Band 19 (2001), Berichtsjahr 2000

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Band 19 (2001), Berichtsjahr 2000
Medizin, Gesellschaft und Geschichte (MedGG)
Band 19 • 2000
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Medizin,
Gesellschaft und Geschichte
Jahrbuch
des Instituts für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Band 19 • Berichtsjahr 2000
herausgegeben von
Robert Jütte
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2001
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Medizin, Gesellschaft und Geschichte (MedGG)
Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Herausgeber:
Redaktion:
Prof. Dr. Robert Jütte
Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach
Dr. Iris Ritzmann
Satz und Layout: Arnold Michalowski
Anschrift:
Institut für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
70184 Stuttgart
Telefon (0711) 46084 - 171 und 172
Telefax (0711) 46084 - 181
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Anzeigenleitung (verantwortlich): Susanne Szoradi
Druck: Rheinhessische Druckwerkstätte, Wormser Str. 25, 55232 Alzey
Medizin, Gesellschaft und Geschichte enthält ausschließlich Originalbeiträge mit den
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und alternativer Heilweisen. Entsprechende deutsch- oder englischsprachige Manuskripte
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Daneben informiert MedGG über laufende Forschungsprojekte und Veranstaltungen aus
den Bereichen Sozialgeschichte der Medizin und Homöopathiegeschichte im deutschsprachigen Raum. Für entsprechende, zur Veröffentlichung bestimmte Mitteilungen sollten
spezielle Formulare, die ebenfalls anzufordern sind, verwendet werden.
Als Ergänzung zum Katalog der Bibliothek des Homöopathie-Archivs, hg. v. Renate Günther und Renate Wittern, Stuttgart 1988, enthält MedGG ein Verzeichnis der Neuerwerbungen (vgl. Jahrbuch, Bd. 6ff.).
MedGG enthält keine Buchrezensionen. Unaufgefordert eingesandte Besprechungsexemplare werden nicht zurückgeschickt, sondern von der Institutsbibliothek übernommen.
©
2001 Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
Printed in Germany. ISSN 0939-351X
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Inhalt
I.
Anschriften der Verfasser
7
Editorial
8
Zur Sozialgeschichte der Medizin
Alfons Labisch
Medizin als Wissenschaft – Medizin als Kunst?
9
Paul U. Unschuld
»Vollendete Tugend« – Heilansprüche, Heilvermögen, Heilverhalten: Europa und China im interkulturellen Vergleich
33
Lutz Sauerteig
Medizin und Moral in der Syphilisbekämpfung
55
Flurin Condrau
Behandlung ohne Heilung. Zur sozialen Konstruktion des
Behandlungserfolgs bei Tuberkulose im frühen 20. Jahrhundert
71
Cornelie Usborne
Heilanspruch und medizinische Kunstfehler. Abtreibungen
durch Ärzte in der Weimarer Republik: offizielle Beurteilung und weibliche Erfahrung
95
Matthias M. Weber
Die Entstehung der modernen Psychopharmakologie. Heilanspruch und Heilvermögen eines psychiatrischen Therapiesystems aus medizinhistorischer Sicht
123
Reinhard Spree
Anspruch und Wirklichkeit der Krankenhausbehandlung im
19. Jahrhundert
143
Nina Diezemann
Die Kunst des Hungerns. Anorexie in medizinischen Texten
des späten 19. Jahrhunderts
153
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und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Lilla Krász
Das Hebammenwesen im Ungarn des 18. Jahrhunderts –
zwischen Tradition und bürokratischer Verwissenschaftlichung
II.
179
Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen
Hartmut Bettin, Ulrich Meyer, Christoph Friedrich
»Diese Bitte war ich der Menschheit schuldig« – Das Wirken des homöopathischen Laienheilers Arthur Lutze (18131870) in Preußen
199
Urs Leo Gantenbein
Der Einfluß der Ersten Wiener Schule auf das Arzneiverständnis bei Samuel Hahnemann
229
III. Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs
2000 (14)
Monographien. Bearbeitet von Beate Schleh
251
Zeitschriften. Bearbeitet von Uta Schweizer
270
IV. Homöopathiegeschichte:
Laufende Forschungen und Veranstaltungen
V.
275
Sozialgeschichte der Medizin:
Laufende Forschungen und Veranstaltungen
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277
Anschriften der Verfasser
Hartmut Bettin, Dr.
Philipps-Universität Marburg
Fachbereich Pharmazie
Institut für Geschichte der Pharmazie
Roter Graben 10
D - 35032 Marburg
Lutz Sauerteig, Dr.
Institut für Geschichte der Medizin
der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Stefan-Meier-Str. 26
D – 79104 Freiburg
sauertei@ruf.uni-freiburg.de
Flurin Condrau, Dr.
Department of History
University of Sheffield
UK – Sheffield S10 2TN
Beate Schleh, Dipl. Bibl.
Institut für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
D – 70184 Stuttgart
beate.schleh@igm-bosch.de
Nina Diezemann, M. A.
Theresienstr. 134
D – 80333 München
diezemann@gmx.de
Christoph Friedrich, Prof. Dr.
Philipps-Universität Marburg
Fachbereich Pharmazie
Institut für Geschichte der Pharmazie
Roter Graben 10
D – 35037 Marburg
igphmr@mailer.uni-marburg.de
Urs Leo Gantenbein, Dr.
Universität Zürich
Medizinhistorisches Institut
Universität Zürich
Rämistr. 71
CH – 8006 Zürich
Ulganten@mhiz.unizh.ch
Lilla Krász
Victor Hugo u. 36
H – 1132 Budapest
Uta Schweizer, Dipl. Bibl.
Institut für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
D – 70184 Stuttgart
uta.schweizer@igm-bosch.de
Reinhard Spree, Prof. Dr.
Ludwigs-Maximilians-Universität München
Volkswirtschaftliche Fakultät
Seminar für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Ludwigstr. 33
D – 80539 München
R.Spree@swg.vwl.uni-muenchen.de
Paul U. Unschuld, Prof. Dr.
Ludwigs-Maximilians-Universität München
Institut für Geschichte der Medizin
Lessingstr. 2
D – 80336 München
unschuld@lrz.uni-muenchen.de
Alfons Labisch, Prof. Dr. Dr.
Institut für Geschichte der Medizin
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Universitätsstr. 1
D – 40225 Düsseldorf
histmed@uni-duesseldorf.de
Cornelie Usborne, Dr.
Roehampton Institute
Dep. of History
Digby Stuart College
Roehampton Lane
GB - London SW15 5PH
Cusborne@max.roehampton.ac.uk
Ulrich Meyer, Dr.
Philipps-Universität Marburg
Fachbereich Pharmazie
Institut für Geschichte der Pharmazie
Roter Graben 10
D - 35032 Marburg
Matthias M. Weber, PD Dr.
Max-Planck-Institut für Psychiatrie
Historisches Archiv der Klinik
Kraepelinstr. 2
D – 80804 München
mmw@mpipsykl.mpg.de
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Editorial
Es ist nicht das erste Mal, daß ein Band der Zeitschrift MedGG einen Themenschwerpunkt hat. Diesmal sind es Aufsätze, die auf Referate zurückgehen, die in einer Sektion auf dem Frankfurter Historikertag von 1998 gehalten wurden.
Wer die gegenwärtige Debatte um die Reform des Gesundheitswesens aufmerksam verfolgt, der gewinnt manchmal den Eindruck, daß dieses Ziel
von einigen Ärztefunktionären aus dem Auge verloren wird und ganz andere Interessen den Medizinbetrieb beherrschen. Dennoch haben immer wieder Ärzte den Anspruch angemeldet, ausschließlich dem Wohl der Kranken
zu dienen und ihnen versprochen, sie von ihren Leiden befreien zu können.
In diesem Zusammenhang taucht auch die Grundsatzfrage auf, ob sich die
Medizin eher als »Kunst« oder als »Wissenschaft« versteht, wie Alfons Labisch, der zusammen mit Reinhard Spree die Sektionsleitung auf dem
Frankfurter Historikertag innehatte, in seiner Einleitung skizziert. Das
Spektrum der Beiträge, die sich mit der Kluft zwischen dem Anspruch,
Krankheiten heilen zu können, und der Tatsache, daß die Möglichkeiten
der medizinischen Intervention begrenzt sind, befassen, reicht vom interkulturellen Vergleich (P. A. Unschuld) über die medizinische Kunstfehlerdebatte in der Weimarer Republik (C. Usborne) bis hin zu »Anspruch und Wirklichkeit der Krankenhausbehandlung im 19. Jahrhundert« (R. Spree).
Dieser Themenblock, zu dem ebenfalls ein Aufsatz über die medizinische
Bekämpfung der Syphilis (L. Sauerteig) sowie eine Studie über die Entstehung der modernen Psychopharmakologie (M. M. Weber) gehören, wird
ergänzt durch zwei freie Beiträge (N. Diezemann, L. Krász)
Zur Homöopathiegeschichte findet der Leser diesmal zwei Beiträge, die sich
mit Vorläufern bzw. Nachahmern Samuel Hahnemanns befassen. In dem
einen Fall steht die schillernde Figur eines homöopathischen Laienheilers
im Zentrum, in dem anderen Fall geht es um die Arzneimittelversuche Anton Störcks, von denen Hahnemann Kenntnis hatte.
Den Abschluß des Jahrbuchs bilden – wie immer – die Rubriken »Neuerwerbungen des Homöopathie-Archivs« und »Laufende Forschungen und
Veranstaltungen«.
Abschließend gilt der Dank des Herausgebers der »Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf e.V.«, die
durch einen namhaften Zuschuß die rasche Drucklegung dieses Bandes ermöglicht hat.
Stuttgart, im Frühjahr 2001
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
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und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Robert Jütte
I.
Zur Sozialgeschichte der Medizin
Medizin als Wissenschaft – Medizin als Kunst?
Alfons Labisch
Summary
Medicine: Art or Science?
The question of how science, medicine and medical practice are related also compromises
the crucial issue of the character of medicine. At the beginning of the 19th century, medicine tried to overcome the ancient contradiction within the unity of scientific thought and
the deduction of guidelines and techniques for medical practice. This aim was partly
achieved in medico-theoretical reasoning and practical procedures as well as for nosology,
casuistic thinking and diagnostics. But medicine is a discipline directed towards healing.
So the intentions of medicine and the reality of clinical healing possibilities, however,
showed an increasing divergence since the middle of the 19th century. This divergence
triggered considerable reactions not only from “Schulmedizin” and from other disciplines
but also from practicing doctors and mainly from (disappointed) patients. Together with
the continuous changes in empirical clinical research these internal and especially external
reactions to medicine showed fundamental differences between medicine and the sciences.
During the decades of this development it has become obvious that medicine will never
become a pure science, not even an applied science. As medicine is concerned with patients who need to be considered as individual subjects, medical knowledge and medical
practice consequently form a dialectic unity which is directed by the patient as a subject.
Medizinisches Wissen und ärztliches Handeln – zur Einführung
Naturwissenschaftliches Wissen trifft stets allgemeine Aussagen. In der Medizin geht es darum, dem Hilfsbegehren eines einzelnen Menschen gerecht
zu werden. Dieser ist zudem als leidender Mensch in besonderer Weise eingeschränkt. Das Problem einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin läßt sich demzufolge so kennzeichnen: Ärztinnen und Ärzte müssen ihr
allgemein gerichtetes naturwissenschaftliches Wissen in der Begegnung mit
dem Patienten in ein Handeln umsetzen, das den je individuellen Gegebenheiten und Bedürfnissen Rechnung trägt. Im ärztlichen Handeln wird demzufolge der wissenschaftliche Objektbezug der Medizin zum subjektbezogenen Handeln gerichtet.
Diese wenigen Sätze fassen einen überaus verwickelten und über viele Jahrzehnte geführten Klärungsprozeß zusammen. In dessen Mittelpunkt stand
die Frage, was die Medizin überhaupt sei: eine Naturwissenschaft, eine
Handlungswissenschaft oder gar – um diesen Begriff des ausgehenden 18.
Jahrhunderts zu verwenden – lediglich eine »Kunst«?1 Nach den Wirren
romantischer Spekulation war es die wesentliche Triebfeder auf Seiten der
1
Vgl. dazu Wiesing (1995).
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
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und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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10
Alfons Labisch
Medizin, durch den Anschluß an die Naturwissenschaften Gewißheit im
eigenen Denken und Handeln zu finden. Insofern übten die Naturwissenschaften, und hier zunächst die Chemie, eine tiefe Faszination auf die führenden Mediziner des frühen 19. Jahrhunderts aus. Die Naturwissenschaften
tun dies, wie die Molekularbiologie und die Genetik zeigen, auch heute
noch. Als wesentliches Problem stellte sich innerhalb einer Generation immer wieder die Frage ein, ob und inwieweit das naturwissenschaftliche Wissen tatsächlich dem Patienten zugute komme. Meist machten die Patienten
selbst und auch die vielen Ärzte, denen in der Peripherie alltäglicher Praxis
der Ausweg in die Naturwissenschaften versagt blieb, unmißverständlich
auf dieses Problem aufmerksam. Auch dies ist – wie wir soeben an den
Rückschlägen der Gentherapie feststellen2 – nach wie vor ein aktuelles
Problem.
Ziel dieses Beitrages ist es, den hoffnungsfrohen Weg der Medizin des 19.
Jahrhunderts in die Naturwissenschaften nachzugehen – dies allerdings in
Konfrontation mit den Gegenbewegungen, die die universitäre Medizin aus
der Sicht der ärztlichen Klinik und Praxis verspüren mußte. Zugleich sei die
Frage nach dem Charakter der Medizin von dem Zeitpunkt an verfolgt, ab
dem sie sich den modernen Naturwissenschaften öffnete. Ordnendes wie
diskursives Moment wird dabei die Frage nach dem Verhältnis von wissenschaftlich-theoretischer Entwicklung und den praktisch-therapeutischen
Konsequenzen sein.
Die erste Generation der Vertreter einer naturwissenschaftlichen
Medizin – naturwissenschaftliche Theorie und traditionelle ärztliche
Praxis
In Frankreich und England entwickelte sich die Medizin Ende des 18.
Jahrhunderts in eine naturwissenschaftlich-empirische Richtung. Demgegenüber gestalteten sich die Verhältnisse in Deutschland anders. Die deutsche Medizin an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kann aus der
Reaktion auf den transzendentalen Idealismus Immanuel Kants (1724-1804)
verstanden werden.3 Die metaphysisch ausgerichtete Naturphilosophie einerseits und die naturwissenschaftlich ausgerichtete Welterkenntnis andererseits sind seit Kant voneinander getrennt. Dies wurde weithin als eine unzulässige Eingrenzung der Wahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen, besonders aber als eine unmögliche Entfremdung der Menschheit von der
Natur aufgefaßt. Die philosophische Fortführung und zugleich Gegenreaktion auf Kant – der deutsche Idealismus – verband sich in besonderer Wei-
2
3
Vgl. hierzu u. v. a. Mertens (1998); Stollorz (1999).
Model (1990); Neumann (2000). Zu den unterschiedlichen Konzepten der Medizin
vgl. allg. Rothschuh (1978).
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Medizin als Wissenschaft – Medizin als Kunst?
11
se mit der Medizin. Dies wird in der Philosophie Friedrich Wilhelm Schellings (1775-1854) greifbar.4
Die Praxis der sogenannten »romantischen Medizin«5 war in Deutschland
zunächst durch den »Irritabilitätsdynamismus« John Browns (1735-1788)
gekennzeichnet. Brown unterschied lediglich zwei Status, den der Sthenie
und den der A-Sthenie. Entsprechend schlicht waren seine Therapeutika,
nämlich Opium oder Alkohol. In Deutschland war der Publikumserfolg
des in der Tat sanften, ja gefälligen ›Brownianismus‹ gewiß. Des weiteren
war die praktische romantische Medizin durch den tierischen Magnetismus
Franz Anton Mesmers (1734-1815) gekennzeichnet. Therapeutisch folgte
aus dem Mesmerismus die Magnetisation.6 Durch diese Prozedur sollte die
Harmonie des (menschlichen) Körpers und der Natur wiederhergestellt
werden. Gegenüber diesen romantischen Modetherapien blieb die alltägliche ärztliche Praxis weitgehend der humoralpathologischen Tradition und
der Empirie verhaftet.
Die Wende zur naturwissenschaftlichen Medizin in der medizinischtheoretischen Grundlagenforschung ist in Deutschland mit Johannes Müller
(1801-1858) verbunden. Durch Müller wurde seit den 1820er/1830er Jahren
eine universal aufgefaßte Physiologie im Sinne einer medizinischen Naturkunde zur Leitwissenschaft der Medizin. Müllers Arbeiten fußten auf breiter
Naturkenntnis sowie auf der Reproduzierbarkeit von Anschauungen und
Ergebnissen. Müller wirkte insbesondere auch durch seine Schüler – von
denen wegen ihrer allgemeinen Bedeutung hier zumindest Emil du BoisReymond (1818-1896), Hermann (von) Helmholtz (1821-1894), Rudolf
Virchow (1821-1902) oder Ernst Haeckel (1834-1919) genannt seien.
Gleichwohl: ein reiner Naturwissenschaftler war Müller nicht. Zu sehr war
er noch in den Anschauungen der Romantik, besser vielleicht: in den Anschauungen einer metaphysischen Naturphilosophie mit einer letztlich teleologischen Auffassung des Lebens befangen. Gleichsam als Nebenergebnis
seiner philosophischen Orientierung hat Müller jedoch immer die Bedeutung einer übergreifenden Theorie für die Empirie und die sich daraus ergebenden konzeptuellen Erfordernisse der Forschung betont.7 Eben hier
liegt der Unterschied zu den empirisch-sammelnden medizinischen Schulen
in Frankreich und in Großbritannien.
4
5
6
7
Vgl. z. B. Schellings »Vorläufige Bezeichnung des Standpunktes der Medizin nach
den Grundsätzen der Naturphilosophie« (1805) oder die von Schelling und Adalbert
Marcus von 1806 bis 1808 hg. »Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft«.
Zur sogenannten »romantischen Medizin« siehe Bleker (1981); Tsouyopoulos (1982);
Lohff (1990); Hess (1993).
Vgl. hierzu Schott (1982), S. 195-214; ders. (Hg.) (1985); und ders. (Hg.) (1998).
Müller (1824/1826); dazu siehe Engelhardt (1992).
Über Müller nach wie vor beeindruckend: Virchow (1858), sowie zur Einführung
Haberling (1924); Koller (1958); und Lohff (1990).
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Alfons Labisch
Auch in der medizinischen Klinik entwickelte sich in den 1820er/1830er
Jahren eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Schule. Diese Entwicklung
ist mit Johann Lucas Schönlein (1793-1864) verbunden. Schönlein entwickelte zwar die schematische »Handlungswissenschaft« seines umstrittenen
Lehrers Andreas Röschlaub weiter. Dabei beachtete er aber strikt die Ergebnisse induktiver Naturanschauung – und zwar insbesondere mit Blick
auf die Geschichte und die Verbreitung einer Krankheit.8 Schönlein führte
1830 das Stethoskop in die Klinik ein und »vernaturwissenschaftlichte«
nach und nach Krankheitsbilder und Diagnose. So verband Schönlein zwar
Naturwissenschaften und klinische Medizin, aber als rein naturwissenschaftlich ausgerichteter Kliniker empfand sich Schönlein nicht. Zu sehr schreckten ihn noch die voreiligen Verallgemeinerungen der naturphilosophischen
Schule seiner Jugend, zu weit schienen ihm die Erfolge der neuen naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise für die Klinik, insbesondere für die Therapie zu gehen.
Tatsächlich war die medizinisch-ärztliche Therapie der Zeit bedenklich. Ein
Zeuge der Zeit berichtet:
Die Praxis [...] war heroisch; sie war mörderisch. Ich verstand nichts von der Medizin,
aber ich hatte genug Menschenverstand, um zu sehen, daß die Ärzte ihre Patienten
umbrachten, daß die Medizin keine exakte Wissenschaft war, daß sie völlig empirisch
vorging und daß es viel besser wäre, vollständig der Natur zu vertrauen, als dem gefährlichen Geschick der Ärzte.9
Es war die Intention der Medizin, die seit langem gewünschte Einheit von
Theorie und Praxis in den Naturwissenschaften zu finden. In der Wirklichkeit geschah dies aber zu Lasten der Therapie und damit zu Lasten der Patienten. Eben hier ist der erste große Erfolg einer »Außenseitermethode«
einer sich nunmehr in naturwissenschaftlichem Gewande kanonisierenden
»Schulmedizin« zu sehen: die Homöopathie.10 Sie konnte, gleichsam als
Spiegelbild der humoralpathologischen Allopathie ihrer Zeit, in den
1830er/1840er Jahren ihre (ersten) großen Publikumserfolge verbuchen,
weil sie den Patienten zumindest nicht in dem Maße gefährlich wurde, wie
dies in der zeitgemäßen Schulmedizin der Fall war:
Als man therapeutische Statistiken aufzustellen begann, zeigte es sich, daß die Patienten der Homöopathen im Durchschnitt besser fuhren als die ausgebluteten, antimonund quecksilbervergifteten der Allopathen.11
8
Über Schönlein immer noch beeindruckend: Virchow (1865).
Über Schönleins Klinik in Würzburg siehe die – für die gesamte klinische Medizin
und das Krankenhauswesen der Zeit – grundlegende Arbeit von Bleker/Brinkschulte/Grosse (Hg.) (1995).
9 Zit. nach Ackerknecht (1970), S. 123.
10 Zum Verhältnis von Schulmedizin und Außenseitermethoden vgl. den Beitrag von
Paul U. Unschuld im vorliegenden Band.
11 Ackerknecht (1970), S. 91; zur Geschichte der Homöopathie vgl. jetzt Dinges (Hg.):
Homöopathie (1996); und ders. (Hg.): Weltgeschichte (1996).
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und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Medizin als Wissenschaft – Medizin als Kunst?
13
Selbst Adolf Strümpell (1853-1925), der Verfasser des autoritativen, in vielen Auflagen erschienenen und in zahlreiche Sprachen übersetzten Lehrbuchs der Therapie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, schreibt noch 1922,
daß es »oft ein Vorzug der homöopathischen Medikamente [sei], daß man
niemals einen von ihnen angerichteten Schaden beobachten konnte.«12
Die zweite Generation – naturwissenschaftliche Theorie und der
»therapeutische Nihilismus«
In den bisherigen Ausführungen ist mit dem Begriff der »romantischen
Medizin« eine Art Kulisse geschaffen. Vor dieser Kulisse konnte sich die
weitere Entwicklung zu einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin
in ihrer Zeit ebenso trefflich absetzen wie sie hier und jetzt ebenso trefflich
historisch dargestellt werden kann. Es ist festzustellen, daß die romantische
Medizin keineswegs so holzschnittartig war, wie sie bislang gezeichnet wurde. Vor allem aber ist die besondere Version der naturwissenschaftlichen
Medizin in Deutschland und ihr weiterer Weg ohne die Passage durch die
romantische Medizin nicht zu verstehen. Bezogen auf die hier diskutierten
Fragen waren die wesentlichen Ergebnisse der romantischen Medizin
die Reform der traditionellen Klinik (vgl. das Wirken von Schönlein),
der induktive Blick auf die gesamte – belebte und unbelebte – Natur (Ablehnung jeder
›Ontologie‹ bzw. Dogmatik konstruierter Krankheits-Entitäten (anders als franz. Schule); Betonung der Funktion gegenüber der reinen Anatomie/Pathologie (anders als die
Zweite Wiener Schule; vgl. dazu unten),
die klinische Ausbildung von Ärzten in Deutschland und schließlich
eine neue Form des klinischen Unterrichts, in dem die Studenten – zumindest die herausragenden unter ihnen – in die klinische Forschung mit einbezogen wurden (anders
als die französische und besonders die englische Schule).13
Diese Einheit von Forschung und Lehre in der naturwissenschaftlichen und
klinischen Ausbildung darf als deutsches Spezifikum in der internationalen
Entwicklung der Zeit angesehen werden – es dürfte der wesentliche Grund
für die internationale Bedeutung der naturwissenschaftlich ausgerichteten
Medizin ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen sein.
Über die Auswirkungen der neuen naturwissenschaftlichen Medizin auf die
Klinik der 1850/1860er Jahre sind wir am Beispiel der berühmten Berliner
Klinik Friedrich (von) Frerichs’ (1819-1885) informiert. Über Frerichs,
Schönleins Nachfolger, lesen wir im Lebensbericht Bernhard Naunyns
(1839-1925):
Die Stärke der neuen deutschen inneren Medizin lag in ihrem physiologischen und
pathologisch-anatomischen Fundamente: früher als die Franzosen und Engländer
wussten wir uns die gewaltigen Fortschritte von Anatomie und Histologie, von Physiologie und physiologischer Chemie nutzbar zu machen. Die Einrichtung eines Labora12 Strümpell (1922), S. 4.
13 Tsouyopoulos (1982).
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14
Alfons Labisch
toriums für seine Klinik galt bald dem Kliniker als Ehrensache; wir fingen an, die wissenschaftlichen Fragen, die uns die Klinik stellte, zu bearbeiten, zahlreiche wertvolle
Untersuchungen gingen schon damals aus diesen Laboratorien hervor, chemische, pathologisch-anatomische, vor allem experimental-pathologische Arbeiten von bleibendem Werte. […]
Allerdings:
Erst sehr spät kam die deutsche innere Medizin zu einer solchen und dass dies so spät
geschah, daran war die physiologische Richtung schuld.14
Die Dogmatik der Müllerschen physiologischen Schule führte zu einer zu
engen Verbindung von Klinik und Naturwissenschaft: Auch die weitere
Entwicklung der Entzündungslehre wurde auf einmal durch die inzwischen
dogmatische Theorie Virchows beeinträchtigt. Damit stoßen wir bei
Naunyn auf den Vorwurf des ›Dogmatismus‹, der eine Generation zuvor
einer spekulativen Naturphilosophie gegolten hatte. Durch diese neuerlichen Vorwürfe werden die Vorbehalte der Medizin gegen die Philosophie
des Idealismus zumindest in Teilen entkräftet. Denn es wird jetzt ein allgemeines Phänomen angesprochen, das den wissenschaftlichen Gang der
Medizin insgesamt betrifft: die Gefahr des übertriebenen deduktiven Vorgehens, das in der Antike bereits als theoretisch bemerkenswerte Auseinandersetzung zwischen den Empiristen und den sogenannten »Dogmatikern«
zu fassen ist – eine Gefahr, die offenbar jeweils in der nachfolgenden Generation virulent wird. Die Medizin ist keine deduktive Naturwissenschaft, sie
fußt vielmehr wesentlich auf klinischer Empirie:
All die hervorragenden Vertreter jener Generation von Klinikern, in deren Fusstapfen
wir traten, haben es wohl gefühlt, dass eine wissenschaftliche Nosographie und Symptomatologie sich nur auf klinischen Beobachtungen aufbauen kann.15
Ebenso zeigte sich auch am Beispiel Frerichs’, wie sehr die Therapie der
theoretischen und diagnostischen Entwicklung hinterherhinkte. Frerichs,
wegen seiner wissenschaftlichen Klarheit und Exaktheit hochgerühmt,
wandte beispielsweise trotz besseren Wissens in hohen Dosen Quecksilber
als innerliches Heilmittel an (Strümpell übrigens auch; bis weit in dieses
Jahrhundert hinein galt Quecksilber ›ex juvantibus‹ als Diagnostikum der
Syphilis!). Hier wird die Kluft zwischen dem rasch voranschreitenden naturwissenschaftlich-medizinischen Grundlagenwissen, dem bereits hinterherhinkenden klinischen Wissen und der noch später folgenden ärztlichen
Therapie in ein und derselben Person offenbar.
Der um die Jahrhundertmitte weit verbreitete therapeutische Skeptizismus
mit dem an sich beherzigenswerten Grundsatz »Lieber nichts als etwas
zweifelhaftes geben« wurde in der sogenannten Zweiten Wiener Schule zur
bitteren Konsequenz geführt.16 Die Klinik wurde gänzlich auf naturwissen14 Naunyn: Berliner Schule (1909), S. 1387; vgl. ausführlich auch ders. (1925).
15 Naunyn: Berliner Schule (1909), S. 1399.
16 Zur Zweiten Wiener Schule vgl. Lesky (1965); Wiesemann (1991). Vgl. dazu: die Rezension von Christian Probst in Sudhoffs Archiv 77 (1993), S. 127f.
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Medizin als Wissenschaft – Medizin als Kunst?
15
schaftliche Methoden gestellt. Josef Skoda (1805-1881) vervollkommnete
Perkussion und Auskultation zu bislang unbekannter Präzision. Das Gleiche tat Karl Rokitansky (1804-1878) für die klinische Pathologie. Die konsequente Arbeitsteilung von Klinikern und Pathologen war nicht nur ein
Spezifikum gegenüber der französischen klinisch-pathologischen Medizin.
Sie zeigt auch den Weg zu der jetzt mit Macht beginnenden Spezialisierung
sowohl in den Grundlagenfächern als auch in der Klinik. Der Gedanke,
eher nichts zu tun als daß eine tradierte oder bislang nicht hinreichend wissenschaftlich untersuchte Methode zum Zuge käme, führte in den berühmten »therapeutischen Nihilismus«: Therapie fand nicht mehr statt. Das zynische Scherzwort der Zeit war: Skoda stellt die Diagnose, Rokitansky bestätigt sie. Dazwischen gab es auf die Frage, wie der Patient zu behandeln sei,
nur Skodas mit Schulterzucken hingeworfenes Wort: »Ach, das ist ja alles
eins«.17
Aus dieser Zeit gibt es den trefflichen Bericht eines Augenzeugen. Adolf
Kussmaul (1822-1902) urteilt aus der abgeklärten Sicht eines berühmten
Arztes und klinischen Lehrers im Jahre 1899:
Bei vielen Jüngern Skodas war es geradezu Axiom geworden: Nichtstun sei das beste
in der inneren Medizin. Nun ist es zwar nach Sokrates der Anfang der Weisheit, zu
wissen, daß man nichts wisse; aber nichts zu tun, ist nicht der Anfang der Kunst.
Wenn die gelehrten Ärzte dies nicht begreifen, so kann man es den Kranken nicht
verübeln, wenn sie die gewünschte Hilfe bei ungelehrten Laien suchen, die sie ihnen
bestimmt versprechen. Mit der feinen Diagnose und ihrer Bestätigung hinterher an der
Leiche ist dem Kranken nicht gedient. Der Vorwurf, den die heutige Medizin der
Schule Skodas macht, daß sie dem Rufe der wissenschaftlich gebildeten Ärzte beim
Publikum Schaden gebracht und der Pfuscherei Tor und Tür geöffnet hat, ist nicht
unbegründet.18
Die Medizin ist eine auf das Heilen gerichtete Disziplin. Intention und
Wirklichkeit der klinischen Medizin klafften um die Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch weit auseinander – und zwar mit erheblichen Reaktionen sowohl innerhalb wie außerhalb der nunmehr so genannten »Schulmedizin«.
Bedeutsam für die weitere Entwicklung ist die Reaktion des breiten Publikums und derjenigen vielen Ärzte, die fern der universitären Zentren die
alltägliche medizinische Versorgung ihrer Patienten zu bewerkstelligen hatten. Denn hier war der nunmehr zum klinischen Prinzip erhobene Widerspruch zwischen Intention und Wirklichkeit – eben dies war die therapeutische Abstinenz – nicht durchzustehen.
Der Kranke sucht Hilfe, wo er sie zu finden glaubt. Ihm liegt wenig an der wissenschaftlich-theoretischen Begründung der angewandten Behandlung, vielmehr alles an
ihrem Erfolge
17 Garrison (1929), S. 432.
18 Kussmaul [1899], hier zit. nach der 19. Aufl. 1960, S. 241f.
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so jedenfalls Strümpell.19
Das Publikum wandte sich, beginnend in den 1850er Jahren, in einer spezifisch deutschen Verbindung von Rousseauismus und Romantik der Naturheilkunde zu. Die Laienheiler – die, wie etwa der Bauer Vincenz Priessnitz
(1790-1851), bislang häufig im Stillen gewirkt hatten – wurden jetzt in
großangelegten Aktionen bekannt und ab den 1860er Jahren überwiegend
außerhalb, teils aber auch innerhalb der Medizin in einer regelrechten »Naturheilkundebewegung« populär.20
Die dritte Generation – naturwissenschaftliche Theorie, erste therapeutische Ansätze und ein geändertes Verständnis der Medizin
Eine große Bedeutung gewann in den 1860er und 1870er Jahren eine neue
Form der Kasuistik, die sich wesentlich von der je örtlich, zeitlich und individuell symptomgerichteten Sichtweise der hippokratischen Medizin unterschied. Die naturwissenschaftlich untermauerte Kasuistik – vorangetrieben
besonders von süddeutschen Klinikern wie Kussmaul – trat gleichsam als
Zwischenglied zwischen die deduktive Theorie physiologischer Art und die
ungerichtete Empirie des klinischen Alltages. In diese teils anatomischpathologisch, teils physikalisch und chemisch beeinflußte Entwicklung
brachte die Bakteriologie einen fundamentalen Wandel:
Bis jetzt hatten wir unser Verständnis der krankhaften Vorgänge basiert auf unserer
Kenntnis von den anatomischen Veränderungen und von der Abartung des physiologischen und chemischen Geschehens im Organismus, und nun kam uns die Aufklärung, das grosse Licht, von der bis dahin ganz dunkeln Seite, von der Ätiologie. Ganz
plötzlich und mit einem Schlage übernahm die Bakteriologie die Führung der Pathologie. Fast gleichzeitig bricht damit [...] auf allen Gebieten der Medizin die neueste Zeit
19 Vgl. hierzu den glänzenden Übersichtsaufsatz von Strümpell (1922), das Zitat S. 2;
siehe auch ders. (1884) (zahlreiche weitere Auflagen); sowie ders. (1925).
20 Die Geschichte der Naturheilkunde und Naturheilkundebewegung wird derzeit in
vielen Arbeiten diskutiert. Zur »Heilkraft der Natur« vgl. nach wie vor Neuburger
(1926); siehe auch Wolff (1989 [für 1987]). Aus der Naturheilkundebewegung selbst
vgl. Brauchle (1951); für die medizininterne Analyse vgl. Rothschuh: Naturheilbewegung (1983).
Für das Phänomen der »typisch deutschen« Naturheilkundebewegung Krabbe (1974);
Spitzer (1983); Stollberg (1988); Herrmann (1990); Denecke (1991); Stollberg (1991);
Walter/Denecke/Regin (1991); Knaut (1993); Regin (1995).
Für die Verschränkung von Gesellschafts-, Politik- und Medizingeschichte siehe Wuttke-Groneber (1982); Conti (1984); Huerkamp (1986); Haug (1985); Bothe (1991);
Dinges (Hg.): Medizinkritische Bewegungen (1996).
Als Einführung aus sozialhistorischer Perspektive siehe Stollberg (1996), S. 660; bzw.
als Überblick aus sozialhistorischer Perspektive vgl. Jütte (1996). Zur wissenschaftstheoretischen Entwicklung von Schulmedizin und Naturheilkunde vgl. Heyll et al.
(1999).
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Medizin als Wissenschaft – Medizin als Kunst?
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herein; wie die Pathologie, so beginnt die Diagnostik und die Therapie wieder eine
neue zu werden. 21
Die Wirkung der Bakteriologie auf alle Gebiete der Medizin – und auf alle
Gebiete des täglichen Lebens – läßt sich heute kaum noch nachvollziehen.
Zum ersten Male schien es möglich, eine einzige eindeutige Ursache von
Krankheiten bestimmen zu können: Der Keim war die Krankheit.
Insofern waren die Hoffnungen, die sich nicht nur auf die theoretischen
und diagnostischen, sondern besonders auf die therapeutischen Konsequenzen dieser Medizin richteten, enorm. Aber auch hier geschah etwas, was
dann mit einiger Sicherheit zur Regel werden sollte: der Weg zur eindeutig
aus der Theorie entwickelten Therapie blieb – so einfach und bestechend
die theoretischen Ableitungen waren – bereits im wissenschaftlichen Bereich
schwierig. Er war klinisch – wegen der Vielfalt möglicher Symptome und
der verschiedenen, nicht voraussehbaren (Neben-)Wirkungen – noch
schwieriger. Überdies war dieser Weg häufig von außermedizinischen, teils
skandalösen Umständen begleitet.22 Musterbeispiel ist hier sicherlich das
Tuberkulin, das der an sich stupend genaue Robert Koch (1843-1910) 1890
als Heilmittel der Tuberkulose propagierte.23 Einen ersten Erfolg brachte in
den frühen 1890er Jahren die Serumtherapie Emil (von) Behrings (18541917).24 In ihrer klinischen Wirkung zunächst überschätzt, war die »passive« – so Paul Ehrlich (1854-1915) – Immunisierung »von gewaltiger prinzipieller Bedeutung«. Den endgültigen wissenschaftlichen Durchbruch – auch
in diesem Fall in der Rückschau wohl weniger auf individuelltherapeutischem als auf klinisch-wissenschaftlichem Gebiet – brachte Paul
Ehrlich 1910 mit dem Salvarsan25 »als erstes in einer nun in langer Reihe
folgenden Chemotherapeutica. Dies war ein echtes Spezifikum, das nicht
symptomatisch wirkte, sondern kausal«. Mehr als 50 Jahre nach der Zellularpathologie Virchows,26 mehr als zehn Jahre (Behring) bzw. 30 Jahre
(Ehrlich) nach der Bakteriologie Kochs27 lagen also erste Heilmittel vor, die
systematisch aus den theoretischen Grundlagen der neuen naturwissenschaftlichen Medizin entwickelt worden waren. Diese zeitliche Perspektive
21 Naunyn: Berliner Schule (1909), S. 1340.
22 Auf eben diese Spannung in der Produktion und der Anwendung neuen Wissens in
der Medizin wird in diesem Band sowohl am Beispiel der Tuberkulose (Flurin
Condrau) wie der Geschlechtskrankheiten (Lutz Sauerteig) ausführlich eingegangen
werden.
23 Vgl. dazu den Beitrag von Condrau im vorliegenden Band sowie aus der Zeit Krause
(1900); Helm (1906); Klemperer (1922); sowie aus der historischen Forschung Brock
(1988), S. 195-213; Elkeles (1990); und jetzt Gradmann: Fehlschlag (1999); ders.: Robert Koch (1999), S. 1253-1256; und Hansen (1999).
24 Ackerknecht (1970), S. 132.
25 Vgl. dazu den Beitrag von Sauerteig im vorliegenden Band sowie Ackerknecht (1970),
S. 143.
26 Virchow [1858] (1966).
27 Koch: Die Ätiologie [1882] (1912); ders.: Über die Ätiologie [1882] (1912).
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gilt es auch heute in den Zeiten einer wiederum mit expliziten und impliziten Heilversprechen aufwartenden molekularen Medizin im Auge zu behalten.
Der entschiedene – und unvermeidliche28 – Abschied der Medizin von der
romantisch-naturhistorischen Philosophie in den 1830/1840er Jahren, der
entschiedene Abschied auch von der eigenen Geschichte – und zwar nicht
nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis, wie sie die Zweite Wiener
Schule um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit ihrem »therapeutischen Nihilismus« vollzog – , die zumindest angestrebte gänzliche Vernaturwissenschaftlichung der Medizin blieben allerdings nicht ohne ebenso entschiedene und bis heute durchschlagende Rückwirkungen. Die enttäuschten Hoffnungen dieser hochfliegenden naturwissenschaftlichen Periode zeitigten
nachhaltige Reaktionen. Die kulturkritische, teils aggressive Naturheilbewegung seitens der Patienten wurde bereits erwähnt. In der Medizin wurde die
der reinen medizinischen Wissensproduktion gegenüberstehende essentielle
Seite der Medizin, nämlich die medizinische Klinik, wieder in den Mittelpunkt gerückt. Es entwickelten sich neue handlungsorientierende Konzepte.
Die »energetische« Konstitutionslehre Ferdinand Hueppes (1852-1938),29
die Lehre des ›Noso-Parasitismus‹ des Pharmakologen Oscar Liebreich
(1839-1908), die Argumentation des allenthalben als »genial« bezeichneten
Klinikers Ottomar Rosenbach (1851-1907)30 und schließlich die klinischepidemiologischen Forschungen Adolf Gottsteins (1857-1941)31 führten
dazu, daß auch die altehrwürdige Konstitutionslehre nun in naturwissenschaftlicher Form gedeutet wurde. Diese entwickelte der Rostocker Kliniker
Friedrich Martius (1850-1923) zu seiner Lehre vom schwankenden Wechselverhältnis zwischen Krankheitserreger und Krankheitsanlage als maßgebliche Ursachen für die Entstehung von Krankheitserscheinungen. Mit Martius’ »Pathogenese innerer Krankheiten« zog die dynamische Betrachtung
der neuen Konstitutionslehre in die moderne Klinik ein.32 Die Konstitutionslehre, die Konstitutionshygiene, die Konstitutionspathologie und die
Konstitutionstherapie traten damit neben die entsprechenden (lokalistischen) Organtheorien und Organtherapien. In der naturwissenschaftlichen
Medizin setzte sich damit eine übergeordnete mehrdimensionale dynamische Theorie durch.
28 Vgl. hierzu überaus deutlich zugleich aus der Diskussion der Zeit wie pragmatischmedizinhistorisch eingeordnet Wunderlich (1859).
29 Hueppe (1893); ders. (1901); ders. (1923).
30 Rosenbach (1891); ders. (1897).
31 Über Adolf Gottstein vgl. Koppitz/Labisch (Hg.) (1999).
32 Siehe dazu Martius (1898); und in Übersicht ders. (1923); und dazu wiederum Krügel
(1984).
Allgemein zur Konstitutionslehre im Zusammenhang mit den neuen leitenden Gedanken der medizinischen Grundlagenforschung vgl. Diepgen (1955), S. 142-144, 165.
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Die erneute Entwicklung von einer allgemeinen, deduktiv anzuwendenden
Theorie hin zur Wahrnehmung des individuellen Kranken führte um die
Jahrhundertwende auch zu einer zunächst vornehmlich implizit diskutierten
Frage nach dem Charakter der Medizin: ist die Medizin eine reine Naturwissenschaft oder ist die Medizin eher durch andere Gegenstände oder Aufgaben gekennzeichnet. In geradezu verwunderlicher Weise wurde diese
Diskussion durch herausragende Arztfiguren angeregt, die auch aus zeitlichem Abstand von fragwürdigem Charakter sind. Eine solche Rolle spielte
um die Jahrhundertwende Ernst Schweninger, der skandalumwitterte Leibarzt des späten Bismarck.33
Im Zusammenhang mit dieser Kritik wurde ebenfalls der geisteswissenschaftliche Aspekt der Medizin wieder stärker bewertet. Nachdem 186134
noch mit ›verve‹ das allseits verhaßte ›tentamen philosophicum‹ zugunsten
des ›tentamen physicum‹ abgeschafft worden war, wurde im Zusammenhang mit der Revision des medizinischen Prüfungswesens Ausgang des 19.
Jahrhunderts überlegt, die Medizingeschichte zum Pflichtfach zu erheben.
Dies geschah in der am 28. Mai 1901 erlassenen Prüfungsordnung zwar
nicht. Dafür sollte aber die Geschichte des jeweiligen Faches in der Prüfung
berücksichtigt werden.35 Die Medizingeschichte wurde so zwar nicht
Pflichtlehr-, aber immerhin Pflichtprüfungsfach, was auch immer das im
alltäglichen Lehrbetrieb bedeutet haben mag. Jedenfalls gewann die Medizingeschichte allmählich eine neue, eigene Bedeutung in der und für die
Medizin.
Die therapeutischen Konsequenzen der naturwissenschaftlichen Medizin des 19. Jahrhunderts: Chirurgie und öffentliche Gesundheitssicherung
Trotz des grandiosen Aufstieges, den die Medizin unter den Fahnen der
Naturwissenschaft nahm, liegen ihre überzeugenden und auch publikumswirksamen Erfolge auf Gebieten, die vormals – zumindest aus der Sicht der
akademisch ausgebildeten Ärzte – eher ein Schattendasein geführt hatten.
Für die klinische Medizin trifft das vornehmlich auf die Chirurgie zu.36
Grundvoraussetzung für den Aufschwung der Chirurgie war der theoretische Wandel von der Humoralpathologie, also von den Körpersäften, hin
33 Vgl. Schweninger [1906] (o.J.); siehe zu diesem geradezu unlesbaren ›Opus‹ Rothschuh: Buch (1983); ebd. S. 137 Anm. 2: weitere biographische Literatur über Schweninger. Über Schweningers – vornehmlich persönliche – Wirkung vgl. z. B. als Augenzeugen Richard Koch (1985); siehe ferner Espach (1979). Historisch-systematisch
vgl. Wiesing (1996).
34 Zum exakten Datum wie zur Vor- und Nachgeschichte siehe Puschmann (1889), S.
475.
35 Zu den Zielen und zur Begründung vgl. Eulner (1970), S. 427-439: Geschichte der
Medizin, den Hinweis ebd. S. 434 (aus: Kirchner (1902), S. 226).
36 Als Einführung und Übersicht vgl. hierzu Tröhler [1993] (1997); sowie ders. (1998).
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zur Solidarpathologie und damit zu den festen Teilen des Körpers. Nachdem systematische Forschungen zur anästhesierenden Wirkung des Lachgases Ende des 18. Jahrhunderts aufgegeben worden waren – eben dies bestätigt die Bedeutung übergreifender »Hintergrund«-Theorien für die Medizin –
, wurde jetzt durch Zufalls(!?)entdeckungen das Problem des OperationsSchmerzes gelöst. Nach der (Wieder-)Entdeckung des Stickoxyduls (Lachgas) 1844/46 wurden 1846 Äther und wenige Monate später 1847 Chloroform in die Anästhesie eingeführt. Das zweite große Problem der Chirurgie,
die Wundinfektion, wurde – ebenfalls im Zuge einer sogenannten Zufallsbeobachtung – von Joseph Lister (1827-1912) in der aktiven Anti-Sepsis
angegangen. Dabei steht heute fest, daß die breite Wirkung der Anti-Sepsis
weniger auf dem engeren chirurgischen Gebiet als in einer umfassenden
Reorganisation des gesamten Krankenhauswesens unter dem Aspekt der
Hygiene lag. Die wirkliche Lösung der Wundinfektion brachte in der Folge
der Bakteriologie erst 1886 bzw. 1891 die Asepsis, im Anschluß an Koch
entwickelt von Ernst von Bergmann (1836-1907) und Curt Schimmelbusch
(1860-1895). Die Blutleere, die diagnostischen (1895/96) und therapeutischen (1896) Möglichkeiten der Röntgenstrahlen und vieles andere mehr
machten die bislang verachtete und ins Handwerk abgedrängte Chirurgie37
– und mit ihr andere operative Fächer wie etwa die Geburtshilfe und Gynäkologie – zur Königsdisziplin der modernen naturwissenschaftlichen Medizin.
Wenngleich traditionell im Schatten der kurativen Individualmedizin stehend, waren die Wirkungen einer naturwissenschaftlich begründeten öffentlichen Gesundheitssicherung für das Leben der Menschen noch wesentlich
bedeutsamer. Die experimentelle Hygiene Max (von) Pettenkofers, seiner
Schule und seines weiteren Umfeldes – etwa in der (Ernährungs-) Physiologie (Carl von Voit (1831-1908)) – brachten mit der Umgebungshygiene die
Assanierung der äußeren Lebensverhältnisse der Menschen, insbesondere in
den Industriezentren. Durch die Bakteriologie bzw. die Auslösungshygiene
Robert Kochs und seiner Schule wurde eine epidemiologisch gerichtete
Seuchenhygiene auf mittlerer staatlicher Verwaltungsebene eingeführt. Diese
öffentlichen Maßnahmen waren so erfolgreich, daß sich – von der Öffentlichkeit weithin unbemerkt und auch heute vornehmlich nur Experten bekannt – die Sterblichkeitsverhältnisse in der sogenannten demographischen
Transition grundsätzlich änderten. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts verbesserte sich die gesundheitliche Situation vor allem in den industriellen Ballungsgebieten so nachhaltig, daß die allgemeine Sterblichkeitsrate
in den Städten unter die des Landes fiel.38 Ebenso bedeutsam wie die Maßnahmen ist, daß die neuen Gesundheitswissenschaften – insbesondere auch
mit ihren Nachfolgern im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert
37 Sander (1989); Huisman (1992); Probst (1992); Gross: Berufsvererbung (1996); ders.:
Agonie (1996); ders. (1997); Widmann/Mörgeli (1998); sowie jetzt ders. (1999).
38 Vgl. hierzu jetzt Vögele (1998).
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Medizin als Wissenschaft – Medizin als Kunst?
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(Konstitutions-, Rassen- und Sozialhygiene) – im Verbund mit den sozialen
Problemen der Zeit einen säkularen Wandel in der individuellen und öffentlichen Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit herbeiführten.39
Weitere überaus bedeutsame Therapien ergaben sich aus allgemeinen, jedenfalls nicht primär medizinisch-wissenschaftlichen Entdeckungen. Diese
ordnen sich in die breiten wissenschaftlichen, vor allem aber auch wirtschaftlichen Entwicklungen der Zeit ein. Zu dem seinerzeit als Leitsymptom
imponierenden »Fieber« hatte Carl. A. Wunderlich (1815-1877) klinische
Forschungen vorgelegt, die den Krankenhausbetrieb revolutioniert hatten.40
Die antipyretische Therapie blieb vornehmlich physikalisch. Sie wurde
1873 durch das erste chemisch darstellbare und nachfolgend auch technisch herstellbare fiebersenkende Mittel ersetzt. Die Acetylsalicylsäure revolutionierte durch ihre antipyretische, antirheumatische und analgetische
Wirkung die Klinik – und scheint sich heute zur modernen Panacee und
damit zu einem Allheilmittel fortzuentwickeln.41 Mit den nun zahlreich
entwickelten Antipyretika kam nicht nur die Chemie, sondern vor allem
auch die chemische Industrie mit ihren spezifischen wirtschaftlichen Interessen ins Spiel.42 Die weiteren chemisch hergestellten Heilmittel waren
dann harntreibende Mittel, Herzmittel, Narkosemittel, Schlafmittel und viele andere mehr. Zu welchen wissenschaftlichen Konsequenzen diese neue
Interaktion von Wissenschaft und Wirtschaft – vor allem auch unter verschiedenen persönlichen Interessen – führen kann, ist trefflich sowohl an
der Produktion des Diphtherie-Heilserums43 als auch des Salvarsans44 zu
studieren.
Die Entwicklung der Medizin ging endgültig im breiten Strom der Naturwissenschaften auf. Die Grundlagenwissenschaften Physik und Chemie
wirkten über die physikalische Chemie und die Physiologie theoretisch,
diagnostisch und therapeutisch unmittelbar in die Medizin hinein. Herausragendes Beispiel ist die Entdeckung der X-Strahlen durch Wilhelm Conrad
Röntgen (1845-1922) im Jahre 1895. Ähnlich wie das Stethoskop und dann
der Augenspiegel bedeutete diese primär physikalische Entdeckung eine
Revolution in der sinnlichen Erfahrung sowohl der medizinischen Grund39 Vgl. dazu Labisch (1992).
40 Vgl. hierzu Hess: Objektivität (1997); sowie ders. (Hg.): Normierung (1997); und ders.
(2000).
41 Vgl. hierzu in Übersicht Vane (Hg.) (1992); Mann/Plummer (1991) [dt.: 1993]; Vollmer (1997).
42 Wimmer (1994); Sauerteig: Eroberung (1996).
43 Vgl. hierzu aus der Zeit Behring: Geschichte (1893); ders.: Gesammelte Abhandlungen (1893); ders. (1894); ders. (1912); als scharfe Kritik aus der Zeit siehe Gottstein/Schleich (1894); vgl. ferner Gaffky (1913); und Spranger (1927).
Aus historischer Sicht vgl. Weindling (1992); und Throm (1995).
44 Vgl. Ehrlich (Hg.) (1911/12); Ehrlich (1956) [dt.: 1956, 1957].
Aus historischer Sicht vgl. Schulz (1980); Sauerteig: Salvarsan (1996).
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Alfons Labisch
lagenwissenschaften wie der Klinik, die sich innerhalb kürzester Zeit ausbreitete und viele Fächer gänzlich umgestaltete oder gar neu schuf. Ebenso
schnell wie die diagnostische Bedeutung von Strahlen wurde ihre therapeutische Wirkung entdeckt und eingesetzt.45
Theorie und Praxis, medizinisches Wissen und ärztliches Handeln in
der Geschichte – eine Zusammenfassung
Ist die Medizin eine Naturwissenschaft? Ist gar die »Einheit« der Medizin,
die Frage also, wie ärztliches Handeln und medizinisches Wissen schlüssig
zusammengeführt werden können, in den Naturwissenschaften zu finden?
Zu welchem Ergebnis kamen aufmerksame Beobachter an der Wende zum
20. Jahrhundert?
Es ist nicht richtig, wenn man sagt, das 19. Jahrhundert habe die Entwickelung der
Medizin zu einer Naturwissenschaft gebracht; seit langem hat den erleuchteten Geistern unter den Medizinern die Einsicht nicht gefehlt, dass die Heilkunde nur im Studium der Natur gedeihen könne; eine Naturwissenschaft aber ist sie darum auch im
19. Jahrhundert nicht geworden und wird sie auch schwerlich jemals werden. Denn
jede Wissenschaft steckt sich ihre Grenzen nach ihrem Können! und dahin kann es
die Medizin nicht bringen – dazu sitzt ihr die Humanität zu tief im Blute: Der Arzt,
der am Krankenbett um das Leben seines Kranken ringt, kann nicht gelassen die
Grenze seines Wissens hinnehmen. Ihn treibt in seinem Verlangen, ein Verständnis
der Krankheit zu gewinnen, der Wunsch, sie zu heilen!
so Bernhard Naunyn, einer der Begründer der wissenschaftlichexperimentellen klinischen Medizin, am 17. September 1900 in Aachen.46
Naunyn fährt fort:
Wer will mit ihm [dem Arzt] rechten, wenn er die Lücken seiner Kenntnisse durch
vorzeitige Hypothesen zu überbrücken sucht, wenn er in die Wolken baut, um das ersehnte Ziel wenigstens von fern zu schauen.
Jenseits der heute pathetisch klingenden Worte wird also deutlich: die Zuordnung auf den Patienten macht es letztendlich unmöglich, daß der Arzt
rein naturwissenschaftlich handelt.
Die Hoffnung des frühen 19. Jahrhunderts, die Medizin in eine Naturwissenschaft wenden und ärztliches Handeln gleichsam schematisch als Technik ableiten zu können, bewahrheitete sich nur für das medizinischtheoretische Wissen, das Arsenal medizinischen Denkens und medizinischer
Verfahren sowie insbesondere für die Diagnostik. Immer deutlicher stellte
sich in dieser über Jahrzehnte reichenden Entwicklung jedoch heraus, daß
die Medizin niemals eine reine Naturwissenschaft werden kann. Nicht zuletzt die heftige (Gegen-)Reaktion sowohl von Patienten als auch von praktizierenden Ärzten zeigte, daß auch eine naturwissenschaftlich ausgerichtete
45 Vgl. Röntgen [1915] (1972).
Aus historischer Sicht vgl. Glasser (1995); Ruhbach [1995] (1997); Ganser [1996]
(1998); Wolfert [1996] (1999); Stegmann [1998] (1999).
46 Naunyn: Entwicklung (1909), S. 1280.
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Medizin in ihrem Handeln immer auf (leidende) Menschen und damit auf
individuelle Subjekte ausgerichtet ist. Gegenüber einer Naturwissenschaft
und von ihr abgeleiteten Techniken wird die Medizin durch ihren auf den
(einzelnen) Patienten gerichteten Handlungsauftrag bestimmt.
Hier kommen zwei Aspekte zum Tragen: die Vielfalt klinischer Symptome
war – und wird – niemals in der notwendigerweise reduktionistisch vorgehenden Naturwissenschaft zu erfassen sein. Eben deshalb kamen – und
kommen – die entscheidenden Anstöße zur Revision vorherrschender Theorien immer aus der Klinik – hier liegt damit auch die wesentliche Bedeutung klinisch-angewandter Forschung. Zum zweiten vollzieht sich die Begegnung von Arzt und Patient keineswegs immer in routinisierbaren Interaktionen, sondern immer auch in Grenzsituationen des Lebens – die notwendigerweise immer höchst persönlich und damit grundsätzlich subjektiv
waren, sind – und bleiben werden.
Gleichwohl: ein rein auf den Patienten gerichtetes Handeln führte – und
führt – stets zur ungerichteten Empirie. Aus der reinen Empirie, aus angesammelten Erfahrungen kann niemals sicheres Wissen entstehen. Medizinisches Wissen und ärztliches Handeln bilden folglich eine dialektische Einheit, die durch das Denken und Handeln auf den Patienten hin gerichtet
sind. In dieser Dialektik liegt möglicherweise die Einheit der Medizin.
Ist das Ziel, die Einheit der Medizin in den Naturwissenschaften zu schaffen, jemals zu erreichen? Mit einem Blick auf die aktuelle Situation dürfte –
zumindest als Problem – deutlich sein, daß sich an der grundlegenden
Problematik von Intention und Wirklichkeit, der Spannung von medizinischem Wissen und ärztlichem Handeln nur wenig geändert hat. Die »Einheitsbestrebungen« in der Medizin sind keineswegs zum Abschluß gekommen.47 Hingewiesen sei auf die Hoffnungen, die vor wenigen Jahren auf die
»Künstliche Intelligenz« in der Medizin gesetzt wurden,48 hingewiesen sei
auch auf die aktuellen Hoffnungen der sogenannten ›evidence based medicine‹.49 Ein Blick bis in die Anfänge der wissenschaftlichen Medizin in der
griechischen Antike zeigt, daß es sich hier offenbar um ein durchgehendes
Problem der Medizin handelt.50 Das angesprochene Problem ist unmittelbar mit dem Zeitpunkt gegeben, in dem es eine wissenschaftliche Medizin
gibt.
Die durchgehende Historizität dieses Problems verweist auf die Bedeutung
medizinhistorischer und medizintheoretischer Forschung in der Medizin
und für die Medizin: der Charakter der Medizin als Wissenschaft und als
47 Vgl. z. B. Hucklenbroich (1995); ders.: Steps (1998); ders.: Struktur (1998).
48 Vgl. in kritischer Auseinandersetzung mit dem dort zugrunde gelegten Wissenschaftsbegriff Labisch (1999), S. 34-36.
49 Vgl. hierzu in historisch-kritischer Analyse Tröhler (1999).
50 Vgl. die unter diesem Aspekt von Max Neuburger konzipierte »Einleitung«: Neuburger [1903] (1971).
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Alfons Labisch
Handeln, die Frage, welche Wissenschaften die entsprechenden Aufgaben
erhellen, die Frage, welche moralischen und ethischen Bedingungen beachtet werden müssen, die Frage, wo die nicht naturwissenschaftlichen Aspekte
der Medizin gelten, sind hier einzuordnen.51 Wie diese Forschungen zur
Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin zu richten und zu gestalten sind
und wo sie im großen Getriebe der Medizin greifen sollen – diese Fragen
sind allerdings erneut zu klären.
51 Vgl. hierzu grundlegend Wieland (1975); ders. [1985] (1986); sowie in kritischer Reflexion Hucklenbroich (1995); und Labisch/Paul (1998).
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Medizin als Wissenschaft – Medizin als Kunst?
