr GPS-Geschwindigkeiten Platte 36° Schw warzes M eer 36° Anatolische Pl t Platte ni sc he r He lle ni sc he r 32° Östliiches Mittelmeer Afrikanische Platte 32° Tote Mee Tote Meer Verwe r Verwerf rfung ung 36° Östliiches Mittelmeer 24° 20°Afrikanische 28° 32° 36° Platte 24° 20° 28° 32° 28° 41.0° 40.6° Tekirdag girda Tek cken e B - 1912 nos g Ga erfunTekirdag w Ver girda Tek cken Be - 1912 nos g Ga erfun w Ver b 40.6° 36° 36° Arabische Platte Arabische 40° Platte 44° 40° 44° 29° 30° bul 28° 20 mm/Jahr GPS-Geschwindigkeiten 29° Zentrales Becken erfung rw Hauptve Zentrales M arma Becken g ramue ererwerfun ptv Ha Cin rc Be aIs cke tika - nb ul n Cin Be arcik cke n rameer 30° 20 mm/Jahr Izmit GPS-Geschwindigkeiten Izmit Bucht Yalova 29° 41.0° 41.0° Gölcük 1999 40.6° Izmit Bucht Yalova Marma 28° 40° he isc tol ng a tan rfu Os erwe V he lisc g o t a n tan rfu Os erwe V 36° Istan 41.0° 44° 40° Anatolische Pl t Platte lle 36° 44° 44° Schw warzes Meer Eurasische Eu Platte He 44° Izmit Gölcük 1999 40.6° 30° b Abb. 2: Geodynamik des östlichen Mittelmeerraums und des Marmara-Meeres südlich von Istanbul. Blaue Pfeile zeigen die GPS-Geschwindigkeiten relativ zur Eurasischen Platte (Reilinger et al. 2006). a) Graue Pfeile zeigen die Bewegungen der tektonischen Platten relativ zur Eurasischen Platte. Die orange Linie markiert bis 1999, die 28° die Nordanatolische Verwerfung; die gelben 29° Sterne zeigen die Bebenserie von 1939 30° die Nordanatolische Verwerfung mit elf Starkbeben sukzessiv von Ost nach West zum Versagen brachte. Schwarze Linien markieren die Plattengrenzen; das rote Rechteck markiert das Modellgebiet. b) Detailkarte der Marmara-Meer-Region, die das Modellgebiet mit dem komplexen Verwerfungssystem darstellt. Orange Linien und Sterne mit Jahreszahlen markieren die Abschnitte der Hauptverwerfung an der zuletzt Beben stattgefunden haben. Der zentrale Abschnitt hat sich seit 1766 verhakt. Fig. 2: Geodynamic of the eastern Mediterranean and of the Marmara Sea south of Istanbul. Blue arrows show the GPS velocities relative to the Eurasia plate taken from Reilinger et al. (2006). a) Grey arrows indicate the movement of the tectonic plates relative to theEurasia plate. Orange line denotes the North-Anatolian fault; yellow stars mark the earthquake series of 1939-1999 that ruptured the North-Anatolian fault with 11 subsequent earthquakes from east to west. Black lines denote the plate boundaries; red box indicates the model area. b) Detailed tectonic map of the Marmara Sea region with the complex fault system. Orange lines and stars with years attached denote the parts of the main fault that had an earthquake. The central segment is locked since 1766. 14 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.2 Computersimulation der Plattenbewegungen südlich von Istanbul Abb. 3: Modellgeometrie. a) Die dunkelblaue Fläche variiert zwischen 26 km und 35 km Tiefe und markiert den Verlauf der Fläche zwischen Kruste und Mantel. Rote Flächen beschreiben das Verwerfungssystem mit Neigungen zwischen 70° und 90°. b) Die hellblaue Fläche zeigt die Oberkante des Grundgebirges in 0 bis 6 km Tiefe. c) Gelb eingefärbt ist die Sedimentfüllung der Becken mit einer Mächtigkeit von 0 bis 5 km. d) Diskretisierung mit 640 000 finiten Elementen Fig. 3: Model geometry. a) Dark blue surface varies between 26 km and 35 km depth and marks the layer that separates the mantle from the crust. Red surfaces indicate faults that dip between 70° and 90°. b) Light blue layer shows the basement surface at 0-6 km depth. c) Yellow is the sediment infill of 0‑5 km thickness. d) Discretization with 640,000 finite elements Zur Untersuchung der erdbebenverursachenden Prozesse und zur Entwicklung von Maßnahmen, die das Risiko von Erdbebenschäden in Istanbul mindern, wurde im Rahmen von CEDIM, dem Center of Disaster Management and Risk Reduction Technology, einer gemeinsamen Initiative des GFZ und KIT, das Projekt Megacity Istanbul etabliert. Die Risikominderung in den stetig wachsenden urbanen Ballungsräumen ist ein zentrales Forschungsthema am GFZ (vgl. dazu den Beitrag von Lühr et al. in diesem Heft). Geodynamik der Region Eine Ursache für die Bewegungsraten an den Verwerfungen im Marmara-Meer ist eine Rotationsbewegung der Anatolischen Platte gegen den Uhrzeigersinn relativ zur Eurasischen Platte (Abb. 2a). Die Geschwindigkeit nimmt dabei von Ost nach West von etwa 25 mm/Jahr in Ostanatolien auf bis zu 38 mm/Jahr in der südlichen Ägäis zu. Die Antriebskräfte für diese Plattenbewegung sind die Druckkräfte der Kollision der Arabischen Platte mit Eurasien im Osten sowie Zugkräfte aufgrund der nach Süden zurückweichenden Subduktionszone am Hellenischen Bogen (Heidbach & Drewes, 2003). Als Resultat dieser Plattenrandkräfte verschieben sich die Anatolische und die Eurasische Platte entlang der Nordanatolischen Verwerfung horizontal gegeneinander. Diese Relativbewegung findet jedoch nicht kontinuierlich statt. In der Region südlich von Istanbul haben sich die beiden Platten seit 1766 verhakt. So konnten sich hier seit über 240 Jahren Scherspannungen aufbauen, die bei Überschreiten der Scherfestigkeit des Gesteins abrupt abgebaut werden und so zu einem Erdbeben führen. Nach dem Erdbeben 1999 von Izmit starteten umfangreiche Untersuchungen mit internationaler Beteiligung mit dem Ziel, den bisher nur wenig bekannten Untergrund des Marmara-Meeres zu erforschen (Laigle et al., 2008; Bécel et al., 2009). Mithilfe seismischer Tomographie wurde das Abb. 4: Kinematische Ergebnisse der Computersimulation. a) Die Geschwindigkeiten aus dem Modell mit verhakten Verwerfungen zeigen eine sehr gute Übereinstimmung mit den GPS-Geschwindigkeiten. Die simulierten Bewegungsraten der Verwerfungen weisen eine signifikante laterale Variation auf. b) Die vertikalen Bewegungsraten bilden die Beckenstruktur in der Bathymetrie hervorragend ab. Fig. 4: Kinematic Results of the computer simulation. a) The velocities from the model with locked faults are in good agreeement with the GPS velocities. The simulated fault slip rates show significant lateral variation. b) The vertical displacments resemble the basin structure as observed in the bathymetry remarably well. System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.2 15 Plattenrandobservatorium Türkei Relief des Meeresgrundes erkundet, das hier durch tiefe Becken und untermeerische Hänge geprägt ist, an denen der Meeresboden bis zu einem Kilometer steil abfällt. Abgesunkene und verkippte Grundgebirgsblöcke sowie mit kilometermächtigen Sedimentablagerungen gefüllte Becken (Abb. 2b) zeugen eindrücklich von der tektonischen Aktivität in dem Netzwerk geometrisch komplexer Verwerfungen. Die Struktur dieses Verwerfungssystems ist die wichtigste Eingangsgröße für ein Computermodell, das die Bewegungsraten simuliert. Ändern sich Richtung und Neigung der Verwerfungen, so beeinflusst dies die Bewegungsraten maßgeblich und somit auch die seismische Gefährdungsabschätzung. Aufbau der Computersimulation Wesentliches Ziel der hier vorgestellten Computersimulation ist es, die Bewegungsraten des gesamten Verwerfungssystems unter dem Marmara-Meer zu berechnen. Das Computermodell wird in vier aufeinander folgenden Schritten aufgebaut: (1) Zunächst wird die dreidimensionale Geometrie des Modellgebiets erstellt. Hierzu gehören die verschiedenen Abschnitte der Verwerfungen und die Verschneidung mit den horizontalen Flächen (Abb. 3a‑c). Dem Modell werden dann die aus den seismischen Experimenten abgeleiteten elastischen Parameter und die Gesteinsdichte zugeordnet. (2) Im zweiten Schritt werden an dem Modellrand die kinematischen Randbedingungen definiert, die Kräfte durch die Auflast des Wassers des Marmara-Meeres und die Wirkung der Schwerkraft auf die im Modellgebiet vorhandenen Gesteinsschichten bestimmt. (3) Im dritten Schritt wird das Gleichgewicht aller im Modell wirkenden Kräfte berechnet. Die Gesteinsblöcke verschieben und deformieren sich dabei in Abhängigkeit der elastischen Eigenschaften, bis sich ein Kräftegleichgewicht eingestellt hat. Dieses Gleichgewicht wird über eine mathematische Gleichung, eine partielle Differentialgleichung, berechnet. Da nur für sehr einfache Modelle eine analytische Lösung existiert, muss eine numerische Näherungslösung bestimmt werden. Hierzu wird das Modellgebiet in eine Vielzahl von Tetraedern unterteilt; hier sind es 640 000 einzelne Elemente (Abb. 3d). Diese sogenannten finiten Elemente sind an den Ecken, den Knotenpunkten, miteinander verknüpft. Für diese Knotenpunkte kann eine diskrete Lösung berechnet werden. Gebiete, in denen man große Deformationsraten vermutet, werden fein unterteilt, an den Rändern wird das Netz dagegen weitmaschiger angelegt. (4) Im vierten Schritt wird das Ergebnis der Computersimulation mit modellunabhängigen Beobachtungen wie z. B. GPS-Geschwindigkeiten oder geologischen Absenkungsraten verglichen. Die freien Modellparameter (Reibungskoeffizient und elastische Eigenschaften) sowie die Randbedingungen des Modells werden dann entsprechend verändert, bis die Modellergebnisse zufriedenstellend gut an die modellunabhängigen Beobachtungen angepasst sind. 16 Ergebnisse der Computersimulation Die Computersimulation der Bewegungsraten innerhalb des Verwerfungssystems zeigt, dass diese an der Hauptverwerfung im Marmara-Meer im Vergleich zu früheren Simulationen von Meade et al. (2002), Flerit et al. (2004) und Reilinger et al. (2006) 10 bis 45 % geringer sind. Die zum Teil erheblichen Abweichungen sind auf die im vorliegenden Modell wesentlich detaillierter implementierte Verwerfungsgeometrie zurückzuführen (Hergert & Heidbach, 2010). Weiterhin zeigen die Ergebnisse eine hohe laterale Variation der Bewegungsraten entlang der Hauptverwerfung von 12,8 mm/Jahr bis 17,8 mm/Jahr (Abb. 4). Daraus lässt sich schließen, dass ein kritischer Spannungszustand entlang der Verwerfung zu unterschiedlichen Zeitpunkten erreicht wird. Dies hätte zur Folge, dass sich die aufgestauten Scherspannungen abschnittsweise in mehreren kleinen Erdbeben mit kleiner Magnitude entladen und nicht in einem großen, das die gesamte seismische Lücke zum Versagen bringt. Bedeutung für Istanbul Trotz der geringeren Bewegungsraten, die aus unserem Modell resultieren, und der trotz postulierten Segmentierung kann ein zukünftiges Beben im Marmara-Meer nach dieser Computersimulation im Magnitudenbereich M >7 liegen. Bezieht man in die Gefährdungsabschätzung mögliche Ausbreitungseffekte mit ein, wie z. B. eine Verstärkung der seismischen Wellenamplitude und Standorteffekte sowie die geringe Entfernung der Stadt von der Verwerfung, so ist Istanbul nach wie vor eine Megacity mit sehr hoher seismischer Gefährdung. Ziel der neuen Computersimulationen, die am GFZ mit diesem geomechanischen Modell derzeit durchgeführt werden, ist es, verschiedene mögliche Szenarien von zukünftigen Erdbeben zu modellieren. Kombiniert man diese Szenariobeben mit Ausbreitungseffekten von seismischen Wellen, können daraus Prognosen über mögliche Schäden und konkrete Maßnahmen zur Risikominderung abgeleitet werden, eine der großen Herausforderungen der Forschung am GFZ. Danksagung Dieses Projekt wurde im Rahmen von CEDIM (Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology) gefördert. Außerdem danken wir der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, dem DFG-Sonderforschungsbereich 461 Starkbeben und der Task Force VII des Internationalen Lithosphärenprogramms für zusätzliche finanzielle Unterstützung. Weiterhin danken wir den Firmen Altair und Simulia für die Campus-Lizenzen der Softwarepakete HYPERMESH™ und ABAQUS™. Ein besonderer Dank geht an Herrn Prof. Alfred Hirn, Frau Dr. Anne Becél und Frau Dr. Mireille Laigle vom Institut de Physique du Globe de Paris (IPGP) für die Bereitstellung der Daten aus dem Seismarmara Experiment Leg-1 und hilfreiche Diskussionen. System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.2 Computersimulation der Plattenbewegungen südlich von Istanbul Literatur Bécel, A., Laigle, M., de Voogd, B., Hirn, A., Taymaz, T., Galvé, A., Shimamura, H., Murai, Y., Lépine, J.-C., Sapin, M. & Özalaybey, S. (2009): Moho, crustal architecture and deep deformation under the North Marmara Trough, from the Seismarmara Leg1 offshore-onshore reflection-refraction survey. – Tectonophysics, 467,1-4, 1-21, 10.1016/j. tecto.2008.10.022 Erdik, M., Demircioglu, M., Sesetyan, K., Durukal, E., Siyahi, B. 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System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.2 17 Plattenrandobservatorium Türkei Sekunden für Istanbul Vorhersage der Erdbeben-Bodenbewegung Birger-Gottfried Lühr 1, Claus Milkereit 1, Stefano Parolai 1, Matteo Picozzi 1, Heiko Woith 1, Angelo Strollo 1, Mustafa Erdik 2, Atilla Ansal 2, Jochen Zschau 1 1 Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Potsdam, 2 Bogazici University, Istanbul The megacity Istanbul, the economical capital of Turkey, with more than 10 million inhabitants is exposed to a significant earthquake risk since the level of ground motion due to a possible earthquake in this area and the vulnerability of the building stock are high. Therefore, several projects have focused their attention on the estimation of seismic hazard and seismic risk for Istanbul. Among others, the CEDIM: Megacity Istanbul project, the SAFER (Seismic eArly warning For EuRope), and EDIM (Earthquake Data Information system for the Marmara Sea, Turkey) contributed to improve seismic hazard assessment. In particular the application of the microzonation method allows both the estimation of the fundamental resonance frequency, and of soil velocity profiles by means of using seismic noise analysis. The results highlight areas that might be prone to ground motion amplification. The SAFER and EDIM projects allowed the development and installation of an innovative Self-Organising Seismic Early Warning Information Network (SOSEWIN) that also allows for monitoring of the vibration characteristics and dynamic properties of strategic civil infrastructures, as validated by performing tests on the Fatih Sultan Mehmet Bridge. With our improved knowledge a realistic earthquake scenario with strong ground motion can be derived, as a basis for predicting such movement during an earthquake and with the help of an early warning system the people of Istanbul can be warned before the strong Swaves arrive. 18 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.3 Sekunden für Istanbul Abb. 1: Seit den 1930er-Jahren ereigneten sich starke Erdbeben entlang der Nordanatolischen Verwerfung, die wahrscheinlich nach Westen und damit auf Istanbul zu wandern. Es ist bekannt, dass Istanbul in der Vergangenheit von Erdbeben schwer getroffen wurde. Fig. 1: Since the 30’s of the last century a series of earthquakes have occurred along the North Anatolian Fault Zone apparently migrating from the east to the west towards Istanbul. It is known from history that Istanbul was hit by strong earthquakes in the past. Istanbul zählt zu den derzeit über 30 Industriemetropolen der Welt mit mehr als fünf Millionen Einwohnern. Ende der 90erJahre lag die Einwohnerzahl schon bei neun Millionen. Zurzeit wächst dieses ökonomische und kulturelle Zentrum der Türkei um ca. 300 000 Einwohner pro Jahr. Aufgrund der Nähe der Metropole zur Nordanatolischen Verwerfung besteht ein hohes seismisches Gefährdungspotential. Die seismische Gefährdung in Verbindung mit der Vulnerabilität der Gesellschaft und ihrer Infrastruktur (Gebäude, Versorgungsleitungen, Tunnel, Brücken, etc.) ergibt ein hohes seismisches Risiko. Dies gilt es zu reduzieren, um zukünftig katastrophale Auswirkungen eines Erdbebens möglichst gering zu halten oder zu vermeiden. Eine Herabsetzung der Vulnerabilität kann man erreichen, in dem einerseits Verhaltensmaßnahmen während eines Bebens und Hilfsmaßnahmen nach einem Ereignis vorbereitet und eingeübt werden, andererseits z. B. auf eine erdbebensichere Bausubstanz und Infrastruktur geachtet wird. Auch kann mit Frühwarnsystemen bei Erdbeben gewarnt werden. Der gewonnene zeitliche Handlungsspielraum ist nicht groß, es handelt sich vielleicht nur um Sekunden, die jedoch entscheidend sein können, um Menschenleben zu retten und die Schadenswirkung zu minimieren. Die Erfahrung zeigt, dass der primäre Schaden durch die Erschütterung selbst oft nur gering ist, im Vergleich zum sekundären Schaden, zumeist als Ergebnis von Bränden. Solange die zerstörerischen Bebenwellen noch nicht angekommen sind, ist die Infrastruktur noch intakt, so dass automatische Systeme beispielsweise Gasleitungen abschnittsweise sperren, Ampeln vor Brücken auf Rot schalten, Hochgeschwindigkeitsbahnen anhalten und gefährliche industrielle Prozesse herunterfahren können. Erdbeben lassen sich mit unserem heutigen Wissen nicht vorhersagen, jedoch können Erdbebenherde schon sehr schnell detektiert werden. Aus den registrierten ersten Wellenzügen eines Erdbebens lässt sich zudem die maximale Bodenbewegung für einen Ort an der Erdoberfläche abschätzen. Hierfür sind Kenntnisse der geophysikalischen Erdkrustenparameter in der Region sowie Informationen über die Reaktion des flachen Untergrunds auf durchlaufende Erdbebenwellen, d. h. die lokalen Standorteffekte, notwendig. Betrachtet man die seismische Aktivität entlang der Nordanatolischen Verwerfung (NAFZ) über die letzten 70 Jahre, so zieht sich eine Serie starker Erdbeben vom Osten der Türkei westwärts wandernd (Abb. 1) bis hin zu den Erdbeben von 1999 östlich von Istanbul. Für den Abschnitt des Marmara-Meeres südlich von Istanbul ergibt sich danach eine seismische Lücke, die ein Erdbeben der Magnitude 7 bis 8 wahrscheinlich macht. Aufgrund der Komplexität des Verwerfungssystems im Marmara-Meer kann zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht vorhergesagt werden, welche Magnitude das Beben letztendlich haben wird, auch nicht, wo das Epizentrum genau liegen und wie sich der Bruch ausbreiten könnte (Hergert & Heidbach 2010, vgl. dazu den Beitrag von Heidbach et al. in diesem Heft). Untersuchungen von Erdbebenszenarien für das Marmara-Meer ergaben, dass die seismische Gefährdung und damit die zu erwartenden Beschleunigungswerte bei einem starken Beben 0,4 g bis 0,6 g im Istanbuler Stadtgebiet erreichen können (Erdik & Durukal, 2007), weshalb unter den derzeitigen Gegebenheiten mit einigen Zehntausend Todesopfern und mit dem Zehnfachen an Verletzten gerechnet werden muss. Entsprechend groß ist auch der Schaden an Gebäuden und Infrastruktur sowie der Bedarf an neuen Unterkünften in diesem Szenario. Da die Stärke des zu erwartenden Bebens nicht abgeschätzt werden kann, liefern Methoden wie die Mikrozonierung zur Bodenklassifizierung in der Großstadt, die Vorhersage der Gebäudereaktion während eines Erdbebens und die schnelle Bestimmung der Erdbebenstärke aus den P-Wellen für die Frühwarnung wichtige Daten zum Gefährdungspotenzial Istanbuls. Kontakt: Claus Milkereit (claus.milkereit@gfz-potsdam.de) System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.3 19 Plattenrandobservatorium Türkei Mikrozonierung und Erdbebenrisiko Damit die Folgen eines starken Erdbebens für Istanbul abgeschätzt werden können, sind einerseits Maßnahmen zur Erfassung der Gebäude- und Infrastrukturgüte (Bommer et al., 2002) und andererseits zur Verbesserung der Datengrundlage für eine Berechnung lokaler Standorteffekte nötig. Standorteffekte beschreiben das Schwingungsverhalten des Untergrunds bei einem Erdbeben in Abhängigkeit von der lokalen Geologie und Morphologie. Die Variation der oberflächennahen Geologie im Stadtgebiet wird daher durch das Kandilli-Observatorium und die Stadt Istanbul in Kooperation mit internationalen Partnern kartiert und die elastischen Eigenschaften der oberflächennahen Sedimente z. B. durch flachgründige Bohrungen oder oberflächennahe geophysikalische Messungen ermittelt. Die Amplitude oder Stärke der Bodenbewegung an einem Ort der Erdoberfläche nimmt mit der Entfernung zum Bebenherd ab. Die maximal zu erwartende Amplitude der Bodenbeschleunigung an einem Ort, bezogen auf ein Beben einer bestimmten Magnitude, wird regional über empirische Beziehungen ermittelt, die aus Nachbebendaten der Deutschen Task Force für Erdbeben des GFZ nach dem Izmit-Erdbeben (Magnitude 7,4) vom 17. August 1999 für diese Region gewonnen werden konnten (Bindi et al., 2007). Diese makroseismischen Beziehungen gelten zwar nur eingeschränkt für Magnituden im Bereich 0,5 bis 5,9 und für den Frequenzbereich von 1 Hz bis 10 Hz, sie sind jedoch die derzeit fundiertesten für diese Region. Nach dem Erdbeben von 1999 wurde eine lokal sehr unterschiedliche Schadensverteilung im Raum Istanbul festgestellt. So wurden insbesondere im westlichen Stadtteil von Istanbul Schäden beobachtet, die anscheinend auf Standorteffekte und nur zum Teil auf schlechte Bausubstanz zurückzuführen waren. Als Grundlage für eine realistische Einschätzung des lokalen seismischen Risikos wurde eine geophysikalische Klassifizierung der Sedimente im schon bebauten und geplanten Stadtgebiet vorgenommen. Mit dieser sogenannten Mikrozonierung wird lokal der geologische Einfluss auf durch Erdbeben verursachte Bodenerschütterungen erfasst. Zur Überprüfung dieses Sachverhalts in Istanbul und zur Untersuchung der lateral inhomogenen Schadensverteilung bestimmten GFZ-Wissenschaftler an 192 Standorten die Bodenunruhe (Picozzi et al., 2009a) und leiteten daraus die Resonanzfrequenz der dortigen Sedimente ab (Abb. 2). Aus dem Resonanzverhalten des Untergrunds lässt sich wiederum eine Verstärkung der Schwingungsamplitude beim Durchlauf von Erdbebenwellen mit gleicher Frequenz ableiten. Die Bodenunruhe ist hierbei eine Messgröße, die mit Seismometern als Einzelstation oder in Array-Anordnung auch in urbanem Gelände gemessen werden kann und somit eine schnelle Kartierung der Standorteffekte erlaubt. Die bisherigen Ergebnisse stimmen gut mit der Verteilung der Sedimente in Istanbul überein und zeigen eine Abnahme der Resonanzfrequenzen von Nordosten nach Südwesten. Im Nordosten steht meist festes Gestein an, im Südwesten dagegen reichen Lockersedimente bis in einige hundert Meter Tiefe. Zur Verifizierung der Ergebnisse wurden an wichtigen Standorten die Geschwindigkeits-Tiefenfunktionen für Scherwellen mit Hilfe von Array-Messungen bis in 200 m Tiefe bestimmt. Die Ergebnisse zeigen akustische Impedanzkontraste im Untergrund, die zu Reflektionen der seismischen Energie innerhalb der Sedimente und somit zur Amplitudenverstärkung führen (Abb. 3). Die Kenntnis der Geschwindigkeitsverteilung erlaubt im Rückschluss die Berechnung der Resonanzfrequenzen der Sedimente. Im Vergleich zeigt sich eine gute Übereinstimmung von Beobachtung und Modell (Abb. 3, oben rechts). Abb. 2: Resonanzfrequenzen der Sedimente im westlichen Stadtgebiet von Istanbul, abgeleitet aus geophysikalischen Messungen der Bodenunruhe. Jede Messung dauerte ca. 30 Minuten. Schwarze Punkte stehen für Orte mit mehr als einer Resonanzfrequenz. Neben den Kartierungen an der Erdoberfläche wurde im Stadtteil Ataköy ein vertikales Array aus Bohrlochseismometern installiert, um die Ausbreitung von seismischen Wellen in tieferen Sedimentschichten zu erfassen (Parolai et al. 2009). Mit Sensoren in 25 m, 50 m, 75 m und 150 m Tiefe konnten auf- und abtauchende Wellen unterschieden sowie die mit dem Oberflächenarray ermittelten seismischen Geschwindigkeiten der Sedimente verifiziert werden. Weiterhin wurden P-Wellen in den Horizontalkomponenten nachgewiesen, was ein nicht vertikales Eintreffen von P- und S-Wellen sowie Wellenkonversion in den Sedimenten nahelegt und damit der vereinfachenden Annahme widerspricht, dass Bebenwellen in den obersten Sedimenten nur vertikal von unten nach oben laufen. Die bisherige Praxis, das an der Erdoberfläche beobachtete Wellenfeld über horizontal polarisierte S-Wellen in die Tiefe des Festgesteins zu berechnen, kann somit für die Berechnung des einfallenden Wellenfeldes vom Festgestein in die obersten Sedimente zu falschen Ergebnissen führen. Fig. 2: Map of the resonance frequency of the soil sediments in the study area derived by seismic noise recordings. Measurements where multiple peaks are observed are also indicated (black dots). Auch wurden erhebliche Amplituden bei nach unten abtauchenden Wellen bis in Tiefen von 70 m nachgewiesen, ein Hinweis darauf, dass die gängige Praxis, Ergebnisse flacher 20 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.3 Sekunden für Istanbul a) Mit Hilfe der Fernerkundung wurde die Art der Landnutzung sowie die Höhe von Gebäuden und deren Bautyp bestimmt. Diese Informationen wurden in Vulnerabilitätsangaben des Gebäudebestands umgerechnet und punktuell anhand detaillierter Untersuchungen von Gebäuden kalibriert. Dieser neue Ansatz eignet sich besonders für schnell wachsende Großstädte. Berücksichtigt man die Ergebnisse der Mikrozonierung in der Erdbeben-Szenarien-Berechnung, so unterscheiden sich diese Ergebnisse für Istanbul von den makroseismischen Werten um eine Stufe auf der seismischen Intensität-Skala. Die Szenarien ergeben, dass insbesondere der westliche Teil von Istanbul stark betroffen sein könnte, wie schon die Schadensverteilung nach dem Izmit-Erdbeben von 1999 gezeigt hat. Bohrlochmessungen zur Modellierung von Standorteffekten zu verwenden, zu falschen Ergebnissen führen kann. Frühwarnung vor Erdbebenwellen Ein weiterer Schwerpunkt bei der Erhebung des seismischen Risikos in Istanbul war die Entwicklung neuer Verfahren zur Gebäude- und Infrastrukturcharakterisierung auf Basis von Satellitendaten in Zusammenarbeit mit dem Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology CEDIM und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR. Nach dem schweren Erdbeben von Mexiko 1985 begannen Wissenschaftler und Ingenieure Frühwarnsysteme zu konzipieren (Zschau & Küppers 2003). Aus der schnellen Erfassung der vorauslaufenden seismischen P-Wellen lassen sich Sekunden gewinnen, die zur Warnung vor den schadensträchtigen SWellen genutzt werden können. In Japan werden solche Warn- b) c) Abb. 3: Aus Array-Messungen (a) konnten an ausgewählten Standorten gezielt Geschwindigkeits-Tiefenfunktionen des Untergrunds ermittelt werden (b). Dabei wird aus dem Amplitudenverhalten der gemessenen Bodenunruhe mit hoher Genauigkeit auf die seismische Geschwindigkeit geschlossen. c) Amplitudenverhältnis (H/V), aufgetragen über der Frequenz, beispielhaft für die Station TOPK. Fig. 3: Array measurements in Istanbul (a). b) Inversion results and fit to the dispersion and H/V ratio curves (insets). Shown are tested models (thin gray lines), the minimum cost model (black line), and the models lying inside the minimum cost model +10% range (thick dark gray lines). Top inset show the observed phase velocities (black line) and the phase velocities for the minimum cost model (gray dots). c) Istanbul Earthquake Rapid Response System (IERRS) station TOPK. Average H/V spectral ratios from seismic noise (thin black line) +/- 95 % confidence interval (gray area), H/V spectral ratios of an earthquake (dark gray line) with M~4 recorded by IERRS, H/V ratios (Thick