KiKK: Eine unendliche Geschichte oder der lange Weg der
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KiKK: Eine unendliche Geschichte oder der lange Weg der
Vorab-Veröffentlichung eines Beitrags in StrahlenschutzPRAXIS Heft 3/2009 KiKK: Eine unendliche Geschichte oder der lange Weg der Erkenntnis? AUTOREN Rolf Michel Wolfgang-Ulrich Müller Eine kurze Darstellung der Hintergründe Mehr als ein Jahr nach der Veröffentlichung der KiKK-Studie [13 und 4] hat die SSK ihre vollständigen Beratungsergebnisse am 26.2.2009 in einem Fachgespräch in Bonn mit ca. 160 Teilnehmern der Öffentlichkeit vorgestellt. Vorausgegangen war ein Jahr intensiver Beratungen und Publikationen von Teilen der SSK Stellungnahme. Der Ungeduld, die sich in der Öffentlichkeit und auch in der SSP mit dem Titel KiKK – The never ending story [SSP Heft 1/2009] bemerkbar machte, soll hier durch eine kurze Darstellung der Hintergründe Rechnung getragen werden. Dabei berichten die Autoren hier als Wissenschaftler, die den Prozess begleitet haben, nicht in ihrer Funktion als Mitglieder der SSK. Der Beratungsauftrag des BMU an die SSK Am 10.12.2007 wurde die „Epidemiologische Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (KiKK-Studie)“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Hauptergebnis der Studie ist bekannt (siehe Kasten). KiKK-Studie 2007: Zusammenfassung der Autoren „Unsere Studie hat bestätigt, dass in Deutschland ein Zusammenhang zwischen der Nähe der Wohnung zum nächstgelegenen Kernkraftwerk zum Zeitpunkt der Diagnose und dem Risiko, vor dem 5. Geburtstag an Krebs (bzw. Leukämie) zu erkranken, beobachtet wird. Diese Studie kann keine Aussage darüber machen, durch welche biologischen Risikofaktoren diese Beziehung zu erklären ist.“ Bereits am 13.12.2008 erhielt die SSK einen Beratungsauftrag des BMU, in dem es hieß: „Die Universität Mainz hat die „Epidemiologische Studie zur Krebserkrankung von Kindern in der Umgebung der deutschen Atomkraftwerke (KIKK)“ durchgeführt, nach der die Leukämierate bei Kindern unter 5 Jahren in der Umgebung von Kernkraftwerken abhängig ist vom Abstand zum Kernkraftwerk. … Ich bitte die Ergebnisse der Studie zu bewerten, insbesondere zum Studienkonzept und zur Kausalität der Ergebnisse.“ Am 20.12.2008 erfolgte dann eine Detaillierung des Prüfauftrags mit vielen Einzelfragen, und es wurde ein Zeitrahmen für die Stellungnahme gesetzt: „Es wird um Stellungnahme und Bewertung der oben genannten Punkte innerhalb der nächsten 6 - 9 Monate gebeten.“ Für die Beratungen wurde eine der SSK direkt zugeordnete Arbeitsgruppe, die AG 61, eingesetzt. Bei der Zusammensetzung der Arbeitsgruppe wurde darauf geachtet, dass nationaler und internationaler epidemiologischer Sachverstand gleichermaßen wie Fachleute aus Medizin, Strahlenbiologie, Risikoanalytik und Radioökologie vertreten waren (Mitglieder der Arbeitsgruppe siehe Kasten). Mitglieder der „AG 61“ − Prof. Dr. Sarah Darby, Universität Oxford, Epidemiologin (korrespondierend) − Dr. Peter Jacob, Helmholtz-Zentrum München, Risikoanalytiker − Prof. Dr. Rolf Michel, Leibniz Universität Hannover, Radioökologe, Vorsitzender der SSK − Prof. Dr. Wolfgang-Ulrich Müller, Universität Essen, Strahlenbiologe, Vorsitzender der Arbeitsgruppe − Dr. Martin Röösli, Universität Bern, Epidemiologe − Prof. Dr. Brigitte Stöver, Charité Berlin, Kinderradiologin − Dr. Margot Tirmarche, IRSN (Institut für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit) Paris, Epidemiologin − Prof. Dr. Dr. Heinz-Erich Wichmann, Helmholtz-Zentrum