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Bibliographie
Ackerknecht, Erwin H.: Therapie von den Primitiven bis zum 20. Jahrhundert. Mit einem
Anhang: Geschichte der Diät. Stuttgart 1970.
Behring, Emil: Die Geschichte der Diphtherie. Mit besonderer Berücksichtigung der Immunitätslehre. Leipzig 1893.
Behring, Emil: Gesammelte Abhandlungen zur ätiologischen Therapie von ansteckenden
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Alfons Labisch
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
»Vollendete Tugend« – Heilansprüche, Heilvermögen,
Heilverhalten: Europa und China im interkulturellen Vergleich
Paul U. Unschuld
Summary
„Perfect virtue“: A Cross-cultural Study of Health Care in Europe and China
For the past 2.500 years, the civilizations of Europe and China have integrated heterogeneous therapeutic systems. This paper discusses the circumstances that account for a) basic
paradigmatic changes in health care and b) acceptance of mutually antagonistic health
care systems within one society.
A survey of European and Chinese medical history suggests that conceptualizations of
disease and health, prevention and therapy, reflect the political and socio-economic environment affecting a given social group. As emerging concepts of threats, defenses and
treatments relating to the social organism arise, they are projected onto the human organism and give rise to new notions of disease. While there are always those who insist on the
exclusive validity of a specific theory or treatment, such claims have never been realistic.
Both in Europe and in China, most people patronize various treatments, which rest on
different and even contradictory conceptualizations of the organism, health and therapy.
Zur Heterogenität heilkundlicher Angebote
Ein für Sozial- und Kulturhistoriker gleichermaßen beachtenswertes Phänomen in der Geschichte der Medizin ist die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher heilkundlicher Ideensysteme und daraus abgeleiteter Praktiken
zur Therapie von Kranksein in ein und derselben Gesellschaft. Dabei mag
es sein, daß derartige Ideensysteme ohne nennenswerte gegenseitige Kontakte nebeneinander existieren. Es mag freilich auch sein, daß ursprünglich –
oder auch nur aus heutiger Sicht – antagonistische Konzepte zu einem komplexen System verknüpft wurden und von ein und derselben Klientel in
Anspruch genommen werden. Beiderlei Situationen kennen wir aus der
Vergangenheit; sie sind heute in allen Gesellschaften die Regel.
In der europäischen Antike beispielsweise mußte sich eine rein auf Theorien
der Naturerkenntnis gestützte Medizin das Terrain der Erklärung und Behandlung von Kranksein über lange Zeiträume hinweg mit religiösen Vorstellungen teilen. Ein aus damaliger Sicht selbstverständlicher Synkretismus
verband die eine mit der anderen Sichtweise. Wie Edelstein überzeugend
darlegen konnte, galt für die Mehrzahl der hippokratischen Ärzte die heute
gültige Trennung von Phänomenen wie Kälte und Hitze einerseits und dem
Göttlichen andererseits nicht. Kälte und Hitze ebenso wie Sonne und die
Gestirne wurden nur von einer Minderheit der Philosophen, Ärzte und
möglicherweise auch Patienten als Naturereignisse angesehen, die aus eigener Gesetzmäßigkeit agierten.1
1
Edelstein (1967).
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Paul U. Unschuld
Die Bevölkerung hatte zudem die Wahl zwischen denjenigen Ärzten, die in
hippokratischem Sinne Kranksein als Folge der Einwirkungen von Kälte,
Hitze, Luft etc. – seien sie nun göttlicher Natur oder nicht – und als Konsequenz humoralpathologisch erklärter Unausgewogenheiten interpretierten
und behandelten, und dem etwa gleichzeitig mit der Entwicklung einer naturgesetzlichen Medizin entstandenen Heilkult des Asklepios.2
Eine vergleichbare Situation läßt sich nur wenige Jahrhunderte später auch
für die chinesische Antike aufzeigen, obschon dort die Trennung des
Numinosen von den Naturphänomenen nach heutigem Kenntnisstand der
Quellen gleich von Beginn an, also seit dem 2. Jahrhundert v. Chr., weit
konsequenter erfolgte als im östlichen Mittelmeerraum. Vorstellungen etwa
vom Wind als einem Geist, der in periodischer Regelmäßigkeit im Laufe
des Jahres seinen Wohnort am Firmament wechselt und daher aus jeweils
anderen Richtungen kommt, sind in China noch bis in das 2. Jahrhundert
v. Chr. erkennbar.3 Zu dieser Zeit wurde auch dort der neue Ansatz einer
naturgesetzlich begründeten Erklärung und Therapie von Kranksein entwickelt und fand offenbar sogleich eine weite Anhängerschaft unter denjenigen Intellektuellen, die jedweder Berücksichtigung metaphysischer Entitäten in der Deutung des Daseins äußerst skeptisch gegenüberstanden.4
Obschon diese in der konfuzianisch geprägten Gesellschaft die überwiegende Mehrheit dargestellt haben dürften, galt es dennoch für alle weiteren
Jahrhunderte, sich gegenüber denjenigen abzugrenzen, die alternativ oder
zugleich an die Heilkraft der Ahnen, Dämonen oder Götter glaubten.
Das Huang Di Neijing Suwen, der Klassiker der naturgesetzlichen Medizin
Chinas, dessen älteste Schichten in die Anfänge der Kaiserzeit im 2. Jahrhundert v. Chr. reichen, spiegelt gelegentlich die Versuche der Abgrenzung
oder, wie wir auch sagen könnten, eines Ausschließlichkeitsanspruchs wider. So etwa, wenn der Text am Ende des elften Diskurses sagt:
Wenn jemand fest an Dämonen oder Geister glaubt, dann ist es unmöglich, [mit ihm]
über die vollendete Tugend zu sprechen.5
Auch der Historiker Sima Qian (ca. 145-85 v. Chr.), der Autor der ältesten
bekannten chinesischen Ärztebiographien, zählte offenbar zu denjenigen,
die eine eindeutige Position bezogen. In seinem historiographischen Werk
Shiji von 91 v. Chr. nannte er sechs Gründe, warum eine medizinische Behandlung scheitern muß. Hier finden wir die Aussage:
Wenn jemand sein Vertrauen Schamanen schenkt, nicht aber der Medizin vertraut,
das ist der sechste [Grund], daß keine Heilung erzielt wird.6
2
Sigerist (1963), S. 530.
3
Unschuld (1982).
4
Unschuld (1980), S. 48ff.
5
Huang Di Neijing Suwen (1983), 11:78:9.
6
Sima Qian, Kap.105.
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und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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»Vollendete Tugend«
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Im europäischen Mittelalter hatte die Bevölkerung in ähnlicher Weise die
Wahl zwischen der Medizin im Sinne einer in Naturgesetzen begründeten
Erklärung von Kranksein und Gesundheit und einem von manchen – keineswegs allen – christlichen Dogmatikern favorisierten Glauben an die
Kraft der Heilwirkungen Gottes. Aus dieser Zeit sind auch erste ausdrückliche Ausschließlichkeitsansprüche der theologischen Seite belegt, die
entweder das Christentum und damit den Glauben an Gott als unabdingbare Voraussetzung des wirksamen Heilers nennen und dem Paganen
die Fähigkeit des Heilens absprechen7 oder aber explizit von einer nutzlosen
und daher überflüssigen Existenz der weltlichen Medizin sprechen.8 Gregor
von Tours (538-594), beispielsweise, wird die folgende Aussage zugeschrieben:
Was vermögen die Ärzte mit ihren Instrumenten? Sie verursachen mehr Schmerzen
als sie lindern. Und wenn sie das Auge aufsperren und mit ihren spitzen Lanzetten
hineinschneiden, so lassen sie jedenfalls die Qualen des Todes vor Augen treten, ehe
sie wieder zum Leben verhelfen. Und sowie nicht alle Vorsichtsmaßregeln genau befolgt sind, ist es mit dem Sehen ganz vorbei. Unser seliger Bekenner [der Heilige Martin] dagegen hat nur ein Stahlinstrument, das ist sein Wille, und nur eine Salbe, das ist
seine Heilkraft.9
Inwieweit die Vernachlässigung der Fortentwicklung der antiken naturkundlichen Medizin in der Spätantike und im frühen Mittelalter durch solche Bedenken, die angesichts der seinerzeitigen Möglichkeiten der weltlichen Heilkunde nicht ganz unberechtigt waren, mitverursacht wurde oder
aber in grundsätzlichen Veränderungen des Zeitgeistes begründet lag, bedarf noch der wissenschaftlichen Untersuchung. Tatsache ist jedoch, daß
die für die Heilkraft des Glaubens erhobenen Ausschließlichkeitsansprüche
christlicher Theologen wenn überhaupt dann nur eine vorübergehende
Wirkung zu entfalten vermochten. Mit der Renaissance setzte die Wiederaneignung naturgesetzlicher Denkmodelle ein und damit eine von zunehmend weiteren Bevölkerungskreisen getragene Infragestellung theologischer
Erklärungen von Kranksein und Heilung.
Als im 18. Jahrhundert Johann Peter Süßmilch (1707-1767) unter dem Titel
»Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen« noch
einmal die Ansicht veröffentlichte, alle Krankheiten gingen auf das Wirken
Gottes zurück, legte nur wenige Jahrzehnte später Johann Peter Franck
(1745-1821) seinem »System einer vollständigen medizinischen Policey« die
gegenteilige Erkenntnis zu Grunde, daß zahlreiche, wenn nicht die meisten
Krankheiten menschgemacht seien und nicht zuletzt durch eine zielgerichtete Gesundheitspolitik vermieden werden könnten.
7
Temkin (1991), S. 214.
8
White [1895] (o.J.), Bd. 2, S. 28 und vielerorts.
9
Gregor von Tours, virt. S. Mart. II 19 (PL 71, 949 C – 950 A).
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
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Paul U. Unschuld
Diese Ansicht hat sich mittlerweile durchgesetzt; im Curriculum der medizinischen Fakultäten zumindest der staatlichen Universitäten in Deutschland findet das Konzept »Gott« heutzutage keine Erwähnung mehr. Lediglich auf privater Ebene haben sich Vorstellungen göttlicher Einwirkung auf
Verursachung und Heilung von Kranksein erhalten. Nur in äußerst seltenen
Fällen freilich entstehen aus solchen Vorstellungen noch Ausschließlichkeitssituationen und dies – zumindest sichtbar – auch nur auf Patientenebene, etwa wenn ein Mitglied einer fundamentalistischen christlichen Glaubensgemeinschaft eine Bluttransfusion ablehnt und statt dessen auf Gottes
Hilfe vertraut. Auf der Ebene der Ärzte wäre eine solche Haltung zum Ende
des 20. Jahrhunderts nicht nur undenkbar, sondern auch als kriminell einzustufen, da die möglicherweise fatalen Folgen für den Patienten strafrechtliche Konsequenzen nach sich zögen.
Im 18. und frühen 19. Jahrhundert, vor der weitgehend kompromißlosen
Übertragung naturwissenschaftlicher Methodik auf die Medizin, wetteiferten
verschiedene spekulative Modelle naturkundlicher Medizin um die Anerkennung. Brownianismus, Mesmerismus und dann auch die von ihrer ursprünglichen Bestimmung einer nur vorübergehenden Existenz gelöste
Homöopathie10 fanden jeweils zahlreiche Anhänger und erbitterte Gegner
zu einer Zeit, als die erfolgversprechende Einheit von Theorie und Praxis
naturwissenschaftlicher Medizin, die sich im Gefolge der Virchowschen
Zellularpathologie einstellte, noch keineswegs vorhanden war.11
Auch wenn die seinerzeitigen Konkurrenten in der Folge ihrer jeweiligen
Theorien einen mehr oder weniger empirisch gerechtfertigten Heilanspruch
zu stellen vermochten, so bleibt doch zweifelhaft, ob dieser jeweils von einem Heilvermögen begleitet wurde, dessen statistische Bewertung aus heutiger Sicht irgendeine Signifikanz hätte beanspruchen können.12 Hahnemann,
der Begründer der Homöopathie, wurde bekanntlich zu seinem theoretischen Lehrgebäude durch eine einzige Substanzerfahrung bei sich selbst
angeregt.13
Erst im 20. Jahrhundert ist in Europa eine neue Situation entstanden. Der
naturwissenschaftlichen Medizin und ihrem auf statistischer Grundlage
10 Schmidt (1992), hier insbesondere S. 56.
11 Artelt (1951), S. 6.
12 Vgl. beispielsweise die therapeutischen Erfolge Franz Xaver Mesmers an der »Jungfer
Fränzel Österline« im Jahre 1774, die seine Theorie des animalischen Magnetismus zu
verifizieren schienen und ihn zu weiteren Behandlungen anregten. Hansmann (1985),
S. 55.
13 Schmidt (1997), hier insbesondere S. 18: »Bei seinem 1790 durchgeführten Selbstversuch mit Chinarinde beobachtete Hahnemann, daß sie bei ihm gerade jene Symptome
hervorrief, die er von einem in Siebenbürgen selbst durchgemachten Wechselfieber
bereits kannte. Mit seiner Folgerung ›Substanzen, welche eine Art von Fieber erregen,
löschen die Typen des Wechselfiebers aus‹ war – nach Hahnemanns späterer rückblickender Interpretation – die ›Morgenröte‹ der neuen Heillehre angebrochen.«
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
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»Vollendete Tugend«
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erstmals in der Geschichte beweisbaren Heilvermögen ist nach Jahrzehnten
einer wenig intensiven Auseinandersetzung mit den sogenannten Naturheilverfahren seit den siebziger Jahren nun über das Konzept der »alternativen« Verfahren eine echte Konkurrenz erwachsen, die ebenfalls ein
Heilvermögen, und in bestimmten Problembereichen sogar ein umfassenderes oder besseres, propagiert.
Fragestellungen
Die hier nur skizzenhaft dargestellte sowohl diachronisch als auch synchronisch weit verbreitete konzeptuelle Vielfalt der heilkundlichen Angebote in komplexen Kulturen und die Tendenz der jeweiligen Befürworter
eines heilkundlichen Ideensystems, nur dieses und kein anderes gelten zu
lassen, werfen zahlreiche geisteswissenschaftlich bedenkenswerte Fragen auf.
Zwar haben Ludwik Fleck und Thomas Kuhn über den Paradigmenwechsel innerhalb eines heilkundlichen oder wissenschaftlichen Ideensystems nachgedacht, und auch Autoren der jüngeren Zeit haben sich Gedanken gemacht, wie in der naturwissenschaftlich begründeten Medizin
neue Erkenntnisse gegenüber älteren Vorstellungen Raum gewinnen. Das ist
aber nicht das Problem, das wir hier ansprechen. Die zentrale Frage, die es
hier zu stellen gilt und der bislang kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit
zuteil geworden ist, lautet, warum es zu grundlegenden Veränderungen von
einem heilkundlichen Ideensystem zu einem anderen kommen kann, warum in der Regel in ein und derselben Zivilisation komplexe Kulturen mit
widersprüchlichen heilkundlichen Ideensystemen existieren und mit welcher Berechtigung und Begründung die Vertreter eines heilkundlichen
Ideensystems für ihre Denkweise gleichsam ein Wahrheitsmonopol in der
Deutung von und im Umgang mit Kranksein beanspruchen können. Damit
verknüpft ist die Frage nach dem Patientenverhalten im Angesicht von
Auswahlmöglichkeiten.
In letzterem Punkt hat sich die anglophone medical anthropology seit Jahrzehnten zumindest in der Hinsicht verdient gemacht, daß sie die Ursachen
und die Auswirkungen der »shopping« Mechanismen in Bevölkerungen
aufgezeigt hat, die die Wahlmöglichkeit zwischen traditionellen Angeboten
und moderner Medizin besitzen.14 Allerdings ist diese auf participating observation gegründete Berichterstattung nicht in der Lage, historische Veränderungen im Patientenverhalten wahrzunehmen, zu dokumentieren oder gar
zu erläutern.15
Bemerkenswert ist an Vorgängen der mehrheitlichen Abwendung einer Bevölkerung von einem älteren heilkundlichen Ideensystem und der mehrheit14 Vgl. z. B. Leslie (Hg.) (1976); ders. (1980); Pfleiderer/Greifeld/Bichmann (Hg.) (1995),
S. 46-47, 86 ff.
15 Vgl. z. B. Beals (1976); Heggenhougen/Shore (1986); Bichmann et. al. (1991).
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Paul U. Unschuld
lichen Hinwendung zu einem neuen, daß aus der Geschichte bislang noch
keine Situation bekannt ist, in der ein älteres Ideensystem und die daraus
abgeleiteten therapeutischen oder präventiven Praktiken deshalb abgelöst
wurden, weil das neue Ideensystem sogleich klinisch wirksamere heilkundliche Eingriffe vorweisen konnte. Das trifft für die europäische und die chinesische Antike ebenso zu wie für die jüngste Gegenwart.
Weder die han-zeitliche (ab 2. Jahrhundert v. Chr.) Entstehung der Chinesischen Medizin der systematischen Entsprechungen, die den freien Fluß von
Blut und Qi-Pneuma in den Gefäßen zur Versorgung einzelner Funktionsbereiche im Körper sowie die Vernetzung aller Körpervorgänge untereinander und mit der Umwelt über die yinyang- und Fünf-Phasen-Theorien
als Grundlage der Existenz ansah, noch irgendeine der späteren Entwicklungen dieser Medizin erhielt ihren Anstoß durch klinische Erfahrungen;
stets war es die Theorie selbst, die aus dem Zeitgeist heraus ihre Veränderung erfuhr und dann zu neuen klinischen Ansätzen anregte.
Im östlichen Mittelmeerraum vermochte die hippokratische Medizin keine
besseren Heilerfolge zu erzielen als die Vorgängermethoden. Der Heilkult
des Asklepios war nicht in der Lage, Krankheiten besser zu heilen als die
hippokratische Medizin. Die Theologie des frühen Mittelalters verdrängte
die naturgesetzlich verankerte Heilkunde der Antike nicht, weil sie etwa
deutlichere klinische Resultate hätte vorweisen können. Die Renaissance der
naturgesetzlichen Medizin der Antike zu Beginn der Neuzeit ist nicht darauf
zurückzuführen, daß hier ein unwirksames gegen ein wirksames Heilsystem
eingetauscht worden wäre. Die Ehe zwischen Naturwissenschaft und Medizin im ausgehenden 18. Jahrhundert kam nicht zustande, weil konkrete
Hinweise auf eine klinische Überlegenheit des neuen Denkstils vorlagen.
Auch in der jüngsten Gegenwart hat sich der Paradigmenwechsel eines
Teils der Bevölkerung in den 1970er und 1980er Jahren von der sogenannten Schulmedizin zu der sogenannten Chinesischen Medizin nicht etwa deshalb vollzogen, weil letztere nachweislich bessere therapeutische Erfolge erzielte.
Klinische Erfolge sind, das ist meine Hypothese, bislang niemals ausschlaggebend gewesen für totalparadigmatische Übergänge.16 Die Attraktion des Neuen oder des Alternativen liegt in erster Linie in der Attraktion
des theoretischen Überbaus, wie es sehr schön in der Reaktion eines Verfechters der Brownschen Lehre auf die Frage zum Ausdruck kam,
welcher von den bisher bekannten medizinischen Theorien der Vorzug gebühre? Auf
diese Frage antworten wir, nach unserer besten Überzeugung, daß unter allen den bisher bekannten sowohl ältern als auch neuern medizinischen Theorien, Brown’s Lehre
den grössten Vorzug verdient, in sofern sie einen bessern Leitfaden am Krankenbette
gewährt, die brauchbarsten Vorschriften für die Praktik liefert, und durch echte philosophische Konsequenz, mehr als alle übrigen Systeme der Heilkunde geeignet ist,
16 Vgl. zu dieser Hypothese auch Unschuld: Schulmedizin (1995), S. 129.
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»Vollendete Tugend«
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den Forderungen Genüge zu leisten, die von prüfenden Aerzten an ein medizinisches
Lehrgebäude gemacht werden können.17
Bemerkenswert ist in diesem Zitat die Betonung von Browns Lehre als des
»besseren Leitfadens am Krankenbett«, der die »brauchbarsten Vorschriften
für die Praktik liefert« und »echte philosophische Konsequenz« beinhaltet.
Ein Hinweis auf überlegene klinische Erfolge steht dieser Apologie des theoretischen Lehrgebäudes nicht zur Seite.
Das Ausmaß der Plausibilität eines theoretischen Überbaus entscheidet in
erster Linie darüber, ob Individuen, gesellschaftliche Gruppen oder schließlich eine Mehrheit der Bevölkerung ein heilkundliches Ideensystem annehmen und ihrer Reaktion auf Kranksein zu Grunde legen.18 Damit wird auch
verständlich, warum sich Ausschließlichkeitsansprüche gleichsam ergeben
müssen. Wenn die klinischen Erfolge eines heilkundlichen Ideensystems
den Maßstab der Bewertung abgäben, würde man wohl zu dem Schluß
kommen müssen, daß viele Wege und somit viele Heilsysteme zum Ziel
führen. Tatsächlich aber stehen theoretische Systeme im Vordergrund, und
auf dieser Ebene fällt es nun einmal sehr schwer, A und B gleichzeitig zu
akzeptieren, wenn A und B sich logisch nicht in Einklang bringen lassen.
Wer, wie Johannes Köbberlin, die Naturwissenschaften in dem Maße internalisiert hat, daß er – in Übereinstimmung mit vielen anderen Ärzten –
die Aussage machen kann:
Ganz im Gegensatz zu den verbreiteten Vorstellungen wird eine gute, menschliche
Medizin nur durch die Wissenschaft in der Medizin sichergestellt. Unwissenschaftlichkeit ist dagegen der Boden der Inhumanität19
verkündet damit und mit der pauschalen Gleichsetzung von »unkonventionellen medizinischen Verfahren« und »Kurpfuscherei«20 nicht nur
eine geradezu monströse Diffamierung größter Anteile der Medizingeschichte (wer wollte die hohe sittliche und humanitäre Zielsetzung etwa
eines Samuel Hahnemann in Frage stellen?)21 und auch aller derer, die sich
heutzutage außerhalb der Schulmedizin um Menschlichkeit in der Medizin
bemühen,22 er stellt sich auch in die Reihe derer, die dem methodischen
17 Werner (1800), S. XXII.
18 Vgl. hierzu auch Unschuld: Plausibility (1995).
19 Köbberlin (1997), S. 181.
20 Köbberlin (1997), S. 182.
21 Schmidt (1997), S. 22.
22 Die Verknüpfung von Naturwissenschaft und Humanität durch Köbberlin erinnert an
die Ausführungen von Karl Jaspers in: Der Arzt im technischen Zeitalter: »Die ärztliche Therapie ruht auf zwei Säulen: der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und der
Humanität«. (Jaspers (1986), S. 19.) Daraus ist freilich nicht der Umkehrschluß zu
ziehen, daß Therapie, die nicht mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis verbunden ist,
zugleich der Boden der Inhumanität sein muß. Jaspers selbst sah die Humanität gefährdet trotz verstärkter Naturwissenschaft in der Medizin.
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Paul U. Unschuld
Zugang zu Wissen, also der theoretischen Ebene, den Primat vor den Resultaten der Praxis einräumen.
Es ist unbestritten, daß sich gegenwärtig kein zweites Heilverfahren derart
im Lichte seiner klinischen Erfolge sonnen kann wie die wissenschaftlich
begründete Medizin. Aufhorchen lassen muß im Zusammenhang der hier
diskutierten Thematik jedoch, daß der Ausschließlichkeitsanspruch Köbberlins in erster Linie und gleich zu Beginn seines Vortrags auf die »Humanität« des Ansatzes – also wieder auf die »vollendete Tugend«, die schon
Sima Qian vor genau zwei Jahrtausenden und in einem vermeintlich ganz
anderen kulturellen Kontext bei den Alternativen vermißte – nicht jedoch
auf die Heilerfolge verweist. Solche gesteht er selbst, viele Seiten später, der
»Paramedizin« zu, auch wenn er einschränkend sagt, »die meisten [...] Erfolgsberichte halten einer Nachprüfung nicht stand«.23 Abgesehen davon,
daß ein strenger Wissenschaftler wie Köbberlin in einem so wichtigen
Punkt quantitativ etwas exakter argumentieren sollte, könnten durchaus
schon einige wenige Erfolge einem alternativen Heilsystem zur Ehre und
zum Beweis der »Humanität« gereichen.
Erst in zweiter Linie, nachdem der Primat des theoretischen Systems gleichsam den Weg bereitet hat, so schließe ich weiter, können Bemühungen zum
Tragen kommen, die vielversprechenden, weil plausiblen Vorstellungen in
klinisch überlegene Therapien umzusetzen und mit den erzielten Erfolgen
die Theorien zu belegen. Da die überwiegende Mehrzahl von Unpäßlichkeiten und subjektiv wahrgenommenen Episoden des Krankseins allem Anschein nach nicht so sehr wegen einer Therapie, sondern während einer Therapie zur Heilung kommen, hat sich noch für jedes heilkundliche Ideensystem ausreichend Gelegenheit der Bestätigung ergeben.
Carl Werner führte die Theorie-Klinik-Abfolge in der Durchsetzung eines
Heilsystems ungewollt in seiner Verteidigung des Brownianismus vor Augen, als er im Jahre 1800 zunächst den unheilvollen gegenwärtigen Zustand
der »Arzneykunde« – heute würden wir Medizin sagen – beklagte, sodann
das Ende der Beliebigkeit der konzeptuellen Ansätze forderte und schließlich die Theorie als Anleitung für die Erfahrung unentbehrlich nannte. Mit
anderen Worten, die, wie Werner ausführte, »rationelle« Ausübung der Medizin ist erst auf der Grundlage eines »medizinischen Lehrgebäudes« möglich. Zwei Jahrhunderte früher als Köbberlin und in einem gänzlich anderen Ideenrahmen argumentierte Werner dennoch strukturell nahezu identisch mit jenem. Wenn das Lehrgebäude überzeugend ist, wird man versuchen, es in der Praxis umzusetzen.24
Freilich hat es zumindest in der europäischen Medizingeschichte seit der
Antike auch immer wieder Bemühungen gegeben, den Primat der Theorie
gegenüber der Praxis abzuschwächen, wenn nicht gänzlich auszuräumen.
23 Köbberlin (1997), S. 188.
24 Werner (1800), S. XVIII-XXI.
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Wie Harig und Schneck zu der Übertragung der durch Pyrrhon von Elis
(um 360-270 v. Chr.) begründeten skeptischen Philosophie auf die Medizin
anmerkten,
bestand die Haltung für die Wissenschaft in der Betonung der skeptisch relativierten
und geprüften Erfahrung und nicht in der Grundlegung einer prinzipiell neuen positiven Theorie. [...] So wird es verständlich, daß es im 3. Jahrhundert v. u. Z. in Alexandria zur Gründung einer neuen medizinischen Schule kam, die die medizinische
Empirie zur Richtschnur ihres Handelns machte.25
Es hat nicht den Anschein, als seien solche Bemühungen je erfolgreich geworden. Eine Stimme aus dem 20. Jahrhundert ist die von Hans Much,
bezeichnenderweise ein Außenseiter:
Ist das Theoretische nicht einfach abzulehnen? In gewissem Sinne: ja. Jedenfalls ist eine Wertung bisher überhaupt nicht möglich. ›Der Arzt hat nur eine einzige Aufgabe:
zu heilen.‹ Dann entscheidet also lediglich der Heilerfolg, und alle Theorie ist nebensächlich? Ganz gewiß. In einer Bestrebung, die keine Wissenschaft ist, die aber doch
mit einigen wissenschaftlichen Grundsätzen arbeitet, entscheidet lediglich der praktische
Erfolg. Die erste Frage ist die nach der Wirkung des Diphtherieserums. Ist diese bejaht,
dann kommt die andere nach der Erklärung. Und dann die dritte: Kann man auf ähnlichem Weg noch andere, dem Diphtherieserum verwandte Heilmittel finden? Bisher
wurde entgegengesetzt gearbeitet: die Ergebnisse bei Diphtherie wurden allgemein genommen, alles sollte auf ähnliche Weise gelöst werden und der Erfolg dieses theoretisierenden Technizismus war ein furchtbarer Bankrott. Was für die Diphtherie gefunden wurde, gilt nur für die Diphtherie, und auch für diese nur unter ganz bestimmten
Voraussetzungen. Anstatt Problemen zu folgen, die stets frei machen, folgt man Theoremen, die stets verrammeln. Und man kam zu einer Blamage, die um so schlimmer
war, als man nicht ehrlich und klug genug war, sie zu bekennen vor dem heranwachsenden Geschlechte.26
Much fand zwar sehr deutliche Worte aber keinerlei Resonanz. Den Primat
der Theorie vor dem klinischen Erfolg vermochte auch er nicht zu erschüttern.
Die Hypothese eines solchen Primats als Kriterium der Akzeptanz eines
heilkundlichen Systems und der daraus abgeleitete Schluß einer erst sekundären Relevanz klinischer Bestätigung bedürfen freilich noch der wissenschaftlichen Verifizierung oder Widerlegung durch umfassenderes historisches Quellenstudium. Die in diesem Zusammenhang zu beantwortenden
Fragen lauten zum einen, ob exakte historische Forschungen imstande sind
zu belegen, daß tatsächlich nicht klinische Erfolge, sondern konzeptuelle
Plausibilität in zwei Jahrtausenden dokumentierter heilkundlicher Entwicklungsgeschichte die totalparadigmatischen Widersprüche und folglich die
Ausschließlichkeitsansprüche bedingt haben, und, zum anderen, welche
Faktoren über die Zeiten und kulturellen Grenzen eine solche konzeptuelle
Plausibilität hervorrufen.
25 Harig/Schneck (1990), S. 48f.
26 Much (1928), S. 32. (Hervorhebungen im Original)
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Paul U. Unschuld
Erstaunlich ist die Leichtigkeit, mit der Autoren gelegentlich bar jeglicher
wissenschaftlicher Evidenz derartige Phänomene mit Erklärungen belegen.
So führt die Archäologin Antje Krug das Erstarken des Asklepios-Kultes auf
»das Prinzip Hoffnung« bei den von der hippokratischen Medizin »Abgewiesenen und Ungeheilten« zurück, ohne beispielsweise gleichzeitig nachweisen zu können, daß erstens die hippokratische Medizin, objektiv betrachtet, imstande war, nennenswerte Heilungen zu erzielen, und daß zweitens die hippokratische Medizin in der Regel die erste Anlaufstelle der bei
Asklepios Zufluchtsuchenden war. Möglich ist dies schon, aber möglich ist
auch, daß der Krugsche Erklärungsversuch ebenso selbstverständlich wie
unbefangen ein heutiges Verhaltensmuster eines Teils der Bevölkerung im
Spannungsfeld zwischen naturwissenschaftlicher Medizin und alternativen
Heilweisen auf die Antike überträgt.27
Im Vergleich zu solcher Unbefangenheit sei auf eine der wenigen seriösen
Studien hingewiesen, die dem Problem des Primats von Theorie vs. Klinik
Aufmerksamkeit schenken. In seiner Analyse der Geschichte der Psychopharmakologie im Zeitalter der naturwissenschaftlichen Medizin kommt
Matthias M. Weber zu dem Schluß:
Die Einführung synthetischer Psychopharmaka stellte ein Ergebnis der Rezeption naturwissenschaftlicher Denkweisen durch die Medizin um 1850 dar. Auf Grund des
Erkenntniszuwachses insbesondere der organischen Chemie erschien die Anwendung
neuer Verbindungsklassen auch in der klinischen Psychiatrie plausibel, obwohl der
Stand der Theoriebildung nicht genügte, den physiologischen Wirkungsmechanismus
eines synthetischen Arzneimittels nach den Kriterien naturwissenschaftlicher Kausalität zu erklären. [...]
Das synthetische Psychopharmakon spiegelte somit die grundlegenden kulturhistorischen und gesellschaftlichen Modernisierungstendenzen des 19. Jahrhunderts in der
Psychiatrie wider.28
Und in derselben Schrift verweist Weber unter Berücksichtigung der Ausführungen des britischen Medizinhistorikers Roy Porter auf
die primäre Funktion ideengeschichtlicher Prozesse in der Heilkunde. [...] Für einen
Wandel ihrer Anschauungen sind weniger der in Aussicht gestellte methodische Fortschritt oder die therapeutische Innovation maßgebend, sondern die Übereinstimmung
medizinischer Konzepte mit den allgemeinen kulturellen Leitideen einer Epoche. Dies
entscheidet nicht nur über den Aufbau der akademischen Lehre, sondern auch über
die Akzeptanz seitens der Patientenklientel.29
Dem ist zuzustimmen, wenn man unter »kulturellen Leitideen« ein bislang
kaum zu differenzierendes Ideengeflecht versteht, das gespeist ist aus den
Erfahrungen mit tatsächlich vorhandenen oder angestrebten sozialen, strukturellen und ökonomischen Bedingungen, weiter aus Ängsten und Befürchtungen hinsichtlich gesellschaftlicher und persönlicher Gefährdung und
27 Krug (1984), S. 120 f.
28 Weber (1999), S. 74 f.
29 Weber (1999), S. 53, zitiert Porter (1985).
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
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»Vollendete Tugend«
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Krise, und schließlich aus Erwartungen an allgemeine Lösungsschemata.
Ein solches Ideengeflecht bildet sich in dauerndem Wandel in bestimmten
Bevölkerungsgruppen heraus. Es ist für Wandel und Vielfalt heilkundlicher
Ideensysteme und somit der Medizin in einer Zivilisation verantwortlich.
Wenn wir den Wandel dieses Ideengeflechts verstehen, dann verstehen wir
den Wandel der Medizin und auch die temporär immer wieder vorhandene
Vielfalt der Heilansprüche und des Heilverhaltens.
Chinesische und Westliche Medizin
Vor dem Hintergrund der bisherigen Erörterung ist die Konkurrenz zwischen sogenannter Chinesischer und sogenannter Westlicher Medizin von
besonderem Interesse, da ihr eine interkulturelle Dimension zueigen ist.
Der Heilanspruch der Westlichen Medizin ist bekannt. Er geht insofern mit
einem Ausschließlichkeitsanspruch einher, als die Westliche Medizin zwar
grundsätzlich bereit ist, auch Verfahren anderer heilkundlicher Ideensysteme als heilwirksam anzuerkennen, dieses Prädikat jedoch nur dann
vergibt, wenn dieses Heilvermögen mit Hilfe naturwissenschaftlicher oder
statistischer Methoden nachgewiesen wurde. Jegliche Theorie und jegliche
praktische Therapie, die diesem Kriterium nicht entspricht, wird als spekulativ oder anekdotisch eingeschätzt und abgelehnt.
Die Befürworter der Chinesischen Medizin beanspruchen naturgemäß ein
Heilvermögen für ihren therapeutischen Ansatz; einige Anhänger haben
sogar zeitweilig und ohne Rückgriffmöglichkeiten auf eine noch so schmale
Grundlage empirischer Daten ebenfalls einen Ausschließlichkeitsanspruch
erhoben, wenn nicht für die Behandlung aller menschlichen Leiden, so
doch für bestimmte Krankheiten, die der Westlichen Medizin nicht zugänglich seien.
Manfred Porkert, beispielsweise, Sinologe und in den siebziger Jahren sicher
der intimste Kenner chinesischer Medizintheorie in Europa und den USA,
schrieb in Beantwortung der selbst gestellten Frage »Wozu chinesische Diagnostik« bereits 1976:
Für die bedeutende Zahl funktioneller Störungen ohne präzisen oder absolut ohne
somatischen Befund erbringt allein die chinesische Diagnostik positive und spezifische
Aussagen und schafft somit erst die Voraussetzungen für eine rationale Therapie und
sichere Prognose bei diesen Krankheiten. [...]
Die relative Einfachheit bei hoher Stringenz der chinesischen Diagnostik lassen dort,
wo sie methodisch angebracht ist, eine größere Transparenz und geringere Fehlerquote bei den Befunden erwarten – mit allen begrüßenswerten Folgen für Patient, Arzt
und Allgemeinheit.30
Ein Ausschließlichkeitsanspruch also auf der Grundlage zu »erwartender«
Verbesserungen gegenüber der bislang geübten Diagnostik. Porkert er30 Porkert (1976), S. 11.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Paul U. Unschuld
kannte der auf dem »kausalanalytischen« Denkansatz aufbauenden Westlichen Medizin allein die Fähigkeit zu, »Substrat« zu messen und therapeutisch zu beeinflussen, und sprach ihr jegliche Fähigkeit ab, »aktuelle Wirkungen, d. h. Bewegungen, Funktionen«, letztlich also das Leben zu erkennen und somit rational zu therapieren.31
Zu einer Zeit, da die Chinesische Medizin noch kaum in westlichen Ländern praktiziert wurde und auch kaum klinische Berichte aus China vorlagen, war Porkert, wie auch andere damalige Befürworter einer Ergänzung
der Westlichen durch die Chinesische Medizin, davon überzeugt, daß der,
wie er es nannte, induktivsynthetische Ansatz der Chinesischen Medizin
dem kausalanalytischen Ansatz der Westlichen Medizin überlegen sei, so
daß man davon ausgehen könne, daß Forschungen diese Überlegenheit
später auch in der therapeutischen Praxis aufzeigen würden.
Der Primat der Überzeugung auf theoretischer Ebene vor dem Beweis in
klinischer Hinsicht mag für einen Nicht-Arzt wie Porkert zwar naheliegender sein als für einen Arzt, dennoch ist die Porkertsche Vorgehensweise
auch für die an dem Prozeß der westlichen Aneignung beteiligten Ärzte
charakteristisch (und glich strukturell der oben zitierten Apologie des
Brownianismus durch den Arzt Carl Werner und der Verteidigung der
Wissenschaften durch den Professor der Medizin Johannes Köbberlin).32
Kaum einer der ärztlichen Aneigner der Chinesischen Medizin freilich war
seinerzeit imstande oder bereit, seine Gedanken auf solch anspruchsvollem
Niveau zu äußern wie Manfred Porkert.
Die folgende Schlüsselstelle mag seine damaligen Argumente beleuchten.
Sie ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, da Porkert den
»Wissenschaftlern und Ärzten« der Westlichen Medizin gleichsam vorwirft,
sich durch eindrucksvolle therapeutische Erfolge verführen zu lassen, an
einem ungeeigneten Ansatz festzuhalten, während er in Hinsicht auf die
Chinesische Medizin die logische Überlegenheit der Methode betont und
die daraus abzuleitende therapeutische Überlegenheit durch entsprechende
Forschungen in die Zukunft verweist.
Nun ist die kausalanalytische Methode ein logisches Instrument, an dessen Ausbildung die Mediziner nicht allein, sondern zusammen mit Generationen von Philosophen und Wissenschaftlern aller Disziplinen beteiligt waren. Darum wäre es heute unbillig zu erwarten, daß ausgerechnet die Mediziner, die nach Neigung und Aufgabe
dem praktischen Handeln näher stehen als der logisch abstrakten Spekulation, auf
31 Porkert (1978), S. 4-14.
32 Vgl. für die jüngste Zeit: Fruehauf (1999). In diesem Artikel, in dem die Weiterentwicklung der traditionellen Chinesischen Medizin vor allem in der VR China als eine
bedauerliche Fehlentwicklung weg von den wahren und erhaltenswerten Inhalten der
Chinesischen Medizin identifiziert wird, geht der Autor mit keinem Wort darauf ein,
ob die eine oder andere Variante therapeutisch die besseren Ergebnisse erzielt. Die
Argumentation ist allein auf der Ebene der Attraktion unterschiedlicher theoretischer
Modelle angesiedelt.
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»Vollendete Tugend«
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sich gestellt all jene Schwierigkeiten abklären könnten, auf die sie bei der Anwendung
der kausalanalytischen Methode im medizinischen Bereich stoßen. So kommt es, daß
gegenwärtig der Medizin noch der Nachvollzug vor allem zweier Einsichten von existentieller Dringlichkeit aufgegeben ist, nämlich
1. Die Grenzen, an denen sich heute die kausalanalytische medizinische (also auch
pharmakologische) Forschung bricht, sind nicht verfahrensmäßig technischer, sondern essentieller, also logischer und natürlicher Art.
2. Das vornehme und legitime Ziel der medizinischen Wissenschaft, nämlich eine in
immer höherem Maße vernünftige und zuverlässige Heilkunde zu schaffen, ist nicht
auf dem Wege einer unreflektierten oder gar dogmatischen Beschränkung auf kausalanalytische Verfahren zu erreichen, sondern nur durch den zielstrebigen Ausbau einer
Forschung, die auf der zur kausalen Analyse komplementären Methode der induktiven Synthese voranschreitet.33
Anders als die Vertreter der Westlichen Medizin haben die Vertreter der
Chinesischen Medizin ganz allgemein ihren Heilanspruch zunächst allein
aus der Geschichte,34 aus der ihrem Ideensystem inhärenten Logik sowie
aus anekdotischen Heilerfolgen abgeleitet. Alle drei Kriterien haben vor den
Anforderungen der Naturwissenschaft und der Statistik keinen Bestand. Die
wissenschaftliche Verifizierung offenkundiger Heilerfolge ist bislang nur
zögernd erfolgt; der Aussagewert entsprechender Studien ist auf Grund verbreiteter methodischer Mängel äußerst begrenzt.
Das Faszinierende an dem Aufeinandertreffen von Chinesischer und Westlicher Medizin liegt nun unter anderem darin, daß dieser historische Vorgang gleichzeitig sowohl in China als auch in den westlichen Industrieländern mit jeweils umgekehrter Richtung abläuft. In China hat die
Westliche Medizin seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Eingang gefunden
und nach einer kurzen Phase neugieriger Kooperation bereits seit den
1850er Jahren jede Kompatibilität mit der traditionellen Chinesischen Medizin zurückgewiesen. In Europa und den USA ist die Chinesische Medizin
zwar schon seit dem 16. Jahrhundert, ganz besonders im 18. und frühen 19.
Jahrhundert bekannt und in dieser späteren Phase auch Objekt eines weitverbreiteten Interesses gewesen, aber erst seit den 1970er Jahren ist diese
Heilkunde hier zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz der Schulmedizin
33 Fruehauf (1999), S. 4.
34 Vgl. z. B. Porkert (1973), S. 4: »so wenig ist einzusehen, daß eine therapeutische Wissenschaft, die sich durch mehr als 2000 Jahre bewährt hat und die inzwischen wieder
für alle Chinesen – und damit für ein Viertel der Menschheit – zur alltäglichen geworden ist, auch künftighin ausschließlich dem chinesischen Kulturkreis vorbehalten
bleiben soll.« Anzumerken ist hier freilich, daß das Kriterium der historischen »Bewährung« in China in noch stärkerem Maße auf die Dämonenheilkunde zutrifft und
daß folglich die Plausibilitätsunterschiede für Porkert ausschlaggebend waren, dem einen Ideensystem historische Bewährung zuzusprechen und dem anderen nicht. Andererseits haben die vergangenen zwei Jahrzehnte gezeigt, daß in China proportional zu
der Verfügbarkeit Westlicher Medizin die »Alltäglichkeit« der Chinesischen Medizin
verloren gegangen ist.
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Paul U. Unschuld
herangewachsen.35 Der Historiker sieht sich mit der sicher nicht sehr häufigen Situation konfrontiert, daß sich ein und derselbe historische Vorgang
eines vergleichbaren interkulturellen Transfers in zwei unterschiedlichen
Kulturräumen mit jeweils unterschiedlicher politischer Zielsetzung vollzieht.
In der VR China verfolgt die Regierung seit der Revolution im Jahre 1949
die Politik, den Gegensatz zwischen Westlicher und Chinesischer Medizin
abzubauen und statt dessen eine einheitliche Medizin zu fördern, die sinnvolle theoretische und praktische Elemente der traditionellen Chinesischen
Medizin in die naturwissenschaftlich begründete Medizin einbezieht. Als
Beweggrund für diese Politik mag man den totalitären Wissenschaftsanspruch des Marxismus vermuten.36
In Europa und den USA hat sich, ausgehend vom Interessendruck der Anwender, der Versicherungen und schließlich auch der Gesundheitspolitik,
eine Atmosphäre der Liberalität gebildet, in der die anfängliche Konfrontation gleichsam einem multikulturellen anything goes gewichen ist. Mit der
Verpflichtung der Krankenkassen, den Wissenschaftlichkeitsanspruch an
die Therapien als Grundvoraussetzung für Leistungserstattungen und somit
die sogenannte Wissenschaftsklausel fallenzulassen, hat das oberste deutsche
Gericht dieser Realität bereits im Jahre 1994 auch juristischen Ausdruck
verliehen.
Somit waren weder in China die von einigen Vertretern der traditionellen
Chinesischen Medizin noch im Westen die von einigen Vertretern der sogenannten »Schulmedizin« geäußerten und vor der Übernahme der jeweils
anderen Heilkunde in die eigene Kultur warnenden Ausschließlichkeitsansprüche in erkennbarem Maße erfolgreich; sie haben weder die Gesetzgebung noch das Verhalten der Bevölkerung signifikant beeinflußt. Ganz im
Gegenteil, sowohl in China als auch im Westen ließ sich die Bevölkerung in
großem Umfang von den Heilansprüchen des jeweils fremdkulturellen
Heilsystems überzeugen. In China vollziehen sich mittlerweile zumindest in
den Städten etwa 90 % aller Arzt-Patienten-Beziehungen im Rahmen von
Behandlungen mittels sogenannter Westlicher Medizin.37 In Deutschland,
um nur das nächstliegende Beispiel zu nennen, finden nach Angabe des
Berufsverbandes Deutscher Akupunkturärzte mittlerweile etwa 30 000 bis
40 000 der insgesamt etwa 160 000 medizinisch tätigen Ärzte eine die Akupunktur nicht selten fordernde Klientel.38
35 Unschuld (1980), S. 188-218; ders. (1997), S. 99-132.
36 Croizier (1968); Unschuld: Chinesische Medizin (1995); Taylor (2000).
37 Gesprächsauskunft, Gesundheitsverwaltung Shanghai.
38 Berufsverband Deutscher Akupunkturärzte (o. J.), S.15. Thomas K. Weinschütz
spricht in einem Editorial in der Zeitschrift AKU (Weinschütz (o. J.) von 30 000 Ärzten/Ärztinnen, die gegenwärtig Akupunktur in Deutschland praktizieren.
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Damit ist in aller Kürze ein historischer Vorgang angedeutet, der freilich
nicht zuletzt auch hinsichtlich des Verhaltens der Patienten angesichts der
geschilderten Wahlmöglichkeiten noch keineswegs ausreichend verstanden
wird. Man darf sich durchaus einmal fragen, was Patienten überhaupt dazu
motiviert, sich einem heilkundlichen System anzuvertrauen. Diese Frage
klingt banal und man möchte sie sogleich mit einem »weil sie krank sind
und sich Hilfe erhoffen« beantworten. So einfach ist es jedoch nur in Ausnahmefällen, etwa im Falle eines Sportunfalls oder einer notwendigen Hüftgelenkoperation. In der überwiegenden Zahl der alltäglichen Erlebnisse eines Unwohlseins agiert der Patient unbewußt in einer Abhängigkeitsbeziehung mit einem ihm vertrauten Heilsystem. Dieses Heilsystem ist ihm
möglicherweise deshalb vertraut, weil es ihn gleichsam im Laufe einer bereits in der Kindheit einsetzenden Beeinflussung erzogen hat, gewisse Gefühle als krankhaft und therapiefähig anzusehen, andere aber zu vernachlässigen.
Ein grundsätzlicher Unterschied beispielsweise zwischen der Chinesischen
Medizin und der abendländischen Medizintradition besteht darin, daß die
Chinesische Medizin davon ausgeht, daß auf jede noch so geringfügige Unpäßlichkeit oder Befindlichkeitsänderung sofort therapeutisch zu reagieren
ist. In der abendländischen Tradition ist demgegenüber seit der Antike ein
Konzept einer natürlichen Selbstheilung eine Selbstverständlichkeit.39 Das
heißt, viele Menschen leben hierzulande in einem Bewußtsein – und dies ist
ein kulturhistorisch bedingtes Bewußtsein –, daß die Natur sich in den
meisten Fällen selbst zu helfen weiß, und man ein Problem nur aussitzen
muß, bis es wieder verschwindet. Es ist unschwer zu erkennen, daß die chinesische Früh-Eingreif-Maxime in Übereinstimmung mit antiken konfuzianischen Vorstellungen einer angemessenen Ordnungspolitik steht. Der Konfuzianismus sah in der kleinsten Ordnungswidrigkeit der Bevölkerung den
Keim zu größeren Unruhen, Chaos und Umsturz. Daher galt es, jedes Abweichen vom rechten Weg bereits im Keim zu ersticken.40
Vor diesem historischen Hintergrund ergibt sich sowohl in China als auch
im Westen ein Problem. Die hochmedikalisierte chinesische Patientenschaft
erwartet von der Westlichen Medizin ein Heilvermögen auch bei solchen
Leiden, die aus westlicher Sicht nichtig sind. Die Westliche Medizin in
China kann auf diese Probleme allein mit Verlegenheitstherapien etwa mittels Vitaminpräparaten oder – schädlicher noch – mit wirksamen Medikamenten reagieren. Im Westen dagegen machen viele Patienten gleichsam
falschen Gebrauch von der Chinesischen Medizin. Anstatt deren Heilanspruch und möglicherweise Heilvermögen in Frühstadien des Krankseins
oder, wie Porkert es ausdrückte, bei »funktionellen Störungen ohne präzisen
oder absolut ohne somatischen Befund« in Anspruch zu nehmen, gehen sie
39 Neuburger (1926).
40 Zur »Chaos-Angst« als konstitutivem Element des Konfuzianismus siehe Moritz
(1998), S. 76.
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in der Regel mit akuten oder von der Westlichen Medizin austherapierten
Leiden zu Praktikern der Chinesischen Medizin – mit entsprechend problematischen Heilaussichten.
Neben dem mehr oder weniger bewußt reflektierten Empfinden, wo, wann
und mit welchen Problemen alltäglicher Unpäßlichkeiten man medizinischen Beistand aufsuchen sollte, lebt der Patient auch in einer konzeptuellen
Bindung an das ihm vertraute Heilsystem. Ein Heilsystem mag nämlich
auch aus dem Grunde vertraut sein, weil sich die von ihm als Bedrohung
individueller körperlicher Existenz identifizierten Strukturen mit denen decken, die man als übergeordnete Bedrohung nicht des individuellen, sondern des gesamtgesellschaftlichen Organismus im Alltag wahrnimmt.
Wenn die oben ausgeführte Hypothese zutrifft, daß die Wahrnehmung des
Heilvermögens eines Heilsystems nicht zuletzt von der Plausibilität des jeweiligen theoretischen Überbaus abhängt, dann ist verständlich, warum die
auf die individuelle Beziehung zwischen Erreger und Mensch gegründete
frühe Bakteriologie unter den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bedingungen
des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts für Ärzte und Patienten
gleichermaßen nachgerade sinnvoll erscheinen mußte. Die heutige Vorstellung von Immunsystemen, gegen die ein Erreger in der Regel machtlos ist,
es sei denn, die Zahl der Erreger überwindet das System oder das System ist
von vornherein geschädigt, ist eine Sichtweise, die wiederum von Grundbefindlichkeiten und Sozialtheorien von der Dominanz der Systeme in Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber dem Individuum, wie sie sich in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt haben, getragen wird und
somit auch nur historisch vorübergehend Bestand haben dürfte. Die Wissenschaft, so möchte man Köbberlin unter Hinweis auf viele Beispiele aus
der Geschichte mitteilen, leistet die Rechtfertigungsarbeit auf dieser höchsten Ebene des Wandels erst, nachdem der Zeitgeist die Überzeugung geschaffen hat.
Auch das Patientenverhalten in Deutschland vis-a-vis der Chinesischen
Medizin bestärkt die Vermutung, daß andere Faktoren als etwa naturwissenschaftliche oder statistische Nachweise einen entscheidenden Einfluß auf
die Hinwendung zu oder Abwendung von diesem heilkundlichen Ideensystem haben. Das in der Bevölkerung weitverbreitete Image einer zunehmend auf Detailwissen spezialisierten Ärzteschaft, der der Blick und das
Verständnis für das große Ganze fehlt, die Selbstdarstellung der Schulmedizin als Anwender kalter Technik, Chemotherapie und Nuklearmedizin, der
angeblich mangelnde emotionale und physische Kontakt zwischen Arzt
und Patient und nicht zuletzt die in der Presse regelmäßig erhobenen Vorwürfe, die Kriterien des Machbaren seien der modernen Medizin wichtiger
als die Kriterien des Menschlichen, mögen neben anderen Faktoren und
persönlichen Erfahrungen das Patientenverhalten stärker steuern als ein
Vergleich heutiger Erfolgszahlen mit solchen aus früheren Jahrzehnten oder
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gar Jahrhunderten. Die Erforschung solcher Patientenmotive liegt freilich
noch in den Anfängen.41
Dies gilt umgekehrt auch für die Auswirkungen solcher Argumente und
Vorstellungen, die geeignet sind, die Chinesische Medizin gleichsam als ein
ideales Antidot gegen die Gefahren anzusehen, die zunehmend mit der
Schulmedizin assoziiert werden. Hier wären beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu nennen die Hinweise auf natürliche, d. h.
chemiefreie, Arzneien, die Erwartung technologiefreier und statt dessen direkter Arzt-Patienten-Kontakte in Diagnostik und Therapie, vor allem mittels Pulsfühlen, Massage und Akupunktur, sowie das Versprechen einer
Ganzheitlichkeit. All dies sind seit dem Erwachsen einer Umweltmentalität
in den westlichen Industrieländern in den 1970er Jahren plausible Faktoren,
die Patienten von einem Heilvermögen der Chinesischen Medizin überzeugen. Dieses Heilvermögen mag sogar über die Heilung akuter körperlicher
Beschwerden hinaus gelten, da es auch der Seele, die an der Zerstörung der
Umwelt leidet, Alternativen aufzeigt.42
In China spielen solche Erwägungen momentan allerdings keine wahrnehmbare Rolle. Mit dem Aufbruch der Gesellschaft aus Jahrzehnten des
technologischen Rückstands bietet dort die moderne Westliche Medizin alle
Symbole einer verheißungsvollen Zukunft. Eine Umweltdebatte findet nicht
statt. Chemie und Technik in Diagnose und Therapie lösen keine Schrecken, sondern Hoffnung aus. Ganzheitlichkeit hat man im Sinne von Totalitarismus zur Genüge kennengelernt; Individualismus ist gefragt. Allen diesen Parametern entspricht die Westliche Medizin.
Demgegenüber haben die Konzepte der traditionellen Chinesischen Medizin ihre zwei Jahrtausende währende Plausibilität in China weitgehend verloren. Die Welt in yin und yang oder in die Kategorien der fünf Phasen
aufzuteilen, ist eine Denkweise, die jeder neuen Generation junger Chinesen
fremder und isolierter erscheint. Die vormalige Einbindung dieser Theorien
in das gesamte tägliche Leben ist längst aufgekündigt; moderne Wissenschaft und Technik bestimmen die Existenz. Der Höhenflug der dieser Wissenschaft und Technik verbundenen Westlichen Medizin in China ist daher
verständlich.
Schließlich sind auch die ganz banalen wirklichen oder zumindest wahrgenommenen Heilwirkungen der Heilsysteme in der Analyse des Patientenverhaltens in Betracht zu ziehen. Viele Menschen in Deutschland kennen
jemanden, der ein Negativerlebnis in einem schulmedizinischen Kontext
weitererzählt, sei es, daß es an Zuwendung fehlte oder daß die Therapie
schlicht versagte. Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine stete und ganz
pragmatische Suche nach »Alternativen«. Andererseits verbreiten sich auch
die Erfolgsmeldungen der Alternativen über Mundpropaganda ebenso wie
41 Eine ausgezeichnete Darstellung ist Nüchtern (1998). Vgl. auch Labisch (1995).
42 Unschuld (1997), S. 124.
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Paul U. Unschuld
über geschickt lancierte Pressemeldungen. Beide, Negativerlebnisse und Erfolgsmeldungen sind geeignet, das Patientenverhalten zu steuern und zwar
weitgehend unabhängig von statistischen oder naturwissenschaftlichen Wirknachweisen.
In China, wie in vielen anderen Ländern auch, haben sich bestimmte
Schemata des Patientenverhaltens durchgesetzt. Man weiß mittlerweile aus
Erfahrung, daß die Westliche Medizin bei akuten Krankheiten, bei Unfällen, bei chirurgischen Problemen etc. vorzuziehen ist, während manche
chronischen oder Minimalleiden besser mit traditionellen Eingriffen zu heilen sind. Hier werden dann auch die jeweils anfallenden Kosten in Betracht
gezogen.43
Schluß
Heilansprüche, so lautet die in diesem Beitrag aufgestellte These, leiten sich
in der Geschichte der Medizin grundsätzlich zunächst aus einer Gewißheit
der Überlegenheit eines heilkundlichen Ideensystems ab. Diejenigen Naturkundler, Naturwissenschaftler und Mediziner, die auf Grund verschiedener
denkbarer Anregungen zu der Überzeugung gelangt sind, daß ein ganz bestimmter theoretischer oder methodischer Ansatz in dem Bemühen, zu einem Verständnis des Wesens und dann auch der Therapie des Krankseins
zu gelangen, anderen Ansätzen überlegen ist, stellen einen Anspruch auf,
der in der Regel sogleich ein Ausschließlichkeitsanspruch ist. Die Gewißheit, mit der dieser Anspruch vorgetragen wird, muß auf den ersten Blick
überraschen, weil er dem Beweis überlegener klinischer Erfolge stets vorangeht. Der Primat der Ideen vor dem Beweis der Klinik ist dann nicht mehr
überraschend, wenn man die Genese der zugrundeliegenden Überzeugung
einer näheren Betrachtung unterzieht.
Die Realität der Verfügbarkeit unterschiedlicher Heilsysteme in ein und
derselben Bevölkerung sowie des Patientenverhaltens angesichts einer Vielfalt der Angebote regen bei näherem Hinsehen eine weite Bandbreite an
Fragestellungen an, deren Beantwortung nur dann befriedigend sein kann,
wenn man diese Verfügbarkeit und das Patientenverhalten selbst als historische Prozesse wahrnimmt, und wenn man die Faktoren, die diese Prozesse
steuern, auch vor dem jeweiligen historischen Hintergrund der beteiligten
Kulturen bewertet. Akzeptanz oder Zurückweisung eines heilkundlichen
Ideensystems und seiner therapeutischen Praktiken von Seiten der Patienten
sind offenbar nur teilweise von den Variablen beeinflußt, die die Heilansprüche oder gar Ausschließlichkeitsansprüche der Systemvertreter hervorrufen.
43 Gale (1975); Hsu (1992); Unschuld (1973).
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Medizin und Moral in der Syphilisbekämpfung 1
Lutz Sauerteig
Summary
Syhilis, Medicine and Morality
This paper analyzes the relation between sin, punishment and syphilis during the 19th and
20th centuries. Examination of preventive and therapeutic strategies for venereal infection
shows that the deep-rooted connection between conceptions of sin, punishment and venereal disease has lasted well into the 20th century.