black line) at the surface station from synthetic seismograms considering the model obtained by array A2. System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.3 21 Plattenrandobservatorium Türkei Abb. 4: Geplante SOSEWIN- und existierende IERREWS-Sensoren des Frühwarnsystems in Istanbul. Die IERREWS-Stationen (grüne und rote Zylinder) sind entlang der Küste nahe der Nordanatolischen Verwerfung installiert. Die SOSEWIN-Knoten sollen innerhalb der Stadt in Behörden (gelb) und Privathaushalten (hellblau) betrieben werden und dezentral eine seismische Frühwarnung ermöglichen. Fig. 4: Planned SOSEWIN station net and installed standard network of the IERREWS (red, green and blue), Istanbul. The IERREWS consists of a relatively low number of stations linked to a central processing centre, either directly or via a „gateway“ station.In contrast SOSEWIN do not require a centralised centre to verify events. The SOSEWIN nodes may also be part of a public warning system (light blue boxes) or owned by members of the general public (yellow boxes). The yellow dots are a projection into the future, as only a prototype system is operational now. systeme schon erfolgreich eingesetzt, in Taiwan, Kalifornien, Rumänien und der Türkei sind sie in Erprobung. Für den Raum Istanbul wird, neben einem seismologischen Beobachtungsnetz um das Marmara-Meer, auch ein Beobachtungsnetz innerhalb des Stadtgebiets aufgebaut (Istanbul Earthquake Rapid Response and Early Warning System, IERREWS, Erdik et al., 2003b). Das IERREWS-Netz umfasst bisher zehn Strong Motion-Stationen, die nahe am nördlichen Ast der NAFZ installiert sind (Abb. 4). Melden drei benachbarte Stationen eine Erschütterung, entscheidet die Zentrale (blauer Zylinder, Abb. 4) am Kandilli-Observatorium, ob eine Alarmsituation vorliegt. Seit Sommer 2008 wird dieses System mit einem am GFZ entwickelten dezentralen, sich selbst organisierenden Frühwarnsystem erweitert, das in Zusammenarbeit mit der Humboldt Universität zu Berlin entstand. SOSEWIN (Self-Organizing Seismic Early Warning Information Network) stellt den Prototyp eines drahtlos über WLAN kommunizierenden Sensornetzwerks dar, das auch dynamische Dienste auf TCP/IP-Basis unterstützt und eine echtzeitfähige Übertragung großer Mengen vorverarbeiteter Daten gewährleistet. Ein SOSEWIN-Knoten besteht aus einer Sensoreinheit und einem Mini-PC. Die Sensoreinheit beinhaltet einen Beschleunigungsaufnehmer, eine GPS-Einheit sowie einen Signalprozessor für die Datenaufbereitung. Wird an einem Knoten ein vorgegebener Grenzwert der Bodenbeschleunigung überschritten, so kommuniziert er mit den Nachbarknoten des Netzwerks. Zeigen diese im selben Zeitfenster eine vergleichbare Beobachtung, wird dezentral eine Frühwarnung ausgelöst. Das Netzwerk lässt sich unproblematisch durch hinzufügen neuer Knoten erweitern und ausgefallene Knoten können von bis zu 200 m entfernten Knoten kompensiert werden. In einem neuen Ansatz sollen Einzelsensoren auch von privaten Haushalten und Betrieben erworben werden, damit sich diese an der Frühwarnung direkt beteiligen können. So könnten flächendeckend tausende Sensoren verteilt werden, um im Erdbebenfall in möglichst jedem Haus, jeder Etage oder 22 Abb. 5: (a) Lage der Fatih Sultan Mehmet-Brücke in Istanbul, die den Bosborus zwischen Hisarüstü (europäische Seite) und Kavacık (asiatische Seite) überspannt. (b), (c), und (d) zeigen beispielhaft Installationen der Sensoren während der Testmessungen im Juni 2008. Fig. 5: Map with location of the Fatih Sultan Mehmet Bridge in Istanbul, Turkey. (b), (c), and (d) examples of some types of sensor installation during the test measurements in June 2008. sogar jeder Wohnung die Boden- und Gebäudebewegung zu erfassen. Die vielen Daten erlauben die Darstellung der Bodenerschütterungen in detaillierten Karten und ermöglichen dem Katastrophenmanagement eine schnelle und realistische Einschätzung der Schadensverteilung. Derzeit wird ein stationäres Netz aus 20 SOSEWIN-Knoten im Stadtbezirk von Ataköy betrieben, um Funktionalität und System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.3 Sekunden für Istanbul Zuverlässigkeit der Systeme zu testen. Darüber hinaus ist SOSEWIN so ausgelegt, dass es neben der seismischen Überwachung weitere Umweltparameter erfassen kann, wie z. B. meteorologische Messgrößen, oder die Verkehrsdichte. Das Netzwerk hat seine Zuverlässigkeit sowohl in Istanbul (Fleming et al. 2009) als auch im mobilen Einsatz im Rahmen einer Mission der GFZ-Task Force für Erdbeben gezeigt. Dazu gehört auch die Verfügbarkeit aller Daten am GFZ in Potsdam durch die Anbindung einzelner Knoten an das Internet. Neben dem Einsatz in Wohngebieten ist geplant, SOSEWIN auch zur Überwachung kritischer Infrastruktur, wie z. B. die den Bosporus überspannenden Brücken, einzusetzen. Zu Testzwecken wurden deshalb Messungen an der nördlich gelegenen Fatih Sultan Mehmet-Brücke durchgeführt, um dynamische Eigen- einzuschätzen und bei starken Abweichungen gegebenenfalls eine Sperrung zu veranlassen. Ausblick Selbstorganisierende Monitoring- und Informationssysteme wie SOSEWIN werden in Zukunft wahrscheinlich eine zunehmend wichtige Rolle in der Messwerterfassung und im Management von Ballungszentren übernehmen. Der Einsatz selbst-organisierender Sensornetze ist nicht auf seismologische Frühwarnung und das Katastrophenmanagement beschränkt, vielmehr ist ein weiter Bereich an mobilen oder fest installierten Anwendungen denkbar, die das Management von Ballungszentren und Megacities erleichtern können. Literatur Bindi, D., Parolai, S., Grosser, H., Milkereit, C., Durukal, E. (2007): Empirical ground-motion prediction equations for northwerstern Turkey using the aftershocks of the 1999 Kocaeli earthquake. – Geophysical Research Letters, 34, L08305, 10.1029/2007GL029222 Bommer, J., Spence, R., Erdik, M., Tabuchi, S., Aydinoglu, N., Booth, E., del Re, D., Peterken, O. (2002): Development of an earthquake loss model for Turkish catastrophe insurance. – Journal of Seismology, 6, 3, 431446, 10.1023/A:1020095711419 Brownjohn, J. M. W., Dumanoglu, A. A., and Severn, R. T. (1992): Ambient Abb. 6: Oben) Mögliche Installation eines zweiwegigen Frühwarnsystems mit 24 Sensorknoten zur Bestimmung der Schwingungseigenschaften der Fatih Sultan Mehmet-Brücke. Unten) Ergebnisse einer Testmessung der spektralen Schwingungseigenschaften in den Bewegungskomponenten Vertikal (rot), Longitudinal (blau) und Transversal (grün). Fig. 6: Above) The possible double way early warning for the Fatih Sultan Mehmet bridge. The warning can be issued by a gateway from the bridge in case the notes detect anomalous bridge behaviour. The wireless network can receive earthquake early warnings from the IERREWS. Below) Spectral ratio functions for the vertical (red), longitudinal (blue), and transversal (green) components of motion. vibration survey of the Fatih Sultan Mehmet (Second Bosporus) Suspension Bridge. – Earthquake Engineering and Structural Dynamic, 21, 10, 907-924, 10.1002/eqe.4290211005 Erdik, M., Fahjan Y., Özel O., Alcik H., Mert A., Gul M. (2003): Istanbul Earthquake Rapid response and the early warning system. – Bulletin of Earthquake Engineering, 1, 1, 157-163, 10.1023/A:1024813612271 Erdik M., Durukal E. (2007): Earthquake Risk and its mitigation in Istanbul. – Natural Hazards, 44, 2, 181-197, 10.1007/s11069-007-9110-9 Fleming, K., Picozzi, M., Milkereit, C., Kühnlenz, F., Lichtblau, B., Fischer, J., Zulfikar, C., Özel, O., SAFER and EDIM working groups (2009): The Selforganizing Seismic Early Warning Information Network (SOSEWIN). – Seismological Research Letters, 80, 5, 755-771, 10.1785/gssrl.80.5.755 Hergert, T., Heidbach, O. (2010): Slip-rate variability and distributed deformation in the Marmara Sea fault system. – Nature Geoscience, 3, schaften wie das charakteristische Schwingungsverhalten der Brücke zu bestimmen. Parallel zu den seismischen Messungen konnte mit den Sensoren auch die auf die Struktur wirkende Windlast kontinuierlich registriert werden. Die ermittelten dynamischen Eigenschaften (Picozzi et al., 2009c) stimmen gut mit den Untersuchungen von Brownjohn et al. (1992) überein. Das Monitoring erlaubt somit eine permanente Kontrolle der dynamischen Parameter, so dass nach einer Erdbebenbelastung die ermittelten Daten mit denen verglichen werden können, die vor und während des Bebens aufgezeichnet worden sind, um den Gebäudezustand nach einem Beben richtig System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.3 132-135, 10.1038/ngeo739 Parolai, S., Ansal, A., Kurtulus, A., Strollo, A., Wang, R., Zschau, J. (2009): The Ataköy vertical array (Turkey): insights into seismic wave propagatin in the shallow-most crustal layers by waveform deconvolution. – Geophysical Journal International, 178, 3, 1649-1662, 10.1111/j.1365-246X.2009.04257.x Picozzi, M., Strollo, A., Parolai, S., Durukal, E., Özel, O., Karabulut, S., Zschau, J., Erdik, M. (2009): Site characterization by seismic noise in Istanbul, Turkey. – Soil Dynamics and Earthquake Engineering, 29, 3, 469-482, 10.1016/j.soildyn.2008.05.007 Zschau, J., Küppers, A. (Eds.) (2003): Early warning systems for natural disaster reduction, Berlin, Springer, 834 p. 23 Plattenrandobservatorium Chile Beobachtung der letzten Phase eines seismischen Zyklus in Nordchile IPOC – europäisch-südamerikanisches Netzwerk Pia Victor, Bernd Schurr, Dirk Brändlein, Jürgen Klotz, Oliver Ritter, Günter Asch, Thomas R. Walter, Monika Sobiesiak, Onno Oncken Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Potsdam The Integrated Plate Boundary Observatory Chile (IPOC) is an international network of institutions and scientists organizing and operating a distributed system of instruments and projects dedicated to the study of earthquakes, deformation and other subduction processes at the continental margin of Chile. This megathrust plate boundary between the South American plate and the oceanic Nazca plate exhibits some of the largest earthquakes on Earth. Earthquakes, volcanoes and other active margin processes are driven by ongoing convergence between the two tectonic plates. Our goal is to improve the understanding of both the physical mechanisms underlying these processes and the natural hazards induced by them. We therefore integrate modern ground- and space-based technologies to observe and interpret active deformation related to the megathrust seismic cycle. The northern part of the Chilean margin offers an exceptional opportunity for such studies: the more than 400 km long plate boundary segment between Antofagasta and Arica, capable of a giant M9+ earthquake, has not been broken for more than 100 years. This is the longest time period between large earthquakes along the Peru-Chile coastal margin, putting this segment presumably in the terminal stage of a seismic cycle. The neighboring segments to the south and north have been broken in 1995 and 2007 and 2001 respectively, enhancing the stress in between. 24 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.4 Beobachtung der letzten Phase eines seismischen Zyklus in Nordchile Südamerikas Plattenrand: ein ausgeprägter geodynamischer Typvertreter Eine der bedeutendsten Erkenntnisse der letzten Jahre in der Geodynamik war, dass die Krustendeformation an konvergenten Plattenrändern, an denen die ozeanische Erdkruste unter die Kontinente abtaucht, in höchstem Maß unstetig ist. Die Deformationen weisen hier ein kontinuierliches Frequenzspektrum von schnellen seismischen Ereignissen, fluidgesteuerten Transientenereignissen, langsamen „stillen Erdbeben“ bis hin zu säkularen Bewegungen und nicht-vulkanischen Tremoren auf. Einige dieser Phänomene sind erst kürzlich entdeckt und noch nicht entsprechend systematisch und gekoppelt analysiert worden. Insbesondere ihr Zusammenhang mit dem seismischen Zyklus und der Gefährdungsverteilung sind unklar. Das Deutsche GeoForschungsZentrum GFZ in Potsdam forscht seit längerem an dem geodynamisch sehr aktiven Plattenrand zwischen Südamerika und der pazifischen Platte. Dieser konvergente Plattenrand ist ein herausragender Vertreter seines Typs, er hat allein im 20. Jahrhundert etwa 25 % der globalen seismischen Aktivität auf sich vereinigt und steht nach unserem Kenntnisstand im Norden Chiles unmittelbar vor einem großen seismischen Ereignis (M>8). In der Vergangenheit haben hier etwa alle 110 Jahre solche starken Beben stattgefunden. Das letzte ereignete sich 1877 (Abb. 1). Die jüngsten Beben von Antofagasta (1995), Tocopilla (2007), und Südperu (2001) machen deutlich, dass diese Region ein global nahezu einzigartiges Objekt ist, um mit einem Plattenrandversagen assoziierte Prozesse zu untersuchen und durch deren Verständnis die Auswirkungen von Katastrophen wie z. B. Erdbeben zu minimieren. Die Gefährdung und Vulnerabilität der Region wird vor dem Hintergrund deutlich, dass der Norden Chiles etwa 30 % der Weltkupferproduktion stellt (neben anderen wichtigen Rohstoffen, wie z. B. Lithium) und sämtliche Lifelines, d. h. wichtige „Lebensadern“, deren Funktion im Katastrophenfall unbedingt erforderlich ist, sich in dieser Zone befinden. Weiterhin konzentriert sich die dynamische Bevölkerungsentwicklung in den besonders gefährdeten Küstenstädten. Abb. 1: Historische Erdbeben entlang des südamerikanischen Plattenrands. Im Untersuchungsgebiet (Kasten) ist das Hauptsegment letztmalig 1877 gebrochen. Fig. 1: Historical earthquakes along the South American plate margin. The main segment in our target region (box) broke the last time in 1877 in a giant earthquake. Das Integrierte Plattenrandobservatorium Chile (IPOC) verfolgt daher mit einem integrierten methodischen Ansatz das Ziel, diesen Plattenrand vor, während und nach großen seismischen Ereignissen systematisch zu beobachten. Gemeinsam mit internationalen Partnern baute das GFZ bisher 17 Multiparameter-Observatorien auf (Abb. 2), deren Daten zum Teil in Echtzeit nach Potsdam übertragen werden. Die kontinuierlichen Messungen werden durch die Auswertung von InSARDaten, sowie gezielte feldgestützte neotektonische Studien Kontakt: Pia Victor (pvictor@gfz-potsdam.de) System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.4 25 Plattenrandobservatorium Chile Komponenten des Observatoriums Um das gesamte Spektrum der Deformationsprozesse abzubilden, betreiben wir ein Netzwerk verschiedener Observationstechnologien. Die Vernetzung der Einzelkomponenten ermöglicht eine multidisziplinäre Interpretation und sichert Synergien beim Observatorienbetrieb. Folgende Komponenten liefern kontinuierliche Datensätze: Seismologie Das Rückgrat der seismologischen Messungen bildet ein Netz von zurzeit 17 Breitband-Seismometern. Sie wurden in an abgelegenen Orten in das Grundgestein gesprengten Höhlen installiert. Breitband-Seismometer registrieren Bodenbewegungen in einem Periodenbereich von 0,02 Sekunden bis zu mehreren Stunden mit einer Genauigkeit von 10-9 m. Da Breitband-Seismometer nicht dazu geeignet sind, auf kurze Entfernung sehr große Erdbeben aufzuzeichnen, wurde jede der Stationen sowie weitere kritische Punkte der zivilen Infrastruktur zusätzlich mit je einem Akzelerometer bestückt, die ihre Daten in Echtzeit an das GFZ nach Potsdam übertragen. Die von diesen Geräten erfassten Beschleunigungsmessungen sind notwendig, um die Auswirkungen von Erdbeben auf Bauwerke zu untersuchen. Dieses Netz wird im zentralen Bereich der seismischen Lücke, in der Umgebung der Küstenstadt Iquique, zurzeit mit 20 mittel- und kurzperiodischen Seismometern verdichtet. Extensometer Abb. 2: Karte der unterschiedlichen Komponenten des IPOC. Farbige Flächen zeigen die ungefähre Ausdehnung junger und historischer Erdbebenbrüche. Fig. 2: Map of the different components of the IPOC. Colored areas show the approximate extent of recent and historical earthquakes. ergänzt. Ziel ist es, zunächst ein hoch aufgelöstes Bild der ablaufenden Prozesse zu gewinnen, um daraus Strategien für die Einschätzung der Gefährdungsverteilung und die weitere Überwachung abzuleiten. Neben dem wissenschaftlichen Verständnis der Bruchprozesse stehen die Entwicklung robuster, kostengünstiger Überwachungstechnologien und von Verfahren zur zeitabhängigen Gefährdungseinschätzung im Mittelpunkt. 26 Die Relativbewegung zwischen zwei Blöcken einer aktiven Störung kann durch kontinuierliches Kriechen erfolgen oder durch plötzliche Deformationsereignisse, die durch Erdbeben ausgelöst werden können. Mit den im Rahmen des IPOC installierten Extensometern messen wir den Verschiebungsbetrag kontinuierlich mit einer Genauigkeit von 1 µm. Durch die synchronisierte Uhr kann der genaue Zusammenhang zwischen Erdbeben und Deformationsereignissen in der Oberplatte hergestellt werden. Dadurch erfassen wir die Häufigkeit und Magnitude seismisch getriggerter Deformationsereignisse relativ zum kontinuierlichen Kriechen der Störung in Abhängigkeit von der Zeit. Aktuell werden vier aktive Störungssegmente mit insgesamt elf Instrumenten überwacht. Geodätische Beobachtungen Ein wesentlicher Bestandteil des IPOC ist die Beobachtung der gegenwärtigen Deformation der Erdoberfläche mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung. Dazu wurden in Nordchile vom GFZ und von internationalen Kooperationspartnern permanent registrierende GPS-Stationen eingerichtet. Diese liefern ein detailliertes Bild der Deformation während des gesamten Erdbebenzyklus. Vor allem interseismische Kompression und eventuell stattfindende langsame Erdbeben stehen im Fokus der permanenten GPS-Beobachtungen. Während bisher die System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.4 Beobachtung der letzten Phase eines seismischen Zyklus in Nordchile Deformation aus der Veränderung der täglich berechneten Koordinaten abgeleitet wurde, wird im Rahmen von IPOC die Punktbewegung sekündlich neu berechnet. Dies ergänzt den Frequenzbereich der seismischen Messungen. Werden die GPS-Daten in Echtzeit übertragen und ausgewertet, kann die Herdfläche eines zukünftigen großen Erdbebens sehr schnell und zuverlässig berechnet werden. InSAR Deformationsprozesse der Erdoberfläche können mit Hilfe der differentiellen Radarinterferometrie (InSAR) mit hoher räumlicher Auflösung aufgeklärt werden. Im Rahmen des IPOC werden damit Deformationszeitreihen entlang aktiver Störungszonen erstellt. Durch die Prozessierung von mindestens zwei Bildern eines bestimmten Ausschnitts können wir Relativbewegungen im Zentimeterbereich für die Gesamtfläche des Observatoriums bestimmen. Neben der Reaktivierung von Störungssystemen während und nach den Antofagasta- (1995) und Tocopilla-Beben (2007) wird auch untersucht, ob die Beben zu einer Aktivierung von Vulkanen beitragen (vgl. dazu den Beitrag von Walter et al. in diesem Heft). Magnetotellurik Die Magnetotellurik (MT) ist ein Verfahren zur Bestimmung der elektrischen Leitfähigkeit im Erdinneren. Dafür werden natürlich vorkommende Variationen elektromagnetischer Felder an der Erdoberfläche mit Magnetometern und Potentialelektroden gemessen. Aus dem Verhältnis der gemessenen elektrischen und magnetischen Felder kann die Leitfähigkeitsstruktur des Untergrundes bis in Tiefen von mehreren ZehnerKilometern bestimmt werden. Im Rahmen des IPOC wird das Verfahren im Dauerversuch verwendet, um temporäre Änderungen der elektrischen Leitfähigkeitsstruktur zu beobachten und gegebenenfalls mit Subduktionsprozessen zu korrelieren. Insgesamt werden an acht IPOC-Stationen die Signale des elektromagnetischen Feldes kontinuierlich erfasst. Das Tocopilla-Erdbeben Abb. 3: Karte und Tiefenschnitte des Tocopilla-Erdebens. Rote Isolinien zeigen den Verschiebungsbetrag zwischen den Platten in 0,5 m Abstand. Kreise sind Nachbeben. Im Hintergrund des Ost-West Schnittes ist die subduzierte Platte durch Receiverfunktionen abgebildet (Sodoudi, persönliche Kommunikation 2010). Das Nachbeben vom 16.12.2007 hat die gesamte ozeanische Kruste durchbrochen (blaue Kreise). Fig. 3: Map and vertical profiles for the 2007 Tocopilla earthquake. Red isolines depict the slip of the mainshock on the plate interface at 0.5 m steps. Circles are aftershocks. The east-west profile shows a receiver function image of the subducted slab (Sodoudi personal communication 2010). The 12/16/2007 aftershock broke the entire oceanic crust (blue circles). Der systematische Ansatz des IPOC wurde im November 2007 bestätigt, als der südlichste Teil der von uns observierten seismischen Lücke in einem Erdbeben der Magnitude 7,7 brach. Die Messstationen konnten sowohl das Hauptbeben, als auch die Nachbebentätigkeit erfassen (Abb. 3). Der meterweite Versatz der beiden Platten in der Tiefe induziert ein charakteristisches Deformationsmuster an der Oberfläche, das sich flächig in Radarinterferogrammen messen lässt (Abb. 4). Motagh et al. (2010) berechneten auf dieser Basis eine detaillierte Verteilung der Verschiebungen zwischen den Platten (Abb. 4). Hieraus ergibt sich, dass sich der Bruch von der Küstenstadt Tocopilla bis zur Mejillones-Halbinsel am südlichen Ende der seismischen Lücke erstreckte. Aus GPS-Messungen ist bekannt, dass der seewärts gelegene Teil der Plattengrenze System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.4 27 Plattenrandobservatorium Chile blockiert ist (Khazaradze und Klotz, 2003), woraus sich die Frage ergibt, warum der Bruch an den Barrieren der MejillonesHalbinsel im Süden und ungefähr an der Küstenlinie im Westen stoppte. Die Nachbeben füllen mit großer Präzision die Bruchfläche aus (Abb. 3) und greifen nur am südlichen Ende seewärts aus, genau dort, wo auch eine Spannungserhöhung durch den Hauptbruch vorhergesagt wird. Eines der größten Nachbeben fand einen Monat nach dem Hauptbeben statt und zeigt einen anderen Mechanismus (Abb. 3). Hochauflösende Erdbebenlokalisierungen zusammen mit der Abbildung der ozeanischen Kruste aus Receiverfunktionen zeigen, dass dieses Ereignis zu einem senkrechten Bruch in der ozeanischen Platte geführt hat. Seismischer Zyklus von aktiven Störungen in der Oberplatte Abb. 4: Die zwei InSAR-Interferogramme zeigen die durch das Tocopilla-Erdbeben ausgelöste Oberflächendeformation. Jeder Interferenzstreifen steht für einen Verschiebungsbetrag von 5,6 cm in Blickrichtung zum Satelliten. Fig. 4: Two InSAR interferograms depicting the surface deformation due to the Tocopilla earthquake. Each fringe shows surface displacement of 5.6 cm in line of sight of the satellite. Die Atacama-Störung ist eine mehr als 1000 km lange Deformationszone parallel zum Kontinentalrand mit zahlreichen aktiven Segmenten. Mit neotektonischen Geländestudien konnten wir entlang dieser Struktur Segmente quartärer bis rezenter Aktivität identifizieren. Die Störungsflächen sind in diesen Segmenten nicht nur sehr jung, sondern zeigen auch charakteristische Oberflächenbrüche, die auf eine seismogene Entstehung hinweisen (Abb. 5). Die Länge und der Versatz dieser Brüche lassen vermuten, dass sie durch Beben mit Magnituden bis M= 7 entstanden sind. Ob diese Beben durch große Subduktionsbeben ausgelöst worden sind, oder die Abb. 5: a) Störungsanschnitt einer aktiven Abschiebung. Versätze in jungen alluvialen Fächern zeigen eine Reaktivierung während des Tocopilla und/oder Antofagasta Erdbebens. Das Solarpaneel im Vordergrund versorgt ein unterirdisch installiertes Extensometer. b) Oberflächenrupturen entlang eines aktiven Segments der Atacama-Störung zeigen deren multiple Reaktivierung. c) Exemplarische Zeitreihe der Extensometerdaten zeigt permanente Deformation ausgelöst durch lokale (schwarze Pfeile) und ferne (blauer Pfeil) Erdbeben. Fig. 5: a) Fault scarp of an active normal fault on Mejillones Peninsula. Displacement in young alluvial fans indicates reactivation during the Tocopilla and/or Antofagasta earthquake. Solar panel is part of a creepmeter installed underground. b) Surface ruptures along an active segment of the Atacama Fault system indicate its multiple reactivation. c) Example of a time series showing permanent deformation related to local (black arrows) and remote (black arrows) earthquakes. 28 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.4 Beobachtung der letzten Phase eines seismischen Zyklus in Nordchile Abb. 6: Zeitreihe der vertikalen magnetischen Übertragungsfunktionen, dargestellt als Differenzen zwischen den Tageswerten und dem langjährigen Median (rechts) für die Stationen PB01 und PB03. Die Periodenachse entspricht einer nicht-linearen Tiefenskala. Vertikale rote Linien zeigen bedeutende Erdbeben, vertikale schwarze Linien Jahreswechsel an. Jahreszeitliche Schwankungen sind durch gestrichelte Kreise, lokale Variationen an Station PB01 mit einer durchgezogenen Ellipse gekennzeichnet. Fig. 6: Time series of the vertical magnetic transfer functions, represented as differences between daily estimates and the median of the entire time span (right) at sites PB01 and PB03. The period scale corresponds to a non-linear depth scale. Vertical red lines indicate major earthquakes, vertical black lines turns of the years. Seasonal variations are visible at both sites (dashed circles) but local variations only at site PB01. Atacama-Störung einen unabhängigen seismischen Zyklus aufweist, ist eine der Hauptfragen, die in einem Extensometerprojekt gemeinsam mit Seismologen geklärt werden soll. Erste Beobachtungen aus den Zeitreihen des Experiments weisen darauf hin, dass plötzliche permanente Relativbewegungen zeitgleich mit kleineren Subduktionsbeben entstehen. Der über ein Jahr akkumulierte, hochgenau gemessene Gesamtversatz entspricht in etwa den aus Geländebeobachtungen errechneten Langzeitraten. Dies lässt vermuten, dass ein Beben eine gewisse Magnitude überschreiten muss, um Oberflächenrupturen in den beobachteten Größenordnungen zu erzeugen. Ausblick Zeitabhängige Leitfähigkeitsstruktur des Untergrundes aus MT-Messungen Nicht nur die Versorgung der größten Kupferminen der Welt, auch die Ausfuhr der Rohstoffe über die Häfen im Norden Chiles wären bei einem starken Erdbeben betroffen. Zudem könnte die Bevölkerung der ständig wachsenden Küstenstädte neben der seismischen Gefährdung auch den zerstörerischen Kräften von durch Erdbeben ausgelösten Tsunami ausgesetzt sein. Die Zeitreihen der magnetischen Übertragungsfunktionen (Abb. 6) weisen auf laterale Leitfähigkeitskontraste in OstWest-Richtung unter der Station hin. Die Erkundungstiefe steigt mit der Periodenlänge an. An allen MT-Stationen des IPOC-Netzwerks ist eine starke jahreszeitliche Variation der Ty-Komponente zu beobachten. Diese Schwankungen werden vermutlich durch saisonal bedingte Änderungen in der Ionosphäre hervorgerufen, welche die Quellregion der in die Erde induzierten Wechselfelder ist. An Station PB01 ist zusätzlich eine langfristige, nicht-zyklische Variation zu beobachten (schwarze Ellipse). Diese lokale Variation könnte auf eine Änderung der Leitfähigkeitsstruktur des Untergrunds hinweisen, die wiederum mit großräumigen Fluidverlagerungen in der Subduktionszone in Zusammenhang stehen könnte. System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.4 Nach einer mehrjährigen Aufbauphase liefert das IPOC nun hochpräzise Datenströme, die eine Langzeitbeobachtung der letzten Phase des seismischen Zyklus eines zu erwartenden Starkbebens erlauben. Das Methodenspektrum deckt dabei einen sehr breiten Zeitbereich (Millisekunden bis Dekaden) von möglichen Deformationsmodi ab, deren gekoppelte Beobachtung neue Erkenntnisse über die zugrunde liegenden Prozesse liefern kann. Die Analyse des Tocopilla-Bebens lässt die hierbei bestehenden Möglichkeiten erahnen und dient als Vorbereitung auf einen nun wahrscheinlicher gewordenen Bruch der restlichen seismischen Lücke. Literatur Khazaradze, G., Klotz, J. (2003): Short- and long-term effects of GPS measured crustal deformation rates along the south central Andes. – Journal of Geophysical Research, 108, B6, 2289, 10.1029/2002JB001879 Motagh, M., Schurr, B., Anderssohn, J., Cailleau, B., Walter, T. R., Wang, R., Villotte, J. P. (2010): Subduction earthquake deformation associated with 14 November 2007, Mw 7.8 Tocopilla earthquake in Chile: Results from InSAR and aftershocks. – Tectonophysics, 490, 1-2, 66-68, 10.1016/j.tecto.2010.04.033 29 Plattenrandobservatorium Chile Die „Beule“ von Lazufre Aufwölbung eines Vulkanfelds in Chile Thomas R. Walter, Joel Ruch, Andrea Manconi, Manoochehr Shirzaei, Mahdi Motagh, Jan Anderssohn Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Potsdam How fast can volcanoes grow and what is the importance of volcano-tectonic interaction? Using three European satellites we generated an InSAR time series to investigate the spatio-temporal characteristics of volcano deformation in the Plate Boundary Observatory Chile. At the Lazufre volcanic complex, central Andes, two scales of uplift initiating during the observation time were observed: (1) a large-scale uplift showing an increase of the mean deformation rate and now affecting several eruptive centres, covering an area larger than 1800 km² and (2) a small-scale uplift located at the Lastarria volcano, which is the only volcano showing strong fumarolic activity in decades, with most of the clear deformation apparently not observed before 2000. Both the large and small uplift signals can be explained by magmatic and/or hydrothermal sources located at about 12-14 km and <1 km depth, respectively. Our research tests a possible relationship between these two volcanoes, tectonism and earthquakes. 