München, Epidemiologe Die Beratungen von Arbeitsgruppe und SSK Wegen der gesellschaftlichen Brisanz des Themas und mit dem Ziel, die SSKBeratungen von der teilweise unerfreulichen öffentlichen Diskussion fernzuhalten und die Vorabveröffentlichung von Teilergebnissen zu verhindern, fanden die Beratungen auf Wunsch des BMU als interne Beratungen der SSK ohne Anwesenheit von Mitarbeitern von BMU oder BfS statt. Der vom BMU gesetzte Zeitrahmen war nach Einschätzung der SSK sehr eng bemessen und erwies sich auch angesichts der Komplexität des Themas als nicht wirklich haltbar. In 12 internen Sitzungen erarbeitete die AG61 Entwürfe einer Stellungnahme und einer wissenschaftlichen Begründung. Im Rahmen der Beratungen erfolgten Anhörungen der Autoren der KiKK-Studie, der externen Expertengruppe, die das Design der Studie entwickelt hatte, einiger britischer Epidemiologen und deutscher Strahlenbiologen und des Bundesamtes für Strahlenschutz. Die britische Epidemiologin Sarah Darby und ihr Mitarbeiter Simon Read konnten gewonnen werden, eine unabhängige Nachrechnung der wichtigsten Ergebnisse der KiKK-Studie durchzuführen, wofür sie im Einvernehmen mit der Mainzer Arbeitsgruppe Zugriff auf die Originaldaten erhielten. Diese Nachrechnungen fanden vom 23.06.2008 bis 27.06.2008 in Mainz statt. Die SSK selbst befasste sich auf 8 internen Sitzungen mit der Diskussion der Entwürfe und erarbeitete die letztgültigen Fassungen der Papiere. Wegen des engen 2 Zeitrahmens konnte nicht die gesamte Stellungnahme mit ihrer wissenschaftlichen Begründung zeitgleich fertig gestellt werden. Nach einer vertraulichen Vorabinformation des BMU und BfS durch die SSK über den Stand der Beratungen am 07.08.2008 wurde die Stellungnahme am 26.09.2008 verabschiedet, nach erfolgter Billigung am 09.10.2008 in einem Pressegespräch vorgestellt und am selben Tag im Internet veröffentlicht [5]. Die wissenschaftliche Begründung der Stellungnahme erforderte aufgrund ihres Umfangs von mehr als 500 Seiten eine längere Bearbeitungszeit. Es gelang, sie am 16.12.2008 zu verabschieden und am 25.1.2009 zu billigen. Am 27. 1.2009 wurde sie im Internet veröffentlicht [6] und schlussendlich am 26.02.2009 im SSK-Fachgespräch zur Diskussion gestellt. Zur Stellungnahme der SSK Die SSK hat für ihre Stellungnahme folgende Aspekte betrachtet: das Risiko für Leukämie durch Strahlung und andere Einflussfaktoren, das Design, die statistische Methodik und die Durchführung der KiKK-Studie. Zur Bewertung der Ergebnisse im Hinblick auf eine mögliche Verursachung durch Strahlung wurde den radioökologischen und radiologischen Aspekten breiter Raum eingeräumt. Dabei wurden alle Quellen der Strahlenexposition der Kinder der KiKK-Studie betrachtet, die Emissionsdaten aller KKW sowie die Immissionsdaten aus KFÜ, REI und IMIS herangezogen und die Strahlenexpositionen der Referenzpersonen an den ungünstigsten Einwirkungsstellen über die gesamten Betriebszeiten betrachtet. Da während der Beratungen vielfältige Kommentare und Fragen von Dritten an die SSK gerichtet wurden oder im öffentlichen Raum vorgebracht wurden, wurde der Beantwortung dieser Kommentare und Fragen und auch der Detailfragen des Beratungsauftrages breiter Raum gegeben. Schließlich wurde die Belastbarkeit der beobachteten Assoziationen im Hinblick auf die Frage der Kausalität untersucht. Das Fachgespräch Im Fachgespräch am 26. Februar 2009 wurden unter der Diskussionsleitung durch Prof. N. Leitgeb von der Technischen Universität Graz die vollständigen Beratungsergebnisse der SSK zur KiKK-Studie in fünf Vorträgen dargestellt, an die sich jeweils eine Diskussion anschloss. Prof. H.