Einleitung
Ist Syphilis eine gerechte Strafe für einen Verstoß gegen die herrschende
Sexualmoral, oder ist sie lediglich ein medizinisches Problem? In der sich
seit dem 19. Jahrhundert immer stärker naturwissenschaftlich ausrichtenden
Medizin haben moralische Deutungen keinen Raum mehr, so will es scheinen. Nicht mehr der gesamte Mensch, nicht mehr Leib und Seele sind
krank, sondern die Ursachen für Erkrankungen werden in spezifischen
Krankheitskeimen gesehen, werden immer tiefer im Körper angesiedelt, in
einzelnen Organen oder wie bei Virchows Zellularpathologie in den Zellen
gesucht und heute bis in die Gene hinein verfolgt. Die naturwissenschaftliche Medizin untersucht und behandelt Krankheiten rein wissenschaftlich
und damit wertfrei. Gesundheit wurde zu einem Ziel, das anzustreben keiner anderen Begründung mehr bedurfte. Alle früheren Nebenbedeutungen,
seien sie religiöser oder moralischer oder sonstiger Art, schienen verloren
gegangen zu sein. Jedoch, wie Alfons Labisch in seinem grundlegenden
Werk über Gesundheit und Medizin in der Neuzeit zeigt, Gesundheit kann
keinesfalls wertfrei bestimmt werden. Gesundheit ist immer wertbezogen. In
der naturwissenschaftlich begründeten Medizin wurde sie selbst zu einem
Wert.2
Im folgenden soll am Beispiel der Bekämpfung der Syphilis demonstriert
werden, welche Wertbezüge hier bis in das 20. Jahrhundert hinein wirksam
waren. Die Syphilis eignet sich insofern besonders gut dazu, Fragen von
Sünde, Schuld, Strafe und medizinischer Behandlung zu untersuchen, weil
Syphilis eine skandalisierte, auf das Engste mit sexuellem Verhalten verbundene Krankheit ist und infolgedessen stets stark mit expliziten Werthaltungen aufgeladen wurde. Bei der Syphilis handelt es sich um eine, wie man
seit der frühen Neuzeit weiß, ansteckende Krankheit und, wie man seit der
1
Für Kritik und Anregungen habe ich Karl-Heinz Leven und Thomas Schlich zu danken. Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag auf dem 42. Deutschen Historikertag in
Frankfurt am Main 1998, gehalten in der Sektion „Heilanspruch und Heilvermögen“.
2
Siehe Labisch (1992); vgl. auch Labischs Beitrag in diesem Band; DiGiacomo (1992);
Herzlich/Pierret (1991).
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiß, um eine von einem Erreger, dem
1905 isolierten Treponema pallidum, verursachte Infektionskrankheit. Bei
der Bekämpfung der Syphilis – wie natürlich bei anderen Krankheiten auch
– lassen sich grundsätzlich zwei Strategien je nach dem Zeitpunkt ihres
Eingreifens unterscheiden: Erstens solche, die auf die Verhütung zum Beispiel einer Ansteckung ausgerichtet sind, also präventive Strategien, und
zweitens solche, die auf die Heilung Erkrankter zielen, also therapeutische
Maßnahmen.
Prävention
Volksaufklärung und Gesundheitserziehung
Am deutlichsten kann die Vermittlung der unterschiedlichen Werthaltungen anhand der Gesundheitserziehung und -aufklärung gezeigt werden.3
Mit medizinischen Argumenten wollten Ärzte um 1900 die Bevölkerung zu
einem an bürgerlichen Moralvorstellungen orientierten Sexualverhalten erziehen. Dabei kam es den Ärzten in ihren Aufklärungskampagnen darauf
an, mit verschiedensten Mitteln Geschlechtskrankheiten und außerehelichen
Geschlechtsverkehr im Bewußtsein des Publikums untrennbar miteinander
zu verbinden. Dazu zeigten sie anhand von Moulagen, auf Schautafeln und
Dias sowie in Filmen die Symptome von Syphilis und Gonorrhö, beschrieben in Aufklärungsschriften, Vorträgen und Filmen die Infektionsmöglichkeiten und verdeutlichten durch statistische Hinweise die erhebliche Verbreitung der Geschlechtskrankheiten in der Bevölkerung. Auf diesem Weg
glaubte man, einen entsprechenden Abschreckungseffekt erzielen zu können. Besonders die Moulagen als dreidimensionale, originalgetreue Abformungen erkrankter Körperteile eigneten sich dazu, auf hyperrealistische
Weise den Zuschauern die Symptome der Geschlechtskrankheiten sinnlich
vor Augen zu führen.4 Der Realismus ging zum Teil so weit, daß an den
Moulagen nachträglich Augenbrauen oder Schamhaare eingesetzt wurden.
Ursprünglich waren die Moulagen für den Zweck der Ausbildung von Medizinstudierenden gedacht, denen auf diese Weise in einer Zeit vor der Fotografie Krankheitssymptome vorgestellt wurden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannten Ärzte, daß man die gleichen Moulagen jedoch auch
äußerst nützlich in der Gesundheitserziehung verwenden konnte. Anschaulicher und drastischer ließ sich dem Laienpublikum die Krankheitssymptomatik nicht verdeutlichen.5
3
Siehe Sauerteig: Krankheit (1999), S. 187-227.
4
Zu ihrer Herstellung wird vom erkrankten Körperteil ein Gipsabdruck und von diesem dann ein Wachsausguß angefertigt. Der Wachsausguß wird naturgetreu bemalt
und eventuell auch noch mit Haaren etc. versehen. Siehe Schnalke (1995); Jordanova
(1989), S. 45ff.
5
Sauerteig (1993).
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Medizin und Moral in der Syphilisbekämpfung
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Das solchermaßen geschockte Publikum sollte sich der Gefahren des außerehelichen Geschlechtsverkehrs bewußt werden. »Wir wollen ja abschrecken«, erklärte 1911 der Vorsitzende der 1902 gegründeten Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (im folgenden
DGBG), Albert Neisser, »wir wollen ja die Greuel und die Zerstörung, die
durch die Geschlechtskrankheiten angerichtet werden können, vorführen!«6
Die Abschreckungsstrategie zeigte bei den Ausstellungsbesuchern auch den
gewünschten Effekt. So berichtete ein katholischer Geistlicher in einer Düsseldorfer Tageszeitung über eine dortige Ausstellung von 1909:
Ein größerer Widerwille gegen sittliche Vergehungen kann einem nicht eingeflößt
werden, als durch die dortigen Darstellungen. Abschreckender können die Folgen der
Sünde am eigenen Leibe nicht dargestellt werden. Wer mit lüsternen Absichten hinging, wird mit heilsamen Schrecken wieder nach Hause gehen. Die Ausstellung ist eine Predigt, die jahrelangen Eindruck machen wird.7
Und über die Reaktionen der Besucher einer Ausstellung Ende 1911 in Breslau berichtete der dortige Zweigverein der DGBG:
Zahlreiche Besucher, der besten Gesellschaft angehörig, versichern, daß sie sich so
furchtbar doch nicht diese Krankheiten vorgestellt hätten [...]. Am interessantesten ist
es, die einzelnen bei Gelegenheit einer ärztlichen Führung zu beobachten, und man
kann in vielen Fällen an einem bleichen Gesicht dessen, der ständig aus dem Munde
des Vortragenden sein Todesurteil zu vernehmen fürchtet, denjenigen herausfinden,
dem ein schlechtes Gewissen oder eine alte, längst vergessene Sache nun angesichts
des erdrückenden Materials doch noch einmal Kopfschmerzen macht!8
Im Volksmund hieß schließlich der von dem Dresdner Dermatologen Eugen Galewsky für die DGBG auf der Ersten Internationalen HygieneAusstellung 1911 eingerichtete Pavillon über Geschlechtskrankheiten »Galewskys Schreckenskammer«.9
Nur sexuelle Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung sowie das Vermeiden
von übermäßigem Alkoholkonsum und den Sexualtrieb stimulierenden
Veranstaltungen und eine monogam geführte eheliche Beziehung böten, so
die Botschaft derartiger Ausstellungen, einen verläßlichen Schutz vor den
entsetzlichen Folgen der Geschlechtskrankheiten. Damit hatten die ärztlichen Gesundheitserzieher folgenreich das bürgerliche Ehe- und Familienideal mit medizinischen Handlungsanweisungen für eine gesundheitsgerechte Lebensführung verknüpft.
Allerdings begannen Ärzte während der 1920er Jahre zunehmend Kritik an
der Abschreckungsstrategie zu üben und ihre Wirksamkeit zu bezweifeln.
Der »Schreck«, so erklärte 1920 der Geschäftsführer der DGBG, Hermann
Röschmann, »soll und darf nicht die Hauptsache sein«. Statt dessen müsse
6
Neisser: Begrüßungsrede (1911), S. 75.
7
Zitiert nach MDGBG 7 (1909), S. 137.
8
Bericht (1911).
9
Siehe Scholz (1972), S. 55.
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Lutz Sauerteig
man in der Bevölkerung »Verständnis« für das Geschlechtskrankheitenproblem wecken.10 Zu sehr hatte sich während und seit dem Ersten Weltkrieg die Sexualmoral zu wandeln begonnen, und zwar besonders unter den
Heranwachsenden und Jugendlichen.11 Deutlich wird dies beispielsweise
anhand der Erfolge der Sexualreformbewegung, an den Auswirkungen der
Diskussion über Geburtenkontrolle und Abtreibung sowie an dem Streit
über die Einführung einer Sexualerziehung an den Schulen.12 Eine einzig
und allein auf die moralische Erziehung der Bevölkerung zu einem sexualmoralisch einwandfreien Sexualverhalten zielende Prävention schien zunehmend obsolet zu werden. Als alternative Strategie standen schon seit
längerem mit den relativ teuren Kondomen und den im Vergleich preiswerteren chemischen Desinfektionslösungen Schutzmittel zur Verfügung, die
eine Infektion als Folge eines Verstoßes gegen die erwünschten Normen
sexuellen Verhaltens verhindern konnten. Die Frage, ob die Öffentlichkeit
jedoch über Schutzmittel aufgeklärt werden dürfe, löste zu Beginn des 20.
Jahrhunderts einen heftigen Streit aus.13 In dieser Debatte will ich aus analytischen Gründen zwei Idealtypen unterscheiden, »Wert-« und »Zweckrationalität«, wobei ich mich an Max Webers Unterscheidung der Begriffsgründe sozialen Handelns orientiere.14
»Moralisten« versus »Pragmatiker«
Die eine Seite, die ich »Moralisten« nennen will, war in diesem Streit davon
überzeugt, daß es in erster Linie nur die Angst vor einer Infektion sei, die
viele Menschen von riskanten Sexualkontakten abhalte. Schutzmittel würden diese Angst beseitigen und verhindern, daß ein Verstoß gegen Moralnormen bestraft werde. In den Augen der Moralisten bedeutete die Verfügbarkeit von Schutzmitteln geradezu eine Einladung zum außerehelichen
Geschlechtsverkehr und damit zum Verstoß gegen die herrschenden bürgerlichen Normen. In der Propagierung von Schutzmitteln sahen die Moralisten daher eine fundamentale Bedrohung dieser Normen und folglich eine
Gefahr für die Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft. Die einzige moralisch zulässige Strategie zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten erkannten die Moralisten in einer wertrationalen Abwägung darin, vorehelichen Geschlechtsverkehr und Promiskuität zu beseitigen – zum Beispiel
durch ein Verbot der Prostitution oder eine Bestrafung des Ehebruchs –
10 Bundesarchiv Berlin, 15.01/11876, Bl. 100-102: Konferenz am 6.10.1920 in Bielefeld
über »Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, der Gewerbsunzucht und der Kriminalität durch soziale Maßnahmen«.Vortrag von Dr. Röschmann, S. 5.
11 Siehe Sauerteig: Sex (1998).
12 Siehe hierzu u.a. Sauerteig: Sex education (1999); Grossmann (1995); Usborne (1992);
dies. (1995).
13 Siehe Sauerteig (1995).
14 Siehe Weber (1976), S. 12f. Affektuelle und traditionale Verhaltensweisen spielen in
diesem Zusammenhang keine Rolle.
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Medizin und Moral in der Syphilisbekämpfung
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und die Bevölkerung zu sexueller Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit
vor der monogam geführten Ehe zu erziehen.
Die Gegenseite in diesem Streit, die ich als »Pragmatiker« bezeichnen will,
sah zwar ebenfalls in der Enthaltsamkeit den sichersten Schutz vor Geschlechtskrankheiten. Allerdings glaubten die Pragmatiker nicht, daß man
die Bevölkerung erfolgreich zu sexueller Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung vor der Ehe und Treue in der Ehe erziehen könne. Einige radikale
Pragmatiker (wie die Sexualwissenschaftler Max Marcuse, Magnus Hirschfeld oder Iwan Bloch) vertraten seit der Jahrhundertwende die Auffassung,
daß sexuelle Enthaltsamkeit über einen längeren Zeitraum gesundheitsschädlich sei und daher keinesfalls generell empfohlen werden dürfe.15 In
einer zweckrationalen Abwägung kamen die Pragmatiker daher zu der Entscheidung, die Öffentlichkeit umfassend über die zur Verfügung stehenden
Schutzmittel aufzuklären, um Schaden vom einzelnen wie auch von der
Familie, dem Staat und der »Rasse« abzuwenden.
Wenn jedoch in der Erkrankung eine Strafe für den Verstoß gegen religiös
oder sittlich begründete Normen gesehen wurde, konnten präventive Strategien mit dem Argument zurückgewiesen werden, daß sie diese Strafe verhinderten. So stellte Heinrich Krabbel, Geheimer Sanitätsrat und Oberarzt
für Chirurgie des städtischen Krankenhauses Aachen, auf einer Sitzung des
»Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege« 1913 die rhetorische
Frage: »Wohin soll es denn führen, wenn wir in unseren aufklärenden Vorträgen an Abiturienten, an Rekruten auf dieses Mittel aufmerksam machen,
wenn wir es ihnen leicht machen, den außerehelichen Geschlechtsverkehr
zu üben!« Statt auf Schutzmittel wollte sich der Chirurg Krabbel auf das
sittliche Erziehungsprogramm verlassen. »Mit allen Mitteln sollten wir dahin streben, die jungen Leute zu sittlich kräftigen Männern zu erziehen, die
der Leidenschaft und der Versuchung energisch Widerstand zu leisten imstande sind.«16 Der Münchner Arzt und Rassenhygieniker Max von Gruber
war in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zunächst noch davon überzeugt, daß Schutzmittel »in mächtigster Weise die Verbreitung der ›freien
Liebe‹« förderten, eine Entwicklung, die er aus rassenhygienischen Erwägungen für äußerst schädlich erachtete.17 Karl Touton, Dermatologe in
Wiesbaden, warnte in seinen Aufklärungsvorträgen, die er vor Abiturienten
des Wiesbadener Königlichen Gymnasiums hielt, ausdrücklich vor dem
Gebrauch von Schutzmitteln, denn auch er vertraute als Arzt mehr dem
»Appell an die Stärke des Willens der jungen Leute in Verbindung mit sexual-diätetischen Vorschlägen« als der »Stärke des Kondoms«.18
15 Siehe Sauerteig: Krankheit (1999), S. 264-280.
16 Krabbel (1914).
17 [Gruber] (1912).
18 Touton (1908/09), S. 121f.
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Lutz Sauerteig
Noch schärfer war die moralische Kritik der Sittlichkeitsbewegung: Der
Sittlichkeitsflügel innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung griff die Aufklärung der Öffentlichkeit über Schutzmittel als »Reklame für den Verkehr
mit Prostituierten« an.19 In den Augen der Abolitionistinnen, die aus sittlichen wie emanzipatorischen Gründen für die Aufhebung der staatlichen
Überwachung der Prostitution kämpften, verletzte jeder Hinweis auf
Schutzmittel »das gesamte Frauengeschlecht in seinem sittlichen Empfinden«.20 Die Abolitionistinnen vertraten die Auffassung, daß die Verbreitung
der Geschlechtskrankheiten nur durch die »Erziehung zur Selbstbeherrschung, zur sittlichen Verantwortung« erfolgreich bekämpft werden könnte
– eine Position, die auch von der »Konferenz der Deutschen Sittlichkeitsvereine« propagiert wurde. Ihrer beider Ziel war eine »aus höherer geschlechtlicher Reinheit geborene Gesundung des Gesamtorganismus unserer Gesellschaft«.21 Deshalb liefen die Sittlichkeitsvereine und die Abolitionistinnen auch Sturm gegen den Verkauf von Schutzmitteln in Automaten.
Der 1890 gegründete »Deutsche Sittlichkeitsbund vom Weißen Kreuz« –
einer der evangelischen Sittlichkeitsvereine, der sich besonders um männliche Jugendliche kümmerte – sah in den Schutzmittelautomaten eine »Gefahr in sittlicher, religiöser und nationaler Hinsicht«.22 Unter der Überschrift Gefahr der physischen und moralischen Verseuchung unseres Heeres griff
Katharina Scheven 1912 die Schutzmittelautomaten an. Sie verurteilte die
Aufstellung der Automaten als eine »offizielle Erziehung zur Schamlosigkeit«:
Der absoluteste moralische Bankerott, ein feiges Waffenstrecken gegenüber den niedrigsten Gelüsten ist für Tausende von jungen Männern die unausbleibliche Konsequenz dieser Maßregel. Kann dieser grenzenlose Schaden durch die Verhütung einer
Anzahl venerischer Infektionen gut gemacht werden? [...] Der physischen Verseuchung ist durch diese Praktiken kein Riegel vorgeschoben, die moralische aber ist damit systematisch in die Wege geleitet.23
Die erzkonservative Vorsitzende des Deutsch-evangelischen Frauenbundes,
Paula Mueller-Ortfried, argumentierte schließlich 1915 auf einer Sitzung des
Centralausschusses der Inneren Mission: »Wer Sünde tut, soll auch die Gefahren der Sünde tragen.«24 Für Mueller-Ortfried wie auch für andere Mo19 Eingabe der Vorsitzenden der Internationalen Abolitionistischen Föderation (1904).
20 Scheven (1902/03), S. 187. Zu den Abolitionistinnen siehe Sauerteig: Frauenemanzipation (1998).
21 Scheven (1902/03). Siehe Hagemann (1907), S. 13.
22 Bundesarchiv, Militärarchiv Freiburg, RM 31/970, Bl. 21-24: Eingabe des Deutschen
Sittlichkeitsbunds vom Weißen Kreuz an den preußischen Kriegsminister Josias v.
Heeringen, v. 8.11.1911. Zum Weißen Kreuz siehe Fout (1991/92), S. 409f.
23 Scheven (1912), S. 5.
24 Archiv des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, Berlin,
CA 94: Sitzung v. 9.11.1915, S. 47.
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Medizin und Moral in der Syphilisbekämpfung
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ralisten war also die Gesundheit sekundär, die Moral stand als Wert weit
darüber.
Sobald man jedoch die Geschlechtskrankheiten als eine gesundheitliche
Bedrohung für die Gesellschaft, den Staat oder die »Rasse« verstand, erhielt
die Prävention einen anderen Stellenwert: Sie konnte jetzt im gesundheitlichen Interesse der Allgemeinheit eingefordert werden. Alfred Blaschko, einer der führenden Fachärzte für Geschlechtskrankheiten in Deutschland
und Generalsekretär der DGBG, sah in der Aufklärung der Öffentlichkeit
über Schutzmittel die wichtigste Strategie zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Ein Verbot, auf Schutzmittel hinweisen zu dürfen, hielt er für
ein »Verbrechen an der Menschheit«.25 Der erwähnte Rassenhygieniker von
Gruber revidierte nach dem Ersten Weltkrieg seine ursprüngliche Position.
1919 forderte er im Reichsgesundheitsrat – dem wichtigsten gesundheitspolitischen Beratungsgremium der Reichsregierung —, daß alles zu unternehmen sei, »um den außerehelichen Geschlechtsverkehr soviel als möglich
hygienisch ungefährlich zu machen«. Denn »trotz der besten Belehrung«
erliege »selbst der Vernünftigste und Willenstärkste gelegentlich der Versuchung«.26 Der KPD-Abgeordnete Max Heydemann verlangte 1923 im
Reichstag, den freien Verkauf von Schutzmitteln gesetzlich zu gestatten und
begründete dies mit dem rassenhygienischen Argument, es sei »Aufgabe der
jetzigen Generation, alles zu tun, um die Nachkommenschaft vor den Einflüssen der heute verseuchten Bevölkerung zu schützen.«27
Der Verkauf von Kondomen
Das 1927 nach langen Debatten verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten liberalisierte schließlich die Aufklärung der Öffentlichkeit über Schutzmittel und deren Verkauf.28 Drogisten war es nunmehr
erlaubt, in ihren Schaufenstern auf Kondome hinzuweisen.29 Verschiedene
Kommunen, allen voran Berlin, stellten in öffentlichen Bedürfnisanstalten
Schutzmittelautomaten auf, in denen zum Teil Kondome, aber hauptsäch-
25 Blaschko (1912-1914), S. 139.
26 Bundesarchiv Berlin, 15.01/11875, Bl. 139-179.
27 364. Sitzung vom 13.6.1923, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des
Deutschen Reichstages Bd. 360, S. 11332B.
28 Siehe Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, vom 18.2.1927, in: Reichsgesetzblatt 1927/I, Nr. 9, S. 63, § 16/II. Damit wurde dem § 184,3 des Strafgesetzbuches die Bestimmung 3a) angefügt, nach der nur derjenige bestraft werden durfte,
der »in einer Sitte oder Anstand verletzenden Weise Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten dienen, öffentlich ankündigt, anpreist oder solche Mittel oder Gegenstände an einem dem Publikum zugänglichen Orte ausstellt.«
29 Siehe den Bericht in MDGBG 26 (1928), S. 117.
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Lutz Sauerteig
lich Desinfektionsmittel zu kaufen waren.30 1932 standen in Deutschland
ungefähr 300 Automaten für Desinfektionsmittel und Kondome in öffentlichen Toiletten, 130 in Dienststellen der Schutzpolizei und der Reichswehr
und etwa 1.000 in Toiletten von Cafés und Gaststätten sowie 250 in Bahnhofstoiletten.31 Und das Reichsministerium des Innern erklärte schließlich
1931 den Schutz vor Ansteckung zu einer nicht nur gesundheitlichen, sondern sittlichen Forderung:
Da der einer Infektion sich Aussetzende gleichzeitig unschuldige Menschen gefährdet,
wird man es auch als eine ethische Pflicht gegen Familie und Staat ansehen dürfen,
diese gefährdeten Personen durch die Möglichkeit einer ausreichenden Prophylaxe so
weit wie möglich zu schützen.32
Zu einer der wichtigsten Instanzen für die Popularisierung von Schutzmitteln innerhalb der männlichen Bevölkerung zählte im 20. Jahrhundert das
Militär. Erste Automaten für den Verkauf von Desinfektionsmitteln gab es
beispielsweise bereits 1911. Da hier Soldaten ihre Schutzmittel anonym bekommen konnten, wurden die Automaten rege in Anspruch genommen.
Wenn keine Automaten vorhanden waren, konnten die Soldaten Schutzmittel vom Sanitätspersonal in den Kasernen erhalten.33 Ebenfalls zur Popularisierung der Schutzmittel trug nach dem Ersten Weltkrieg die Sexualreformbewegung bei. Bereits vor Verabschiedung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten hatten Frauenverbände, Organisationen
der Arbeiterschaft und die Sexualreformbewegung sogenannte »Schutzmittelstellen« gegründet, in denen sie an ihre Mitglieder kostenlos Prophylaktika abgaben. Nichtmitglieder hatten hier zumindest die Gelegenheit, sehr
preiswert Schutzmittel kaufen zu können. Insgesamt gab es in der Weimarer
Republik etwa Tausend solcher Stellen. Schutzmittel wurden zudem von
den Sexual- und einigen der Eheberatungsstellen sowie nach Verabschiedung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten außerdem
von vielen der von den Krankenkassen unterhaltenen Ambulatorien verteilt.
Dort konnte man sich auch entsprechend beraten lassen.34
30 Siehe Geheimes Staatarchiv, Preußischer Kulturbesitz (im folgenden GStAPK), Rep
76, VIIIB/3828, Bl. 211-213: Bericht des Berliner Polizeipräsidenten an das preußische Ministerium für Volkswohlfahrt, vom 12.6.1928; zur Auseinandersetzung über
die Rechtmäßigkeit der Automaten siehe GStAPK, Rep 84a/869, Bl. 107ff.
31 Siehe Röschmann (1932), S. 177. Zu den in den öffentlichen Toiletten der Reichsbahn
aufgestellten Automaten siehe GStAPK, Rep 76, VIIIB/3828, Bl. 319: Deutsche
Reichsbahngesellschaft an preußisches Ministerium für Volkswohlfahrt, vom 22.11.
1928.
32 GStAPK, Rep 84a/869, Bl. 177-182: Reichsministerium des Innern an preußisches
Ministerium des Innern, vom 29.7.1931.
33 Siehe Sauerteig: Sex (1998).
34 Siehe Grossmann (1995), S. 31-35 u. 46-70; Usborne (1992), S. 102-133; Hagemann
(1990), S. 286-295; Soden (1988), S. 9-12 und 64-90; Lehfeldt (1932).
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Therapie
Salvarsan und die öffentliche Sittlichkeit
Daß bei der Krankheitsverhütung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bürgerliche Moralvorstellungen und Werturteile eine wesentliche Rolle spielten,
konnte gezeigt werden. Wie war das aber bei der ärztlichen Behandlung
von Syphiliskranken? In der bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Therapie bei Syphilis verwendeten die Ärzte in erster Linie
Quecksilber. Der entscheidende Umschwung in der Syphilistherapie kam
unter dem Regime eines neuen medizinischen Erklärungsmodells zustande,
der Bakteriologie. Sie verlangte den Nachweis eines spezifischen Erregers als
notwendige Ursache der Krankheit und forderte darauf basierend neue therapeutische Konzepte.35 »Syphilis« bezeichnete an der Wende vom 19. zum
20. Jahrhundert daher einen anderen Krankheitsbegriff als in den Jahrhunderten zuvor. Syphilis war mit der Entdeckung des Erregers – der Spirochaeta pallida, die später als Treponema erkannt wurde und daher jetzt
Treponema pallidum genannt wird – durch den Zoologen Fritz Schaudinn
und den Dermatologen Erich Hoffmann 1905 zur einer bakteriologisch
erklärbaren Krankheit geworden. Im darauffolgenden Jahr entwickelte August Paul Wassermann auf der Basis der Forschungen Albert Neissers und
Carl Brucks ein kompliziertes serologisches Nachweisverfahren, mit dem
Syphilis nun auch in ihrer Latenzphase mit allerdings nicht ganz eindeutiger Sicherheit diagnostiziert werden konnte.36
Das bakteriologische Krankheitskonzept erforderte auch ein neues therapeutisches Konzept. Dieses wurde kurz nach der Jahrhundertwende entwickelt:
Am 18. April 1910 verkündete Paul Ehrlich auf dem Kongreß für Innere
Medizin in Wiesbaden, mit der organischen Arsenverbindung 606, die er
Salvarsan – Heilarsen – nannte, die lang ersehnte »Zauberkugel« gegen den
Syphiliserreger gefunden zu haben.37 Sowohl die Fachwelt wie auch die
allgemeine Öffentlichkeit waren zunächst begeistert.38 Ehrlich wurde von
seinen medizinischen Fachkollegen als »Wohltäter der Menschheit« gepriesen.39 Die Presse überschlug sich in Lobeshymnen, und das Berliner Satireblatt Ulk dichtete 1910 unter der Überschrift »Salvarsan«:
An Götter glaubt kaum mehr ein Kind, / Verweht ist ihre Spur. /
Selbst die im Dienst der Venus sind, / Verlachen jetzt - Merkur!40
35 Siehe Schlich (1996); Gradmann (1994).
36 Siehe Löwy (1993); Fleck [1935] (1980), Kap. 3 und 4.
37 Siehe Ehrlich: Allgemeines [1910] (1957).
38 Zum folgenden ausführlicher Sauerteig (1996).
39 Neisser: Moderne Syphilistherapie (1911), S. 182.
40 Firmenarchiv Hoechst: Presseausschnittsammlung, Salvarsan Tageszeitungen. Bd. 2:
Ulk. Illustriertes Wochenblatt für Humor und Satire 39, Nr. 52, vom 30.12.1910.
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64
Lutz Sauerteig
Syphilis schien nunmehr rasch und problemlos behandelbar. Eine einzige
Salvarsaninjektion sollte genügen, um selbst in fortgeschrittenen Fällen Heilung zu bringen. In Ehrlichs chemotherapeutischem Behandlungskonzept
stand nicht mehr der gesamte Mensch im Blickpunkt, sondern allein der
krankheitsauslösende Erreger. Ihn wollte Ehrlich mit seiner Zauberkugel
Salvarsan bekämpfen. Wie der »Chirurg das Kranke vom Gesunden« trenne, so schrieb Ehrlich 1910, wollte er den Erreger radikal beseitigen, ohne
dabei jedoch den menschlichen Organismus zu beeinflussen oder gar zu
schädigen. Ehrlich nannte dieses neue therapeutische Konzept die »Therapia sterilisans magna«.41
Paul Ehrlich war sich der gesundheitspolitischen Bedeutung seiner Salvarsantherapie früh bewußt. Er stellte bereits 1910 fest, daß »jedes Mittel, welches uns auf dem Wege der schnellen Abtötung der Spirochäten vorwärts
bringt«, für die Allgemeinheit das »mächtigste Prophylaktikum« sei, »weil
es durch Abkürzung des infektiösen Stadiums des Erkrankten die Möglichkeit und Häufigkeit der Übertragung der Krankheit auf Gesunde in bisher
noch gar nicht zu berechnendem Maßstabe« vermindere.42 Feierten die einen Ehrlich als Retter der Menschheit von der Lustseuche, waren andere
skeptisch und besorgt. 1918 warnte beispielsweise der Zentrumsabgeordnete
Faßbender im preußischen Abgeordnetenhaus vor den negativen Auswirkungen der Salvarsanbehandlung auf die öffentliche Sittlichkeit. Wenn erst
einmal die Heilwirkung des neuen Medikaments allgemein bekannt sei,
würden, so bangte der Katholik Faßbender, viele Menschen sexuell noch
zügelloser leben, denn sie brauchten ja nunmehr eine mögliche Ansteckung
nicht mehr zu fürchten.43 Der Redakteur eines christlichen Blättchens aus
Stuttgart schrieb 1914 an die Farbwerke Hoechst, die das Salvarsan produzierten, daß die Syphilis ein »Strafmittel« sei, das nicht beseitigt werden dürfe: »Es soll der Sünde keine Hintertür aufgetan werden.«44 Ähnlich also wie
bei der Diskussion über Schutzmittel sorgten sich einige Moralisten, daß die
neue und im Vergleich zur früheren Quecksilberbehandlung rascher und
effizienter wirkende Syphilistherapie die Angst vor Ansteckung vermindern
und damit dem sittlichen Verfall der Gesellschaft Vorschub leisten würde.
Allerdings blieben die Moralisten im Diskurs über die Behandlung der Syphilis eine unbedeutende Randgruppe. Sobald es um die Syphilistherapie
ging, argumentierten die akademisch gebildeten Ärzte zu Beginn des 20.
Jahrhunderts auf der Basis ihres medizinisch-naturwissenschaftlichen
Krankheitskonzeptes pragmatisch, d. h., sie sahen die rasche Beseitigung
41 Ehrlich: Allgemeines [1910] (1957), S. 239. Siehe auch Ehrlich: Ansprache (1957), S.
49.
42 Ehrlich: Schlußbemerkungen (1910), S. 156f.
43 118. Sitzung v. 28.2.1918, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des
Preußischen Hauses der Abgeordneten, Sp. 7948.
44 Firmenarchiv Hoechst: Presseausschnittsammlung, Salvarsan Tageszeitungen. Bd. 5:
B. Mehmke, Redakteur des Christl. Hausfreunds, vom 10.9.1914.
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der Krankheitsursache, die Vernichtung des Krankheitserregers, und damit
die Heilung der Erkrankten als oberste Prämisse.
Die Behandlung Geschlechtskranker in Krankenhäusern
Während sich die medizinische Behandlung der Syphilis im 20. Jahrhundert ausschließlich auf die Bekämpfung des Krankheitserregers richtete,
wird der stigmatisierende Charakter der Geschlechtskrankheiten am Ort der
medizinischen Behandlung deutlich, nämlich im Krankenhaus. Die Behandlung von Syphilitikern fand oft in Krankenhäusern statt, deren Abteilungen für Geschlechtskranke bis ins 20. Jahrhundert hinein wie Gefängnisse wirkten.45 Die für Geschlechtskranke besonders restriktiven Krankenordnungen untersagten es ihnen beispielsweise in einzelnen Krankenhäusern,
im Garten spazierenzugehen oder Besuch zu empfangen. Von Geschlechtskranken wurde strengste Disziplin erwartet. Die Verpflegung für sie war
zum Teil schlechter als für andere Kranke. Die Abteilungen für Geschlechtskranke erschienen dem Berliner Venerologen Alfred Blaschko wie
Gefängniszellen: Die Fenster seien oft »undurchsichtig oder vergittert«.
Dadurch könne man kaum lüften. Die Abteilungen befänden sich »in der
Regel in den schlechtesten Teilen der Krankenhäuser« und seien »in unhygienischen Räumen untergebracht, welche zu dauerndem Aufenthalt von
Kranken völlig ungeeignet« seien.46 Der Direktor der Freiburger Hautklinik,
Eduard Jacobi, forderte Anfang 1905 von der medizinischen Fakultät dringend Mittel zur Sanierung seiner Klinik. Die Krankensäle seien dumpf und
stickig und so dunkel, daß er sich gezwungen sah, sich bei der Visite von
einem Krankenwärter mit der Petroleumlampe leuchten zu lassen.47
Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts kritisierten Ärzte diese die Geschlechtskranken stigmatisierenden Bedingungen in den Krankenhäusern.
Als man den führenden deutschen Venerologen, Albert Neisser, von Breslau an die Charité berufen wollte, lehnte Neisser den Ruf mit Hinweis auf
die untragbaren Zustände in der Abteilung für Geschlechtskranke ab. Die
Räume der Kranken seien, so schrieb Neisser 1890 an das preußische Kultusministerium,
nicht nur sehr schlecht, im Vergleich zu den Krankenzimmern moderner Kliniken
ganz unbrauchbar, sondern auch, besonders auf der Weiber-Abtheilung so unzureichend, dass die Betten auf den Corridoren stehen müssen. [...] Ein weiterer Übelstand ist die, zur Zeit noch bestehende ›Clausur‹ – diese Kranken kommen nie in freie
Luft – welches mir ebenso aus hygienischen Rücksichten, wie vom ärztlichen Stand-
45 Siehe Sauerteig: Krankheit (1999), S. 126-133.
46 Blaschko (1918-22), S. 412.
47 Siehe Leven (1990), S. 30. Aufgrund der katastrophalen Bedingungen hätten, so Jacobi, zunehmend Patienten die Aufnahme in seine Klinik abgelehnt.
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Lutz Sauerteig
punkt aus gleich verwerflich erscheint. Denn wir, die Ärzte, haben auch in den Gefangenen nur die Kranken zu sehen.48
Zwei Jahre später kam es zu dem aufsehenerregenden Boykott der Charité,
mit dem eine Verbesserung der Situation der Patienten erzwungen werden
sollte.49 Obgleich der Boykott der Charité erfolgreich war und zwischen
1897 und 1916 fast alle Abteilungen einen Neubau erhielten, verbesserte
sich insgesamt die Situation Geschlechtskranker in anderen Krankenhäusern nur langsam. Aber spätestens der Charité-Streik hatte eine Diskussion
ausgelöst, wie man mit Langzeitpatienten und -patientinnen, zu denen die
Geschlechtskranken gehörten, umgehen sollte. Ziel der Kritik war es, die
Krankenhausabteilungen für Geschlechtskranke so zu reformieren, daß sich
möglichst viele Geschlechtskranke freiwillig im Krankenhaus behandeln
ließen. Zum einen wurden dafür medizinische Gründe angeführt, zum anderen war die Behandlung Geschlechtskranker im Krankenhaus leichter zu
überwachen, und es war einfacher, zu verhindern, daß sie weiterhin Sexualkontakte pflegten. Beide Aspekte – die Verbesserung der Behandlung und
die Intensivierung der Überwachung Geschlechtskranker – waren in dieser
Diskussion untrennbar miteinander verbunden.
Ergebnisse
Als Ergebnis kann festgehalten werden: Die Verknüpfung von Krankheit
mit Sünde und Strafe hat bis ins 20. Jahrhundert hinein Bestand. Während
die Bakteriologie mit ihrer Definition von Krankheitserregern dazu beitrug,
die Syphilis als ein medizinisches Problem zu erkennen, das mit einem medizinisch-naturwissenschaftlich fundierten Behandlungskonzept und mittels
Präventivstrategien zu lösen war, wurde diese medizinisch-pragmatische
Herangehensweise von den Moralisten als Bedrohung für die geistigseelische Läuterung des Menschen begriffen. Die Moralisten sahen in einer
rein nach medizinischen Kriterien ausgerichteten pragmatischen Krankheitsbekämpfung eine Förderung der Unsittlichkeit und damit eine Gefahr
für die bestehende bürgerliche Ordnung. Daß dies auch heute noch so sein
kann, zeigen etwa Reaktionen in der Aids-Diskussion.50 So betonten beispielsweise Hämophilie-Kranke (Bluter), daß sie die »unschuldigen Opfer«
der neuen Seuche seien und implizierten damit, daß diejenigen, die sich
Aids durch den Gebrauch von unreinen Spritzen oder durch riskante Sexualpraktiken zuzogen, schuldige Opfer sind.51 Während die einen, in diesem
Fall die Bluter, im Rahmen ihrer Therapie mit einer tödlich verlaufenden
48 Brief Albert Neissers vom 2.9.1890, zitiert nach Stürzbecher/Wagner (1962), S. 17-27,
hier S. 23f.
49 Siehe Sauerteig: Krankheit (1999), S. 129-132.
50 Siehe Jones (1991/92).
51 Siehe Interview mit dem HIV-infizierten Bluter Karl Caspari, »Ein Kartell des
Schweigens«, in: Der Spiegel Nr. 25, v. 15.6.1992, S. 186-194, S. 189.
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Krankheit angesteckt wurden, zogen sich die anderen diese Krankheit durch
ihr eigenes Verhalten selbst zu. Eine ähnliche Unterscheidung trafen übrigens auch die Zeitgenossen um 1900 bei der Syphilis. Hier waren die »unschuldigen« Opfer die von ihren untreuen Männern angesteckten Ehefrauen
und die noch vor der Geburt im Mutterleib infizierten Kinder.
Aber die Moral ist, wie anhand der Gesundheitserziehung gezeigt werden
konnte, auf eine andere Art und Weise auch in der naturwissenschaftlich
fundierten Medizin präsent. Zwar entlastete das bakteriologische Krankheitskonzept das Individuum von dem strafenden Aspekt der Krankheit,
denn die Normen, an denen sich die Bevölkerung zu orientieren hatte, waren nicht mehr religiös begründet. Statt dessen sollte sich die Bevölkerung
nunmehr an eine durch Ärzte medizinisch-wissenschaftlich definierte gesundheitsgerechte Lebensweise halten. Den Begründungszusammenhang
bildeten nicht mehr die Sexualmoral oder andere religiös begründete Normen, sondern die Gesundheit des einzelnen wie die der Gemeinschaft als
Wert an sich. Wer diesen Normen nicht folgen wollte, wer weiterhin riskante Sexualkontakte hatte, ohne Prophylaktika zu verwenden, oder, um ein
anderes Beispiel aus der Gegenwart zu nennen, wer raucht, zu viel fettreiche
Nahrung zu sich nimmt oder zu wenig Sport treibt, ist selbst Schuld an seiner Geschlechtskrankheit bzw. an seiner Krebserkrankung oder seinem
Herzinfarkt.52 Verantwortung für das eigene Handeln wurde und wird also
gleichgesetzt mit dem Schuldigsein aufgrund eines Verstoßes gegen gesellschaftliche Normen - seien diese nun religiös, sittlich oder gesundheitlich
begründet.
52 Siehe DiGiacomo (1992), S. 118-122; Herzlich/Pierret (1991), S. 193f.
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Lutz Sauerteig
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Behandlung ohne Heilung. Zur sozialen Konstruktion des
Behandlungserfolgs bei Tuberkulose im frühen 20. Jahrhundert1
Flurin Condrau
Summary
Concepts of Success in the Treatment of Tuberculosis in the Early 20th Century
This paper deals with the social construction of medical success in various therapies used
to treat tuberculosis during the first half of the 20th Century. The three main therapies discussed - Tuberculin treatment, sanatorium therapy and chest surgery - show distinctly
different success patterns. For example, the success of sanatorium treatment was evaluated
differently during and after treatment: during treatment, quantifiable data such as weight
and body temperature were seen as indicators of health. After discharge, however, success
was defined as long-term survival. On the other hand, when chest surgery was used, success meant simply that patient was able to survive the surgery itself - long-term effects and
patient’s survival after discharge were not addressed. Such comparisons illustrate that the
definition of medical success rested as much on the dismissal of negative data as on positive empirical results.
Einleitung
Galt die Tuberkulose bis vor 10 Jahren als relativ leicht heilbar, sind die
Überlebenschancen der Patienten in letzter Zeit in Folge der sich rasch ausbreitenden Antibiotika-Resistenz der Erreger dramatisch gesunken. Zunächst waren es vor allem die Ausmaße der neuen Tuberkulose-Pandemie
in den Ländern der Dritten Welt und in einigen Großstädten Nordamerikas
und Europas, die für Aufsehen sorgten.2 In jüngster Vergangenheit stellen
allerdings die hoch virulenten und mit üblichen Antibiotika nicht mehr
kontrollierbaren Erregerstämme den medizinischen Erfolg bei der Behandlung der Tuberkulose grundsätzlich in Frage und unterstreichen die Bedeutung der Epidemiologie dieser Krankheit zur Erklärung ihrer Ausbreitung.3
Nicht nur die Kosten der Behandlung nehmen exorbitant zu, immer öfter
können auch alle Anstrengungen der behandelnden Ärzte den Tod des Patienten nicht verhindern, was auf einen fundamentalen Wandel in der medizinischen Einschätzung der Tuberkulose hinweist. Die Suche nach therapeutischen Alternativen bringt die Medizin sogar zur vergessen geglaubten
Lungenchirurgie zurück, und selbst der Rückgriff auf die Ideen der Anstaltsbehandlung der Tuberkulose, denen seit den Erfolgen der Antibiotika
1
Ich danke Hans Rieder, Barbara Schmucki, Reinhard Spree, Michael Worboys sowie
den Teilnehmern der Sektion am 42. Deutschen Historikertag in Frankfurt/Main für
wertvolle Hinweise.
2
Sudre/Dam/Köchli (1992); Bloom/Murray (1992).
3
Rieder (1999).
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Flurin Condrau
nur noch anekdotischer Wert zugeschrieben wurde, ist angesichts der jüngeren Entwicklungen nicht mehr fern.4
Die Geschichte der Tuberkulosetherapie des 20. Jahrhunderts stand bisher
ganz im Zeichen der klassischen Erfolgsdarstellung der nach dem Zweiten
Weltkrieg eingeführten Antibiotika.5 Seit dem Nachweis der rasch möglichen Behandlungserfolge durch diese neuen Therapeutika wurde die Hochphase der pharmakologischen Krankheitsbehandlung eingeläutet, und die
Tuberkulose geriet – zumindest in den westlichen Industrienationen – rasch
in Vergessenheit. Die Erinnerungen wichtiger Protagonisten der bakteriologischen Forschung stellten den Einsatz der modernen medikamentösen Behandlung als einzigartigen Erfolg der modernen Medizin dar und sprachen
sogar vom »Sieg über die Tuberkulose«.6 Der aus gegenwärtiger Sicht kurzfristige Erfolg der Tuberkulosebekämpfung führte zwar zwischen 1960 und
1985 zum nahezu vollständigen Verschwinden der Tuberkulose aus den
westlichen Industrienationen, wurde aber um den Preis der aktuellen Probleme erkauft. Damit stellt der Zusammenhang von Antibiotika-Therapie
und der nichtintendierten Entstehung resistenter Erregerstämme ein perfektes Beispiel für reflexive Modernisierung im Bereich der Medizin dar, denn
die Definition des Behandlungserfolgs dachte die langfristigen Folgen der
Behandlung nicht mit.7
Die Frage nach dem Behandlungserfolg medizinischer Maßnahmen ist
schwierig zu beantworten, weil nicht leicht zu bestimmen ist, wer diesen
Erfolg zu beurteilen hat. Bekanntlich führt die asymmetrische Information
zwischen Arzt und Patient dazu, daß der Arzt seinen Erfolg letztlich selbst
beurteilt.8 Schwieriger wird es darüber hinaus bei der Frage, wie lange die
Heilung anhält, weil es für den einzelnen Arzt unmöglich ist, den Erfolg
über einen längeren Zeitraum zu überprüfen. Tatsächlich lehrt gerade die
Geschichte, daß ärztliches Handeln einen experimentellen Charakter aufweist, zumal zwischen dem oft formulierten Heilanspruch und dem tatsächlich realisierten Heilvermögen der Ärzte in Vergangenheit und Gegenwart
oft ein erheblicher Widerspruch besteht. Die Grundthese des vorliegenden
4
Zur Lungenchirurgie vgl. Belkin (1999); die Anstaltsbehandlung der Tuberkulose wird
vor allem aufgrund der fehlenden »Medikamentendisziplin« wieder diskutiert, denn
vorzeitig abgebrochene Antibiotika-Kuren gelten als Haupterklärung für die Entstehung und Verbreitung multipel resistenter Erregerstämme. Vgl. dazu Miller (1999);
Lerner (1993).
5
Wie marktgängig und gleichzeitig unreflektiert die wissenschaftliche Erforschung der
Antibiotika noch bis vor kurzem dargestellt werden konnte, zeigt ein Werk des wissenschaftlichen Bestsellerautors Ryan (1992).
6
Waksman (1964); Myers (1977).
7
Vgl. zur Definition des Begriffs Beck (1993), S. 36f.; der von der DFG geförderte Sonderforschungsbereich Nr. 536 »Reflexive Modernisierung« enthält leider kein medizinisches oder medizinhistorisches Teilprojekt.
8
Arrow (1963); Phelps (1992), S. 281-286.
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Behandlung ohne Heilung
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Beitrages lautet deshalb, daß die ärztliche Behandlung der Tuberkulose
nicht zu einem objektiv vorher bestimmten Erfolg führte, sondern daß medizinischer Erfolg erst nach der Formulierung historisch durchaus wandelbarer Kriterien bestimmbar wurde.
Der Begriff des ärztlichen Kunstfehlers, der sich seit einiger Zeit verbreitet
hat, trägt nicht zur Klärung des Sachverhaltes bei, weil er an der Fiktion des
eigentlich möglichen perfekten ärztlichen Handelns festhält.9 Vielmehr ist
bei aller Rationalität der Diagnose- und Behandlungsmethoden die Unsicherheit über den eintretenden Behandlungserfolg eine strukturelle Komponente der Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Begriff der sozialen
Konstruktion des Erfolgs bezieht sich damit auf einen zentralen Bestandteil
moderner ärztlicher Tätigkeit, die nicht nur erhebliche Unsicherheiten und
Informationsprobleme aufweist, sondern darüber hinaus von einem kommunikativen Prozeß geprägt wird, in dessen Verlauf erst definiert wird, was
genau als Erfolg einer jeweiligen Behandlung anzusehen ist.10 Kompliziert
wird die Analyse dieses Vorgangs, weil die Erlangung der professionellen
Autonomie auch und gerade hinsichtlich des Diagnose- und Behandlungserfolgs einen zentralen Bestandteil des ärztlichen Professionalisierungsprozesses im 19. und frühen 20. Jahrhundert darstellte.11 Die (Sozial-)Geschichte der Medizin hat sich bisher allerdings selten mit dem ärztlichen
Erfolg in der Tuberkulosebekämpfung auseinandergesetzt. Diejenigen Beiträge, die das Hauptmotiv des ärztlichen Tuns bis zur Einführung der Antibiotika primär in der Disziplinierung sehen und die Tuberkulose während
des Untersuchungszeitraums für unheilbar halten, übersehen ex negativo
die historische Gebundenheit des Erfolgsbegriffs.12 Das gilt ebenso für die
Autoren, die an der Vorstellung des linear verlaufenden Fortschritts in der
Medizin festhalten.13
Ausgangspunkt der Beschäftigung mit der relativen Bedeutung des ärztlichen Erfolgs waren die Arbeiten von Thomas McKeown. Er argumentierte,
daß der englische Sterblichkeitsrückgang des 18. und 19. Jahrhunderts nicht
auf medizinischen Erfolg zurückzuführen sei, da erfolgreiche medizinische
Therapien der wichtigsten Krankheiten historisch kaum nachweisbar seien.14 Gegenargumente, wie sie etwa von Simon Szreter formuliert wurden,
haben sich immer auf das entstehende öffentliche Gesundheitswesen gestützt und die Frage des Erfolgs einzelner ärztlicher Maßnahmen und Be-
9
Krähe (1984).
10 Vgl. dazu Jordanova (1995).
11 Spree: Impact (1980); Huerkamp (1985).
12 Gorsboth/Wagner (1988); Worboys (1992).
13 Koelbing (1985); Wilson (1990).
14 McKeown/Brown (1955); McKeown/Record (1962).
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Flurin Condrau
handlungen weitgehend ausgeklammert.15 Die meßbaren Auswirkungen des
entstehenden Gesundheitswesens auf die Volksgesundheit wurden von
Reinhard Spree jedenfalls als vergleichsweise bescheiden geschätzt.16 Evident ist hingegen, daß die ärztlichen Konzepte des Gesundheitswesens des
19. Jahrhunderts, etwa in der Seuchenbekämpfung und der Stadthygiene,
stark zeitgeprägt waren.17 Ähnliche Züge weist auch die Tuberkulosebekämpfung des frühen 20. Jahrhunderts auf, die mittlerweile für Deutschland, Frankreich, Großbritannien und andere Länder untersucht wurde.18
Zwar liegen auch erste Beiträge zur Entwicklung der Diagnose sowie einzelne Fallstudien, etwa zum Debakel um Kochs Tuberkulin, vor. Untersuchungen über die historische Bedingtheit des ärztlichen Handelns stellen
jedoch nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar.19
Als wichtigste Todesursache des Erwachsenenalters war die Tuberkulose die
»skandalisierte« Krankheit (Alfons Labisch) der Hochindustrialisierungsphase. Gleichzeitig galt sie aber als praktisch unheilbar, was dazu führte,
daß relativ wenig wissenschaftlich begründete, dafür um so mehr praktisch
fundierte Therapieversuche unternommen wurden. Die Tuberkulose stellt
demnach auch ein Beispiel für den Gegensatz zwischen akademischwissenschaftlichen Wissensbeständen und empirisch erreichtem Erfahrungswissen in der Medizin dar. Die Beschäftigung mit relativ wirkungslosen Verfahren verdeutlicht die verschiedenen Stadien der Erfolgskontrolle,
mit denen Ärzte und die Gesundheitspolitik immer wieder versuchten, bestimmte Therapien zu begründen oder zu verwerfen. Denn gerade da, wo
die Krankheit nicht geheilt wurde, haben die Ärzte die verschiedensten
Ausweichmanöver vorgenommen, um sich und anderen die ärztliche
Hilflosigkeit gegenüber der Tuberkulose nicht eingestehen zu müssen. Im
folgenden werden deshalb anhand der wichtigsten Formen der Behandlung
der Tuberkulose während des frühen 20. Jahrhunderts die zugehörigen Erfolgsbegriffe analysiert, die jeweils in engem Zusammenhang zum gewählten Behandlungsverfahren definiert wurden. Die Ausführungen sollen zeigen, daß medizinischer Erfolg keine historisch feststehende Größe war,
sondern nur im historischen Kontext der Behandlungsverfahren und der
beteiligten sozialen Gruppen verstanden werden kann.
15 Szreter (1988).
16 Spree: Zur Bedeutung des Gesundheitswesens (1980).
17 Witzler (1995); Labisch/Vögele (1997).
18 Condrau (2000).
19 Lachmund (1997); Pasveer (1992); Lerner (1992); Elkeles (1990); Opitz/Horn (1984);
Gradmann (1999); Burke (1993).
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Behandlung ohne Heilung
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Heilanspruch und Heilerfolg der Behandlung
Die systematische Behandlung breiter Volksschichten durch akademisch
ausgebildete Ärzte setzte sich in Deutschland und den übrigen Industrieländern im Laufe des 19. Jahrhunderts durch und löste ein komplexes System
von Laien- und Erfahrungsmedizin ab. Kennzeichnend für diesen Prozeß
war die Tatsache, daß sich die Krankenhausmedizin zunächst den nicht
lebensbedrohenden Bagatellkrankheiten zugewandt hat.20 Sieht man von
der Entdeckung und Verbreitung der Pockenschutzimpfung sowie den hygienischen Verbesserungen der chirurgischen Behandlungsmethoden einmal ab, setzte die systematische Behandlung der schwerwiegenderen
Krankheiten erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein, was auch für die
Tuberkulose und ihre Behandlung zutrifft.
Die lange Zurückhaltung der Medizin hinsichtlich der Tuberkulose findet
im System der medizinischen Versorgung ihre Begründung, das sich im
ambulanten Bereich auf Patienten der Mittel- und Oberschichten konzentrierte und sich im modernen Krankenhaus vorwiegend mit heilbaren
Krankheiten auseinandersetzte.21 Als chronische und primär in den sozialen
Unterschichten auftretende Krankheit war die Tuberkulose die Haupttodesursache des Erwachsenenalters und damit ein entscheidender Faktor für die
Sterblichkeitsentwicklung. Allerdings blieb die Tuberkulose für die Medizin
des 19. Jahrhunderts ein schwieriges und letztlich unattraktives Feld, denn
der oft mehrere Jahre dauernden Behandlungsdauer standen geringe Heilerfolgschancen gegenüber.22 Folgerichtig bezogen sich die wichtigsten Entwicklungen der Tuberkulosemedizin zunächst auf die Krankheitserklärung.
Leopold Auenbruggers Begründung der klinischen Diagnostik sowie die
Erfindung des Stethoskops durch René Théophile Hyacinthe Laennec um
1820 begründeten bis in die 1920er Jahre das einzige, für den Allgemeinpraktiker ohne weitere technische Hilfsmittel durchführbare Diagnoseverfahren und blieben bis in die jüngste Vergangenheit von herausragender
Bedeutung.23 Ferner leitete Jean-Antoine Villemin mit seinen Experimenten
zur Übertragbarkeit der Tuberkulose in den 1860er Jahren die bakteriologische Wende ein, deren Höhepunkt mit der Entdeckung des Mycobacterium
Tuberculosis durch Robert Koch im Jahre 1882 erreicht wurde.24 Wie bedeutsam diese Errungenschaften für die Wissenschaftsgeschichte der Tuberkulose auch sein mögen, sie spitzten die mißliche Lage der praktizierenden
Ärzte weiter zu. Denn es öffnete sich dadurch eine Schere zwischen Diagnose und Therapie, die seither für viele Bereiche der modernen Medizin cha20 Labisch/Spree (1997).
21 Spree (1996).
22 Koelbing (1985), S. 147.
23 Auenbrugger [1761] (1922); Laennec (1822).
24 Singer/Underwood (1962), 396f.; Villemin (1868); vgl. auch Waksman (1964); Myers
(1977).
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
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und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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rakteristisch geworden ist. Während nun die Tuberkulose immer öfter und
auch genauer diagnostiziert werden konnte, war damit kein Durchbruch in
der Behandlungsfähigkeit der Krankheit verbunden.25
Das Scheitern der bakteriologischen Wende
So paradox der Befund zunächst klingen mag, aber die bakteriologische
Wende in der Medizin beschränkte sich seit den Entdeckungen Louis Pasteurs und Robert Kochs auf Diagnostik und Ätiologie, ohne daß daraus bis
zum Zweiten Weltkrieg sichtbar nützliche Folgen für die Therapie der Tuberkulose erwuchsen. Tatsächlich blieben die aufwendigen Forschungsarbeiten im Kampf gegen die Tuberkulose für den Patienten weitgehend wirkungslos, denn sie dienten vor allem der wissenschaftlichen Begründung
der Infektionsprophylaxe, die zum Grundkonzept der Tuberkulosebekämpfung wurde, was aber dem Kranken erst einmal nichts nützte.26 Auch die
BCG-Schutzimpfung gegen Tuberkulose, die von den französischen Ärzten
Albert Calmette und Camille Guérin zwischen 1908 und 1915/16 entwickelt wurde, setzte sich außerhalb Frankreichs nicht flächendeckend
durch.27 Das wichtigste Moment des Scheiterns der bakteriologischen Wende war aber das Heilmittel, das von Koch in einem an Andeutungen und
Vermutungen reichen Vortrag »Über bakteriologische Forschung« vorgestellt wurde, das Tuberkulin. An ihm läßt sich die Wirkungslosigkeit der
kausalen Therapieversuche im späten 19. Jahrhundert sowie die ganze
Problematik nichtintendierter Handlungsfolgen medizinischer Behandlungen zeigen.
Pilgerscharen von Tuberkulosekranken strömten damals nach Berlin, um
sich von Koch und den wenigen von ihm auserwählten Ärzten mit dem
neuen Heilmittel behandeln zu lassen. Reiche Tuberkulosepatienten aus
aller Welt boten enorme Summen in der Hoffnung auf Heilung durch Tuberkulin, und Koch selbst führte harte Auseinandersetzungen in der Vermarktung des Mittels.28 Kritiker warfen ihm und den behandelnden Ärzten
jedoch bald vor, die Patienten zu »Spritznummern« zu degradieren. Nicht
wenige sollen an den Folgen des Tuberkulins sogar gestorben sein, da das
Mittel den Krankheitsverlauf der Tuberkulose auch beschleunigen konnte.
Die enormen Erwartungen und die kurz darauf folgende Enttäuschung, die
das Tuberkulin erzeugt hatte, waren aufgrund des großen Prestiges von
Koch und der auch nationalistische Züge tragenden Heilserwartung gegenüber der Bakteriologie von neuer Qualität. Nach dem Siegeszug der innovativen medizinischen Wissenschaft erwartete die Öffentlichkeit allgemein
25 Zur Entwicklung der Diagnose und ihrer Zuverlässigkeit vgl. Hardy (1994).
26 Göckenjahn (1985), S. 49-59.
27 Bryder (1999); Feldberg (1995), S. 125-137; Guillaume (1986), S. 117-119.
28 Vgl. die in Anmerkung 20 angegebene Literatur sowie: Gradmann (o. J.); Brompton
Hospital (1891).
