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Tag 10 – Sonntag, 18. Juni Tag 10 – Sonntag, 18. Juni Dieter Anschlag: Montag ist »Spiegel«-Tag, Sonntag ist RTL-Tag. Heute ist der Privatsender wieder WM-Sender. Und RTL, diese Zelle televisionären Widerstands gegen Obrigkeiten, untergräbt couragiert auch die sprachreglerische Autorität der FIFA! Auf den Schrifttafeln, die der Sender so einblendet, ist immer von der »RTL FUSSBALL WM 2006« die Rede, und vor dem Spiel Brasilien gegen Australien in München begrüßt uns Günther Jauch mit den Worten: »Da sind wir endlich in der herrlichen Allianz-Arena.« Davon abgesehen ist das Design der RTL-Schrifttafeln von Orange mit Weiß und Schwarz geprägt. Ganz schön ZDFfig. René Martens: Heute endlich wieder Fußball! Richtigen, meine ich, mit Vereinen und so. An diesem Wochenende fanden, von der Welt weitgehend unbemerkt, die Hinspiele in der ersten UI-Cup-Runde statt. Auszug aus der Ergebnisliste: Dinaburg Daugavpils gegen IHB Torshavn 1:1, Probeda Prilep gegen Farul Constanta 2:2, FC Nirta gegen CS Grevenmacher 6:2. Danke, kicker.de! Dieter Anschlag: Zu früh gelobt. Da hat man die Kommentierung von RTL-Mann Tom Bartels vor einer Woche mit der zurückhaltend-souveränen Art von ZDF-Ikone Rolf Kramer verglichen – und schon wird man eines Besseren belehrt: Beim 2:0Sieg Brasiliens gegen Australien sprudeln die Worte nur so aus Bartels heraus, er kann gar nicht aufhören, sein Wissen, seine Bewunderung für die Brasilianer oder was auch immer dem werten Publikum mitzuteilen. Einfach nur nervig, er quatscht das Spiel besinnungslos zu. Manfred Riepe: Auch ich bin von Tom Bartels heute einigermaßen angenervt. Er lässt keine Gelegenheit aus, das Spiel der zumindest in der ersten Halbzeit grottenschlecht kickenden Brasilianer penetrant schönzureden. Da fällt Ronaldinho glatt über den Ball, und Bartels meint: »Sehen Sie, selbst dem passiert das.« Und als Lucio zweimal ausgetanzt wird, nimmt Bartels dies zum Anlass, den FC-Bayern-Brasilianer wegen dessen 59 Das WM-Tagebuch Hartnäckigkeit zu loben, weil er dann noch nachsetzt und sich den Ball zurückholen will. Es ist, als würde das real existierende Fußballspiel durch das Vorurteil von den ach so überlegenen Brasilianern ersetzt. Tatsächlich haben die sich aber kaum bewegt, die Jungs in Gelb! Bartels kommentierte aber diesmal wohl nicht das Spiel auf dem Rasen, sondern jene getricksten Kabinettstückchen, die Ronaldo & Co. für den Nike-Werbespot aufführten. So hat doch Ronaldo nur laut Bartels geschönter Optik eine aufsteigende Form – dabei konnte doch jeder sehen, dass der arme Junge tatsächlich so dick ist wie Fernsehkoch Tim Mälzer, der den Brasilianer in einem witzigen Sketch, der vor dem Spiel zu sehen war, doubelte und von einigen Passanten sogar für das Original gehalten wurde. Reinhard Lüke: Am ganz späten Abend wider alle guten Vorsätze doch noch mal ins RTL-Rahmenprogramm geraten. Neben den zu diesem späten Zeitpunkt erneut mächtig geschlaucht wirkenden Herren Jauch und Völler hockt eine unbändig wache Eva Padberg und jubiliert, dass sie heute zum ersten Mal in ihrem Leben ein wirkliches Fußballspiel in einem wirklichen Stadion gesehen hat. Na toll! Damit ist sie ja nun endgültig als WM-Expertin qualifiziert. Aber es geht noch gruseliger: In einem Einspieler sieht man, wie sich der rasende Telekoch Tim Mälzer ein Glatzen-Kondom überzieht und anschließend als Ronaldo-Double durch Berlin watschelt. Ich fand’s nicht gerade witzig. Und warte jetzt darauf, ob RTL am nächsten Sonntag Reiner Calmund als Maradona-Double losschickt. Das wär ein Brüller! Rainer Braun: Diese WM-Sonntage bei RTL hinterlassen anhaltend tiefe Ratlosigkeit. Für anhaltende Irritationen sorgt dabei nicht nur Pierre Littbarski, der mit seiner Rolle als Ko-Kommentator – beim torlosen Spiel Japan gegen Kroatien – auch diesmal wieder komplett überfordert ist: »Der kroatische Stürmer mit der Nummer 9 auf dem Rücken« ... Namen muss man ja nicht kennen. Wozu auch? Und zur Einstimmung auf die Partie Brasilien gegen Australien fallen Günther Jauch Fragen ein wie diese: »Was muss Ronaldo taktisch anders machen als im ersten Spiel?