-E. Wichmann stellt die KiKK-Studie im Kontext sonstiger epidemiologischer Studien vor. Die strahlenbiologischen Grundlagen wurden von Prof. W.-U. Müller, dem Vorsitzenden der AG 61, und der Stand der Kenntnisse über Krebs im Kindesalter nach Strahlenexposition mit niedriger Dosis durch Dr. P. Jacob dargestellt. Da Prof. S. Darby wegen eines Krankenhausaufenthaltes verhindert war, berichtete Prof. E. Wichmann anhand der von Prof. S. Darby erstellten Präsentation über die unabhängige Nachrechnung der Ergebnisse der KiKK-Studie. Schließlich gab der Vorsitzende der SSK, Prof. R. Michel, einen Überblick über die Strahlenexposition der Menschen in der Umgebung von Kernkraftwerken und fasste die Bewertung der KiKK-Studie durch die SSK zusammen. Am Ende des Fachgesprächs erfolgte noch eine generelle Diskussion. Das Fachgespräch lief überwiegend in einer sehr wohltuenden sachlichen Form ab. Dass auf der Basis eines einzigen Fachgespräches Standpunkte nicht dramatisch zu ändern sind, leuchtet Jedem ein. Aber für alle Teilnehmer gab es reichlich Gelegenheit, den eigenen Standpunkt zu überdenken. Die SSK hat mit dem Fachgespräch zum ersten Mal eine öffentliche Diskussion ihrer Beratungsergebnisse gesucht. Die Erfahrungen waren überwiegend sehr positiv. Es wird daher erwogen, auch bei zukünftigen Tagungen der SSK die Öffentlichkeit einzubeziehen, um sich der Diskussion zu stellen. Bisher wurden derartige 3 Veranstaltungen immer als Klausurtagungen durchgeführt und die Ergebnisse erst später publiziert. Diese Öffnung könnte ein erfreulicher Nebeneffekt der Beratungen zur KiKK-Studie sein. Zur öffentlichen Diskussion Dass die SSK sich während der Beratungen nicht in die stattgefundene öffentliche Diskussion eingeschaltet hat, ist in der Satzung der SSK begründet und wäre angesichts der Komplexität der Fragestellung auch vor Abschluss der Beratungen nicht sinnvoll gewesen. Man darf nicht vergessen, dass laut Satzung die SSK den Bundesumweltminister, bzw. sein Ministerium berät, nicht die Öffentlichkeit. In diesem Zusammenhang ist aus unserer Sicht auch dem FS und der SSP zu danken. Der Fachverband hat in Heft 1/2008 mit einer dem Thema und den laufenden Beratungen gebührenden Zurückhaltung Stellung bezogen. Die SSP hat dann angesichts der öffentlichen Diskussion verschiedenen Autoren eine Plattform in dieser Diskussion geboten. Dies ist in der Öffentlichkeit und auch von der SSK sehr positiv aufgenommen worden. Die SSK hat sich mit den in der SSP veröffentlichten oder auch direkt bei der SSK eingegangenen unabhängigen Kommentare Dritter in einem eigenen Anhang der wissenschaftlichen Begründung ausführlich auseinandergesetzt. Vielfach kreisten diese Kommentare um die Frage, ob das Ergebnis der KiKK-Studie ein mit der Geometrie der Untersuchung zusammenhängendes Artefakt sei. Von den Epidemiologen der SSK-Arbeitsgruppe und der SSK wurden diese Argumente aufgenommen und Überprüfungen des Studienansatzes vorgenommen. Das Ergebnis war, dass der Ansatz korrekt ist und keine Artefakte liefert. Die wissenschaftliche Begründung der Stellungnahme Eine Zusammenfassung der Stellungnahme der Strahlenschutzkommission [5] ist den Lesern der SSP bereits aus Heft 4/2008 oder aus dem Original bekannt und soll hier nicht wiederholt werden. Wegen des großen internationalen Interesses wurde auch eine englische Fassung der SSK-Stellungnahme erstellt, am 26. September 2008 verabschiedet und später