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auch einen Durchbruch in der bakteriologischen Therapie der Tuberkulose
und neigte dazu, Kochs Ankündigungen zu überschätzen. Allerdings mangelte es offensichtlich an der empirischen Überprüfung der Wirkung des
Tuberkulins, denn Koch hatte seine Präsentationen auf einige wenige Tierversuche gestützt. Die erste Welle der praktischen Behandlung fand sodann
ohne vorhergehende klinische Prüfung statt. Nach den frühen euphorischen
Reaktionen auf das Geheimmittel, dessen Zusammensetzung Koch nicht
verraten wollte, wurde die bald einsetzende klinische Überprüfung zum
Prototyp für den modernen Umgang mit neuen Heilmitteln. Entscheidend
für die umfangreichen empirischen Studien in verschiedenen Kliniken des
In- und Auslands war dabei, daß der Krankheitsverlauf in den ohne Tuberkulin behandelten Kontrollgruppen keinesfalls schlechter war, was nebst
den zahlreichen Komplikationen der mit Tuberkulin behandelten Patienten
die therapeutische Nutzlosigkeit und auch die Gefahren des vermeintlichen
Heilmittels hinreichend nachwies.29 Koch, späterer Nobelpreisträger und
damaliger Star der deutschen Bakteriologie, war allerdings zeitlebens nicht
von der Wirkungslosigkeit seines Mittels zu überzeugen. Gleichwohl stellte
die überwiegende Mehrheit der deutschen Experten – aus Rücksichtnahme
üblicherweise rhetorisch verklausuliert – fest, daß in ihren Kliniken und an
ihrem »Patientenmaterial« das Tuberkulin nichts brachte.30 Zum Glück für
Koch und seinen Ruf konnte alsbald wenigstens verkündet werden, daß mit
dem Tuberkulin ein bahnbrechendes bakteriologisches Diagnoseinstrument
zur Verfügung stand. Tatsächlich machte der in der Folgezeit eingeführte
Tuberkulintest im Gegensatz zur alten klinischen Diagnose durch Perkussion und Auskultation schnelle, einfache und kostengünstige Untersuchungen
einer Vielzahl von Fällen möglich.31
Übrigens hielt der schließlich nachgewiesene Mißerfolg des Tuberkulins
manche Ärzte nicht davon ab, das Mittel dennoch in der Behandlung einzusetzen. Bekannt geworden ist hierbei vor allem der in London tätige Arzt
Camac Wilkinson, der 1910 eine private Wohlfahrtsorganisation gründete,
die spezielle Fürsorgestellen zur ambulanten Vergabe von Tuberkulin aufbaute. Er hielt im Gegensatz zur englischen Schulmedizin die Tuberkulintherapie für die rationellste Behandlungsmethode für die Arbeiterklasse,
weil die Sanatoriumstherapie auch keine besseren Erfolge hätte, aber doch
entschieden mehr kosten würde.32 Dieses Detail der Tuberkulin-Geschichte
zeigt, wie sehr sich die Ärzteschaft ein Heilmittel gegen diese Krankheit
29 Guttstadt (Hg.) (1891).
30 Vgl. die gelegentlich etwas hämische Berichterstattung bei: Dettweiler (1891).
31 Edwards/Edwards (1960).
32 Wilkinson (1911). Natürlich war das unter englischen Ärzten äußerst umstritten. Die
National Association for the Prevention of Tuberculosis und mit ihr die führenden
Tuberkuloseärzte des Landes lehnten jedenfalls Wilkinson und seine Liga rigoros ab.
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wünschte. Dabei war nicht entscheidend, ob sich langfristig ein Erfolg einstellte, sondern daß kurzfristig überhaupt etwas getan werden konnte.
Anstaltsbehandlung der Tuberkulose
Der Mißerfolg des Tuberkulins führte zu einer grundsätzlichen Neuorientierung in der Tuberkulosemedizin, weil klar wurde, daß so bald nicht mit
einem kausal wirkenden Heilmittel zu rechnen sei. Für die Vertreter der
Anstaltstherapie bei Tuberkulose wie Hermann Brehmer oder Peter Dettweiler stellte der Mißerfolg des Tuberkulins letztlich einen Glücksfall dar.
Tatsächlich hatte die Bekanntgabe Kochs sämtliche Bemühungen um Ausweitung der bereits seit den 1850er Jahren bekannten Lungenheilanstalten
sofort auf Eis gelegt. Durch den ebenso überraschenden Mißerfolg war man
aber auf der Suche nach einer erfolgversprechenden Behandlung bald wieder bei der unspezifischen Anstaltsbehandlung angekommen, denn bereits
in den 1850er Jahren hatte der wissenschaftliche Außenseiter Brehmer in
seiner kaum zur Kenntnis genommenen Dissertation im Anschluß an den
Wiener Pathologen Karl von Rokitansky die generelle Heilbarkeit der Tuberkulose in einem frühen Stadium postuliert.33 Ein Chronist der Heilstättenbewegung konnte kurz nach dem Tuberkulin-Skandal bilanzieren: »Gar
bald finden wir die alten Vorkämpfer wieder in eifriger Tätigkeit, und hier
und dort erwachsen der Heilstättensache neue Anhänger.«34 Dettweiler
selbst, der erfolgreichste deutsche Pionier der Frischluftliegekur gegen Tuberkulose, beteiligte sich in seiner Anstalt an den ausführlichen Tests des
Tuberkulins und stellte daraufhin fest:
Leider erscheint mir persönlich die Aussicht, daß die bacilläre Lungenschwindsucht,
diese complexeste aller Krankheiten, jemals durch ein bestimmtes Mittel geheilt wird,
als eine geringe!35
Erst der Mißerfolg der spezifischen Behandlung machte die folgende beispiellose Entwicklung möglich, die in Deutschland und anderswo die unspezifische Behandlung in den Lungenheilanstalten mit der innovativen
Bereitstellung von Mitteln aus den Sozialversicherungssystemen zur Behandlung der Tuberkulose verband.36 Die Behandlung basierte in Deutschland auf dem Prinzip der Selbstheilung durch kräftigende Nahrung und
möglichst häufigen Aufenthalt in frischer Luft, während beispielsweise die
Engländer von »Auto-Inoculation« (Selbstimpfung) sprachen und dabei an
eine stufenweise Abhärtung des Körpers durch gezielte Arbeitstherapie
dachten.37 Verbindendes Element der Anstaltsbehandlungen nach deut33 Koelbing (1985), S. 147.
34 Hamel (1904), S. 6.
35 Dettweiler (1891).
36 Vgl. nebst der bereits genannten Literatur auch Teleky (1926).
37 Vgl. dazu die Schriften des Begründers dieser »bakteriologischen« Version der Anstaltsbehandlung Paterson (1911).
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schem oder englischem Muster war die Koexistenz diätetischer Behandlungsformen und moderner medizinischer Institutionen. Im Unterschied
zur Praxis der Behandlungsmethoden in verschiedenen Luftkurorten wie
etwa Davos, reklamierten die deutschen und englischen Ärzte die Notwendigkeit einer Heilanstalt modernen Zuschnitts zur ärztlichen Kontrolle der
Patienten. In einem oft zitierten Passus stellte Dettweiler fest:
[Der Arzt] muss die ganze Lebensführung desselben beherrschen, muss sich verantwortlich fühlen für die stricteste Ausführung aller seiner Anordnungen, er muss die
Macht und Mittel hierzu unbeschränkt in der Hand haben, mit einem Worte, er muss
Herr und Leiter in einer, blos für die speciellen Zwecke wohleingerichteten Anstalt
sein.38
Die mehrere Monate dauernde Behandlung zielte nicht auf klinische Heilung, sondern auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit durch Stärkung des Körpers im Kampf gegen die Tuberkulose ab. Neben dieses Primärziel trat mit der Zeit immer stärker die pädagogische Funktion der
Heilanstalten. Bei einer letztlich unklaren Zielvorgabe, worin der Heilerfolg
bei unspezifischen Behandlungen genau bestünde, war die Frage der Erfolgskontrolle der Anstaltsbehandlung zunächst nicht von Bedeutung.
Brehmer, der in den 1850er Jahren die erste Anstalt in Görbersdorf eröffnet
hatte, folgte einer umstrittenen Theorie und sprach von immunen Orten
(weil dort die Tuberkulose kaum oder gar nicht verbreitet sei) und einem
Problem der Organgröße von Herz und Lunge (weil die Lunge durch ein
besonders großes Herz zusammengedrückt werde).39 Brehmer, Dettweiler
und die übrigen Pioniere der Anstaltsbehandlung versuchten trotz allem
nachzuweisen, daß ihre Methode in der Praxis gute Erfolge aufwies. Typischerweise legten die behandelnden Ärzte dazu Veröffentlichungen vor, in
denen sie die Anamnese ausgewählter Einzelfälle besprachen und gleichzeitig behaupteten, daß es sich dabei um exemplarische Krankengeschichten
handelte.40 Die fachliche Aufmerksamkeit blieb ihnen allerdings zunächst
verwehrt, denn im Zeitalter der bakteriologischen Wende war mit hygienisch-diätetischer Behandlung von chronisch Kranken kein Prestige zu gewinnen.
Erst der vollständige Mißerfolg der bakteriologischen Therapieversuche
machte zu Beginn der 1890er Jahre klar, daß zwar keine spezifische Heilwirkung der Frischluftliegekur nachweisbar war, sie aber dennoch im Vergleich zum Tuberkulin die wesentlich besseren Heilchancen bot. Die
Durchsetzung der Frischluftliegekur auf dem Höhepunkt der Begeisterung
für die Bakteriologie veränderte dann auch die Frage des Heilerfolgs, denn
die Lungenärzte gaben nun das theoretische Interesse an Brehmers Postulat
der immunen Orte zur Begründung der Therapie auf. Ohne diese kausale
38 Dettweiler (1880), S. 18-23.
39 Wolff (1926).
40 Dettweiler (1886).
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Erklärung, warum die gute Ernährung und frische Luft im Einzelfall helfen
sollten, verlor die Darstellung ausgewählter Krankengeschichten jedoch
ihren Sinn. Während die Ärzte anfangs noch an dem unbedingten Erfolg
der Anstaltsbehandlung festhielten, oder genauer, diesen nicht in Frage stellten, traten unter Führung Hermann Gebhardts, dem Direktor der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte, die Träger der Invalidenversicherung
als neue Protagonisten in der Diskussion des medizinischen Erfolgs der
Heilstätten auf. Gebhardt erkannte die finanzielle Belastung der Invalidenversicherung durch Tuberkulose, die als Ursache für knapp 50 % der Verrentungen von 20-40jährigen Versicherten verantwortlich war.41 Deshalb
kam die Idee auf, finanzielle Ressourcen der Invalidenversicherung für die
Behandlung der Tuberkulose einzusetzen, eine Praxis, die ab 1894 vom
Reichsversicherungsamt genehmigt wurde. Die gesetzlichen Grundlagen
wurden allerdings erst im Invalidenversicherungsgesetz von 1899 geschaffen.42 Die erklärte Absicht dieses Vorgehens bestand darin, die unspezifische Therapieleistung der Heilbehandlungen zu nutzen, um bei möglichst
vielen lungenkranken Versicherten den Zeitpunkt der Verrentung hinauszuzögern.43 An Stelle des klinischen Heilbegriffs, der noch für die Überprüfung des Tuberkulins von Bedeutung war, trat demnach ein neuartiges
Konzept der sozio-ökonomischen Heilung, denn das Ziel bestand in der
zeitlichen Verzögerung des Krankheitsprozesses und der damit verbundenen Verlängerung der Arbeitsfähigkeit der Kranken, nicht jedoch in einer
kausalen und auf Dauer erreichten Heilung.44 Die sozialpolitischen Entscheidungsträger und die behandelnden Ärzte vollzogen einen für die Tuberkulosebehandlung wegweisenden Paradigmenwechsel in der Evaluierung
des Behandlungserfolgs, indem beide Seiten erkannten, daß bei einer unspezifischen Behandlungsweise nicht der einzelne Erfolg oder Mißerfolg interessierte, sondern die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwartende günstige Beeinflussung des Krankheitsverlaufs. Damit war für die Ärzte (und
natürlich auch für die Patienten) ein interessantes Dilemma verbunden.
Denn nach Dettweiler bestand der ganze Sinn der Frischluftliegekur in der
individualisierenden Behandlung der Tuberkulose, während gleichzeitig der
Erfolg dieser am Einzelfall orientierten Therapie lediglich durch statistische
Durchschnittswerte zu erfassen war. Dieses Problem äußerte sich in einer
Koexistenz zweier Erfolgsbegriffe. Während nach der Heilbehandlung die
Dauer der Arbeitsfähigkeit entscheidend war, galten in den Heilstätten beispielsweise die Gewichtszunahme und die Fieberfreiheit als Indikatoren für
eine Verbesserung des Gesundheitszustandes.45 Dieser Widerspruch war
41 Gebhardt (1899); Gottstein (1931), S. 95.
42 Vgl. Tennstedt (1976); Condrau (2000), S. 86f.; Teleky (1926), S. 209f.
43 Tennstedt (1976), S. 453.
44 Köhler: Begriff (1908).
45 Martin (1997).
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auch für die betroffenen Patienten deutlich sichtbar. Moritz William Theodor Bromme, der in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in einer Lungenheilanstalt behandelt wurde, brachte das Problem in seinen Erinnerungen auf den Punkt, indem er feststellte:
[…] seine Statistik hat mir durchaus nicht gefallen. Danach sollen von allen in Lungenheilstätten behandelten Patienten nach 10 Jahren nur noch 7 Prozent am Leben
sein! Es sollte mich freuen, wenn ich mich verhört hätte; denn wenn man sich sagen
muß, daß nach 10 Jahren von hundert Anwesenden nur noch 7 am Leben sind, so ist
das tief niederschlagend.46
Tatsächlich konnte die Evaluierung des langfristigen Erfolgs der Heilbehandlungen nur mit statistischen Methoden und auf Basis möglichst großer
Fallzahlen geschehen, was teure empirische Projekte notwendig machte.
Diese waren in Deutschland möglich, weil die Finanzierung und die Durchführung der Datenerhebungen weitgehend von einzelnen Landesversicherungsanstalten und dem Reichsversicherungsamt übernommen werden
konnten. Diese Untersuchungen stellten damals eine Spezialität der deutschen Versicherungsträger dar und wurden auch im Ausland viel beachtet.47 In direktem Zusammenhang zu den großangelegten Datensammlungen beschäftigte sich ein reiches zeitgenössisches Schrifttum mit den Erfolgsdaten verschiedenster Heilstätten.48 Während damit für Deutschland
umfangreiche Datensammlungen über die Erfolgskontrolle der Heilstättenbehandlung vorliegen, ist die Quellenlage für vergleichbare Länder sehr viel
schwieriger. Obwohl beispielsweise in England/Wales bis 1914 ähnlich
viele Heilanstalten gebaut und Kuren durchgeführt wurden wie in Deutschland, liegen Studien zur Erfolgskontrolle nur für einige wenige Sanatorien,
nicht jedoch für das gesamte Heilstättensystem, vor. Dabei waren es vor
allem die beiden »Vorzeigeinstitutionen«, das King Edward VI. Sanatorium
in Midhurst und das Brompton Hospital Sanatorium in Frimley, deren Daten vom Medical Research Council bearbeitet und veröffentlicht wurden.49
Ferner liegen einige weitere Spezialuntersuchungen vor, die amerikanische
und englische Daten vergleichend untersuchten.50 Eigenheiten der englischen Gesetzgebung behinderten die konkrete Erfassung der Leistungen
sowie die Überprüfung des Behandlungserfolgs der Tuberkuloseanstalten,
46 Bromme (1905), S. 310.
47 Vgl. Statistik der Heilbehandlungen; vgl. auch das Großprojekt der Leipziger Ortskrankenkasse (1910).
48 Exemplarisch genannt seien: Liebermeister (1925); Köhler: Dauererfolge (1908); Weicker (1903); Friedrich (1901).
49 Medical Research Council (1919); Medical Research Council (1924); siehe auch Horton-Smith Hartley et al. (Hg.) (1935).
50 Exemplarisch genannt seien: Elderton/Perry (1910); dies. (1913).
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denn der 1911 verabschiedete National Insurance Act basierte auf dezentraler Verwaltung und sah generell keine zentrale Registratur vor.51
Wichtige Hinweise für die Beurteilung der einzelnen Datensammlungen
ergeben sich aus dem sozialpolitischen Kontext, denn während die englischen Anstalten den Heilbegriff bei allen zeitlichen Einschränkungen dennoch im Sinne einer echten Heilung verstanden, orientierten sich die deutschen Versicherungsanstalten an der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit.52
Schon den Zeitgenossen war damit klar, daß ein internationaler Vergleich
englischer und deutscher Daten dadurch erheblich erschwert wurde. Hermann Gebhardt äußerte sich noch aufgrund seiner eigenen Erfahrungen in
der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte begeistert über das Potential der Heilbehandlungen für Tuberkulose. Ab Ende des Jahres 1896 wurden die ersten Datensammlungen präsentiert, die die Grundlage für eine
Vielzahl von Analysen über den Wert der Behandlungen darstellten. Ein
Problem wurde dabei rasch erkannt, denn es machte keinen Sinn, Daten
aus verschiedenen Heilstätten zu bearbeiten, die nicht vergleichbare Krankheitsfälle beherbergten. Tatsächlich war die dezentrale Diagnose das Kernproblem der großen Standardisierungsdebatte der ärztlichen Diagnose,
denn zur Erfolgskontrolle sollte sichergestellt werden, daß die Ärzte der
verschiedenen Anstalten ihre Ein- und Ausgangsdiagnosen nach den gleichen Prinzipien vornahmen, was bei der bis zum Ersten Weltkrieg vorherrschenden klinischen Diagnostik durch Perkussion und Auskultation denkbar schwierig war. Die Frage der Stadieneinteilung der Tuberkulose wurde
ab der Jahrhundertwende heftig diskutiert, denn sie war von zentraler Bedeutung, um mit einfachen Mitteln Eingangs- und Ausgangsdiagnose angeben und damit die Veränderung während der Behandlung sichtbar machen
zu können. Ein internationaler Standard wurde mit der berühmten TurbanGerhardtschen Einteilung in drei Stadien erreicht, die Karl Turban und
Hermann Gerhardt auf dem Wiener Tuberkulosekongreß von 1907 vorstellten.53
Allerdings fokussierte die Stadieneinteilung lediglich die Ausbreitung der
Krankheit in der Lunge. Nach allgemeiner Auffassung bestand zwar ein
Zusammenhang zur Schwere der Erkrankung, weniger klar war jedoch die
Beziehung zwischen Krankheitsstadium und der bereits erreichten Krankheitsdauer. Deshalb wurde parallel zur Stadieneinteilung eine zweite Kategorie zur Unterscheidung früher und fortgeschrittener Krankheitsfälle verwendet.54 Erste Erfahrungen hatten gezeigt, daß die frühen Fälle die besten
Aussichten auf Erfolg boten. Das führte zur allgemeinen Praxis, nicht nur
kranke Patienten zur Behandlung in der Lungenheilanstalt aufzunehmen,
51 Worboys (1992), S. 47-71.
52 Walters (1909), S. 303-316; Bardswell (1910).
53 Vgl. dazu Turban (1899).
54 Teleky (1926), S. 214f.
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sondern auch Rekonvaleszente und sogenannte Tuberkulose-Gefährdete.55
Tatsächlich war die Diagnose Lungentuberkulose vor dem Ersten Weltkrieg
eine Catch-All Diagnose, indem sich die Ärzte bei manchen unklaren
Krankheitsbildern letztlich auf diese Diagnose einigten. Gerade im Sinne
der Erfolgskontrolle erwies sich die Präferenz für frühe Fälle als äußerst
günstig, denn bei Patienten, die nur eine Gefährdung für Tuberkulose aufwiesen, stellte sich der Behandlungserfolg mehr oder weniger automatisch
ein, wobei dieses Vorgehen aufgrund des in den Anstalten gegebenen Risikos der Crossinfektionen nicht ungefährlich war.
Zusammen mit der Tendenz, sich auf die Behandlung möglichst früher Fälle zu konzentrieren, wurde die hygienische Erziehung als ein weiterer Bestandteil des medizinischen Erfolgs in den Heilanstalten immer wichtiger.
Der Arzt sollte dabei durch sein großes Wissen und seine modernen, urbanen Lebens- und Umgangsformen zu einer moralischen Instanz für die Patienten werden: »[…] so kann es nicht fehlen, daß die Mehrzahl seiner stets
um ihn geschaarten Clientel zum bildsamen Wachs in seiner Hand wird.«56
Hier konkurrierte die Heilanstalt mit den zu Beginn des 20. Jahrhunderts
erfolgreich eingeführten kommunalen Tuberkulosefürsorgestellen. In den
Heilanstalten gelang es den Ärzten jedoch, die tägliche Hygiene und auch
die Besonderheiten der wirksamen Infektionsprophylaxe buchstäblich zu
inkorporieren:
Die Arbeit, die auf diesem Gebiete geleistet wird, ist keine geringe und wird dadurch
unterstützt, daß jeder Patient sie in dem ganzen Anstaltsregime am eigenen Körper erfährt.57
Damit war neben dem schwierig nachzuweisenden Behandlungserfolg im
Sinne der Verlängerung der Arbeitsfähigkeit die ebenso problematische
hygienische Erziehungsleistung zu einem Markenzeichen der Heilanstalten
geworden. Diese Verbindung zweier Zielsetzungen wurde nicht nur für die
Behandlung in den Heilanstalten charakteristisch, sondern beeinflußte fortan auch die Auswahl der darin überhaupt zu versorgenden Patienten. Ein
Arzt forderte:
daß in erster Linie die Landesversicherungsanstalten die Auslese der Kranken für die
Heilstätte nicht allein nach medizinischen, sondern gleichzeitig auch nach moralischen Gesichtspunkten treffen, sollen die Heilstätten ihr pädagogisches Ziel erreichen,
daß ihre Pfleglinge als Apostel einer gesundheitsgemässen Lebensweise in Familie und
Beruf zurückkehren.58
Es ist naheliegend, daß die Auswahl der Patienten nach moralischen Kriterien wiederum für die Erfolgskontrolle der Heilanstalten bedeutsam wurde,
55 Teleky (1926), S. 219.
56 Dettweiler (1880), S. 34.
57 Roepke (1904).
58 Roepke (1904).
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denn die quantitativen Überprüfungen der Behandlungserfolge verloren dadurch erheblich an Bedeutung. Während Kritiker wie Alfred Grotjahn und
andere auf die ungünstigen Erfolgschancen der Heilstätten hinwiesen, paßten die flexibel denkenden Anstaltsärzte ihren Erfolgsbegriff offenbar einfach an die jeweiligen Begebenheiten an.59
Behandlung durch Lungenchirurgie
Neben dem Tuberkulin und der Frischluftliegekur stellte die Lungenchirurgie seit dem Ersten Weltkrieg eine dritte, eigenständige Behandlungsform
der Tuberkulose dar.60 Die Chirurgie gehörte bekanntlich zu den »erfolgreichsten« medizinischen Spezialdisziplinen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, denn mit Hilfe der Anästhesie sowie der Entwicklung von Antisepsis/Asepsis hatte sie immer bessere Operationsergebnisse vorzuweisen.61
Es war klar, daß sich diese erfolgreiche Disziplin früher oder später auch
der Behandlung der Tuberkulose zuwenden würde. Erstmals wurde der
artifizielle Pneumothorax (A.P.), der künstliche Lungenkollaps, zwischen
1888 und 1894 von dem italienischen Chirurgen Carlo Forlanini erfolgreich durchgeführt.62 Dieser Eingriff strebte die künstlich hervorgerufene
Ruhigstellung der erkrankten Lunge an, was im günstigsten Fall die Selbstheilung des Organs erreichen, aber wenigstens doch den fortschreitenden
Zerfall der Lunge verhindern sollte. Die dazu notwendige Operation wurde
bald zur Routinemaßnahme und basierte auf der Zerstörung des die Lunge
umgebenden Vakuums durch Gas, das durch eine Nadel, die durch den
Brustkorb geführt wurde, in den Pleuraspalt gelangte. Um das Wiederentstehen des Vakuums durch die Resorption des Gases zu verhindern, mußte
in relativ kurzen Abständen in wiederholten Eingriffen Gas in den Hohlraum nachgefüllt werden, um den Unterdruck einigermaßen konstant zu
halten.63 Am Beispiel der Lungenchirurgie läßt sich der oft lange dauernde
Prozeß der technischen Innovation gut zeigen, denn während Technologie
und Operationsmethode seit dem späten 19. Jahrhundert bekannt waren,
erfolgte die breite Anwendung der Lungenchirurgie in Deutschland erst
nach dem Ersten Weltkrieg.64 Neben dem ärztlichen Fachwissen stellte die
technische Ausstattung die wichtigste Voraussetzung für die Eingriffe der
sogenannten »kleinen Lungenchirurgie« dar. Die Chirurgie formulierte gemeinsam mit der Sozialen Hygiene und der Bakteriologie die fundamentale
Kritik der Frischluftliegekur. Dabei spielte der in Marburg lehrende Chirurg
59 Grotjahn: Krisis (1907); ders.: Lungenheilstättenbewegung (1907).
60 Brunner (1966).
61 Bouchet [1978] (1992).
62 Sakula (1983).
63 Naef (1990).
64 Condrau (2000), S. 131f.
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Behandlung ohne Heilung
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Ludolph Brauer eine herausragende Rolle, weil er mit der von ihm in
Deutschland eingeführten Lungenchirurgie als einziger Kritiker der Heilanstalten eine therapeutische Alternative anbot.65 Hierin ist sicherlich ein zentraler Grund dafür zu sehen, daß sich gerade unter den nicht in den Heilanstalten beschäftigten Ärzten das Interesse für die Möglichkeiten lungenchirurgischer Eingriffe rasch verbreitete. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte
Gustav Baer, damaliger Leiter der Tuberkulosefürsorgestelle Münchens,
feststellen: »Der Wert des künstlichen Pneumothorax bei der Behandlung
der Lungentuberkulose kann heutzutage als unbestritten gelten.«66
Worin aber bestand dieser Wert? Zunächst war der Erste Weltkrieg für die
Chirurgie sicherlich von großer Bedeutung, weil die vielen Schußverletzungen nicht nur zur praktischen Aus- und Weiterbildung der Ärzte führten,
sondern auch die Entwicklung und Verbreitung der dazu notwendigen
technischen Geräte wie zum Beispiel der Röntgentechnik förderten.67 Vor
dem Krieg sah man lungenchirurgische Eingriffe noch als experimentelle
und problematische Eingriffe an, ab 1918 fand diese Behandlungsmethode
aber rasche Verbreitung. Die Verbreitung der Lungenchirurgie ist im einzelnen schwer nachzuweisen und wird lediglich im Rahmen einer noch zu
schreibenden Spezialuntersuchung zu klären sein.68 Sie hing zweifellos von
nationalen Faktoren ab; so wies Deutschland einen deutlichen Vorsprung
in der Anwendung der Lungenchirurgie etwa gegenüber England auf, während sie wiederum in den USA sehr angesehen war.69 Aufgrund der Verbreitung der technischen Infrastruktur in deutschen Lungenheilanstalten
und mit Hilfe von Behandlungszahlen aus der Heilanstalt Charlottenhöhe
bei Stuttgart läßt sich der Anteil der lungenchirurgisch behandelten Patienten während der 1920er Jahre auf ca. 20-25 % schätzen.70 Tatsächlich galt
die Lungenchirurgie in den 1920er Jahren in Deutschland als das kommende Verfahren, von dem man sich erstmals Heilerfolge auch bei schwereren
Tuberkulosefällen versprach. Dabei wurden die einfacheren Eingriffe wie
der künstliche Pneumothorax vermehrt in die herkömmliche Frischluftliegekur eingebaut, die mehr und mehr Züge der Rekonvaleszentenpflege aufwies. Für den Erfolg der chirurgischen Maßnahmen war die gegenüber der
herkömmlichen Heilbehandlung noch einmal verschärfte Selektion der
überhaupt behandlungsfähigen Fälle von großer Bedeutung.
Auffallend ist, daß alle Autoren über immer bessere Resultate verfügen, je mehr Fälle
sie operiert haben. Es ist dies nicht nur etwa auf eine fortschreitende Übung zurückzu65 Brauer (1904).
66 Baer (1918).
67 Tröhler (1993).
68 Hier wird deutlich, wie wenig bisher die medizinische Praxis auch und gerade im
Bereich der Tuberkulose von der Medizingeschichte untersucht worden ist.
69 Bryder (1988), S. 182.
70 Condrau (2000), S. 133f.
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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führen […] Es ist unverkennbar, daß je früher operiert wird, […] um so mehr eine
Besserung dieser Zahlen eintreten wird. Abgesehen von der Rettung des einzelnen Individuums, das ohne chirurgischen Eingriff in absehbarer Zeit rettungslos verloren ist,
hat sie eine sehr große Bedeutung dadurch, daß sie […] viele offenen Tuberkulosen in
geschlossene zu verwandeln mag und so dazu beitragen kann, der weiteren Verbreitung der Tuberkulose, namentlich der Infektion in Familien und an Arbeitsstätten, einen Riegel vorzuschieben.71
Interessanterweise listet der Autor dieser Zeilen, Professor Friedrich Jessen,
den viele für das Vorbild des Hofrat Behrens im »Zauberberg« halten, wieder all jene Faktoren auf, die bereits in der Frischluftliegekur von Bedeutung
waren.72 Namentlich der günstige Einfluß der praktischen Operationserfahrung des behandelnden Arztes, die Bevorzugung möglichst früher Operationen sowie die Leistungen der Chirurgie bei der Infektionsprophylaxe (sic!)
würden bemerkenswerte Kontinuitäten medizinischer Leistungskriterien
darstellen. Während die behandelnden Ärzte sich grundsätzlich positiv zu
den Erfolgschancen der Lungenchirurgie äußerten, blieben Untersuchungen
über die langfristigen Behandlungserfolge äußerst selten. Die angesehene
englische Fachzeitschrift für Lungenchirurgie, das »Journal of Thoracic
Surgery«, veröffentlichte 1941 eine Untersuchung, in der nachgewiesen
wurde, daß sich lediglich rund vier Prozent von über 2.000 ausgewerteten
Fachpublikationen mit dem langfristigen Erfolg der Behandlung auseinandersetzten.73 Die beteiligten Ärzte waren offenbar von der Technik sehr begeistert und beschäftigten sich oft und intensiv mit der bestmöglichen Operationstechnik (z. B. »Schnittechnik« versus »Stichtechnik«) sowie der für
notwendig erachteten technischen Gerätschaften wie etwa der Röntgentechnik, die buchstäblich zum »Auge des Arztes« wurde.74 Letztlich reduzierte
jedoch die Beschäftigung mit chirurgischen Methoden den Erfolgsbegriff
der beteiligten Ärzte auf ein Minimum und bedeutete fortan, daß der Patient nicht an den direkten Folgen der Operationen starb und sich keine
massiven Komplikationen einstellten.75
Aus historischer Sicht war die Verbreitung der Röntgentechnologie sowie
die Anwendung der Lungenchirurgie von großer Bedeutung für den Wandel der klassischen Lungenheilstätten zu vollfunktionsfähigen Spezialkrankenhäusern. Andererseits unterstützte die Lungenchirurgie die Entwicklung
der Liegekuren, die sich immer stärker zur sogenannten »Kadaverruhe«
entwickelte, denn die erfolgreichen Fälle der chirurgischen Praxis wurden
typischerweise in eine Lungenheilanstalt zur Frischluftliegekur überwiesen,
wo sich der Patient von den Folgen der Chirurgie erholen konnte.76 Über71 Jessen (1923).
72 Virchow (1995); Humphreys (1989).
73 Journal of Thoracic Surgery 10 (1941), S. 310 zit. nach Bryder (1988), S. 177.
74 Bryder (1988), S. 175.
75 Liebe (1921).
76 Carpi (1923).
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raschend abrupt endete mit den ersten Erfolgen der neuen AntibiotikaTherapie in den späten 1950er Jahren die Beliebtheit der Lungenchirurgie,
und plötzlich wurden nur noch kritische Beiträge zur chirurgischen Behandlung der Tuberkulose veröffentlicht.77 Dieser Meinungsumschwung
verdeutlicht, daß die Tuberkulosebehandlung bestimmten Paradigmen unterlag, denn nach einem Paradigmenwechsel wurde die jeweils vorhergehende Behandlungsmethode plötzlich hart kritisiert. Gleichzeitig dominierte
aber die aktuelle Therapie das gesamte ärztliche Denken. Das erkannte auch
der zeitgenössische Kritiker der Lungenheilstätten, Hermann von Hayek, als
er 1920 ironisierend schrieb:
Der menschliche Körper hat sich im Kampf gegen die Tuberkulose einfach möglichst
tot zu stellen, bis die Tuberkelbacillen glauben, daß es sich wirklich nur mehr um einen Kadaver handelt, und dann auch nicht mehr mittun.78
Obwohl neuerdings wieder an operative Maßnahmen bei der Behandlung
der Tuberkulose gedacht wird, tauchen immer häufiger auch Warnungen
vor den Spätfolgen der chirurgischen Behandlungen der 1930er und 1940er
Jahre auf.79 Damit bestätigt sich gerade anhand der technisch-operativ anspruchsvollsten Behandlung der Tuberkulose die in der Einleitung formulierte Feststellung, daß oftmals die Spätfolgen der Medizin für die Patienten
und das Gesundheitswesen Gefahren bergen, die von den behandelnden
Ärzten nur zu leicht übersehen worden sind.80
Bilanz
Das Kochsche Tuberkulin war ein fulminanter Mißerfolg des Heilanspruchs der Medizin. Indem es schließlich als Diagnoseinstrument verbreitet wurde, verschärfte es noch den Konflikt zwischen dem immer ausgereifteren Diagnosevermögen und dem kaum oder gar nicht einlösbaren Heilanspruch. Die Bakteriologie, so läßt sich in Anlehnung an McKeown und auf
Basis der Geschichte der Tuberkulose bilanzieren, hat zur Heilung der Tuberkulose bis zum Zweiten Weltkrieg wenig beigetragen.
Gerade aus den Mißerfolgen anderer Behandlungsformen ergab sich die
überraschende Beliebtheit und auch der relative Erfolg der Frischluftliegekur. Sie stellte zwar keine Heilung im eigentlichen Sinne in Aussicht, aber
sie füllte ein therapeutisches Vakuum durch eine in vielerlei Hinsicht
durchaus erfolgreiche Behandlung. Natürlich waren die Mittel, die zum
Anstaltsbau und –betrieb ausgegeben wurden, für damalige Zeiten enorm,
aber sie dienten nicht zuletzt der Durchsetzung der Überzeugung, daß ärztliches Handeln auch und gerade im Fall der Tuberkulose durchaus heilsam
77 Bryder (1988), S. 184.
78 Hayek (1920), S. 43.
79 Kniehl et al. (1998).
80 Teschner (1998); Hollaus (1998).
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sein konnte. Die vorhandene Kritik richtete sich denn auch weniger gegen
das konkrete Behandlungsverfahren, sondern vor allem gegen das Behandlungsziel. Bekannte Vertreter von medizinischen Spezialdisziplinen, die
nicht in den Tuberkuloseanstalten tätig waren, verfochten statt der Sanatoriumsbehandlung die anderweitige strikte Isolation der Kranken, um die
Gesellschaft vor den angeblich so gefährlichen Tuberkulösen zu schützen.
Diesen Vorschlag sollte mitbedenken, wer die Behandlungsbemühungen
der Heilstättenärzte vorschnell als reine Arbeiterdisziplinierung verstehen
will.
Die Lungenchirurgie löste sich als modernstes, weil technisches Behandlungsverfahren im Zeitraum bis zum Zweiten Weltkrieg nahezu vollständig
von der Überprüfung ihres Erfolgs. Es drängt sich hier exemplarisch der
Eindruck auf, daß die Erfolgskontrolle in dem Maße vernachlässigt wurde,
wie der technische Aufwand der Behandlung vom relativ einfachen künstlichen Pneumothorax zum schwierigen Eingriff im Rahmen der Thorakoplastik zunahm. Jedenfalls ist die »große« Lungenchirurgie keiner strikten
Nachkontrolle mehr unterworfen worden. Dieses Beispiel zeigt, daß Fortschritte in der medizinischen Erfolgskontrolle in einem Paradigmenwechsel
der Therapie wieder verloren gehen können. In der Tat waren die behandelnden Ärzte sehr viel faszinierter davon, die Nadel richtig zu führen oder
eine spektakuläre Thorakoplastik erfolgreich abzuschließen, als die Patienten langfristig zu heilen. So verwundert es nicht, daß die langfristigen Folgen der Lungenchirurgie für das Individuum und später der AntibiotikaTherapie für die Gesellschaft von den behandelnden Ärzten nicht beachtet
wurden. Die spezialisierte und hochtechnisierte Lungenchirurgie schuf oftmals neue Probleme (für den Kranken ebenso wie für das Gesundheitswesen) und zeigt, daß Medizin ohne klare (gesellschaftliche) Erfolgskontrolle
leicht zu einem selbstreferenziellen System werden kann, das nur noch der
eigenen Methodik und nicht mehr dem Behandlungsziel der Heilung verpflichtet ist.
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Heilanspruch und medizinische Kunstfehler. Abtreibungen
durch Ärzte in der Weimarer Republik: offizielle Beurteilung und weibliche Erfahrung
Cornelie Usborne
Summary
Medical Claims and Women’s Experience. Physician-performed Abortions in the Weimar Republic
The campaign for abortion reform in the Weimar Republic occasioned passionate disputes
between factions supporting and opposing liberalization of abortion laws. Nevertheless,
both camps agreed on one issue: that doctors, and only doctors, should be authorized to
terminate a pregnancy. The implication was that an operation induced by a registered
medical practitioner was safe, while so-called back-street operations were always
dangerous. By and large, this view has also been accepted by historians, often uncritically.
This article shows that evidence of the very real risks of terminating a pregnancy was open
to cultural and political manipulation. The claims of academic physicians were often
contradictory: on the one hand, they dismissed the risks of medical procedures as a way of
fighting lay abortions; on the other hand, they exaggerated theses risks as a way of
explaining unsuccessful surgeries.
Using a case study from Bavaria at the beginning of the Republic, this article shows the
ambiguous role doctors played and the biased view of the courts. It also sheds light on the
experience of abortion-seeking women, whose interests were largely ignored by the law
enforcement agencies.
Einleitung
Die Geschichte der Reformbewegung gegen den Paragraphen 218 in der
Weimarer Republik ist vielfach bearbeitet worden.1 Dabei wird die Problematik des Abtreibungsgesetzes entweder explizit oder doch wenigstens implizit so erklärt, daß das Gesetz Klassencharakter hatte, weil besser situierte
Frauen es sich durchaus leisten konnten, qualifizierte, d. h. sichere ärztliche
Hilfe zu beanspruchen, um eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen,
während Frauen der unteren Schichten auf Kurpfuscher angewiesen und
damit erheblichen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt waren.2 Diejenigen,
die in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren eine Neuregelung des Abtreibungsparagraphen erstrebten, waren sich durchaus nicht einig, wie diese
im einzelnen aussehen sollte, doch verfolgten sie alle einmütig ein Ziel,
nämlich den ärztlichen Eingriff zu legalisieren, um damit die gefürchteten
»Pfuscherabtreibungen« aus der Welt zu schaffen. In der zeitgenössischen
Literatur wurden Laienabtreibungen tatsächlich immer negativ beurteilt
und für die Todesfälle verantwortlich gemacht, die man auf viele Tausend
pro Jahr schätzte. Ärztlich eingeleitete Fehlgeburten dagegen galten als er1
Z. B. Usborne (1994); Grossmann (1995); Dienel (1993); Soden (1993); Schneider
(1975).
2
Soden (1988), S. 139-144.
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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strebenswert. Typisch dafür war das Theaterstück »Cyankali« des sozialistischen Arztes und engagierten Gegners des Paragraphen 218 Friedrich Wolf,
das 1929 in vielen deutschen Städten einen Skandal auslöste, weil es das
Gesetz als Mörder anprangerte: Es habe verhindert, daß die schwangere
Arbeiterin Hete ärztliche Hilfe findet und sie statt dessen in die Arme einer
verruchten Kurpfuscherin getrieben, die sie prompt mit Cyankali vergiftet
habe.3 Entgegen der gängigen zeitgenössischen Meinung, die auch erstaunlich unkritisch in den meisten historischen Abhandlungen übernommen
wurde4, will ich im folgenden jedoch aufzeigen, daß eine Abtreibung durch
einen Arzt durchaus nicht immer unproblematisch und daß der scheinbar
klare Gegensatz zwischen ärztlichem und Laieneingriff ein soziales Konstrukt war, das nur im Kontext der sozialen, politischen und standespolitischen Umstände zu verstehen ist.
Zu Beginn der Weimarer Republik waren bezüglich der Abtreibung unverändert die Paragraphen 218-220 des RStG von 1871 in Kraft, die jeglichen
Abbruch der Schwangerschaft zum Verbrechen erklärten. Abtreibung galt
danach als Tötungsdelikt, und für jeden Beteiligten war eine Zuchthausstrafe von einem bis fünf Jahren vorgesehen. Als Resultat einer erheblichen Zunahme von illegalen Abtreibungen und einer gerichtlichen Praxis, in der
Strafzumessungen meist weit geringer ausfielen, als gesetzlich vorgeschrieben war, gab es seit 1909 mehrere Entwürfe zu einer Strafrechtsreform. Diese Entwicklung und eine intensive politisch-parlamentarische Kampagne für
eine völlige Freigabe bzw. eine Fristenlösung des Schwangerschaftsabbruchs
bewirkten 1926 eine Gesetzesnovelle, in der die »einfache« Abtreibung nur
noch als Vergehen galt und mit Gefängnis bestraft werden sollte. Aber Ärzten war es weiterhin verboten, eine Schwangerschaft abzubrechen.
Die medizinische Indikation wurde in der Weimarer Republik nie gesetzlich verankert, jedoch 1927 durch eine Reichsgerichtsentscheidung anerkannt. Bis dahin bestand für Ärzte erhebliche Rechtsunsicherheit. Zwar
hatten das preußische Innenministerium und der Reichsgesundheitsrat im
Ersten Weltkrieg Richtlinien für Ärzte veröffentlicht, wonach es staatlich
approbierten Ärzten erlaubt sein sollte, eine Schwangerschaft künstlich abzubrechen, wenn das Leben oder die Gesundheit einer Frau durch die
Schwangerschaft bedroht waren und diese Bedrohung »durch kein anderes
Mittel abgewendet werden« konnte.5 Dabei war es üblich, die medizinische
Indikation von mindestens einem anderen Arzt bestätigen zu lassen. Die
Revolution von 1918 hatte verhindert, daß dieser Brauch Gesetz wurde, so
daß Ärzte sich nur auf ein Gewohnheitsrecht stützen konnten. Obwohl
auch die o. g. Entscheidung von 1927 kein Privileg für approbierte Ärzte
3
Wolf [1929] (1983).
4
Vgl. Fußnote 1. Eine Ausnahme ist Dienel (1993).
5
Bundesarchiv Koblenz, R 86, 2379, Bd. 1, Niederschrift, Reichsgesundheitsrat,
21.12.1917, S. 15.
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Heilanspruch und medizinische Kunstfehler
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bestätigte6, war es für Mediziner allgemein nicht schwer, Gerichte von der
Notwendigkeit eines ärztlichen Eingriffs zu überzeugen, um diesen zu entschuldigen. Ärzten wurde auch erstaunlich oft nachgesehen, wenn sie aus
der Abtreibung ein Geschäft gemacht hatten, sogar, wenn sie bei dem Eingriff nicht die notwendige Sorgfalt verwandt hatten. Es war nicht selten,
daß selbst gröbste Kunstfehler und Fahrlässigkeit so milde beurteilt wurden,
daß Ärzte straffrei davon kamen. Im Gegensatz dazu wurden bekannt gewordene Eingriffe von Laienabtreibern immer gerichtlich geahndet und
strengstens bestraft. Die Ärzte wurden nicht nur gegenüber den sogenannten Kurpfuschern privilegiert, sondern auch gegenüber den abtreibenden
Frauen. Im allgemeinen wurden die Interessen der Patientinnen kaum berücksichtigt, wenn es galt, die Karriere eines staatlich approbierten Mediziners zu schützen. Im folgenden will ich mit Hilfe von verschiedenen Fallstudien darstellen, wie die Gerichte mit ärztlichen Abtreibungen umgingen
und welche Erfahrungen Frauen dabei machten.
Das Beispiel der Maria L.
Die 25jährige Verkäuferin Maria L. aus Rosenheim, Oberbayern, hatte seit
Weihnachten 1920 ein Verhältnis mit dem Konditoreibesitzer. Im darauffolgenden Februar oder März blieb ihre Periode aus und sie befürchtete,
schwanger zu sein. Was dann folgte, ist nur schwer aus widersprüchlichen
Aussagen zu rekonstruieren. Beim Untersuchungsgericht gab Maria an, sie
wäre im Geschäft über die Kellertreppe gestürzt und hätte danach einen
Abgang erlitten. Kurz danach, Ende Mai 1921, sei sie aus reiner Vorsicht
und weil sie Blutungen hatte, in die Sprechstunde von Dr. Karl Hartmann7
gegangen, der in Rosenheim allgemein als tüchtiger Frauenarzt galt. Ohne
sie weiter zu untersuchen, habe der Arzt erklärt, das »gestockte Blut« müsse
ausgekratzt werden, und sie für den gleichen Abend zu sich bestellt. Er
empfing sie in seiner Wohnung und setzte ihr einen Laminarstift ein. Einige
Tage später nahm er die Curettage auf einem verstellbaren Stuhl in seinem
Sprechzimmer vor. Anna L. konnte sich noch an eine Spritze in ihren Arm
erinnern und an die Narkose. Als sie wieder etwas zu sich kam, saß sie in
einem Auto mit Hartmann am Steuer. An den Straßenbahnen erkannte sie
schließlich, daß sie sich in München befand. Sie erinnerte sich noch, wie sie
6
Radbruch (1928), S. 5: Es hieß damals, ein Abbruch sei nicht rechtswidrig »bei Vornahme durch die Schwangere selbst […] und einem zur Beurteilung der Sachlage befähigten Dritten«.
7
Ich benutze hier den vollen Namen des Arztes, da er als Redner in der Kampagne
gegen § 218 bekannt wurde und seine gerichtliche Untersuchung durch die Presse
ging, womit sein Name gewissermaßen Allgemeingut wurde. Wenn Prozesse gegen
Ärzte nicht in der Presse besprochen wurden, benutze ich nur die Initialen.
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in einen Operationssaal getragen wurde und verlor kurz darauf wieder das
Bewußtsein.8
Erst später erfuhr sie, daß Hartmann nicht Gynäkologe, sondern praktischer Arzt war und sie bei seinem Eingriff lebensgefährlich verletzt hatte.
Der Traunsteiner Landgerichtsarzt, Dr. Zwicknagel, der den Fall beurteilte,
kam zu dem Schluß, daß Hartmann bei Maria L. ein schwerer Kunstfehler
unterlaufen war, da er mit einer Sonde an mehreren Stellen ihren Uterus
und Dünndarm perforiert hatte. Er bemängelte außerdem, daß Hartmann
keinen Spezialisten, sondern einen Zahnarzt zur Narkose hinzugezogen hatte. Zudem sei die Operation »ohne genügende Assistenz« ausgeführt worden. Weiter beschuldigte er ihn der Fahrlässigkeit, da Hartmann versäumt
habe, die lebensgefährlich erkrankte Patientin schleunigst ins nächste Krankenhaus zu bringen. Statt dessen habe er sie mit seinem eigenen »mangelhaft gedeckten« Auto die etwa 50 km nach München gefahren, um sie dort
von einem ihm bekannten Arzt in einer Privatklinik operieren zu lassen.9
In dem hier untersuchten Ermittlungsverfahren von 1922 stand die persönliche Freiheit und die Karriere eines jungen Arztes auf dem Spiel. Aber, wie
ich aufzeigen werde, wurde auch verhandelt, wie ein ärztlicher Schwangerschaftsabbruch medizinisch und juristisch zu beurteilen war. Gegen Karl
Hartmann hatten kurz nach der oben geschilderten Operation drei Kollegen aus Rosenheim Anzeige bei der Staatsanwaltschaft wegen Verdachts
auf kriminelle Abtreibung erstattet. Daraufhin wurde gegen ihn vom Landgericht Traunstein ein Ermittlungsverfahren wegen einer Reihe von schweren Delikten eingeleitet: kriminelle Lohnabtreibung in fünf Fällen, Mithilfe
an Abtreibungen, fahrlässige Körperverletzung; schließlich grobe Fahrlässigkeit in zwei Fällen, wovon einer mit Tod endete.10 Der Staatsanwalt befürchtete Flucht und Verdunkelungsgefahr und ordnete Untersuchungshaft
an.11 Die Beurteilung des Landgerichtsarztes in Traunstein war, wie wir sahen, unerhört scharf: Dr. Hartmann sei »ganz skrupellos«, dessen »ärztliches Handeln« auf das »schärfste gebrandmarkt werden« müsse. Er habe
nicht nur »unerlaubte Abtreibungen ausgeführt«, und zwar in »einem Umfang, wie dies bei einem Anfänger in der ärztlichen Praxis nie der Fall ist,
namentlich wenn man berücksichtigt, daß in Rosenheim eine große Zahl
von Ärzten tätig ist«, sondern habe auch »unsachgemäß, den Regeln der
ärztlichen Kunst zuwidergehandelt«. Außerdem habe er sich des professionellen Betrugs schuldig gemacht.12 Zwicknagel forderte ein Gutachten des
8
Staatsarchiv München (StAMü), StAnw. Traunstein, 15.634, Verhör-Protokoll Maria
L., 10.7.1922, S. 79-81.
9
StAMü, StAnw. Traunstein, 15.634, Bericht des Gerichtsarztes, Bl. 157-171.
10 StAMü, StAnw. Traunstein, 15.634, II. Staatsanwalt, 17.6.22.
11 StAMü, StAnw. Traunstein, 15.634, Staatsanwalt, 17.6.22.
12 StAMü, StAnw. Traunstein, 15.634, Landgerichtsarzt, 30.8.22, S. 170f., die kinderlose
Bäuerin Maria R.; ebd., Staatsanwalt, 17.6.22.
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Heilanspruch und medizinische Kunstfehler
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Medizinalkomitees der Universität München an. Dieses befand im eingangs
erwähnten Fall der Anna L. ebenfalls, daß Hartmann schwerste Verletzungen zur Last gelegt werden müßten, die bei »solchen Eingriffen nicht vorkommen« sollten.13 Dennoch wurde Dr. Hartmann Ende August aus der
Untersuchungshaft entlassen und vier Wochen später auf Beschluß der
Strafkammer des Landgerichts Traunstein außer Verfolgung gesetzt.14
Abtreibung im medizinischen Diskurs
Dieser Gerichtsfall soll hier näher untersucht werden, weil er in seiner Widersprüchlichkeit die ganze Komplexität der ärztlichen Schwangerschaftsabbrüche in der Weimarer Republik widerspiegelt, als Ärzte versuchten, die moralische wie auch wissenschaftliche Machtbefugnis über den
künstlichen Abort zu erlangen, jedoch in der Praxis häufig enttäuschten.
Die Rolle Hartmanns muß ebenso ambivalent gewertet werden: teilweise
positiv, zugleich aber auch negativ. Besonders in der Arbeiterschicht schien
er sehr populär gewesen zu sein, und eine Anzahl seiner Patienten pries ihn
als Wohltäter. Wie aber ließ sich dieses Bild und sein mehrfach erwähnter
»guter Ruf als Frauenarzt« mit den von allen Experten zugegebenen schweren Operationsfehlern und seiner Fahrlässigkeit vereinbaren? Das Münchener Ärztekollegium bezeichnete sie nicht als medizinische Kunstfehler, sondern als »Unglück«, das aber »nicht selten vorkommt« und deswegen geduldet werden müßte. Da erhebt sich die Frage, wie sicher oder gefährlich
ein ärztlich eingeleiteter Abort in den zwanziger und dreißiger Jahren war
und welche Erwartungen an Ärzte gestellt wurden. Wie groß war schließlich die Diskrepanz zwischen Heilanspruch und Heilvermögen der Mediziner auf dem Gebiet des Schwangerschaftsabbruchs? Und war medizinische
Kunst wirklich immer der Fingerfertigkeit der Laienabtreiber überlegen und
wenn nicht, mußte solch medizinisches Versagen nicht auch die Monopolansprüche der Ärzte unterminieren?
Diese Fragen sind besonders relevant vor dem Hintergrund des ärztlichen
Diskurses in der Weimarer Republik über eine medizinische Kontrolle des
Abortes. Obwohl unter Medizinern keine Einigkeit bestand, ob und wie
man das Abtreibungsgesetz ändern sollte15, waren sie sich doch darüber
völlig einig, daß Laien von der Operation auszuschließen seien. Es wurde
durchaus eingeräumt, daß es auch medizinische Kollegen gab, die illegal
und für Geld abtrieben (sie hießen verächtlich »Auskratzer«); aber gegen die
Tätigkeit der medizinischen Laien wurde mit aller Schärfe ins Feld gezogen.
Es hieß, sie hätten keine oder wenig Ahnung von Gynäkologie und Hygiene und trachteten außerdem nur nach Gewinn.
13 StAMü, StAnw. Traunstein, 15.634, Bl.185.
14 StAMü, StAnw. Traunstein, 15.634, Schreiben der Stanw. Traunstein, 31.8.1922, und
Beschluß der Strafkammer des Landgerichts Traunstein, 29.11.22.
15 Vgl. Usborne (1994), Kapitel 4.
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Cornelie Usborne
Je nach politischer und ideologischer Gesinnung gab es im ärztlichen Diskurs jedoch feine Unterschiede. Konservative Ärzte warnten, daß ein
Schwangerschaftsabbruch stets riskant, ein Laieneingriff jedoch grundsätzlich lebensgefährlich sei. Linksorientierte Mediziner dagegen bestanden allgemein auf der Meinung, ein Schwangerschaftsabbruch durch einen erfahrenen Arzt wäre risikolos. Deshalb traten sie für die Legalisierung des medizinischen Aborts ein. Ein zentraler Punkt ihrer Argumentation war, die
mutmaßlichen Gefahren des unsachgemäßen Eingriffs, des sogenannten
Pfuscheraborts, zu betonen.16 Alfred Dührssen, Professor der Gynäkologie
an der Universität Berlin und starker Befürworter einer liberalen Reform
des Paragraphen 218, behauptete, es gelte, den alljährlichen »Tod von Tausenden junger Personen […] durch kurpfuscherische Abtreiberei« zu verhindern. Die Mehrzahl der Abtreibungen wurden »von Hebammen oder
von Heilsgehilfen oder Laien – und zwar meistens in unzweckmäßiger Weise und unter größter Lebensgefahr für Schwangere – ausgeführt«. Betroffen
seien in erster Linie Proletarierfrauen, die »mangels der nötigen Geldmittel
Opfer ›weiser Frauen‹ oder eigenen Wagemuts geworden sind«.17 Der bekannte Berliner kommunistische Arzt Leo Klauber behauptete sogar, es gäbe jährlich 20.000 Todesfälle in Deutschland wegen Selbst- und Pfuscherabtreibungen und zudem noch 100.000 Krankheitsfälle.18 Solche Behauptungen waren ein wichtiges Argument im Kampf für eine Legalisierung des
ärztlichen Schwangerschaftsabbruchs, das im Kern aber eine Attacke auf
Laienpraktiker war: Der Abort sollte in Zukunft ein Monopol der Mediziner sein. Die Legalisierungskampagne war auch auf Arbeiterfrauen gezielt,
deren Unterstützung für die Freigabe der Abtreibung allerorts in sporadischen Demonstrationen schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg eindrucksvoll zum Ausdruck kam. 1918 mit dem Wahlrecht ausgestattet, hatten sie
an politischer Bedeutung gewonnen; es lohnte sich, ihre Loyalität zu gewinnen. Aber die Ausgrenzung von Kurpfuschern war mindestens ebenso
wichtig.19
Das Argument, daß Laienabtreibungen gefährlich seien, ärztliche Eingriffe
aber sicher, ist auch unter Zeitgenossen mühelos akzeptiert worden und galt
als erwiesene Tatsache in fast allen öffentlichen Debatten. Im folgenden will
ich darlegen, warum die Wirklichkeit anders aussah. Diese Abhandlung ist
Teil einer größeren Arbeit über die Alltagskultur der Abtreibung in
Deutschland im 20. Jahrhundert, die sich auf mehrere hundert Kriminalprozesse und andere zeitgenössische Quellen stützt.20 Kriminalität ist gut
16 Klauber (1926), S.119; vgl. die Diskussion in »Der Sozialistische Arzt« in den zwanziger Jahren. Auch linke Mitglieder des Reichstags, die den § 218 liberalisieren wollten,
teilten diese Meinung, z. B. Emil Höllein (KPD): Höllein (1928), S.174, 179.
17 Dührssen (1926), S. 57, 80,74.
18 Leo Klauber in: Der Sozialistische Arzt, August 1928, S. 3.
19. Vgl. Usborne (1994), S. 201ff.
20 Sie wird unter dem Titel "Cultures of Abortion in Weimar Germany“ erscheinen.
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geeignet, einen Einblick in die Alltagswelt zu gewähren, der uns normalerweise verwehrt ist.21 Aber Kriminalakten sind für mich hauptsächlich ein
Mittel zum Zweck. Strafprozeßakten wegen Vergehen gegen die Abtreibungsparagraphen in der Weimarer Republik sind häufig so vollständig
aufbewahrt, daß sie nicht nur Aufschluß geben, wie führende Instanzen,
z. B. Polizei, Richter- und Ärzteschaft, medizinische oder Laieneingriffe beurteilten, sondern uns auch über unausgesprochene gesellschaftliche Normen sowohl im öffentlichen wie im privaten Raum informieren und uns
etwas von der alltäglichen Erfahrung der betroffenen Frauen und ihren Helfern zeigen. Die staatliche Politik zur Abtreibungs- und Geburtenfrage habe
ich an anderer Stelle erörtert.22 Hier geht es vielmehr um den Blick von
unten: Wie der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft in der medizinischen und rechtlichen Praxis gehandhabt wurde, und wie ihn die betroffenen Frauen erlebten. Die Rolle des Arztes in der eingangs erwähnten
Untersuchung von Hartmann ist widersprüchlich und nicht leicht zu bewerten. Deshalb will ich die drei Gruppen gesondert berücksichtigen, die
Hartmann beurteilten: Mediziner, Juristen und die Rosenheimerinnen, die
er behandelte oder die über ihn sprachen.
Widersprüchliche Beurteilung von Medizinern
Ärzte spielten in Hartmanns strafrechtlicher Untersuchung eine entscheidende Rolle. Ärzte waren daran schuld, daß er mit der Justiz in Konflikt
kam, und es waren wiederum Ärzte, die für seine Rettung eintraten und
einen vollen Strafprozeß abwendeten. Hartmanns Denunziation erfolgte
durch drei seiner Rosenheimer Kollegen, die sein »gemeingefährliches Treiben« bei der Staatsanwaltschaft angezeigt hatten.23 Das zog ein längeres
Gutachten des Traunsteiner Landgerichtsarztes nach sich, der Hartmann als
»ganz skrupellos« bezeichnete. Die drei Rosenheimer Kollegen hatten zudem beanstandet, er habe sich zu Unrecht als Frauenarzt ausgewiesen und
zwangen ihn zum Verlust seiner Kassenpraxis, ein harter Schlag für jeden
Arzt, aber besonders für einen jungen, der erst noch eine Praxis aufbauen
muß.
Wie sollen wir aber die Denunziation der drei Kollegen einschätzen? Ist sie
als ein Versuch zu verstehen, professionelle Werte zu verteidigen, oder war
sie reine Rache? Es ist durchaus möglich, daß die drei Ärzte aus ehrlicher
Überzeugung handelten. Sehr wahrscheinlich waren sie Katholiken und
lehnten deshalb jede Abtreibung aus religiösen Gründen ab. Selbst wenn
sie, wie viele andere Ärzte, mitunter Frauen privat geholfen haben, eine unliebsame Schwangerschaft abzubrechen, konnten sie einen solchen Schritt
notgedrungen nicht öffentlich verteidigen. Als Mitglieder des professionel21 Vgl. Schulte (1989), S. 24f.; Arnot/Usborne (1999).