« – »Sich einfach mehr bewegen«, klärt Rudi Völler 60 Tag 10 – Sonntag, 18. Juni auf. Gut ist immerhin, dass RTL heute einen Korrespondenten in Rio de Janeiro hat, der per Live-Schaltung zeigt, wie Brasilien die WM lebt und erlebt. Merkel, Schröder, Podolski Pressemitteilung des WDR vom 18. Juni: Der Westdeutsche Rundfunk weist Presseveröffentlichungen gegen den WDR und die Eins-Live-Comedy »Lukas‘ Tagebuch« zurück. Die Serie wird trotz einer Unterlassungsbeschwerde des Fußball-Nationalspielers Lukas Podolski fortgesetzt, erklärte der WDR am Sonntag. Gerade bei einem jugendlich orientierten Programm wie Eins Live finde »die karikierende und humoristische Ansprache Prominenter aus Sport und Politik hohe positive Resonanz«, antworteten die WDR-Juristen dem Anwalt des Fußballstars. Dabei befinde sich Podolski »in prominenter Gesellschaft mit Angela Merkel, Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder oder Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, die der Hörfunksatire durchaus ihre popularitätssteigernde Wirkung abnehmen und souverän damit umgehen«. Podolskis Management hatte in einem Schreiben an den Sender angekündigt, dem Hörfunk der ARD aus Verärgerung über die Eins-LiveComedy-Serie bis auf weiteres keine Interviews mehr geben zu wollen. »Comedy ist ein gängiges und anerkanntes Stilmittel in unseren Programmen. Diese Sendeformen haben selbstverständlich nicht den Zweck, die persiflierten Personen zu verunglimpfen, sie herabzusetzen oder ihre Persönlichkeitsrechte zu verletzen. Der WDR lässt sich seine journalistische Arbeit nicht einschränken und wird die Eins-LiveComedy über Lukas Podolski fortsetzen«, sagte die WDR-Hörfunkdirektorin Monika Piel am Sonntag in Köln. Der WDR hat vergleichbare Formate ohne jeden Widerspruch bereits über Bundeskanzlerin Angela Merkel (»Angie«), Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder oder Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (»Ullala«) gesendet. SPD-Parteichef Franz Müntefering kam im NDR zu diesen Ehren ebenso wie Herbert Grönemeyer oder Fußball-Showstar Reiner Calmund bei Eins Live. Und auch Bundestrainer Jürgen Klinsmann hat an einer SWR-Satire über seine Person (»KlinsCamp«) nichts auszusetzen. In Bezug auf seinen 61 Das WM-Tagebuch Bekanntheitsgrad ist Podolski nicht zuletzt durch seinen Wechsel vom Bundesliga-Absteiger 1. FC Köln zum deutschen Rekordmeister FC Bayern München in diesen Kreis aufgestiegen. »Comedy ist eine Facette unserer journalistischen Arbeit im öffentlichrechtlichen Rundfunk«, erklärt Sabine Töpperwien, Sportchefin von WDR 2 und Leiterin des ARD-WM-Hörfunkteams. »Sie zeugt von besonderer Wertschätzung Podolskis, die nach allen Erfahrungen noch seinen Bekanntheitsgrad und seine Sympathiewerte erhöht. Das bestätigen auch die vielen positiven Rückmeldungen der Hörerinnen und Hörer.