publiziert [7]. Die wissenschaftliche Begründung der SSK [6] hat die Aufgabe, ausführliche Hintergrundinformationen zu liefern. In 5 Kapiteln und 4 Anhängen wird detailliert auf die in der Stellungnahme [5] angeführten Argumente eingegangen. Krebs im Kindesalter (Kapitel 1) Krebsfälle im Kindesalter sind sehr seltene Ereignisse. Unter 100.000 Kindern im Alter bis zu 15 Jahren erkranken etwa 15 Kinder pro Jahr an Krebs, davon etwa ein Drittel an Leukämie. Das Tumorspektrum ist bei Kindern deutlich anders als bei Erwachsenen. Die Ursachen und Mechanismen, die zur Krebsentstehung bei Kindern führen, sind weitgehend unverstanden. Allerdings handelt es sich mit einiger Sicherheit, ähnlich wie beim Erwachsenen, um Mehrschritt-Prozesse und um ein multifaktorielles Geschehen. Zumindest für die Leukämie-Entstehung im Kindesalter gibt es den begründeten Verdacht, dass die ersten Veränderungen auf dem Weg zur klinisch manifesten Leukämie bereits im Fötus erfolgen. Unter der Voraussetzung, dass bestimmte Strahlendosen überschritten werden, ist der epidemiologische Nachweis einer Zunahme von Krebsfällen durch ionisierende Strahlung möglich. Sind die Strahlendosen gering als etwa 10 mSv, so lässt sich unter einer Reihe von Annahmen, u.a. lineare Extrapolation ohne Schwellendosis, das Risiko errechnen, aber epidemiologisch nicht mehr nachweisen. Leukämie im Kindesalter (Kapitel 2) 4 Aus epidemiologischen Studien zu Krebs im Kindesalter (Kapitel 2) mit Schwerpunkt Leukämie bis 15 Jahre lassen sich die strahlenbedingten Risiken quantifizieren. Die Oxford Survey of Childhood Cancers (OSCC) ist mit Abstand die größte FallKontrollstudie zu Kinderkrebs nach Strahlenexposition in utero. Analysen der OSCCDaten ergeben sowohl für Leukämie als auch für die Gesamtheit aller Krebsarten im Lebensalter von unter 5 Jahren ein relatives Risiko von ungefähr 1,4 nach Röntgenuntersuchungen in utero mit einer Fötusdosis von 10 mGy. Kohortenstudien deuten eher auf niedrigere Risiken hin. Zu Leukämie oder Krebsrisiken im Kindesalter nach postnatalen Expositionen ist weniger bekannt als für Expositionen in utero. Insgesamt gibt es jedoch Hinweise, dass das Risiko nach postnataler Exposition geringer ist als nach Exposition in utero. Eine Vielzahl von Faktoren steht bisher in Verdacht, Leukämien im Kindesalter auslösen zu können: neben ionisierender Strahlung sind dies diverse Chemikalien (insbesondere Pestizide, eine Reihe von Medikamenten, Ölprodukte), das Immunsystem beeinflussende Faktoren (Infekte, Allergien, Impfungen), magnetische Felder, Ernährungsweise, soziales Umfeld, genetische Prädispositionen, um nur einige zu nennen. Es spricht vieles dafür, dass es den Leukämie-auslösenden Faktor nicht gibt, sondern dass das Zusammenspiel mehrerer Faktoren zur Entstehung einer Leukämie notwendig ist, es sich also um ein multifaktorielles Geschehen handelt. Leukämievorkommen in der Umgebung kerntechnischer Anlagen /Kapitel 3) Bis 1999 fanden mehrere ökologische Studien leicht erhöhte Leukämie-Inzidenzen bei Kindern im Alter unter 5 Jahren (d.h. 0 - 4 Jahre) in der Nähe von kerntechnischen Anlagen. Kapitel 3 und Anhang C der wissenschaftlichen Begründung geben einen Überblick über die vielfältigen Untersuchungen. Eine umfassende Analyse dieser Daten zeigte, dass die Erhöhung auf einzelne Standorte beschränkt war. Im Gegensatz zur deutschen KiKK-Studie wurde in neueren landesweiten epidemiologischen Studien in Großbritannien und Frankreich kein erhöhtes Leukämierisiko bei Kindern unter 5 Jahren beobachtet. Bisher