22 Usborne (1994).
23 StAMü, StaAnw Traunstein 15.634, Landgerichtsarzt Traunstein, 30.8.1922, S.1.
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len Mittelstands und zudem in einer mittelgroßen oberbayerischen Kreisstadt lag es in ihrem Interesse, sich öffentlich für die herrschende Moral
einzusetzen. Wenn ein Kollege auffällig viele »Auskratzungen« ausführte, so
konnte es mitunter der gute Ruf erfordern, gegen ihn einzuschreiten. Auch
wenn die drei Ärzte die standesrechtliche Ehre verteidigen wollten, spielten
kommerzielle Gründe sicher ebenso eine Rolle. Hartmann selber verstand
die »Hetze« der Kollegen gegen ihn als »Konkurrenzneid«, weil er »in deren
Gebiet wiederholt hineinarbeitete«24. Die »Rosenheimer Volkszeitung« beurteilte die Situation ähnlich: Sie bezeichnete die Klage gegen ihn als »das
ganze gemeine, von einer verkommenen Konkurrenzklique raffiniert aufgebaute Verleumdungsgebäude«.25 Die negativen Bemerkungen des Traunsteiner Gerichtsarztes spielten ebenso auf diese Interpretation an. Er beschuldigte Hartmann, »lediglich auf den Patientenfang« auszugehen und
»operative Eingriffe ... zum Zweck leichteren Gelderwerbes« zu machen.26
Erfolgreiche Abtreibungen öffneten Ärzten bisweilen die Tür, die ganze
Familie medizinisch zu betreuen. Berufsneid ist sicher als Motivation nicht
auszuschließen, besonders zu einer Zeit, da es eine sogenannte »Ärzteschwemme« gab.27
Zudem schien Hartmann in den Rosenheimer Unterschichten sehr beliebt
gewesen zu sein. Eine Petition von 48 Mitgliedern der Betriebsräteversammlung einer örtlichen Firma bezeichnete ihn sogar als ausgesprochenen
Menschenfreund. Diese Eingabe plädierte für seine Entlassung aus der Untersuchungshaft, weil er die »Behandlung der Familienmitglieder (Frauen u.
Kinder der Arbeiter) in der aufmerksamsten Weise vorgenommen habe, wie
kein anderer Arzt in und um Rosenheim. Dazu kam noch, daß sich Arbeiter als Zeugen erboten, die beweisen zu können glaubten, daß ähnliche
Vorkommnisse, wie sie dem Dr. Hartmann zum Vorwurf gemacht wurden,
sich auch bei Personen aus besseren Kreisen und bei anderen Ärzten zutrugen.«28 Das letztere bezog sich auf die vermeintliche Abtreibungspraxis unter der Mittelschicht und bei anderen Ärzten, die, wie hier wahrscheinlich
richtig behauptet wurde, weiter verbreitet war, als offiziell zugegeben wurde.
Auch die Rosenheimer Volkszeitung verwendete sich für Hartmann. Sie
pries seine »ärztliche Tüchtigkeit, persönliche Ehrenhaftigkeit und vorbildliche Menschlichkeit«. Außerdem forderte sie Schadenersatz, auf jeden Fall
24 StAMü, StaAnw Traunstein 15.634, Verhör-Protokoll Dr. Hartmann Karl, Traunstein, 24.6.1922, S. 3.
25 StAMü, StaAnw Traunstein 15.634, Rosenheimer Volkszeitung, Nr. 131, 4.9.1922
(Abschrift).
26 StAMü, StaAnw Traunstein 15.634, Bericht Landgerichtsarzt, Traunstein, 30. August
1922, S. 2.
27 Vgl. Klasen (1984).
28 StAMü, StaAnw Traunstein 15.634, Entschliessung der Bürstenfabrik Pruckner Rosenheim, o.D.
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seine Wiederzulassung zur Krankenkasse.29 Moralische Unterstützung kam
ebenfalls von einer Gruppe Kriegsbeschädigter, die es als eine »Ehrenpflicht
der arbeitenden Bevölkerung Rosenheims« bezeichnete, »für die er diese
Unbill unfraglich erlitten hat, dass sie ihm nun erst Recht das Vertrauen
schenkt«.30
Es gibt noch andere Hinweise auf eine ehrenhafte und idealistische Gesinnung Dr. Hartmanns. Er gehörte vermutlich der Bewegung gegen den Paragraphen 218 an, die seit Kriegsende eine radikale Reform, wenn nicht
sogar Aufhebung der Kriminalität der Abtreibung forderte. Jedenfalls hatte
Karl Hartmann den Mut, als Arzt öffentlich für seine Überzeugung einzustehen. Im Frühjahr 1922 war er einer von zwei Rednern auf einer Massenkundgebung gegen den Paragraphen 218, die auf der Theresienwiese, dem
Ort des alljährlichen Oktoberfestes, von der KPD organisiert worden war.
Wie der andere Redner, der KPD-Reichstagsabgeordnete Wendelin
Thomas, forderte er auf dem größten und bekanntesten Versammlungsort
des katholischen München die Freigabe der Abtreibung. Vielleicht war das
sogar der Anstoß für die Denunziation durch seine Kollegen in Rosenheim.31 Ein weiterer Hinweis auf Hartmanns vermutlich eher seriöse als
opportunistische Einstellung zum medizinischen Beruf ist die Tatsache, daß
er aus einer Ärztefamilie stammte. Nicht nur beide Eltern waren Ärzte, sein
jüngerer Bruder studierte ebenfalls Medizin. Es ist folglich nicht ohne weiteres anzunehmen, daß Dr. Hartmann in seinem Beruf »skrupellos« vorging,
wie der Gerichtsarzt ihn beschrieb, oder daß er »gemeingefährlich« war, wie
es die drei feindlichen Kollegen behaupteten.
Dennoch wäre es falsch, Hartmanns ärztliches Vorgehen nur positiv zu bewerten. Er ist vielmehr ein gutes Beispiel dafür, wie vielschichtig die ärztliche Abtreibungspraxis sein und wie sie von der Warte verschiedener Ärzte, der Gerichte und der abtreibenden Frauen ganz unterschiedlich eingeschätzt werden konnte. Auch wenn, wie ich annehme, Hartmanns Gesinnung ehrenhaft war, so bleibt das Problem, wie seine Operationsfehler und
die Zeichen mangelnder Sorgfalt zu verstehen sind. Dr. Zwicknagel, der
Traunsteiner Gerichtsmediziner, verurteilte sein medizinisches Vorgehen
sehr hart: er warf ihm vor, »unsachgemäß« operiert und gegen »die Regeln
der ärztlichen Kunst« verstoßen, durch »Fahrlässigkeit […] Körperverletzungen«, ja sogar einen Tod verursacht zu haben32. Dr. Zwicknagel mag
29 StAMü, StaAnw Traunstein 15.634, Rosenheimer Volkszeitung, Nr. 131, 4.9.22 (Abschrift).
30 StAMü, StaAnw Traunstein 15.634, »Zum Fall Dr. H.«, ohne Angabe (wahrscheinlich
eine Gewerkschaftszeitung).
31 StAMü, StaAnw Traunstein 15.634, München-Augsburger-Abendzeitung, 12. April
1922, Bayerische Staatszeitung und Bayerischer Staatsanzeiger, Nr. 87, 1922.
32 StAMü, StaAnw Traunstein 15.634, Bericht des Landgerichtsarzt Traunstein,
30.8.1922, S.169-171.
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Cornelie Usborne
seine eigenen Vorurteile gehabt haben: Er versäumte es jedenfalls nicht, auf
die besonderen Umstände von Hartmanns Ausbildung hinzuweisen und sie
geschickt mit seinen angeblichen Kunstfehlern in Verbindung zu bringen.
Hartmanns Medizinstudium sei mangelhaft gewesen. Er selbst hatte angegeben, daß er von 1915 bis 1918 im Felde war und deshalb sein Studium
vier Jahre unterbrechen mußte. Er erlangte seine Approbation 1920, war
aber, so der Gerichtsarzt, »spezialistisch in keiner Weise und auch sonst,
wie es eben die Verhältnisse des Krieges mit sich brachten, nur mangelhaft
ausgebildet«.33
Es traf für ärztliche Schwangerschaftsabbrüche, Ausräumungen und andere
gynäkologische Operationen zu, daß man eine Fachausbildung und natürlich Erfahrung benötigte. Hartmanns eigene Angaben lassen auf eine verhältnismäßig kurze, zudem sporadische und lückenhafte gynäkologische
Ausbildung schließen: ein Jahr in der chirurgischen Klinik bei Prof. Sauerbruch, zwei Semester als Gast (meine Hervorhebung; C. U.) in der gynäkologischen Klinik eines anderen Professors und etwas mehr als ein Semester
in der Frauenklinik des Prof. Döderlein, wo er meist nachts tätig war.34 Er
gab selber zu, daß ihm der Titel »Facharzt für Frauenleiden« nicht zustand,
denn der hätte eine ein- bis zweijährig durchgehende Spezialausbildung
vorausgesetzt. Um aber Patientinnen anzuziehen, die ihm lukrativ erschienen, weil sie unbedingt einen Abbruch wollten und deswegen auch gewillt
waren zu zahlen (oder, wie der Gerichtsarzt meinte, um auf Patientenfang
zu gehen), nannte er sich dennoch auf seinem Firmenschild »praktischer
Arzt und Frauenarzt«. Erst nach Klagen der drei Kollegen und der Standesorganisation hatte er das Schild entfernt und sich nur noch »Geburtsarzt« genannt.35 Die Tatsache, daß er nicht selbst versuchte, das Leben der
schwerverletzten Anna L. zu retten, sondern es vorzog, sie todkrank nach
München zu transportieren, um sie dort von einem Bekannten operieren zu
lassen, deutet nicht nur darauf hin, daß er versuchte, seinen Eingriff und die
nachfolgenden Verletzungen zu verheimlichen, sondern auch, daß er seinen
eigenen chirurgischen Fähigkeiten nicht traute.
Erklärend sollte auch erwähnt werden, daß Hartmann seine operativen Fehler ganz am Anfang seiner medizinischen Kariere unterliefen, nämlich in
den ersten zwei Jahren nach seiner Approbation. Auch die Fehlentscheidungen, auf die der Gerichtsarzt hinwies, waren vielleicht damit zu
erklären, daß er damals noch verhältnismäßig jung war, 27 bzw. 28 Jahre
alt, und noch ziemlich unerfahren, obwohl er sich auf der anderen Seite
anscheinend die Unterstützung einer Gruppe von bewundernden Patienten
aus der Arbeiterschicht gesichert hatte. Doch ist der Fall ganz typisch. In
anderen Prozeßakten mußten sich auch frisch ausgebildete Ärzte mit wenig
33 StAMü, StaAnw Traunstein 15.634, S. 167.
34 StAMü, StaAnw Traunstein 15.634, Verhör Hartmann, 24.6.1922, S.1.
35 StAMü, StaAnw Traunstein 15.634, Verhör Hartmann, 24.6.22, S. 55 Rs.
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Heilanspruch und medizinische Kunstfehler
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Erfahrung gerichtlich verantworten, weil ihre Schwangerschaftsabbrüche
schlecht ausgegangen und deshalb entdeckt worden waren.36
Trotz dieser mildernden Umstände muß die Entscheidung des Staatsanwalts, den Fall Dr. Hartmann nicht weiter zu verfolgen, verwunderlich erscheinen, gerade weil die medizinischen Fehler so groß waren und der Bericht des Gerichtsarztes so vernichtend war. Wie kam es zu dieser Verfahrenseinstellung? Mit Sicherheit war es das Gutachten des Münchener Medizinalkomitees, das dies bewirkte. Die vier namhaften Mediziner, Miller,
Sauerbruch, Borst und Döderlein, kamen zu dem Schluß, daß der Tod einer 26jährigen Ehefrau an den Folgen einer Infektion bei der Ausräumung
des Uterus Hartmann nicht zur Last zu legen sei. Im Fall der Maria L.
wurde entschieden, es bestünde kein Zweifel, »daß die Durchbohrung der
Gebärmutter bei Einlegen des Laminarstiftes und durch diesen erzeugt
worden ist, ein Unglück [ist], das nicht selten dabei vorkommt, aus dem
aber nicht der Vorwurf einer fahrlässigen Körperverletzung abgeleitet werden kann.« Auch »das Abreißen des Gekröses und die mehrfache Durchlöcherung der Dünndarmschlingen« spreche wohl dafür, daß »Dr. Hartmann
zum Zwecke der Ausräumung der Gebärmutter mit zangenartigen Instrumenten gearbeitet haben muß. Aber auch daraus ist nicht das Verbrechen
der fahrlässigen Körperverletzung abzuleiten, wenn es auch bei solchen
Eingriffen nicht vorkommen sollte.« Des weiteren wurde Hartmann nicht
getadelt, sondern dafür gelobt, daß er die »narkotisierte Kranke unverzüglich in seinem Auto, in Decken gehüllt, zu der allein das Leben erhaltenden Bauchhöhlenoperation nach München brachte«. Das Gutachten
wurde einstimmig angenommen und von allen vier Medizinern unterzeichnet.37
Die Meinung dieser Universitätsprofessoren zählte natürlich mehr als die
des Gerichtsarztes und war ein gutes Beispiel dafür, wie Ärzte durch einflußreiche medizinische Gönner, die vom Gericht als Sachverständige zugezogen wurden, gerettet werden konnten. Hartmann hatte sowohl bei Döderlein als auch bei Sauerbruch studiert, und beide haben hier ihren Protegé
verteidigt. Aber der Preis war hoch. Denn indirekt gestanden sie öffentlich
ein, daß die Beherrschung der Aborttechnik bei praktischen Ärzten nicht
vorausgesetzt werden könne, weshalb einzelne Ärzte nicht für schwere Verletzungen beim Schwangerschaftsabbruch verantwortlich zu machen seien.
Laien und Mediziner im Urteil der Gerichte
Diese Argumentation wirft ein bezeichnendes Licht auf die gesamte Diskussion innerhalb der Ärzteschaft und besonders die gewünschte Abgrenzung
36 Z. B. Landesarchiv Berlin (LAB), Rep 58, Nr. 850, Dr. M., Bd. I und II; Nr. 2494, Dr.
S. 1931; Nr. 416, Dr. M.
37 StAMü, Stanw. 15.534, Das Medizinalkomitee der Universität München, 15. November 1922 an das Bayerische Landgericht Traunstein, Bl. 185.
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von Laienabtreibern. Die medizinische Kampagne für die Reform des Paragraphen 218, die den Schwangerschaftsabbruch als ärztliches Privileg legalisieren wollte,38 war insofern irreführend, als sie den ärztlichen Eingriff als
verhältnismäßig risikofrei darstellte. Auch wenn sich aus Prozeßakten ein
verzerrtes Bild ergibt, weil Problemfälle darin natürlicherweise überbelichtet
sind, zeigt mein Quellenmaterial, daß der ärztliche Schwangerschaftsabbruch sehr wohl gefährlich sein konnte, besonders wenn er heimlich in einer Privatpraxis vorgenommen wurde, aber durchaus auch bei erfahrenen
Gynäkologen in Kliniken. Schwere Verletzungen oder gar Todesfälle waren
nicht selten. Das ist letztlich nicht anders zu erwarten, da Medizinstudenten
selten in der regelgerechten Ausführung von Aborten unterrichtet wurden
und sich ihr Wissen meist durch mühsame Erfahrung (und sicherlich oft
nach tragischen Fehlern) aneignen mußten.39 In der ärztlichen Debatte um
die Abtreibungsreform hatten einige wenige Ärzte den Mut, auf das Unvermögen der Ärzte hinzuweisen. Albert Niedermeyer, ein angesehener katholischer Gynäkologe und Verfasser einer Reihe von einflußreichen Büchern über Sozialhygiene und Reproduktion, war sich bewußt, daß bei ärztlichen Eingriffen oft Fahrlässigkeit und Kunstfehler vorlagen.
Es genügt absolut nicht, lediglich die ›kriminelle Abtreibung‹ durch Kurpfuscher,
Hebammen etc. zu bekämpfen, wenn nicht auch gleichzeitig die Mißstände wirksam
beseitigt werden, die auf dem Gebiet der sogenannten ›ärztlich indizierten Schwangerschaftsunterbrechung‹ bestehen. Andernfalls besteht die Gefahr, daß das Strafgesetz
einer Sondervergünstigung für solche Ärzte die Hand bietet, die unter dem Schutze
der ›Indikationen‹ ein Privilegium auf straflose und lukrative Fruchttötung zu genießen wissen.40
In der Tat waren führende Gynäkologen so besorgt über die mangelnden
Kenntnisse vieler praktischer Ärzte in der Aborttechnik, daß sie dafür plädierten, Schwangerschaftsabbrüche sollten in Zukunft nur noch von Fachärzten in Krankenhäusern ausgeführt werden. Dieses Argument hatte natürlich viel mit dem Anliegen der Spezialisten zu tun, ihr eigenes Feld von
dem der praktischen Ärzte abzugrenzen. Ernst Bumm, der Doyen der Berliner Gynäkologen, behauptete, Gerichte wären überschwemmt mit Anklagen gegen praktische Ärzte wegen medizinischer Kunstfehler und Fahrlässigkeit.41 Noch einschneidender war aber, daß die Debatte über medizinisches Abtreibungswissen die allgemeine geburtshelferische Unkenntnis
unter praktischen Ärzten aufdeckte. Eine Sammlung von Gerichtsurteilen
medizinischer Sachverständiger der Weimarer Republik dokumentierte sensationelle Fälle ärztlicher Fehlleistungen. Sie zeigten, wie es im Bericht hieß,
»besorgniserregende Beispiele ärztlicher Ignoranz, unzureichender Fach-
38 Vgl. Usborne (1994), S. 237f.; Usborne (1986), S. 203-205.
39 Vgl. Winter (1927), S. 1040; ebenso Hüssy (1935), S. 8.
40 Niedermeyer (1950), S. 204.
41 Ernst Bumm in: Münchener Medizinische Wochenschrift, 1. 2. 1923.
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Heilanspruch und medizinische Kunstfehler
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kenntnisse und grober Fahrlässigkeit«.42 Der führende Frauenarzt Friedrich
Lönne, der vor dem Preußischen Landesgesundheitsrat sprach, hatte eine so
schlechte Meinung von der gynäkologischen Ausbildung und dem fachlichen Können vieler praktischer Ärzte, daß er die Verlängerung des obligatorischen klinischen Unterrichts in Geburtshilfe für alle Medizinstudenten
forderte.43 Doch praktische Ärzte verteidigten ihren Stand, indem sie behaupteten, daß selbst unter den erfahrensten Frauenärzten schwerste Kunstfehler bei Aborten vorkämen.44 Tatsächlich hatte die sensationelle Veröffentlichung einer anonymen Sammlung von Fallstudien aus Universitätsfrauenkliniken im Jahre 1921 dokumentiert, daß sogar die berühmtesten
Gynäkologen den Tod vieler hundert Frauen auf dem Gewissen hatten, weil
sie Schwangerschaften entweder zu spät oder nicht kunstgerecht abgebrochen hatten.45
Bei dem damaligen Stand des medizinischen Wissens und der Handfertigkeit war es deswegen nicht verwunderlich, daß auch schwerste Fehler, wie
sie Hartmann unterliefen, vom Ärztekollegium und dem Gericht entschuldigt wurden. Der Fall Hartmann war tatsächlich typisch für die Art und
Weise, wie gegen praktische Ärzte und Frauenärzte oft gerichtlich wegen
des Verdachts von kriminellen Eingriffen und mißlungenen Operationen
verhandelt wurde, die Angeklagten jedoch dann freigesprochen wurden.
Die Entschuldigung war meist, daß ein medizinisch eingeleiteter Schwangerschaftsabbruch eben gewisse Risiken mit sich brächte.46 Erklärlich ist
diese Rechtfertigung u. a. dadurch, daß ein ärztlicher Eingriff fast immer
mit Instrumenten vollzogen wurde – meist mit der Kürette – und auf diese
Weise bei ungeschickter Handhabung viel leichter Verletzungen entstehen
konnten als bei Laien, die in der Regel mit leichter beherrschbaren Einspritzungen arbeiteten.
Mit Laienabtreibern gingen die Gerichte weniger sanft um. Ich habe an
anderer Stelle dargelegt, daß Laienabtreiber nicht notwendigerweise gefährlicher operierten als Ärzte. Im Gegenteil, mein Aktenmaterial legt den
Schluß nahe, daß ›weise Frauen‹ und ›weise Männer‹, wie sie damals im
Volksmund hießen, wenn sie gewissenhaft arbeiteten und Erfahrung hatten,
durchaus die Fähigkeit besaßen, aseptisch und antiseptisch vorzugehen und
eine ungewollte Schwangerschaft effektiv und sicher abzubrechen.47 Die
Gerichtsakten belegen allerdings auch schwere Verletzungen bei Laienabtreibungen, darunter solche mit tödlichem Ausgang - gerade dann wurde
42 Hüssy (1935), S. 8.
43 Bundesarchiv Koblenz (BAK), R 86, 21379, Bd. 3, Referat, 13.11.1925.
44 Vollmann (1925), S. 23.
45 Ebstein (Hg) (1921).
46 Vgl. Usborne (1997), S. 190f.
47 Usborne (1997), S. 188-190.
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die Polizei ja auf Abtreiber aufmerksam. Dennoch können selbst solche
Fälle, die tragisch verliefen, Rechenschaft vom erstaunlichen medizinischen
Können der Laienabtreiber geben. Frau S. z. B., eine Näherin aus Berlin,
die sich nebenbei durch Abtreibungen Geld verdiente, hatte den Tod einer
ihrer Kundinnen auf dem Gewissen. Aus den Akten geht jedoch hervor,
daß sie mindestens 31 andere Abtreibungen geschickt und sicher ausgeführt
hatte.48
In einigen Fällen stellte sich die Praxis von Laienabtreibern als geradezu
vorbildlich heraus. Beispiele hierfür sind der Berliner Apotheker Heiser, der
1924 wegen des Vorwurfs vor Gericht stand, etwa 11.000 Frauen mit komplikationslosen Schwangerschaftsabbrüchen geholfen zu haben; oder die
Ehefrau eines Bergmanns in Schlesien, die sich 1930 wegen 150 ganz ohne
negative Folgen abgelaufenen Abtreibungen verantworten mußte; schließlich der Prozeß gegen ein Schreinerehepaar aus einem hessischen Dorf, das
während der Inflationsjahre nach dem Ersten Weltkrieg die gesamte Umgebung mit Abtreibungen versorgt hatte und dessen Fähigkeiten von allen
fünfzig mitangeklagten Kundinnen gelobt wurden.49 Obwohl die Eingriffe
dieser Laienabtreiber musterhaft waren, wurden sie doch zu schweren Strafen verurteilt. Der Staatsanwalt hatte z. B. gegen den Apotheker Heiser fünf
Jahre Zuchthaus beantragt; das Gericht erkannte weniger hart, aber immer
noch auf zwei Jahre Gefängnis, obwohl Heiser als Sozialdemokrat und Idealist bekannt war, der sich rückhaltlos für eine Reform des Paragraphen
zugunsten der Arbeiterschicht und der weiblichen Bevölkerung eingesetzt
hatte.50 Die Frau des Schreiners aus Hessen wurde 1924 wegen gewerbsmäßiger Abtreibung in fünfzig Fällen, außerdem in sieben Fällen gemeinsam mit ihrem Mann, zu fünf Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt, ihr Mann zu drei Jahren Zuchthaus, obwohl sie in allen Fällen erfolgreich operiert hatten, keine Komplikationen aufgetreten waren und alle
Kundinnen ihre Dankbarkeit bezeugten.51
Vergleichbare Urteile, in denen Ärzte ohne ähnliche chirurgische Erfolge
freigesprochen wurden, zeigen, wie sehr Mediziner von anderen Medizinern, die als Sachverständige auftraten, geschützt werden konnten. Selbst
gröbste Kunstfehler wurden entschuldigt. In einem Beispiel stand der ehemalige Direktor einer Frauenklinik im Rheinland wegen illegalem Abort in
sieben Fällen, zwei mit Todesfolge, vor Gericht. Einer der drei ärztlichen
Sachverständigen warf ihm ärztliche Kunstfehler und Fahrlässigkeit vor
und machte sein »ungeduldiges« Operieren für die beiden Todesfälle verantwortlich. Zwei andere Sachverständige jedoch zeugten für den Angeklagten: Einer stützte sich fast ganz auf die Aussagen des Angeklagten, der an48 LAB, Rep 58, 2439.
49 Bundesarchiv Potsdam, Reichsjustizministerium 6233, Bd. 2, Bl. 87, 97.
50 BAK, R 86, 2379, Bd. 3, Vorwärts, 20. Mai 1924.
51 Geh. Staatsarchiv Preuß. Kulturbesitz Berlin, Rep 84a, Nr. 17, Bd. 1, Bl. 1.
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Heilanspruch und medizinische Kunstfehler
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dere war von ihm direkt engagiert und sagte – was wenig überrascht – zu
seinen Gunsten aus. Das Resultat war, daß dieser Arzt ebenfalls freigesprochen wurde.52 Manchmal wurden Ärzte auch vom Richter aus eigenem
Antrieb auffallend milde beurteilt. In einem Prozeß wurde ein praktischer
Arzt in Hamborn, Kreis Duisburg, wegen Abtreibung und fahrlässiger Tötung in zwei Fällen nur zu einem Monat Haft verurteilt. Diese relativ milde
Strafe wurde verhängt, obwohl es sich nach den Worten des medizinischen
Sachverständigen bei wenigstens einem Fall um Verletzungen handelte,
»wie man sie sich schlimmer kaum denken könne«. Der betreffende Arzt
hatte, ähnlich wie im Fall Dr. Hartmann, die todkranke Patientin zwar mit
dem Krankenwagen ins Krankenhaus geschickt, es aber unterlassen (so der
Sachverständige), das Krankenhaus »hinreichend zu benachrichtigen«, so
daß die eventuell rettende Operation hinausgezögert wurde und die Patientin starb.53
Hartmanns Operationsfehler waren natürlich nur entschuldbar, wenn die
Eingriffe als gesundheitlich notwendig galten. Die drei feindseligen Kollegen
denunzierten ihn wegen unerlaubten Abtreibungen, und auch der Gerichtsarzt befand, er »zweifle keinen Augenblick daran, daß er [Hartmann]
tatsächlich in wiederholten Fällen unerlaubt Abtreibungen ausgeführt« habe.54 Eine Hebamme, die bei verschiedenen Eingriffen dabei war, auf deren
Urteil aber erstaunlich wenig Wert gelegt wurde, sagte zudem aus, daß
Hartmann bei mindestens einer Frau die Schwangerschaft abbrach, obwohl
er angegeben hatte, die Frucht wäre schon vorher abgestorben. Die Aussagen der Hebamme wurden später auch von der Frau selbst bestätigt.55 Das
Medizinalkollegium verwarf diese jedoch. Der Hauptautor des Berichts,
Prof. Döderlein, weigerte sich, die Aussagen der einzelnen Frauen, der Hebamme und die anderen Hinweise auf illegale Eingriffe ernst zu nehmen und
erklärte, es gebe keine Beweise für die Schuld seines Zöglings. Auch in dieser Beziehung war der Fall Hartmann typisch.
Viele Gerichte betrachteten den Schwangerschaftsabbruch als medizinisches
Privileg – obwohl vom Gesetz nicht anerkannt -, und viele Richter neigten
dazu, bei Ärzten die fehlende Indikation zum Abbruch zu übersehen. Es
war ein ungeschriebenes Gesetz, ein Attest für die medizinische Indikation
von mindestens einem anderen Arzt bestätigen zu lassen. Bei keinem
Schwangerschaftsabbruch aber gab es einen Hinweis, daß Hartmann einen
zweiten Arzt konsultiert hatte.56 Im bereits erwähnten Gerichtsverfahren ge52 GStAB, Rep 84a, Nr. 17107; vgl. Usborne (2000).
53 Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStADü), Reg. Dü 53761
Beschwerden und Untersuchungen gegen Medizinalpersonen im Kreise Duisburg,
S.16.
54 StAMü, StaAnw. 15.634, Bl. 157.
55 StAMü, StaAnw. 15.634, Bl. 128, 83.
56 Ebd., 10. Juli 1922, Nr. 7 Kathi B.
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gen den Direktor der Frauenklinik im Rheinland war der Freispruch noch
erstaunlicher. Zwei schwangere Frauen waren als Folge seines Schwangerschaftsabbruchs gestorben, und die fünf Patientinnen, die die gleiche Operation überlebt hatten, gaben alle zu, dieser Arzt habe bei ihnen eine Abtreibung vorgenommen, aber der Richter entschied, der Aussage der Frauen
nicht zu vertrauen, und verwarf die Anklage wegen mangelnder Beweise.57
Der Prozeß gegen die Münchener Frauenärztin Hope Bridges AdamsLehmann im Jahre 1915 wegen illegaler Abtreibung in wenigstens 27 Fällen
ist wahrscheinlich der berühmteste Fall in dieser Hinsicht. Er löste eine
Sensation aus, als sich herausstellte, daß diese Ärztin mindestens 12 Jahre
lang in großem Umfang routinemäßig therapeutische Abtreibungen im
Rotkreuz-Krankenhaus durchgeführt hatte, obwohl das völlig ungesetzlich
war. Diese Tatsache und die Entscheidung des Richters, den Fall der Ärztin
außer Verfolgung zu setzen, da ihr nicht nachgewiesen werden konnte,
»daß sie sich bewußt war, gegen Gesetz und wissenschaftliche-medizinische
Anschauungen zu verstoßen«58, bewegte die Reichsregierung, die Kontrolle
über die medizinischen Aborte zu verschärfen. Das Resultat waren die oben
erwähnten ärztlichen Richtlinien von 1916 bzw. 1917.59 Der Prozeß gegen
Adams-Lehmann fand schon deswegen so große Aufmerksamkeit, weil sie
als Verfechterin der Frauenemanzipation und einer Liberalisierung des Paragraphen 218 bekannt war. Sie praktizierte gemäß ihrer Überzeugung und
führte die Schwangerschaftsabbrüche ganz offen aus. Sie wurden zudem fast
ausnahmslos von der Krankenkasse finanziert. Adams-Lehmann war nicht
nur äußerst beliebt bei ihren Patientinnen, sondern auch eine hervorragende
Chirurgin, und es gibt keinen Hinweis, daß eine ihrer Operationen zu
Komplikationen geführt hätte. Sie hatte gewissenhaft eine Kartei geführt
und vor jedem Eingriff die notwendige Bestätigung eines zweiten Arztes
eingeholt. Adams-Lehmann wurde jedoch von einer Hebamme denunziert,
weil sie anscheinend gegen Hebammen und Heimentbindungen zu Felde
gezogen war. Es hieß, sie habe behauptet, daß »die Hebammen noch ganz
verschwinden werden, wie seinerzeit die Barbiere und Chirurgen«.60
Was der Richter in der Gerichtsverhandlung aber ignorierte, wahrscheinlich weil die medizinischen Gutachter es nicht berücksichtigt hatten, war
die erstaunliche Tatsache, daß dieselbe Ärztin, die als Freundin der Armen
gefeiert wurde, bei fast allen ihrer Patientinnen nicht nur abgetrieben, sondern sie gleichzeitig auch sterilisiert hatte. Dabei hatte Adams-Lehmann die
Hysterektomie (Gebärmutterentfernung, in ihren Karteien als »Porro« verzeichnet) vorgenommen, ein verhältnismäßig schwerer Eingriff. Noch ein57 GStAB, Rep 84a, Nr. 17107, Bl. 103.
58 StAMü, StaAnw Mü, 1834, 1915.
59 Vgl. Usborne (1994), S. 33.
60 StAMü, StaAnw Mü 1834, 1915, Zeugenaussage Babette R., Hinweis auf Bayerische/Süddeutsche Hebammenzeitung, 1.3.14.
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schneidender ist, daß dies geschah, ohne vorherige Einwilligung, ja sogar
ohne daß die Patientinnen, die zum größten Teil den Unterschichten angehörten, nachträglich darüber unterrichtet wurden. Eine Frau erfuhr erst später zufällig davon, als sie sich erneut an Dr. Adams-Lehmann wandte, damit sie ihr »ein Schüsserl« (Diaphragma) einsetze.61 Das zeugt von den Widersprüchlichkeiten der akademischen Medizin: Einerseits sehen wir ein
hohes Niveau an professionellem Können, gemischt mit Idealismus für
Frauenrechte und Sympathie für die ärmere Bevölkerung. Auf der anderen
Seite ist eine Mißachtung der Rechte des Einzelnen unverkennbar.
Die »Lohnabtreibung«
Selbst wenn Ärzte schuldig gesprochen wurden, bekamen sie weit mildere
Strafen als Laienabtreiber. Ein praktischer Arzt in Hamborn z. B. wurde
1929 wegen Abtreibung und fahrlässiger Tötung in zwei Fällen zu nur einem Monat Gefängnis verurteilt, allerdings wurde die Strafe nach der Berufung auf drei Monate erhöht.62 Dem Krefelder praktischen Arzt Dr. Selo
z. B. wurde 1931 eine Gefängnisstrafe von neun Monaten wegen gewerbsmäßiger Abtreibung in sechs Fällen auferlegt.63 Für die Abtreibung gegen
Entgelt, die sogenannte »Lohnabtreibung«, wurde unter Paragraph 219 des
Gesetzes von 1871 eine besonders harte Strafe vorgesehen: Zuchthaus bis zu
zehn Jahren. In der Gesetzesnovelle von 1926 wurde die Strafe für die abtreibende Frau stark reduziert, nämlich die Höchststrafe von Zuchthaus auf
Gefängnis und die Mindeststrafe bei mildernden Umständen von sechs
Monaten Gefängnis auf einen Tag Gefängnis oder sogar nur auf eine Geldstrafe von drei Mark. Dagegen wurde die Lohnabtreibung weiterhin mit
Zuchthaus bestraft und die Höchststrafe von zehn auf fünfzehn Jahre verschärft.64
›Weise Frauen und Männer‹ wurden grundsätzlich zu harten Strafen verurteilt, in vielen Fällen zu Zuchthaus. Eine juristische Studie über Verurteilungen wegen Abtreibung durch das Landgericht Gera zwischen 1896 und
1930 zeigt, daß die 13 Personen, die wegen gewerbsmäßiger Abtreibung
verurteilt wurden, alles Laien, mit Zuchthaus zwischen zwei und fünf Jahren
bestraft wurden.65 Auch wenn Laien sorgfältig und sicher operiert hatten,
aber gewerbsmäßig vorgingen, wurden sie von den Gerichten ohne Ausnahme drakonisch bestraft. So wurde eine Berliner Portierfrau 1930 für ge61 HStADü, Reg. Dü 53761, Beschwerden und Untersuchungen gegen Medizinalpersonen im Kreise Duisburg, S.16.
62 HStADü, Reg. Dü, 53761, Strafsache gegen den prakt. Arzt Dr. Wilhelm B.
63 HStADü, Reg. Dü, 53762, Beschwerden und Untersuchungen gegen Medizinalpersonen im Kreise Krefeld, Strafsache gegen prakt. Arzt Dr. Selo, S. 39.
64 Gesetz zur Abänderung des Strafgesetzbuches vom 18. Mai 1926, vgl. Usborne (1994),
S. 220, 272.
65 Köhler (1935), S. 24, 44.
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werbsmäßige Abtreibung in wenigstens zwanzig Fällen zu zwei Jahren Gefängnis und drei Jahren Ehrverlust verurteilt; außerdem mußte sie die gesamten Kosten des Verfahrens tragen. Erschwerend wirkte, daß sie schon
mehrmals, hauptsächlich wegen Eigentumsdelikten, vorbestraft war. Das
Urteil war ungemein hart, während der Richter sagte, er habe ihr mildernde
Umstände zugebilligt, da keiner der Eingriffe mit Verletzungen verbunden
gewesen war.66
Obwohl Hartmann ursprünglich der gewerbsmäßigen Abtreibung verdächtigt wurde, war weder im Bericht des Medizinkollegiums noch des Gerichtsarztes von Geld die Rede. Ein genaues Studium der Zeuginnenverhöre zeigt
aber, daß mindestens drei Patientinnen angaben, Zahlungen an Hartmann
geleistet zu haben, eine bezahlte 1920 sogar 500 Mark67; das war auch in
den frühen Phasen der Inflation eine sehr hohe Summe.68 ›Weise Frauen
und Männer‹ verlangten damals im Durchschnitt zwischen 15 und 30
Mark. Bei Maria L., die Verkäuferin war, belief sich das Honorar (allerdings 1921 bei fortgeschrittener Inflation) sogar auf 6.000 bis 7.000 Mark,
verbunden mit einer zusätzlichen Zahlung von 5.000 Mark an den Münchener Arzt, der ihr das Leben gerettet hatte. Der Eingriff bei einer dritten
Patientin wurde zwar von der Krankenkasse bezahlt, aber Hartmann forderte von ihr 20 Mark pro Tag für den Aufenthalt in seiner »Privatklinik«,
d. h. in seiner Wohnung. Nachdem sie dort acht Tage geblieben war, ergab
sich ein beachtlicher Betrag.69
Hartmann war nicht der einzige Arzt, der eine kommerzielle Einstellung
hatte, die man allgemein nur sogenannten Kurpfuschern nachsagte. Ein Fall
aus dem Jahre 1929 ähnelte dem Hartmanns. Der besagte praktische Arzt,
Dr. Selo aus Krefeld, war auch noch sehr jung (gerade 30 Jahre zur Zeit der
Vorfälle), er wurde von einer Lokalzeitung als ebenso populär wie Hartmann beschrieben, und der Prozeß ging ebenfalls durch mehrere Zeitungen.
Obwohl Selo nachgesagt wurde, er habe seine Patientinnen »stets in der
aufopferndsten Weise behandelt«,70 forderte er für einen Abbruch regelmäßig zwischen 100 und 200 Reichsmark, auch von schwangeren Frauen
der ärmsten Schichten, und ließ sich obendrein von zwei Krankenkassen
die Kosten ersetzen. So verlangte er von einer 26jährigen ledigen Hausangestellten 150 Reichsmark, obwohl sie ihren Krankenschein vorlegte. Erst als
sie protestierte, sie verdiene nur 45 Reichsmark monatlich, erklärte er sich
mit 130 Reichsmark als »Äußerstes« zufrieden. Von der Krankenkasse verlangte er gleichzeitig für eine fiktive Behandlung Beträge. Selo nahm seine
66 Siehe Usborne (1999), S. 377f.
67 StAMü, Stanw. 15.634, Bl. 88R, Anna N.
68 StAMü, Stanw. 15.634, Bl. 89.
69 StAMü, Stanw. 15.634, Polizeiinterviews, S. 80Rs, 81, 81Rs.
70 HStADü, Reg. Dü 53762, Strafsache gegen prakt. Arzt Dr. S. 1930, Volkszeitung,
22.10. 1931, »Über die Tragik des Riesenprozesses«.
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Bezahlung so ernst, daß er schwangere Patientinnen lieber wegschickte, als
seine Forderung einzuschränken. Wenn eine Schwangerschaft in einem fortgeschrittenen Stadium war, verlangte er eine entsprechend höhere Summe,
nämlich mindestens 200 Reichsmark, vermutlich, um das erhöhte medizinische Risiko und das einer potentiellen polizeilichen Untersuchung im Fall
des Mißlingens aufzuwiegen. Er forderte diese stattliche Summe auch von
ärmeren Frauen, für die das etwa fünf Monatslöhne Gehalt bedeutete.71 Die
Angewohnheit, sich die Operation von der Krankenkasse und gleichzeitig
von der Patientin bezahlen zu lassen, war durchaus keine Seltenheit. In einem Fall, der 1934 vor Gericht kam, sich aber auf die letzten fünf Jahre der
Weimarer Republik bezog, wurde die große Abtreibungspraxis eines Teams
von vier Ärzten aus Fürstenberg an der Oder so geschickt finanziert, daß
für jeden Eingriff auf diese Art doppelt kassiert wurde.72
Wie wir sahen, gab sich Hartmann als Frauenarzt aus und warb durch das
entsprechende Firmenschild um Kundschaft. Zu einer Zeit, als die Nachkriegswirren die geschätzte Abtreibungsziffer enorm ansteigen ließen,73
konnte eine Abtreibungspraxis äußerst lukrativ sein. Sie war deswegen eine
geeignete Art, Patientinnen anzuziehen, die danach bleiben würden und womöglich auch ihre Familien behandeln ließen. Diese Art der indirekten
Werbung war besonders vorteilhaft, da es Ärzten verboten war, Reklame zu
machen. Hartmanns Auftritt bei der Großkundgebung gegen den Paragraphen 218 auf der Münchener Theresienwiese muß sicherlich als verbrämte
Reklame bewertet werden. Mehrere Zeitungsberichte behaupteten, er habe
das Podium der Versammlung benutzt, um geschickt auf seine eigene Praxis in Rosenheim zu verweisen. In seiner kurzen Rede behauptete er, innerhalb eines Jahres hätten 78 Frauen, darunter »auch solche von Justizräten«,
ihn gebeten, von »der Schwangerschaft befreit zu werden«. Nach eigenen
Angaben habe er allerdings bis auf wenige alle abweisen müssen.74 Es war
durchaus üblich, daß Ärzte, besonders wenn sie versuchten, gegen viel
Konkurrenz ihre eigene Praxis aufzubauen, Abtreibungskundinnen mit allen möglichen Mitteln anwarben. Sie benutzten Hebammen, Masseusen
oder Krankenschwestern als sogenannte Schlepperinnen, oder sie verließen
sich auf Flüsterpropaganda.75 Es ist durchaus denkbar, daß die Hebamme,
die Hartmann bei wenigstens drei Eingriffen assistierte, auch bezahlt wurde,
um ihm Kundinnen zu überweisen. Vielleicht war sie es, die Hartmanns
Ruf als »tüchtiger Frauenarzt« in Umlauf gesetzt hatte, der dann innerhalb
71 HStADü, Reg. Dü 53762, Fall 1, 6, und 7.
72 Brandenburgisches Hauptstaatsarchiv, Rep 3B I Med 281 Frankfurt a.O. Dr. Kahlisch
u. Gen., 1934, Bl. 9.
73 Vgl. Usborne (1994), S. 205
74 StAMü, StaAnw 15.634, Zeitungsausschnitte Münchener Zeitung, Nr. 101, S. 3 und
Zeitung ohne Titel und Datum.
75 Vgl. Usborne (1996), S.146f.
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
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Cornelie Usborne
des engen Nachbarschaftsnetzes von Mietshäusern als »sicherer Tip« von
Frau zu Frau weitergereicht wurde, wann immer jemand über eine »verspätete Regel« klagte.76 Ärzte haben Vermittler benutzt, selbst wenn sie nicht
kommerziell arbeiteten, wie Adams-Lehmann. Anscheinend machten Fürsorgeschwestern des Rotkreuz-Krankenhauses, in dem die Ärztin Entbindungen oder Abbrüche vornahm, den schwangeren Frauen Vorwürfe, »daß
sie sich soviel Kinder aufhängen lassen, sie sollen doch zur Frau Dr. Lehmann’s gehen, da hört sich das auf.« Es gab zudem fünf Hebammen, die
vermutlich zusammen mit Adams-Lehmann und den anderen willigen Ärzten im Krankenhaus als ein Netzwerk von Abtreibungsdiensten operierten.77 Auf jeden Fall wurde das Tabu der ärztlichen Reklame auf verschiedene Art leicht verletzt.
Die betroffenen Frauen
Der ärztliche Schwangerschaftsabbruch unterschied sich von dem Laieneingriff nicht nur in der Anwendung von Kurette oder anderen Instrumenten, sondern auch dadurch, daß von Ärzten normalerweise die Operation
unter Narkose durchgeführt wurde. Narkosen waren medizinisch dringend
empfohlen, weil sie die Sicherheit des Eingriffs erhöhten und ebenso die
Patientin schonten. Sie bedeuteten aber auch ein wichtiges Privileg der approbierten Ärzteschaft, gerade weil sie den Gebrauch von Instrumenten
ermöglichten und somit verhinderten, daß nicht-approbierte Mediziner wie
Hebammen oder gewöhnliche »Kurpfuscher« direkt mit dem toten Fötus in
Berührung kamen.78 Die Anwendung einer Narkose erhöhte zudem die
ärztliche Kontrolle, machte sie doch die Patientin, wie der Name besagt,
passiv und stumm. Mitunter führte das auch zu Mißbrauch der ärztlichen
Macht, dann nämlich, wenn betäubte Patientinnen viel eingreifenderen
Operationen unterzogen wurden, als sie wollten, z. B. Sterilisationen oder
sogar Vergewaltigungen.79 Laienabtreibungen mußten notgedrungen immer
ohne Narkose erfolgen und waren deshalb auf viel einfachere und direkte
Mittel beschränkt. Hartmann aber scheint nicht immer eine Ausräumung
der Gebärmutter unter Narkose getätigt zu haben, obwohl eine solche Operation bekanntlich sehr schmerzhaft war80, besonders natürlich, wenn es
dabei Verletzungen gab, wie bei Frau Anna P., bei der Hartmanns Eingriff
zu einer Embolie mit Bauchfellentzündung und »Aderverstopfung« führte,
76 StAMü, StaAnw 15.634, Polizeiverhöre, Maria B. Bl. 93-101R.
77 StAMü, StAnw. Mü I, 1.834, 6.3.1914, Verhör Babette R., Hebamme.
78 Für eine eingehende Besprechung dieses Aspekts vgl. Usborne (1996), S.166f.
79 Vgl. StAMü, Stanw. Mü 1834, Dr. Adams-Lehmann; HStADü, Stanw. Kleve, Rep 7,
896.
80 HStaADü, Reg. Dü, 53761, Dr. Selo, 1. Fall, K. und 3. Fall J. B.
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woran die Patientin schließlich starb.81 Es ist nicht sicher, warum Hartmann nicht routinemäßig Narkosen anwendete, aber wahrscheinlich gab es
finanzielle und praktische Gründe. Narkosen sollten eigentlich von einem
Spezialisten ausgeführt werden, der natürlich etwas kostete (bei Hartmann
waren der befreundete Zahnarzt und auch seine Frau tätig), und eine zweite
Person war immer auch Zeuge einer illegalen Operation und bedeutete deshalb ein Risiko. Wie aus den Gerichtsakten hervorgeht, haben einige Ärzte
regelmäßig auf eine Betäubung verzichtet, und die Zeuginnenaussagen geben Rechenschaft von den Qualen, die deshalb oft erlitten werden mußten.82 In einem Extremfall verzichtete ein Landarzt auf eine Narkose, um
mit einer schmerzhaften Operation einer »leichtsinnigen« Patientin einen
Denkzettel zu verpassen.83
Wie aber schätzten Frauen selber das Erlebnis einer Abtreibung und Hartmann als Abtreiber ein? Die Untersuchungsakten zu seinem Fall überliefern
verhältnismäßig wenig Aussagen im Wortlaut der mitangeklagten Frauen
oder der Zeuginnen. Ich mußte deshalb zwischen den Zeilen lesen, um ihre
Meinung und ihre Erfahrungen herauszuschälen. Sicher ist aber, daß die
meisten Frauen, die sich von einer ungewollten Schwangerschaft befreien
wollten und deren Verbündete, eine Abtreibung weder als abweichende Tat
noch als ein tragisches Ereignis oder einen abstoßenden Vorgang betrachteten. Die abgetriebene Frucht empfanden sie auch ganz und gar nicht als
ermordetes Kind. Maria L., die 24jährige unverheiratete Verkäuferin, mit
deren Geschichte dieser Aufsatz beginnt, beschrieb ihre eigene Frühgeburt
(oder Abtreibung?) ganz sachlich und fand es auch nicht weiter absonderlich, die abgegangene Frucht mitsamt der Nachgeburt bei sich im Nachttopf im Nachtkästchen drei Tage lang aufzubewahren, bis es ihr besser ging
und sie beides im Rückgebäude in den Abort schütten konnte.84 Eine ledige
Dienstmagd in Oberbayern, Frieda Z., fand anscheinend nichts dabei, die
12jährige Tochter ihres Dienstherrn, Erika E., mit der sie das Zimmer teilte,
in ihre Abtreibung einzubeziehen. Sie sagte aus, eine Nachbarin habe sie an
einem Sonntag im Winter 1932/33 mit einer Scheidenspülung behandelt.
Sie ging dann noch in die Kirche, aber als sich am nächsten Morgen starke
Schmerzen einstellten, legte sie sich ins Bett. Am gleichen Abend gegen 8
Uhr verstärkten sich die Schmerzen »und die Leibesfrucht ging weg«. Da
sie sich allein nicht habe helfen können, bat sie die 12jährige Erika, »sie
möchte ihr das Nachtgeschirr reichen«, in welches sie dann die »abgegangene Leibesfrucht gelegt habe.« Als ihr Freund, von dem sie schwanger war,
81 StAMü, StaAnw. Traunstein 15.634, Medizinalkomitee der Univ. München,
15.11.1922, S. 181v, 182.
82 Z. B. Reg. Dü 53762, Strafsache gegen den prakt. Arzt Dr. S. aus Krefeld, 1930, 3.
Fall.
83 Vgl. Usborne (1996), S.60, zitiert nach Grotjahn (Hg.) (1932).
84 StAMü, StAnw. 15.634, Bl. 80.
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zwei Stunden später auf ihr Zimmer kam, um ihr »einen nächtlichen Besuch abzustatten«, erzählte sie ihm von der Abtreibung und wollte ihm
»den Abgang zeigen«. Wie sie berichtete, wollte der aber davon nichts wissen.85 Es gibt weitere Fälle, in denen Frauen ganz unsentimental mit der
Tatsache umgingen, daß sie abgetrieben hatten.86
Auch wenn die offiziellen Schätzungen die jährliche Quote des illegalen
Schwangerschaftsabbruchs sicherlich oft übertrieben, war er doch für einen
großen Teil der weiblichen Bevölkerung, besonders in den Unterschichten,
ein alltägliches Erlebnis. Entweder waren Frauen von einem solchen Eingriff selber betroffen, oder sie kamen durch Verwandte, Bekannte und
Nachbarn damit unmittelbar in Berührung. Zeuginnen in der Untersuchung gegen Hartmann berichteten, wie Mitbewohnerinnen ständig über
Abtreibungen sprachen und sich gegenseitig Rat gaben, wo man am besten
hingehe und wieviel es koste. Eine Zeugin, Rosa P., fragte ihre Nachbarin
eines Tages ganz nebenbei, wie es wäre, wenn die Abortgrube geleert und
ein totes Kind gefunden würde, »ob man die Frauenperson, von der das
Kind stamme, noch herausbringen könnte«. Die Nachbarin fand nichts
dabei, es weiterzuerzählen.87
Wurde auch der Versuch, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen,
oft als Routine empfunden, so war doch die Entscheidung, wer dabei helfen
sollte, ungemein wichtig. Ich habe an anderer Stelle aufgezeigt, was Frauen
unternahmen, um sicher abzutreiben.88 Der Weg ging meist von einem Eigenversuch weiter zu einer befreundeten dritten Person und, wenn es da
nicht klappte, zur professionellen Abtreiberin. Generell wurde eine ›weise
Frau‹ einem ›weisen Mann‹ vorgezogen und ein Laie einem Arzt. Dafür
gab es viele Gründe, die teils finanzieller Art waren, teils mit der Gesinnung
und der kulturellen Affinität zwischen Abtreiberin und Klientinnen zusammenhingen. ›Weise Frauen und Männer‹ waren grundsätzlich billiger, hatten generell ein Können, das dem der Ärzte mindestens ebenbürtig war,
waren fast immer geneigt zu helfen und kamen meist aus dem gleichen Milieu wie die schwangeren Frauen, d. h., sie benutzten die gleichen Ausdrücke wie ihre Klientinnen, und diese fühlten sich weniger untergeordnet als
bei Ärzten, deren professioneller und sozialer Status gewöhnlich Respekt
und sogar Angst einflößte.89
Der Fall Hartmann ist insofern ungewöhnlich, als seine Patientinnen anscheinend unmittelbar zu ihm als Arzt und nicht erst zu ›weisen Frauen‹
(worunter auch Hebammen gezählt wurden) oder ›weisen Männern‹ gin85 StAMü, StAnw. 15.701, Bl. 5, 5R.
86 Vgl. Usborne (1999), S. 384f.
87 StAMü, StAnw. 15.634, Bl. 94.
88 Siehe Usborne (1996), S. 146-152.
89 Vgl. Usborne (1997), S. 188-190.
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gen. Es ist nicht sofort ersichtlich, warum das so war. Entweder gab es wenig Laienabtreiber in Rosenheim oder, wenn es sie gab, zogen sie es vor, an
Hartmann zu vermitteln, weil seine Bezahlung gut genug war und sie nicht
selber operieren mußten. Dafür gibt es zwar keine Beweise, weil der Verdacht von dem Untersuchungsrichter nicht geäußert wurde, aber die Vermutung liegt zumindest bei der in den Fall involvierten Hebamme nahe.
Vielleicht war aber der Ruf des »zugereisten Doktors« als williger Helfer
und dazu überaus »tüchtiger Frauenarzt« so unangefochten, daß Frauen
sich nicht weiter umsahen, wenn »Not am Mann« war.
Was dachten Abtreibungskundinnen von Hartmann? Die Meinung war
sicher geteilt. Während einige ihn lobten, weil er sie von ihrer unerwünschten Bürde befreit hatte, war die Begegnung mit Hartmann für andere vermutlich eine weniger positive Erfahrung, wenn die Operation mißglückte oder ohne Narkose vorgenommen wurde.90 Dann hatte er wahrscheinlich ihr Vertrauen in ihn als tüchtigen Frauenarzt aufs bitterste enttäuscht. Merkwürdigerweise sind keine Klagen gegen den Arzt verzeichnet,
auch nicht in Extremfällen, wie dem der Anna L. Sie und die anderen Zeuginnen mußten allerdings in ihrer Aussage vorsichtig sein, denn sie waren
zugleich auch Mitverdächtige. Im Fall Anna L. erscheint die Beurteilung
des Medizinalkollegiums als grausame Ironie. Hartmanns »beherzte Entscheidung«, sie sofort nach München zu bringen, wurde gut geheißen:
»Diesem Umstand und der sachkundigen Operation allein ist es zu danken,
dass die sonst verloren gewesene Patientin am Leben erhalten wurde und z.
Zt. vollkommen gesund ist«. Die nicht wiedergutzumachende Verletzung
wurde mit keinem Wort erwähnt. Der Gerichtsarzt, der weitaus kritischer
war, kritzelte folgende sarkastische Marginalie an diese Stelle: »sine utero!«91.
Dieses Außerachtlassen der Interessen der Patientin tritt hier genauso deutlich zu Tage wie in dem allgemeinen Tenor der medizinischen Gutachten in
anderen Abtreibungsprozessen: Frauen wurden nicht als Individuen, sondern, objektiviert und pathologisiert, als rein medizinische Fälle ohne Bezug
auf ihre persönlichen Umstände betrachtet. In Strafprozessen gegen Laienabtreiber dagegen kamen schwangere Frauen und ihre Anliegen viel öfter
und deutlicher zur Sprache.92 Für die 24jährige ledige Anna L. bedeutete
eine unerwünschte Schwangerschaft wahrscheinlich die Gefährdung ihrer
Beziehung zu ihrem Freund und auch ein berufliches Risiko. Um dieses abzuwenden, lohnte es sich für sie offensichtlich, ihren Vater und ihren
Freund zu bewegen, ein kleines Vermögen zu bezahlen und für sich selber
eine Gefängnisstrafe zu riskieren. Das konnte sie aber nicht darüber hinwegtrösten, daß sie schwere Verletzungen erlitten hatte und zudem nie mehr
90 StAMü, StAnw. 15.634, Bl. 88R. Anna N.
91 StAMü, StAnw. 15.634, Bl. 46.
92 Vgl. Usborne (1999); oder Usborne: Gestocktes Blut (in Vorbereitung).
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Kinder haben würde. Die offiziellen Berichte aber haben diese persönliche
Tragik völlig außer acht gelassen. Wie Hartmann darüber dachte, wissen
wir nicht.
Die individuellen Rechte von Patientinnen konnten auch bei Ärzten, die als
Menschenfreunde bezeichnet wurden, mißachtet werden: Adams-Lehmann
wurde als Kämpferin für Frauen und Unterprivilegierte gepriesen. Ihre Entscheidung, arme und erschöpfte Frauen bei einem Abbruch zu sterilisieren,
war anscheinend von purem Mitgefühl geleitet: »Ach das Frauchen muß
ich dem Manne erhalten; der Mann braucht ein gesundes Frauchen; zu was
die vielen Kinder«.93 Die Zusammenstellung ihrer Sterilisationsfälle bezeugt
ebenfalls, daß diese Ärztin gewissenhaft Anamnese und Befund sowie Indikation verzeichnete und daß die meisten Patientinnen wahrscheinlich von
einer permanenten Form der Empfängnisverhütung profitiert haben. Das
allein kann aber solche eigenmächtigen und schwerwiegenden Operationen
nicht entschuldigen, die ohne sorgfältige vorherige Aufklärung und explizite
Einwilligung ausgeführt wurden. Adams-Lehmanns Handeln ist um so weniger akzeptabel, als einige ihrer Patientinnen ausgesprochen jung waren
und noch keine Kinder hatten. Zudem scheinen ihre Sterilisierungen nicht
nur medizinisch/sozial, sondern auch eugenisch indiziert gewesen zu sein.
Befunde wie »hochgradige Nervenschwäche« oder »Intelligenzstörung« galten damals als klassische Beispiele von Erbkrankheiten, die zu »minderwertigen« Kindern führten. Einzelne betroffene Frauen mögen von diesen Eingriffen profitiert haben, aber sie waren mehr für das Wohl der Allgemeinheit oder, wie es damals hieß, des Volkskörpers, als für das Wohl der Frauen gedacht.94 Es ist nicht übertrieben, Adams-Lehmanns Praxis als Zwangssterilisation durch die Hintertür zu beschreiben.
Fazit
Zusammenfassend kann man sagen, daß sich vom Standpunkt der meisten
Frauen der Abbruch einer Schwangerschaft so darstellte: Wenn es um die
Sicherheit des Eingriffs ging, waren Ärzte nicht notwendigerweise zuverlässig oder den Laien überlegen. Damals war eine medizinische Approbation keine Garantie für einen Abbruch ohne Komplikationen, genau wie die
fehlende Approbation nicht immer ein gesundheitliches Risiko bedeutete.
Die wichtige Trennlinie zwischen approbierten und nicht-approbierten
Therapeuten oder, anders ausgedrückt, zwischen sogenannter Schul- und
Laienmedizin, war weit verschwommener, als es den Ärzten lieb war. Um
es grob zu formulieren: Was den künstlichen Abort betraf, so waren viele
93 StaAMü, StAnw. Mü I, 1.834, Verhör Babette R. 6.3.14.
94 StaAMü, StAnw. Mü I, 1.834, Fall 16, Frau C. Sch., Köchin, 37, 3 Geburten, 1 Abort,
Abnahme der Intelligenz, Porro; oder Fall 18, Frau R. P., Köchin, 29, keine Geburten,
1 Abort, Porro. Für eine Diskussion der eugenischen Sterilisation s. Usborne (1994), S.
168-200.
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praktische Ärzte absolute Laien. Das unterminierte aber ein zentrales Argument der Ärzte gegen die Kurierfreiheit und erklärte, warum sie unbedingt
dieses Gebiet erobern wollten, auf dem so viele Laien erfolgreich waren.
Man verfolgte zwei Strategien, um letztere auszugrenzen: »Pfuscherabtreibungen« sollten mit aller Härte verfolgt werden, und gleichzeitig sollte der
von Ärzten eingeleitete Abort gesetzlich verankert werden. Im Namen des
Kampfes der Ärzte gegen die Kurpfuscher und für ein ärztliches Monopol
auf dem Gebiet der Reproduktionskontrolle hieß es, sich so schnell wie
möglich Erfahrung anzueignen, auch wenn damit z. T. große Risiken verbunden waren und Patientinnen unwissentlich zu »Versuchskaninchen«
degradiert wurden. Die Gerichte, die mit Medizinern milder verfuhren als
mit Laienabtreibern, betätigten sich dabei als willige Helfer.