« * * * Reinhard Lüke hatte in diesem Fußball-WM-Tagebuch das aufkommende Problem zwischen WDR und Lukas Podolski thematisiert (vgl. den Eintrag am 13. Juni), ohne daraus »eine große Geschichte« zu machen. Übers Wochenende (17. bis 19. Juni) machten allerdings die Boulevardzeitungen ihre große Geschichte daraus, so dass sich der WDR veranlasst sah, mit dieser Pressemitteilung zu reagieren. Tag 11 – Montag, 19. Juni Dieter Anschlag: Bei der mittäglichen DFB-Pressekonferenz, live übertragen von der ARD, gibt’s heute eine Satellitenschalte von Berlin nach Kabul zu dort stationierten deutschen UN-Soldaten. Sie dürfen Jürgen Klinsmann Fragen stellen. Der Bundestrainer freut sich ausdrücklich über die Anteilnahme in Afghanistan. Vorher hatte ARD-Moderatorin Monica Lierhaus ein wenig mit den Bundeswehrsoldaten geplaudert, das heißt mit Stabsfeldwebel Thomas Kassat. Wie man sich das denn so vorzustellen habe, wenn die Soldaten da in Kabul vor der Großleinwand säßen und die Spiele der deutschen Elf guckten? Kassat: »Selbstverständlich schwenken wir dabei Fahnen. Selbstverständlich singen wir die Nationalhymne mit, so wie sich das auch gehört. Und selbstverständlich ist dabei für die Soldaten, die keinen Dienst haben, das ein oder andere Bier zeitlich begrenzt erlaubt.« Der Blick nach Afghanistan dauert so sechs, sieben Minuten. »Schönen Dank an die ARD, dass sie diese Schalte möglich gemacht hat«, sagt schließlich DFBMediendirektor Harald Stenger und leitet über zur eigentli62 Tag 11 – Montag, 19. Juni chen Pressekonferenz mit den Fachleuten. Wer wohl die Idee hatte zur «PR-Aktion Kabul«? Jürgen Klinsmann und sein Berater Roland Eitel, erfahre ich später durch einen Hörfunkbericht bei WDR 2. René Martens: Verrückt! DPA meldet heute, der ghanaische Fußballverband habe sich dafür »entschuldigt«, dass sein Spieler John Pantsil bei der Partie gegen Tschechien mit einer eigens dafür im Stutzen versteckten israelischen Mini-Flagge gejubelt hat. Anders als zuvor von mir angemerkt, hat er offensichtlich auch nach den Toren schon entsprechend gejubelt, nicht erst nach Spielschluss. Reinhard Lüke: Man kann der WM nirgendwo entgehen. Ich weiß jetzt gerade nicht, wann genau ich’s gesehen habe, jedenfalls entdeckte ich, als ich beim Durchzappen beim Verkaufsfernsehen landete, dass es bei RTL Shop Hüfthalter zu »WM-Sonderpreisen« gibt! Aus einem Artikel des »Spiegel« (Nr. 25/06) vom 19. Juni über die Fußball-WM als »Deutschland-Party«: Regieren in Zeiten der Fußball-WM Für die Große Koalition ist die Weltmeisterschaft ein Glücksfall. Sie kommt über das Land in einem Moment, da die Regierung ihre Schwächen offenbart, in dem sie sich selbst blockiert und in den großen Fragen, der Gesundheitspolitik etwa, nicht mehr weiter weiß oder aber Gesetze durchbringt wie am vergangenen Freitag. Da wurde die Mehrwertsteuer erhöht, die Pendlerpauschale gekürzt, die Eigenheimzulage gestrichen. Gesetze sind das, die in normalen Zeiten für viel Aufregung sorgen würden. Aber es bekommt fast niemand mit. Vermutlich könnte die Bundesregierung gerade auch die Mehrwertsteuer verdoppeln, und kaum einen würde es interessieren. 63 Das WM-Tagebuch Tag 12 – Dienstag, 20. Juni Dieter Anschlag: Reinhold Beckmann beim Halbzeitstand von 2:0 für Deutschland im Spiel gegen Ecuador: »Sollten es am Ende drei Siege werden zum Auftakt? Das ist weder Helmut Schön 1974 noch Franz Beckenbauer 1990 gelungen. Wo soll das noch hinführen?« Ja, wo soll das noch hinführen, wenn man so daherschwatzt? Und Jürgen Klinsmann versucht uns während der Halbzeitpause mal wieder beizubringen: »Also, Leute, die Taktik ist ganz einfach: Zur Sparkasse gehen – und die Mastercard holen. Alles klar?