wurde keine schlüssige Erklärung für die inkonsistenten Resultate gefunden. Ein kausaler Zusammenhang mit den radioaktiven Ableitungen der Anlagen im Normalbetrieb kann aus den epidemiologischen Studien nicht abgeleitet werden. Strahlenexpositionen der Bevölkerung und der Kinder der KiKK-Studie (Kapitel 4) Während der Designphase der KiKK-Studie und in der öffentlichen Diskussion im Umfeld ihrer Publikation wurde mehrfach behauptet, dass keine hinreichenden Informationen zu den Ableitungen der KKW und der Strahlenexposition der Kinder in der Umgebung der KKW vorlägen. Darum hat die SSK im Kapitel 4 der wissenschaftlichen Begründung einen detaillierten Überblick über alle Quellen der Strahlenexposition der Menschen in Deutschland und speziell der Kinder der KiKKStudie gegeben. Dabei werden alle Quellen natürlicher und künstlicher Radioaktivität und Strahlung mit ihrer Bedeutung für die externe und die interne Strahlenexposition dargestellt. Die Überlegungen folgen dem Grundsatz zur Ermittlung des Strahlenrisikos, dass die für Risikobetrachtungen relevante Strahlenexposition eines Menschen die Summe der Strahlenexpositionen über alle Expositionspfade ist. In diesem Sinne behandelt Kapitel 4 die Frage: Was wissen wir nach 50 Jahren der Überwachung der Umweltradioaktivität und der kerntechnischen Anlagen über die Strahlenexposition der Bevölkerung? Die natürliche Radioaktivität, die oberirdischen Kernwaffenexplosionen, der Unfall von Tschernobyl und eine Vielzahl weiterer Ereignisse und Umstände haben eine 5 Fülle von Erfahrungen zur Strahlenexposition des Menschen durch Radioaktivität in der Umwelt geliefert. Sie erlauben belastbare Aussagen über die für relevante Strahlenexpositionen erforderlichen Umweltkontaminationen. Alle im Zusammenhang mit Ableitungen radioaktiver Stoffe aus kerntechnischen Anlagen relevanten Radionuklide (H-3, C-14, Spalt- und Aktivierungsprodukte, radioaktive Edelgase, Aktinide) sind aus den Erfahrungen der Radioökologie in Bezug auf ihr Verhalten in der Umwelt und die durch sie verursachten Strahlenexpositionen bekannt. Dabei kommen alle Strahlenarten und -energien auch auf natürliche Weise vor. In Deutschland wird die Umweltradioaktivität seit den 1960er Jahren intensiv überwacht. Dazu gehört auch die Überwachung der Emissionen und Immissionen kerntechnischer Anlagen auf Grundlage des gesetzlichen Regelwerkes mit dem Ziel des Nachweises der Einhaltung der Dosisgrenzwerte nach § 47 StrlSchV. Die Überwachung deutscher Kernkraftwerke besteht aus einem kombinierten System der Emissions- und Immissionsüberwachung, die eine Beurteilung der aus Ableitungen radioaktiver Stoffe mit Luft und Wasser resultierenden Strahlenexposition des Menschen ermöglicht und eine Kontrolle der Einhaltung von maximal zulässigen Aktivitätsabgaben sowie von Dosisgrenzwerten gewährleistet. Die geforderten Nachweisgrenzen der Messprogramme nach der Richtlinie zur Emissions- und Immissionsüberwachung kerntechnischer Anlagen (REI) und dem Integrierten Messund Informationssystem (IMIS) bieten die Möglichkeit, Strahlenexpositionen von 1 µSv pro Jahr nachzuweisen. Dabei zeigen die Erfahrungen der oberirdischen Kernwaffenversuche und des Unfalls von Tschernobyl, dass Strahlenexpositionen durch Umweltradioaktivität mit Jahresdosen oberhalb 10 µSv in der Umwelt Spuren hinterlassen, die messtechnisch einfach nicht zu übersehen sind. Detaillierte Informationen über die Ableitungen radioaktiver Stoffe aus Kernkraftwerken liegen für die gesamten Betriebszeiträume vor. In einem