30 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.5 Die „Beule“ von Lazufre Vulkane unter Spannung Das magmatische und hydrothermale System aktiver Vulkane befindet sich oftmals in einem sogenannten „kritischen Zustand“, so dass Veränderungen des tektonischen Umfelds zu unerwarteten Eruptionsverläufen führen können. Statistische Analysen belegen, dass Vulkane nach tektonischen Erdbeben häufiger und mit größerer Magnitude ausbrechen (Eggert und Walter, 2009). Zudem ereigneten sich die explosivsten Eruptionen des 20. Jahrhunderts an Vulkanen, die vorher über Jahrzehnte keinerlei Eruptionstätigkeit zeigten. Inaktive Vulkane können innerhalb kurzer Zeit erwachen. In unserer zunehmend vernetzten technischen Zivilisation wirken sich weit entfernte Vulkanausbrüche auch auf die europäischen Wirtschaftssysteme aus, wie beispielsweise bei der Eruption am Eyjafjallajokull in Island im Jahr 2010 deutlich wurde. Diese Vulkaneruption kündigte sich durch Aufwölbungen der Kruste an. Für Vulkanologen ist es daher ein wichtiges Anliegen, große und sich schnell entwickelnde Vulkansysteme mit Deformationsmessungen zu überwachen und die physikalischen Vorgänge besser zu verstehen. Da Vulkane vermutlich durch äußere, oftmals auch in größerer Entfernung liegende, tektonische Vorgänge aktiviert werden können, untersucht das Deutsche GeoForschungsZentrum GFZ neue Wege der Messtechnik, sowie die Wechselwirkungen zwischen zeitlich bzw. räumlich benachbarten geologischen Phänomenen wie Erdbeben und Vulkantätigkeit. Die umfangreichen geodynamischen Untersuchungen des GFZ im Rahmen seines Plattenrandobservatoriums Chile sind dabei eine ideale Basis für diese Arbeiten (vgl. dazu den Beitrag von Victor et al. in diesem Heft). Großräumige Deformationsmuster sind an Vulkanen über Satellitenradar nicht nur detektierbar, sondern, wie hier im Folgenden veranschaulicht, auch über einen längeren Zeitraum überwachbar. Mit diesen Daten können Änderungen von Deformationsraten abgeschätzt und Aussagen zu möglichen Ursachen gemacht werden. Die Deformationsraten geben indirekt auch Aufschluss über sich in der Tiefe ansammelnde Magmenmengen. Aufwölbung am Lazufre Das Vulkanfeld des Lazufre liegt in der chilenisch-argentinischen Grenzregion, etwa 250 km östlich des Subduktionsgrabens (Abb. 1). Es ist Teil des Altiplano-Puna-Plateaus, welches seit dem Eozän als Folge der Subduktion der Nazca-Platte unter die Südamerikanische Platte emporgehoben wird (Oncken et al., 2006). GFZForschungen zeigen, dass das Vulkanfeld über 40 morphologisch Kontakt: Thomas R. Walter (twalter@gfz-potsdam.de) System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.5 Abb. 1: Fotografien des Vulkans Lastarria, einem holozänen Stratovulkan in den Zentralanden aus den Jahren 1980, 2002 und 2008. Die aus Satellitendaten bestimmte aktive Bodenverformung dieser Region macht deutlich, dass Lastarria nur ein kleiner Teil einer sehr viel größeren, sich stark aufwölbenden Vulkanregion ist. Fig. 1: Photographs of Lastarria volcano, a holocene stratovolcano in the Central Andes. The photographs were taken in 1980, in 2002 and in 2008. Active deformation at Lastarria is detected using satellite radar interferometry and suggest that Lastarria is a small part of a much larger volcanic system referred to as Lazufre. identifizierbare vulkanische Zentren umschließt. Eines der prominentesten ist durch den Gipfel des Vulkans Lastarria geprägt, der mit 5700 m über die Umgebung emporragt (Abb. 1). Seine bislang bekannte Aktivität beschränkt sich auf Schwefelausflüsse und Entgasung an Fumarolen. Historische magmatische Eruptionen sind nicht überliefert und das Vulkanfeld wurde bisher auch nicht als potentiell aktives Vulkansystem in den Fachkatalogen registriert. Dass sich die Aktivität innerhalb weniger Jahre jedoch stark verändern kann, zeigen die neuesten Untersuchungen am Vulkanfeld Lazufre im Rahmen des Plattenrandobservatoriums Chile. Mit der InSAR-Methode (Interferometric Synthetic Aperture Radar) ist eine sich beginnende Aufwölbung am Lazufre-Vulkanfeld nachweisbar (Pritchard und Simons, 2002). Nachdem zunächst keinerlei Aktivität gemessen wurde, konnten nur wenig später bereits deutliche Hebungsraten von etwa 31 Plattenrandobservatorium Chile 1 cm/Jahr registriert werden. Das Ausmaß dieser „Beule“ vergrößerte sich zunehmend, sie wuchs innerhalb weniger Jahre auf einen Durchmesser von über 50 km an (Ruch et al., 2008). Um die zeitliche Veränderlichkeit des Verformungsmusters genauer zu analysieren, hat das GFZ die Satellitenradardaten der vergangenen 15 Jahre im verfügbaren Katalog der Europäischen Raumfahrtbehörde analysiert und beginnt nun, diese Daten zu untersuchen. Vermessung der Deformation seit 1995 Für die Verformungsmessungen des Lazufre-Vulkanfelds werden – in enger Kooperation mit der Europäischen Raumfahrtbehörde (ESA) – Daten mit den europäischen Radarsatellitenmissionen ERS1/2 und Envisat erhoben und mit dem Institut für Elektromagnetische Fernerkundung (IREA) prozessiert. Bei der Methodik werden von jeweils zwei Aufnahmen die Phasen- differenzen berechnet, um eine mittlere Bewegung zwischen dem ersten und zweiten SAR-Bild in eindimensionaler Form, d. h. in der sogenannten Line-of-Sight, zu erhalten. Um mögliche Fehlerquellen zu minimieren, werden Datenpaare mit geringer zeitlicher Dekorrelation verwendet. Am GFZ werden überwiegend solche Interferogramme analysiert, bei denen die Basislänge während der Radaraufnahme, d. h. die jeweilige Satellitenposition, sehr gut bestimmt ist und eng beieinander liegt. Innerhalb des Beobachtungszeitraums lassen sich so mehr als 150 Interferogramme berechnen und in einer Zeitreihe kombinieren. Neu entwickelte Filter reduzieren dabei zeitlich variable Fehlerquellen wie z. B. Atmosphäreneinflüsse. Das Produkt dieser Prozessierungen ist eine hochauflösende Deformationszeitreihe an weit mehr als 1 Mio. Datenpunkten mit einer jährlichen Standardabweichung von 0,1 bis 0,2 cm. Die Resultate unserer Untersuchungen liefern neue Erkenntnisse über gekoppelte Vulkane und damit verbundene Prozesse Abb. 2: A) Lage des Lazufre-Vulkanfelds in den südamerikanischen Zentralanden. B) Verformungskarte (mittlere Hebungsrate von ENVISAT; rot: Hebungszone). C) Profil von NNW nach SSE durch die Hebungszone für zwei unterschiedliche Datensätze (ERS von 1995 bis 2006, schwarze Punkte und Envisat von 2003 bis 2008, graue Punkte). D) Verformungsmuster des Vulkans Lastarria (LAS) Fig. 2: Deformation at the Lazufre volcanic area in the Central Andes (A, B). Shaded relief maps with InSAR observation (mean velocity map for ENVISAT) shows uplift region in red. (C) NNW-SSE profiles across the deformation areas for the ERS dataset from 1995 to 2006 (black) and for the ENVISAT dataset (grey) from 2003 to 2008. (D) Details of Lastarria (LAS) volcano. 32 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.5 Die „Beule“ von Lazufre und Naturgefahren, wie beispielsweise Hangrutschungen. Die Deformation im Lazufre-Vulkanfeld ist beulenartig und erstreckt sich auf einen elliptischen Bereich von über 50 km Länge und 35 km Breite (Abb. 2). Das Maximum der Hebung im Zentrum der Ellipse nimmt zu den Flanken graduell ab. Lokal werden an einigen Stellen steilere Gradienten der Deformationsraten sichtbar, was nur zum Teil mit Vulkanaktivität erklärt werden kann. Die Satellitendaten zeigen erstmals, dass die Deformation im Jahr 1997 begann und seither ungewöhnlich rasant anwächst. Das davon betroffene Gebiet hat 1000 km² im Jahr 2000 überschritten, erreichte 2005 etwa 1500 km² und erfasst derzeit eine Fläche weit über 2000 km². Zum Vergleich: dies entspricht etwa der Fläche des Saarlands. Die Deformationsraten zeigen eine Zunahme der Aufwölbungsgeschwindigkeit von anfänglich nahezu 0 cm auf mehr als 3 cm jährlich. Profile quer über die erwähnte Beule weisen insbesondere auf eine Region im Nordnordwesten hin, in der deutliche Deformationsgradienten zu beobachten sind. Die langwellige Deformation des Lazufre-Vulkanfelds ist hier durch ein sehr steiles, kurzwelliges Deformationssignal gestört (Abb. 3 und 4). Dies ist an exakt jener Stelle zu lokalisieren, wo Fumarolentätigkeit den Vulkan Lastarria markiert. Ursachen der Beule von Lazufre Beobachtungszeitraums nahezu konstant in der Lage zu sein. Dies bedeutet, dass der Magmakörper nicht zur Erdoberfläche aufsteigt – ein Grund zur Entwarnung? Eine Prüfung der Qualität des Deformationsmodells ist über die sogenannte Residuumanalyse möglich (Abb. 3). Hierbei wird an jedem Pixel das simulierte Deformationsmuster vom Echtdatensatz subtrahiert, um darzustellen wo und in welcher Güte das Modell die InSAR-Daten erklärt. Das Residuum der untersuchten Daten beträgt grundsätzlich weniger als 0,2 cm/ Jahr, d. h. der Datensatz ist hinreichend erklärt. Eine markante Ausnahme bildet jedoch das lokale Deformationsfeld am Lastarria, dem entgasenden Vulkan im Nordwesten der großen Beule (siehe Abb. 1). Das Residuum von Lastarria umfasst etwa 50 km² und erreicht Hebungsraten von über 1 cm/Jahr. An diesem lokalen Deformationsmuster lässt sich nun die oben beschriebene Inversion wiederholen, um eine mögliche zweite magmatische Quelle zu lokalisieren. Die Modelle schlagen hier eine nahezu kreisrunde Druckquelle vor. Ausnahmen gibt es jedoch auch hier, diesmal an Fumarolenfeldern, sowie in Hangrutschbereichen (siehe Abb. 3). Die für Lastarria postulierte Druckquelle liegt in einer Tiefe von 0,6 bis 0,9 km unterhalb des Gipfels. Da die Höhe des Lastarria relativ zur Umgebung bereits 1 km übertrifft, liegt die Ursache der Aufwölbung innerhalb des Vulkangebäudes, nicht darunter. Der Radius dieser Quelle ist etwa 300 m und expandiert aktuell mit einer jährlichen Rate von 13 000 m³. Da die Volumenverdrängung in eine Kraft pro Fläche konvertierbar ist, schätzen wir die jährlichen Druckveränderungen auf bis zu 4 MPa. Dies würde bei fünfjährigem Druckanstieg zu einer etwa 20 MPa großen Druckansammlung akkumulieren, was nach derzeitigem Kenntnisstand die Zugfestigkeit des Umgebungsgesteins deutlich übersteigt. Eine offene Frage ist daher, weshalb das Vulkanfeld Lastarria bzw. der steile und aktiv entgasende Vulkan Lazufre nicht bereits ausbrachen. Wie aber analysiert man solch einen gewaltigen Datensatz? Die Strategie dabei ist, lediglich diejenigen Datenpunkte in der Modellierung zu berücksichtigen, die ein Deformationsverhalten zeigen, das jenem im Zentrum der Beule von Lazufre ähnelt. Der lineare Korrelationskoeffizient nach Pearson erlaubt jene Messpunkte zu identifizieren, die zu 95 % einem Trend ähnlich unseres Referenzpunkts (CEN) folgen. Für den verbleibenden Datensatz lässt sich nun ein heuristisches Optimisierungsverfahren anwenden. Hierbei wird am Computer beispielsweise eine Magmaintrusion und die damit verbundene Oberflächenbewegung simuliert und mit den Satellitenradardaten abgeglichen. Dies lässt sich hundertfach wiederholen, um ein Konfidenzintervall zu erhalten und die Qualität der Quellparameter zu prüfen. Die Modelle erlauben somit einen indirekten Blick in die Tiefe, d. h. sie geben einen Hinweis auf die Ursache der Aufwölbung von Lazufre. Sowohl die Lage, als auch die exakte Geometrie und Volumenveränderung von magmatischen Körpern können so bestimmt werden. Bei Zeitreihen lassen sich zudem die Aufstiegsgeschwindigkeiten des Magmakörpers abschätzen – ein wichtiger Beitrag zur Frühwarnung. Kopplung mit dem tektonischen Umfeld Am Beispiel Lazufre können mit derartigen Modellrechnungen über 97 % der Deformationsdaten mit einem ausgedehnten, subhorizontalen und in Nordost-Richtung elongierten Öffnungsbruch (dem Lagergang) simuliert werden. Die dabei rekonstruierte Tiefe des Öffnungsbruchs liegt relativ tief, zwischen 12 und 14 km, und scheint während des gesamten Verglichen mit anderen Vulkansystemen hat sich das Lazufre-Vulkanfeld außergewöhnlich schnell entwickelt. Nach nur 10-jähriger Aufwölbungskarriere zählte es heute zu den fünf größten Vulkansystemen weltweit (Ruch et al., 2008). Vergleichbar in der Dimension sind derzeit die Aufwölbungen an der Yellowstone-Caldera oder an Long Valley (beide USA). System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.5 Somit zeigen die Satellitendaten nicht nur eine großräumige Hebung, sondern auch kleinräumige Deformationen an. Die geologischen Prozesse scheinen dabei eine Kombination aus tiefen und flachen Magmakammern, Hangrutschungen und Entgasungszonen zu sein, die räumlich und zeitlich gekoppelt auftreten. 33 Plattenrandobservatorium Chile Abb. 3: Resultate der Inversionsrechnungen für das Lazufre-Vulkanfeld (2003 bis 2008). Oben: großes langwelliges Deformationssignal, 1: gemessene Beobachtung (InSAR), 2: Modellsimulation, 3: Residuum. Unten: kleinskaliges Deformationssignal, 4: Residuum am Lastarria, 5: lokale Simulation, 6: Residuum, hier die Differenz zwischen lokaler Simulation lokaler Beobachtung. Kreise und gestrichelte Linien markieren Hebungen an Fumarolen bzw. Absenkungen in Bereichen von Hangrutschungen (HR). Fig. 3: Inversion results of the Lazufre deformation data for the period from 2003 to 2008. Large scale signal shown in upper row: (1) Observation data (InSAR), (2) synthetic models, and (3) residuals. Small scale signal shown in lower row: Observation data is the residual at Lastarria (4), (5) the synthetic model, and (6) residuals that highlight three fumarolic areas (black circles). Dashed lines indicate landslide typical flank movements (HR), which act on the western flank of the Lastarria volcano. Das wohl größte und gefährlichste europäische Vulkanfeld, das sich derzeit aufwölbt, sind die Phlegräischen Felder nahe Neapel. Das gesamte Phlegräische Becken ist allerdings mit „nur“ 500 km² Fläche deutlich kleiner als das LazufreVulkanfeld. Was lässt sich weiterhin aus der Form der Aufwölbung ableiten? Auffallend am Lazufre-Deformationsmuster ist die elliptisch elongierte Form der Aufwölbung sowie des vermutlich darunter liegenden Öffnungsbruchs in Richtung Nordnordost. Über die detaillierte Kartierung vulkanischer Eruptionszentren, Spalten und anderer fernerkundlich erkennbarer Lineamente (Verwerfungen o. ä.) lässt sich in der Lazufre-Region das regionale Spannungsfeld abschätzen. Die morphometrischen Daten weisen auf einen ausgeprägten Trend der maximalen horizontalen Kompressionsspannung in Richtung Westnordwest hin. Diese Kompressionsachse liegt nahezu orthogonal zu der Längsachse 34 der Lazufre-Beule, was auf eine mögliche vulkantektonische Kopplung hindeutet. Dies lässt sich mit dem seismologisch abschätzbaren Spannungsfeld vergleichen, wobei im Fall des Lazufre die Platznahme von Magma bevorzugt senkrecht zur horizontalen Kompressionsachse geschieht. Die beobachteten Strukturen können auch darauf hinweisen, dass die gegenwärtige Aufwölbung entweder durch ältere Schwächezonen kontrolliert ist, oder aber, dass das ältere Spannungsfeld noch dem heutigen entspricht. In beiden Fällen deutet dies erneut auf die enge Wechselwirkung von Vulkanen bzw. Magmenansammlungen in der Tiefe mit der tektonischen Umgebung hin. Ein besseres Verständnis von Spannungsfeldern und älteren Schwächezonen ließe demnach eine Prognose zu erwartender Magmabewegungen zu. Statistische Analysen zu Vulkanismus werden am GFZ unternommen und stützen sowohl in Südamerika und auch System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.5 Die „Beule“ von Lazufre Abb. 4: Die Zeitreihen der Satellitendaten von ERS (schwarze Dreiecke) und ENVISAT (graue Sternsymbole) stimmen mit den maximalen Hebungen an den Beobachtungspunkten im Zentrum von Lazufre (CEN) und Lastarria (LAS) (siehe Abb. 2) überein. Fig. 4: Time series plot for the ERS (black triangle) and ENVISAT (grey stars) datasets for two observations points that correspond to both maximum displacements at Lazufre (CEN) and Lastarria (LAS) (cf. fig. 2). weltweit die Hypothese, dass Vulkane über große Subduktionserdbeben mit dem tektonischen Umfeld gekoppelt sind. Neue Vulkaneruptionen können demzufolge insbesondere im Nahfeld (bis 250 km) von Subduktionserdbeben erwartet werden. Die Entfernung des Lazufre-Systems von möglichen größeren Erdbeben an der Subduktionszone Chiles entspricht etwa dieser signifikanten Schwelle. Zukünftige Untersuchungen könnten daher die Hypothese weiter untermauern und vor allem zur Klärung der dabei wirkenden Prozesse beitragen. schen Umgebung und lassen sich in Plattenrandobservatorien in besonderer Weise untersuchen. Das Fernziel der Untersuchungen am GFZ liegt daher nicht nur darin, Vulkane und Magmenbewegungen im Untergrund besser zu verstehen, sondern die globale Bedeutung dieser sich dynamisch verändernden Vulkansysteme und möglicher unerwarteter Eruptionen zu bewerten. Im Jahr 2008 startete das GFZ gemeinsam mit deutschen universitären Partnern und in Kooperation mit chilenischen Partnern detaillierte seismologische Messkampagnen am Lazufre. Mit den dabei gewonnenen Daten soll geprüft werden, inwiefern das magmatische System durch lokale Seismizität beeinflusst wird und wie sich während der Messkampagne stattgefundene Subduktionsbeben an lokalen Netzen und Wellenformen darstellen. Diese Arbeiten können gemeinsam mit den Beobachtungen im Rahmen des IPOC zu einem besseren Verständnis der Subduktionsdynamik und der daran beteiligten Prozesse beitragen. Literatur Ausblick Untersuchungen im Rahmen des Plattenrandobservatoriums Chile mit seinen zahlreichen aktiven und insbesondere potentiell explosiven Vulkanfeldern zeigen, dass vulkanisch scheinbar inaktive Gebiete innerhalb weniger Jahre außergewöhnlich große Aufwölbungen bilden können. Die Lazufre-Region entwickelte sich so in kurzer Zeit von einem vulkanologisch unauffälligen Gebiet zu einem der größten aktiven Vulkanfelder der Erde. Das sich in der Tiefe ansammelnde Magmenvolumen beträgt über 100 Mio. m3 (Ruch et al., 2008), d. h. es übersteigt schon jetzt die Dimension der Eruption des isländischen Eyjafjallajokull im April 2010 bei weitem – bislang aber ohne Eruption. Vor allem große explosive Vulkansysteme, die charakteristisch für die Zentralanden sind, zeigen eine Kopplung zur tektoni- System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.5 Anderssohn, J., Wetzel, H.-U., Walter, T. R., Motagh, M., Djamour, Y., Kaufmann, H. (2008): Land subsidence pattern controlled by old alpine basement faults in the Kashmar Valley, northeast Iran: results from InSAR and levelling. – Geophysical Journal International, 174, 1, 287294, 10.1111/j.1365-246X.2008.03805.x Eggert, S., Walter, T. R. (2009): Volcanic activity before and after large tectonic earthquakes: Observations and statistical significance. – Tectonophysics, 471, 1-2, 14-26, 10.1016/j.tecto.2008.10.003 Oncken, O., Hindle, D., Kley, J., Elger, K., Victor, P., Schemmann, K. (2006): Deformation of the Central Andean Upper Plate System – Facts, Fiction, and Constraints for Plateau Models – In: Oncken, O., Chong, G., Franz, G., Giese, P., Götze, H.-J., Ramos, V., Strecker, M., Wigger, P. (Eds.), The Andes – Active Subduction Orogeny, (Frontiers in Earth Sciences), Springer, 3-27 Pritchard, M. E., Simons, M. (2002): A satellite geodetic survey of largescale deformation of volcanic centres in the central Andes. – Nature, 418, 6894, 167-171, 10.1038/nature00872 Ruch, J., Walter, T. R. (2010): Relationship between the InSAR-measured uplift, the structural framework, and the present-day stress field at Lazufre volcanic area, central Andes. – Tectonophysics, 492, 1-4, 133140, 10.1016/j.tecto.2010.06.003 Ruch, J., Manconi, A., Zeni, G., Solaro, G., Pepe, A., Shirzaei, M., Walter, T. R., Lanari, R. (2009): Stress transfer in the Lazufre volcanic area, Central Andes. – Geophysical Research Letters, 36, L22303, 10.1029/2009GL041276 Ruch, J., Anderssohn, J., Walter, T. R., Motagh, M. (2008): Caldera-scale inflation of the Lazufre volcanic area, South America: Evidence from InSAR. – Journal of Volcanology and Geothermal Research, 174, 4, 337344, 10.1016/j.jvolgeores.2008.03.009 35 Global Change-Observatorium Zentralasien Seismische Risikoanalysen in Zentralasien Stefano Parolai, Angelo Strollo, Dino Bindi, Claus Milkereit, Matteo Picozzi, Domenico Di Giacomo, Marc Wieland, Massimiliano Pittore, Morgan Mayfield, Huyan Liu, Marco Pilz und Jochen Zschau Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Potsdam Central Asia was identified as one of the regions of the world with the highest seismic hazard and risk. However, the actual lack and heterogeneity of available seismological and vulnerability data make any possible seismic risk scenario highly uncertain. In order to improve seismic risk assessment in Central Asia efforts must be carried out to both increase the seismological knowledge in the area and to update and harmonise the existing vulnerability data set in the different countries. To this regard, within the Central Asia Cross-Border Natural Disaster Prevention (CASCADE) project, financed by the German Federal Foreign Office, a cross-border seismological and strong motion network in Central Asia (CAREMON) was installed. Microzonation studies in the capitals of Kyrgyzstan and Uzbekistan were started, and those for Kazakhstan, Tajikistan and Turkmenistan were triggered. The collection of a harmonised (in terms of the European Macroseismic Scale EMS) building vulnerability data base was also achieved, and a capacity building and training program accompanied all the different tasks of the project. All these activities were carried out within the framework of, and supported by, the Global Change Observatory Central Asia (GCO-CA). The digital data collected by the CAREMON network will allow to improve localisation of the seismicity in the area and to improve completeness of earthquake catalogues necessary for sounded seismic hazard assessment at regional scale. The results of the microzonation will be exploited for improving the seismic hazard and risk assessment in the capitals. Attempts were already carried out for Bishkek. Follow-up activities, including the establishment of a vertical array of accelerometer in Bishkek, are foreseen for further improving seismic hazard and risk analysis in Central Asia. 36 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.6 Seismische Risikoanalysen in Zentralasien Erdbeben und Bausubstanz: Zentralasiens hohe Vulnerabilität Nach Ergebnissen des Global Seismic Hazard AssessmentProgramms (GSHAP, Zhang et al., 1999) zählt Zentralasien zu den Regionen mit der höchsten seismischen Gefährdung weltweit. Die Untersuchung des städtischen Erdbebenrisikos der beiden zentralasiatischen Städte Bischkek, Kirgistan (865 500 Einwohner im Jahre 2009) und Taschkent, Usbekistan (2 180 000 Einwohner im Jahre 2008) war Inhalt eines NATO Science for Peace-Projekts im Jahr 2001 (Erdik et al., 2005). Im Rahmen dieses Vorhabens wurde die seismische Gefährdung der beiden Städte bewertet, Standorteffekte bestimmt, die Gebäudevulnerabilität quantifiziert und aus diesen Daten das städtische Erdbebenrisiko berechnet. Das Projekt ermittelte eine erwartete Anzahl von bis zu 34 000 Toten in Bischkek bei einer Spitzenbodenbeschleunigung mit der Wahrscheinlichkeit von 2 % des Auftretens in 50 Jahren. Zudem würden etwa 90 000 Verletzte erwartet, die im Krankenhaus behandelt werden müssten. Darüber hinaus kann ein starkes Erdbeben in der Nähe einer Großstadt auch hohe Schäden an Wirtschaftsstandorten sowie Verkehrs- und Infrastruktureinrichtungen verursachen. Aus diesen Gründen ist es wichtig, lokale Behörden und Entscheidungsträger über die zu erwartenden Konsequenzen eines großen Erdbebens zu informieren. Ein solcher Wissenstransfer kann das Ausmaß der Folgen eines Erdbebens, wie Material- und Personenschäden, Sekundärgefahren wie Erdrutsche, die ihrerseits industrielle, chemische oder nukleare Einrichtungen und Orte von Bedeutung für die nationale Sicherheit betreffen können, verringern. Für eine zielgerichtete Beratung lokaler Akteure müssen seismische Gefahrenabschätzungen für die Region optimiert und zudem realistische Erdbebenrisikoszenarien berechnet werden. Dazu ist es notwendig, die Gefahrenabschätzung erst nach vorheriger Kalibrierung der benötigten empirischen Gleichungen zur Bodenbewegung mit vor Ort aufgenommenen Daten durchzuführen. Zuvor sollten zudem auch die Eigenschaften oberflächennaher Gesteinsschichten und Böden bezüglich ihres Einflusses auf die Veränderung der Bodenbewegung im Fall eines Erdbebens berücksichtigt werden. Verlässliche Erdbebenrisikoabschätzungen sollten ferner auf hochwertigen und aktuellen Daten zur Gebäudevulnerabilität beruhen. Kontakt: Stefano Parolai (parolai@gfz-potsdam.de) System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.6 CASCADE-Projekt Das durch das deutsche Auswärtige Amt finanzierte und vom GFZ geleitete CASCADE-Projekt (Central Asia Cross-Border Natural Disaster Prevention) verfolgte daher das Ziel, im seismisch stark gefährdeten Zentralasien ein grenzübergreifendes seismologisches und Starkbeben-Netzwerk für Untersuchungen zur Mikrozonierung in den Hauptstädten Kirgistans und Usbekistans zu etablieren und damit die Vorausstetzungen für die erforderlichen Untersuchungen in Kasachstan, Tajikistan und Turkmenistan zu schaffen. Auch eine harmonisierte Datenbank der Gebäudevulnerabilität (in Bezug auf die Europäische Makroseismische Skala EMS) wurde aufgebaut. Weitere Ziele des Projekts waren Maßnahmen zur Personal- und Organisationsentwicklung vor Ort und ein Trainingsprogramm. Die Aktivitäten wurden im Rahmen des Global Change-Observatoriums Zentralasien des GFZ durchgeführt. Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse der Aktivitäten in Zentralasien zusammengefasst und zukünftige Entwicklungen vorgestellt. CAREMON – seismisches Netzwerk Im Rahmen des CASCADE-Projekts hat das GFZ gemeinsam mit InWEnt (Internationale Weiterbildung und Entwicklung gGmbH in Berlin) eine Kooperation zwischen den zentralasiatischen Ländern initiiert. Diese ermöglichte erstmals auf diesem Gebiet einen engen Kontakt und interdisziplinären Austausch der Ministerien, Institutionen und Universitäten der teilnehmenden Länder und damit eine Basis für die Installation eines neuen regionalen sowie zwischenstaatlichen seismischen Netzwerks. Das bereits installierte Central-Asian Real-Time Earthquake Monitoring Network (CAREMON) setzt sich aus sechs digitalen seismischen Stationen zusammen, die sowohl mit Breitbandals auch mit Bodenbeschleunigungssensoren (Abb. 1) ausgestattet sind. Die Echtzeit-Kommunikation wird entweder über eine Satellitenverbindung oder über eine Internetverbindung gewährleistet. Die Stationen wurden in Kasachstan (Podgornoe und Ortau), Kirgistan (Talas und Sufy-Kurgan), Turkmenistan (Ashgabat) und in Tajikistan (Djerino) installiert (Abb. 2). Eine weitere Station in Taschkent (Usbekistan) ist in Vorbereitung. Gemeinsam mit den seismischen Stationen wurde die am GFZ entwickelte SeisComp3-Software im Datenzentrum des jeweiligen Partners installiert. Die Software ermöglicht es, den kontinuierlichen Datenstrom aller Stationen zu empfangen, zu analysieren und zu archivieren. Außerdem ist das Netzwerk in das Echtzeit-Streaming von globalen Netzwerken (z. B. IRIS und GEOFON) eingebunden und berücksichtigt weitere Stationen in Zentralasien (z. B. Kabul, Afganistan). Die digitalen Daten dieses Netzwerks ermöglichen eine bessere Lokalisierung der seismischen Aktivität in der Region und tragen so zu einer Vervollständigung der Erdbebenkataloge bei, die für eine fundierte seismische Gefährdungsanalyse auf regionalem Maßstab erforderlich sind. 37 Global Change-Observatorium Zentralasien Abb. 1: Karte der CAREMON-Stationsstandorte und der Kommunikationssysteme. Die blauen Dreiecke stellen die seismischen Stationen im Gelände (Remote-Stationen) dar. Blaue Linien: Satellitenverbindung zwischen der Remote-Station und dem Datenverteiler in Almaty (Kasachstan); rote Linien: Internetverbindungen zwischen dem Verteiler und den Datenzentren in den verschiedenen Ländern. Wegen Beschränkungen der Satellitenkommunikation in Turkmenistan erfolgt die Kommunikation zwischen der Remote-Station in Ashgabat und dem Datenverteiler im Gegensatz zu den anderen Stationen über eine Internetverbindung. Fig. 1: Map showing the station locations and describing the chosen communication system. The blue triangles represent the remote stations. The blue lines represent the satellite link between the remote stations and the hub in Almaty (Kazakhstan); the red lines indicate the internet connections among the hub and the data centres installed in different countries. Differently from the others, the communication from Ashgabat station and the hub is performed via internet due to restrictive rules in Turkmenistan about satellite communication. Evaluierung der seismischen Gefährdung Für die Mikrozonierung der Hauptstädte Zentralasiens wurden innerhalb des CASCADE-Projekts und des GCO-CA-Programms zunächst zwei Orte ausgewählt, Bischkek und Taschkent. In naher Zukunft sollen auch Untersuchungen in Almaty durchgeführt werden. Die Geräte, die Software und das technische Know-how hierfür wurden dem dortigen seismologischen Institut überlassen, um die Mikrozonierung in allen weiteren Hauptstädten durchführen und anschließend die Ergebnisse vergleichend analysieren und auswerten zu können. Für die Untersuchung von Standorteffekten in Bischkek wurde von August bis Dezember 2008 ein zusätzliches temporäres Netzwerk mit 19 seismologischen Stationen im Stadtgebiet installiert. Die Analyse der Aufzeichnungen von 56 Beben und von fast 200 Messungen des seismischen Rauschens (Parolai 2010a) ermöglichte es, die räumlichen Unterschiede für das Auftreten von Standorteffekten in der Stadt abzuschätzen und eine Karte der Resonanzfrequenz 38 des Untergrundes zu erstellen (Abb. 3). Man erkennt auf dieser Karte, bei welcher Frequenz die Bodenbewegung im Fall eines Erdbebens verstärkt wird. Stimmen die Frequenzen des Untergrunds mit der Eigenfrequenz der Gebäude überein, ist es sehr wahrscheinlich, dass im Fall eines Erdbebens Schäden auftreten werden. Der Abschätzung von Standorteffekten liegt die Bestimmung der Spektralverhältnisse einerseits zwischen der horizontalen und der vertikalen Seismometerkomponente und andererseits hinsichtlich einer Referenzstation, die nahe der Stadt am nordwestlichen Rand des Tian Shan-Gebirges installiert wurde, zugrunde. Mit diesen Ergebnissen der Mikrozonierung lassen sich die seismische Gefährdungsabschätzung und die Risikovorsorge erheblich verbessern (Bindi et al., 2010a). Hervorzuheben ist dabei, dass mit Unterstützung des Global Change-Observatoriums Zentralasien im Rahmen der Mikrozonierung von Bischkek ein neues, drahtloses seismisches Messsystem entwickelt wurde, das vor allem für Messungen des seismischen Rauschens in dicht besiedelten Gebieten geeignet ist (Picozzi et al., 2010). System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.6 Seismische Risikoanalysen in Zentralasien Abb. 2: Links: Seismische Station in Ashgabat als Beispiel einer Installation. Rechts: Spektraldichte des seismischen Rauschens (in Farbe) gegenüber dem Minimal- und Maximalmodell von Peterson Fig. 2: Left: Example of installation: the Ashkabat station. Right: Power Spectral Density of seismic noise (in color) versus the Minimum and Maximum Noise Model of Peterson Seismische Vulnerabilität Innerhalb des CASCADE-Projekts wurden in Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Institut für Technologie KIT Daten zur seismischen Vulnerabilität der Gebäude in den unterschiedlichen Staaten zusammengetragen. Gemeinsam mit lokalen Partnern vor Ort konnte hierbei eine Harmonisierung der Vulnerabilitätsklassifizierung nach EMS-98 erreicht werden. Die bisher verwendeten lokalen Klassifizierungen unterscheiden sich teilweise sehr stark. Die Ad-hoc-Klassifizierung auf der Basis eines einheitlichen Verfahrens wird als ein nächstes Ziel angestrebt. In naher Zukunft sollen erste Schritte in diese Richtung unternommen werden. Um das enorme Wachstum der Städte adäquat zu berücksichtigen, sollen zukünftig satelliten- und bodenbasierte Fernerkundungsmethoden kombiniert werden. Die Daten sollen in zukünftige Kooperationen mit weiteren lokalen Partnern für eine verbesserte Abschätzung des seismischen Risikos in Zentralasien einfließen. Eine erste Abschätzung der Qualität der Risikoszenarien auf Grundlage der gesammelten Daten wurde von Bindi et al. 2010a für Bischkek durchgeführt und belegt, dass geologische Standorteffekte maßgeblich für die räumliche Verteilung der Schäden an Infrastrukturen verantwortlich sind. Folgerungen und Ausblick Erste Erdbebenrisikoabschätzungen mit verbesserten Eingabedaten auf Stadtebene wurden bereits für verschiedene Städte Zentralasiens durchgeführt. Die hier vorgestellten Erdbebenrisikoszenarien für Zentralasien sollen zukünftig weiter optimiert werden. Insbesondere die seismischen Kataloge, System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.6 d. h. die historisch und instrumentell aufgezeichnete Seismizität, sollen räumlich und zeitlich vervollständigt werden. Wegen fehlender Aufzeichnungen starker Bodenbewegungen konnten beispielsweise ortsspezifische Gleichungen für die Vorhersage der Bodenbewegung in der Vergangenheit nicht berechnet werden. Die Installation eines grenzüberschreitenden CASCADE-Netzwerks wird auf lange Sicht zur Lösung dieses Problems beitragen. Kurzfristige Abhilfe könnten numerische Simulationen (unter Verwendung der wenigen verfügbaren Datensätze) schaffen, wozu entsprechende Untersuchungen geplant sind. Aktuelle Karten der seismischen Gefährdung Zentralasiens werden derzeit erstellt. Das Auftreten von Standorteffekten und die damit im Fall eines Erdbebens zu erwartenden größeren Schäden und Verluste in Bischkek stellen deutlich die Wichtigkeit seismischer Untersuchungen für weitere große Städte in Zentralasien heraus. Denn nur über ein besseres Verständnis der Bodenbewegung während starker Erschütterungen kann die Risikoabschätzung optimiert werden. Zu diesem Zweck sollen mit Unterstützung des Global Change-Observatoriums Zentralasien mehrere Bodenbeschleunigungsmessgeräte für einen vertikalen Array in Bischkek installiert werden; erste Erfahrungen mit einer solchen Versuchsanordnung wurden bereits bei ähnlichen Experimenten erfolgreich für die Metropole Istanbul gesammelt (Parolai et al., 2009; Parolai et al., 2010b; Bindi et al., 2010b). Die Messgeräte sollen bis in eine Tiefe von 150 m unter der Erdoberfläche installiert werden, um das Verhalten des Untergrunds während des letzten Teils der Wellenausbreitung zu beobachten. Auch nichtlineare Effekte können mit einer solchen Versuchsanordnung erkannt und ihre Ursachen analysiert werden. Ebenso können die geotechnischen Eigenschaften des Untergrunds vor Ort abgeschätzt werden. Die aufgezeichneten 39 Global Change-Observatorium Zentralasien Abb. 3: Resonanzfrequenz des Untergrunds für Bischkek (Kirgistan). Die Ergebnisse beruhen auf Messungen des seismischen Rauschens im Stadtgebiet und der Umgebung. Fig. 3: Map of the fundamental frequency of resonance estimated from noise measurements for the area around Bishkek (Kyrgyzstan). Abb. 4: Stadtentwicklung von Bischkek (Kirgistan) im Zeitraum von 1977 bis 2009. Die Daten basieren auf der Analyse von Landsat MSS und TM-Bildern. Fig. 4: Map of the urban growth of Bishkek (Kyrgyzstan) from 1977 to 2009. Based on multitemporal change detection analysis of Landsat MSS and TM images. 40 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.6 Seismische Risikoanalysen in Zentralasien Daten können über das Internet in Echtzeit zum GFZ und zum Zentralasiatischen Institut für angewandte Geowissenschaften (ZAIAG) übertragen werden. Die Analyse und der Vergleich der im Gelände und im nahegelegenen ZAIAG aufgezeichneten Daten ermöglicht außerdem, Wechselwirkungen zwischen den Gebäuden und dem Untergrund sowie das genaue Verhalten der Gebäude während eines Bebens vollständig zu erfassen. Es ist zudem vorgesehen, für die Region Zentralasien an der zur Installation des vertikalen Array nötigen Bohrung einen Forschungsstandort einzurichten, an dem Verfahren der angewandten Geophysik getestet und weiterentwickelt werden können. Ein weiteres Vorhaben ist die Aktualisierung der Vulnerabilitätsdatensätze für Bischkek. Nach amtlichen Schätzungen soll die Anzahl der Gebäude in Bischkek seit der letzten Volkszählung im Jahr 2000 um rund 20 % gestiegen sein. Diesem enormen Wachstum kann nur mit neuen, schnellen Verfahren zur Abschätzung der Vulnerabilität Rechnung getragen werden. Abb. 4 zeigt den Ansatz des GFZ, Veränderungen der Siedlungsstruktur in Bischkek mit Satellitenbildern zu erfassen und auszuwerten. Da Satellitenbilder allein jedoch nicht alle notwendigen Informationen für eine verlässliche Abschätzung der seismischen Vulnerabilität liefern können, wird ein erweiterter Ansatz entwickelt, dem eine gleichzeitige Analyse von Satellitenbildern und Panoramakameraaufnahmen zugrunde liegt. Erste Studien werden hierzu bereits in Bischkek durchgeführt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass verlässliche seismische Risikoszenarien für Zentralasien erfolgreich entwickelt werden konnten. Weitere Untersuchungen sollen die Ergebnisse aus Standortstudien zu einem großräumigen Gesamtbild zusammenfügen und damit auch die Qualität der Befunde weiter verbessern. Insbesondere ist eine noch intensivere fachübergreifende Zusammenarbeit von Experten der Seismologie, Geophysik, Geographie und von Bauingenieuren erforderlich, um verlässliche Ergebnisse zu erhalten, wie der in CASCADE verwendete Ansatz eindrucksvoll und erfolgreich belegt. System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.6 Literatur Bindi, D., Mayfield, M., Parolai, S., Tyagunov, S., Begaliev, U. T., Abdrakhmatov, K., Moldobekov, B., Zschau, J. (2010): Towards an improved seismic risk scenario for Bishkek, Kyrgyz Republic. – Soil Dynamics and Earthquake Engineering, 31, 3, 521-525, 10.1016/j. soildyn.2010.08.009 Bindi, D., Parolai, S., Picozzi, M., Ansal, A. (2010): Seismic Input Motion Determined from a Surface-Downhole Pair of Sensors: A Constrained Deconvolution Approach. – Bulletin of the Seismological Society of America, 100, 3, 1375-1380, 10.1785/0120090306 Erdik M., Rashidov, T., Safak, E., Turdukulov, A. (2005): Assessment of seismic risk in Taschkent, Uzbekistan and Bischkek, Kyrgyz Republic. – Soil Dynamics and Earthquake Engineering, 25, 7-10, 473–486, 10.1016/j.solidyn.2004.11.002 Parolai, S., Ansal, A., Kurtulus, A., Strollo, A., Wang, R., Zschau, J. (2009): The Ataköy vertical array (Turkey): insights into seismic wave propagatin in the shallow-most crustal layers by waveform deconvolution. – Geophysical Journal International, 178, 3, 1649-1662, 10.1111/j.1365-246X.2009.04257.x Parolai, S., Orunbaev, S., Bindi, D., Strollo, A., Usupaev, S., Picozzi, M., Di Giacomo, D., Augliera, P., D’Alema, E., Milkereit, C., Moldobekov, B., Zschau, J. (2010): Site Effects Assessment in Bishkek (Kyrgyzstan) Using Earthquake and Noise Recording Data. – Bulletin of the Seismological Society of America, 100, 6, 3068-3082, 10.1785/0120100044 Parolai, S., Bindi, D., Ansal, A., Kurtulus, A., Strollo, A., Zschau, J. (2010): Determination of shallow S-wave attenuation by down-hole waveform deconvolution: a case study in Istanbul (Turkey). – Geophysical Journal International, 181, 2, 1147-1158, 10.1111/j.1365-246X.2010.04567.x Picozzi, M., Milkereit, C., Parolai, S., Jäckel, K. - H., Veit, I., Fischer, J., Zschau, J. (2010): GFZ Wireless Seismic Array (GFZ-WISE), a Wireless Mesh Network of Seismic Sensors: New Perspectives for Seismic Noise Array Investigations and Site Monitoring. – Sensors, 10, 4, 3280-3304, 10.3390/s100403280 Zhang P., Yang, Z., Gupta, H. K., Bhatia, S. C., Shedlock, K. M. (1999): Global seismic hazard assessment program (GSHAP) in continental Asia. – Annali di Geofisica, 42, 6, 1167–90 41 Hochwassermanagement Ein neues Modell für die Berechnung von Hochwassergefährdungskarten Sergiy Vorogushyn 1, Heiko Apel 1, Karl-Erich Lindenschmidt 2, Bruno Merz 1 Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Potsdam, 2 GFZ, jetzt Manitoba Water Stewardship, Kanada 1 Hazard and risk assessments for river reaches protected by dikes have not adequately considered the inundation processes up to now. Particularly, the processes of dike failures and their influence on the hinterland inundation and flood wave propagation lack comprehensive consideration. This study focuses on the development and application of a new modelling system which allows a comprehensive flood hazard assessment along diked river reaches considering dike failures. The Inundation Hazard Assessment Model (IHAM) developed at the GFZ German Research Centre for Geosciences comprises three models interactively coupled at runtime. These are: (1) 1D unsteady hydrodynamic model for river channel and floodplain between dikes, (2) probabilistic dike breach model, which assesses dike breach probabilities, breach widths and flow rates through the breach, and (3) 2D raster-based diffusion wave storage cell model of the hinterland areas behind the dikes. IHAM generates probabilistic flood hazard maps that show spatial characteristics of inundation depths, flow velocities and other flood intensity indicators. These maps explicitly indicate uncertainties of these characteristics. Furthermore, IHAM enables the identification of endangered dike sections and computation of their failure probabilities. The knowledge gained with IHAM can significantly contribute to the planning of flood protection measures and risk analyses. Elbehochwasser 2006 bei Meißen 42 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.7 Ein neues Modell für die Berechnung von Hochwassergefährdungskarten Deichbüche: Unzureichende Gefährdungsabschätzung Flussdeiche bieten einen effizienten Schutz gegen kleine und mittlere Hochwasser. Unter der Last hoher Wasserstände sowie langer Anstaudauer können diese Flussdeiche jedoch versagen (Abb. 1). Die Schäden solcher Deichbrüche können dramatische Ausmaße erreichen. Denn entlang eingedeichter, inzwischen nur noch selten überfluteter Flussabschnitte haben sich hinter den Deichen die wirtschaftlichen Aktivitäten intensiviert und große Werte z. B. in Form von Wohngebäuden und Unternehmen akkumuliert. Hochwasserexperten berechnen daher nicht nur die Gefährdung, sondern auch das Schadenspotential einer Region, um das Risiko für die dort lebenden Menschen und ihren Besitz zu ermitteln und geeignete Maßnahmen für deren Schutz zu ergreifen. Bisherige Methoden zur Gefährdungs- und Risikoabschätzung für die eingedeichten Flussstrecken sind jedoch noch unzureichend. Besonders Deichbrüche und deren Einfluss auf die Überflutung im Hinterland sind bisher wenig verstanden. Auch wurde nur selten untersucht, wie sich die Verringerung des Hochwasserscheitels infolge der Deichbrüche stromaufwärts auf die Deichstabilität im Unterlauf und die Gefährdung auswirkt (Apel et al. 2004, 2006). Die Berechnung von Überflutungscharakteristika wie Wassertiefen und Fließgeschwindigkeiten ist mit großen Unsicherheiten behaftet. Wie die Berücksichtigung von Deichbrüchen zu diesen Unsicherheiten beiträgt, wurde bisher wissenschaftlich nicht untersucht. IHAM – Inundation Hazard Assessment Model Ein neuer, am GFZ entwickelter Modellierungsansatz schließt diese Lücke und ermöglicht eine genaue Abschätzung der Hochwassergefährdung entlang eingedeichter Flussstrecken unter Berücksichtigung von Deichbrüchen. Das Inundation Hazard Assessment Model (IHAM; Vorogushyn et al. 2010) besteht aus drei gekoppelten Einzelmodellen: (1) einem eindimensionalen hydrodynamisch-numerischen Modell für den Fluss und die Vorländer zwischen den Deichen, (2) einem wahrscheinlichkeitsbasierten Deichbruchmodell, das die Wahrscheinlichkeiten von Deichbrüchen, mögliche Breschenbreiten und Breschenausflüsse ermittelt, und (3) einem zweidimensionalen raster-basierten Überflutungsmodell für das Hinterland, das auf dem sogenannten Speicherzellenansatz und der Diffusionswellengleichung basiert. Ein Schema des IHAM und des Simulationsablaufs ist in Abb. 2 dargestellt. Durch die Kopplung des Flussmodells mit dem Überflutungsmodell kann die Interaktion zwischen Fluss und Vorland abgebildet werden. Beispielsweise setzt ein Rückfluss aus Überflutungsflächen in den Fluss ein, wenn der Wasserstand im Fluss sinkt. Kontakt: Sergiy Vorogushyn (vorogus@gfz-potsdam.de) System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.7 Das wahrscheinlichkeitsbasierte Deichbruchmodell beschreibt Deichbrüche, die infolge von drei möglichen Bruchmechanismen auftreten: dem Überströmen, dem hydraulischen Grundbruch im Deichuntergrund und dem Versagen der landseitigen Böschung als Folge des Sickerflusses und der Erosion im Deichkörper (Mikroinstabilität). Diese drei Bruchmechanismen wurden als die wichtigsten Auslöser für Deichbrüche an heterogenen, über Jahrzehnte aufgebauten Deichen identifiziert (Nagy & Tóth 2005, Horlacher et al. 2005). Für jeden Bruchmechanismus wurden Deichbrüche auf der Basis von sogenannten Fragilitätsfunktionen simuliert, mit deren Hilfe die Versagenswahrscheinlichkeit eines Deichabschnitts unter bestimmter hydraulischer Last (Wasserstand und Anstaudauer) berechnet werden kann. Die Versagenswahrscheinlichkeit wird durch die Unsicherheiten bezüglich der geometrischen und geotechnischen Deichparameter beeinflusst. Bei der Erstellung der Fragilitätsfunktionen wird dies mittels MonteCarlo-Simulation explizit berücksichtigt (Apel et al. 2004, Vorogushyn et al. 2009). Das zweidimensionale Überflutungsmodell berechnet ein erweitertes Spektrum von Hochwasserintensitätsindikatoren wie Überflutungstiefe, Fließgeschwindigkeit, Impuls, Überflutungsdauer und Wasseranstiegsrate nach einem simulierten Deichbruch. Auch das IHAM-Kernmodul wird im Rahmen einer MonteCarlo-Simulation ausgeführt (Abb. 2) und berücksichtigt die natürliche Variabilität der Hochwasserereignisse. Die Eingangsszenarien werden aus der Analyse von historischen Hochwasserabflussreihen mittels Extremwertstatistik und Clusteranalyse erstellt (Apel et al. 2004) und sind somit mit Wahrscheinlichkeiten belegt. Deichversagen wird als eine weitere stochastische Komponente im Modell berücksichtigt und wird auf der Grundlage von Fragilitätsfunktionen für jeden Deichabschnitt Abb. 1: Deichbruch im Elbeeinzugsgebiet während des Hochwassers 2002 Fig. 1: Dike breach in the Elbe catchment during the flood of 2002 43 Hochwassermanagement Abb. 2: Schematische Darstellung des IHAM-Modellierungssystems und Simulationsablaufs (Vorogushyn et al. 2010) Fig. 2: Schematic representation of the IHAM modelling system and simulation workflow (Vorogushyn et al. 2010) Abb. 3: Häufigkeitsverteilung der Breschenbreiten im Elbeeinzugsgebiet während des Hochwassers 2002 und angepasste Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion (Vorogushyn et al. 2010). Datenquelle: Gocht 2002, Horlacher et al. 2005 Fig. 3: Frequency distribution of breach widths in the Elbe catchment during the flood event of 2002 and fitted probability density function (Vorogushyn et al. 2010). Data source: Gocht 2002, Horlacher et al. 2005 44 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.7 Ein neues Modell für die Berechnung von Hochwassergefährdungskarten Abb. 4: Wahrscheinlichkeitsbasierte Deichgefährdungskarte für ein Hochwasserszenario, das – statistisch gesehen – im Schnitt ein Mal in 200 Jahren auftritt. Fig. 4: Probabilistic dike hazard map for aflood scenario which statistically occurs on average once in 200 years. Abb. 5: Wahrscheinlichkeitsbasierte Hochwassergefährdungskarten für ein Hochwasserszenario mit der Wiederkehrperiode von 100 Jahren. Als Hochwasserintensitätsindikator wird die maximale Wassertiefe dargestellt. Fig. 5: Probabilistic flood hazard map for a scenario with the return period of 100 years flood event at gauge Torgau. Maximum inundation depth is used as flood intensity indicator. System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.7 45 Hochwassermanagement Abb. 6: Differenz zwischen den Bruchwahrscheinlichkeiten und maximalen Wassertiefen in 100-jährigen Szenarien mit und ohne Polder. Fig. 6: Difference in dike breach probability and maximum inundation depth between flood scenarios with and without detention areas (100-year flood scenarios). und den simulierten hydraulischen Verhältnissen modelliert. Im Fall eines simulierten Deichbruchs wird die Breschenbreite im Modellsystem stochastisch aus der Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion (Abb. 3) bestimmt. Testgebiet Elbe Das Modell wurde für einen etwa 91 km langen Flussabschnitt entwickelt und getestet. Dieser Flussabschnitt ist durchgängig eingedeicht und befindet sich an der deutschen Elbe zwischen den Pegeln Torgau und Vockerode. Die Fließstrecke hat ein relativ geringes Gefälle sowie besonders breite und flache Hinterlandbereiche. Nach Deichbrüchen werden diese Hinterlandflächen sehr großräumig überflutet, wie zum Beispiel während des Hochwassers im August 2002. Das eindimensionale hydrodynamisch-numerische Modell wurde für die Fliessstrecke aufgesetzt, kalibriert und validiert. Die geometrischen und geotechnischen Deichparameter wurden aus verschiedenen Literaturquellen bezogen (Kanowski 1977, Macke 2001, Gocht 2002, Kortenhaus & Oumeraci 2004, LTV 2006) und beziehen sich auf die unsanierten Deichzustände vor dem August-Hochwasser 2002. Sie entsprechen daher nicht dem heutigen Schutzniveau. Die Szenarioberechnungen 46 wurden von synthetischen Hydrographen für den Hauptstrom und die Nebenflüsse angetrieben, die für Hochwässer mit Wiederkehrintervallen von 100, 200, 500, und 1000 Jahren entwickelt wurden (Abb. 2). Mit der Monte-Carlo-Simulation werden die Hochwasserabflüsse entlang der Strecke berechnet. Die berechneten Deichbruchhäufigkeiten werden durch wahrscheinlichkeitsbasierte Deichgefährdungskarten visualisiert (Abb. 4). Diese Deichgefährdungskarten bilden die Versagenswahrscheinlichkeiten der einzelnen Deichabschnitte für jedes modellierte Hochwasserszenario ab. Die Versagenswahrscheinlichkeiten lassen sich auch separat für jeden Bruchmechanismus (Überströmen, hydraulischer Grundbruch und Mikroinstabilität) berechnen und darstellen. Karten dieser Art können für die Planung von Deichaufbaumaßnahmen genutzt werden sowie Hinweise darauf geben, welche Deichstrecken während extremer Hochwasserereignisse besonders geschützt bzw. verstärkt werden müssen. Als ein weiteres Ergebnis der Simulation werden wahrscheinlichkeitsbasierte Hochwassergefährdungskarten erstellt (Abb. 5). Diese Karten stellen räumliche Muster von Überflutungstiefen, Fließgeschwindigkeit, Überflutungsdauern und System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.7 Ein neues Modell für die Berechnung von Hochwassergefährdungskarten anderen Hochwasserintensitätsindikatoren für Szenarien mit verschiedenen Wiederkehrperioden dar. IHAM ermöglicht die Erstellung sogenannter Perzentilkarten der Hochwassergefährdung, die den Median und die Unsicherheitsbänder der Hochwasserintensitätsindikatoren darstellen (Abb. 5). Die Unsicherheiten resultieren aus der natürlichen Variabilität der Hochwasserganglinien und der Zufälligkeit der Deichbruchprozesse wie Bruchstelle am Fluss, Bruchzeitpunkt, und Breschenbreite. Schließlich wurden mit IHAM Szenarien im Hinblick auf die Aktivierung eines geplanten Polders an der mittleren Elbe simuliert. Die Minderung des Abflussscheitels durch den Polder führt zu einem leichten Rückgang der Bruchwahrscheinlichkeiten flussabwärts des Polders (Abb. 6). Das resultiert in einer Verringerung der Überflutungstiefe bis zu 1,9 m. Die Beispiele zeigen, dass das IHAM-Modellierungssystem wichtige Informationen zur Effizienzbewertung von Hochwasserschutzmaßnahmen liefern kann. Werkzeug für ein modernes Hochwassermanagement Das am GFZ entwickelte IHAM-Modellierungssystem stellt ein neues wissenschaftliches Werkzeug für die Untersuchung fluvialer Überflutungsdynamik in extremen Hochwassersituationen unter Berücksichtigung des Einflusses technischer Hochwasserschutzmaßnahmen dar. Das System hat eine hohe praktische Bedeutung für die Entscheidungsunterstützung im modernen Hochwassermanagement. Die neuartigen wahrscheinlichkeitsbasierten Deichbruch- und Hochwassergefährdungskarten können effizient bei der Risikokommunikation eingesetzt werden. Die Gefährdungskarten zeigen erstmalig die Unsicherheiten, mit denen die Gefährdungsaussagen behaftet sind und tragen damit zu einer wirksamen Verbesserung der Gefahrenabwehr bei. System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.7 Literatur Apel, H., Thieken, A. H., Merz, B., Blöschl, G. (2004): Flood risk assessment and associated uncertainties. – Natural Hazards and Earth System Sciences, 4, 2, 295-308, 10.5194/nhess-4-295-2004 Apel, H., Thieken, A. H., Merz, B., Blöschl, G. (2006): A probabilistic modelling system for assessing flood risks. – Natural Hazards, 38, 1-2, 79-100, 10.1007/s11069-005-8603-7 Gocht, M. (2002): Deichbrüche und Deichüberströmungen an Elbe und Mulde im August 2002, Final Report, Berlin, Water & Finance, 56 S. Horlacher, H.