« ARD-Endspielkommentator Reinhold Beckmann vor der Übertragung des Spiels Ecuador – Deutschland im WM-Stadion Berlin am Dienstag (20.06.06). © Bild: WDR/Axel Berger Ich gucke das Spiel in der Redaktion im Konferenzraum mit Kollegen. Und Kolleginnen, wie man im öffentlich-rechtlichen Rundfunk politisch korrekter sagen würde. In der Halbzeit gehe ich eben in mein Büro, um mal den E-Mail-Eingang zu checken. Ob einem wohl während dieses Spiels einer was geschickt hat? Eine einzige neue Mail ist eingegangen. Um 16.03 Uhr, also kurz nach Beginn von Deutschland gegen Ecu64 Tag 12 – Dienstag, 20. Juni ador, war sie eingetroffen, folgenden Inhalts: »Neu an der Fanmeile: Die FanCam vom RBB liefert Live-Bilder von der WMStimmung am Brandenburger Tor ins Internet. Ein Kameraauge mehr an der Berliner Fanmeile: Auf dem Dach seines gläsernen WM-Studios direkt gegenüber dem Brandenburger Tor installiert der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) am heutigen Dienstag eine Webcam. In einer Totale« – muss es nicht heißen: ›In einer Totalen‹? – »fängt sie die Stimmung vor der zentralen Großbildleinwand ein, vor der Tausende Zuschauer die Spiele der FIFA WM 2006 verfolgen. Per Live-Videostream kommen die Bilder der FanCam bis zum Endspiel am 9. Juli täglich rund um die Uhr ins Internet. Sie runden das umfangreiche WM-Special des RBB unter ›http://www.rbb-online.de/ wm2006‹ ab.« Der RBB hat ja über der Fanmeile diese großen weißen – oder silbernen? – Ballons schweben, mit dem RBBLogo drauf, »rbb« im Original, kleingeschrieben, es ist ein kleiner Sender. Diese Werbeballons sieht man auch immer so schön, wenn sonntags das RTL-Team um Jauch und Völler vor der Fanmeile auf Sendung ist. Und jetzt kann man sie ebenfalls mit der FanCam sehen. Tolle Erfindung: FanCam – wasses alles gibt! Dietrich Leder: Da ich noch an einem Buchbeitrag schreiben musste, der schon lange überfällig ist, sagte ich eisern alle Verabredungen zum Gemeinschaftsempfang ab und wollte beim Spiel Deutschland gegen Ecuador – am Rechner sitzend und arbeitend – zunächst den Fernsehton von Ferne hören. Dachte ich. Dann fiel das erste Tor, und von da an schaute ich – alle guten Vorsätze vergessend – die erste Halbzeit wie weite Teile der zweiten bei Premiere, im Wohnzimmer. Dass im Kabel das Signal von Premiere vor dem Signal der ARD bei den Zuschauern ankommt, hatte ich bereits angemerkt. Denn in der Wohnung unter mir hörte ich den Schrei beim 1:0 für Deutschland erst, als ich schon auf dem Weg zum Fernsehapparat war. Diese Vorzeitigkeit sollte Premiere erhalten bleiben. Bleibt ihnen ja auch sonst nix mehr. Übrigens gab der Sender heute bekannt, er wolle seine Abonnementpreise senken. Zu spät, Georg Kofler, das Abo ist bereits gekündigt! 65 Das WM-Tagebuch Heute lohnte sich jedoch das Abonnement des Pay-TV-Senders noch, denn Kommentator Marcel Reif war so gut, wie selbst er selten ist. Zum Beispiel hatte er Lust auf einen deutschen Sieg. Wenn er die Namen der DFB-Spieler bei Pässen und Vorlagen nannte, dann hatte er ein leichtes Tremolo in der Stimme. Und er hatte mit seinem Optimismus, der nicht mit der üblichen Schönfärberei der Waldemars und Konsorten zu verwechseln ist, Recht, wie das erste Tor bewies. Erneut demonstrierte er in den nächsten Minuten, dass er einer der wenigen Kommentatoren ist, die auch wirklich etwas auf dem Fußballfeld sehen und dies unfallfrei in Worte zu fassen verstehen. Er weiß beispielsweise, dass Philipp Lahm längst nicht nur mit rechts von der linken Seiten flankt, sondern auch mit seinem schwächeren linken Fuß. Und er erkannte, wie kompakt das deutsche Mittelfeld an diesem Tag stand und wie aufgedreht Bernd Schneider agierte. »Das sieht gut aus, Punkt«, sagte Reif und traf ins Schwarze. Rechtzeitig warnte er in der zweiten Halbzeit vor dem Schlendrian, der sich besonders auf der rechten Verteidigungsseite Deutschlands einschlich. Zur Beruhigung fiel dann Podolskis Tor zum 3:0-Endstand. Und er beurteilte Ecuador richtig, als er die Mannschaft am Ende einen »Gegner von enormer Harmlosigkeit« nannte, aber richtigerweise ergänzte, auch gegen den müsse man die Tore erst einmal schießen. Fehler wie der, dass er in der 49. Minute den ersten Eckball von Ecuador ankündigte, obgleich es genau 