speziellen Datenanhang D hat die SSK eine Zusammenfassung dieser Daten gegeben. Zusammen mit den vorliegenden Wetterstatistiken erlauben die Emissionsdaten die konservative Abschätzung der durch Kernkraftwerke bewirkten zusätzlichen Strahlenexposition der Bevölkerung. Die Bundesregierung berichtet jährlich dem Parlament über die Strahlenexposition der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei werden seit Beginn der friedlichen Nutzung der Kernenergie auch die durch Ableitungen radioaktiver Stoffe mit Fortluft und Abwasser zu erwartenden Strahlenexpositionen an den ungünstigsten Einwirkungsstellen für unrealistisch überkonservative Referenzpersonen als obere Grenze für die tatsächlich zu erwartenden Expositionen berichtet. Zusammenfassend kommt die SSK zu der Beurteilung, dass jede Komponente der hoch variablen, natürlichen Strahlenexposition um Größenordnungen höher ist als die Strahlenexpositionen der Referenzpersonen durch Direktstrahlung oder als Folge der Ableitungen radioaktiver Stoffe mit Fortluft und Abwasser an den ungünstigsten Einwirkungsstellen in der Umgebung von Kernkraftwerken in Deutschland. Der Mittelwert der Strahlenexpositionen der Referenzpersonen an den ungünstigsten Einwirkungsstellen über die gesamten Betriebszeiten und alle Kernkraftwerke liegt bei etwa 2 μSv pro Jahr. Das entspricht in 5 Jahren einer Strahlenexposition von 10 μSv. Die realen Strahlenexpositionen liegen wesentlich niedriger. Wir könnten auch diese Expositionen realitätsnah bestimmen. Dies wird jedoch mit Hinweis auf den dafür benötigten Aufwand und die Geringfügigkeit der Strahlenexpositionen im Rahmen der behördlichen Überwachung von den Zuständigen als nicht gerechtfertigt betrachtet. 6 Die Zusammenführung der Informationen der Kapitel 2 und 4 lässt die SSK zu dem Schluss kommen: Die Strahlenexposition der Kinder der KiKK-Studie ist mehr als den Faktor 1.000 geringer als für die Erklärung des beobachteten relativen Risikos in der 5 km-Umgebung der Kraftwerke erforderlich. Um das beobachtete Risiko durch Strahlenexpositionen erklären zu können, wären 30 mGy (abgeleitet aus dem besten Schätzwert des Risikokoeffizienten) oder minimal 14 mGy (abgeleitet aus der oberen Grenze des Risikokoeffizienten) erforderlich. Die von den KKW der KiKK-Studie ausgehenden sehr niedrigen Strahlenexpositionen lassen damit einen kausalen Zusammenhang mit den radioaktiven Ableitungen der Anlagen als unvereinbar mit dem wissenschaftlichen Kenntnisstand erscheinen. Unabhängige Überprüfung der Berechnungen der KiKK-Studie (Kapitel 5) In Kapitel 5 der wissenschaftlichen Begründung berichten schließlich Prof. S. Darby und Dr. S. Read über den auf Wunsch der SSK durchgeführten „Independent Check on the Recently Published Paper on Leukaemia in Young Children Living in the Vicinity of German Nuclear Power Plants“. Die Ergebnisse dieser unabhängigen Neuauswertung ergaben eine Bestätigung der Hauptaussagen der KiKK-Studie und lieferten einige zusätzliche Ergebnisse. Die Autoren des Berichtes über die Vergleichsrechnungen folgern, dass es gemäß der erhobenen Daten in der KiKK-Studie innerhalb der 5 km-Radien um die Kernkraftwerke ein erhöhtes Risiko für akute Leukämie im Kindesalter gibt. Die Ursachen sind unbekannt. Die Analyse deutet darauf hin, dass auslösende Faktoren mit den Lebensbedingungen in den ländlichen Regionen um die Kernkraftwerke im Zusammenhang stehen könnten. Die zentrale Erkenntnis und Empfehlung der SSK Es ist viel zu wenig bekannt zu den der Leukämie-Entstehung zugrunde liegenden