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Die Entstehung der modernen Psychopharmakologie. Heilanspruch und Heilvermögen eines psychiatrischen Therapiesystems aus medizinhistorischer Sicht
Matthias M. Weber
Summary
The Development of Modern Psychopharmacology. Historical Aspects of Therapeutic Claims and Capabilities
Even though psychopharmacology is an integral part of modern psychiatric treatment, it
remains a controversial topic in public discourse. Historical analysis is an important tool,
which gives us a more realistic view of the theoretical underpinnings and therapeutic potential of psychopharmacological treatments.
Not surprisingly, a historical survey of claims and treatments shows that psychopharmacological developments are closely connected to the intellectual framework of the period.
While drugs have been used to treat psychopathological disorders since ancient times,
post-19th century modern psychopharmacology has been characterized by its reliance on
science.
This study examines this reliance on scientific disciplines, such as chemistry and anesthesiology, by examining case studies such as the introduction of new psychopharmacological
techniques. For instance, the introduction in 1869 of the first synthetic sedative, chloral
hydrate, clearly illustrates several trends in modern psychopharmacology. The successful
introductions of antipsychotic and antidepressant drugs in the late 1950s have also been
important milestones, which were instrumental in breaking down the skepticism of clinical
psychiatrists.
Therapeutische Wirklichkeit versus öffentliche Bewertung
Die systematische Anwendung und Untersuchung psychotroper Arzneimittel, d. h. die klinische Psychopharmakotherapie und die zugehörige Forschungsdisziplin der Psychopharmakologie, stellen wesentliche Merkmale
der gegenwärtigen Psychiatrie dar. Anhand der Verordnungshäufigkeiten
und der Umsatzziffern läßt sich die enorme praktische Bedeutung und die
große Verbreitung der Psychopharmakotherapie unschwer verifizieren. Der
Einsatz dieser Medikamentengruppe ist keineswegs auf die klinische Psychiatrie beschränkt, sondern erstreckt sich auf nahezu alle Gebiete der Medizin. Die Mehrzahl aller Psychopharmaka, insbesondere der BenzodiazepinPräparate, wird nicht von Psychiatern, sondern von Ärzten anderer Fachgebiete verschrieben.1 Obwohl die einschlägigen epidemiologischen Angaben teilweise stark variieren, steigt der jährliche Umsatz aller Neuroleptika,
Antidepressiva, Hypnotika und Sedativa in Deutschland langfristig und
kontinuierlich an; derzeit dürfte er bei über 2 Mrd. DM liegen.2 Hinzu
kommen die Ausgaben für phytotherapeutische Psychopharmaka, wovon
gegenwärtig vor allem Johanniskraut-Präparate zur Behandlung leichterer
1
Vgl. z. B. Tallman/Paul/Skolnick/Gallager (1980).
2
Vgl. Schwabe/Pfaffrath (1994); Holsboer (1999).
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depressiver Syndrome auch in der akademischen Psychiatrie eine gewisse
Renaissance erleben.3
Diese sozialmedizinischen Daten belegen – unabhängig von der theoretischen Einordnung oder Bewertung der Psychopharmakologie – den offensichtlichen Bedarf und damit das empirische Heilvermögen. Die Wichtigkeit der Psychopharmaka innerhalb der Psychiatrie kann außerdem leicht
anhand der Publikationstätigkeit oder der aktuellen Lehrbuchinhalte bestimmt werden.4 In der öffentlichen Diskussion werden Psychopharmaka
hingegen meist ambivalent bewertet, obwohl der Einfluß der antipsychiatrischen Bewegung der 1970er Jahre inzwischen zurückging. Nicht selten wird
die Ablehnung pharmakologischer Therapiemethoden in der Psychiatrie
mit einer »seelenlosen« bzw. »materialistischen« Haltung der »Schulmedizin« begründet, die psychogenen und sozialen Faktoren in der Krankheitsgenese eine vermeintlich zu geringe Rolle beimißt und die menschliche Psyche auf labortechnisch meßbare Funktionen reduzieren will. Zeitgenössische
philosophische Kritiker erkennen zwar an, daß heutige neurobiologische
Modelle keineswegs mehr mit den »Holzhammer-Methoden« der früheren
kustodialen Anstaltspsychiatrie gleichgesetzt werden dürften; dennoch bringe das »maschinistische Denken« der Medizin bei psychischen Erkrankungen letztlich nur symptomatische, »pseudowissenschaftliche« Heilmethoden
hervor.5
Diese Argumentation weist darauf hin, daß die Psychopharmakologie auch
von ihren Kritikern als »technische« Problemlösungsstrategie aufgefaßt
wird. Sie repräsentiert somit eine wesentliche Grundtendenz unserer Alltagskultur im Bereich der Psychiatrie. Daraus läßt sich ableiten, daß die verbreitete Skepsis gegenüber Technik und Naturwissenschaften und der damit
verbundenen Medizin auch die Akzeptanz der Psychopharmaka vermindert. Bei größeren Teilen des Publikums scheinen psychotrope Arzneimittel
daher grundsätzlich keine Heilerwartung mehr zu erfüllen. Hierfür sind
aber weniger konkrete Erfahrungen im eigenen Umfeld, sondern eher die
vorgängigen weltanschaulichen Grundhaltungen verantwortlich. Psychotherapeutische Methoden versprechen eine individuelle Behandlung psychischer Störungen, die häufig als Bedrohung der persönlichen Integrität erlebt
werden. Das medizinisch objektivierbare Heilvermögen der Psychopharmakotherapie weicht somit von der subjektiven Bewertung des Heilanspruchs nicht zuletzt deshalb ab, weil die zugrunde liegenden naturwissenschaftlichen Krankheitsmodelle dem Bedürfnis nach existentiellsinnstiftenden, d. h. »historischen« Erklärungen sowohl auf der individuel-
3
Vgl. Volz/Hänsel (1995).
4
Vgl. z. B. Möller (Hg.) (1993).
5
Vgl. Hastedt (1988); Szasz (1974).
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Die Entstehung der modernen Psychopharmakologie
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len als auch der gesellschaftlichen Ebene nicht hinreichend nachzukommen
vermögen.6
Dem widerspricht nicht, daß neu eingeführte psychotrope Arzneimittel in
der Darstellung der Laienpresse immer wieder stark überhöhte Erwartungen
an ihre Fähigkeiten zur Veränderung des subjektiven Lebensgefühls erwecken. Exemplarisch seien die intellektuellen Auseinandersetzungen um die
neue Antidepressiva-Klasse der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bzw. das Präparat Fluoxetin in den USA Anfang der 1990er
Jahre erwähnt. Das Psychopharmakon wurde darin zum schillernden Faszinosum des aktuellen »Lifestyle« einer postmodernen Gesellschaft stilisiert,
das die menschliche Emotionalität beliebig verfügbar machen soll.7 Hier
eilt die in den Medien propagierte Heilerwartung dem tatsächlichen Heilvermögen der Psychopharmakologie weit voraus. In der jüngsten Vergangenheit konnten anläßlich der Markteinführung von Mitteln gegen erektile
Dysfunktion und gegen Übergewicht ähnliche Mechanismen beobachtet
werden; wiederum scheint ein allgemeines Bedürfnis für eine pharmakologisch-technische Problemlösung zu bestehen. Das Urteil nicht nur von Patienten und Öffentlichkeit, sondern auch von Ärzten über eine Therapiemethode wird demnach keineswegs allein durch das objektivierbare Heilvermögen bestimmt. Die positive oder negative Heilerwartung, die sich aus
vielen verschiedenen Einflußgrößen zusammensetzt, ist wenigstens ebenso
bedeutend.
Daher gibt auch die Bewertung der Psychopharmakologie durch die psychiatrischen Experten Anlaß zu Interpretationen, die typische Selbstmißverständnisse des Faches erhellen. Für die Mehrzahl der Ärzte gehört die
Psychopharmakotherapie einerseits zu den »modernsten« Errungenschaften
der Medizin seit den 1950er Jahren und ihrer naturwissenschaftlichen Forschung, wobei ihre Entstehung andererseits häufig »zufälligen« pharmakologischen Entdeckungsprozessen zugeschrieben wird, den sogenannten »serendipities«. Dies wirkt um so erstaunlicher, als nahezu für alle wichtigen
psychopharmakologischen Innovationen bis in die 1980er Jahre derartige
»Zufälle« verantwortlich gemacht wurden. Diese Ansicht mag teilweise zutreffen, etwa bei den Benzodiazepinen, verkennt jedoch die konzeptuellen,
institutionellen und personellen Voraussetzungen jeder Arzneimittelproduktion.8
Will man diese auffälligen Divergenzen aus medizinhistorischer Sicht analysieren, dann fällt zunächst auf, daß in Anbetracht der vielfältigen Arbeiten über die Genese, die Kultur-, Sozial- und Wissenschaftsgeschichte der
psychotherapeutischen Verfahren kaum vergleichbare Untersuchungen zur
Entwicklung und zu den Auswirkungen der Psychopharmakologie oder der
6
Vgl. Benkert (1995).
7
Vgl. Kramer (1993).
8
Vgl. Sternbach (1988), S. 271-299; Holsboer (1993).
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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krampfauslösenden Therapiemethoden existieren. Erst seit einigen Jahren
setzen sich die Fachverbände und die Psychiatriegeschichte intensiver mit
der Entwicklung der somatischen und pharmakologischen Behandlungsverfahren auseinander.9 Die Analyse des erwähnten zentralen Begriffs der
psychopharmakologischen Arzneimittelentwicklung, der »serendipity«, zeigt
beispielsweise auf, daß er auf eine ebenso komplexe Bedeutungsgeschichte
zurückblicken kann wie psychopathologische Termini und keineswegs nur
als »Zufall« interpretiert werden darf.10
Arzneibehandlung psychischer Störungen von humoralpathologischen Konzepten zu modernen Psychopharmaka
Die Divergenz zwischen der therapeutischen Wirklichkeit und der öffentlichen Bewertung der Psychopharmakotherapie, zwischen der fachlichen
Ausgestaltung ihres Heilvermögens und der Darstellung ihres Heilanspruchs, scheint sich in der bisherigen Lückenhaftigkeit der medizinhistorischen Diskussion fortzusetzen. Diese Feststellung wirkt um so erstaunlicher,
als der Einsatz psychotroper Stoffe, insbesondere von Pflanzenalkaloiden,
zur therapeutischen Beeinflussung psychopathologisch auffälliger Zustandsbilder zum üblichen Procedere fast aller heilkundlichen Systeme gehört.11
Dies gilt auch für die abendländische akademische Medizin, die psychische
Krankheiten seit der griechischen Antike bis zum 18. Jahrhundert überwiegend als Ausdruck einer Dyskrasie der »Körpersäfte« interpretierte, d. h.
eines krankhaften Verhältnisses im somato-psychischen Gleichgewicht der
funktionalen physiologischen Grundkategorien. Der Arzneimittelschatz zur
Behandlung von psychischen Krankheiten blieb aufgrund dieses Modells,
aber auch wegen der praktischen Verfügbarkeit von geeigneten Substanzen
und des über Jahrhunderte tradierten empirischen heilkundlichen Wissens
bis 1850 weitgehend konstant. Noch Ende des 19. Jahrhunderts führten
ärztliche Therapielexika Arzneimittel zur Behandlung psychischer Krankheiten auf, die – wie etwa Helleborus (Nießwurz) – bereits in der Antike
gebräuchlich waren.12
Für die theoretische Einordnung der psychotropen Arzneimittel blieben
elementare Kategorien entscheidend wie z. B. die Dichotomie von Beruhigung und Erregung zur Heilung psychischer Störungen. Die über Jahrhunderte anhaltende Auseinandersetzung um eine zutreffende Charakterisierung
der Wirkung von Opium als sedierend oder aktivierend weist exemplarisch
nach, auf welche konzeptuellen Schwierigkeiten diese tradierte Psychopharmakologie stieß.13 Zudem waren die Übergänge zu anderen psychiatri9
Vgl. z. B. Hall (1997); Healy (1997); Linde (1988); Weber (1998).
10 Vgl. Cammann (1967).
11 Vgl. Pfeiffer (1994).
12 Vgl. Liebreich/Langgaard (1896).
13 Vgl. Weber (1987).
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Die Entstehung der modernen Psychopharmakologie
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schen Therapieformen fließend. Die Anwendung von Emetika und Laxantia zählte in der Psychiatrie des frühen 19. Jahrhunderts zu den festen Bestandteilen der sogenannten »Ekelkur«, die nach damaligem Verständnis
der »moralischen« bzw. der »psychischen Curmethode« zugerechnet wurde.
Aufgrund dieses Verständnisses subsumierte etwa Heinroth, um 1820 einer
der führenden Repräsentanten der sogenannten Psychiker während der
»romantischen« Psychiatrie in Deutschland, psychotrope Arzneimittel unter
die »indirect-psychischen« Verfahren.14 Allerdings entwickelten klinisch
orientierte Psychiater im selben Zeitraum auch frühe Formen einer pragmatischen Psychopharmakologie. Die Psychiaterfamilie Engelken stellte etwa
mit ihrer Opiumkur depressiver Störungen erstmals eine systematische
pharmakologische Behandlungsmethode bei einer epidemiologisch wichtigen psychischen Erkrankung zur Verfügung.15
Allgemein kennzeichnend für die überlieferte Arzneibehandlung psychischer Störungen war sowohl ihr empirischer Charakter als auch die Interpretation der psychotropen Substanzeffekte in den vorgegebenen Kategorien des jeweiligen medizinischen Systems, während die chemisch-pharmakologischen Eigenschaften erst vor dem Hintergrund der Naturwissenschaften in das Blickfeld der therapeutischen Diskussion traten. Der gegenwärtige
Begriff der Psychopharmakologie stellt daher eine genuine Neuschöpfung
der jüngsten medizinischen Entwicklung dar und ist erst seit den 1920er
Jahren nachweisbar. Er teilt mit dem seit der Renaissance bekannten Terminus des Psychopharmakons als religiösem »Seelentrost« lediglich den
Wortlaut.16 Die gegenwärtige Psychopharmakologie, deren Anfänge mit der
Einführung des ersten vollsynthetischen Sedativums Chloralhydrat im Jahr
1869 durch den Berliner Pharmakologen Oscar Liebreich (1839-1908) bestimmt werden können, stellt eindeutig eine Folge des naturwissenschaftlichen Denkstilwandels der Medizin um die Mitte des 19. Jahrhunderts dar.
Das auch gegenwärtig als Hypnotikum verwendete Chloralhydrat weist
viele ideengeschichtliche Merkmale auf, die bis heute für die Entwicklung,
Anwendung und Vermarktung von Psychopharmaka sowie für ihre Rezeption durch die Medizin kennzeichnend sind.17 Insofern erscheint es gerechtfertigt, Chloralhydrat als das erste »moderne« Psychopharmakon zu betrachten.
Der Anstoß zu den synthetischen Psychopharmaka ging ursprünglich nicht
von der Psychiatrie aus, die sich eine günstige Beeinflussung der komplexen
psychopathologischen Phänomene durch künstlich hergestellte und chemisch definierbare Substanzen kaum vorstellen konnte. Die zeitgenössische
wissenschaftliche Diskussion der Psychiatrie war vielmehr bestimmt durch
14 Vgl. Heinroth (1818).
15 Vgl. Engelken (1851).
16 Vgl. Roth (1964); Macht (1920).
17 Vgl. Liebreich (1869).
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kasuistische Beobachtungen, das Ringen um eine brauchbare Nosologie
und neuroanatomische Überlegungen. Ausgangspunkt der modernen
Psychopharmaka war zunächst die stürmische Entwicklung der organischen Chemie im 19. Jahrhundert. Allein die wachsende Anzahl der bekannten organisch-chemischen Verbindungen – sie steigerte sich um den
Faktor 30 von etwa 3.000 im Jahr 1850 auf 150.000 im Jahr 1910 – legte es
nahe, ihre therapeutische Verwendbarkeit zu prüfen.18 Chloralhydrat synthetisierte erstmals der bekannte deutsche Chemiker Justus Liebig 1832 bei
seinen Untersuchungen über chlorierte organische Verbindungen, ohne daß
man von vornherein eine praktische Anwendung beabsichtigte. Entscheidend hierfür waren vielmehr die ersten Erfahrungen mit anästhetisch bzw.
narkotisch wirkenden Gasen in der Chirurgie und Gynäkologie. Liebreich
nahm nämlich an, Chloralhydrat würde im menschlichen Organismus zu
Chloroform zerfallen, dessen narkotische Wirkung seit den 1840er Jahren
bekannt war. Obwohl sich Liebreichs Hypothese später als pharmakologisch falsch herausstellte, erschien sie den zeitgenössischen Experten aufgrund der vorhandenen Anästhesiemethoden als plausibel.19
Da im Gegensatz zu den tradierten Pflanzendrogen keine praktischen therapeutischen Kenntnisse über die neuen, chemisch hergestellten Substanzen
vorlagen, begann nun auch die Psychiatrie, hierzu klinische Beobachtungen
durchzuführen und systematische Tierversuche anzustellen. Beispielsweise
publizierte ein elsässischer Anstaltspsychiater 1875 eine klinische Studie,
mit deren Hilfe er das Element Brom als den pharmakologisch wirksamen
Bestandteil bromhaltiger Salze sicher identifizieren konnte. Brompräparate
waren seit den 1860er Jahren in der Psychiatrie als Sedativa, Hypnotika
und Antiepileptika gebräuchlich.20 Auch Liebreich hatte zur Dosisfindung
für Chloralhydrat zahlreiche Tierversuche durchgeführt. Aus solchen Erfahrungen entstanden später standardisierte Evaluationsverfahren, wie z. B.
der sogenannte Doppelblindversuch, der heute den Kern klinisch-psychopharmakologischer Studien bildet. Dieser Wandel bedeutete außerdem eine
erhebliche methodische Annäherung an die Naturwissenschaften und die
aufstrebende Labormedizin, was langfristig wiederum die Stellung der Psychiatrie innerhalb der anderen medizinischen Disziplinen stärkte.21
18 Vgl. Burchardt (1978).
19 Vgl. Liebig (1832); Liebreich (1869); Mering/Musculus (1875).
20 Vgl. Stark (1875).
21 Vgl. Gerken (1997); Cunningham/Willims (Hg.) (1992); Winau (1986).
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Die Entstehung der modernen Psychopharmakologie
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Der Einfluß der chemisch-pharmazeutischen Industrie
Neben der fachinternen Entwicklung der Konzepte der organischen Chemie
und der Pharmazie waren externe Faktoren für die Genese der Psychopharmakologie verantwortlich. Hier ist vor allem die Entstehung der chemisch-pharmazeutischen Industrie zu nennen. Seit etwa 1850 wurden
hauptsächlich im Raum Frankfurt-Ludwigshafen sowie um Basel mehrere
Unternehmen gegründet, die sich zunächst auf die Teerfarbenchemie konzentrierten. Die Farbenindustrie lieferte nicht nur die Vorprodukte der späteren Arzneimittelherstellung, sondern auch die Kenntnisse, die für eine
verfahrenstechnische Produktion größerer Mengen synthetischer Pharmaka
erforderlich waren.22 Aber auch die zeitgenössischen konzeptuellen Entwicklungen zeigen einen engen Zusammenhang zwischen der Teerfarbenindustrie und pharmazeutischen Innovationen auf. Die sogenannte Seitenkettentheorie des Pathologen Paul Ehrlich (1854-1915), die Arzneimittelwirkungen auf zellulärer Ebene mittels definierter Bindungsstellen zu erklären
suchte, läßt sich ebenfalls auf seine Erfahrungen mit Farbstoffen zurückführen.23
Der Arzneimittelmarkt bildete somit für die chemische Industrie seit dem
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein immer wichtigeres Betätigungsfeld
mit erfolgversprechenden kommerziellen Aussichten. Neben den Analgetika
und Antipyretika schienen für Hypnotika und Sedativa gute Marktchancen
zu bestehen, zumal die aufkommende Patentgesetzgebung die Eigentumsrechte der Unternehmen zunächst an Herstellungsverfahren, später auch an
einzelnen Produkten sicherte.24 Die damalige Diskussion um die prinzipielle
Patentierbarkeit von Arzneimitteln erinnert an heutige Auseinandersetzungen um gentechnologische Produkte. Nach der Einführung von Chloralhydrat wuchs alsbald das Angebot an Nachahmungspräparaten aus der
gleichen Substanzklasse, die nach der Methode des »molecular roulette«
synthetisiert wurden, d. h. durch strukturelle Modifikationen eines bereits
bekannten, organisch-chemischen Grundkörpers. Die Ausbietung von
Nachahmungspräparaten stellt bis heute eine wichtige Marktstrategie dar.
Die Zahl der verfügbaren synthetischen Substanzen, die als Hypnotika und
Sedativa verwendet wurden, stieg auf diese Weise zwischen 1869 und 1931
von 1 auf 54 an. Auf der Produktion der neuen Psychopharmaka beruhte
alsbald ein erheblicher Teil der Wirtschaftskraft und der internationalen
Bedeutung der chemisch-pharmazeutischen Firmen in Deutschland.25
Die Industrie war bei der Arzneimittelentwicklung auf die Kooperation mit
führenden Wissenschaftlern angewiesen. Infolge der dort zur Verfügung
22 Vgl. z. B. Fritz (1992); Vershofen (1958).
23 Vgl. Travis (1989).
24 Vgl. Fleischer (1984).
25 Vgl. z. B. Binz (1912); Pohlisch/Panse (1934); Possehl (1989).
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stehenden finanziellen Ressourcen verlagerten sich immer größere Teile der
anwendungsbezogenen pharmakologischen Forschung in die Unternehmen
hinein. Obwohl in Deutschland gleichzeitig Pharmakologie und Psychiatrie
an den medizinischen Fakultäten der Universitäten als eigenständige Disziplinen institutionalisiert wurden, entstanden vor allem in der Industrie neuartige, praxisorientierte Wissenschaftsstrukturen, die eng mit Herstellungsund Absatzfragen verbunden waren. Die Firmen gingen hierbei unterschiedliche Wege; dennoch beruhte der wirtschaftliche Erfolg und das Ansehen der deutschen chemisch-pharmazeutischen Industrie nicht zuletzt auf
ihren Forschungsabteilungen.26 Die praktische Relevanz der zeitgenössischen pharmakologischen Theoriebildung blieb hingegen meistens gering.
Auch den Repräsentanten der chemisch-pharmazeutischen Industrie war
durchaus die wissenschaftlich oft mangelhafte Erklärung und Fundierung
der therapeutischen Effekte wirksamer Psychopharmaka bewußt:
Die pharmazeutische Industrie der führenden europäischen Länder ist auf einem hohen Stand des Erfolges angelangt. Sie hat der Welt eine Anzahl Arzneimittel von bleibendem Wert geschenkt, unterhält wissenschaftliche Laboratorien von Rang und Forschungsinstitute […] Trotzdem bestehen in ihren eigenen Reihen und erst recht in
Kreisen sachverständiger aber zugleich kritischer Kliniker und Ärzte Bedenken darüber, ob dieser Erfolg auch für die Zukunft gesichert ist. Von beiden Seiten wird darüber Klage geführt, daß er nicht durchweg auf festem Boden experimenteller und klinischer Erkenntnisse, sondern zum Teil auch auf dem Flugsand ungenügender Laboratoriumsversuche und auf einer erst recht mangelhaften Prüfung am Menschen aufgebaut ist, ein Mangel, der durch die in unangenehmer Weise wachsende Geschäftspropaganda ausgeglichen wird […] Wir alle kennen den beispiellosen Erfolg von Mitteln, von denen sich später herausstellte, daß sie gar nicht auf das kranke Organ wirken, das sie heilen sollten.27
Hinzu kam, daß sich relevante staatliche Regulierungsmaßnahmen für den
Arzneimittelmarkt und die Arzneimittelentwicklung, die von Teilen der
Ärzteschaft bereits um 1900 gefordert wurden, in Deutschland erst mit der
»Contergan-Affäre« in den 1960er Jahren endgültig durchsetzten. Bis dahin
stellten Pharmaka eine Angelegenheit von Polizeiverordnungen dar, was
darauf hinweist, daß die staatlichen Gesundheitsbehörden und die Gesetzgebung lange Zeit nicht auf die geänderten Bedingungen der Arzneimittelproduktion reagierten. Parallel zur Entwicklung neuer Medikamente durch
eigene Forschungsanstrengungen beeinflußte die chemisch-pharmazeutische
Industrie die Psychopharmakotherapie in den Kliniken und Praxen aber
auch durch neuartige Vertriebs- und Werbestrukturen, die das herkömmliche Verhältnis zwischen Arzt, Patient und Apotheker tiefgreifend veränderte. Das Psychopharmakon wandelte sich von der individuellen Rezeptur,
die handwerklich für eine bestimmte Person hergestellt wurde, zum industriell produzierten Fertigpräparat. Diesem Prozeß entsprach auf der Ebene
der Honorierung die Einführung der Gesetzlichen Sozialversicherung für
26 Vgl. Wimmer (1994).
27 Firmenarchiv Sandoz: H.111.3/34, Internes Gutachten 1936.
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Die Entstehung der modernen Psychopharmakologie
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immer größere Patientengruppen, die zu Konsumenten von Gesundheitsdienstleistungen und Arzneimitteln wurden.28
Die Skepsis der Psychiater
Der propagierte Heilanspruch eilte dem tatsächlichen Heilvermögen allerdings erheblich voraus, da auch aus der Sicht der klinischen Psychiatrie die
praktischen Erfolge der »neuen« Psychopharmakologie zunächst fragwürdig
blieben. Zweifellos stellten bereits die ersten synthetischen Arzneimittel im
Vergleich zu den bislang existierenden Methoden eine Verbesserung für
psychiatrische Patienten dar, da sie zuverlässiger wirkten und einfacher dosiert werden konnten. Nach anfänglich vorbehaltloser Zustimmung zu den
jeweils neuesten Hypnotika und Sedativa stellten sich meistens aber rasch
Vorbehalte der Ärzteschaft ein, da unerwünschte, manchmal gefährliche
Nebenwirkungen auftraten und infolge der klinisch notwendigen Dosissteigerungen auch die Abhängigkeit von einigen Substanzklassen zum Problem
wurde. Auch hier beruhten die ersten Erfahrungen auf der Anwendung von
Chloralhydrat. Wenige Jahre nach der Markteinführung rieten Psychiater
wegen der Gefahr der Abhängigkeitsentwicklung davon ab, mit Chloralhydrat über einen längeren Zeitraum »Hysterische« zu behandeln.29 Berücksichtigt man die unterschiedliche Terminologie, so entspricht dies durchaus
aktuellen Empfehlungen über den Umgang mit Benzodiazepinen.
Infolge derartiger medizinischer Probleme verhielten sich viele Psychiater
lange Zeit skeptisch gegenüber den neuen Präparaten und bevorzugten herkömmliche Pflanzendrogen, zumal diese von den technischen Innovationen
der chemisch-pharmazeutischen Industrie ebenfalls profitiert hatten: sämtliche Alkaloide, wie etwa Atropin oder Morphium, standen als Reinsubstanzen zur Verfügung und konnten nach der Einführung neuer galenischer
Zubereitungsverfahren und Darreichungsformen, z. B. der Injektionsspritze,
einfach appliziert werden.30 Aber auch die theoretische Interpretation der
Wirkung der neuen Psychopharmaka stieß über einen längeren Zeitraum
hinweg auf erhebliche Schwierigkeiten. Emil Kraepelin (1856-1926), einer
der wesentlichen Begründer der modernen Psychiatrie in Deutschland um
1900, wies den synthetischen Substanzen z. B. die Aufgabe von Modifikatoren seiner experimentalpsychologischen Untersuchungsansätze zu, während
er sich ein genuines Heilvermögen kaum vorstellen konnte. In seinen weit
verbreiteten Lehrbüchern spielten praktische psychopharmakotherapeutische Fragen nur eine geringe Rolle, während er wissenschaftlich an psychotropen Arzneimittelwirkungen sehr interessiert war.31
28 Vgl. Ridder (1990); Deutsch (1991).
29 Vgl. Rehm (1886).
30 Vgl. z. B. Bayer (1980).
31 Vgl. Kraepelin (1892); ders. (1909).
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In der Pharmakologie entstanden bereits Ende des 19. Jahrhunderts Modellvorstellungen über die Aktionen der Psychopharmaka im menschlichen
Organismus wie etwa die Lipid- oder die bereits erwähnte Seitenkettentheorie. Die entscheidende Theoriebildung setzte allerdings erst nach der Einführung der heute therapeutisch benutzten Substanzklassen in den 1950er
Jahren ein, wobei die gängigen Rezeptoren- und Transmittermodelle auf die
Ergebnisse der Neuroanatomie und -physiologie seit den 1880er Jahren zurückgreifen konnten. Richtungweisend waren etwa die Untersuchungen des
britischen Physiologen John Newport Langley (1852-1925), der 1878 während seiner Studien über die Regelung der Salivation durch das autonome
Nervensystem einen physiologischen Antagonismus der Alkaloide Atropin
und Pilocarpin an der Speicheldrüse der Katze beobachtete und daher für
beide Substanzen einen gemeinsamen zellulären Wirkungsort postulierte.
Ein Jahr vorher hatte der deutsche Physiologe Emil H. DuBois-Reymond
(1818-1896) bereits eine chemische Transmission der Aktionen des Nervengewebes zum Muskel vorgeschlagen. Rückblickend stellte die »Compound«Hypothese Langleys die erste Formulierung eines neurobiologischen Rezeptor-Konzepts dar.32
Den ersten wesentlichen Fortschritt der psychiatrischen Pharmakotherapie
stellte die Entwicklung der Barbiturate nach 1900 dar, da diese Substanzklasse eine relativ sichere und erfolgreiche Behandlung der Epilepsien und
der damit assoziierten psychischen Störungen ermöglichte. Die Therapie
von Patienten mit Epilepsien zählte damals zum Aufgabenbereich der Psychiatrie. Der Chemiker Emil Fischer (1852-1919) und der Pharmakologe
Joseph Mering (1849-1908) hatten 1903 über diese »neue Klasse von
Schlafmitteln« berichtet. Noch im selben Jahr wurde die Diethylbarbitursäure unter dem Handelsnamen Veronal von einem Produktionskonsortium vermarktet, das aus den Firmen E. Merck und Bayer bestand.33 Auf die
weitreichenden Konsequenzen der Barbiturate für nahezu alle Gebiete der
Medizin, z. B. für die Anästhesie, soll hier nicht näher eingegangen werden.
Ihre Bedeutung läßt sich aber auch aus ihrer Verwendung als literarisches
Motiv erkennen. Die Firma Bayer dachte in einem internen Memorandum
beispielsweise darüber nach, den Wiener Arzt und Schriftsteller Arthur
Schnitzler davon abzubringen, in seinem Drama »Fräulein Else« einen Suizid mit Veronal zu schildern.34 Auch bei diesem Präparat waren Abhängigkeitsphänome und wegen der geringen therapeutischen Breite massive unerwünschte Wirkungen nicht ausgeblieben, nachdem zeitgenössische Gebrauchsinformationen Veronal als Panazee für nahezu alle psychischen Erkrankungen propagiert hatten.
32 Vgl. Langley (1878).
33 Vgl. Fischer/Mering (1903).
34 Firmenarchiv Bayer: 166/8, Veronal, 22.11.1924.
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Die Entstehung der modernen Psychopharmakologie
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Trotz dieser unleugbaren Mängel war der Erfolg der Barbiturate wesentlich
dafür verantwortlich, daß sich die Psychiatrie überhaupt eine relevante therapeutische Beeinflussung komplexer psychischer Störungen durch biologische Agenzien vorstellen konnte. Dieser Einstellungswandel ist daher nicht
nur auf die im gleichen Zeitraum erfolgte Aufklärung der Ätiologie der
Progressiven Paralyse als syphilitisch-bakterielle Erkrankung zurückzuführen, was häufig als wichtigste ideengeschichtliche Ursache für das Vordringen »organischer Modelle« psychischer Störungen betrachtet wird. Dabei
darf nicht vergessen werden, daß die zeitgenössische wissenschaftliche Diskussion der Psychiatrie entweder um neuroanatomische oder psychopathologische Fragen kreiste. Für Karl Jaspers bildete die funktionelle Ebene zwischen Anatomie und Psychopathologie den »unendlichen Bezirk«, dessen
Erhellung das Grundproblem der psychiatrischen Forschung ausmachte.35
Auch die Einführung der nicht-pharmakologischen somatischen Behandlungsmethoden, welche die Zeit zwischen den Weltkriegen bestimmten, änderte nichts an der theoretischen Distanz beider Bereiche. Obwohl der Cardiazol- und Elektrokrampf sowie die Insulinkur auf unscharfen Analogieschlüssen und neurophysiologischen Hypothesen beruhten, die dem wissenschaftlichen Kenntnisstand der Zeit keineswegs immer entsprachen, stellten
sie zweifellos eine Bereicherung für die klinische Psychiatrie dar, da sie zur
Überwindung ihres therapeutischen Nihilismus beitrugen.36
Bis etwa 1950 konnte jedoch kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, daß
die psycho- und soziotherapeutischen Verfahren wissenschaftlich und theoretisch weitaus mehr Erfolg versprachen als somatische und pharmakologische Methoden. Arbeit und Beschäftigung für psychisch Kranke existierten
als Behandlungsformen bereits in den Anstalten des 19. Jahrhunderts. Das
tatsächliche Erscheinungsbild der psychiatrischen Kliniken veränderte sich
allerdings erst, nachdem Hermann Simon, Direktor der Anstalt Gütersloh,
in den 1920er Jahren die sogenannte »Aktive Krankenbehandlung« systematisch eingeführt hatte.37 Diese Methode machte vor allem Patienten, die
an chronifizierten Verlaufsformen von Psychosen litten und die bis dahin
häufig die unerwünschten Folgen einer langjährigen Hospitalisierung zeigten, für therapeutische Interventionen zugänglich.
Der schweizerische Psychiater Eugen Bleuler erklärte daher 1930, die »Erziehung zur Arbeit« sei bei der Behandlung schizophrener Psychosen vordringlich, womit er die herrschende Expertenmeinung seiner Zeit wiedergab.38 In diesem Behandlungskonzept kam psychotropen Substanzen nur
eine relativ geringe Bedeutung zu, da man sie lediglich als pharmakologisches Äquivalent der Isolierung und »mechanischen Beschränkung« der
35 Vgl. Jaspers (1973).
36 Vgl. Berrios/Olivares (1996).
37 Vgl. Simon (1929).
38 Vgl. Bleuler (1930).
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Patienten betrachtete, die in Anbetracht der Möglichkeiten der »Aktiven
Krankenbehandlung« zumindest theoretisch nicht mehr als zeitgemäß galten. Auch die Auseinandersetzungen um die Frage, ob psychiatrische Kliniken überhaupt eine eigene Anstaltsapotheke benötigen, zeigte die ambivalente Stellung der Psychopharmaka auf. Der ärztliche Leiter der oberbayerischen Kreisirrenanstalt Eglfing-Haar sprach sich etwa gegen die Einrichtung von Anstaltsapotheken aus, da die Psychiater hierdurch zu kostspieligen und sinnlosen »experimentellen Spielereien« verleitet würden.39
In Deutschland kam hinzu, daß die rassenhygienisch orientierte Psychiatrie
vor und während des Nationalsozialismus klinisch erfolgreiche Behandlungsstrategien teilweise als unerwünschte Konkurrenz und ideologische
Gefahr betrachtete. Eine günstige Beeinflussung psychischer Störungen
durch medizinische Therapiemaßnahmen relativierte vor allem die vermeintliche Notwendigkeit der »negativen Eugenik«, d. h. die Annahme der
Rassenhygiene, daß die Verhinderung der Fortpflanzung psychisch Kranker die einzig denkbare Behandlung darstellt. Ernst Rüdin, einer der wesentlichen Repräsentanten der psychiatrischen Rassenhygiene in Deutschland, versuchte etwa 1936 im Rahmen seiner Vorbereitungen für die Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte und Psychiater, die
Berichterstattung über die neuen somatischen Behandlungsmethoden der
schizophrenen Psychosen so zu steuern, daß daraus keine Kritik des
Zwangssterilisationsgesetzes abgeleitet werden konnte.40
Die Psychopharmakologie wirkte aber nicht nur praktisch wenig überzeugend, sondern spielte auch in der fachinternen Diskussion der Psychiatrie
nach dem Ende des II. Weltkriegs lediglich eine untergeordnete Rolle. In
den Ländern, die von der deutschen Psychiatrie geprägt waren, stand unverändert das Bemühen um eine exakte psychopathologische Beschreibung
der psychischen Störungen und die Präzisierung der daraus abgeleiteten
Nosologie im Vordergrund, wobei philosophische Konzepte eine dominante Rolle spielten. Als typisches Beispiel und zugleich Höhepunkt dieser
Richtung gilt das Werk von Kurt Schneider, der stark vom Denken Max
Schelers und Nicolai Hartmanns beeinflußt war.41 In den USA hatte hingegen die Psychoanalyse bzw. die tiefenpsychologische Psychotherapie eine
intellektuelle Führungsrolle gewonnen, was nicht zuletzt als Folge der erzwungenen Emigration vor allem deutscher und österreichischer Analytiker
betrachtet werden muß.42
Der therapeutische Wandel in den 1950er Jahren
39 Staatsarchiv München: RA 57531, 20.05.1912.
40 Vgl. Weber (1993).
41 Vgl. z. B. Schneider (1950).
42 Vgl. Shorter (1998).
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Die Entstehung der modernen Psychopharmakologie
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Trotz der Hoffnungen, welche die nicht-pharmakologischen somatischen
Behandlungsmethoden geweckt hatten, trotz eines generellen Interesses der
Psychiatrie an »biologischen Verfahren« und trotz einer langen Tradition
somato-psychischer Krankheitsmodelle trat der grundlegende Wandel der
psychiatrischen Therapie Anfang der 1950er Jahre letztlich unvorbereitet
und unerwartet ein: 1952 erfolgte die Markteinführung des ersten Neuroleptikums Chlorpromazin zur Behandlung schizophrener Psychosen, 1958 des
ersten trizyklischen Antidepressivums Imipramin.43 Die anfängliche Zurückhaltung der klinischen Psychiater, die aufgrund ihrer Erfahrungen mit
den bisherigen Psychopharmaka verständlich war, schlug diesmal jedoch in
rasche Zustimmung um. In Frankreich, dem Ursprungsland des ersten
Neuroleptikums, stieg die Zahl der Kliniken, die Chlorpromazin einsetzten,
von 10 im Jahr 1952 auf 78 im Jahr 1953.44 Bis 1960 hatten die neuen Substanzen die älteren somatischen Therapiemethoden in den westlichen Ländern weitgehend verdrängt. Auf den komplexen Ursprung der Phenothiazin-Neuroleptika und trizyklischen Antidepressiva kann hier im Detail nicht
eingegangen werden; festzuhalten ist jedoch, daß auch sie im wesentlichen
auf Substanzklassen beruhten, welche die organische Chemie bzw. die Teerfarbenindustrie bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf ihrer Suche nach neuen potentiellen Farbstoffen identifiziert hatten.
Wiederum war es nicht die Psychiatrie, welche den Anstoß zur medizinischen Verwendung dieser Substanzen gab, sondern Behandlungskonzepte
aus der Anästhesie, der Schockforschung und der frühen Rezeptorphysiologie der Zeit zwischen den Weltkriegen.45 Auch externe Faktoren spielten
erneut eine wichtige Rolle, etwa der Wunsch nach einer Optimierung und
Vereinfachung der Allgemeinnarkose unter militärmedizinischen Bedingungen oder die Entwicklung von preisgünstigen Nachahmungspräparaten
zur Sicherung von Marktpositionen, was bereits kurze Zeit nach der Einführung von Chloralhydrat zu beobachten gewesen war. Zwei wesentliche
Protagonisten dieses Entwicklungsabschnitts der Psychopharmakologie
spiegeln diese Zusammenhänge wider: Henri Laborit widmete sich als französischer Militärarzt Anfang der 1950er Jahre der Entwicklung eines »lytischen Cocktails«, der das konzeptuelle Bindeglied zwischen der Anästhesie
und der psychopharmakologischen Therapie der Psychosen darstellte, da er
die tradierte Vorstellung einer »Heilung durch Beruhigung« in moderner
Form aufgriff. Hierdurch stellte sich heraus, daß sich die Antihistaminika,
eine Substanzklasse zur Behandlung allergischer Reaktionen, so modifizieren ließen, daß Kernsymptome psychotischer Syndrome damit erfolgreich
therapiert werden konnten. Ende der 1950er Jahre beobachtete schließlich
der Schweizer Psychiater Roland Kuhn, daß eine als Nachahmungspräpa43 Vgl. Delay/Deniker/Harl (1952); Kuhn (1957).
44 Vgl. Delay/Deniker (1961).
45 Vgl. z. B. Swazey (1974); Weber (1999).
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Matthias M. Weber
rat zu Chlorpromazin konzipierte Substanz nicht antipsychotisch, sondern
antidepressiv wirkte, womit auch diese Erkrankungsgruppe einer psychopharmakologischen Intervention zugänglich war.
Die wissenschaftlichen Modelle und Methoden, die seit den 1960er Jahren
die Neurobiologie oder die sogenannte »biologische Psychiatrie« bestimmen, sind somit historisch nicht als Ausgangspunkt oder Voraussetzung,
sondern vielmehr als ideengeschichtliches Resultat der modernen Psychopharmakologie zu betrachten. Selbstverständlich waren in diesem Zusammenhang neben den psychotropen Arzneimitteln noch zahlreiche weitere
Faktoren entscheidend, etwa die Einführung von Labormethoden, die radioaktiv markierte Substanzen zur Analyse von Stoffwechselvorgängen nutzen. Sämtliche Neurotransmitter-Modelle, die zum aktuellen ätiologischen
Standardmodell der Psychiatrie gehören, beruhten jedoch bereits hinsichtlich ihrer experimentellen und klinischen Fundierung auf der praktischen
Verfügbarkeit der neuen psychotropen Substanzen. Der schwedische Pharmakologe Arvid Carlsson etwa gelangte auf diese Weise 1963 zur sogenannten Dopamin-Hypothese der schizophrenen Psychosen,46 die trotz ihrer Mängel bis heute ein wichtiges theoretisches Konzept der Psychiatrie
bildet. Dieser Ablauf stellt jedoch keinen einmaligen Vorgang des Erkenntnisgewinns in der Medizin dar; sie neigt häufig zu einer »Theoriebildung ex
juvantibus«, da die kausalen Zusammenhänge der Krankheitsentstehung
durch die jeweils vorhandenen Modelle ihrer Grundlagenwissenschaften oft
nicht hinreichend erklärt werden können.
Durch die Verfügbarkeit der neuen Psychopharmaka eilte das praktische
Heilvermögen dem theoretischen Heilanspruch der Psychiatrie erheblich
voraus. Dieses Spannungsverhältnis war jedoch für den weiteren Werdegang des Faches notwendig. Die Psychiatrie vollzog nämlich durch die Implementierung der modernen Psychopharmakologie in der Praxis ihres Behandlungsalltags zugleich einen wichtigen Schritt zur naturwissenschaftlichen Begründung ihres Handelns und ihres konzeptuellen Denkens. Andere
medizinische Disziplinen hatten diesen Prozeß bereits mehrere Jahrzehnte
vorher durchlaufen. In Deutschland näherte sich die Psychiatrie den neuen
Psychopharmaka zunächst mit den Mitteln der deutenden und verstehenden Psychopathologie, was jedoch nicht zu befriedigenden Ergebnissen
führte. Beispielsweise trugen die Auseinandersetzungen darüber, ob Neuroleptika »nosotrop« oder »symptomatisch« wirkten, kaum zum Verständnis
des pharmakologischen Behandlungsverfahrens bei. Obwohl die seit den
1950er Jahren eingeführten Substanzklassen auch auf tradierten Ideen, etwa
der »Sedierung«, beruhten, konnte ihre tatsächliche Wirkung hierdurch
nicht mehr ausreichend beschrieben werden. Die neuen Psychopharmaka
forderten auch eine neue wissenschaftliche Zugangsweise, wodurch die neurobiologischen Disziplinen der Gegenwart entstanden. Die Anfänge z. B.
der psychiatrischen »Verhaltenspharmakologie«, d. h. der systematischen
46 Vgl. Carlsson/Lindqvist (1963).
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Die Entstehung der modernen Psychopharmakologie
137
Beobachtung der Auswirkungen psychotroper Substanzen auf die Verhaltensleistungen im Tiermodell, reichten zwar bis in die Zeit um 1900 zurück,
das Forschungspotential dieser Methode erwies sich jedoch erst mit der Einführung der Neuroleptika und Antidepressiva.
Die damit verbundenen Erwartungen an konkrete Therapieerfolge muß die
psychiatrische Pharmakotherapie jedoch erst durch ständige Forschungsanstrengungen erfüllen, da die heute zur Verfügung stehenden Substanzklassen keineswegs allen klinischen Anforderungen genügen. Um dieses Ziel zu
erreichen, dürfte vor allem eine Erweiterung der psychopharmakologischen
Modellvorstellungen erforderlich sein, da die Innovationskraft der bisherigen Konzepte im Hinblick auf prinzipiell neuartige Wirkmechanismen erschöpft scheint. Die paradigmatische Rolle, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die organische Chemie für die Entwicklung von Psychopharmaka
innehatte, könnte in der Gegenwart etwa von der Molekularbiologie und
der Gentechnologie im Zusammenwirken mit den bildgebenden Verfahren,
z. B. der funktionellen Magnetresonanztomographie und der Neuropsychologie, übernommen werden. Es wäre daher verfehlt, neue psychotrope Arzneimittel ausschließlich als Ergebnis erfinderischer Zufälle zu betrachten.
Obwohl kein linearer Zusammenhang zwischen der neurobiologischen
Konzeptbildung einerseits und dem Erfolg von Psychopharmaka andererseits besteht, beruht ihre Genese, therapeutische Verbreitung und Akzeptanz
auf den dargestellten konzeptuellen und institutionellen Gegebenheiten in
der Epoche der naturwissenschaftlichen Medizin.
Die weitreichenden praktischen Folgen dieses Vorgangs zeigte vor allem die
Entwicklung der klinischen Psychiatrie seit den 1960er Jahren, da die Neuroleptika und Antidepressiva bis dahin ungeahnte Veränderungen im psychiatrischen Versorgungssystem ermöglichten. Bereits auf dem ersten Symposium, das sich 1953 mit den Konsequenzen der neuen Psychopharmaka
für das Gesamtkonzept der psychiatrischen Therapie beschäftigte, kamen
die Teilnehmer zu dem Ergebnis, daß die »Liberalisierung« gegenüber den
Patienten erheblich erweitert werden konnte, da die bisher üblichen »Sicherungen« nunmehr verzichtbar erschienen; außerdem habe sich die Zahl der
Patienten enorm gesteigert, die an Rehabilitationsmaßnahmen teilnehmen
konnten.47
Der allmähliche Einstellungswandel der Öffentlichkeit gegenüber psychiatrischen Patienten, der sich seit den 1970er Jahren etwa in der Einrichtung
gemeindenaher sozialpsychiatrischer Zentren abzeichnet, wäre ohne die
Psychopharmakotherapie ebenfalls undenkbar gewesen. Der verständliche
Wunsch der Psychiatrie, die Differenz zwischen ihrem theoretischen Heilanspruch und ihrem konkreten Heilvermögen allein durch zukünftige Arzneimittelinnovationen möglichst aufzuheben, wird trotz der erzielten Ergebnisse ein – allerdings notwendiges – Ideal bleiben. Da psychische Stö47 Vgl. Staehelin (1953).
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Matthias M. Weber
rungen trotz ihrer biologischen Grundlagen und individualpsychologischen
Bedingtheiten ebenso wie ihre Therapieformen einem historischen Wandel
unterliegen, muß jede Epoche das Verhältnis zwischen Heilanspruch und
Heilvermögen neu bestimmen.
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Anspruch und Wirklichkeit der Krankenhausbehandlung
im 19. Jahrhundert1
Reinhard Spree
Summary
Hospital Treatment: Expectations and Reality in the 19th Century
This paper explores the 19th-century evolution in patients’ expectations from medical treatment in clinics and hospitals. Analysis rests on surveys of hospital functions and performance during this period, as well as surveys of patients’ socio-economic background.
The article reveals that the divergence between hospital treatment and patients’ expectations was not as wide as has been assumed until recently. Limited knowledge about 19th
century hospitals and clinics, and the contemporary conceptualization of hospitals as
overwhelmingly efficient „health factories“ account for this biased evaluation of the past.
Einleitung
Das Krankenhaus ist heute zweifellos ein Zentrum der medizinischen Versorgung. Fast ein Viertel der Ausgaben für Gesundheit in unserer Volkswirtschaft werden für stationäre Behandlung aufgewendet, das sind Mitte
der 1990er Jahre etwa 132 Mrd. DM gewesen oder 3,7 % des Bruttoinlandsprodukts.2 Die Zahl der Krankenhäuser und der Krankenhausbetten hat
sich zwar während der letzten beiden Jahrzehnte verringert, dagegen steigt
die Zahl der behandelten Patienten bei sinkender Verweildauer kontinuierlich weiter an.3 Das hat viele Gründe, darunter auch demographische
(Stichwort: Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung, Zunahme des
Anteils älterer und somit multimorbider Menschen). Doch drückt sich in
dieser Zunahme der Beanspruchung des Krankenhauses nicht zuletzt auch
dessen ständig gewachsenes Leistungsvermögen aus. Zwar wird von vielen
Seiten Kritik am Krankenhaus geäußert, besonders an der wachsenden
Größe der Anstalten, an der Unpersönlichkeit der Pflege (Stichwort: Gesundheitsfabrik), an dem Übermaß eingesetzter Technologie (Stichwort:
Apparatemedizin). Aber das grundsätzlich vorausgesetzte Heilvermögen
(Stichwort: Hochleistungsmedizin) wird nur selten, und dann bei ganz bestimmten Leiden in Frage gestellt. Insofern scheinen Heilversprechen und
Heilvermögen des Krankenhauses am Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend zur Deckung gekommen zu sein.
Dahin war es jedoch ein langer Weg. Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert deutete sich eine solche akzeptierte Stellung innerhalb der Gesundheitsversorgung erst rudimentär an. Und bezüglich des frühen 19. Jahrhun1
Für die Förderung der Arbeiten, die diesem Aufsatz zugrunde liegen, danke ich dem
Sparkassenverband Bayern und der Fritz Thyssen Stiftung.
2
Berechnet nach Statistisches Bundesamt (Hg.) (2000), S. 192 u. 251.
3
Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.) (2000), S. 186.
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Reinhard Spree
derts läßt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen, daß das Krankenhaus für die
öffentliche Gesundheitspflege, mehr noch für die private, nur eine ausgesprochen periphere Funktion besaß. Kranke wurden typischerweise in der
Familie versorgt, meist ohne Hinzuziehung eines approbierten Arztes. Die
medizinkritisch inspirierte Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der späten 1970er und frühen 1980er Jahre hat deshalb dem Krankenhaus bis weit
in das 19. Jahrhundert hinein überhaupt jede Leistungsfähigkeit abgesprochen. Krankenhäuser galten als »Pforten zum Tode«, so der plakative, vielzitierte Titel einer Studie zur Krankenhausmortalität im 18. und frühen 19.
Jahrhundert4, als »gesellschaftlich stigmatisierte Heilanstalten für Angehörige der unteren Bevölkerungsschichten, in deren Obhut man sich nur dann
begab, wenn keine andere Möglichkeit (Familienpflege, bezahlte Krankenwartung, Selbsthilfe) vorhanden war. Wohlhabende Patienten mieden das
Krankenhaus wie die Pest. «5 Daran hat sich nach Meinung vieler Sozialhistoriker bis ins späte 19. Jahrhundert wenig geändert.6
Das Vordringen der Krankenhausbehandlung
Angesichts derart massiver Kritik an den Krankenhäusern erscheint es jedoch in hohem Maße erstaunlich, wie rasch deren Zahl schon in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts anwuchs, ein Vorgang, der sich besonders nach
1883 mit der Einführung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
sogar noch beschleunigte. Im Deutschen Reich gab es 1876, bei der ersten
reichsweiten Zählung, bereits 1.985 Krankenhäuser mit 75.702 Betten, bis
1910 hatte sich die Zahl der Anstalten auf 4.020 mehr als verdoppelt und
die Zahl der Betten auf 260.110 mehr als verdreifacht. Die Zahl der behandelten Kranken wuchs sogar überproportional, von rund 400.000 im Jahre
1877 hatte sie sich bis 1910 auf mehr als 2 Mio. nahezu verfünffacht.7 Was
sind die Gründe für dies Vordringen der Krankenhausbehandlung im Gesundheitsbereich während des 19. Jahrhunderts?
Eine neue Attraktivität der Medizin, ihr gesteigertes Heilvermögen, kann es
wohl kaum gewesen sein. An der Situation der praktischen Medizin änderte
sich bis weit in das 19. Jahrhundert hinein wenig. Die fortschrittliche Medizin der Zeit war eine Disziplin der (Grundlagen-)Forschung und der Lehre,
weniger der Praxis, vor allem nicht der Alltagspraxis in der ambulanten
Medizin und in den Allgemeinen Krankenhäusern der größeren und mittleren Städte. Diese Alltagspraxis blieb vielmehr traditionellen Konzepten und
Methoden verhaftet.8 Das Krankenhaus konnte bis ins späte 19. Jahrhun4
Sigsworth (1972).
5
Frevert (1984), S. 75, ergänzend auch S. 263 u. 291f.
6
Vgl. z. B. Stürzbecher (1972).
7
Vgl. Spree: Quantitative Aspekte (1996).
8
Vgl. dazu den Beitrag von Labisch im vorliegenden Band.
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Anspruch und Wirklichkeit der Krankenhausbehandlung im 19. Jh.
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dert nur wenig gezielte und kausal wirksame Therapie bieten. Die naturwissenschaftliche Medizin wirkte sich zwar seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
allmählich auf neue Verfahren und Organisationsformen ärztlicher Praxis
aus. Neben der in den 1840er Jahren eher zufällig entdeckten Anästhesie
sind zu nennen: die Ende der 1860er Jahre entwickelte Antisepsis, die sich
in Deutschland während der 1870er Jahre durchsetzte9, vor allem aber seit
Ende der 1880er Jahre die Asepsis, die die Chirurgie auf eine völlig neue
Basis stellte, mit der gezielten Isolierung infektiös Erkrankter aber auch die
Medizinische Klinik stark beeinflußte.
Seit Mitte der 1880er Jahre wurden die chirurgischen Abteilungen nach
septischen und aseptischen Fällen getrennt. Erst in den ausgehenden 1880er
und frühen 1890er Jahren wurde die Frage der Wundinfektion durch Mikrobiologie und Bakteriologie prinzipiell gelöst. In der Chirurgie setzte sich
sowohl im operativen wie im organisatorischen und im pflegerischen Bereich ein neuer Standard durch. Dieser neue hygienisch-bakteriologische
Standard wurde in modernen, für die damalige Zeit unglaublich aufwendigen Krankenhausneubauten realisiert. Trotzdem blieb die krankheitsspezifische Letalität auch bei Routine-Operationen erschreckend hoch. So lag um
die Jahrhundertwende die Sterblichkeit nach geburtshilflichen Operationen
bei 5 %. Gleichwohl wurde die Chirurgie Ausgang des 19. Jahrhunderts –
aber auch erst dann – zum Aushängeschild des modernen Allgemeinen
Krankenhauses.10 Technische Entwicklungen im Bereich der Diagnostik
und der internistischen Therapie kamen hinzu. Musterbeispiel ist der Röntgenapparat, der nach der Entdeckung der X-Strahlen im Jahre 1895 erstaunlich rasch zur Standardausstattung der Krankenhäuser wurde.
Noch problematischer ist der Beitrag der modernen Inneren Medizin auf
die Entwicklung des Krankenhauses einzuschätzen. Zwar stellte die SerumTherapie der Diphtherie nach Emil Behring und Shibasaburo Kitasato im
Jahre 1890 ein epochales Ereignis dar.11 Doch auch diese Therapie blieb
auf wenige Zentren beschränkt und war keineswegs immer erfolgreich. Allerdings war diese Entwicklung für die Krankenhausmedizin von großer
Bedeutung, da derartige innovative pharmakologische Therapien, zu denen
auch die Erprobung neuer Arzneimittel gegen Fieber und Schmerzen zu
rechnen ist, zunächst nur im Krankenhaus durchgeführt werden konnten.
Deutliche Fortschritte in der Therapie in Richtung gezielter Heilung von
Krankheiten fanden demnach erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts
9
Noch in den frühen 1870er Jahren erkrankten z. B. in der chirurgischen Klinik des
Münchener Allgemeinen Krankenhauses 50 % bis 80 % der operierten Patienten an
Pyämie und Hospitalbrand. Nußbaum operierte deshalb nach Möglichkeit nur noch
außerhalb des Krankenhauses, beispielsweise in angemieteten Hotelzimmern. Erst ab
1875, nach einem Besuch bei Lister in Edinburgh, brachte das nunmehr eingeführte
Listersche antiseptische Verfahren rasch Besserung. Vgl. Scheffler (1997), S. 121-124.
10 Vgl. dazu ausführlicher Thomann (1996).
11 Vgl. Labisch: Stadt und Krankenhaus (1996), S. 275.
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statt. Sie haben vermutlich die Attraktivität des Krankenhauses erhöht und
insofern eine Art Sogwirkung entfaltet. Während der ersten zwei Drittel des
19. Jahrhunderts muß jedoch die Anziehungskraft der Krankenhausmedizin
als Therapieangebot recht niedrig eingeschätzt werden. Dennoch zog es
zunehmend mehr Menschen an.
Die Ausgangssituation zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Um klären zu können, welchen Wandel Anspruch und Wirklichkeit der
Krankenhausbehandlung während des 19. Jahrhunderts durchmachten,
sind die Aufgabenstellungen des Krankenhauses und seine Leistungen zu
verschiedenen Zeitpunkten zu präzisieren. Dies verlangt nicht zuletzt einen
Blick auf die soziale Zusammensetzung und die Finanzierung der Krankenhauspatienten. Zu diesem Zweck ist es sinnvoll, sich noch einmal die Ausgangssituation hinsichtlich der Krankenpflege um die Wende zum 19. Jahrhundert zu vergegenwärtigen.
Bei der großen Masse der Bevölkerung herrschten Selbstmedikation und
Pflege durch Familie und Angehörige eindeutig vor. Das impliziert allerdings, daß ein großer und bis ins späte 19. Jahrhundert ständig anwachsender Bevölkerungsteil im Krankheitsfall schlecht oder gar nicht versorgt war:
die jüngeren Erwerbstätigen bis zum 30., häufig sogar 40. Lebensjahr. Diese
waren unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts sehr mobil, wechselten
auf der Suche nach Verdienst häufig den Arbeitsort und die Arbeitsstelle,
lebten also in der Fremde und waren meist unverheiratet. Zu denken ist
besonders an Dienstboten, Handwerksgesellen, Gewerbegehilfen, immer
stärker dann auch an seit den 1840er Jahren vom Land abwandernde Arbeitskräfte, die sich als Tagelöhner, Eisenbahn- und Fabrikarbeiter verdingten. Ihnen fehlte typischerweise im Krankheitsfall jede familiäre Unterstützung.