40 Sekunden zuvor schon einen gegeben hatte, seien ihm verziehen. Denn wer kann liebevoller ironisch sein als er: »Ich denke, diese Freistoßvariante werden sie rasch ad acta legen«, meinte er etwa, als Deutschland den Ball einmal fast vertändelte. Oder: »Interessanter Abwehrversuch«, als ein Verteidiger von Ecuador elegant am Ball vorbeitrat. Nicht zuletzt trug er einige kleine Informationen über das Land des Gegners der deutschen Elf bei, ohne gleich auf die soziale Tube zu drücken. Sehenswertes Spiel, souveräner Kommentar! Einen köstlichen Versprecher, der im Grunde den DFB auf den Plan rufen müsste, leistete sich der US-Schwabe Klins66 Tag 12 – Dienstag, 20. Juni mann, als er nach dem Spiel im Gespräch mit ARD-Interviewerin Monica Lierhaus seinem zweifachen Torschützen Miroslav Klose attestierte, er sei »in bestechlicher Form«! Reinhard Lüke: Während die ARD-Häuptlinge in Straßburg die sportjournalistische Causa Boßdorf gegen Hajo Seppelt verhandeln, steht Letzterer fürs »MiMa« im Ersten auf der Fanmeile am Brandenburger Tor und muss Statements von Passanten einholen: »Wo kommt ihr her?« »Wo wollt ihr hin?« »Euer Tipp fürs Spiel?« Man kann sich als kompetenter Freiberufler halt auch nicht immer aussuchen, womit man seine Brötchen verdient. Beim DSF sitzen kurz darauf die Sportkameraden Helmer und Vogts in lustigen T-Shirts auf einem Berliner Hausdach und tun kund, was ihnen zu Deutschland gegen Ecuador gerade so durch die Rübe rauscht. Lustig wird’s nur, als Thomas Helmer eine ironisch gemeinte Spitze gegen den allwissenden Udo Lattek absondert, der in der täglichen DSF-Plauderrunde am Bahnhof sitzt und Helmers Einwurf so schrecklich ernst nimmt, dass die unverfängliche Stimmung jäh zu kippen droht. Schade, dass sich die Kontrahenten nicht im selben Raum befanden. Hätte sonst eine ansehnliche Keilerei werden können. Das Spiel am Nachmittag dann im Rahmen eines (Semi-) Public-Viewings in einem Zelt des Kölners Sportmuseums verfolgt. Wunderbare Location. Zum Rhein hin geöffnete Planen, so dass man auch noch einen Blick auf die am gegenüber liegenden Ufer lagernden englischen Heerscharen hatte, die das Deutschland-Spiel auf einer Großleinwand verfolgten. Allerdings in der ARD-Version. Weshalb die Reaktionen der Engländer durch die Zeitverzögerung, die Leder bereits bemerkte, erst mit geraumer Verspätung zum Sportmuseum rüberwehen, wo man Premiere genießen durfte. Ach, dieser Marcel Reif! Auch von mir: tiefe Verbeugung. Ungeheuer laid back, dabei präzise und immer mit dem Unterton: »Es ist schön, aber es ist nur Fußball.« In der Halbzeit befragte dann Boris Becker den Heli-Franz zum Spiel. Keine Ahnung, was die Super-Gurus da erzählten, da man den Ton in der Pause abgedreht hatte. Aber es sah eindeutig aus wie Muppet-Show. 67 Das WM-Tagebuch Dieter Anschlag: Hey, ARD, es gab da doch mal diesen Schleichwerbeskandal, da wolltet ihr doch was draus lernen und euch bessern. Schon alle guten Vorsätze wieder vergessen? Oder was sollte das eigentlich bedeuten, heute mehrfach live in die Redaktion der »Bild«-Zeitung zu schalten, angeblich um zu zeigen, wie’s da an einem solchen Tag in der Sportredaktion so zugeht? Kostenlose Reklame für journalistischen Hooliganismus im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, das muss nun nicht auch noch sein. Dafür zahl’ ich keine Rundfunkgebühren! Oder war diese Schleichwerbung Bedingung für euren Vertrag mit Günter Netzer, der ja inzwischen auch als Exklusiv-Kolumnist auf der »Bild«-Lohnliste steht? Der WDR ist federführend für die ARD-WM-Berichterstattung, der Rundfunkrat des Senders ist zuständig für Programmverstöße. Viva Bavaria! Dietrich Leder: Ja, ich sah diese Live-Schaltungen der ARD in die »Bild«-Redaktion auch