-B. (2005): Analyse der Deichbrüche an der Elbe und Mulde während des Hochwassers 2002 im Bereich Sachsen, (Forschungsbericht ; F02005/03), Technische Universität Dresden, 82 S. Kanowski, H. (1978): Ein Beitrag zur zerstörungsfreien Untersuchung von Flussdeichen, Dresden Kortenhaus, A., Oumeraci, H. (Eds.) 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As a reaction to this devastating catastrophe a Tsunami Early Warning System is being developed and installed in the region since 2005. This article describes the causes of a tsunami, and explains the concept, technical components and functionality of the Early Warning System. 48 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.8 GITEWS – das Tsunami-Frühwarnsystem für den Indischen Ozean Der verheerende Tsunami vom 26. Dezember 2004 im Indischen Ozean wurde vom drittstärksten Erdbeben der letzten 100 Jahre mit einer Magnitude von 9,3 vor der Nordküste Sumatras ausgelöst. Hier riss innerhalb von rund zehn Minuten der Meeresboden über eine Strecke von 1200 Kilometern auf. Der vertikale Versatz am Meeresboden betrug bis zu zehn Meter. Die Ursache Rund zwanzig Minuten nach den ersten Erdstößen trafen die ersten Tsunami-Wellen auf die Nordwestküste der Insel und verwüsteten Banda Aceh nahezu vollständig. Allein in Indonesien starben fast 170 000 Menschen. Der Tsunami erreichte nach anderthalb Stunden Thailand, zerstörte nach zwei Stunden die Küste Sri Lankas, wanderte weiter nach Westen und erreichte schließlich die Ostküste Afrikas. Auch dort starben rund acht Stunden nach dem Erdbeben noch Hunderte von Menschen. Insgesamt forderte er rund 230 000 Menschenleben. Im Indischen Ozean ist der Sunda-Bogen eine solche Kollisionszone, an der die Indisch-Australische Platte mit einer Geschwindigkeit von sieben Zentimetern pro Jahr unter die Eurasische Platte geschoben wird. Der Bogen erstreckt sich parallel zu den Küsten Indonesiens im Indischen Ozean. Mit einer Länge von 6000 Kilometern gehört er zu den aktivsten Plattengrenzen der Erde und birgt daher ein starkes Erdbebenrisiko. Zwar war dieses gewaltige tektonische Ereignis von allen seismologischen Netzen auf der Erde erfasst worden, es bestand aber keine Möglichkeit der Warnung, da für den Indischen Ozean kein Tsunami-Frühwarnsystem existierte. Kein Staat am Indischen Ozean war auf das Eintreten einer solchen Katastrophe vorbereitet, Handlungsoptionen für Notfälle, Alarmpläne oder gar Evakuierungspläne waren nicht vorhanden. Die Katastrophe hat die betroffenen Regionen völlig unvorbereitet getroffen. Dabei ist die tektonische Gefährdung der Region lange bekannt. Unmittelbar nach dieser Katastrophe hat ein Konsortium deutscher Forschungseinrichtungen 1 unter Federführung des Deutschen GeoForschungsZentrums GFZ der Bundesregierung ein Konzept zur Einrichtung eines Tsunami-Frühwarnsystems im Indischen Ozean vorgelegt, das „German Indonesian Tsunami Early Warning System“ (GITEWS). Es wurde bereits Ende Januar 2005 in Kobe, Japan, der internationalen Öffentlichkeit vorgestellt und wird seit März 2005 mit dem Schwerpunkt in Indonesien umgesetzt (Rudloff et al., 2009). 1 Konsortialpartner: Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven; Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Köln/Oberpfaffenhofen; Helmholtz-Forschungszentrum Geesthacht HZG (ehemals GKSS); Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Potsdam; Leibniz-Institut für Meeresforschung IfM-Geomar, Kiel; Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ (ehemals GTZ), Eschborn; United Nations University, Institute for Environmental and Human Security (UNU-EHS), Bonn; Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), Hannover; Konsortium Deutscher Meeresforschung KDM, Berlin Kontakt: Jörn Lauterjung (lau@gfz-potsdam.de) System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.8 Etwa 90 % der Tsunami werden durch starke untermeerische Erdbeben an Kollisionszonen zwischen Ozeanplatten und Kontinenten verursacht (Abb. 1). Ursachen der restlichen 10 % sind Vulkanausbrüche oder untermeerische Hangrutschungen. Aber nur ein Beben, das zu einer starken Vertikalbewegung des Ozeanbodens führt, kann einen Tsunami auslösen, da es seine Energie auf die Wassersäule überträgt und sich so die Ozeanoberfläche aufwölbt. Diese initiale „Welle“ beginnt dann, angetrieben durch die Schwerkraft, durch den Ozean zu laufen. Ihre zerstörerische Kraft entwickelt sie erst im flachen Wasser und beim Auflaufen auf die Küste, wo sie langsamer, dafür aber höher wird. In Banda Aceh wurden 2004 Wellenhöhen von über 20 Metern beobachtet. Schneller reagieren: ein neues Tsunami-Warnsystem In Indonesien liegt die besondere Herausforderung darin, dass die Erdbebenzone weitgehend parallel und in dichtem Abstand zur Küste über eine Länge von mehreren tausend Kilometern verläuft (Lauterjung et al., 2010). Die Laufzeiten eines Tsunami bis zur Küste liegen hier zwischen 20 und 40 Minuten. Die ersten Informationen müssen spätestens nach fünf bis zehn Minuten vorliegen, weil die Bevölkerung sonst keine Chance hat zu reagieren. Diese extrem kurze Vorwarnzeit bestimmt die technische und geografische Auslegung eines Tsunami-Frühwarnsystems. Das System muss zudem in der frühen Phase des Warnprozesses mit wenigen Informationen und Messwerten auskommen, die teilweise mit Unsicherheiten behaftet sein können. Die Komponenten von GITEWS GITEWS baut auf diesen Bedingungen auf und beruht daher einerseits auf dichten Sensornetzwerken nahe der Gefährdungsquelle, dem Sunda-Bogen, zum anderen nutzt es unterschiedliche Messverfahren, um schnell voneinander unabhängige Informationen zu erhalten. So können die jeweiligen Unsicherheiten der einzelnen Messwerte der verschiedenen Sensorsysteme ausgeglichen und reduziert werden. Folgende Komponenten und Messverfahren werden dabei kombiniert: 49 Frühwarnsysteme 1,8 Eurasische Platte 3,7 5,4 2,3 5,5 5,4 5,6 2,3 2,0 2,0 Pazifische Platte 3,0 9,2 10,0 17,2 10,5 Nazca Platte 7,1 7,5 1,7 1,3 Aktive Plattenränder 7,2 7,3 6,0 3,7 10,3 erosiv akkretionär Transform 5,7 10,1 6,0 6,2 4,1 2,5 3,0 Südamerikanische Platte 3,3 7,7 Abb. 1: Globale tektonische Karte mit den Großplatten, den in den Ozeanen liegenden Spreizungszonen (in grün) und den Kollisionsstrukturen (gelb, rot und blau). Fig. 1: Global tectonic map showing tectonic plates, oceanic spreading zones (green) and active continental margins (yellow, red and blue) Erdbebenmonitoring Deformationsmonitoring Die Positionierung der Seismometer und der Aufbau des Netzwerks in Indonesien folgt der Forderung, dass ein Erdbeben innerhalb von zwei Minuten an mindestens drei Stationen des Netzes registriert wird und somit eine erste Lokalisierung sehr schnell erfolgen kann (Abb. 2). Ein im Vergleich zu bereits existierenden Frühwarnsystemen völlig neuer Ansatz ist der Einsatz von GPS zur Überwachung der erdbebenbegleitenden Deformationen. Aus den gemessenen GPS-Vektoren kann bereits kurz nach einem starken Erdbeben die Richtung des Erdbebenbruchs bestimmt werden. Da sich aus der Seismologie in den ersten fünf bis zehn Minuten lediglich die Lage des Epizentrums und die Magnitude, aber keine fundierten Daten zur Geometrie des Bruchs bestimmen lassen, ergänzen sich beide Methoden ideal. Die Geometrie des Bruchs ist von entscheidender Bedeutung für den Entscheidungsprozess zur Auswahl eines geeigneten Lagebildes (siehe Abschnitt zur Entscheidungsfindung unten). Das GPS-Monitoring (Falck et al., 2010) entlang der Küste Indonesiens bis zum Indischen Ozean hin wird über ein Referenznetz von GPS-Stationen gemeinsam mit über ganz Indonesien verteilten seismischen Stationen ausgeführt. Eingebunden sind auch GPS-Stationen entlang der Küstenlinie und auf vorgelagerten Inseln. Teilweise befinden sich diese GPS-Stationen auf den Küstenpegeln. Die erforderliche Genauigkeit von einigen Zentimetern wird durch die gleichzeitige Prozessierung der GPS-Stationen in der Nähe eines Erdbebens und der Referenzstationen erreicht. Die nachträgliche Auswertung der Aufzeichnungen existierender GPS-Stationen während des Sumatra-Bebens 2004 ergab Verschiebungen bis zu zehn Meter horizontal und drei Meter vertikal an der Erdoberfläche. Dabei wird die Lokalisierung und Magnitudenbestimmung im Lauf der folgenden Minuten durch die Einbeziehung weiterer Stationen immer sicherer und präziser. Kernstück des Systems ist die speziell für Frühwarnsysteme neu entwickelte Auswertesoftware SeisComp3 des GEOFON-Netzes (Hanka et al., 2010). Das Erdbebenmonitoring-System in Indonesien wurde in enger Kooperation mit indonesischen, japanischen und chinesischen Partnern umgesetzt. Mittlerweile sind 160 seismische Stationen in Indonesien aufgebaut. Mit diesem System werden Erdbeben in Indonesien innerhalb von zwei bis vier Minuten lokalisiert und die Magnituden berechnet. Der gesamte Frühwarnprozess wird durch die Meldungen des seismischen Systems ausgelöst. 50 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.8 GITEWS – das Tsunami-Frühwarnsystem für den Indischen Ozean Abb. 2: Verteilung der seismischen Stationen in Indonesien Fig. 2: Distribution of seismic stations in Indonesia Ozeaninstrumentierung Modellierung und Simulation Da nicht jedes Seebeben einen Tsunami erzeugt, muss die Tsunami-Welle im Ozean selbst gemessen werden, um unnötige Fehlalarme zu vermeiden. Tsunami-Wellen erzeugen Druckänderungen am Ozeanboden, die sehr genau mit Messsystemen, die aus einer Ozeanbodeneinheit und einer Boje bestehen, erfasst werden können. Die Boje selbst dient nicht nur als Relaisstation für die Übertragung der Druckdaten vom Ozeanboden, sondern kann über eigene, genaue GPS-Messungen ihrer vertikalen Position Seegangsdaten aufnehmen. Bei einem Tsunami überlagern sich der normale Seegang und die Tsunami-Welle. Da der normale Seegang deutlich kürzere Wellenlängen als eine Tsunami-Welle hat, können beide Effekte durch eine mathematische Filterung voneinander getrennt werden. Die Sicherheit des Gesamtsystems kann so mit einer von der Druckmessung unabhängigen Methode zur Erfassung der Tsunami-Welle erhöht werden. Insgesamt sind zehn dieser Systeme entlang der West- und Südküste Indonesiens ausgebracht worden. Modelle des gesamten Indischen Ozeanbeckens lassen sich nicht in hinreichend kurzer Zeit erstellen. Daher wurden bereits im Vorfeld mehr als 2000 Simulationen berechnet, die unterschiedliche Erdbebenlokationen entlang des Sunda-Bogens sowie eine Variation der Bebenstärken und damit der Erdbebenrisslängen berücksichtigen (Behrens et al., 2010). Diese Modellergebnisse sind in einer Datenbank abgelegt. Das Modellierungssystem besteht dabei aus einem Modul, mit dem die Anregungsfunktion, also die Verformung des Meeresbodens als Folge des Erdbebens, berechnet wird (Babeyko et al., 2010). Ein weiteres Modul kalkuliert die Ausbreitung der TsunamiWelle im Ozean und das Auflaufen auf die Küste. Melden das Erdbebenmonitoring-System und die ozeanographischen Messungen einen Tsunami, wird mit den gemessenen Parametern – Erdbebenlokation, Bebenmagnitude, krustale Deformation und Wellenhöhe im tiefen Ozean – die am besten geeignete, vorher berechnete Simulation als Basis für eine Warnmeldung aus der Datenbank ausgewählt und in eine Gefährdungskarte für die betreffenden Küstenabschnitte umgesetzt. Der gesamte Prozess läuft im Daten- und Frühwarnzentrum automatisiert innerhalb weniger Sekunden ab. Die Tsunami-Simulationen spielen für den gesamten Warnprozess eine zentrale Rolle, weil nur so aus den an wenigen Punkten vorliegenden Messdaten ein Gesamtbild der Lage erzeugt werden kann. Schon kurze Zeit nach einem Erdbeben werden Ankunftszeiten, Wellenhöhen oder Überflutungsbereiche an den betroffenen Küstenabschnitten Weitere ozeanographische Daten werden über Küstenpegel bestimmt, die an den Westküsten der Sumatra vorgelagerten Inseln sowie auf weiteren Inseln im und Häfen am Indischen Ozean aufgebaut wurden (Abb. 3). System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.8 51 Frühwarnsysteme Abb. 3: Ozean-Instrumentierung: Pegelstation (links) und GPS-Boje (rechts) Fig. 3: Ocean instrumentation: Coastal tide gauge (left) and GPS buoy (right) abgeschätzt. In Kombination mit weiteren Daten, wie z. B. der Besiedlungsstruktur, ergibt sich eine erste Lageeinschätzung für Behörden und Bevölkerung. Das Daten- und Frühwarnzentrum Herzstück des Frühwarnsystems ist das Warnzentrum, in dem die Daten der über Satellitenkommunikation online verfügbaren Messsysteme einlaufen. Sie werden hier direkt verarbeitet und in speziellen Verfahren auf mögliche Anzeichen eines starken Bebens oder das Auftreten einer Anomalie des Meeresspiegels untersucht. Ein Entscheidungs-Unterstützungssystem fasst die Ergebnisse zusammen, gibt dem diensthabenden Verantwortlichen so einen Überblick über die momentane Situation und generiert Entscheidungsvorschläge (Steinmetz et al., 2010). In Indonesien verteilt das Warnzentrum in Jakarta die Warnmeldung über verschiedene Kanäle. Wichtigster Kommunikationsweg ist eine direkte Telefonverbindung zu lokalen Polizeistationen, die konkrete Aktivitäten – z. B. Evakuierungen – durchführen sollen. Daneben werden über Internet und Fax weitere Institutionen in Indonesien von einer Tsunami-Warnung unterrichtet. Außerdem werden SMS-Meldungen generiert sowie Rundfunk- und Fernsehanstalten informiert. Extrem wichtig ist eine schnelle Verbreitung der Warnmeldung, da die Vorwarnzeiten in Indonesien im schlimmsten Fall mit 20 bis 40 Minuten sehr kurz sind. 52 Die Entscheidungsfindung Die Warnmeldungen basieren auf vorher berechneten Tsunami-Simulationen, die über eine Datenbank verfügbar sind. Die Herausforderung bei der Entscheidungsfindung ist die Identifizierung desjenigen Szenarios, das die Situation am besten widerspiegelt. Dazu reicht es nicht aus, die Erdbebenlokation und Magnitude zu kennen sowie ggf. die Verifizierung einer Tsunami-Boje zu erhalten. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass Erdbeben keine Punktquellen sind; gerade bei starken Erdbeben können Risslängen von einigen hundert Kilometern beobachtet werden. Die Energie kann also entlang der gesamten Risslänge auf die Wassersäule übertragen werden. Dies spielt besonders für die Tsunami-Warnung und -Vorhersage im Nahbereich eines Erdbebens, wie beim Sunda-Bogen, eine entscheidende Rolle (Abb. 4). Bei einem Tsunami im Nahfeld liegt die Entfernung vom Erdbebenort bis zur Küstenlinie in der gleichen Größenordnung wie die Bruchlänge des Erdbebens. In diesem Fall sind die genaue Lage der Bruchfläche und die Verschiebungsvektoren auf dieser entscheidend für die Tsunami-Vorhersage an einem bestimmten Küstenpunkt. Als einziges Frühwarnsystem weltweit verfügt GITEWS über ein automatisches Multiparameter-Selektionsverfahren für die Auswahl eines passenden Tsunami-Szenarios zur Entscheidungsunterstützung (Behrens et al., 2010). Der Aus- System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.8 GITEWS – das Tsunami-Frühwarnsystem für den Indischen Ozean wahlprozess funktioniert nach folgendem Schema: Die Erdbebenparameter Lokation und Magnitude dienen als erstes Auswahlkriterium für die Eingrenzung möglicher Szenarien. Für alle anderen Sensoren wurde für jedes verfügbare Szenario die theoretische Antwortfunktion des jeweiligen Sensors vorab berechnet und ebenfalls in der Datenbank abgelegt. Für die ozeanographischen Sensoren (Bojensysteme, Küstenpegel) sind dies die Ankunftszeit des Tsunami am Sensor und dessen Höhe. Für jede GPS-Station wurde der zum jeweiligen Szenario gehörende Deformationsvektor berechnet (Babeyko et al., 2010). Durch einen Vergleich der berechneten mit den tatsächlich gemessenen Werten wird die Liste der möglichen Szenarien weiter eingeschränkt. Über einen „Gütefaktor“, der die Unsicherheiten der Eingangsdaten berücksichtigt, erfolgt dann eine Priorisierung der ausgewählten Szenarien. Aus den oben diskutierten Argumenten wird die Bedeutung der zusätzlichen GPS-Information im frühen Stadium der Warnung deutlich. Ein dichtes GPS-Netzwerk entlang Tsunami gefährdeter Küsten, idealerweise kombiniert mit Küstenpegeln, ist ein effektives und kostengünstiges Instrument zur schnellen Charakterisierung der Geometrie starker Erdbeben und damit für die Tsunami-Vorhersage im Nahfeld. Capacity Building Die Einbindung lokaler Wissenschaftler und Techniker im Rahmen eines Ausbildungs- und Trainingsprogramms innerhalb von GITEWS sowie gezielte Maßnahmen zur Entwicklung eines Ge- fahrenbewusstseins in der indonesischen Bevölkerung haben zum Ziel, einen Verlust an Menschenleben in katastrophalen Ausmaßen zu vermeiden. Diese Maßnahmen werden unter dem Begriff „Capacity Building“ zusammengefasst. Wichtig dabei ist, dass die Maßnahmen, möglichst durch einen entsprechenden Gesetzesrahmen unterstützt, langfristig angelegt sind. Damit ein Tsunami-Frühwarnsystem erfolgreich betrieben und dauerhaft aufrechterhalten werden kann, müssen in diesem Zusammenhang verschiedene Aspekte berücksichtigt werden (Abb. 5). Für den technischen Betrieb, die Wartung der Instrumente und die Weiterentwicklung des Systems müssen Wissenschaftler und technisches Personal aus- und weitergebildet werden. Dies geschieht bereits parallel zum Aufbau des Systems durch die Ausbildung von indonesischen Wissenschaftlern und Ingenieuren in Deutschland. Mittelfristig ist der Aufbau eines Desaster-Trainingszentrums zur Aus- und Weiterbildung in Indonesien geplant. Zur Verankerung der nationalen Verantwortung im Fall von Naturkatastrophen wurde 2007 in Indonesien, unter Mitwirkung von GITEWS, ein gesetzlicher Rahmen geschaffen, in den alle Aktivitäten der Frühwarnung, des Katastrophenschutzes und präventiver Maßnahmen wie Baunormen oder die Erstellung von Flächennutzungsplänen eingebettet wurden. Diese wichtigen Rahmenbedingungen sind bislang nur in wenigen betroffenen Anrainerländern des Indischen Ozeans gegeben. Abb. 4: Tsunami-Simulation (Wellenhöhen) für ein hypothetisches Erdbeben der Stärke 8,4 vor Bengkulu, Sumatra. Links ist die Situation für das Erdbeben mit einer Rissausbreitung vom Epizentrum nach Norden gezeigt. Besonders die Millionenstadt Padang wäre betroffen, der Süden Sumatras nicht. Rechts die Situation für das Erdbeben mit einer Rissausbreitung nach Süden. In diesem Fall wäre Padang nicht betroffen. Fig. 4: Tsunami Simulation (wave heights) based on location and magnitude (8.4) of a hypothetical earthquake off-shore Bengkulu, Sumatra. The figure left depicts the situation for the earthquake with a rupture running from the epicentre to the north. Especially the big city Padang is strongly affected, the south of Sumatra is not. The Figure on the right hand depicts the situation for the earthquake with a rupture running from the epicentre to the south. Now the City of Padang is not affected but the south of Sumatra. System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.8 53 Frühwarnsysteme Darüber hinaus muss durch Weiterbildungsmaßnahmen sichergestellt werden, dass die für die Frühwarnung verantwortlichen Stellen die Ergebnisse in klare Warnmeldungen, Entscheidungsgrundlagen, Entscheidungshilfen und Handlungsanweisungen übersetzen können. Der wohl wichtigste Aspekt der Ausbildung betrifft die eigentliche Zielgruppe der Frühwarnung, die Bevölkerung in den gefährdeten Regionen. Damit bei den extrem kurzen Frühwarnzeiten wirksame Maßnahmen ergriffen werden können, muss das Bewusstsein für die permanent-latente Gefährdung und mögliche präventive Schutzmaßnahmen bei der Bevölkerung geweckt und gestärkt sowie dafür gesorgt werden, dass sie im Alarmfall richtig reagiert. Diese Maßnahmen reichen z. B. von Evakuierungsübungen über regelmäßige Informationsveranstaltungen bis zu Lernmodulen im Schulunterricht. Geplant sind auch zusätzliche Maßnahmen wie die Einbeziehung von Risiko- und Vulnerabilitätskarten in die Stadt- und Landschaftsplanung zur Prävention möglicher Katastrophen (Spahn et al., 2010). Die verheerende Tsunami-Katastrophe vom 26. Dezember 2004 hat gezeigt, dass die Anrainerstaaten des Indischen Ozeans völlig unvorbereitet getroffen wurden. In der Zwischenzeit konnten entsprechende technische Frühwarnkapazitäten aufgebaut und organisatorische Maßnahmen in fast allen Ländern um den Indischen Ozean umgesetzt werden, so dass sie heute deutlich besser auf das Risiko einer geologischen Naturgefahr vorbereitet sind (vgl. dazu den Beitrag von Küppers et al. in diesem Heft). Abb. 5: Trainingskurse und Ausbildungsseminare in Indonesien mit unterschiedlichen Aktivitäten im Bereich des Capacity Building. Links oben: praktische Ausbildung zum Aufbau von Instrumenten, rechts oben: Stadtplanungsgespräche, Mitte links: Informationsveranstaltung zwischen Wissenschaftlern, Stadtverwaltung und Bürgern, Mitte rechts: Ausbildung der Bevölkerung mit Hilfe von Überflutungskarten, unten: Evakuierungsübung an einer Grundschule Fig. 5: Training and education in Indonesia in the Capacity Building framework. Top left: practical training for instrument installation, top right: town planning, middle left: information of citizens by scientists, middle right: training of citizens using inundation maps, down: evacuation drill at a basic school Verhindern kann ein Frühwarnsystem ein starkes Erdbeben und einen dadurch ausgelösten Tsunami nicht; auch zukünftig wird es immer wieder zu Todesopfern und größeren Sachschäden kommen. Aber durch den Aufbau eines Frühwarnsystems unter Einbeziehung organisatorischer Maßnahmen und durch umfassendes Capacity Building können die Auswirkungen solcher Naturkatastrophen minimiert werden. Weitere Informationen: http://www.gitews.de GITEWS-Sonderband im Journal „Natural Hazards and Earth System Sciences” (NHESS): http://www.nat-hazards-earth-syst-sci.net/special_issue100.html 54 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.8 GITEWS – das Tsunami-Frühwarnsystem für den Indischen Ozean Literatur Babeyko, A. Y., Hoechner, A., Sobolev, S. V. (2010): Source modeling and inversion with near real-time GPS: a GITEWS perspective for Indonesia. – Natural Hazards and Earth System Sciences (NHESS), 10, 7, 1617-1627, 10.5194/nhess-10-1617-2010 Behrens, J., Androsov, A., Babeyko, A. Y., Harig, S., Klaschka, F., Mentrup, L. (2010): A new multi-sensor approach to simulation assisted tsunami early warning. – Natural Hazards and Earth System Sciences (NHESS), 10, 6, 1085-1110, 10.5194/nhess-10-1085-2010 Falck, C., Ramatschi, M., Subarya, C., Bartsch, M., Hoeberechts, J., Schmidt, G. (2010): Near real-time GPS applications for tsunami early warning systems. – Natural Hazards and Earth System Sciences (NHESS), 10, 2, 181-189, 10.5194/nhess-10-181-2010 Hanka, W., Saul, J., Weber, B., Becker, J., Harjadi, P., Fauzi, GITEWS Seismology Group (2010): Real-time earthquake monitoring for tsunami warning in the Indian Ocean and beyond. – Natural Hazards and Earth System Sciences (NHESS), 10, 12, 2611-2622, 10.5194/ nhess-10-2611-2010 Lauterjung, J., Münch, U., Rudloff, A. (2010): The challenge of installing a tsunami early warning system in the vicinity of the Sunda Arc, Indonesia. – Natural Hazards and Earth System Sciences (NHESS), 10, 4, 641-646, 10.5194/nhess-10-641-2010 Rudloff, A., Lauterjung, J., Münch, U., Tinti, S. (2009): Preface ‘The GITEWS Project (German-Indonesian Tsunami Early Warning System)’. – Natural Hazards and Earth System Sciences (NHESS), 9, 4, 1381-1382, 10.5194/ nhess-9-1381-2009 Spahn, H., Hoppe, M., Vidiarina, H. D., Usdianto, B. (2010): Experience from three years of local capacity development for tsunami early warning in Indonesia: challenges, lessons and the way ahead. – Natural Hazards and Earth System Sciences (NHESS), 10, 7, 1411-1429, 10.5194/nhess-10-1411-2010 Steinmetz, T., Raape, U., Teßmann, S., Strobl, C., Friedemann, M., Kukofka, T., Riedlinger, T., Mikusch, E., Dech, S. (2010): Tsunami Early Warning and Decision Support. – Natural Hazards and Earth System Sciences (NHESS), 10, 9, 1839-1850, 10.5194/nhess-10-1839-2010 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.8 55 Frühwarnsysteme DEWS – Distant Early Warning System Ein multinationales Frühwarnsystem für geologische Katastrophen Andreas Nikolaus Küppers, Martin Hammitzsch, Rainer Häner, Matthias Lendholt, Joachim Wächter Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Potsdam Through taking over the role of Technical Coordinator in a world-spanning consortium with 20 partners including industrial enterprises, research institutions, universities, national disaster prevention institutions and warning service providers, the GFZ reacted to the call of the European Commission to develop a new generation of early warning systems for geological hazards, the Distant Early Warning System DEWS. Making use of funds from the 6th Framework Programme, a series of prototypes of a new generation tsunami warning system was developed, based on the experiences of the German-Indonesian Tsunami Early Warning System GITEWS/INATEWS. The development was focused on sensor integration, system interoperability, application of open standards in the development of the architecture and software, and multilingual-multicultural approaches for communication and dissemination of warning products, thus paving the way for world-wide warning in geological disaster prevention. 