Damit ist die wichtigste Zielgruppe der bereits seit dem späten 18. Jahrhundert in zahlreichen Städten gegründeten Krankenhäuser bezeichnet. Es
überrascht insofern nicht, wenn man feststellt, daß in vielen Städten die
ersten (zunächst meist sehr kleinen) Krankenhäuser modernen Typs, nämlich für »heilbare Kranke«, ausdrücklich für diese Berufsgruppen errichtet
wurden. Das größer ausgelegte städtische Krankenhaus hatte oft in einem
Dienstboten- oder Handwerker-Krankenhaus seinen Vorläufer.12 Neben
den Ortsarmen sollten die Krankenhäuser also vor allem die ortsfremden
Labouring Poor bei Krankheit versorgen. Fehlende Unterstützung der fern
der Heimat arbeitenden unteren Beschäftigtengruppen durch Familien oder
Haushalte war bis ins späte 19. Jahrhundert hinein der wichtigste Grund für
12 Vgl. als besser untersuchte Fälle z. B. Gabler (1983), S. 18-39 (=Die HandwerkerKrankenanstalt); Stremmel (1993), S. 31-33 (=Das erste Solinger ›Krankenhaus‹); Saffert (1975) (=Das erste ›Dienstbotenkrankeninstitut‹); Salm (1974) (=Das ›Dienstbotenkrankenhaus‹).
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die Einrichtung von Krankenhäusern; die Krankenhauspflege sollte hier
Ersatz schaffen. Geboten wurden ein sauberes Bett, angemessene Ernährung
und sachkundige Betreuung.13 Hinzu kam die ärztliche Überwachung, die
ebenfalls wörtlich zu nehmen ist und in den Augen der Finanziers, also vor
allem der steuerzahlenden Bürger in den Kommunen, sichern sollte, daß die
eingesetzten Finanzmittel rationell verwendet wurden, indem das Krankenhaus die Kranken möglichst rasch wiederherstellte und arbeitsfähig machte.
Die berufliche Zusammensetzung der Krankenhauspatienten
Tatsächlich setzte sich die Patientenschaft der Krankenhäuser während des
19. Jahrhunderts auch genau so zusammen,14 wie es dieser Zweckbestimmung entsprach: Die Patienten waren überwiegend jüngere Erwachsene
zwischen 15 und 40 Jahren, schwerpunktmäßig in den Zwanzigern; ältere
Menschen und Kinder fanden sich kaum in den Krankenhäusern; Kinder
schon deshalb nicht, weil sie meist durch die Statuten ausgeschlossen waren. Stets gab es ein mehr oder weniger großes Übergewicht männlicher
Patienten, die von Beruf bis in die 1860er Jahre zu 60 bis 70 % Handwerksgesellen waren. 10 bis 20 % waren Tagelöhner oder sonstige Gewerbegehilfen, weitere 10 bis 20 % Dienstboten. Nur sehr wenige gingen sozusagen
bürgerlichen Berufen nach. Bei den Frauen dominierten eindeutig die
Dienstbotinnen sowie die Angehörigen von Handwerkern. Je nach den örtlichen Bedingungen konnte ein kleiner Prozentsatz der weiblichen wie
männlichen Patientenschaft aus der Landwirtschaft kommen. Ebenso entschieden die örtlichen Bedingungen über die Häufigkeit von Prostituierten
als Patientinnen (in Hamburg stellten sie mehr als die Hälfte der Patientinnen, in München gab es keine, die als solche in den Aufnahmebüchern geführt wurden)15 oder von Militärangehörigen und Eisenbahnbauarbeitern
als Patienten. Die großen Veränderungstrends im späten 19. Jahrhundert
bestanden darin, daß der Anteil der Handwerker zurückging, während der
der Fabrikarbeiter wuchs; ebenso nahm meist der Anteil der Dienstbotinnen unter den Patientinnen zu, in Industriestädten der der Fabrikarbeiterinnen; dagegen sank der Anteil der Handwerkerfrauen deutlich.
13 Vgl. bes. Elkeles (1996).
14 Vgl. vor allem die auf der Basis von Individualdaten erarbeiteten Studien zur Sozialstruktur der Patienten in verschiedenen deutschen Krankenhäusern des 19. Jahrhunderts: Brinkschulte 1998, S. 147-199 (=Würzburg und Bamberg); Leidinger (2000)
(=Bremen); Spree (1998) (=München); Langefeld/Spree (1998/99) (=Hamburg); Bleker et al. 1995, S. 220-223 u. I-LXV (=Würzburg). Vgl. ergänzend auch Arbeiten, die
auf aggregierten Daten beruhen und zu ähnlichen Ergebnissen kommen, z. B. Vallgårda: (1999); Bueltzingsloewen (1997); dies. (1994); sowie die Pionierarbeit von Imhof (1977). Längerfristige Entwicklungstendenzen im übrigen bei Spree: Quantitative
Aspekte (1996).
15 In den Aufnahmebüchern des Krankenhauses links der Isar sind Prostituierte während
der von mir ausgewählten Stichjahre 1827/28, 1869 und 1894 nicht verzeichnet. Vgl.
ergänzend Scheffler (1997), S. 155f.; zu Hamburg: Langefeld/Spree (1998/99), S. 169.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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148
Reinhard Spree
Die berufliche Zusammensetzung der Krankenhauspatienten unterschied
sich – soweit bisher erkennbar – nicht in systematischer Weise zwischen
Nord- und Süddeutschland, obwohl die Zusammensetzung der Kostenträger bis in die frühen 1880er Jahre erheblich differierte. In Norddeutschland
wurden die meisten Patienten als Klienten der Armenfürsorge im Krankenhaus versorgt, während in süddeutschen Städten mit einem Krankenhaus
seit dem frühen 19. Jahrhundert überwiegend spezielle Krankenhausversicherungen für die Labouring Poor bestanden, so daß der Anteil der Armenpatienten unter 50 %, oft sogar unter 20 % lag.16 In Süddeutschland
hatte deshalb das Krankenhaus auch viel weniger den Charakter einer Armenanstalt, was in Norddeutschland hingegen die Regel war. Selbst die
Einführung der GKV ab 1884 änderte daran wenig, weil diese ihre Hauptaufgabe im Lohnersatz für erkrankte Arbeitnehmer, d. h. in der Gewährung
eines Krankengeldes, fand und Krankenhausbehandlungen nur als KannLeistung vorsah. Die süddeutschen Krankenhäuser kamen insofern während des ganzen 19. Jahrhunderts stärker als die norddeutschen einem klaren gesundheits- und arbeitsmarktpolitischen Auftrag nach, der vor allem
die Versorgungsprobleme der Labouring Poor im Krankheitsfall in für die
Kommunen günstiger Weise lösen sollte. In Norddeutschland spielte das
Krankenhaus dagegen in der Sozialpolitik eine eher untergeordnete Rolle,
weil hier vielmehr die allgemeinen arbeiterpolitischen bzw. sozialintegrativen Absichten (Versöhnung der Arbeiterschaft mit dem bürgerlichen Staat)
dominierten.
Heilanspruch und Heilvermögen der Krankenhäuser
Offenbar ist der Heilanspruch des Krankenhauses während des 19. Jahrhunderts nicht im modernen Sinne eines gezielten und kausal wirksamen
Therapieangebots zu verstehen. Vielmehr wurde primär auf die Herstellung
einer den natürlichen Genesungsprozeß fördernden äußeren Umgebung für
den Kranken geachtet. Aus diesem Grunde war es bis ins späte 19. Jahrhundert für den Erfolg eines Krankenhauses viel wichtiger, über gute Pflegekräfte als über besonders qualifizierte Ärzte zu verfügen. Das macht die
große Bedeutung der katholischen, später auch der evangelischen Pflegeorden und schließlich der Rot-Kreuz-Schwestern verständlich.17 Waren auch
die Ärzte bis in die 1870er/80er Jahre für die Leistung eines Krankenhauses
weniger bedeutsam, so war doch umgekehrt das Krankenhaus für die Ärzte
wichtig als Lehr-, Forschungs- und Lerneinrichtung.
16 Vgl. die Varianten in den während der letzten Jahre fertiggestellten Fallstudien zur
Finanzierung von Krankenhäusern, bes. Spree (1997), S. 421, 435, 440-443; Langefeld
(1995-1997); Wagner/Spree (1999); Gabler/Spree (1999); Gabler (2000); Langefeld/Spree (im Druck); Spree (2000); sowie auch für das frühe 20. Jahrhundert die Angaben bei Spree (1995).
17 Vgl. ausführlicher Labisch/Spree (1995), S. 29ff.
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Anspruch und Wirklichkeit der Krankenhausbehandlung im 19. Jh.
149
Das Krankenhaus für »heilbare Kranke«, so die zeitgenössische Charakterisierung, um es vom traditionellen Hospital abzugrenzen, sollte durchaus
medizinischen Zwecken dienen. Dazu gehörte natürlich auch die Heilung
von Kranken. Aber angesichts des geringen kausalen Heilvermögens der
Medizin bis ins späte 19. Jahrhundert hatte der Heilanspruch lange Zeit
vielmehr die Bedeutung einer die Selbstheilung der Kranken fördernden
Pflege. Erst im späten 19. Jahrhundert wandelte sich der Anspruch mehr
und mehr in die Richtung einer effektiv Krankheiten beseitigenden ärztlichen Therapie. Hier öffnete sich dann eine gewisse Kluft zwischen Heilanspruch und Heilvermögen, der jahrzehntelang während der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts in der öffentlichen Debatte eine Rolle spielte.
Mein Fazit ist: Anspruch und Wirklichkeit der Krankenhausbehandlung
klafften im 19. Jahrhundert keineswegs so stark auseinander, wie man bis
vor kurzem selbst in der einschlägigen Forschung zu glauben geneigt war.
Die geringen Kenntnisse über die inneren Verhältnisse des Krankenhauses
im 19. Jahrhundert und die vorherrschende Orientierung am Gegenwartskrankenhaus als einer überwältigend effizienten »Heilmaschinerie« haben zu
einer verzerrten Bewertung der Vorläuferinstitutionen beigetragen, deren
zeitgenössischen Auftrag bzw. Anspruch man lange Zeit verkannte.
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
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150
Reinhard Spree
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und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Anspruch und Wirklichkeit der Krankenhausbehandlung im 19. Jh.
151
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Die Kunst des Hungerns. Anorexie in medizinischen Texten
des späten 19. Jahrhunderts
Nina Diezemann
Summary
The Art of Going Hungry. Anorexia in Medical Texts in the Late 19th Century
The essay analyzes representations of anorexia in French, English and German medical
literature from 1870 to 1900, paying specific attention to rhetorical patterns.
Unlike other nervous diseases, anorexia was considered a somatic illness. Rather than subjects, patients were regarded simply as skeletal bodies. Most medical case histories enact
the transformation of an emaciated body into a nubile woman – slender, perhaps, but
ready for marriage.
The patients are described as studious girls who 'devour’ literature instead of food. This
metaphor is taken from etiology to therapy, when the so-called “Mastkur” in the sanatorium replaces 'enormous’ amounts of literature with 'enormous’ amounts of food to be eaten.
Medizinhistorische Quellen als Texte
In einem Lehrbuch der Neurasthenie aus dem Jahr 1896 findet sich folgende Fallgeschichte:
Frl. B., 18 Jahre alt; [...] Bei der Aufnahme in die Klinik betrug das K ö r p e r g e w i c h t
4 5 P fd . Das ziemlich kleine (154 cm) Mädchen war skelettartig abgemagert; die Augen tiefliegend, Blick fast erloschen, Gesichtsausdruck starr, leblos; die Nahtlinien des
Schädels unter der dünnen Haut genau abzutasten, Gesichtsknochen totenkopfartig
hervorspringend. Sprache klanglos, fast unhörbar leise. […] Pat. klagt über absoluten
Appetitmangel, ja Ekel gegen Nahrungsaufnahme. Schmerzhafte Empfindungen bei
jeder Nahrungsaufnahme im ganzen Leibe. – Jede Nahrungsaufnahme musste anfänglich erzwungen werden. Ich mußte selbst (unter fortwährendem Weinen und Sträuben
der Kranken) ihr die Speisen einflößen. [...] In den häuslichen Verhältnissen besserte
sich bei geeignetem Stundenplan das ganze Befinden stetig, so daß die Pat. nach 2 Jahren 108 Pfd. wog und sich verheiraten konnte.1
Der Publikationsort überrascht: Der Jenaer Professor für Psychiatrie Otto
Binswanger veröffentlichte diesen Fall der Selbstaushungerung zwar unter
dem Stichwort »nervöse Anorexie«2, jedoch in einem Buch über Neurasthenie. Tatsächlich wird die Anorexie im späten 19. Jahrhundert – im Unterschied zur Magersucht heute – in den seltensten Fällen als eigenständige
Krankheit begriffen, sondern vor allem im Kontext der Nervenleiden, zu
denen neben der Neurasthenie vor allem auch die Hysterie zählt, rezipiert.
Außerdem fällt auf, wie detailliert der Autor die Folgen der Abmagerung
schildert. Er greift nicht nur auf formalisierte Meßergebnisse zurück, sondern versucht, den Körperzustand möglichst genau wiederzugeben. Auf die
1
Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 331f.
2
Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 237.
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Nina Diezemann
möglichen Ursachen der Abmagerung geht er allerdings nicht ein. Zudem
schildert er einen Nahrungsekel, der so extrem ist, daß er selbst die Patientin füttern muß. Schließlich befremdet das Ende der Fallgeschichte: Erstaunlich für einen heutigen Leser ist vermutlich nicht nur der kausale Zusammenhang zwischen Gewicht und Heiratsfähigkeit, sondern daß überhaupt ein solches groschenromanhaftes Happy–End in einem medizinischen Fachtext auftaucht. Im Folgenden möchte ich zeigen, daß diese Elemente keineswegs die Ausnahme sind, sondern typisch für die Darstellung
der Anorexie vor 1900.
Eine solche Untersuchungsperspektive unterscheidet sich von der eher sozialgeschichtlich orientierten Darstellung der Medizingeschichte der Anorexie
Joan Jacobs Brumbergs3 oder der »retrospektiven Fallidentifizierung» Tilman Habermas‘4 – auch wenn diese auf einem ähnlichen Quellenkorpus
basieren. Im Unterschied zu Brumberg geht es nicht darum, Medizin und
Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als Handlungssystem zu rekonstruieren.
Dieser Handlungskontext wird sogar bis zu einem gewissen Grad ausgeblendet, so daß die medizinischen Quellen selbst als Texte in den Blick
kommen. Diese Vorgehensweise hat ihr methodisches Vorbild nicht nur in
der Literaturwissenschaft5, auch die Medizingeschichtsschreibung wendet
sich den Darstellungstechniken, derer sich die Medizin bedient, um ihr
Wissen überhaupt zu generieren, verstärkt zu.6 Medizinische Texte werden
in dieser Untersuchung wie literarische Texte gelesen und – wie für die Fallgeschichte Binswangers angedeutet – im Hinblick auf ihre Narrativität und
Rhetorizität untersucht.
Das Quellenkorpus dieser Arbeit7 umfasst englisch-, französisch- und
deutschsprachige Texte aus verschiedenen medizinischen Arbeitsgebieten
und ›Schulen‹. Auch die Bezeichnung für die Nahrungsabstinenz ist unterschiedlich: So kursieren neben dem Begriff »Anorexia nervosa« und seinem
deutschsprachigen Pendant »nervöse Anorexie« auch noch die Begriffe
»Anorexie hystérique« und »Anorexie mentale« sowie deren Übersetzungen.
Deshalb verwende ich im Folgenden den unspezifischeren Begriff »Anorexie«. Leichter als mit dem spezifischen Begriff der »Anorexia nervosa«,
noch heute der lateinische Name der Magersucht, läßt sich so den diversen
Erscheinungsformen freiwilliger Nahrungsabstinenz und ihrer Behandlung
in den medizinischen Texten dieser Zeit Rechnung tragen.
3
Brumberg (1994).
4
Habermas (1990), Habermas (1994).
5
Einen guten Überblick zur Forschung zum Verhältnis von Literatur und Medizin vor
1900 gibt Walter Erhart. Erhart (1998).
6
Vgl. den Sammelband Bödecker/Reill/Schlumbohm (1999) sowie u. a. Steinlechner
(1995), Hunter (1991), Epstein (1995), Gradmann (1994).
7
Siehe Literatur- und Quellenverzeichnis.
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Die Kunst des Hungerns
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Die ›Entdeckung‹ der Anorexia nervosa bzw. der Anorexie
hystérique
Strenggenommen wird die »Anorexia nervosa« bzw. die »Anorexie
hystérique« nicht entdeckt. Joan Jacobs Brumberg zufolge stiften der englische Arzt Sir Willliam Gull und der französische Mediziner Charles
Lasègue jeweils nur eine mehr oder minder scharf abgegrenzte Diagnose für
all jene Fälle freiwilliger Selbstaushungerung junger Mädchen, die in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Privatpraxen und seltener in den
Krankenhäusern Englands und Frankreichs auftauchen.8 Auch in den Jahren zuvor gab es Beiträge über Eßstörungen im Kontext der Hysterie, die
jedoch kaum beachtet wurden.9 Gull selbst veröffentlichte bereits 1868 einen Aufsatz über »hysterische Apepsie«, die in der Symptomatik seiner späteren Beschreibung der »Anorexia nervosa« gleicht.10 Sowohl Gull als auch
Lasègue haben 1873 eine Position, die es ihnen ermöglicht, eine neue
Krankheit zu definieren: Der Neurologe Gull ist nicht nur Vorsitzender der
»Clinical Society« in London, er ist auch außerordentlicher Leibarzt der
Queen Victoria.11 Lasègue ist Chefarzt für klinische Medizin am Pariser
Krankenhaus »La Pitié« und gibt die Zeitschrift »Archives générales de
médecine« heraus, in der auch seine Studie zur »Anorexie hystérique« erscheint. Mit diesen Texten etablieren sie nicht nur die Krankheitsbezeichnung, sondern auch eine Wahrnehmungsweise der Krankheit sowie narrative Muster, Bilder und Metaphern, die in der Rezeption der Anorexie wieder
auftauchen.
Als Gull 1873 bei einem Vortrag auf der Jahresversammlung der »Clinical
Society« in London drei Fallgeschichten vorstellt, beschreibt er den abgemagerten Körper, weiß jedoch keine Ursachen für die mysteriöse Appetitlosigkeit zu benennen:
The patient complained of no pain, but was restless and active. This was in fact a
striking expression of the nervous state, for it seemed hardly possible that a body so
wasted could undergo the exercise which seemed agreeable. There was some peevishness of temper, and a feeling of jealousy. No account could be given of the exciting
cause.12
Die Nahrungsabstinenz erscheint dem Arzt um so erstaunlicher, weil sich
bei keiner seiner Patientinnen Organläsionen nachweisen lassen: “The extremely emaciated look […], much greater indeed than occurs for the most
part in tubercular cases where patients are still going about, impressed me
8
Vgl. Brumberg (1994), S. 120 sowie Shorter (1999), S. 271.
9
Vandereycken/van Deth/Meermann (1992), S. 160ff.
10 Gull (1868).
11 Vgl. Brumberg (1994), S. 110ff.
12 Gull (1874), S. 23.
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156
Nina Diezemann
at once with the probability that I should not find no visceral disease.”13
Zudem werden die Mädchen, die von der Krankheit betroffen sind, als
»nice, plump, good–natured«14 beschrieben. Nach Gull ist die Appetitlosigkeit auf einen »morbid mental state« zurückzuführen.15 Gull sieht sie also
als eine Art vorübergehender Geisteskrankheit. In Folge von Gulls Vortrag
werden in der englischen Medizinzeitschrift »Lancet« eine ganze Reihe von
Fällen veröffentlicht, die seinem Modell folgen.16
Gull selbst berichtet 1888 noch einmal von einem Fall plötzlicher rätselhafter Nahrungsabstinenz:
The patient, who was a plump, healthy girl until the beginning of last year (1887), began, early in February, without apparent cause, to evince a repugnance to food; and
soon afterwards declined to take any whatever, except half a cup of tea or coffee.17
Gulls Darstellung in seinem ersten Vortrag von 1873, ebenso wie in der
Fallgeschichte von 1888, bleibt jedoch knapp und folgt dem medizinischen
Schema der Messung vitaler Funktionen (Körpertemperatur, Puls etc.). Der
Kern der Krankheit liegt offenbar in diesen Befunden, das Verhalten seiner
Patientinnen hat für ihn keine Aussagekraft.
Anders als in der englischen Debatte beschränkt sich die Beobachtung der
Patientinnen in dem zeitgleich veröffentlichten französischen Text nicht nur
auf das Messen von Herzschlag und Pulsfrequenz. Auch Charles Lasègue
spart zwar mögliche psychische Auslöser weitgehend aus, beobachtet das
Verhalten der Kranken jedoch sehr genau und beschreibt sie mit Hilfe von
Kriegs- bzw. Kampfmetaphorik. Im Unterschied zu Gulls kurzen Fallgeschichten ist Lasègues Studie sehr viel komplexer. Er gliedert sie in drei Abschnitte entsprechend den drei Phasen der Anorexie, die er für diese Krankheit annimmt. Er selbst schreibt sich als behandelnder Arzt die Erzählerfunktion in dieser Fallgeschichte zu. Indem er die Kranke zu seiner Gegenspielerin macht, sichert er ihr als Figur in seinem Text eine Handlungsautonomie zu, die sie von den Patientinnen in Gulls Texten unterscheidet.
Lasègue sieht die Krankheit als Kriegserklärung: »Die Krankheit wurde erklärt«.18 Die Kranke liege »auf der Lauer [à l'affût]«19, die »Kampfhand13 Gull (1874), S. 23. In den meisten Fällen wird zunächst Schwindsucht als Ursache der
Abmagerung angenommen.
14 Gull (1874), S. 27.
15 Gull (1874), S. 25.
16 Vgl. Collins (1894), Carr (1911), DeBerdt Hovell (1888), Dowse (1881), Edge (1888),
Stephens (1895), MacKenzie (1881), Marshall (1895). William Smoult Playfair allerdings hielt Gulls Anorexia nervosa für eine Variante der Neurasthenie, vgl. Playfair
(1888).
17 Gull (1888), S. 517. Kursive Hervorhebungen sind in diesem wie allen folgenden Zitaten von mir, N. D.
18 Lasègue (1873), S. 386. Französische Übersetzungen sind, sofern nicht anders angeben, von mir, N. D.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Die Kunst des Hungerns
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lungen haben begonnen [on a commencé les hostilités]«20 und die Kranke
nehme sich das Recht heraus, sie mit einer »erbarmungslosen Ausdauer
[ténacité implacable]«21 fortzuführen. Der Erzähler durchschaut die Taktik
der Kranken trotz Dissimulationstechniken: »Die Kranke, weit davon entfernt schwächer oder bekümmerter zu werden, stellt eine Art der Lebhaftigkeit zur Schau [déployer], die man sonst von ihr nicht gewohnt ist; man
könnte sogar sagen, daß sie für die letzten Phasen Vorsichtsmaßnahmen
trifft [prend ses précautions] und sie bereitet Argumente vor, derer sie sich
sicher bedienen wird.«22 Sowohl »déployer« als auch »prendre ses précautions« sind Vokabeln aus dem Bereich des Militärs. An anderer Stelle heißt
es, die Kranke entziehe sich ihrem Kranksein, indem sie einen »uneinnehmbaren Optimismus [optimisme inexpugnable]«23 demonstriere.
Die Familienmitglieder – die bei keiner anderen Fallgeschichte so stark berücksichtigt sind – werden mit ihrer Beschwichtigungspolitik unfreiwillig zu
Komplizen:
Die Familie hat nur zwei Methoden zur Verfügung, derer sie sich stets erschöpfend bedient: Bitten und Drohen, und die der einen [Kranken; N. D.] wie den anderen [Familienmitgliedern; N. D.] als Prüfstein dienen. In der Hoffnung Appetit zu wecken vervielfacht man bei Tisch die Delikatessen […]. Man fleht, man verlangt es als einen Gefallen, als einen Liebesbeweis, daß die Kranke sich fügt und einen Bissen mehr zu sich
nimmt von der Mahlzeit, die sie bereits für beendet erklärt hat.24
Lasègue greift jedoch nicht nur auf militärische Bilder zurück. Mit der Figur
eines »gemeinsamen Werks« evoziert er eine weitere Bildebene:
Die Anorexie wird nach und nach der einzige Gegenstand aller Sorgen und Gespräche. Sie bildet allmählich eine Art von Atmosphäre um die Kranke, die sie einhüllt
und der sie an keiner Stunde des Tages entkommt. Die Freunde gesellen sich zu den
Eltern, jeder trägt zum gemeinsamen Werk bei […].25
19 Lasègue (1873), S. 386.
20 Lasègue (1873), S. 386.
21 Lasègue (1873), S. 386.
22 Lasègue (1873), S. 391. «La malade loin de s'affaiblir, de s'attrister déploie une façon
d'alacrité qui ne lui était pas ordinaire, on pourrait presque dire qu'elle prend ses précautions pour les périodes ultérieures et qu'elle prépare des arguments dont elle ne
manquera pas de se servir.»
23 Lasègue (1873), S. 395.
24 Lasègue (1873), S. 393 «La famille n'a à son service que deux méthodes qu'elle épuise
toujours: prier ou menacer, et qui servent l'une et l'autre comme de pierre de touche.
On multiplie les délicatesses de la table dans l'espérance d'éveiller l'appétit […]. On
supplie, on réclame comme une faveur, comme une preuve souveraine d'affection que
la malade se résigne à ajouter une seule bouchée supplémentaire au repas qu'elle déclare terminé.»
25 Lasègue (1873), S. 393 «L'anorexie devient peu à peu l'objectif unique des préoccupations et des conversations. Il se forme ainsi une façon d'atmosphère autour de la ma-
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Nina Diezemann
Die Krankheit als »geistige Perversion [perversion intellectuelle]«26 wird als
ein »Werk« aufgefaßt, eine Zeichenordnung, die mit der des Arztes konkurriert und die er als Interpret zerstören und ersetzen muß.27 Wenn so die
Krankheit als Text gesehen wird, kann ein Satz der Kranken zum Symptom
werden: »Ich leide doch nicht, mir geht es gut […]. Diesen Satz habe ich so
oft von den Kranken wiederholt bekommen, daß er für mich inzwischen
ein Symptom ist, fast ein Zeichen.«28 Da in Lasègues Untersuchung diese
Textmetaphorik mit der Militärmetaphorik konkurriert, bleibt es unentscheidbar, ob der Satz der Kranken »Ich leide doch nicht, mir geht es gut«29
ein von ihr gewähltes Mittel kriegerischer Verstellung – des »uneinnehmbaren Optimismus«30 – ist oder ob die Kranke (wie andere Nervenleidende
ihrer Zeit) ihren »falschen Assoziationen«31 erliegt.
Lasègues Beobachtung der Kranken und ihrer Familie und die komplexe,
fast literarische Darstellung des Krankheitsverlaufs bleibt eine Ausnahme.
Sein Text ist einer der wenigen, der die Anorektikerin zu einer handelnden
Figur macht; in den anderen medizinischen Quellen ist der Arzt Hauptakteur. Auch wenn sie sich auf ihn berufen, übernehmen vor allem deutschsprachige Autoren nur seine nosologische Klassifikation der Krankheit.32 In
ihrer Darstellung folgen sie eher dem Modell Sir William Gulls.
Ätiologien
Wie Sir William Gull und Charles Lasègue gehen auch die Mediziner nach
1873 davon aus, daß die Patientinnen tatsächlich keinen Hunger verspüren,
sondern Ekel gegen die Nahrungsaufnahme. Mit Ausnahme der Darstellung
in einer Fallgeschichte des Charcot–Schülers Pierre Janets vom Anfang des
20. Jahrhunderts33 werden die Kranken als Personen geschildert, die tatsächlich Nahrungsekel verspüren, also nicht nicht essen wollen, sondern
nicht essen können. Auch in der eingangs zitierten Fallgeschichte leidet
Fräulein B. unter Nahrungsekel; sie klagt sogar über Schmerzen bei der
lade qui l'enveloppe et à laquelle elle n'échappe à aucune heure de la journée. Les
amis se joignent aux parents, chacun contribue à l'œvre commune […].»
26 Lasègue (1873), S. 395.
27 Vgl. Steinlechner (1995), S. 62, sowie Epstein (1995) und Hunter (1991).
28 Lasègue (1873), S. 395. «Je ne souffre pas donc, je suis bien portante […]. Cette phrase
je l'ai entendue répéter tant de fois par les malades que maintenant elle représente
pour moi un symptôme, presque un signe.»
29 Lasègue (1873), S. 395.
30 Lasègue (1873), S. 395.
31 Steinlechner (1995), S. 62.
32 U. a. Rosenthal (1886), S.13. Vgl. Habermas/Vandereycken/van Deth/Meermann
(1990), S. 468.
33 Janet (1919), S. 34.
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Nahrungsaufnahme.34 Sieht man sich jedoch die gesamte Fallgeschichte an,
so haben die Schmerzen in diesem Fall eine wichtige dramaturgische Funktion: Binswangers Rolle als Arzt, der seine Patientin füttert, wäre eine andere, wenn diese die Nahrungsaufnahme verweigerte, auch wenn sie gar
keine Schmerzen hätte. Ekel und Schmerzen bei der Nahrungsaufnahme
sind ein wichtiges Element dessen, daß die Anorexie im späten 19. Jahrhundert als Krankheit wahrgenommen wird und in die nosologischen
Schemata der Nervenleiden paßt.
Der Wiener Medizinprofessor Moritz Rosenthal dokumentiert in seiner Abhandlung »Magenneurosen und Magencatarrh sowie deren Behandlung«
(1886) folgende Fälle:
Eine 24jährige zarte Blondine, seit 6 Jahren verheiratet, dysmenorrhoisch und steril
(Antifelxio unteri), litt bereits als Mädchen an hochgradiger Nervosität und Migräne,
doch nicht an manifesten hysterischen Beschwerden. Nach einer Reihe von Gemüthserschütterungen büsste sie rasch ihren Schlaf und Appetit ein; jeglicher Speisegenuss
rief schmerzhaftes Spannen und Drücken im Magen hervor. Am wohlsten fühlte sich
die Patientin, wenn sie selten und nur ganz wenig zu sich nahm.35
Ein 20 Jahre altes, zartes, chlorotisches, schlecht menstruirtes Mädchen litt seit Jahren
an Verdauungsschwäche. Im letzten Jahre bewirkten Aufregungen und Nachtwachen
eine hochgradige Verschlimmerung; Patientin verlor jede Eßlust […] und wurde sehr
mager und schwach.36
Rosenthal beruft sich auf Lasègue und sagt: »Starke Gemüthsbewegungen
sind […] häufig als ursächliches Moment zu beschuldigen.«37 Während
bei Lasègue einige der »Gemüthsbewegungen« stichwortartig genannt werden – »ein wirkliches oder eingebildetes Hochzeitsprojekt, eine Unannehmlichkeit wegen irgendeiner Vorliebe oder sogar ein mehr oder weniger bewußtes Verlangen«38 – ist bei Rosenthal davon nicht die Rede. Er berichtet
zwar in der ersten Fallgeschichte von »Gemüthserschütterungen« und in der
zweiten von »Aufregungen« und »Nachtwachen«, jedoch nicht davon, was
sie ausgelöst hat. In diesem Text zeigt sich deutlich, daß die Anorexie nach
einem ähnlichen Schema wie die anderen Nervenleiden rezipiert und daher
zumeist auch nicht als eigenständige Krankheit begriffen wird. In diesem
immer noch somatisch begründeten Modell schlagen sich die »Gemüthserschütterungen« wegen der Verarmung der Nervenkraft direkt nieder, das
Nervensystem wird buchstäblich erschüttert. Mangelhafte Ernährung wird
zur Ursache von Nervenleiden wie Neurasthenie und Hysterie. So schreibt
34 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 337.
35 Rosenthal (1886), S. 15.
36 Rosenthal (1886), S. 15.
37 Rosenthal (1886), S. 13.
38 Lasègue (1873), S. 386. «[…] un projet réel ou imaginaire de mariage, [...] une contrariété afférente à quelque sympathie ou même à quelque aspiration plus ou moins
consciente […]».
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der amerikanische Neurologe George M. Beard: »Nach meiner Ansicht […]
liegt der Krankheit [Neurasthenie; N. D.] eine Verarmung der Nervenkraft
(nerve–force) zu Grunde. Sie entsteht in Folge mangelhafter Ernährung der
Nervengewebe, von deren Metamorphose die Entwicklung der Nervenkraft
abhängig ist.«39 Und sein Kollege S. Weir Mitchell betont:
Man beachtet in der Regel zu wenig, dass mit dem Schwinden der Gewebe auch das
Blut dünner wird, ebenso wie es sich verbessert, wenn jene zunehmen. [...] Der Fettschwund […] geht fast immer Hand in Hand mit den Erscheinungen der Verschlechterungen des Blutes. Andererseits ist die Fettzunahme bis zu einem gewissen Grade von
einer allgemeinen Verbesserung der Gesundheit begleitet, die sich in der besseren Gesichtsfarbe und der reichlicheren Menge der rothen Blutkörperchen kund thut.40
Die Erschütterung eines – oft durch mangelnde Nahrungszufuhr bereits anfälligen – Nervensystems wird auch als Folge von traumatischen Erlebnissen beschrieben.41 In den »Poliklinischen Vorträgen« (1887/88) des Leiters
der Pariser »Salpêtrière«, Jean–Martin Charcot, findet sich folgender Auftritt eines »jungen Mädchens in Begleitung seiner Mutter«42:
Charcot: Seit wann ist sie krank?
Die Mutter: Sie war zufällig dabei, wie ein Kind von einem Eisenbahnwagen zerquetscht worden ist.
Charcot: Das Kind ist gestorben?
Die Mutter: Augenblicklich. […]
Charcot: Was hat sie damals geäussert?
Die Mutter: Sie hat geschrien: ›Ich fürchte mich, schrecklich!‹ Und am nächsten Tag
hat sie geäussert, dass ihr von dem Anblick Arme und Beine wie abgeschlagen waren.
[…]
Charcot: (Zu dem Mädchen:) Mein Kind, sehen Sie noch manchmal im Traum die
Scene, wie das Kind zerquetscht wird?
Die Kranke: Ich habe wiederholt davon geträumt, aber nicht jede Nacht.
Charcot: An was leiden Sie also jetzt hauptsächlich?
Die Kranke: Ich kann nicht essen.43
Durch Charcots Deutung – »Das ist gerade so, als ob die hysterogene Zone
ihren Sitz im Magen aufgeschlagen hätte.«44 – wird zwar eine Verbindung
zwischen der traumatischen Szene und Anorexie hergestellt. Es ist ein
39 Beard (1881), S. 107f.
40 Mitchell (1887), S. 5f.
41 Zum Übergang von der somatischen zur psychosomatischen Deutung des Traumas
vgl. Fischer-Homberger (1975).
42 Charcot (1887/88), S. 261, Übersetzung von Sigmund Freud.
43 Charcot (1887/88), S. 261, Übersetzung von Sigmund Freud.
44 Charcot (1887/88), S. 261, Übersetzung von Sigmund Freud.
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Die Kunst des Hungerns
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Schockerlebnis, das die Anorexie auslöst. Diese Verbindung erhält jedoch
nicht den Status einer psycho–logischen Erklärung.
Zum Teil treten die »Gemüthsbewegungen« in Folge körperlicher Veränderungen auf. Ein weiterer Fall Charcots – das »Mädchen aus Angoulême« –
war »seit fünf oder sechs Monaten stark gewachsen […] und [verweigerte]
seither hartnäckig […], Nahrung zu sich zu nehmen, obwohl bei ihr weder
eine Schlingstörung noch ein Magenleiden bestand.«45 Über Julie R., die
zehn Jahre später von E. Brissaud und A. Souques in der Salpêtrière behandelt wird, heißt es: »Sie war kräftig zu jener Zeit und wohlauf. Weil man sie
Dickerchen nannte, sagte sie zu sich, ›gut, ich werde mich zwingen abzunehmen.‹«46 Durch das Stilmittel der ›erlebten Rede‹, das die Autoren hier
verwenden, wird im Text deutlich – selbst wenn es nicht eine explizite Folgerung der Autoren ist –, der Anorexie der Julie R. geht ein psychischer
Vorgang voraus.
Otto Binswanger zitiert in seinem 1904 erschienenen Handbuch »Die Hysterie« nicht nur die europäische Debatte (Gull, Lasègue, Charcot, Huchard,
Stiller, Dowse, Fenwick und Sollier), er unterschiedet auch zwischen durch
»Perversion der […] Organgefühle« ausgelöster Anorexie und einer durch
Vorstellungen ausgelösten Form. Während der ersten Konzeption weiterhin
das somatische Modell zugrunde liegt, finden mit dem zweiten Ansatz auch
psychische Auslöser ihren Niederschlag in seiner Anorexiekonzeption. Die
Gewichtsphobie ist dabei die »einfachste Form dieser durch Vorstellungen
verursachten Anorexia nervosa«47. Laut Binswanger ist sie »nur eine pathologische Steigerung jener auch bei gesunden jungen Mädchen und Frauen
gar nicht seltenen vorkommenden eitlen Besorgnis, zu dick zu werden und
dadurch die Schönheit einzubüssen.«48 Mit den Worten »eingezwängt« und
»unterdrückt« evoziert Binswanger Assoziationen an das Korsett, dem zeitgenössischen Apparat für Frauen, nicht zu dick zu erscheinen: »[D]ie Nahrungsaufnahme wird, indem das natürliche Hungergefühl ›eingezwängt‹
und ›unterdrückt‹ wird, allmählich verringert, bis schliesslich der Appetit
thatsächlich verloren geht und die sehnlichst herbeigewünschte Abmagerung in überreichem Maasse stattfindet.«49 Janet berichtet in einem auf eng-
45 Charcot (1886), S. 194, Übersetzung von Sigmund Freud.
46 Brissaud/Souques (1894), S. 239. «[E]lle était à cette époque forte et bien portante. […]
Lorsqu'on l'appelait boulotte, ‹c'est bien, disait-elle intérieurement, je vais m'efforcer
de maigrir.›»
47 Binswanger (1904), S. 611.
48 Binswanger (1904), S. 611f.
49 Binswanger (1904), S. 611f. Gewichtsphobie ist im heutigen Bild der Anorexia nervosa
zentral. Allerdings wird Gewichtsphobie heute - wie Tilman Habermas erklärt - nicht
unbedingt als Ausdruck eines pervertierten Schönheitsideals (»Koketterie«) gedeutet,
sondern als der Versuch, die Grenze zwischen »Ich und Nicht-Ich« durch »zusammengezogene Körpergrenzen» zu verstärken, vgl. Habermas (1994), S. 35. Zur Ge-
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lisch publizierten Vortragsband, daß Charcot bei einer Patientin ein rosafarbenes Band um die Taille geschnürt gefunden habe: “He obtained following confidence; the ribbon was a measure which the waist was not to
exeed.”50 Als weitere »Vorstellungen« werden »hypochondrische Vorstellungen, daß vieles Essen ungesund sei« genannt: »Körper und Geist [könnten] bei einer möglichst geringen Nahrungsaufnahme nur gewinnen […]«51.
»Sehr häufig wird diese hypochondrische Geistesrichtung von den Patienten durch bestimmte Liebhabereien, diätische Curen, vor allem durch vegetarianische Lebensweise eingeleitet, um auf diesem Wege von pathologischen Empfindungen (Kopfdruck, Schwindel u.s.w.) befreit zu werden.«52
Einen weiteren »Vorstellungskreis«53 sieht Binswanger im »Widerspruchsgeist«54 und dem damit zusammenhängenden Wunsch, »als ein besonders
geartetes Menschenkind zu erscheinen«55.
Neben der Fallgeschichte »Nadia« aus Janets »Les obsessions et la psychasthénie« (1919)56 beschäftigt sich allein – wie an dieser Stelle jedoch nur
kurz skizziert werden kann – der Berner Psychotherapeut Louis Schnyder
mit komplexeren psychischen Erklärungen für die Nahrungsabstinenz, die
über die von Binswanger beschriebenen »Vorstellungskreise« hinausgehen.57 Sigmund Freud führt in der Einleitung zu seinen gemeinsam mit Josef Breuer veröffentlichten »Studien über Hysterie« (1895) Anorexie nur als
»banalstes Beispiel« für eine Konversionshysterie an.58 Der Ekel in diesen
Fallgeschichten richtet sich jedoch nicht auf das Essen an sich, sondern
wird vielmehr durch einen »schmerzliche[n] Affekt«59 hervorgerufen, der
wichtsphobie in Texten des späten 19. Jahrhunderts siehe auch Habermas (1994), S.
80-83.
50 Janet (1920), S. 234. Janet kritisiert jedoch, daß diese Ideen überbewertet werden:
“This is what certainly happened to Charcot, who used to seek everywhere for his
rose-coloured ribbon and the idea of obesity”, dies. (1920), S. 234f. Auch Louis
Schnyder tut in einem Aufsatz von 1913 die Furcht zu dick zu werden als »Fassadengrund« ab, vgl. Schnyder (1913), S. 356.
51 Binswanger (1904), S. 611.
52 Binswanger (1904), S. 611.
53 Binswanger (1904), S. 611.
54 Binswanger (1904), S. 611.
55 Binswanger (1904), S. 611. Der Wunsch, Aufmerksamkeit zu erregen, ist laut Brumberg das im späten 19. Jahrhundert vorherrschende Erklärungsmodell. Auch diese Erklärung paßt in die Schemata des 19. Jahrhunderts, sie wurde für alle Formen hysterischen Verhaltens herangezogen, vgl. Brumberg (1994), S. 137.
56 Janet (1919), S. 34f.
57 Schnyder (1912).
58 Breuer/Freud (1895), S. 28.
59 Breuer/Freud (1895), S. 28.
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während des Essens entsteht, jedoch unterdrückt wird. Interessanterweise
mißt jedoch Freud gerade dem Eßverhalten besondere Bedeutung zu. Die
Anorexie seiner Patientin Emmy v. N. beispielsweise werfe das »hellste
Licht auf den Charakter der Kranken und auf die Entstehungsweise ihrer
Zustände«60. In einem für Wilhelm Fließ bestimmten Manuskript stellt er
eine Verbindung zwischen Anorexie und Sexualität her. Für ihn ist die »berühmte Anorexia nervosa bei jungen Mädchen […] eine Melancholie bei
unentwickelter Sexualität […] Appetitverlust – im Sexualen Verlust von
Libido.«61 Wie auch in seiner Erklärung der Anorexie als Phänomen einer
Konversionshysterie hat die Anorexie eine Bedeutung, die über sie selbst
hinausweist.
Schnyder betont in seiner Fallstudie «Le cas de Renata» (1912), die sich
auch stilistisch sehr eng an die Fallgeschichten Freuds anlehnt, wie auch in
einem ein Jahr später veröffentlichten Aufsatz, daß der Anorexie eine komplexere Ursache zu Grunde liege, als die von Freud skizzierte sexuelle Ätiologie.62 »Die Anorexie hatte, wie ich glaube, eine höhere ethische Begründung. […] Das Kind will Kind bleiben. Mit der ganzen Macht seines Selbsterhaltungstriebes erstrebt es dann ein Stillbleiben im Leben, sogar eine Regression
seiner Entwicklung, und die Anorexie erscheint ihm in mehr oder weniger
klar bewußter Weise das sicherste Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.«63
Dieser Ansatz bleibt jedoch auch für die Zeit nach der Jahrhundertwende
eine Ausnahme. Die Perspektive der anderen Mediziner ist durch das Modell der Nervenleiden geprägt. So richten sich die Therapien auch weniger
auf die psychischen Ursachen der Anorexie als vielmehr nur auf den abgemagerten Körper der Kranken.
Therapien
Sowohl Gull als auch Lasègue plädierten für eine Isolierung der Kranken
von ihren Angehörigen – eine Maßnahme, deren Wirkung auch bei anderen Nervenleiden geschätzt wird. So schreibt S. Weir Mitchell, amerikanischer Erfinder einer gängigen Therapie:
Man trenne die Patientin einmal von ihrer körperlichen und geistigen Umgebung, die ein
Theil ihres Lebens und ihrer Krankheit geworden ist, die dadurch bewirkte Veränderung
wird sich wohltätig für sie selbst erweisen, und für die nun folgende Behandlung eine
mächtige Unterstützung bilden.64
Auch der Leiter der Pariser Salpêtrière, Jean–Martin Charcot, hält Isolierung für ein geeignetes Mittel. Als Grund dafür impliziert er jedoch weniger
60 Breuer/Freud (1895), S. 99.
61 Freud (1893), S. 92.
62 Schnyder (1912).
63 Schnyder (1913), S. 357.
64 Mitchell (1887), S. 25. Vgl. auch Brumberg (1994), S. 146.
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die Herauslösung aus den bisherigen Lebensgewohnheiten, sondern eher
eine Einschüchterung der Patientinnen. Den Eltern seiner anorektischen
Patientin, »das Mädchen aus Angoulême«, erklärt er, es bestehe nur dann
die Möglichkeit zur Heilung, wenn sie ihr Kind verließen. »Die Isolierung
war also erreicht, ihre Resultate zeigten sich rasch und in wunderbarer Weise.«65 Das Mädchen habe gegessen, bis »Kräfte, Appetit, Körperfülle […]
nicht mehr viel zu wünschen übrig [ließen]«66, und sie folgendes »Geständnis« macht:
So lange Papa und Mama mich nicht verlassen haben, mit anderen Worten, so lange
Sie nichts durchgesetzt hatten [...] glaubte ich, dass meine Krankheit nicht gefährlich
sei und da ich einen Ekel vor dem Essen hatte, ass ich nicht. Aber als ich sah, dass Sie
der Herr geworden sind, bekam ich Furcht; ich habe trotz meiner Abneigung zu essen versucht, und dann ist es allmählich gegangen. 67
Auch der französische Arzt Paul Sollier hält die Wirkung des »familiären
Milieus [milieu familial]«68 für äußerst schädlich – »weil die Familie, wegen
der Schwäche ihres Charakters, ihrem Mangel an Festigkeit gegenüber der
Kranken die Bemühungen des Arztes nach und nach zerstört […]«69. Wie
Charcot versteht er seine Methode als »Einschüchterungsmethode [methode
d'intimidation]«70. Die Kranke befinde sich in der »absoluten Macht [en son
pouvoir absolu]« des Arztes und sie dürfe »keinerlei Verkehr [aucune communication]« mit ihrer Familie haben, so lange sie nicht äße.71 Hypnose
und künstliche Ernährung mit der Sonde lehnt Sollier allerdings ab.72 »Bizarre Inszenierungen [mises en scène bizarres]«73 – das Zeigen der Sonde
(wie ein Folterwerkzeug) zur Abschreckung – seien »unter der Würde eines
Arztes [n’est pas de la dignité d’un médecin]«74.
65 Charcot (1886), S. 196.
66 Charcot (1886), S. 196.
67 Charcot (1886), S. 196.
68 Sollier (1891), S. 643.
69 Charcot (1886), S. 196. «[…] car la famille […], qui par sa faiblesse de caractère, son
manque de fermété dans la direction de la malade, détruit au fur et à mesure tous les
efforts du médecin.»
70 Charcot (1886), S. 196.
71 Charcot (1886), S. 645.
72 Charcot (1886), S. 647.
73 Charcot (1886), S. 646.
74 Charcot (1886), S. 646. Anton Stichl hingegen befürwortet die Zwangsernährung:
»Manchen Kranken ist diese Procedur gar nicht unangenehm, im Gegentheil, sie machen sich nicht im Geringsten etwas daraus, ja sie empfinden es sogar als angenehm,
haben sie doch nicht den ihnen so widerlichen Geschmack der Speisen zum empfinden, sie haben nicht dieses lästige Ekelgefühl, welches sie sonst beim Kauen der Speisen empfinden.« Stichl (1892), S. 60.
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In der Regel werden Anorektikerinnen mit einer unspezifischen Ernährungstherapie geheilt, die von George M. Beard und S. Weir Mitchell entwickelt und die nicht nur bei Hysterie und Neurasthenie, sondern – vor
Entdeckung des Tuberkulose–Bazillus – auch bei Schwindsucht angewandt
wurde.75 Diese »methodische Mastcur«76 setzt sich aus den Elementen »[a]bsolute Ruhe« und »systematische Überernährung«77 zusammen. Die Speisepläne der »Ernährungstherapie« à la Mitchell werden von Otto Binswanger
an die deutschen Eßgewohnheiten angepaßt und lassen wie die Zwangsernährung keinen Widerstand der Patientinnen zu: »Die Hauptsache ist, daß
die Kranken von Anfang an gewöhnt werden, alle zwei Stunden unweigerlich
eine neue Mahlzeit zu sich zu nehmen,«78 betont Binswanger – um 7 Uhr
Milch oder Kakao, um 9 Uhr Bouillon, Fleisch, Brot und Butter, um 11
Uhr Milch mit einem Eigelb, insgesamt acht Mahlzeiten täglich, wobei die
»Speisemengen« allmählich gesteigert werden.79 Zusätzlich gibt es »Opel'schen Nährzwieback«, »v[on] Mering'sche Kraftchocolade« und andere
»Chocoladepräparate« – selbst nahrhafte Nahrung ist noch in ihrer Nahrhaftigkeit steigerungsfähig. Gleichzeitig werden die Patientinnen körperlich
und geistig ruhig gestellt.
Otto Binswanger, der in seinem Lehrbuch »Die Hysterie« darauf hingewiesen hatte, daß Anorexie auch auf bestimmte »Vorstellungen« zurückzuführen sei,80 betont im selben Lehrbuch, daß die »Mastcur«, um eine »zielbewußte Psychotherapie« ergänzt, die »schönsten Erfolge« zeige.81 Hier
wird deutlich, daß trotz dieser Ergänzung Binswangers Therapien wenig
mit heutigen Vorstellungen von Psychotherapie zu tun haben, sondern daß
ihnen vielmehr noch immer die Vorstellung zugrunde liegt, die Nerven bedürften der Ernährung, um »Gemüthserschütterungen« standhalten zu können.82 Binswanger geht es weniger darum, die psychischen Ursachen der
Nahrungsabstinenz zu beseitigen, als vielmehr die Patientinnen zum Essen
zu überreden. So schlägt er in seinem Handbuch folgende therapeutische
Rede an die Kranken vor:
75 Zum einen wurde, bevor sich die Lehre von der Infektionskrankheit durchgesetzt hatte, Schwindsucht als Nervenkrankheit gesehen und was die Ernährung anbetrifft auch
ähnlich kuriert, vgl. z. B. Cornet (1903) und Schweizer (1903).
76 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 27.
77 Mitchell (1887), S. 1.
78 Binswanger (1904), S. 917. Der gesamte Satz ist von Binswanger durch Kursivierung
hervorgehoben.
79 Binswanger (1904), S. 917.
80 Binswanger (1904), S. 610.
81 Binswanger (1904), S. 614.
82 Binswanger (1904), S. 869.
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all diese rein seelischen Krankheitserscheinungen werden immer schlimmer werden, je
länger Sie hungern, denn gerade die Nervensubstanz bedarf der Zuführung reichlichen
und kräftigen Nahrungsmaterials. Von den Leistungen Ihres Nervensystems hängt die
Art Ihres Empfindens und Ihrer Gefühle und, was das Wichtigste ist, Ihre Willenskraft
ab.83
Wenn Binswanger von »Psychotherapie« spricht, verwendet er ein ähnliches Vokabular wie bei seiner Beschreibung der Vorzüge der Hypnose,
die für ihn ohnehin die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg einer »Psychotherapie« bei der Anorexie wie bei allen anderen Nervenleiden darstellt.
Die Kranken seien in ein »hypochondrisches Denksystem verstrickt«,84
schreibt er in seinem Lehrbuch der Neurasthenie. Nur wenn sie mit »einem
Schlage in völlig veränderte Daseinsbewegungen versetzt«85 würden, habe
der Arzt die Möglichkeit, »seinen Willen dem Patienten in vollem Umfange
zu induzieren«.86 Mit »induzieren« evoziert Binswanger eine Inkorporation
des Willens: Die Patientin muß also den Text des Arztes aufnehmen wie
Nahrung oder Medizin.
Patientinnen und Ärzte
Wie bei der – im Unterschied zur ›männlichen‹ Neurasthenie, zumeist als
›weiblich‹ konnotierten Hysterie87 – handelt es sich auch bei der Anorexie
von Anfang an um eine Frauenkrankheit. So schränkt bereits Gull – auch
wenn er männliche Kranke grundsätzlich nicht ausschließt und sogar Fälle
beobachtet haben will – die Gruppe der Betroffenen auf junge Mädchen
zwischen 16 und 23 Jahren ein.88 In ihrer leichten Variante geht die Anorexie mit den Weiblichkeitsklischees der Epoche ohnehin konform. Wie die
leichte Hysterie ist auch die leichte Anorexie nicht krankhaft, sondern gehört zu den zeittypischen Vorstellungen von Weiblichkeit.89 Die »exhaltirten hysterischen und chlorotischen jungen Mädchen«, für deren Anschau83 Binswanger (1904), S. 869.
84 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 392.
85 Binswanger (1904), S. 869.
86 Binswanger (1904), S. 869.
87 Link-Heer zeigt in einem Aufsatz den fehlgeschlagenen Versuch, die Hysterie zu einer
geschlechtsneutralen Krankheit ›umzuschreiben‹, vgl. dies. (1988).
88 Vgl. Gull (1874), S. 22. Die Altersgrenzen variieren um mehrere Jahre nach oben und
unten. Es gibt sowohl jüngere als auch ältere Fälle.
89 Vgl. Pohle (1998). Das Verschwinden durch Nahrungsabstinenz ähnelt nicht in diesem Punkt der Krankheit mit dem bezeichnenden Namen Schwindsucht: Zu der Passivität der Frau um 1900 gehört oft die Krankheit, eine Phantasie, die im Bild der
Schwindsüchtigen kulminiert: »Die an ›Schwindsucht‹ sterbende Frau hat in ihrer
zerbrechlichen körperlichen Verfassung wiederum Ähnlichkeit mit dem Kind. Sie ist
unschuldig in ihrer ätherischen Körperlichkeit und sich ihrer Schönheit, die von
Krankheit definiert wird, nicht bewußt.« Ders. (1998), S. 64.
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ung die »Mädchenpensionate […] uns […] eine reiche Ausbeute [liefern]«90,
wie der Kinderarzt Otto Soltman schreibt, scheinen schon an und für sich
für diese Krankheit disponiert. So beobachtet auch Berthold Stiller:
Ich habe in meiner Clientèle eine Anzahl von Frauen, die neuropathisch angelegt, ohne charakteristische Zeichen von Hysterie, sich monatelang in jeder Beziehung des
besten Wohlseins erfreuen, um mit oder ohne ein deutlich veranlassendes Moment,
meist im Frühjahre, anfangen, fast plötzlich nervös zu werden. […] In solchen Zuständen nun ist Anorexie eines der ersten und auffälligsten Symptome.91
Doch auch in der Dramaturgie der Fallgeschichten werden die Geschlechterverhältnisse immer wieder in Szene gesetzt, indem der Übergang von
einem kranken abgemagerten Mädchen zu einer heiratsfähigen Frau geschildert wird. Der Arzt ist dabei derjenige, der diesen Übergang – wie in der
eingangs zitierten Fallgeschichte Otto Binswangers – überhaupt erst ermöglicht. So wird bei Binswanger aus einem »Mädchen«, dessen Grad der Abmagerung ausführlich beschrieben wird, durch die tatkräftige Intervention
des Arztes eine heiratsfähige Frau mit einem mehr als doppelt so großen
Gewicht. Eine andere Patientin Binswangers gebärt nach der Heilung ein
»kräftige[s] Kind«92. Auch in einer vom französischen Doktoranden George
Nogues zitierten Fallgeschichte heißt es: »Die geheilte Mlle J. hat sich inzwischen verheiratet.«93 Die Heirat ist nicht nur ein Beleg dafür, daß die
Patientin »vollständig geheilt«94 ist – sie figuriert in Texten als Schlußbild
einer gelungenen Therapie.
Die Mediziner widmen dem abgemagerten Körper besondere Aufmerksamkeit: »[D]ie Kranken sind ohne Uebertreibung nichts als lebende Skelette«,
schreibt Jean–Martin Charcot, »die Muskeln des Halses sind gelähmt, das
Haupt rollt wie eine todte Masse auf dem Kissen, die Glieder sind kalt und
cyanotisch […];«95 Wie auch bei Binswanger (»totenkopfartig«, »skelettartig«) ist das zugrunde liegende Bild, das einer ›lebenden Leiche‹ »man fragt
sich erstaunt, wie bei einem solchen Verfall noch Leben bestehen kann!«96,
schließt Charcot seine Beschreibung ab. Liest man allerdings diese Körperbeschreibungen in ihrem narrativen Zusammenhang, so haben sie eine weitere Funktion. Die Beschreibungen ausgehungerter Mädchenkörper bilden
den düsteren Hintergrund, vor dem die Therapiererfolge der Ärzte umso
heller leuchten. Charcots Heilung ist bemerkenswert: Nach nur zwei Mona-
90 Soltmann (1894), S. 5.
91 Stiller (1915), S. 30.
92 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 330.
93 Nogues (1913), S. 138. «Mlle J. guérie, s’est mariée depuis.»
94 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 330.
95 Charcot (1886), S. 194.
96 Charcot (1886), S. 194.
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ten war seine Patientin »fast […] vollkommen geheilt […]; Kräfte, Appetit
und Körperfülle liessen nicht mehr zu wünschen übrig.«97
Diese spektakulären Heilungserfolge illustrieren auch die Abbildungen –
Fotografien und Gravuren, die den Fallgeschichten beigefügt sind. Gull bebilderte seine drei 1873 veröffentlichten Fälle jeweils mit einer Gravur im
kranken und im geheilten Zustand. Die Kranken werden abgewandt und in
sich gekehrt sowie schlicht gekleidet und frisiert porträtiert. Im geheilten
Zustand wenden sich die jungen Frauen nicht nur dem Betrachter zu, sie
sind auch mit allen Requisiten von Weiblichkeit ausgestattet und demonstrieren so ihren reibungslosen Übergang von einem Krankheitszustand
außerhalb von Zeit und Ort in die bürgerliche Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts.98
Besonders auffällig ist diese Inszenierung in der Fallgeschichte Gulls von
1888 (siehe Abb. 1 und 2, S. 174): “The case was so extreme that, had it not
been photographed and accurately engraved, some assurance would have
been necessary that the appearances were not exaggerated, or even caricatured which they were not”, heißt es im Text. Die erste Abbildung zeigt die
›Kranke‹ mit nacktem Oberkörper, ohne entwickelte Brüste und mit abgewandtem Gesicht. Die ›Geheilte‹ hingegen wird nur drei Monate später in
zeittypischer mädchenhafter Kleidung präsentiert, die die ›Weiblichkeit‹
ihres Körpers durch den Faltenwurf des Kleides unterstreicht. Zudem
scheint sie den Betrachter direkt anzuschauen (Abb. 2, S. 174). Dies legt
nahe, daß es auf den Abbildungen weniger um die Darstellung eines Therapieprozesses, als vielmehr um die eines Resozialisierungsprozesses geht.
Somit wird Therapie auch immer als Resozialisierung verstanden. Gull illustriert hier genau jenen Plot, den auch Binswanger in seiner Fallgeschichte
schildert: Aus dem »Mädchen« – bei Gull sogar mit einem vorpubertären
Körper ausgestattet – wird eine heiratsfähige Frau.