und schämte mich für jede, auch noch kritisch gemeinte Frage, die von der gegelten Reklame-Nase der Boulevardzeitung auf das Billigste hinweggeschwafelt wurde. Kritik an Klinsmann? Nein, der ist permanent unser Gast! Und so weiter und so fort. Zu Beginn des Fußball-WM-Tagebuchs plädierte ich dafür, dass die Teilnehmer hier auch den Zeitpunkt dokumentierten, an dem sie jeweils ihren Text eingetragen haben. Damals dachte ich an so etwas wie Transparenz, die dadurch hergestellt werde. Heute Abend – gegen 23.45 Uhr – weiß ich, dass es anders war: Ich fürchtete die Konkurrenz. Und tatsächlich wurde der Klinsmann-Satz über Klose – siehe oben – dann auch in Hartmanns ARD-Nachtstammtisch erörtert. Die Pointen, die da fielen, waren allerdings schlechter als jene, die ich für den oben dokumentierten Text, gegen 19.00 Uhr geschrieben, vermied. Aber wer glaubt mir das? Rainer Braun: Nichts gegen die Euphorie nach dem deutschen Sieg über Ecuador, aber merkwürdig war schon, dass die gutdotierten ARD-Kommentatoren und -Analytiker kein Wort darüber verloren, warum der letzte Gruppengegner der Deutschen seine Stammkräfte im Sturm nicht aufbot. Denn Agustin 68 Tag 13 – Mittwoch, 21. Juni Delgado und Carlos Tenorio, die bei den Siegen gegen Polen und Costa Rica vier der insgesamt fünf Tore für Ecuador geschossen hatten, spielten diesmal nicht – das wiederum relativierte den Erfolg der Klinsmann-Truppe doch ein wenig. Dass nun auch ARD-Mitarbeiter einen Tag bei der Sportredaktion von »Bild« hospitieren und darüber eigene Berichte machen, gilt ARD-intern wahrscheinlich als besonders pfiffige Idee: Schließlich dürfte diese Art von Medienpartnerschaft auch dafür sorgen, dass man bei Springer diese freundliche PR-Hilfe der ARD nicht vergisst. René Martens: Das Deutschland-Ecuador-Spiel nur im Radio gehört – bei NDR Info. Bin ungeübt, was Fußballübertragungen im Hörfunk betrifft, kenne daher die Reporter nicht. Der eine der beiden Kommentatoren könnte Alexander Bleick gewesen sein. Einer – vielleicht sind es auch beide – sagt statt »Podolski« oder »Lukas Podolski« mehrmals nur »Poldi«. Auch von »wir« ist einmal die Rede, als die deutsche Mannschaft gemeint ist. Die sind auch nicht angenehmer als die Fernsehnasen. Inspiriert von Benjamin Henrichs’ Kolumne »Falscher Einwurf« in der »Süddeutschen Zeitung« drängt es mich noch loszuwerden, dass eines der großen Übel der WM-TV-Berichterstattung die Herabwürdigung des Fußballfans an sich ist: Der Fan dient als Jubelperser für Jott Beh Kerner und seine Kumpels oder als betrunkener Fanmeilen-Kurzreportagen-Statist, dem nicht mal fünfzehn Sekunden Ruhm vergönnt sind. Tag 13 – Mittwoch, 21. Juni Dieter Anschlag: Das Jugendradio WDR Eins Live hat ja nun gerade durch seine Podolski-Affäre ungewollte überregionale Bekanntheit erlangt. Morgens auf dem Weg zur Arbeit mal in das Programm reingehört, auch wenn ich zielgruppentechnisch längst viel zu alt dafür bin. Egal, vielleicht erwischt man ja zufällig gerade eine Folge von Poldis WM-Tagebuch, der 69 Das WM-Tagebuch inkriminierten Problemsatire. Nein, das klappt nun gerade nicht. Aber lustig sein – das jugendliche Zielpublikum verlangt halt permanent pubertäre Späße – muss Eins Live rund um die Uhr. An diesem Vormittag hat man sich eine Art April-AprilFake-Aktion ausgedacht. Es sei ja offiziell Sommeranfang heute, und da habe sich die FIFA eine passende Änderung für die WM überlegt: Ab heute würden die Spiele, wie beim Beachvolleyball, auf Sand ausgetragen, heißt es. Und da habe Eins Live mal die Leute befragt, wie die das denn fänden. Die Reaktionen werden anschließend vom Band eingespielt. Das alles ist ungefähr so witzig wie eine Quizfrage, die Oliver Pocher in einer Pro-Sieben-Sendung – ich