56 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.9 DEWS – Distant Early Warning System Frühwarnsysteme der Zukunft Ziele des Projekts DEWS Spätestens seit der Early Warning Conference for Natural Disaster Reduction in Potsdam (EWC 98), die von der UN initiiert wurde und Frühwarn-Experten aus aller Welt auf dem Potsdamer Telegraphenberg zusammenführte, trat das Deutsche GeoForschungsZentrum GFZ mit seiner Expertise zur Entwicklung und zum Bau von Systemen oder Systemkomponenten zur Frühwarnung hervor, insbesondere im Bereich geologischer Ereignisse. Die langjährige Observation, das Monitoring, die Analyse und die Modellierung der großen Potentialfelder unseres Planeten, besonders aber die operative Anwendung der globalen Seismologie in weltweiten Netzen schufen hierfür die Grundlage. Anforderungen an international wirksame Frühwarnsysteme der Zukunft für geologische Schadensereignisse beinhalten gleichermaßen eine verlässliche Ereignisdetektion, Lagebeurteilung und Entscheidungsunterstützung wie eine effiziente Komposition und Dissemination von Warnmeldungen. Ein weiteres wesentliches Merkmal ist die flexible Erweiterbarkeit des Systems für neue, hochwertige Beobachtungsdaten. Durch die Anbindung geeigneter Kommunikationskanäle soll eine besonders effiziente Verbreitung von Warnmeldungen erreicht werden. Bei der Konzeption von zukünftigen Frühwarnsystemen sind einerseits offene Standards zu berücksichtigen, andererseits die zahlreichen Idiome und Kommunikationsstrukturen oder -strategien in den Zielländern bzw. Zielregionen. Nicht zuletzt gilt es, die durch den lokalen oder regionalen kulturellen Kontext bestimmten Reaktionen der Menschen auf Warnungen in die Überlegungen und Planungen einzubeziehen. Ausgehend von den Erfahrungen des Sumatra-Erdbebens und des nachfolgenden Tsunami vom 26.12.2004 veröffentlichte die Europäische Kommission 2006 im 6. Forschungsrahmenprogramm eine Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen für die Errichtung eines multinationalen Frühwarnsystems für Tsunami. Bedingt durch das seinerzeit bereits anlaufende Projekt zum Aufbau eines Frühwarnsystems im Indischen Ozean mit Schwerpunkt in Indonesien (GITEWS, siehe auch Lauterjung et al. in diesem Heft) lag es nahe, auf die dort bereits aufgebauten Sensor- und Modellierungsinfrastrukturen aufzubauen. Mit dem Projekt Distant Early Warning System (DEWS) sollte ein leistungsfähiger Werkzeugkasten (Framework) aus aufeinander abgestimmten Software-Komponenten entwickelt werden, mit dem eine neue Generation von Frühwarnsystemen einfacher entworfen und kostengünstiger verwirklicht werden kann. Das Wort Tsunami stammt aus dem Japanischen des 17. Jahrhunderts und beinhaltet die chinesischen Zeichen für Hafen und Welle. Das Japanische bildet für Substantive keine Pluralformen und flektiert nicht. Daher muß die Pluralform von Tsunami richtig Tsunami lauten. Siehe hierzu auch Cartwright & Nakamura (2008), DOI: 10.1098/rsnr.2007.0038, die das Problem abschließend behandelt haben. Kontakt: Andreas N. Küppers (kueppers@gfz-potsdam.de) System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.9 Ein wichtiger Aspekt ist die effiziente Steuerung und flexible Gestaltung der Informationsflüsse in einem Warnsystem (Informationslogistik). Ereignisse werden von Sensorsystemen registriert und in das Warnzentrum geleitet. Dort wird über die Notwendigkeit einer Warnung entschieden, die dann vom Warnzentrum über verschiedene Kanäle an verantwortliche Behörden und die Bevölkerung gesandt wird. Sensormessungen werden gefiltert und aufbereitet, in Kontextinformationen eingebettet und für verschiedene Zielgruppen angepasst über existierende Nachrichtenkanäle versandt. Neuerungen von DEWS, die aufbauend auf und ergänzend zu GITEWS entwickelt wurden, beinhalten den Entwurf eines Bauplans (Referenzarchitektur) für Warnsysteme, ein innovatives Konzept für die Gestaltung von Informationsflüssen sowie eine Multikanal-Verteilung von Warnungen (Multichannel Distribution) auch in Regionen, die durch eine große Vielfalt von Sprachen gekennzeichnet sind. Ein wichtiger Aspekt für die Gestaltung des Bauplans und der Bausteine des Frameworks ist die Verwendbarkeit des Systems für die Entwicklung unterschiedlicher Typen von Frühwarnsystemen, je nach örtlicher Gefährdung. So ist auch die Integration z. B. meteorologischer Sensoren möglich und beabsichtigt. Aufgrund des skalierbaren Aufwands für die Implementierung des Systems eignet sich das DEWS-Framework sehr gut für die Realisierung von Warnsystemen in Entwicklungs- und Schwellenländern mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen. Charakteristisches Merkmal beim Entwurf der DEWS-Architektur ist die konsequente Fundierung auf offene Standards. Der Nutzen dieser Offenheit liegt auf der Hand: Bei komplexen Systemen sind Innovationen auch im Bereich einzelner Komponenten oder Subsysteme jederzeit möglich. Für lebenserhaltende oder lebensrettende Systeme wird diese Anforderung angesichts beschleunigter Innovationszyklen in Wissenschaft und Technologie zwingend. Für die Informationslogistik und die Steuerung der Informationsflüsse im und um das Warnzentrum stehen bei DEWS die verlässliche Unterstützung der Lagebeurteilung sowie der gesamte Bereich der Meldungserstellung und Warnungsdissemination im Vordergrund. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der inhaltlichen und formalen Aufbereitung von Inhalten auf die spezifischen Zielgruppen und ihre Informationsbedürfnisse, insbesondere in den Regierungsorganisationen und den mit dem Katastrophenschutz jeweils befassten Körperschaften. 57 Frühwarnsysteme Die Leitstelle der Japan Meteorological Agency (JMA) in Tokyo erhält aus Tausenden von Sensoren und Sensorsystemen Daten zu Erdbeben, Vulkanaktivitäten, Tsunami, Überschwemmungen, Stürmen, Aschewolken und torrentiellen Niederschlagsereignissen, die in kürzester Zeit und zielgenau in Warnmeldungen umgesetzt und den unterschiedlichen Zielgruppen zugeleitet werden müssen. Warnsysteme der Zukunft werden vermutlich eine größere Zahl dieser Funktionen zusammenfassen und integrieren. The Command- and Control Room of the Japan Meteorological Agency (JMA) in Tokyo receives data from thousands of sensors and sensor systems. The information covers events like earthquakes, volcanic activities, tsunami, flood, storms, ash clouds, and torrential precipitation. Warning messages have to be generated and delivered as fast as possible and directed to the different target groups in the affected areas. Future warning systems will probably show a higher degree of functional integration. Die Entwicklung einer geeigneten Informations-Logistik hat beim Design und bei der Optimierung der Prozesse besondere Priorität. Die Entwicklung der Informationslogistik erfolgt in zwei Schritten, deren Ergebnisse jeweils als prototypische Systeme vorgestellt und demonstriert wurden. Im ersten Schritt, einer exemplarischen Demonstration für ein Nationales Warnzentrum, standen die schnelle Generierung von Warnmeldungen und deren gezielte Verteilung über vielfältige Medienkanäle im Vordergrund. Der zweite Schritt sollte exemplarisch die Leistungsfähig des DEWS-Frameworks in der Funktion eines überregionalen Warnzentrums darstellen. Dieser Typ von Warnzentrum hat die Funktion einer Informationsdrehscheibe, über die verschiedene, unabhängige Warnzentren miteinander kommunizieren. Für die beiden Demonstratoren wurden hypothetische Tsunami-Szenarien im Indischen Ozean ausgewählt. Das DEWS-Konsortium Nachdem die Initiative für den Beginn des Projekts vom GFZ und der schwedischen Firma SAAB AB ausgegangen war, fanden sich zur Projektdurchführung unter der Gesamtkoordination des multinationalen Softwarekonzerns ATOS Origin SA insgesamt 20 Partner aus 11 Nationen zusammen, wobei das GFZ die technische Koordination übernahm. Lag der Schwerpunkt der Softwareentwicklung eindeutig in Europa, getragen durch verschiedene Software-Unternehmen, das kommerzielle Warnunternehmen Citizen Alert BV sowie die Technische Universität Helsinki (jetzt: Aalto University), so wurden in den drei Zielstaaten Indonesien, Sri Lanka und Thailand unter den Partnern funktionelle Gruppen gebildet. Zu diesen gehören jeweils ein Betreiber von Sensorsystemen, eine staatlicherseits Abb. 1: Nationales Zentrum von DEWS im Überblick Fig. 1: DEWS National Centre overview 58 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.9 DEWS – Distant Early Warning System Abb. 2: Vereinfachte schematische Darstellung der Architektur von DEWS mit den wichtigsten Systemkomponenten Fig. 2: Simplified architecture with major components und hoheitlich mit Katastrophenwarnung betraute Behörde sowie Universitäten. Die Sensorbetreiber gewährleisten den Zugang zu Real Time-Daten, während die Warnbehörden die Möglichkeiten zur Installation von Test- und Referenzsystemen gewähren. In den Händen der Universitäten werden schrittweise die langfristige Entwicklung der Gesamtsysteme, die Projektkommunikation sowie schließlich die Sicherung und Weiterentwicklung der jeweiligen nationalen Warnprozesse liegen. Als Referenzpartner mit starkem Erfahrungshintergrund fungieren aus Japan das National Institute for Earth Sciences and Disaster Prevention (NIED), seit vielen Jahren weltweit führend auf dem Feld der Frühwarnsysteme, sowie GNS als nationaler Geologischer Dienst von Neuseeland. Die Architektur Bei Forschungs- und Entwicklungsprojekten für komplexe Software-Systeme kommt dem Bauplan bzw. der Architektur eine besondere Bedeutung zu. DEWS wurde als modulares System entworfen und ist aus mehreren Komponenten aufgebaut. Der verwendete, übergeordnete Bauplan des Systems folgt den Prinzipien der serviceorientierten Architektur (SOA). Die vom Open Geospatial Consortium OGC veröffentlichten Standards und Anleitungen, aber auch die von der Organization for the Advancement of Structured Information Standards (OASIS) veröffentlichten Konzepte zur Struktur von Warnmeldungen (Common Alerting Protocol, CAP) und EDXL-DE (Emergency Data Exchange Language-Distribution Element) bildeten wichtige Grundlagen (Abb. 2). System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.9 Die prinzipielle Funktion eines Frühwarnsystems liegt darin, ein Gebiet und relevante natürliche Phänomene, z. B. das Auftreten von Erdbeben oder Veränderungen des Meeresspiegels, mittels Sensoren systematisch und ununterbrochen zu beobachten. Wenn ein Erdbebenereignis auftritt, geht es darum, möglichst schnell die Entstehung eines Tsunami zu überprüfen. Dazu werden Prognosen über die Ausbreitung des Tsunami mit realen Messungen von Sensoren verglichen. Bestätigt sich ein Verdacht auf Tsunami, werden so schnell wie möglich Auswirkungen auf bestimmte Küstenareale anhand prognostischer Modelle ermittelt und dann als fokussierte Warnmeldungen formuliert, die unmittelbar auf die Bedürfnisse der zu verständigenden Personen und Organisationen abgestimmt sind und ohne Verzögerung zum Versand gelangen. Mit Hilfe von Profilen, die für jede Zielgruppe und nutzerspezifisch bestimmt wurden, können diese Meldungen sehr effizient zusammengestellt, in relevante Kontextinformationen eingebettet und mit der notwendigen Geschwindigkeit zugestellt werden. Notwendige Voraussetzung dafür ist, dass bereits im Vorfeld und mit höchster Aktualität die notwendigen Informationen strukturiert erfasst sowie Kanäle und Medien genau festgelegt werden. In einem Warnsystem werden zwei Richtungen und Arten von Informationsflüssen unterschieden (Abb. 3). Die empfangenen Beobachtungsdaten, der Upstream, werden von den Sensoren ausgehend in das Warnzentrum transportiert und bilden dort die Grundlage für Entscheidungen. Der zweite Informationsfluss, der Downstream, verläuft aus dem Warnzentrum zu den verschiedenen Adressaten von Warninformationen (siehe Abb. 1) und sichert so die zeitnahe Unterrichtung der Bevölkerung. 59 Frühwarnsysteme Im DEWS sind mehrere Komponenten für den Upstream-Informationsfluss verantwortlich: • Das Sensor-Netzwerk besteht im Beispielfall aus seismischen Systemen, Pegelstationen, Bojen, GPS-Stationen und weiteren Sensortypen, die jeweils als unabhängige Komponenten behandelt werden können; dieser Teil inklusive der entsprechenden spezifischen Analysesoftware wurde von GITEWS bereitgestellt. • Die Information Dissemination Component (IDC) sorgt dafür, dass Meldungen an die eigentlichen Disseminationskanäle, unter anderem z. B. SMS, Fax oder E-Mails in der geeigneten Form übergeben werden. Als Adressaten von Informationen können im Rahmen der Funktion als Wide Area Centre darüber hinaus auch andere nationale sowie zusätzlich internationale Warnzentren bedient werden. • Die Situation Picture Component (SPC) übernimmt das Management von Karten, Geodaten und Geo-Prozessdiensten. • Das Simulationssystem liefert Informationen über die mögliche Ausbreitung einer Tsunami-Welle nach einem Erdbebenereignis; hier wurde das im Rahmen von GITEWS entwickelte Simulationssystem für das Demonstrationsgebiet Indischer Ozean herangezogen. Die notwendigen Szenariodaten wurden vom Alfred Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) geliefert. Die Downstream-Informationsflüsse werden von drei Komponenten übernommen: • Die Information Logistic Component (ILC) ist in der Lage, aus vorliegenden Anforderungen angepasste, speziell auf die Zielgruppe zugeschnittene Nachrichten zusammenzustellen. Da die Elemente dieser Nachrichten auf Basis und entsprechend den Regeln des CAP exakt definiert und in zahlreiche Sprachen und Schriftsysteme übertragen wurden, ist DEWS in der Lage, Warnfunktionen auch in einem multilingualen Raum effizient auszuüben. Die Komponente ist darüber hinaus dafür verantwortlich, Nachrichten auf die Einspeisung und Verteilung über unterschiedliche Kanäle vorzubereiten. CAP-strukturierte Meldungen werden dazu zusätzlich in EDXL-DE einbettet. Abb. 3: DEWS enthält den Kern einkommender (Upstream) und ausgehender (Downstream) Informationsflüsse Fig. 3: Combining upstream and downstream information flow Die Kontrolle und Steuerung der Informationsflüsse im System erfolgt über spezifische Bedienungsfunktionen, die durch das Command and Control User Interface (CCUI) den verantwortlichen Betreuern oder Operatoren zur Bedienung des Systems angeboten werden. Dieses Gehirn des Systems ermöglicht es dem Operator, mittels verschiedener Schnittstellen, die als Perspektiven bezeichnet werden, eingehende, verarbeitete Daten zu visualisieren und zu bewerten (Abb. 4). Aufbauend auf diesen Grundlagen kann die Warnung der betroffenen Gebiete in präzise fokussierter Form initiiert und kontrolliert werden (Beispiele in Abb. 5 bis 12). Abb. 4: Die unterschiedlichen Schnittstellen bzw. Perspektiven ermöglichen dem Operator einen raschen Überblick und schnelle Entscheidungen. Fig. 4: User Interface perspectives supporting the operator in monitoring and decision making. 60 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.9 DEWS – Distant Early Warning System Abb. 5: Die Monitoring-Perspektive zeigt die Lage und den Zustand der Sensoren. Fig. 5: Monitoring Perspective with sensor locations Abb. 6: Auf der Basis von Sensordaten und Simulationen ist eine Vorhersage des Tsunami möglich (Prognose-Perspective). Fig. 6: Forecasting Perspective showing simulation based forecasts System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.9 61 Frühwarnsysteme Abb. 7: Die Erzeugung der Warnmeldungen erfolgt aus der dafür vorgesehenen Schnittstelle, der Kompositions-Perspektive für Nachrichten. Fig. 7: Message Composition Perspective with Message Generation Form Abb. 8: Abschließend erlaubt das System eine genaue Kontrolle über die Zustellung der Warnmeldungen auf den unterschiedlichen Kanälen. Fig. 8: Dissemination Perspective with dissemination feedback 62 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.9 DEWS – Distant Early Warning System Implementation, Training und Ausbildung Abb. 9: Warnmeldung per SMS auf einem Mobiltelephon in englischer Sprache Fig. 9: Received SMS on mobile phone Abb. 10: TV-Ticker-Meldung in einer Unterhaltungssendung (links) und lokales TV (rechts) mit Tsunami-Warnungen Fig. 10: TV Overlay (left) and Narrowcasting (right) with tsunami warning message System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.9 Für die DEWS-Aktivitäten in den Bereichen Implementation, Training sowie Ausbildung war das GFZ verantwortlich. Beim Aufbau von Konzepten für Training und Ausbildung für die Teilnehmerstaaten sind, abgesehen von der notwendigen Rücksichtnahme auf die jeweiligen landesspezifischen Besonderheiten, zahlreiche weitere Aspekte zu beachten, die mit Blick auf die Langzeitwirkung signifikant über das Projektende hinaus in Erwägung gezogen werden müssen. Die gängige internationale Praxis bei der Errichtung von Frühwarnsystemen geht grundsätzlich vom Prinzip der Subsidiarität aus. Demzufolge müssen bei hoheitlichen Aufgaben zuerst untergeordnete, lokale Glieder wie Städte oder Gemeinden für die Lösung und Umsetzung zuständig sein, während übergeordnete Glieder zurückzutreten haben. Zwischenstaatliche Beziehungen werden in der Regel auf dem Weg des Meinungs- und Informationsaustauschs sowie gemeinsamer Regeln des Datenaustauschs (Data Policies) gepflegt bzw. geregelt. Im Fall von Tsunami bietet die Intergovernmental Oceanic Commission (IOC) der UNESCO assoziiert an das UN-System hierfür eine gängige Plattform. Einheitliche Vorgehensweisen für unterschiedliche Staaten im Bereich des Indischen Ozeans lassen sich aus politischen, sprachlichen und kulturellen Gründen nicht konzipieren. Da aufgrund der tiefen Eingriffe in die Rechte von Individuen und Gruppen ein besonders hohes Maß an Verantwortung auf den jeweiligen Exekutiven der betroffenen Gebiete lastet, entschied sich das DEWS-Konsortium in der Konsequenz dafür, die Disseminationskanäle technisch zur Verfügung zu stellen, die Gestaltung der Inhalte und Prozeduren den zuständigen Regional- und Gebietskörperschaften zu überlassen. Dementsprechend wurden auch die Trainings- und Ausbildungsaktivitäten so gestaltet, dass das Prinzip „Train the Trainers“ im Vordergrund stand. Im Rahmen von DEWS wurden zunächst Trainingsmaßnahmen für die Realisierung der Demonstratoren bzw. Prototypen mit dem technischen und wissenschaftlichen Personal der beteiligten Behörden durchgeführt; zusätzlich wurden auf der Basis des Learning Management Systems Moodle e-learning- und blended learning-Komponenten für die spätere Verwendung in den Teilnehmerstaaten erstellt. Sämtliche Maßnahmen wurden am GeoLab des GFZ entwickelt und durchgeführt. Die Kursmaterialien stehen in der Knowledge Base des GeoLab den Projektteilnehmern für die Verwendung und Weiterentwicklung zur Verfügung. 63 Frühwarnsysteme Neues Berufsbild: Frühwarn-Ingenieur Frühwarnsysteme werden üblicherweise staatlicherseits errichtet und liegen daher in den Händen der in den Staaten jeweils an der Regierung befindlichen Gruppen. Geänderte politische Verhältnisse jedoch bedingen regelmäßig Verschiebungen in der Interessenlage und den Schwerpunkten der Aktivitäten, so dass anlässlich einer politischen Veränderung der gesamte Frühwarnprozess rasch zum Erliegen kommen kann. Die Geschichte der internationalen technischen Zusammenarbeit ist reich an derartigen Beispielen. Daher ist die Verankerung wichtiger Rollen in der Frühwarnung an den Universitäten der Zielländer, die in der Regel als sehr beständige Institutionen hervortreten, von besonders großer Bedeutung. Abb. 11: E-Mail mit DEWS-Tsunami-Warnung in Bahasa Indonesia und eingebauter Kartendarstellung Fig. 11: Received e-mail with DEWS-Tsunami Warning message and attached screenshot Gleichzeitig erwächst aus der hohen Komplexität der Systeme die Notwendigkeit, einer drohenden Fragmentierung und Sektorisierung des Wissens entgegenzuwirken. Expertenwissen auf dem Gebiet der Tsunami-Frühwarnung ist in kongruenter Form gleichzeitig bei einer großen Zahl von Disziplinen gefordert, von der Geologie und Geodynamik über die Ozeanographie und die Hydrodynamik, die Geophysik und die Geodäsie mit ihren Sensorsystemen, die Modellierung, die gesamte Bandbreite der Telekommunikation sowie die Technologie der Command and Control-Systeme. Hinzu kommen weite Bereiche der öffentlichen Administration mit ihrer spezifischen organisatorischen Expertise und der planerischen Kompetenz, der (Krisen-)Kommunikation sowie der Jurisprudenz. Alle genannten Felder werden durch Instru mente der Informations- und Kommunikationstechnologie verbunden und sowohl strukturell als auch funktionell integriert. Um einem solch breiten und anspruchsvollen Profil Rechnung zu tragen und den notwendigen Überblick zu gewährleisten, wurde im Rahmen von DEWS das Berufsbild des Frühwarn-Ingenieurs (Early Warning Engineer) entworfen. In enger Kooperation mit den beteiligten Universitäten entstand ein Curriculumsentwurf für einen Masters-Studiengang, der in internationaler Kooperation schrittweise implementiert wird. Der auf diese Weise entstehende neue Berufsstand soll im internationalen Raum dazu beitragen, die Anstrengungen der einzelnen Staaten zum Aufbau von Frühwarnsystemen zum Schutz der Menschen zu tragen und nicht zum Erliegen kommen zu lassen. Abb. 12: Durch die Verwendung von Unicode werden zahlreiche unterschiedliche Schriftsysteme unterstützt: Beispiel einer DEWSWarnmeldung in thailändischer Sprache Fig. 12: Using Unicode supports DEWS warning messages in local languages like Thai and Tamil Weitere Informationen: http://www.dews-online.org/ 64 System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.9 DEWS – Distant Early Warning System Weiterführende Literatur Hammitzsch, M., Lendholt, M., Schroeder, M., Wächter, J. (2009): Erweiterte Informationslogistik im Katastrophenmanagement des Projektes Distant Early Warning System (DEWS) – In: Strobl, J. (Ed.), Angewandte Geoinformatik 2009: Beiträge zum 21. AGIT-Symposium Salzburg, Wichmann, 722-727 Rudloff, A., Lauterjung, J., Münch, U., Tinti, S. (2009): The GITEWS Project (German-Indonesian Tsunami Early Warning System). Nat. Hazards Earth Syst. Sci., 9, 1381-1382, 2009 Zschau, J., Kuppers, A. (Eds.) (2003): Early warning systems for natural disaster reduction, Berlin, Springer, 834 p. System Erde (2011) 1, 1 | DOI: 10.2312/GFZ.syserde.01.01.9 65 Netzwerk Katastrophenvorsorge: Neuer Umgang mit alten Gefahren Rund 200 Teilnehmer waren am 18. und 19. Januar 2011 zu Gast beim 11. Forum Katastrophenvorsorge am Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ, das gemeinsam mit dem Deutschen Komitee Katastrophenvorsorge DKKV organisiert wurde. Unter dem Titel „Risiko 2.0 – Neuer Umgang mit alten Naturgefahren“ wurde u. a. zu Risiken, Präventionsstrategien, Frühwarnstudien berichtet und ausgetauscht. Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen trafen mit Praktikern zusammen. Anlässlich des Forums schied die langjährige Vorsitzende des DKKV, die Bundesbauministerin a.D. Frau Dr. Irmgard Schwaetzer aus ihrem Amt als Dr. Irmgard Schwaetzer 66 Vorsitzende. Frau Schwaetzer hatte seit Herbst 2001 der Vorsitz des DKKV inne. Die Mitgliederversammlung des DKKV hatte am 18. Januar 2011 einstimmig den Bundestagsabgeordneten Gerold Reichenbach zum neuen Vorsitzenden des DKKV gewählt. Das Deutsche Komitee Katastrophenvorsorge (DKKV) ist das deutsche Kompetenzzentrum für vernetzte Katastrophenvorsorge im Rahmen der Internationalen Strategie zur Katastrophenvorsorge der Vereinten Nationen. Wissenschaftler, Praktiker, Vertreter von Hilfsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen arbeiten im DKKV gemeinsam an dem Ziel, die Verwundbarkeit der Gesellschaft gegenüber Naturgefahren zu mindern. Hochwasserprojekt RIMAX erfolgreich abgeschlossen Die in den vergangenen Jahren durch Hochwasserereignisse entstandenen Sachschäden sowie die Auswirkungen auf Menschen und Umwelt haben Grenzen und Defizite der Hochwasservorsorge in Deutschland aufgezeigt. Vor diesem Hintergrund initiierte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die kürzlich abgeschlossene Förderaktivität „Risikomanagement extremer Hochwasserereignisse“ (RIMAX). In den Jahren 2005 bis 2010 wurden 38 Verbundprojekte mit insgesamt über 20 Millionen Euro gefördert. Ziel der Förderaktivität war es, durch Integration unterschiedlicher Fachdiszipli- nen und verschiedener Akteure verbesserte Instrumente für das Hochwasserrisikomanagement zu entwickeln und zu implementieren. Im Fokus standen extreme Hochwasserereignisse in Flussgebieten. Darunter werden Ereignisse mit einem statistischen Wiederkehrintervall größer als 100 Jahre und mit einem hohen Schadenspotenzial verstanden. An den Forschungsvorhaben waren neben Hochschulen und Forschungseinrichtungen auch Ingenieurbüros, Bundes- und Landesbehörden sowie kommunale Einrichtungen beteiligt, um den Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis zu gewährleisten. Damit leistete RIMAX einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung des „5-Punkte-Programms“ der Bundesregierung zum Hochwasserschutz. Risikomanagement im Fokus Die RIMAX-Projekte bearbeiteten ein breites Themenspektrum, von der Analyse historischer Hochwasserereignisse über die Simulation von komplexen Überflutungsvorgängen in urbanen Räumen, die Verbesserung der Vorhersage und Warnung, Fragen der Sicherheit von technischen Schutzeinrichtungen bis hin zu Aspekten der Risikokommunikation. Klammer des Forschungsprogramms war das Konzept des Risikomanagements. Dabei werden extreme Abflüsse als Bestandteil unserer Umwelt betrachtet; das Risiko ergibt sich aus der Interaktion zwischen der natürlichen Variabilität der physikalischen Prozesse und der Vulnerabilität der Gesellschaft. Ein absoluter Schutz vor Überschwemmungen ist nicht möglich. Dies liegt in den Unsicherheiten der Hochwasseranalyse und -vorhersage, an den Grenzen des technisch und gesellschaftlich Möglichen und nicht zuletzt an den begrenzten finanziellen Mitteln. Risikomanage- System Erde (2011) 1, 1 Netzwerk organisatorisch zu begleiten, Synergieeffekte mit nationalen und europäischen Forschungsaktivitäten herzustellen sowie das Programm und seine Ergebnisse in der Fachwelt und im politischen Raum zu präsentieren. Daneben war das GFZ an drei weiteren RIMAX-Projekten zu neuen Methoden für die Hochwasservorhersage in schnell reagierenden Einzugsgebieten und zur Schadensabschätzung beteiligt. Resümee Augustusbrücke zu Dresden im Winter 1845 – Einsturz des Kruzifix-Pfeilers während des schweren Hochwassers am 31. März 1845 um 9:30 Uhr (Bild: Sammlung M. Deutsch, Göttingen) ment ist deshalb als systematischer Umgang mit Unsicherheiten sowie ein Ausbalancieren von Kosten und Nutzen von Schutzmaßnahmen zu verstehen. Unter der Vielzahl von Vorsorgestrategien sind solche zu wählen, die das Risiko mit einem Minimum an Aufwand ausreichend reduzieren und auch vor dem Hintergrund großer Unsicherheit über die Zukunft Bestand haben. RIMAX am GFZ Das gesamte RIMAX-Förderprogramm wurde vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ koordiniert. Ziel des Koordinierungsvorhabens war es, die Förderaktivität in Absprache mit dem BMBF und den Projektträgern inhaltlich und Auf dem „Tag der Hydrologie“, der 2009 in Kiel stattfand, wurde das RIMAX-Forschungsprogramm als „Quantensprung der deutschen Hochwasserforschung“ bezeichnet. Dies war nur möglich durch die Vernetzung zahlreicher Projekte sowie durch die enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis. Viele der entwickelten Verfahren konnten durch eine direkte Beteiligung von Praxispartnern in Hochwasservorhersagezentralen und anderen Wasserbehörden implementiert werden. Der wissenschaftliche Wert von RIMAX besteht in der Entwicklung und Validierung zahlreicher Methoden und Verfahren, die u. a. in mehr als 40 Dissertationen und über 450 Publikationen in nationalen und internationalen Fachzeitschriften dokumentiert sind. Wichtiges wiederfinden! Wissen erhalten Unter diesem Motto steht die vom Koordinierungsteam entwickelte RIMAXMetadatenbank, in der Publikationen, Prinzipdarstellung eines Strömungsmodells zur Simulation einer Polderflutung (Abbildung: Carstensen & Kopp 2008) Ergebnisse und Produkte der BMBFFörderaktivität zu finden sind. Die Metadatenbank dient der nachhaltigen Sicherung und der Verbreitung von Forschungsergebnissen in die Praxis. Die Metadatenbank kann auf der Internetseite http://www.rimax-hochwasser.de/ metadb.html aufgerufen und durchsucht werden. Zurzeit sind 250 Publikationen, darunter 55 Berichte, und 30 Ergebnisdatensätze gespeichert. Die einzelnen Ergebnisdatensätze enthalten Angaben wie Titel, Zusammenfassung des Projekts, Schlagwörter, Kontaktpersonen und den Speicherort der Daten sowie Informationen zur thematischen Einordnung, zu potentiellen Anwendern und zum Raumbezug. Die RIMAX-Broschüre „Bittner, Ruth (Hrsg.), Merz, Bruno (Hrsg.), Günther, Knut (Hrsg.) (2009): Ergebnisse aus der Hochwasserforschung; HelmholtzZentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ“ steht im Downloadbereich der Website http://www. rimax-hochwasser.de als PDF zur Verfügung. Sie gibt einen allgemein verständlichen Überblick über alle Projekte und fasst die Ergebnisse zusammen. Links: Künstlerische Darstellung von TerraSAR-X über Europa; rechts: Wasserfläche der Überflutung um Tewkesbury, England, im Juli 2007, abgeleitet aus hochauflösenden TerraSAR-XDaten; dunkelblau: Normalwasserpegel, hellblau: Überflutungsfläche (beide Abbildungen: DLR, Oberpfaffenhofen) System Erde (2011) 1, 1 Alle Abbildungen des Artikels stammen aus der RIMAX-Broschüre. 