Ursachen und Mechanismen. Wir benötigen mehr Grundlagenforschung, um Leukämie im Kindesalter zu verstehen! Epidemiologie alleine wird uns nicht weiter helfen. Es ist daher erforderlich, dass hierzu interdisziplinär geforscht wird. Beteiligt sein müssen u. a. Epidemiologie, Genetik, Hämatologie, Immunologie, Molekularbiologie und Strahlenbiologie. Erste Ansätze in dieser Richtung gibt es. So hat die Artikel 31 Gruppe der EU (entspricht in gewisser Weise der SSK auf europäischer Ebene) auf ihrer letzten Sitzung beschlossen, das Thema „Childhood leukaemia – mechanisms and causes“ zum Gegenstand ihres nächsten wissenschaftlichen Seminars im Herbst 2009 zu machen. Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass die Seminarthemen dieser Gruppe häufig zu breit angelegten Ausschreibungen im Kontext der EURahmenprogramme führen. Auch in Deutschland gibt es Überlegungen, interdisziplinäre Forschungsvorhaben zum Thema „Leukämie im Kindesalter Ursachen und Mechanismen“ zu initiieren. Eine der großen Herausforderungen wird sein, die „richtigen“ Leute an einen Tisch zu bekommen und sich gegenseitig zu verstehen. Manchmal scheitern solche interdisziplinären Ansätze bereits daran, dass die Terminologien unterschiedlich sind und man aneinander vorbei redet. Man konnte angesichts des bisherigen internationalen Wissensstandes (oder besser: Nichtwissensstandes) zur Entstehung von Krebs im Kindesalter von der SSK keine Antwort auf die Ursache erwarten. Die SSK konnte zwar die von den Kernkraftwerken ausgehende Strahlenexposition, die selbst an den ungünstigsten Einwirkungsstellen für die überkonservativen Referenzpersonen der AVV zu § 47 7 StrlSchV um Größenordnungen geringer als die natürliche Strahlenexposition und ihre Schwankungsbreite ist, als Ursache ausschließen. Alle darüber hinausgehenden Erklärungsversuche sind Spekulation. Es ist noch ein langer Weg zur Erkenntnis, wie Krebs im Kindesalter entsteht und wie die in der KiKK-Studie beobachteten Ergebnisse oder andere kleinräumige Erhöhungen des Krebsrisikos zu erklären sind. Wenn wir die Ursache wüssten, hätten wir schon Flugkarten nach Stockholm gekauft. Literatur [1] Kaatsch, P.; Spix, C.; Schmiedel, S.; Schulze-Rath, R.; Mergenthaler, A.; Blettner, M.: Epidemiologische Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (2007); www.bfs.de oder www.imbei.uni-mainz.de. [2] Kaatsch et al., Int. J. Cancer: 1220, 721–726 (2008) [3] Spix et al., Eur J Cancer. 44, 275-284 (2008) [4] Kaatsch et al., Dt. Ärzteblatt 105 Heft 24 (17.10.2008) 725 – 732. [5] SSK (2008a), Bewertung der epidemiologischen Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (KiKK-Studie), Stellungnahme der Strahlenschutzkommission, verabschiedet auf der 227. Sitzung der SSK am 25./26.09.2008, veröffentlicht in Heft 57 der Reihe „Berichte der Strahlenschutzkommission“, http://www.ssk.de/werke/kurzinfo/2008/ssk0806.htm [6] SSK (2009) Bewertung der epidemiologischen Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (KiKK-Studie), Wissenschaftliche Begründung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet auf der 232. Sitzung der SSK am 16.12.2008, http://www.ssk.de/werke/kurzinfo/2008/ssk0815.htm [7] SSK (2008b), Assessment of the Epidemiological Study on Childhood Cancer in the Vicinity of Nuclear Power Plants (KiKK Study), Statement of the Commission on Radiological Protection (SSK), approved at the 227th meeting of the Commission on Radiological Protection, held on 25/26 September 2008, http://www.ssk.de/werke/volltext/2008/ssk0806e.pdf 8