glaub’, ich sah’s am vorigen Montag – stellte: Wer weiß, ob das Land, für das der Afrikaner Didier Drogba spielt, »a) Elfenbeinküste« oder »b) Porzellanküste« heißt, soll schnell anrufen – und kann etwas gewinnen. Die Sendung, die jeweils von montags bis donnerstags gegen Mitternacht läuft, heißt »Pocher zu Gast in Deutschland« und ist die 49 Cent nicht wert, die ein Anruf kostet. Reinhard Lüke: Zu den Erscheinungen der WM, die ich überhaupt nicht mehr sehen will, gehören diese rasenden Reporter, die sich rund um die Spiele unters hiesige Fanvolk mischen, um von »ganz nah dabei« ihre Sprechblasen abzusondern. Egal, ob ARD, ZDF oder RTL. Und all die so genannten NewsKanäle sowieso. Und ganz egal auch, ob sie an diesem Tag überhaupt Partien zu übertragen haben – es ist von Mittag bis Mitternacht immer dasselbe Spielchen. Da kündigt ein Studiomoderator eine Schalte zum Mikrofonhalter XY an, »der für uns draußen ...«, und dann steht der nämliche Journalist da in einem Pulk von Fans, die er vorab mit einigem Aufwand um sich geschart hat, krächzt was von »super Stimmung«, tut so, als berichte er quasi unter Lebensgefahr, weil ihm ein paar Gröhler – gern auch vollbusige Damen in Fanshirts – auf die Schulter hauen, und irgendwann kommt dann, an den Moderator im Studio gerichtet, todsicher die Hülse: »Entschuldige, ich kann hier mein eigenes Wort kaum mehr verstehen.« Den ersten Bericht dieser Güte hab’ ich heute Mittag im ZDF, den letzten weit nach Mitternacht bei RTL gesehen, wo man das 70 Tag 14 – Donnerstag, 22. Juni »Nachtjournal« um einen WM-Block erweitert hat, in dem Lauda-Gegenüber Florian König vor allem auf Atmo macht. Dieter Anschlag: In der Nacht so gegen Viertel vor zwölf, am Ende eines eher langweiligen Spieltages – es stand ja schon vorher fest, dass Portugal, Mexiko, Holland und Argentinien das Achtelfinale sicher hatten –, zeigt der multikompetente Johannes B. Kerner, dass er außer Moderator, Kommentator, Reporter, Interviewer, Talkmaster, Produzent, Stimmungskanone, Sonnyboy, Werbefuzzi, Analyst, Anlageberater, Sterne-Koch und ZDFFernsehratsmitglied auch ein toller Programmansager wäre. »Zum Schluss«, kündigt er dem werten Publikum an, »möchte ich Sie noch auf eine Reportage hinweisen, die das ZDF im Anschluss an ›Nachgetreten!‹ zeigt. Sie dauert nur 15 Minuten, ist aber sicherlich sehenswert. Sie heißt Partyzone Deutschland und zeigt also, wie die WM unser Land verändert.« Ach ja? Die Reportage zeigt wohl eher, wie das ZDF mal so auf die Schnelle den »Spiegel«-Titel dieser Woche – »Die Deutschland-Party« – fürs Fernsehen abgekupfert hat. Wie kreativ sie doch sind beim Zweiten, für 15 Minuten. Ehm, nee, im ZDF-Fernsehrat ist Kerner nicht aktiv, oder? Da muss ich wohl was durcheinander gebracht haben. Aber irgendwas war da dieser Tage, mit Kerner und dem Fernsehrat. Tag 14 – Donnerstag, 22. Juni Friedrich Küppersbusch: Zwei Wochen sind um, heute ist Halbzeit bei der Weltmeisterschaft. Und hier noch mal ein Wort zum Wort: Ich erinnere mich präzis, zu länglichen Reportagen der entlegensten Hop-Hop-Hop-Sportarten Kinderzimmer tapeziert und lange Autofahrten überlebt zu haben. Olympische Winterspiele, Sommerspiele, Leichtathletikfeste – wenigstens eine Mittelwellenfrequenz wurde reanimiert, um den Nerds und Unersättlichen umfassende Turnierberichterstattung zu bieten. Diesmal – ist das eine westdeutsche Regionalkrankheit? – geht’s auch mir so: Ich höre nichts, keine Spielübertragungen live, erst recht kein buntes oder informatives Programm 71 Das WM-Tagebuch drum herum. Es sei denn, die vaterländischen oder andere favorisierte Mannschaften spielen auf. Ansonsten: Kleine Drei-Minuten-Einblendungen hie und da, die sich dann gern auch spontan just vor dem