67 Netzwerk Vertragen sich Erde und Mensch? Geo.X – Die Koordinierungsplattform der Geowissenschaften in Potsdam und Berlin Naturkatastrophen, Rohstoffversorgung und Klimawandel sind aktuelle Geothemen, deren Beantwortung die menschliche Gesellschaft vor existenzielle Fragen stellt und neue Denk- und Lösungsansätze von der Wissenschaft verlangt. Um diese wissenschaftlich wie gesellschaftlich hoch relevanten Herausforderungen adäquat aufgreifen zu können, ist eine kritische Größe und Themenbreite nötig. Die Koordinierungsplattform Geo.X bündelt die vorhandene geowissenschaftliche Kompetenz der Region Potsdam-Berlin, die für die Geowissenschaften in Größe und Vielfalt in Europa einzigartig ist. Sie vernetzt diese mit weiteren Fachdisziplinen, um gemeinsam an Lösungsstrategien für das Management des Systems ErdeMensch zu arbeiten. Tragende Säulen dieser multidisziplinären Zusammenarbeit sind gemeinsame Forschung, abgestimmte Lehre, die effiziente Nutzung der wissenschaftlichen Infrastruktur sowie der Transfer der wissenschaftlichen Ergebnisse in die Öffentlichkeit. Geo.X ist eine gemeinsame Plattform der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin, dem Museum für Naturkunde in Berlin, der Technischen Universität Berlin, der Universität Potsdam und dem Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ. Die Forschungsthemen Geo.X vereint durch seine Partner mit rund 1700 geowissenschaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen geowissenschaftliche Forschung auf allen Raum- und Zeitskalen. Dabei konzentrieren sich die Forschungsarbeiten der Berliner und Potsdamer Wissenschaftler auf Themenfelder, mit denen drei wesentliche, globale Zukunftsaufgaben der Geowissenschaften aufgegriffen werden: Naturgefahren und -risiken, Natürliche Ressourcen und Energieroh- 68 stoffe sowie Menschliche Lebens- und Gestaltungsräume. In allen Themenkomplexen sind Grundlagenforschung mit angewandten Fragestellungen und Aufgabenfeldern eng verwoben. Über die Entwicklung von Methoden und Technologien sowie die Bereitstellung von Services wird schließlich der Transfer in die Praxis, die Gesellschaft und die Politik geschaffen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit über die Geowissenschaften hinaus Die Entwicklung nachhaltiger Strategien zum Management des Systems ErdeMensch erfordert nicht nur die Bündelung der geowissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch die verstärkte Einbindung weiterer Wissenschaftsdisziplinen. Geo.X befördert diesen integrativen Systemgedanken und bietet eine Plattform für den interdisziplinären Austausch. Die Kommunikationsplattform Voraussetzung für eine lebendige, interdisziplinäre und kreative Zusammenarbeit ist das Wissen voneinander und der gegenseitige Austausch. Geo.X befördert daher die Kommunikation und Information der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untereinander. In verschiedenen Arbeitskreisen, gemeinsamen Veranstaltungen sowie regelmäßigen Treffen der Koordinatoren und der Steuerungsgruppe werden sowohl die wissenschaftliche als auch strukturelle Kooperation vorangetrieben. Über die Webseite (www.geo-x.net) werden die neuesten Entwicklungen nach innen und außen dokumentiert. • Das Helmholtz-Kolleg Geo.Sim (Explorative Simulation in Earth-Sciences) ist eine gemeinsame Graduiertenschule mit mehr als 40 Doktorandenpositionen des GFZ, der Freien Universität Berlin und der Universität Potsdam. Ziel ist es, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Geowissenschaftlern und Mathematikern in der Region von Berlin und Potsdam systematisch auszubauen. • Integriertes Feldexperiment zum Starkbeben in Maule (Chile) am 27. Februar 2010: Ein Verbundprojekt zwischen dem GFZ, der Universität Potsdam und weiteren nationalen und internationalen Partnern soll durch Integration verschiedener geowissenschaftlicher Feldmessungen Erkenntnisse zum Verständnis von Starkbebenprozessen in neuer Qualität zu gewinnen. • DFG-Forschergruppe HIMPAC (Himalaya: Modern and Past Climates): eine Forschergruppe des GFZ, der Freien Universität Berlin, der Universität Potsdam sowie weiteren nationalen und internationalen Partnern untersucht mit einen interdisziplinären Ansatz aus Geowissenschaften, Biologie, Physik und Mathematik die Ursachen und Konsequenzen extremer Ereignisse wie Dürren oder Überflutungen, um daraus ein verbessertes Prozessverständnis zu gewinnen. Aktivitäten Ein wesentliches Ziel von Geo.X ist es, sich gemeinsam an nationalen wie internationalen Förderinstrumenten zu beteiligen. Seit Gründung der Plattform im Frühjahr 2010 wurden bereits mehrere Verbundprojekte erfolgreich eingeworben: Geo.X-Forschungsprofil System Erde (2011) 1, 1 Netzwerk • Geo.X beteiligte sich am Berliner Wissenschaftsjahr 2010 und war veranstaltender Partner des 11. Forums Katastrophenvorsorge des Deutschen Komitees Katastrophenvorsorge (DKKV) im Januar 2011. Geo.X-Mitgliederversammlung an der Freien Universität Berlin, 10.06.2010 Geo.X stützt zwei geowissenschaftliche Anträge in der aktuellen Exzellenzinitiative. In dem Exzellenzcluster Earth in Transition sollen unter Federführung der Universität Potsdam neue Strategien im wissenschaftlichen und organisatorischen Umgang mit dem weltweiten Wandel entwickelt werden. An dem Clusterantrag sind mit der Freien Universität Berlin und dem GFZ zwei weitere Geo.XPartnereinrichtungen beteiligt. Mit der Graduiertenschule FutureLand unter Federführung der Humboldt-Universität zu Berlin soll in einem interdisziplinären Ansatz die Doktorandenausbildung zu nachhaltiger Landnutzung in das BerlinPotsdamer Forschungsumfeld integriert werden. Weitere Geo.X-Partner der Graduiertenschule sind das GFZ und das Museum für Naturkunde. In konkreter Vorbereitung befindet sich ein internationaler Masterstudiengang zum Thema Geoenergie. Geplante Partneruniversitäten sind die Universität Potsdam, die Berliner Universitäten TU und FU sowie die BTU Cottbus. Der Studiengang richtet sich an Bachelor-Absolventen der Geo- und Ingenieurwissenschaften sowie weiteren Naturwissenschaften und bietet die Vertiefungsrichtungen Konventionelle/Unkonventionelle Energierohstoffe, Geothermie und CCS/CCT an. • Im Geo.X-Arbeitskreis zur gemeinsamen Nutzung der Bibliotheken werden konkrete Maßnahmen für einen Geo.X-weiten elektronischen Zugang zu geowissenschaftlichen Publikationen erarbeitet und umgesetzt. System Erde (2011) 1, 1 Kontakt Dr. Hildegard Gödde Geo.X-Geschäftsstelle c/o Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ Telegrafenberg 14473 Potsdam 10 Jahre Erdbeobachtung mit CHAMP Modellbild des Geoforschungssatelliten CHAMP (Illustration: Astrium) Am 19. September 2010 verglühte der Geoforschungssatellit CHAMP genau zehn Jahre, zwei Monate und vier Tage nach seinem Start und nach 58277 Umflügen. CHAMP gehört international zu den erfolgreichsten Erdbeobachtungsmissionen überhaupt. Der Satellit war das Basismodell einer ganzen Generation von Satelliten, die auf diesem Konzept aufbauen. Auch die auf CHAMP eingesetzten Messverfahren waren ebenso innovativ wie wegweisend, wie die Folgemissionen GRACE und SWARM zeigen. Das Design des Satelliten erwies sich als so erfolgreich, dass sich die ursprünglich angesetzte Missionsdauer von etwa fünf Jahren verdoppelte. Anfang 1994 ergriff die damalige Deutsche Agentur für Raumfahrtangelegenheiten (DARA) die Initiative zur Finanzierung eines Leitprojekts für die Raumfahrtindustrie in den Neuen Bundesländern. Für das GFZ bot sich damit die Gelegenheit, einen Kleinsatelliten mit modernster Beobachtungstechnologie zu konzipieren. Ende 1995 wurde diese Satellitenmission als Gemeinschaftsprojekt mit dem DLR und unter Führung des GFZ ausgewählt. Wegen der einmaligen Kombination von Messgeräten zur parallelen Erfassung von Magnet- und Schwerefeld der Erde sowie der Sondierung der Atmosphäre und Ionosphäre, bekam die Mission den Namen CHAMP (CHAllenging Minisatellite Payload). Mit seinem Start im Jahr 2000 läutete CHAMP die „Internationale Dekade der Geopotentiale“ ein und versorgte die globale geowissenschaftliche Gemeinschaft in den folgenden 10 Jahren mit einem einzigartigen und kontinuierlichen geodätischgeophysikalischen Datensatz. Für die genaue Bestimmung des Erdschwerefeldes setzte CHAMP erstmals einen neuartigen Beschleunigungsmesser ein. Dieser war im schwerelosen Massenmittelpunkt des Satelliten eingebaut und registrierte dadurch die auf der Satellitenoberfläche angreifenden Störkräfte wie Sonnenstrahlungsdruck und Atmosphärenreibung. Nach Abzug dieser Einflüsse verbleibt nur die Wirkung der Gravitationskraft auf die Satellitenbahn. Basierend auf diesem Messverfahren gelang es mit CHAMP erstmalig, das Erdschwerefeld aus der Auswertung der Bahnkurve eines einzigen Satelliten abzuleiten. Die Beobachtungen erlaubten damit auch erstmals zeitliche und räumliche Veränderungen des Schwerefeldes im globalen Maßstab getrennt zu erfassen. Das Multitalent CHAMP hat auch bei der Erfassung des Erdmagnetfeldes neue Einsichten ermöglicht. Die Veränderung des Erdmagnetfeldes über die vergangenen zehn Jahre zeigt als wichtiges Ergebnis die signifikante Abnahme der magnetischen Feldstärke besonders im Bereich des südlichen Atlantiks, wo 69 Netzwerk das Feld bereits jetzt am schwächsten ist. Einzigartige Einsichten ergab die CHAMP-Mission bei der Kartierung der Krustenmagnetisierung, bei der magnetischen Detektierung ionosphärischer Irregularitäten und bei der Beobachtung magnetischer Signale von Gezeitenströmungen. Zusätzlich kann CHAMP als Wegbereiter für die systematische Sondierung der Atmosphäre und Ionosphäre mit Hilfe von GPS-Signalen angesehen werden. Basierend auf der Radio-Okkultationsmethode wurden Vertikalprofile der Temperatur, des Wasserdampfs und der Elektronendichte erstellt. Diese Form satellitengestützter GPS-Meteorologie wurde auf CHAMP erstmals operationell und erfolgreich eingesetzt und bewies inzwischen ihr Potenzial zur Verbesserung der Wettervorhersage. Die kontinuierlichen Messungen seit 2001 haben auch dazu beigetragen, globale Klimaänderungen zu dokumentieren. Die Daten der vergangenen 10 Jahre bestätigen dabei eine Erwärmung der Troposphäre, die mit einer leichten Abkühlung der Stratosphäre verbunden ist. CHAMP lebt auch nach Missionsende als Wegbereiter in einer Reihe von auf seinem Konzept basierenden Nachfolgesatelliten wie GRACE oder SWARM weiter. Die Aufgaben als Vorreiter für die Erdsystemforschung hat CHAMP dank einer einzigartig erfolgreichen Zusammenarbeit vieler Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure mit Bravour erfüllt. Der Initiator des CHAMP-Satellitenprojekts, Prof. Dr. Christoph Reigber, langjähriger Direktor des Departments 1 am GFZ, erhielt daher in Anerkennung seiner herausragenden Prof. em. Dr. Leistungen im NoChristoph Reigber vember 2010 den „Grand Prix“ der französischen Luftund Raumfahrtakademie für seine Verdienste um die CHAMP- und GRACEMissionen. 70 Mission SWARM: Hochpräzise Erfassung des Erdmagnetfeldes aus dem All Aufbauend auf dem CHAMP-Konzept wurde eine neue satellitengestützte Erdbeobachtungsmission entwickelt, die ihren Schwerpunkt auf die Untersuchung des Erdmagnetfeldes und dessen Variabilität legt. Die Nachfolgemission SWARM ist eine Mission in dem „Earth Observation Opportunity Programme“ der ESA. Drei baugleiche, CHAMP-ähnliche Satelliten werden die Ausrichtung, Intensitäten und zeitlichen Schwankungen der magnetischen Feldstärke mithilfe hochempfindlicher Messgeräte im Konstellationsflug detektieren. Darüber hinaus werden die drei Komponenten des elektrischen Feldes, Plasmadichte, Elektronen- und Ionentemperatur, Luftdichte und Wind, sowie die Geschwindigkeit und Position der Satelliten in bisher unerreichter Genauigkeit erfasst. Der erste Satellit des SWARM-Trios wurde im Oktober 2010 bei Astrium fertig gestellt, der Start ist für Mitte 2012 geplant. Am GFZ wurde von der Bundesrepublik Deutschland zur Koordination der Mission das SWARMProjektbüro unter Leitung von Prof. Dr. Hermann Lühr eingerichtet. Auftraggeber ist die Raumfahrtagentur des DLR mit Mitteln des BMWI auf der Grundlage eines Beschlusses des Deutschen Bundestags (FKZ 50EE0916). Beitrag des GFZ Das GFZ ist mit Prof. Lühr einer der drei Principle Investigators der SWARM-Mission und Mitglied der Mission Advisory Group. Das GFZ nimmt zudem an fünf wissenschaftlichen Studien in den Vorbereitungsphasen A, B und C teil, davon werden zwei federführend durch das GFZ betreut. Der Hauptauftragnehmer wird durch das GFZ bei der Entwicklung und dem Test des Systems unterstützt, vor allem bei der Erstellung eines End-to-End System Performance Simulators und der Performance-Analyse der Satelliten in der Designphase sowie bei der Charakterisie- CHAMP – weltweite Vernetzung Weltweit wurden und werden die CHAMP-Datensätze in der wissenschaftlichen Nutzergemeinschaft (Geophysik, Geodäsie, Geomagnetismus, Atmosphärenforschung, Meteorologie, Klimatologie, Ionosphärenforschung) verwendet, so z. B.: • Information Systems and Data Center – ISDC: Datenarchiv am GFZ mit über 2500 internationalen Nutzern • Operationelle Nutzung durch weltweit führende Wetterdienste (DWD, ECMWF, Met Office, NCEP, etc.); Nutzung von GPS-Atmosphärendaten zur Verbesserung globaler Wettervorhersagen • (Forschungs-)Einrichtungen in Deutschland: AWI, BGR, DGFI, DLR, DWD, FZJ, IAP, MPI; Universitäten Bonn, Braunschweig, Dresden, Frankfurt, Jena, Kaiserslautern, Köln, Leipzig, München und Potsdam Darüber hinaus bilden diese Daten die Grundlage für koordinierte Förderprogramme, z. B.: • DFG-Schwerpunktprogramm 1257 „Massenverteilung und Massentransporte im System Erde“ (2006-2012) mit ca. 50 Doktoranden • DFG-Schwerpunktprogramm 1097 „Geomagnetic Field Variations“ (2000-2006) • DFG-Schwerpunktprogramm 1176 „Climate and Weather of the Sun-Earth System“ (2005-2011) • Wissenschaftliche Datenauswertung gefördert durch BMBF GEOTECHNOLOGIEN „Beobachtung des System Erde aus dem Weltall“ Phasen I-III (2002-2012) System Erde (2011) 1, 1 Netzwerk rung und Kalibrierung der Instrumente. Außerdem werden für die präzise Bahnvermessung auf den Satelliten die LaserRetroreflektoren des GFZ installiert. Bei der SWARM Level-2 Datenverarbeitung beteiligt sich das GFZ als Partner in einem europäischen Konsortium mit der Modellierung des geomagnetischen Feldes und der Berechnung von drei IonosphärenParametern in nahezu Echtzeit. Satellitentrio SWARM (Illustration: ESA/AOES Medialab) SWARM-Aufgaben Während der letzten Dekaden haben Messungen des Magnetfelds gezeigt, dass das Erdmagnetfeld schwächer wird. Die vom Satelliten CHAMP erhobenen globalen Daten ergaben, dass die Feldstärke in bestimmten Gebieten Südamerikas und über dem Südatlantik rasch abnimmt. Die beobachtete Abnahme ist mit bis zu 12 Prozent in 30 Jahren am stärksten über dem Südatlantik ausgeprägt, gerade dort, wo sich bereits die Schwächezone des Magnetfeldes befindet. Bereits jetzt erleiden Raumfahrzeuge in dieser Region durch erhöhte kosmische Strahlung die meisten Störungen und die Besatzung der internationalen Raumstation ISS erhält hier die höchste Strahlendosis auf ihrem Umflug. Daher ist es dringend erforderlich, die unvorhersehbare, zukünftige Entwicklung des Erdmagnetfelds genauestens zu überwachen. Diese Aufgabe kann in besonderer Weise von niedrig fliegenden Satelliten wie SWARM bewältigt werden. Hoch auflösende Magnetfeldmessungen mit Hilfe von SWARM werden auch der Kartierung von magnetisierten Gestei- SWARM-Projektbüro Kontakt Aufgaben: SWARM-Projektbüro Deutschland Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ Telegrafenberg 14473 Potsdam • Vorbereitung der deutschen Nutzergemeinschaft auf die Missionsergebnisse • Sondierung und Koordination deutscher Förderprogramme • Ausarbeitung eines Nutzungskonzepts • Information über Satelliten- und Missionsdesign, Datenprodukte und deren Anwendungsmöglichkeiten, ESA-Ausschreibungen • Information der Öffentlichkeit über die Mission Forschungsbereiche • Erdmagnetfeld • Ionosphäre, Thermosphäre, Weltraumwetter • Geodäsie und Geowissenschaften System Erde (2011) 1, 1 Leitung: Prof. Dr. Hermann Lühr Mitarbeit: Dr. Patricia Ritter Tel.: +49 331 288 1254 Fax: +49 331 288 1235 Web: http://www.swarm- projektbuero.de E-Mail: pritter@gfz-potsdam.de nen und Sedimenten dienen. Das resultierende magnetische Bild der Erdkruste einschließlich des Ozeanbodens wird unser Verständnis der geologischen Formationen und der Tektonik erheblich verbessern und kann zudem für das Auffinden von Mineralien und Erzlagerstätten von großer Bedeutung sein. Neben dem Magnetfeld erkunden die SWARM-Satelliten auch die obere, zum Teil ionisierte und elektrisch leitende Atmosphäre. Die Schwankungen in der Elektronendichte in diesem Höhenbereich müssen überwacht werden, da sie Funkwellen streuen und Signale der GPS-Navigation stören oder ganz unterbrechen können. Das Satelliten-Trio ist in der Lage, Gebiete mit solchen flimmernden Störungen aufzuspüren und diese Informationen in kurzer Zeit an GPS-Nutzer zu übermitteln. Diese Technik kann beispielsweise einen bedeutenden Beitrag zur Sicherung des Flugverkehrs leisten. Eine weitere, große Herausforderung ist die Beobachtung von Ozeanströmungen. Die Bewegung des elektrisch leitenden Salzwassers erzeugt ein schwaches Magnetfeld. Mit CHAMP war es am GFZ erstmals gelungen, magnetische Signale der Meeresgezeiten aufzunehmen und als solche zu identifizieren. Die SWARMMission mit ihren weiterentwickelten Instrumenten und ihrer speziellen Satelliten-Konstellation soll es ermöglichen, die großräumigen Meeresströmungen räumlich und zeitlich zu verfolgen. Die Dynamik der Ozeane spielt für das Klimageschehen eine wichtige Rolle. Die SWARM-Mission wird damit einen wesentlichen Beitrag zur Klimaforschung leisten, indem sie hilft, das Muster der globalen ozeanischen Zirkulation aufzuklären. 71 Netzwerk Kunst und Geowissenschaft Der Aschersleber Globus und die Potsdamer Kartoffel Potsdamer Kartoffel: Die Beulen und Dellen, die dem Geoid das kartoffelartige Aussehen verleihen, werden durch Anomalien der Schwere hervorgerufen, die ihrerseits durch Dichtevariationen im Aufbau des Erdkörpers entstehen. Der Globus im barocken Stadtpark von Aschersleben 72 Ein drei Meter hoher Bronze-Globus im Stadtpark der Stadt Aschersleben stellt das zentrale Kunstwerk der Landesgartenschau Sachsen-Anhalt 2010 dar. Grundlage des vom Berliner Künstler Oliver Störmer geschaffenen Werks war die vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ berechnete Figur der Erde, das Potsdamer Geoid. Dieses ist wegen seiner präzisen Darstellung des ungleichmäßigen Schwerefeldes der Erde auch als„Potsdamer Kartoffel“ weltweit bekannt. Die Idee für das Kunstwerk beruht auf einem revolutionär gestalteten Globus des 17. Jahrhunderts, den der große Sohn der Stadt Aschersleben, Adam Olearius (1599 bis 1671) entwickelte. Als Hofmathematiker des Herzogs Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf wurde er 1654 weit über die Grenzen bekannt, als er den sogenannten Gottorfer Riesenglobus mit drei Metern Durchmesser konstruierte. Dessen Außenseite war mit den Kontinenten und Weltmeeren bedeckt, wie es dem damaligen Wissensstand entsprach. Die Innenseite wiederum stellte ein kleines Planetarium dar, allerdings noch – streng nach Ptolemäus – geozentrisch angeordnet. Später wurde versucht, die Planeten und damit das neue Weltbild nach Kepler in das Innere Räderwerk des Planetariums zu integrieren; allerdings scheiterte man an der komplizierten Mechanik, die dafür notwendig gewesen wäre. Der Gottorfer Globus, seinerzeit weltberühmt, steht also genau an der Nahtstelle zwischen der religiös dominierten Wissenschaft vor und der weltlich determinierten Wissenschaft nach dem 17. Jahrhundert. Den Berliner Künstler Oliver Störmer faszinierte dieser Gedanke. Er entwarf für den Geburtsort von Olearius den „Aschersleber Globus“, eine ebenfalls drei Meter hohe Bronzeskulptur, die sich an die „Potsdamer Kartoffel“, also die Geoid-Darstellung der Erde anlehnt, wie sie von Potsdamer Geowissenschaftlern entwickelt wurde. „Das moderne Bild der Erde als hochpräzis vermessenes Geoid kommt als Kunstwerk zurück“, erklärte der GFZ-Wissenschaftler Dr. Christoph Förste, der das Der Künstler Oliver Störmer Projekt wissenschaftlich begleitete. „So, wie Olearius das moderne Weltbild des 17. Jahrhunderts darstellte, tut das Oliver Störmer heute für das 21. Jahrhundert mit dem Potsdamer Geoid, und wir als Deutsches GeoForschungsZentrum sind natürlich stolz darauf, sowohl wissenschaftlich als auch künstlerisch in dieser Tradition zu stehen.“ Die wissenschaftliche und die künstlerische Ästhetik finden im Aschersleber Globus zusammen, indem die aus digitalen Satellitendaten entwickelte Figur der Erde in den analogen Handwerksprozess des Künstlers einfließt. Gegossen wurde der Bronzeglobus in der Kunstgießerei Lauchhammer. Kontakt: Franz Ossing Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ Telegrafenberg 14473 Potsdam presse@gfz-potsdam.de Neue große Forschungsverbünde BMBF-Verbundprojekte Spitzenforschung und Innovation in den Neuen Ländern GeoEn und PROGRESS Das Verbundvorhaben GeoEnergie (GeoEn) ist eines der sechs Pilotprojekte aus der ersten Förderphase im System Erde (2011) 1, 1 Netzwerk Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, Dr. Helge Braun, überreichte am 6. Januar 2011 den Bewilligungsbescheid für die zweite Phase des Energieforschungsprojekts GeoEn an die Projektpartner. (Foto: BTU Cottbus) BMBF-Programm „Spitzenforschung und Innovation in den Neuen Ländern“. Im Januar 2011 startete für diesen F+EVerbund die zweite Förderphase. Das Verbundvorhaben ist auf die Bearbeitung von vier geowissenschaftlich relevanten Kernthemen fokussiert, die sich mit einer klimaverträglichen und sicheren Energieversorgung in der Zukunft beschäftigen: Geothermie, Shale Gas (auch Unkonventionelle Gasressourcen genannt), CO2-Abscheidung und -Transport sowie CO2-Speicherung. Diese Kernthemen werden in Querschnittsbereichen der Geoenergie-Forschung bearbeitet: Reservoirerkundung, Reservoirerschließung und -bewirtschaftung sowie technische Systemkomponenten und -integration. Partner des Deutschen GeoForschungsZentrums GFZ, das die Federführung im GeoEn-Verbund hat, sind die Universität Potsdam und die Brandenburgische Technische Universität Cottbus. Die Gesamtfördersumme durch das BMBF von Januar 2011 bis September 2013 beträgt rund 5,8 Mio. Euro und erlaubt den weiteren Ausbau dieser soliden Forschungsplattform zum Forschungsbereich nachhaltige Energieversorgung. Der zweite in diesem Programm geförderte Antrag mit GFZ-Beteiligung – PROGRESS (Potsdamer Forschungs- und Technologieverbund zu Naturgefahren, Klimawandel und Nachhaltigkeit) – star- System Erde (2011) 1, 1 tete zum Februar 2009 und wird mit insgesamt 11 Mio. Euro gefördert. Der Verbund hat das Ziel, eine überregional sichtbare Forschungs- und Technologieplattform durch die multidisziplinäre, aufeinander aufbauende Verknüpfung der Themenbereiche Geomonitoring, Gefährdungs- und Risikoanalyse, Informationstransfer und Prävention aufzubauen. Der Antrag wurde unter Federführung der Universität Potsdam gemeinsam mit den außeruniversitären Zentren GFZ, IRS, HPI, HFF, PIK und AWI, dem Branchenkompetenzfeld Geoinformationswirtschaft Brandenburg sowie Partnern aus der Industrie gestellt. Nachhaltigkeit der Nutzung geothermischer Lagerstätten in Indonesien – systemoptimale Pilotstandorte und Trainingsprogramm Zahlreiche Vulkane deuten bereits darauf hin: Indonesien hat beste Möglichkeiten zur geothermischen Energiegewinnung. Das Land verfügt über rund 40 Prozent der weltweit ausgewiesenen Geothermie-Ressourcen. Im letzten Jahr wurden bei einem landesweiten Potential von rund 27 Gigawatt jedoch lediglich knapp 1,2 Gigawatt Strom erzeugt. Der Energiebedarf der indonesischen Bevölkerung steigt rasant, aber bisher hat etwa ein Drittel der Indonesier keinen Zugang zu Elektrizität. Um eine nachhaltige Entwicklung dieser Energieform zu fördern, befassen sich deutsche und indonesische Wissenschaftler in dem vom BMBF geförderten Projekt „Sustainability Concepts for Exploitation of Geothermal Reservoirs in Indonesia“ mit den Bereichen Erkundung, Reservoir Engineering und Anlagentechnik sowie dem Capacity Development. Erste Feldeinsätze erfolgten Ende 2010 in Ost-Java, auf Sulawesi sowie in Nord Sumatra statt. Sie wurden gemeinsam mit Partnern des Geologischen Dienstes und Dinas ESDM (Ministerium für Energie und mineralische Ressourcen) sowie Pertamina Geothermal Energy, die 80 Prozent der geothermischen Felder Indonesiens betreiben. In einem Starkes fachkundiges Interesse fand der vom GFZ entwickelte Prototyp eines geothermischen Kleinkraftwerks für netzferne Gebiete auf dem World Geothermal Congress 2010 in Bali, Indonesien. deutsch-indonesischen Workshop am GFZ wurden im Februar 2011 die Rahmenbedingungen für das geplante Forschungs- und Demonstrationsprojekt für einen Standort in Nord Sumatra auf Basis des vom GFZ entwickelten Konzepts festgelegt. Das Projekt wird im Zeitraum 2009 bis 2013 mit rund 8,6 Mio. Euro durch das BMBF gefördert. Neben den deutschen Partnern GFZ (Projektleitung), LIAG Hannover, Universität Göttingen, BAM, KIT sind folgende Institutionen und Firmen in Indonesien beteiligt: Badan Pengkajian dan Penerapan Teknologi, Badan Geologi – Centre for Geological Resources, Dinas ESDM Ost Java und Pertamina Geothermal Energy. Zudem besteht eine Kooperation mit den indonesischen Universitäten und Instituten: Institut Teknologi Bandung, Institut Teknologi Sepuluh Nopember, Universitas Gadjah Mada und Universitas Lampung. DFG-Projekte Forschergruppe 741 geht in die nächste 3-Jahresperiode Die DFG fördert die Forschergruppe 741 „Nanoscale Processes and Geomaterials Properties“ für weitere drei Jahre mit 1,6 Mio. Euro. Die DFG würdigt damit die in der ersten Förderperiode (2007 bis 2010) geleistete Arbeit. FOR 741 wird von Geowissenschaftlerinnen und Geowissenschaftlern des GFZ, der Freien Universität Berlin und der Technischen 73 Netzwerk Universität Berlin betrieben, zusammen mit Kollegen an der Universität Wien, die zusätzliche Förderung vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) erhält. Sprecher von FOR 741 ist Prof. W. Heinrich (GFZ), Vizesprecher Prof. R. Abart (Universität Wien). Forschergruppe 1380 – Das Klima des Himalajas: heute und in der Vergangenheit Die seit 2010 von der DFG geförderte Forschergruppe FOR 1380 HIMPAC verfolgt das Ziel, die Variabilität des indischen Sommermonsuns im Holozän in einem interdisziplinären Ansatz mit einer Vielzahl von Proxies aus geologischen und biologischen Archiven auf gesellschaftsrelevanten Zeitskalen (saisonal bis dekadisch) zu untersuchen. Die Arbeiten tragen so zu einem besseren Verständnis der Ursachen und Konsequenzen extremer Ereignisse wie Trockenheiten oder Überflutungen bei. Das Projekt wird sich auf ausgewählte klimasensitive Regionen des Himalaja und Zentralindiens konzentrieren, um regionale Variabilitäten zu charakterisieren und quantitativ zu erfassen. Eine besondere Rolle spielt dabei der Einfluss großskaliger Klimaphänomene wie z. B. der „El Niño-Southern Oscillation (ENSO)“ und der „North Atlantic Oscillation (NAO)“ auf den Monsun, sowie die Wechselwirkungen zwischen den Tropen und der mittleren Breiten. Projektpartner sind in Deutschland das GFZ (Sprecherin: Dr. Sushma Prasad), die Universität Potsdam (Sprecher: Prof. Manfred Strecker), die Freie Universität Berlin, die Universität Hamburg, das Forschungszentrum Jülich, das Senckenberg Museum Frankfurt und die Universität Bayreuth. Folgende indische Institute und Universitäten sind beteiligt: Indian Institute of Geomagnetism, Mumbai; Birbal Sahni Institute of Palynology, Lucknow; Indian Institute of Tropical Meteorology, Pune University; Punjab University, Chandigarh; Kumaon University, Nainital; Jammu University; Wadia Institute of Himalayan Geology, Dehradun; Jawaharlal Nehru University, Delhi. 74 Neue EU-Projekte unter Federführung des GFZ TRIDEC Collaborative, Complex and Critical Decision-Support in Evolving Crises Entscheidungsprozesse im Erdmanagement der Zukunft erfordern innovative Technologien für ein intelligentes Informationsmanagement. Das von der Europäischen Kommission im 7. Rahmenprogramm geförderte Integrierte Projekt TRIDEC (Collaborative, Complex and Critical Decision-Support in Evolving Crises) stellt neue Architekturen und Werkzeuge zur Verfügung, um Krisensituationen zu überwinden und Schäden oder negative Einflüsse nach Möglichkeit durch angepasste Entscheidungen abzuwehren. Zentrale Herausforderung ist die Konzeption und Entwicklung einer offenen Plattform für interoperable Dienste, die ein intelligentes, ereignisgesteuertes Management von sehr großen Datenmengen und vielfältigen Informationsflüssen in Krisensituationen ermöglicht. Darauf aufbauend wird in TRIDEC eine Software-Umgebung entwickelt, welche die effiziente Zusammenarbeit von Entscheidungsträgern bei komplexen, zeitkritischen Entscheidungsprozessen unterstützt. Die Leistungsfähigkeit des technologischen Ansatzes wird TRIDEC in zwei Anwendungsfeldern demonstrieren, die sich beide durch das Auftreten extrem großer Datenmengen auszeichnen. Im ersten Anwendungsszenario geht es um das Management von Krisen, die durch Naturkatastrophen hervorgerufen werden. Als Beispiel dient hier ein künstlich erzeugtes Tsunami-Szenario. Das zweite Anwendungsszenario setzt den Fokus auf Krisensituationen, wie sie bei der Erschließung des Untergrundes durch Bohrungen auftreten können, einer für Geowissenschaftler sehr wichtigen, jedoch teuren Aufschlussmethode. Bohrungen werden unter Verwendung von Sensornetzwerken permanent überwacht und Störungen im Bohrbetrieb frühzeitig ermittelt. Hierdurch werden Verluste und Schäden verhindert und die Sicherheit des Personals auf Bohranlagen sichergestellt. Partner im Konsortium sind neben dem GFZ (Projektkoordination) folgende Institute und Universitäten: Bogazici Universitesi (Türkei); Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB (Deutschland); Instituto de Meteorologia (Portugal); IT Innovation, University of Southhampton (Großbritannien); Joanneum Research (Österreich); Q-Sphere Ltd. (Großbritannien); TDE Thonhauser Data Engineering GmbH (Österreich); Universita di Bologna (Italien); University of London (Großbritannien). TRIDEC wird von 2010 bis 2013 mit einem Gesamtvolumen von rund 9,1 Mio. Euro finanziert. MATRIX New Multi-Hazard and Multi-RIsk Assessment Methods for Europe In ganz Europa erleiden Gesellschaften Verluste an Menschenleben und Sachschäden nicht nur aufgrund des Auftretens einzelner Naturgewalten, sondern oft auch durch ein Aufeinandertreffen verschiedener Extremereignisse. Unterschiedliche Gefährdungen sind häufig sowohl in ihrer Entstehung als auch in den Folgewirkungen mehrdimensional und kausal miteinander verbunden. Dies führt zur Auslösung sekundärer Extreme, zu Kaskadeneffekten und zum raschen Anstieg der Schadensanfälligkeit bei aufeinander folgenden Gefahren. Eine wirksame und effiziente Risikominimierung muss daher auf einer ortsbasierten, synoptischen Sichtweise beruhen. MATRIX begegnet solchen Mehrfachgefahren in einem gemeinsamen theoretischen Rahmen, der die Vergleichbarkeit verschiedener Risiken gewährleistet sowie kaskadierende Gefährdungen und schnelle Veränderungen der Schadensanfälligkeit berücksichtigt. MATRIX ermittelt die Bedingungen, unter denen die synoptische Sichtweise wesentlich andere und bessere Ergebnisse als übliche Verfahren der Einzelrisikoanalysen bietet. Drei Beispielregionen – Neapel, Köln und die französischen Westindischen Inseln – sowie eine „virtuelle Stadt“ liefern System Erde (2011) 1, 1 Netzwerk hierfür alle wichtigen Merkmale von Mehrfach-Gefährdungs- und MehrfachRisikoszenarien. Das im MATRIX-Konsortium zusammengeführte Expertenwissen deckt ein breites Spektrum an Naturgefahren ab: Erdbeben, Erdrutsche, Vulkanausbrüche, Tsunamis, Waldbrände, Orkane und Hochwasser an Küsten oder Flüssen. Neben zehn führenden Forschungseinrichtungen (neun europäische und eine kanadische) sind auch potentielle Nutzer der Ergebnisse von vornherein als Partner einbezogen. Sie kommen aus der Industrie sowie von den europäischen nationalen Plattformen für Katastrophenvorsorge. CO2CARE CO2 Site Closure Assessment Research Das im 7. EU-Forschungsrahmenprogramm zum Januar 2011 angelaufene Projekt „CO2 Site Closure Assessment Research“, kurz CO2CARE, beschäftigt sich mit der Entwicklung von Technologien und Verfahren, die einen sicheren und nachhaltigen Verschluss von geologischen CO2-Speichern gewährleisten. Kick-off Meeting CO2CARE: 38 Teilnehmer aus acht Ländern trafen sich am 31.01. und 01.02.2011 am GFZ in Potsdam. lien). Auch der Pilot-Speicherstandort des GFZ bei Ketzin, nordwestlich von Potsdam, spielt für diese Tests eine tragende Rolle. Neben dem GFZ (Projektkoordination) sind folgende Institute und Universitäten beteiligt: AMRA (Italien); Aspinall Consulting (Großbritannien); BRGM (Frankreich); CEABN (Portugal); DKKV (Deutschland); ETH Zürich (Schweiz); IIASA (Östereich); KIT Karlsruher Institut für Technologie (Deutschland); Stiftelsen Norges Geotekniskeinstitutt (Norwegen); Technische Universiteit Delft (Niederlande); University of British Columbia (Kanada). Mit neuesten Monitoring-Methoden ist man aktuell in der Lage, die Ausbreitung von CO2 im Untergrund zu lokalisieren. Feld- und Laborexperimente sowie umfangreiche Modellierungen werden einerseits für den sicheren Verschluss der Lagerstätte eingesetzt, anderseits dienen sie vor allem auch der Abschätzung, in welchen Zeiträumen ein bestimmter Anteil von Kohlendioxid mineralisch gebunden wird, in Lösung geht oder als freies CO2 sich in Antiklinalen ansammelt. Darüber hinaus sollen Methoden zum Risiko-Management entwickelt werden, die für eine nachhaltige Sicherheit sorgen und sich streng an den von der EU-Richtlinie festgelegten hohen Anforderungen orientieren. Neben dem GFZ (Projektkoordination) sind folgende Institute, Universitäten und Firmen beteiligt: AirLiquide (Frankreich); AITF (Kanada); BRGM (Frankreich); CO2CRC (Australien); GEUS (Dänemark); IFP (Frankreich); Imperial College of Science, Technology and Medicine (Großbritannien); NERC (Großbritannien); OGS (Italien); PNNL (USA); RITE (Japan); RWE (Deutschland); Shell International (Niederlande); Statoil (Norwegen); TNO (Niederlande); Uppsala Universitet (Schweden); University of Alberta (Kanada); University of California (USA); University of Texas (USA); Vattenfall (Schweden); Veolia (Frankreich). MATRIX wird von 2010 bis 2013 mit einem Gesamtvolumen von rund 3,4 Mio. Euro finanziert. Die neu entwickelten Technologien werden an neun internationalen Lokalitäten getestet (Europa, USA, Japan und Austra- CO2CARE wird von 2011 bis 2013 mit einem Gesamtvolumen von rund 5,3 Mio. Euro finanziert. Bundestagspräsident Norbert Lammert verlieh am 23. November 2010 in Berlin den Deutschen Studienpreis 2010. Die Körber-Stiftung vergibt diese Auszeichnung für exzellente Dissertationen, die zugleich von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung sind. Der erste Preis in der Kategorie Natur- und Technikwissenschaft ging an den GFZ-Wissenschaftler Hauke. Marquardt wurde für seine hervorragenden Leistungen auf dem Gebiet der Geomaterialforschung unter extremen Druck- und Temperaturbedingungen, wie sie im Erdinnern herrschen, geehrt. Mit seinen Untersuchungen konnte er die von Seismologen beobachtete ungleichmäßige Ausbreitung von Erdbebenwellen tief im Erdkörper, direkt über der Kern-Mantel-Grenze, erklären. Die Arbeiten tragen zu einem besseren Verständnis der Plattentektonik und den damit verbundenen Erdbeben bei. Preise Deutscher Studienpreis für Hauke Marquardt Erstpreisträger Hauke Marquardt und Bundestagspräsident Norbert Lammert (Foto: David Ausserhofer) System Erde (2011) 1, 1 Prof. Hermann Lühr wird Fellow der AGU Während der letzten Tagung der American Geophysical Union (AGU) in San Francisco wurde Professor Hermann 75 Preise | Bücher Lühr, Sektion 2.3 Erdmagnetfeld, im Dezember 2010 zum Fellow der AGU ernannt. Diese Auszeichnung wird nur an etwa jedes tausendste AGU-Mitglied verliehen. Er erhielt die Ehrung „in Anerkennung seiner herausragenden Beiträge auf dem Gebiet des Geomagnetismus und für seine führende Rolle bei der Ausgestaltung einer fortlaufenden Serie von Magnetfeld-Satellitenmissionen“, so die Laudatio der AGU. Beim Bau des Satelliten CHAMP war er zuständig für die Ausgestaltung der Messinstrumente, während der Mission (2000 – 2010) leitete er die Interpretation der Magnetfelddaten. Auf Grund dieser Erfahrungen hat ihn die Europäische Weltraumagentur ESA zum Principal Investigator für ihre Magnetfeldmission SWARM ernannt. SWARM wird das Magnetfeld und die Hochatmosphäre mit einer bisher unerreichten Genauigkeit vermessen (mehr zu SWARM auf Seite 70 in diesem Heft). GFZ-Preise 2010 Stress Field of the Earth‘s Crust active fault zone at SAFOD (USA). Stress compilations viewed by the World Stress Map project are presented and interpreted in terms of plate tectonics. Den GFZ-Preis für technische Angestellte 2010 erhielt Mike Hönig (Sektion 2.2). Der Preis für Nachwuchswissenschaftler ging an Manoochehr Shirzaei (Sektion 2.1). Dr. Ali Saadat (Sektion 4.1) erhielt den Preis für Management und als Senior-Scientist wurde Dr. Ludwig Grunwaldt geehrt. Das GFZ vergibt diese Preise für besondere Leistungen einmal jährlich an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bücher Sciences of Geodesy – I Advances and Future Directions Xu, Guochang (Hrsg.) Springer, 2010 – 507 Seiten ISBN: 978-3-642-11740-4 About this book This reference and handbook includes contributions from the world’s leading experts and describes the history, theory, development, research highlights, problems and future of the individual geodetic fields. The subjects include: Geodesy, Satellite Geodesy, Marine Geodesy, GPS / Galileo Systems, Navigation and Positioning, Aerogravimetry, Super-conducting Gravimetry, Adjustment and Filtering, Orbits Theory, Orbits Determination, Tectonics, Earth Rotation and Polar Motion, Earth Tide and Ocean Loading Tide, Satellite Altimetry, Remote Sensing, InSAR, etc. 76 Zang, Arno; Stephansson, Ove Springer, 2010 – 322 Seiten ISBN: 978-1-4020-8443-0 About this book This book about rock stress is suitable for students in geosciences and rock engineering, who need to broaden their horizons about the Stress Field of the Earth’s Crust. The book covers the topic so that geosciences students will be able to grasp the Cauchy Stress Principle without fear of matrix transformations in an exercise. Students interested in mathematics, physics and engineering will learn how strain gauges are used to obtain in-situ stress by the overcoring method. Leading edge technology in determining rock stress like quadruple packer and the Kaiser effect are presented together with classical methods like hydraulic fracturing. Borehole techniques (breakouts) and core-based methods (anelastic strain recovery) are illustrated. With respect to stress data, we choose to present the scientific ultra-deep drilling project KTB (Germany), the excavation for nuclear waste disposal at Olkiluoto (Finland) and the drilling into a seismic Geothermal Energy Systems Exploration, Development, and Utilization Huenges, Ernst (Hrsg.) Wiley-VCH, 2010 – 464 Seiten ISBN: 978-3-527-40831-3 About this book Presenting boundary conditions for the economic and environmental utilization of geothermal technology, this is the first book to provide basic knowledge on the topic in such detail. The editor is the coordinator of the European Geothermic Research Initiative, while the authors are experts for the various geological situations in Europe with high temperature reservoirs in shallow and deep horizons. With its perspectives for R&D in geothermic technology concluding each chapter, this ready reference will be of great value to scientists and decision-makers in research and politics, as well as those giving courses in petroleum engineering, for example. System Erde (2011) 1, 1 Bücher New Frontiers in Integrated Solid Earth Sciences Cloetingh, Sierd; Negendank, Jörg (Hrsg.) Springer, 2010 – 414 Seiten ISBN: 978-90-481-2736-8 About this book • Examines ways of better understanding mass transfer at Earth’s surface, and its feedback with deep Earth recycling • Discusses how our improved understanding of Earth processes can lead to better prediction Man’s intensifying use of the Earth’s habitat has led to an urgent need for scientifically advanced ‚geo-prediction systems‘ that accurately locate subsurface resources and forecast the timing and magnitude of earthquakes, volcanic eruptions and land subsidence. As advances in the earth sciences lead to process-oriented ways of modeling the complex processes in the solid Earth, the papers in this volume provide a survey of some recent developments at the leading edge of this highly technical discipline. The chapters cover current research in predicting the future behavior of geologic systems as well as the mapping of geologic patterns that exist now in the subsurface as frozen evidence of the past. Both techniques are highly relevant to humanity’s need for resources such as water, and will also help us control environmental degradation. The book also discusses advances made in seismological methods to obtain information on the 3D structure of the mantle and the lithosphere, and in the quantitative understanding of lithospheric scale processes. It covers recent breakthroughs in 3D seismic im- System Erde (2011) 1, 1 aging that have enhanced the spatial resolution of these structural processes, and the move towards 4D imaging that measures these processes over time. The new frontiers in modern Earth sciences described in this book have major implications for oceanographic and atmospheric sciences and our understanding of climate variability. It brings readers right up to date with the research in this vital field. System Earth via Geodetic-Geophysical Space Techniques Flechtner, Frank; Gruber, Thomas; Güntner, Andreas; Mandea, Mioara; Rothacher, Markus; Schöne, Tilo; Wickert, Jens (Hrsg.) Springer Verlag, 2010 – 550 Seiten ISBN: 978-3-642-10227-1 About this book The Earth’s gravity and magnetic gravity fields play an important role in global and regional geodynamics. Research satellites such as CHAMP, GRACE, and GOCE apply new measurement techniques to recover gravity and magnetic fields with unprecedented accuracy and resolution in space and time. Combined with terrestrial observations and numerical models, this data will significantly improve a detailed understanding of the Earth as a coupled system of atmosphere, hydrosphere and solid Earth. In Germany, many of the processing, modelling and interpreting methodologies for these new observation techniques have been developed under the umbrella of the R&D-programme GEOTECHNOLOGIEN. The research projects focus on a better understanding of the spatial and temporal variations in the magnetic and gravity field and their relationship to the dynmaics of the Earth‘s interior and global change processes close to its surface. This volume presents the results of all multidisciplinary studies covered by this programme for the period 2005-2008, including the following topics: • Static and time variable gravity field models from CHAMP, GRACE and GOCE • Applications of GRACE , altimetry, GPS and other data for geophysical analyses • Contributions to the Global Geodetic Observing System (GGOS) • Atmospheric sounding by GPS radio occultation technique with CHAMP and GRACE • Observation of the Earth‘s magnetic field with CHAMP Thus, it offers an up-to-date overview for a broad scientific community working in gravity field and Earth rotation research. Pre-Mesozoic Geology of Saxo-Thuringia From the Cadomian Active Margin to the Variscan Orogen Linnemann, Ulf; Romer, Rolf L. (Hrsg.) E. Schweizerbartsche Verlagsbuchhandlung, 2010 – 488 Seiten ISBN: 978-3-510-65259-4 About this book The Saxo-Thuringian Zone is pivotal for understanding the Variscan evolution of Central Europe, as this part of Gondwana was one of the first to collide with Laurussia. The Saxo-Thuringian Zone comprises domains that have experienced variable degrees of Variscan metamorphism ranging from medium grade to UHT/UHP in some domains, while other parts were largely unaffected by deformation or metamorphism. These differences in overprint reflect pre-Variscan crustal heterogeneity and 77 Bücher thickness variation, where thinner segments were wedged into the subduction zone and rigid, thicker blocks escaped subduction. The heterogeneity of crustal thickness is considered to be caused by Ordovician rifting (470–480 Ma) of the Cadomian crust (570–540 Ma) at the Gondwana margin. Today, magmatic and sedimentary rocks deposited on the thin crust of these rifts form the metamorphic complexes of the Saxon Granulite Massif and the Erzgebirge Mtns. Variable response of crust of different thickness to Variscan deformation and metamorphism is not particular to the Saxo-Thuringian Zone, but rather a typical feature of the crust all over Variscan Europe. The 18 chapters of this book are review and synthesis papers and present overviews of the Cadomian evolution, the post-Cadomian development of the passive margin, a state of the art assessment of the biostratigraphic record of Saxo-Thuringian sediments, various aspects (metamorphism, structure, magmatism) of the Variscan reworking of the Saxo-Thuringian Zone and processes related to the erosion of the Variscan Orogen. Extensive references include also older, generally difficult to find literature references, PhD theses and original descriptions published in very local journals. This book makes use of, and in part provides, previously unavailable maps and borehole data, largely acquired in GDR time in the course of exploration for uranium, fossil fuels, and ore minerals. The geological sheet map of the PrePermian geology of Eastern Germany, based on this material and compiled by SDAG Wismut (now WISMUT GmbH), is included and made available for the first time to a wider audience. Numerous figures and additional materials are provided on the enclosed DVD. 78 Hochwasserschäden: Erfassung, Abschätzung und Vermeidung Thieken, Annegret H.; Seifert, Isabel; Merz, Bruno (Hrsg.) oekom verlag München, 2010 – 304 Seiten, ISBN-13: 978-3-86581-186-8 Über dieses Buch Die Hochwasserereignisse der letzten Jahre haben gezeigt, wie anfällig unsere Gesellschaft gegenüber Naturgefahren ist. Wie lassen sich die entstandenen Schäden erfassen? Gibt es Möglichkeiten, sie in Zukunft zu vermeiden? Die Autoren des vorliegenden Buches haben Schäden und wichtige Einflussfaktoren von Hochwasser analysiert und daraus bundesweit einsetzbare Modelle für die Abschätzung von Schäden in Privathaushalten, Unternehmen und der Landwirtschaft entwickelt. Sie machen Vorschläge, wie Schäden und die Verletzbarkeit von Bauwerken standardisiert aufgenommen werden können. Aspekte der Schadensminderung fassen sie in einer web-basierten Broschüre zusammen und stellen sie Kommunen als Instrument zur Risikokommunikation zur Verfügung. Das Buch präsentiert Ergebnisse des interdisziplinären Projektes „Methoden zur Erfassung direkter und indirekter Hochwasserschäden“ (MEDIS), das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Die Autoren kommen aus den Agrar- und Geowissenschaften, dem Bauingenieurwesen und der Ökonomie. Aktuelle Probleme im Wasserhaushalt von Nordostdeutschland: Trends, Ursachen, Lösungen Kaiser, Knut; Libra, Judy; Merz, Bruno; Bens, Oliver; Hüttl, Reinhard (Hrsg.) Scientific Technical Report STR 10/10 Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ – 246 Seiten ISSN: 2190-7110 DOI: 10.2312/GFZ.b103-10106 Der Landschaftswasserhaushalt in Nordostdeutschland unterliegt einem umfassenden Wandel. Großräumig sinkende Grundwasser- und Seespiegel, verringerte Abflussmengen in den Fließgewässern und austrocknende Moore werden zunehmend in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit als Ausdruck eines regionalen „Wasserdefizit-Syndroms“ thematisiert. Die durch einen vergleichbaren Naturraum (pleistozänes Tiefland, subkontinentales bis submaritimes Klima) gekennzeichnete und von ähnlichen hydrologischen Problemen betroffene Region reicht dabei über Nordostdeutschland im engeren Sinne hinaus. Sie umfasst neben den Bundesländern Brandenburg und Berlin sowie Mecklenburg-Vorpommern auch Teile von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Dieses Gebiet repräsentiert insgesamt eine Fläche von ca. 70 000 km2, das ist ein Fünftel der Landesfläche von Deutschland. Die von Experten und der interessierten Öffentlichkeit diskutierten Ursachen für die abnehmenden Wassermengen – eine regionalklimatisch ohnehin vorhandene „Stresssituation“ verstärkend – sind vielfältig und reichen von der Veränderung des Klimas über den Landnutzungswandel, das agrar- und forstwirtschaftliche Wassermanagement bis hin zu einer veränderten Wassernutzung in urbanen Gebieten. Lokal lässt sich jedoch in einigen Fällen auch eine Umkehr dieses regionalen Negativtrends beobachten, so beispielsweise in der Niederlausitz nach Verringerung der bergbaubedingten Grundwasserabsenkung oder in Teilen von Berlin nach Abnahme der kommunalen System Erde (2011) 1, 1 Bücher Grundwasserförderung. Mit verschiedenen Maßnahmen wird versucht, die ökologischen Folgen des Wassermangels bzw. der Entwässerung zu begrenzen. Eine Vielzahl von Projekten in der betroffenen Region zielt darauf ab, nach Jahrzehnten der intensivierten Ableitung das Wasser nun möglichst wieder länger in der Landschaft zu belassen und den Wasserhaushalt zu revitalisieren. Im Rahmen der von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Projekt „Georessource Wasser – Herausforderung globaler Wandel“) und dem Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ vom 22.-23.04.2010 in Potsdam veranstalteten Konferenz „Aktuelle Probleme im Wasserhaushalt von Nordostdeutschland: Trends, Ursachen, Lösungen“ wurde eine umfassende Bestandsaufnahme zu diesem Thema erarbeitet. Dynamische Erde – Zukunftsaufgaben der Geowissenschaften Strategieschrift Gerold Wefer (Hrsg.) im Auftrag der Senatskommission für Geowissenschaftliche Gemeinschaftsforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Bremen 2010 – 380 Seiten ISBN 978-3-00-029808-0 Mit der Strategieschrift „Dynamische Erde – Zukunftsaufgaben der Geowissenschaften“ gibt die Senatskommission für Geowissenschaftliche Gemeinschaftsforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen Überblick über die aktuelle geowissenschaftliche Forschung und ihre zukünftigen Herausforderungen. Die Strategieschrift entstand unter breiter Mitwirkung der deutschen Geowissenschaften, auch GFZ-Wissenschaftler waren beteiligt. Die gedruckte Schrift kann gegen eine Schutzgebühr bestellt werden: Prof. Dr. Gerold Wefer Telefon: 0421 218 - 65500 Fax: 0421 218 - 65505 gwefer@marum.de Organigramm, Stand: Februar 2011 System Erde (2011) 1, 1 79 System Erde. GFZ-Journal (2011) Jahrgang 1, Heft 1 systemerde.gfz-potsdam.de Das Erdbebenrisiko einer Megacity Marco Bohnhoff, Fatih Bulut, Mustafa Aktar, Georg Dresen 6-11 Computersimulation der Plattenbewegungen südlich von Istanbul Oliver Heidbach, Tobias Hergert, Gottfried Grünthal 12-17 Sekunden für Istanbul Birger-Gottfried Lühr, Claus Milkereit, Stefano Parolai, Matteo Picozzi, Heiko Woith, Angelo Strollo, Mustafa Erdik, Atilla Ansal, Jochen Zschau 18-23 Beobachtung der letzten Phase eines seismischen Zyklus in Nordchile Pia Victor, Bernd Schurr, Dirk Brändlein, Jürgen Klotz, Oliver Ritter, Günter Asch, Thomas R. Walter, Monika Sobiesiak, Onno Oncken 24-29 Die „Beule“ von Lazufre Thomas R. Walter, Joel Ruch, Andrea Manconi, Manoochehr Shirzaei, Mahdi Motagh, Jan Anderssohn 30-35 Seismische Risikoanalysen in Zentralasien Stefano Parolai, Angelo Strollo, Dino Bindi, Claus Milkereit, Matteo Picozzi, Domenico Di Giacomo, Marc Wieland, Massimiliano Pittore, Morgan Mayfield, Huyan Liu, Marco Pilz und Jochen Zschau 36-41 Ein neues Modell für die Berechnung von Hochwassergefährdungskarten Sergiy Vorogushyn, Heiko Apel, Karl-Erich Lindenschmidt, Bruno Merz 42-47 GITEWS – das Tsunami-Frühwarnsystem für den Indischen Ozean Jörn Lauterjung, Winfried Hanka, Tilo Schöne, Markus Ramatschi, Andrey Babeyko, Joachim Wächter, Carsten Falck, Claus Milkereit, Ute Münch, Alexander Rudloff 48-55 DEWS – Distant Early Warning System Andreas Nikolaus Küppers, Martin Hammitzsch, Rainer Häner, Matthias Lendholt, Joachim Wächter 56-65 ISSN 2191-8589