Freistoß gänzlich entleiben, weil wegen wichtiger Verkehrshinweise oder des Werbeblocks abgebrochen wird. Mir fehlt da was!!! Selbstverständlich neige ich zu der Verschwörungstheorie, dass die in dieser Sache rechteführende ARD einen clandestinen Deal mit der großen bösen FIFA einging, die Leute am Radio verhungern zu lassen, damit sie das werbeintensivere TV-Bild suchen. Ich erwäge auch, dass die Radioredaktionen von vornherein zum Leder eine eher vegane Haltung beschlossen haben, irgendeine Kopfgeburt entlang der Melodie »Die Sportfans gucken doch eh Fernsehen«. Ich jedenfalls bin hörbestürzt, was diese WM angeht. Dieter Anschlag: Brasilien hat in Dortmund Japan mit links 4:1 geschlagen. Das ZDF schaltet nach Stuttgart, wo gerade das eigentlich spannende Spiel der Gruppe F, Australien gegen Kroatien, mit 2:2 geendet ist. In Stuttgart meldet sich Rudi Cerne und spricht von einer »bisher an Überraschungen reichen Weltmeisterschaft«. Ach, Rudi, wärst du doch beim Eiskunstlauf geblieben! Wenn diese WM in der Vorrunde eines nicht war, dann reich an Überraschungen. Zum größten Teil stand doch bereits am zweiten Spieltag fest, welche Mannschaften ins Achtelfinale kamen, Favoritensiege noch und nöcher. Im Übrigen berichtet Cerne nichts weiter aus Stuttgart als das Ergebnis, und dass die Stimmung bei den Australiern toll sei, da sie durch das Unentschieden überraschend – ja, so überraschend auch wieder nicht – weitergekommen seien. Dann gibt Cerne zurück in die »ZDF-Arena« nach Berlin, wo Kerner & Co. vor lauter Begeisterung über sich selbst den so eindeutigen Sieg von Brasiliens B-Elf hin- und herdiskutieren, obwohl es nur wenig zu diskutieren gäbe. Es dauert geschlagene 25 Minuten, bis es das ZDF endlich schafft, Bilder vom Spiel Australien gegen Kroatien zu zeigen. Sechs Minuten lang. Da bekommt man gerade mal die vier Tore unter. Und viele Ein72 Tag 14 – Donnerstag, 22. Juni blendungen von schnuckeligen Mädchen, an denen sich Kommentator Poschmann ergötzen kann. In dem Spiel gibt es drei gelb-rote Karten. Wir sehen weder die Ursachen dafür, noch wem sie der Schiedsrichter zeigte. Dabei hatte Kerner in seiner Anmoderation zum Australien-Spiel doch gesagt, wir bekämen jetzt »alle Höhepunkte und die ganze Dramatik« zu sehen. Nicht zum ersten Mal hat das ZDF hier nicht gehalten, was Kerner versprach. Und eins noch: Vor dem Brasilien-Spiel interviewte ein ZDFMitarbeiter »den ZDF-Experten Pelé«. Gleich in der ersten Frage war wieder mal von »Samba« die Rede: »Pelé, haben Sie die brasilianische Samba bisher vermisst?« Immer, wenn es um die – wie Kenner heutzutage sagen – »ßeläßao« geht, hab’ ich den Eindruck, es gehe hier um eine Weltmeisterschaft in den lateinamerikanischen Tänzen. Ich möchte einmal im Zusammenhang mit Brasiliens Fußball erleben, dass ein Reporter sich dieses abgedroschensten aller Vergleiche zu enthalten vermag. Aber was soll man erwarten? Beim ZDF arbeitet schließlich auch ein Kommentator wie Thomas Wark, der bei der Partie gegen Tschechien über die Italiener sagte: »So ganz zufrieden können die Spaghettis mit diesem Spiel aber auch nicht sein.« Er sagte dies, wenn ich’s recht mitbekommen habe, direkt im Anschluss an eine Bemerkung über den Tschechen Marek Heinz. Was Herrn Wark wohl unvermittelt an »Heinz Ketchup« erinnerte und seine kruden Gedanken nun vom Ketchup – Soße! – zu den »Spaghettis« führte. Das ist ein Niveau. Wie einst bei Heribert, der einen argentinischen Schiedsrichter »in die Pampa« geschickt wissen wollte, weil der nicht so für Deutschland pfiff, wie Heribert es wollte. Ich kann’s eigentlich immer noch nicht glauben. Hat Wark wirklich »die Spaghettis« statt »Italiener« gesagt oder hab’ ich mich da doch verhört oder etwas verwechselt? 73