97 Charcot (1886), S. 196.
98 Gull (1874). Vgl. auch Brumberg (1994), S. 117f. George Didi-Hubermann zeigt, daß
nach medizinischen Fotos für die Veröffentlichung angefertigte Gravuren diejenigen
Elemente hervorheben, die für das Krankheitsbild zentral sind, vgl. ders. (1997), S.
48ff.
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Literatur verschlingen: über die Wirkungsmacht eines Topos
»Nicht alle Bücher lesen sich auf die gleiche Art», schreibt Walter Benjamin. »Romane zum Beispiel sind dazu da, verschlungen zu werden. Sie zu
lesen ist eine Wollust der Einverleibung. […] Mag man beim Essen, wenn
es sein muß, die Zeitung lesen. Aber niemals einen Roman. Das sind Obliegenheiten, die sich schlagen.«99 Die Vorstellung, daß Lesen wie Essen ein
Inkorporationsvorgang sei und beide in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, ist nicht nur ein zeitgenössischer Topos. ›Verschlingen‹ wird
für ›Lesen‹ in den Darstellungen der Anorexie vor 1900 nicht nur metaphorisch verwendet, sondern bekommt für die Ätiologie und Therapie eine
konstitutive Funktion. Die hungernden Patientinnen werden (und in diesem
Zusammenhang tauchen auch die wenigen Patienten auf100) als besonders
fleißige Personen geschildert, die lieber lesen als essen:
Frl. O., 22 Jahre alt; […] Nahrungsaufnahme schon in den Schuljahren mangelhaft
wegen Appetitlosigkeit, infolgedessen immer schlecht genährt. Im 16. Jahr Eintritt der
Periode […], zur gleichen Zeit starke geistige Ueberanstrengung (Vorbereitung zur Abgangsprüfung auf die höhere Töchterschule); Abkürzung des Nachtschlafs (Pat. stand
schon um 5 Uhr morgens auf, um zu lernen); völlige Appetitlosigkeit, Gefühl von
Völle und Druck im Magen bei Aufnahme von geringen Nahrungsmengen; rasche
Abmagerung, Unterbrechung des Schulunterrichts, Landaufenthalt.101
Fräulein F., die 16jährige Patientin im österreichischen Sanatorium Mariagrün bei Graz, habe, so der Arzt Anton Stichl, schon mit vier Jahren die
Zeitung gelesen. »[L]ernte Alles spielend, riesiges Gedächtniss; mit acht Jahren begann der regelmässige Unterricht. Grosses Sprachtalent«,102 notiert er.
Über George Nogues Mlle J. heißt es: »Mlle J. ist ein intelligentes Mädchen,
das immer sehr gelehrig [studieuse] war. […] Den größten Teil der Nacht
liest sie.«103 Die »Vorstellungen«, die laut Binswanger die Anorexie auslösen
können, werden ebenfalls aus Büchern ›gespeist‹. Mlle J. glaubt an die Ehe
als die »Vereinigung zweier Seelen» und wünscht sich ein »höheres Wesen«
als Ehemann.104 »Was mit der Natur oder dem Körper zusammenhängt,
99 Benjamin (1974), S. 136.
100 Vgl. z. B. folgenden Fall: «Mr M., 26 ans. […] Absorbé complètement par la préparation de son concours, il passait ses jounées à courir de conférence en bibliothèques et
retournait, toujours pressé, à son travail.» Nogues (1913), S. 163.
101 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 238. Hilde Bruchs Der goldene Käfig, das Buch,
das die Magersucht in den 1970er Jahren popularisierte, nimmt das Klischee der besonders intelligenten Anorektikerin wieder auf, vgl. dies. (1978).
102 Stichl (1892), S. 66.
103 Nogues (1913), S. 138. «Mlle J. est une jeune fille intelligente qui fut toujours très studieuse. […] Elle passe la plus grande partie de ses nuits à lire.»
104 Nogues (1913), S. 138.
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läßt sie zutiefst unbeteiligt.«105 Über eine Patientin des Sanatoriums Mariagrün heißt es, sie »studirte Bücher, wie man mager werden könnte«106.
Vor diesem Hintergrund der übermäßigen oder falschen Lektüre besteht die
Therapie folglich darin, das Lesen entweder ganz zu verbieten oder rigoros
zu kontrollieren. Während die Ernährung auf ein Maximum erhöht wird,
zur »systematische[n] Ueberernährung«107, ist die »Lectüre auf ein Minimum zu reduziren«.108 Die Restriktion betrifft Bücher und Briefe der Angehörigen gleichermaßen, wie Anton Stichl hervorhebt:
In der Correspondenz dürfen nicht Dinge erwähnt werden, welche die Kranken aufregen könnten; die Briefe sollen sich einfach mit wenigen Worten auf Thatsachen beschränken, denn nervöse Kranken [sic] lesen allerlei zwischen den Zeilen heraus, wenn eine
gewisse Knappheit mangelt. Die Lectüre ist auf ein Minimum zu reduciren, ja bei Fällen
wo cerebrasthenische Beschwerden vorhanden, gar zu untersagen.109
Der nächste Satz dieses Textes macht deutlich, was Stichl für eine angemessene Lektüre hält bzw. was an Stelle der Lektüre treten soll: »Die Abfassung
eines Speisebogens ist unbedingt nöthig«110. Hier gilt es »nöthigenfalls mit
aller Strenge darauf [zu] dringen, daß die verordnete Menge von Speisen
genossen wird«111. Während also die kranke Mlle. J. anstatt zu essen unmäßig viel liest oder Stichls Patientin die Anregungen zum Abmagern aus Büchern bezieht, wird nun die Lektüre reduziert und durch Ernährung ersetzt.
Wie Stichl beschränkt auch Binswanger die Kontrolle der zugeführten Informationen nicht nur auf das Lesen von Büchern, sie betrifft auch die Korrespondenz. Die Isolation der Nervenkranken, zu denen auch die Anorektikerinnen gezählt werden, im Sanatorium ermöglicht es dem Arzt, deren
Kommunikation mit den jeweiligen Angehörigen zu kontrollieren. Der Arzt
liest den Patientinnen und Patienten Briefe der Angehörigen vor und »vermittelt«112 deren Antwort. »Diese Art des Briefwechsels ist ein vorzügliches
Mittel, um das Vertrauen der Kranken zu gewinnen und sich einen Einblick
in ihre seelischen Zustände zu verschaffen«,113 erklärt Binswanger. Als ein
anderes Mittel seien Postkarten »statthaft«114: »Auf diese Weise bekommen
105 Nogues (1913), S. 138. «Ce qui est de la nature, du corps la laisse profondément indifférente.»
106 Nogues (1913), S. 138.
107 Mitchell (1887), S. 1.
108 Stichl (1892), S. 58.
109 Stichl (1892), S. 58.
110 Stichl (1892), S. 58.
111 Stichl (1892), S. 58.
112 Stichl (1892), S. 58.
113 Binswanger: Ernährungskuren (1896), S. 53.
114 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 393.
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die Patienten kurze, regelmäßige Nachrichten über die täglichen Ereignisse,
die Mitteilung von Gefühlsausgüssen ist hierbei auf beiden Seiten ausgeschlossen.«115 Mit Korrespondenz in Form »offene[r] Karten«116 oder dem
Vorlesen von Briefen geht also eine Reduktion sprachlicher Inhalte einher:
»[M]an ist bei dieser Art von Korrespondenz sicher, daß nicht zu viel und
nicht zu inhaltsreich geschrieben wird […]«117, betont Binswanger. Auch
hier wird deutlich, daß ein Übermaß an Sprache den Heilungserfolg, also
die Gewichtszunahme, gefährdet.
Stichls Patientinnen dürfen nur dann lesen, wenn sie zugenommen, d. h. gegessen haben: »Sobald die Kranken unter dieser Diät und bei diesem Regime zunehmen, kann man entsprechend der Zunahme Zugeständnisse, was
Unterhaltung anbelangt, gestatten, sei es Besuche zu empfangen, leichte
Lektüre, eventuell das Bett mit dem Ruhebett zu vertauschen.«118 Was
»leichte Lektüre« (im Unterschied zu der schweren, nahrhaften Nahrung)
sein soll, selbst darüber geben die Handbücher und Abhandlungen Auskunft. In seinem Lehrbuch »Die Psychoneurosen« (1911) betont der Wiesbadener Nervenarzt Otto Dornblüth, daß »psychische Eindrücke« einer
»Regelung« bedürfen, man bei der Auswahl der Lektüre vorsichtig sein
müsse und der Arzt im Falle eines »ernste[n] oder […] aufregende[n]
Buch[es] […] beruhigend, erklärend usw. einzuwirken« habe.119 Otto Binswanger schlägt vor, nervenkranke Patienten sollten »geographische und
historische Werke« »[e]xerpiren«, statt sie gedankenlos zu ›verschlingen‹.120
So sei eine »genaue Dosirung«121 möglich. Er rät zu »gute[r] Memoirenliteratur«: Für Frauen sei Friedjof Nansens Buch »In Eis und Nacht« oder die
Memoiren der Freifrau von Bunsen empfehlenswert und für Männer »bieten Bismarck's Gedanken und Erinnerungen oder seine Briefe köstliche Ausbeuten dar.«122
Für Binswanger wird Literatur so nicht nur zu einer quantifizierbaren Substanz, die man in »genaue[r] Dosirung« verabreichen kann, sie kann wie
Nahrung »köstlich« sein. Aus diesem Grund kann sie die Nahrungsaufnahme gefährden und damit krank machen. Der literarische Topos des ›Literatur Verschlingens‹ wird so nicht nur zur Illustration gewählt. Diese rhetorische Figur bekommt in den Fallgeschichten eine konkrete Bedeutung in
der Ätiologie der Krankheit und produziert spezifische Therapieformen.
115 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 393.
116 Binswanger: Ernährungskuren (1896), S. 54.
117 Binswanger: Ernährungskuren (1896), S. 54.
118 Stichl (1892), S. 63.
119 Dornblüth (1911), S. 613.
120 Binswanger (1904), S. 889.
121 Binswanger (1904), S. 889.
122 Binswanger (1904), S. 890.
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Die Kunst des Hungerns: Ein literaturwissenschaftlicher Beitrag zur
Medizingeschichte
Der französische Arzt George Nogues, der in seiner 1914 verfaßten Dissertation die Texte der Debatte des späten 19. Jahrhunderts zusammenfaßt,
begründet – in einer sprachlich etwas umständlichen Weise – die Wahl seines Themas mit der Faszination, die von den Anorektikerinnen ausgegangen sei:
Oft beeindruckt vom Anblick eines dieser ›durchscheinenden Wesen‹ in den ersten
Tagen ihrer Absonderung [isolement], bei langen alltäglichen Kämpfen assistiert habend, die der Arzt mit diesen Kranken, die so schwach, so atonisch scheinen, durchzustehen haben […] dachten wir in dem Moment, in dem wir ein Thema für die Doktorarbeit haben wählen müssen, die Anorektikerinnen zu kennen.123
Die Formulierung »dachten wir […] zu kennen« impliziert dabei, daß die
Beschäftigung mit den Anorektikerinnen diese Kenntnisse wieder in Frage
gestellt hat. Immer wieder greift er in seinem Text auf Ausdrücke wie »beeindruckend [impressionant]« zurück. Auch Jean–Martin Charcot hatte
zuvor mehrere Ausrufungszeichen benötigt, um den außergewöhnlichen
Grad der Abmagerung hervorzuheben:
[…] die Kranken sind ohne Uebertreibung nichts als lebende Skelette. Und was für ein
Leben! Eine tiefe Stumpfheit hat die anfangs vorhandene natürliche Aufregung abgelöst, Gehen und Stehen sind seit langer Zeit unmöglich geworden, die Kranken sind
an's Bett gebannt, in dem sie sich kaum zu bewegen vermögen, die Muskeln des Halses sind gelähmt, das Haupt rollt wie eine todte Masse auf dem Kissen, die Glieder sind
kalt und cyanotisch; man fragt sich erstaunt, wie bei einem solchen Verfall noch das
Leben bestehen kann!124
Es zeigt sich, daß die Abmagerung in Folge pathologischer Anorexie nicht
nur als eine Art Kunstwerk aufgefaßt wird. Vielmehr wird sie wie das damals auf Jahrmärkten populäre Schauhungern der Hungerkünstler, deren
Abmagerung ebenfalls durch Ärzte kontrolliert wird,125 selbst als eine Art
Hungerkunst zelebriert. Der anorektische Körper brauche, um etwas zu bedeuten, um ein Zeichen zu sein, den anderen als Zuschauer, argumentiert
auch Maud Ellmann in ihrem Essay »Die Hungerkünstler«. So gilt nicht
nur für den französischen Doktoranden Nogues, daß »die Auszehrung des
Körpers, die auf eine schroffe Ablehnung des Anderen hinzuweisen scheint,
gleichzeitig auch ein seltsamer Versuch [ist], diesen zu verführen.«126
123 Nogues (1913), S. 7. «Souvent impressionné par la vue d'un de ces êtres ‹diaphanes›
aux premiers jours de son isolement, ayant assisté aux longues luttes quotidiennes que
doit soutenir le médecin avec ces malade en apparence si faible, si atones; ayant pu
suivre, […] nous avions cru, au moment où nous avons dû choisir un sujet de thèse,
connaître les annorexiques.» Nogues (1913), 7.
124 Charcot (1896), S. 194.
125 Vgl. Vandereycken/van Deth/Meermann (1992), S. 117.
126 Ellman (1995), S. 35.
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Die Kunst des Hungerns
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Einsichten in die Selbstwahrnehmung von Anorektikerinnen allerdings lassen die medizinischen Texte nicht zu. In diesen Quellen ist allein die historische Sicht der Ärzte auf den kranken Körper junger Mädchen festgehalten. Diese Perspektive erschwert es auch, Verbindungen zur heutigen Magersucht herzustellen. Die Perspektive der Mediziner ist – auch wenn das
somatische Modell in einigen Texten von Ansätzen psychosomatischer
Deutungen abgelöst wird – von der Nosographie der Nervenleiden geprägt.
So schwingt im Hintergrund einiger Texte das Bild mit, daß die Nerven
ernährt werden müssen und umgekehrt vor allem jener Mangel beseitigt
werden müsse, um die Patientinnen in kürzester Zeit wiederherzustellen.
Daß die Patientinnen nicht unter Nahrungsekel leiden könnten, sondern
jene rigide Appetitkontrolle praktizierten, die heute als differentialdiagnostisches Kriterium der Magersucht angesehen wird, scheint in der Kultur des
späten 19. Jahrhunderts buchstäblich unvorstellbar. Auch der in den heutigen Auffassungen der Krankheit zentrale Aspekt der Gewichtsphobie findet
sich allenfalls als »Koketterie«.
Bei einem Aspekt allerdings scheint es eine Kontinuität in der Beschreibung
zu geben: Auch wenn die klinische Entität »Anorexia nervosa« in der Beschreibung Gulls eine geschlechtsneutrale Diagnose darstellt, ist in der Rezeption des Textes – wie auch die alternativ benutzte Bezeichnung »Anorexie hystérique« unterstreicht – diese Form der Selbstaushungerung ein Leiden junger Mädchen und Frauen. Die Vorstellungen von Weiblichkeit und
Krankheit in der Kultur des späten 19. Jahrhunderts sind für die ›Entdeckung‹ und Beschreibung der Anorexie konstitutiv.
Ebensowenig lassen sich – wie das Beispiel des Topos vom ›Literatur Verschlingen‹ ebenso zeigt wie der Begriff der ›Nervennahrung‹ – die medizinischen Vorstellungen von ihrer sprachlichen Repräsentation trennen. Die
Erklärungsversuche der Medizin für die Anorexie im späten 19. Jahrhundert geben aber nicht nur Einsichten in die zeittypischen Beschreibungstechniken der Medizin. Sie zeigen auch – und das macht sie kultur- und
literaturhistorisch so interessant – wie Fälle zunächst rätselhafter Nahrungsabstinenz zu einem historischen Zeitpunkt in einer kulturellen Praxis gedeutet wurden. Psychosomatische Krankheiten verraten auch immer etwas über
die Gesellschaft, in der sie entstanden sind.
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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Nina Diezemann
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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Das Hebammenwesen im Ungarn des 18. Jahrhunderts –
zwischen Tradition und bürokratischer Verwissenschaftlichung
Lilla Krász
Summary
Midwives in 18th Century Hungary: Between Tradition and Scientific Methodology
This study concerns midwifery in Hungary in the period 1783-1790, during the reign of
Joseph II. It is based on annual health reports forwarded to the Council of Physicians
(Ungarische Statthalterei) and “conduitlists” in table format. These narratives and lists
illustrate the controversial process of modernization in obstetrics and within the community of midwives.
Inspired by the Enlightenment, Joseph II introduced a series of obstetric reforms. By investigating specific cases, this study shows that successful implementation of these reforms
depended largely on the physicians themselves: their dedication, efficacy, and ability to
communicate with the midwives they supervised. While interpreting the conflicts triggered
by the reforms, this study also considers the economic and social conditions at large, such
as the centuries-old coexistence of several religions and nationalities that characterized
Hungary during this period.
Einleitung
Disziplinierung, Hierarchisierung, Vereinheitlichung, spezialisierte Professionalisierung, Diskriminierung, Bürokratisierung – diese Begriffe sind allen
Aufklärungsforschern vertraut. Mit ihnen kann auch der problematische
Modernisierungsprozeß auf dem Gebiet des Hebammenwesens im Ungarn
des ausgehenden 18. Jahrhunderts charakterisiert werden. Traditionelle
weibliche Selbstbestimmung auf der einen, obrigkeitliche Reglementierung
auf der anderen Seite bildeten die gegensätzlichen Pole. Beide stellen zugleich jene Antriebskräfte dar, die den Wandel des Hebammenwesens in
den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts forcierten. Diese gespannte
Situation stellte den Hintergrund dar, vor dem sich Konflikte abspielten.
Das Verhalten der beiden entgegengesetzten Pole, den Hebammen auf der
einen und der Obrigkeit auf der anderen Seite, stieß auf gegenseitiges Unbehagen und löste fast zwangsläufig faktische und persönliche Widerstände
aus. Hinzu kam die sehr spezifische Situation in Ungarn, einem Land, in
dem konfessionelle, ethnische und sprachliche Barrieren die sozialwirtschaftlichen Niveaudifferenzen verstärkten.
Im Ungarischen Landesarchiv – in der Abteilung des 1724 errichteten, der
in Wien fungierenden Kanzlei untergeordneten Statthalterei-Archivs – befindet sich der außerordentlich umfassende Bestand Departamentum Sanitatis. Dieser gewährt einen landesweiten Einblick – in Form von narrativen
Sanitätsberichten und tabellarischen Darstellungen – in das ungarische
Hebammenwesen. Die Schriften wurden bis zur Erlassung des Sprachedikts
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Lilla Krász
von Joseph II. im Jahre 1784 lateinisch verfaßt, danach obligatorisch
deutsch. Auf den ersten Blick erscheinen die in Tabellen geordneten Eintragungen als graue Datenmasse. Diese im Zeichen der – in Ungarn – neuen
Wissenschaft, der Statistik, angefertigten verschiedenen Auflistungen vermittelten der Obrigkeit in ihren Augen unentbehrliche Informationen über das
Sanitätspersonal. Anhand dieses Materials ist es möglich, die Sanitätshierarchie, die Verwaltungspraxis, den problematischen Ausbildungsprozeß
der Hebammen, den sich bildenden Konkurrenzkampf zwischen der akademischen Ärzteschaft und den als »unwissend« apostrophierten Hebammen, das Zusammenleben der alten Praktiken und der neuen Methoden
sowie die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der josephinischen Aufklärungsreformen zu rekonstruieren.
Die ersten Schritte zur Hebammenreform
Das neue Zeitalter im Hebammenwesen kann in der ungarischen Region
genau datiert werden:
1766 wurde von István Weszprémi, einem kalvinistischen Arzt und Anhänger von Gerard van Swieten, das erste ungarische Hebammenlehrbuch
»Unterricht für Hebammen« im ostungarischen Debrecen veröffentlicht.1
Das Lehrbuch war eigentlich nichts anderes als eine Übersetzung eines
Werks von Johann Heinrich Nepomuk Crantz, Professor der Wiener Medizinischen Schule der ersten Generation. Der Übersetzer bereicherte den ursprünglichen Text mit einem Anhang von neun Holzschnitten. Die naturalistischen Abbildungen zeigen die Gebärmutter und die Verlaufsvarianten
der Geburt.2 Diese Holzschnitte sollten ungebildeten, leseunkundigen Frauen die Hebammenausbildung wesentlich erleichtern.3 Dem Lehrbuch von
Weszprémi folgten bald weitere Lehrbücher und Katechismen.
1770 wurde das Sanitätsnormativ erlassen, das für das ganze Habsburgerreich eine einheitliche Regelung in Bezug auf die Prüfungsverpflichtungen
der Hebammen verfügte. Die neun Paragraphen, die das Hebammenwesen
betrafen, kriminalisierten die Anstellung nicht examinierter oder nicht un-
1
István Weszprémi (1723-1799) studierte in England, 1767 wurde er zum Komitatsarzt
der Stadt Debrecen gewählt. Unter dem Titel »Succincta medicorum Hungariae et
Transylvaniae biographie« (1774-1787) schrieb er eine Biographie ungarischer Ärzte
in vier Bänden.
2
Jantsits (1986).
3
Im Ungarn des 18. Jahrhunderts waren maximal zehn Prozent der Hebammen
schreib- und lesekundig. Es gab aber auch Hebammen, die in ihrem Testament – unter anderem – über drei Bücher verfügten. Siehe: Stadtarchiv Mosonmagyaróvár, Protocollum sessionale, V. A 1501a. 12. 22. folio.
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Das Hebammenwesen im Ungarn des 18. Jahrhunderts
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terrichteter Hebammen und diskriminierten zugleich die traditionellen Wehemütter als illegale »Kurpfuscherinnen«.4
Noch im selben Jahr wurde die von dem Jesuiten Péter Pazmány in Tyrnau
gegründete Universität durch eine medizinische Fakultät ergänzt. Die
Gründung ermöglichte eine moderne, fachgemäße Hebammenausbildung
in Form von ein bis zwei Semester dauernden Kursen. Die Universität zog
1777 in die Hauptstadt nach Buda (Ofen) um und sieben Jahre später nach
Pest. Von Anfang an wurden Wiener Professoren an den Lehrstuhl für Geburtshilfe berufen, was bedeutete, daß die Unterrichtssprache deutsch war.
Aufgrund der daraus entstehenden sprachlichen Hindernisse wurden jahrzehntelang nur sehr wenige Hebammen diplomiert(Tabelle 1).
Die Bürokratisierung des Sanitätswesens
Für die Arbeit der Statthalterei bedeuteten die 1783 und in den darauf folgenden Jahren eingeführten Reformen einschneidende Veränderungen. Die
Reformen erstreckten sich auf die Organisation, den Wirkungsbereich und
die Verwaltung der Statthalterei. Sie bezweckten, die Administration in der
Statthalterei schneller, einfacher und präziser zu gestalten. Ausdruck der
bürokratischen sowie fachlichen Spezialisierung war ein neues Departamentum für das Sanitätswesen. In diesem sogenannten »Departamentum Sanitatis«, das die Aufgaben der ehemaligen Sanitätskommission übernahm, waren hochqualifizierte Experten beschäftigt. Da die Statthalterei die Ausführung der Regelungen des Sanitätsnormativs nicht ausreichend kontrollieren
konnte, bestand die Aufgabe des Departamentum Sanitatis darin, diese
Mängel abzuschaffen.
1780, gleich nach seiner Thronbesteigung, verordnete Joseph II. die Anfertigung von Conduitlisten, die jedes Komitat jährlich einzureichen hatte.5
Damit sollte erstens jede Behörde die ihr untergeordneten staatlich bezahlten
4
Die neun Paragraphen wurden unter dem Titel »Instructio Obstetricum« in das
Sanitätsnormativ eingefügt. Sie beinhalteten: 1. Nur examinierte und vereidigte
Hebammen dürfen ihren Beruf ausüben. 2. Die geburtshilfliche Versorgung soll in
allen Gegenden mit einer angemessenen Anzahl Hebammen gewährleistet sein. Auch
wenn nicht jedes Dorf über eine eigene Hebamme verfüge, sollte wenigstens auf zwei
bis drei benachbarte Dörfer eine Hebamme kommen. 3. Die Hebammen sollen ein
ehrenhaftes Leben führen. 4. Sie sollen Geheimnisse hüten und sich ihrer Berufung
widmen, nicht abergläubisch handeln, einander unterstützen und zu komplizierten
Geburten einen Arzt rufen. Im 5. Abschnitt verpflichtete die religiöse Maria Theresia
die Hebammen, bei Neugeborenen, die in Lebensgefahr schwebten, die Nottaufe
vorzunehmen. Der 6. Abschnitt schrieb die Pflege der Kindbetterin und des
Neugeborenen vor. 7. Die Anwendung von Abortivmitteln war strikt verboten und
zog schwere Strafen nach sich. 8. Die Hebammen durften nicht heilen. 9. Sie mußten
die von den Behörden vorgeschriebenen Untersuchungen parteilos in die Wege leiten.
Siehe: Linzbauer (1852-1861), S. 833.
5
Ungarisches Landesarchiv (im weiteren ULA) A 39 [Archiv der Ungarischen Kanzlei,
Acta Generalia im weiteren A 39] Nr. 6549/1780.
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Angestellten kennenlernen, um im Falle einer neu zu besetzenden Stelle die
»wahrhaftigen Verdienste und Tauglichkeit in Betracht ziehen zu können
[…]«, und zweitens die Arbeit der Angestellten unter Kontrolle gebracht
werden. Auf dem Gebiet des Gesundheitswesens änderte sich allerdings bis
zur Umgestaltung der Statthalterei 1783 praktisch nichts. 1783 erschienen
dann zwar die ersten Sanitätsberichte, die von Komitatsärzten angefertigt
wurden, aber von korrekt ausgefüllten Conduitlisten konnte – außer in einigen oberungarischen Komitaten – nicht die Rede sein.
Das Quellenmaterial über die Hebammen ist für die Periode 1783-1786
ertragreich. Neben den Berichten der Ärzte gibt es aus den meisten Komitaten einfache Hebammenlisten (Tabelle 2) mit der Angabe von Name, Dienstort, manchmal auch Religionszugehörigkeit, Alter, wer sie vereidigte und
welche Geldsumme sie nach erfolgter Geburt erhielt. Diese Listen ergänzen
die Klassifikationslisten (Tabelle 3). Hebammen mit Universitätsprüfung gehörten zur 1. Klasse, jene, die bei einem Arzt eine Prüfung ablegten, zur 2.
und die meisten, die bestenfalls vom Ortspfarrer vereidigt wurden, zur 3.
Klasse. Aus den Hebammenlisten und Klassifikationstabellen können auch
die ungebildeten Dorfhebammen leicht ersehen werden. Als Beilage zu diesen Listen schickten die Komitate auch Kopien von Diplomen oder Attesten der geprüften Hebammen mit. Das wurde bis zum Jahre 1785 so gehandhabt.
Am 31. Oktober 1785 ordnete Joseph II. erneut an, daß jede Behörde die
jährlichen Conduitlisten anzufertigen habe.6 Dies geschah gleich nach der
Errichtung des sogenannten Distriktualsystems, wobei 54 Komitate (auf
dem Gebiet von Ungarn, Slowakei und Kroatien) zehn administrativen Distrikten zugeordnet wurden. Die Leitung der einzelnen Distrikte übernahmen
vom König ernannte Kommissare, die sogenannten »Obergespanen«. Das
bedeutete, daß die bisher gewählte Selbstverwaltung der Komitate, der königlichen Freistädte und der zwei privilegierten Distrikte entmachtet wurde.
Den Kommissaren unterstanden die von ihnen ernannten Vizegespanen,
denen wiederum die Oberstuhlrichter und die Geschworenen, wobei der
neue bürokratische Apparat bis zu den Dorfrichtern vordrang.7
Den 1. Februar 1786 als Abgabetermin der einzureichenden Conduitlisten
konnten nur wenige Komitate einhalten. Kein Wunder, erregte doch in den
rein ungarischen Komitaten die Erlassung des deutschen Sprachedikts Widerstand: Entweder konnte man ohnehin nicht deutsch oder die Amtssprache wurde aus Patriotismus verweigert.
Bis ein Bericht mit beigelegter Tabelle bei der Statthalterei eintraf, mußte er
einen langen Weg zurücklegen. Dem Oberstuhlrichter oder den Geschworenen wurden die Tabellen von Seiten der Komitatsärzte übergeben. Der
6
ULA A 39 Nr. 13759/1785.
7
Eigentlich verwalteten der Vizegespan, der Oberstuhlrichter und die Geschworenen
als ungarische Standesinstitutionen das neugeordnete Gebiet der einzelnen Komitate.
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Komitatsarzt sammelte die nötigen Daten von den ihm untergeordneten
Ärzten oder Chirurgen ein. Es kam auch vor, daß die Arbeit der Datensammlung durch den Ortsrichter, den örtlichen Pfarrer oder sogar durch
die schreibkundige diplomierte Hebamme erfolgte. Die Zusammenführung
der Daten war die Aufgabe des Komitatsarztes. Da aber manchmal mehrere
Monate zwischen dem Eintreffen von Teildaten der einzelnen Kreise
vergingen, wurden oft nur halb ausgefüllte, mangelhafte Tabellen dem
Oberstuhlrichter zugeschickt. Dies überrascht nicht, wenn man bedenkt,
daß einige Chirurgen oder Hebammen neben ihren sonstigen Aufgaben oft
einen Kreis von 50 bis 60 km zu Fuß bereisen mußten, um an die nötigen
Informationen zu kommen. Die Absicht war wohlgemeint, aber die Ausführung – z. B. in einem dicht bewohnten Komitat – erschien beinahe unmöglich. Mehrere Komitate versuchten deshalb, die Aufgabe zu vereinfachen, indem sie im ersten Jahr 1785 mehr oder weniger wirklichkeitsgetreue
Daten in die Tabellen einfügten und diese in den folgenden Jahren nur
noch variierten. In Form gedruckter Rundschreiben, sogenannten »Circularia impressa«, wurden Instruktionen für die Anfertigungsmethode der Tabellen ausgegeben, die den Ärzten als Richtschnur dienen sollten. Die Hebammen und Chirurgen erhielten dagegen von 1786 an einen speziellen amtlichen Unterricht, der ihnen die Ausführung der Aufgabe erleichtern sollte.
Der Weg der Tabellen führte vom Oberstuhlrichter weiter zum Vizegespan
und dann zum Obergespan alias Kommissar, der die Bögen meistens in
unveränderter Form dem Departamentum Sanitatis zuschickte. Die Aufgabe des Departamentums war es dann, anhand der Berichte und Tabelle
Schlüsse zu ziehen und Vorschläge zur Verbesserung auszuarbeiten. In der
Praxis jedoch beschränkte sich die Tätigkeit auf eine kurze Zusammenfassung der Berichte. Die Arbeit der Ärzte, Chirurgen und Hebammen wurde
also nicht richtig ausgewertet. Darauf weisen die an die Statthalterei adressierten Klagebriefe der Komitate hin. Diese jedoch bewirkten keinerlei Veränderung. Allerdings hatte die Statthalterei dazu auch keine praktischen
Befugnisse. In problematischen Fällen konnte sie höchstens die Akten der
Medizinischen Fakultät der Pester Universität zur weiteren Untersuchung
zuschicken.
Die Angaben in den Conduitlisten
Der erste Teil der Conduitlisten enthält individuelle Daten: Name der Hebamme, Dienstort, Geburtsort, Religion, Alter, Familienstand, wo sie gelernt
und von wem sie geprüft wurde, ob sie über ein Attest oder Diplom verfügte, Beginn der Dienstzeit im Ort als Hebamme, von wem sie angestellt war,
wo und zu welchen Bedingungen sie früher tätig war, über welche Sprachkenntnisse sie verfügte und ihr Salarium (Tabelle 4). Die Angabe des Geburtsortes läßt Schlußfolgerungen über die Mobilität einer Hebamme zu.
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Die Rubriken wo sie gelernt und von wem geprüft wurde und ob sie über ein Attest
oder Diplom verfügte weisen darauf hin, wie sich die Hebammen ihr Wissen
angeeignet hatten. Ein Diplom erhielten diejenigen Frauen, die einen ein bis
zwei Semester dauernden, öffentlichen Hebammenkurs absolviert und anschließend vor einer Kommission an der Universität über ihr theoretisches
und praktisches Wissen Rechenschaft abgelegt hatten. Lediglich ein Attest
wurde jenen Frauen ausgehändigt, die einige Monate bei einer diplomierten
Hebamme, einem Arzt oder Chirurgen gelernt hatten, was die Tabelle ebenfalls detailliert auswies, und dann von einer Kommission geprüft wurden.
Die Kommission bestand in der Regel aus dem Arzt, dem Chirurgen und
dem Oberstuhlrichter oder den Geschworenen. Die ausgehändigten Zeugnisse und Atteste der Komitats- bzw. Stadtärzte hatten formale Bedeutung –
eine neue Maßnahme zur Disziplinierung, Vereinheitlichung und Etablierung ärztlicher und wundärztlicher Autorität sowie zur Demonstration obrigkeitlicher Kontrolle und Bürokratisierung. Diese erste Phase der Professionalisierung trug zur Ausbildung eines neuen Berufsethos der »wahren«
Hebamme bei. Die Hebammen erlernten so vor allem den Umgang mit
Behörden und Institutionen. Die ausgehändigten Zeugnisse und Atteste wiesen nicht mehr praktische Fertigkeiten aus, sondern bestätigten nur die
Wiedergabe eines abstrakt erlernten Wissens. Die Verschulung des Hebammenberufs schuf eine neue Orientierung: Sie machte die Hebammen zu
einem aktiven oder passiven Teil obrigkeitlicher Kontrollmechanismen.
Die Rubriken Alter und Familienstand ermöglichen, den »Prototyp« der ausgebildeten Hebamme zu rekonstruieren: Im allgemeinen war die diplomierte Hebamme eine verheiratete, verhältnismäßig junge, also 20- bis 40jährige
Frau. Unter den attestierten Hebammen dominierten die etwas älteren, um
die 40 bis 60 Jahre alten, verwitweten Frauen.
Die Rubriken Salarium und von wem sie angestellt war zeigen, welche Hebammen von der Stadt oder der Pfarrei zu einem festgelegten Gehalt angestellt waren und welche für ihre gelegentlich geleistete Geburtshilfe ein besonders geringes Honorar bzw. eine Besoldung in natura erhielten. Gerade
die letzteren waren ihrer Armut wegen eher für Bestechungen und Parteilichkeiten anfällig.8
8
Die Hebammen – zumal die einfachsten, den überlieferten »abergläubischen« bzw.
volksmedizinischen Traditionen gemäß tätigen Dorffrauen – können nicht als Vertreter eines »alltäglichen Berufes« betrachtet werden. Ihre Arbeit umfaßte ein weites
Spektrum von Aufgaben. Außer dem aktiven Beistand bei der Entbindung hatte eine
Hebamme kirchliche (Nottaufe der schwächlichen Neugeborenen, Anmeldung der
Neugeborenen beim örtlichen Pfarrer), gemeinschaftliche (Betreuung der Wöchnerin und
des Neugeborenen, Vorbereitung der Tauffeier und der Mutter für das Initiationsfest)
und amtliche (Gutachterin bei Gericht in den Prozessen gegen Kindsmörderinnen) Aufgaben. Sie war allerdings ebenfalls diejenige, die heimlich Abtreibungen vornahm. Vgl.
Kapros (1990), S. 9-31; Bächtold-Stäubli (Hg.) (1987), S. 1587-1603.
Die Hebamme, die etwas mehr als die Durchschnittsbevölkerung über die Entstehung
des Lebens wußte, geriet häufig – besonders auf dem Lande – in den Verdacht von
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Ein von der Statthalterei 1786 ausgestellter Nachweis verdeutlicht in einer
landesweiten Übersicht, wie gering die Zahl der geprüften, mit festem Gehalt ausgestatteten und staatlich angestellten Hebammen war (Tabelle 5).
Zur Beurteilung ihres Verdienstes soll hier ein Vergleich mit dem Einkommen von Chirurgen und Ärzten genügen: Hebammen erhielten 13-170
fl./Jahr [fl.=Florenos, Forint] und meistens eine Dienstwohnung, etwas Holz
und/oder Getreide dazu. Geprüfte Chirurgen im staatlichen Dienst verdienten dagegen 50-500 fl./Jahr und die Komitatsärzte sogar 150-800 fl./Jahr.9
Die Rubriken Beginn der Dienstzeit im Ort als Hebamme und wo und zu welchen
Bedingungen sie früher tätig war beschrieben die Amtsvergangenheit der Hebamme, d. h. wo sie ihre Erfahrungen gesammelt und welche Positionen sie
bekleidet hatte. Diese Angaben waren vor allem für die Verwaltung wichtig,
und zwar dann, wenn eine Hebamme versetzt wurde oder starb und ihre
Stelle neu besetzt werden mußte. Diese Rubriken erteilen damit über die
»Karrieremöglichkeiten« des Hebammenberufes Auskunft.
Die Sprachkenntnisse waren für die Berufsausübung von Bedeutung. Es wurde verlangt, daß jede staatliche Angestellte die Sprache der Einwohner des
jeweiligen Dienstortes beherrschte. Dabei muß angefügt werden, daß die
Zahl der Hebammen mit deutscher Muttersprache sehr hoch war. Ein großer Teil dieser Hebammen hatte die Ausbildung in Wien absolviert. Da die
Unterrichtssprache der Medizinischen Fakultät der Pester Universität ebenfalls deutsch war, schlossen auch hier Frauen schwäbischer, sächsischer
oder österreichischer Herkunft die Hebammenschule ab. Nach der abgelegten Prüfung standen die meisten vor einer schwierigen Aufgabe: Als ortsfremde Hebammen mußten sie sich erst die Anerkennung der Gemeinde
erkämpfen.
Im zweiten Teil der Conduitliste wurden die individuellen Eigenschaften aufgeführt. Hier finden sich Bewertungen wie: geschickt, emsig, nüchtern, sehr
fleißig, durchschnittlich, schwach, ehrlich, bescheiden, geldsüchtig, frech,
neidisch, eifersüchtig auf andere Hebammen, unmoralisch, Klatsch verbreitend, gereizt, ungeduldig mit den gebärenden Frauen, alkoholsüchtig, neigt
zu Übergriffen. Wenn man die Eintragungen im Zeitraum 1786-1790 zusammenfügt, schälen sich wahre Porträts von einzelnen Hebammen heraus.
In manchen Fällen kam es bei den vermerkten Charakterzügen derselben
Hebamme mit der Zeit zu wesentlichen Abweichungen, etwa wenn ihr eine
Hexerei. Die Hebammen gehörten zu den Frauen, die durch ihren Arbeitsbereich widersprüchliche Gefühle auslösten. Ihre gesellschaftliche Stellung war dementsprechend
von Ambivalenzen geprägt. Die Hebammen waren angesehen und geschätzt, gleichzeitig aber gefürchtet. Über die ambivalente soziale Beurteilung der Hebammen und
über die Hebammenhexen siehe: Dömötör (1973); Pócs (1995); Labouvie (1991), S.
179. Diese Ambivalenz wird ebenfalls im Zusammenhang mit der Tradierung von
empfängnisverhütendem Wissen gesehen, siehe hierzu: Jütte (1989).
9
1788 kostete ein Metzen Getreide 6-8 fl. ULA C 44 [Departamentum Comitatense] Nr.
45. Position (im weiteren pos.).
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andere Position zugeteilt wurde, beispielsweise eine Stadthebamme zur Komitatshebamme aufstieg, oder wenn eine Hebamme ohne regelmäßige Einkünfte zu einer Anstellung mit fester Bezahlung kam oder wenn eine Hebamme in eine andere Ortschaft oder sogar in ein anderes Komitat versetzt
wurde. Aus den Conduitlisten läßt sich einerseits ablesen, zu welchen
Spannungen es zwischen besonders nachteilig charakterisierten Hebammen
und den ihnen anvertrauten Gebärenden kommen konnte. Es gibt viele
Hinweise auf finanziellen Mißbrauch, Korruption oder Ungerechtigkeiten,
die aus familiärer, in vielen Fällen ethnischer oder religiöser Voreingenommenheit entsprangen. Andererseits spiegeln diese Conduitlisten plastisch wider, welche Wertvorstellungen zu jener Zeit vorherrschten, welche
Eigenschaften die Vorgesetzten als Fehler der Hebammen beklagten oder
welche Charakterzüge als völlig inakzeptabel angesehen wurden.10
Konflikte zwischen Obrigkeit und Gemeinden anhand einzelner Fallstudien
Vieles, was die Conduitlisten nur erahnen lassen, findet sich in den ärztlichen Beschreibungen dezidiert wieder. Das Niveau und die detaillierte Ausführlichkeit der Berichte hing vom Gewissen und fachlichen Engagement
des Arztes ab, und dementsprechend fielen die Berichte aus den einzelnen
Komitaten bzw. Distrikten sehr verschieden aus. Dennoch können sie darüber Auskunft erteilen, ob die josephinischen Reformen als Folge theoretischer Prinzipien oder aufgrund der wirklichen Lage eingeführt wurden.
Anhand der Analyse mehrerer hundert Berichte läßt sich feststellen, daß die
Komitate mit der Ausführung der Ausbildung und Examinierung der
Dorfhebammen am wenigsten zurechtkamen. Es schien unmöglich, diese
Frauen, die die Geburtshilfe aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung ausübten, plötzlich zum Unterricht und zur Ablegung einer Prüfung zu zwingen.
Indessen fanden die einzelnen Dorfgemeinden Mittel und Wege, wie sie die
obrigkeitlichen Regelungen umgehen oder rationalisieren konnten, und
zwangsläufig entwickelten sich verschiedene Verweigerungsstrategien. In
diesem Kampf war die Dorfelite – der Ortsrichter, der Pfarrer, der Notar
und sogar die Obrigkeit des Komitats: der Arzt, der Chirurg und der Oberstuhlrichter – ihr Partner, der mit ihnen kooperierte. In den Konflikten kamen die Schwachstellen des Systems zum Vorschein: wohlgemeinte, rationale, aber nicht durchdachte obrigkeitliche Maßnahmen, die zugleich versuchten, in die Privatsphäre einzugreifen.
10 Dieser Teil über die Conduitlisten wurde nach den 1783/84-1790 von den Komitatsärzten an die Statthalterei eingereichten jährlichen Sanitätsberichten angefertigt. Siehe:
ULA C 66 [Archiv der Ungarischen Statthalterei, Departamentum Sanitatis im weiteren C 66] Nr. 22 pos. 1-451/1783-84, C 66 Nr. 1. pos. 1-309/1785, C 66 Nr. 56. pos.
1-392/1785-86, C 66 Nr. 1. pos. 1-759/1787, C 66 Nr. 1-10/1788, C 66 Nr. 1. pos. 1144/1789, C 66 Nr. 2. pos. 1-83/1790.
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Das Hebammenwesen im Ungarn des 18. Jahrhunderts
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Welche Konflikte hierbei entstanden und wie schwierig es war, die von der
Regierung für »unwissend« gehaltenen Hebammen in die institutionalisierte
Ausbildung einzugliedern, zeigt das Beispiel der Stadt Iglo im Zipser Komitat. Iglo gehörte zu den 16 privilegierten Städten im Zipser Komitat. Diese
von König Sigismund 1412 an Polen übergebenen Städte wurden 1772 in
Ungarn reinkorporiert. Ein 1778 von Maria Theresia erlassenes Privileg
regelte das Verwaltungssystem der Städte und ordnete die 16 Zipser Städte
einem gemeinsamen Distrikt zu. Dies bedeutete, daß sie gleich den königlichen Freistädten unmittelbar dem Herrscher unterstanden. Da aber der Hof
den 16 reinkorporierten Städten mißtraute, wurde ein Kameral-Administrator mit der Aufsicht über die örtliche Ausführung der obrigkeitlichen Regelungen beauftragt. Vielfältig war die gesellschaftliche, sprachliche, religiöse
Zusammensetzung dieser Städte: ungarische Gutsherren, sächsisches Bürgertum, slowakische Bauernschaft katholischer oder lutherischer Religion.
Probleme, die in einem einheitlichen Verwaltungsbereich sonst nur mittelbar präsent waren, provozierten hier offene Konflikte. Iglo galt 1786 durch
seine Verwaltungszugehörigkeit als ein Ort, der Probleme aufwarf.
Die Hauptfigur des Fallbeispiels von Iglo war die Stadthebamme Elisabetha
Niklaus, genannt die Niklausin, die vorher in Preßburg gedient hatte. Sie
kam 1784 nach Iglo, als eine Hebammenstelle frei wurde. Sie verdiente als
Angestellte der Stadt ein festes Gehalt von 80 fl./Jahr, dazu kam noch Reisegeld in Höhe von 40 fl./Jahr. Weitere Protagonisten waren der Großwardiner Kameral-Administrator Anton Klobusiczky, der Zipser Komitatsarzt
Jacob Engel und der Ortsrichter Szentmiklosy.
Der Konflikt nahm seinen Anfang mit einem an Klobusiczky adressierten,
leidenschaftlichen Brief von Elisabetha Niklaus. Darin berichtete sie dem
Kameral-Administrator, daß die Stadt die obrigkeitlichen Regelungen verweigere und der Prüfungsverpflichtung der Hebammen nicht nachkomme.
In Iglo könnten fünf ungeprüfte, ignorante Frauen den Hebammenberuf frei
und ungehindert ausüben. Die Niklausin war der Meinung, daß sich die
Bürger der Stadt gegen sie verschworen hatten: Die meisten Bürger verboten ihren Frauen, sie bei Geburten um Beistand anzugehen, und zogen statt
dessen weiter die ungeprüften Hebammen bei. Klobusiczky schickte den
Brief sofort der Statthalterei zu, versehen mit Anmerkungen, in denen er
den Ortsrichter Szentmiklosy beschuldigte: Dieser sei verantwortlich dafür,
daß die Stadt – entgegen den königlichen Vorschriften – weiterhin den fünf
ungeprüften Hebammen erlaube, den Hebammenberuf auszuüben. Daraufhin beauftragte die Statthalterei den Komitatsarzt Jacob Engel mit der näheren Untersuchung des Konflikts. Der Arzt reiste sogleich nach Iglo, und nur
wenige Wochen später lieferte er dem Komitat einen detaillierten Bericht
ab. Aus diesem Bericht werden die Gründe ersichtlich, warum die Bürger
der Niklausin ein so großes Mißtrauen entgegenbrachten:
Sie sei geldgierig und kümmere sich nur um die Reichen. Die Armen behandle sie nicht fachgerecht.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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188
Lilla Krász
Sie trete gegenüber den fünf ungeprüften Frauen arrogant auf. Sie nehme sie
nur als Helferinnen bei Geburten in Anspruch, erwarte aber von ihnen, daß
diese für sie eine bestimmte Taxe von den Klienten verlangen. Falls die ungeprüften Hebammen dies verweigerten, seien sie von der Niklausin auf
grobe Weise vertrieben worden.
Elisabetha Niklaus sei während eines ganzen Monats abwesend gewesen
und habe die gebärenden Frauen ihrem Schicksal überlassen.
Engel stellte fest, daß die bisherige Arbeit der fünf Hebammen mit keinerlei
Problemen verbunden gewesen sei. Er forderte die Niklausin auf, sich in
Zukunft gewissenhafter ihrer Arbeit zu widmen, um das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen. Mit dem Einverständnis des Arztes schickte die Obrigkeit des Komitats einen Bericht an die Statthalterei, worin sie sich von
Klobusiczky abgrenzte, der »sich mit den unruhigen Mutmaßungen der unruhigen
Menschen« identifiziere und so mit seiner Arbeit dem Komitat nur Schaden
zufüge.
Schließlich fand Engel eine Lösung des Konflikts: Er empfahl, die fünf
Frauen fachlich zu unterweisen, damit sie anschließend von einer Kommission geprüft werden könnten. Engel bot an, die Ausbildung der Frauen in
den Monaten Juli und August, einer Periode, in der die Krankheiten am
wenigsten grassierten, selbst zu übernehmen. Als Ort der öffentlichen Vorlesungen nannte er Leutschau, wohin außer den fünf Frauen aus Iglo jede
Stadt des Zipser Komitats zwei bis drei »kluge« Frauen schicken müsse,
damit diese anschließend die anderen ortsansässigen Frauen unterrichten
könnten. Den Anzeichen nach kam es zu einer friedlichen Lösung des Konflikts. Die letzte Schrift des Arztes berichtet zumindest davon, daß von den
fünf ungeprüften Igloer Hebammen letztlich nach Abschluß des Unterrichtes zwei die Prüfung mit Erfolg ablegten und nun als Helferinnen neben
Elisabetha Niklaus öffentlichen Dienst leisteten. Indem diese Frauen durch
die Bürokratisierung des Gewohnheitsrechtes mit einem Attest versehen
wurden, konnte eine Jahrhunderte lang ausgeübte Praxis der »weisen Frauen« legalisiert werden.11
Für das gleiche Problem fand das Salader Komitat eine ähnliche Lösung. In
einem Kreis des Komitats gab es zwölf ungeprüfte »weise Frauen«, von denen nur drei überzeugt werden konnten, zum Erlernen der Geburtshilfe ins
benachbarte Komitat nach Warasdin zu fahren. Der Kommissar argumentierte, die Erwartungen des Komitats seien damit erfüllt, da diese drei Frauen nach erfolgtem Unterricht und abgelegter Prüfung anderen Ortseinwohnerinnen das nötige theoretische Wissen beibringen könnten.12
Der Sanitätsbericht des Saboltscher Komitatsarztes Georg Janossy aus dem
Jahre 1786 beschreibt die Schwierigkeiten des Komitatschirurgen, der von
11 ULA C 66 Nr. 53. pos. 1-17/1785-86.
12 ULA C 66 Nr. 17. pos. 1-7/1785-86.
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Das Hebammenwesen im Ungarn des 18. Jahrhunderts
189
Janossy den Auftrag erhalten hatte, alle Hebammen auf Bathorys Gut aufzulisten. In ihrer Angst vor der geforderten Prüfung verleugneten die Frauen ihre geburtshilfliche Tätigkeit. Der Chirurg mußte sich schließlich an
den Ortsrichter wenden, um ihre Namen zu erfahren. Daraufhin traten die
Frauen kollektiv auf, um ihr Anliegen vorzubringen: »Wir sind bereit, die
gebährenden Frauen lieber ohne Hilfe zu lassen, aber wir wollen keine Prüfung machen.« Sie erreichten ihr Ziel: Der Chirurg mußte ihnen versprechen, daß sie auch in Zukunft ihre Tätigkeit ohne Prüfung weiter ausüben
könnten.13
Aus den an die Statthalterei adressierten Klagebriefen der Jaszapather und
Jaszladanyer Ortsrichter aus dem Jahre 1784 geht hervor, welche Begründungen die Frauen dieser Ortschaften, die in der Geburtshilfe tätig waren,
vorbrachten, um nicht nach Ofen fahren und sich dort an der Universität
prüfen lassen zu müssen. Sie nahmen auf ihr hohes Lebensalter, ihre physische Schwäche, Krankheiten oder ihre Armut Bezug. Wie die Saboltscher
Frauen waren auch sie eher bereit, auf ihren Beruf zu verzichten, als die
Prüfung abzulegen. Der Ortsrichter schien dabei auf ihrer Seite zu stehen,
formulierte er den Brief doch selbst. Übrigens läßt sich zeigen, daß Ärzte
und Chirurgen – die »wahren Kenner der Situation« – mit den prüfungsunwilligen Hebammen verschiedentlich kooperierten.14
Das neue Konzept der Berufshebamme
Der Bericht des Zipser Komitatsarztes Jacob Engel aus dem Jahr 1789 liefert ein anschauliches Beispiel, wie Regierung und Mediziner mit der Reglementierung der von Frauen ausgeübten Geburtshilfe eine klare Hierarchisierung des Hebammenstandes einführten. Im neuen Konzept der Berufshebamme wurden als erster Schritt die traditionellen Bauernhebammen
explizit auf die unterste Stufe der Medizinalpersonen gestellt. Engel berichtet, daß er im Zipser Komitat 21 Frauen in slowakischer und 54 in deutscher Sprache unterrichtete und prüfte. Von den insgesamt 75 Frauen seien
einige
eminenter 1ter Classe […] andere etwas langsamerer Einsicht 2ter Classe […] und die
von Natur aus stumpfere Mutter 3ter Classe […].15
Aus dem Bericht des Thurocz-Sohler Komitatsarzt Samuel Lissovényi aus
dem Jahr 1788 wird deutlich, daß die diplomierten Berufshebammen als
neuer Typ Frau – einer Art Vorläuferfigur der Akademikerin – im Professionalisierungsprozeß als gleichrangige Partner betrachtet wurden. Dieser
Bericht belegt zudem eine Arbeitsteilung zwischen männlichen und weiblichen Geburtshelfern. Die diplomierten und staatlich besoldeten Hebammen
13 ULA C 66 Nr. 56. pos. 216/1785-86.
14 ULA C 66 Nr. 22. pos. 386/1783-84.
15 ULA C 66 Nr. 125. pos. 1-2/1789.
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190
Lilla Krász
sollten den »unwissenden« Lokalwehemüttern die praktischen Techniken
der Geburtshilfe beibringen, während die Chirurgen sich mit der Theorie
befaßten:
auch diese Weibspersonen größeren Zutrauens zu eigenen Geschlecht wegen […] bey
Gelegenheit der würklichen Hülfsleistungen praktische Anweisungen erhalten, […] den
bloß theoretischen Unterricht der Chirurgen besser begreiffen könnten […] 16
Der Bericht des besonders engagierten Komitatsarztes Péter Madách aus
dem Jahr 1789 malt ein plastisches Bild der schwierigen Lage, in der sich
die oft verachteten Dorfhebammen befanden. Madách trat für die soziale
und wirtschaftliche Aufwertung des Hebammenstandes ein, wobei er die
beabsichtigte Verbesserung des Hebammendienstes mit der staatlichen Privilegierung verband. Es seien
nicht alle Hebammen bei dem von mir vorgenommenen Unterricht gegenwärtig gewesen, besonders solche, welche entweder durch eigene Krankheit, oder durch schwere Geburthen ihrer Kindsbetterinnen, oder durch nothwendig vorgenommene Reise
oder durch Armuth verhindert worden sind. Zu beklagen ist es, daß einige Dörfer
nicht einmahl eine für sich nöthige Hebamme bekommen können, besonders die kleineren, wo wenig Geburthen vorkommen. Sie haben hier zu Lande gar keine Vortheile
sonsten, als nur die sie von den Geburthen ziehen, und dieß bestehet in nichts anders,
als 4-8 Groschen. Für dieses wenige Geld aber müßen sie gemeiniglich auch zwo Wochen lang die Mutter und ihr Kind besorgen: täglich zweymahl ins Hauß kommen,
das Kind baden und einwickeln, des Kindes und der Mutter beschmuzte Wäsche reinigen und waschen, und sonsten niederträchtigsten Dienste verrichten. Hierzu kommt
noch, daß sie von den Bauern gemeiniglich für unehrlich gehalten werden, da man sie
weder mit zu trinken, noch mitzueßen würdiget. Sie müßen die allgemeinen Lästen
und auch Roboten des Dorfes eben so wie einjede andere tragen. Sie müßen Miethe
und Zinsen für ihre Wohnung zahlen, weil gemeiniglich arme Fremdlinge und Witwen dabey sind, die sich keine Häußer anschaffen können. Die höchstarmen Kindbetterinnen müßen sie, wie billig, umsonst besorgen. Unter solchen beklagenswürdigen
Umständen befindet sich dieser unentbehrliche und nützliche medizinische Theil! Eine
jede Weibspersonen die nur gesunde Glieder und gesunden Vorstand hat, hütet sich
hier zu Lande davor: weil sie sich ihrer Freyheit nicht berauben wollen, auch außerm
Dorfe ihr Brod zur Heu und Getreide zu suchen: weil sich manche in einem Tage mit
ihrer Heidearbeit mehr verdienen kann, als die Hebamme ganze Wochen lang, und
darf doch dabey keine Herzensangst bey schweren Geburth, keine Verachtung ausstehen. Es bleiben keine andere, als die da gar keine Kräfte des Leibes und des Geistes
mehr haben, um sich was mehres verdienen zu können, als sich eine Hebamme verdient. Das sind die ältesten Mütterchen, wie wir sie nun haben, darunter kaum die
Hälfte lesen, viel weniger schreiben können. Wie wird man aber solche alte, ungeübte
Weiber zu dieser für sie gehörigen Känntniß bringen?
Madách beendet seinen Bericht mit der Schlußfolgerung:
Es ist also hochnöthig sie aufzuhelfen und ihnen mehrere Vortheile und Privilegien zu
verschaffen, damit wir endlich aus dieser Barbarey heraus kommen, und uns im Stande befinden zu können, jüngere, vernünftigere und dauerhaftere Personen zu diesem
unentbehrlichem Amte für Städte und Dörfer zu wählen.17
16 ULA C 66 Nr. 6. pos. 106/1788.
17 ULA C 66 Nr. 74. pos. 1-3/1789.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
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Das Hebammenwesen im Ungarn des 18. Jahrhunderts
191
Fazit
Es ist kein Zufall, daß die Mehrheit der rekonstruierten Einzelfälle aus den
oberungarischen Komitaten stammt. Sie eignen sich besonders gut als Modell, um die Entwicklung des ungarischen Hebammenwesens im Zeitalter
der Aufklärung aufzuzeigen: In dieser – aus demographischer Hinsicht –
am meisten urbanisierten Region des Landes bildete sich im Laufe des 18.
Jahrhunderts ein anspruchsvolles Medizinalwesen heraus mit aufgeklärten,
an ausländischen Universitäten ausgebildeten, meist ungarischen Ärzten.
Die Gesellschaft lehnte die Reformen von oben nicht explizit ab, sondern
versuchte, bewährtes Erfahrungsgut mit fachlichem Wissen zu vereinigen.
Ob diese Synthese erfolgreich vonstatten ging oder nicht, hing von den
Stadt- bzw. Komitatsärzten ab, die dabei eine zentrale Rolle spielten. Sie
waren die Vermittler, die der Obrigkeit Kenntnisse über die damals wirkenden Hebammen zuspielten. Insofern lag die Lebensfähigkeit des neuen
Systems, die unmittelbare Kontrolle und die Unterstützung der obrigkeitlichen Maßnahmen, in ihrer Hand. Die Kooperation zwischen Ärzten und
Hebammen bildete den Schlüssel zur erfolgreichen Verwirklichung der aufgeklärten Reformen.
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Lilla Krász
Tabelle 1: 1770-1786 an der Tyrnauer (von 1777 Budaer und von 1784 Pester) Universität diplomierte Hebammen18
Jahr
Anzahl der diplomierten Hebammen
1770
1771
1772
1773
1774
1775
1776
1777
1778
1779
1780
1781
1782
1783
1784
1785
1786
0
1
2
3
0
3
9
5
11
10
11
10
8
12
13
22
29
18 ULA C 66 Nr. 6. pos. 140/1787.
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193
Das Hebammenwesen im Ungarn des 18. Jahrhunderts
Tabelle 2: Hebammenliste (Konskriptio) – Neutraer Komitat/178319
Nomina Locorum
Nomina & Cognomina
obstetricum
Religio
Aetas
Annorum
Per quem
approbata
Ersek Ujvár
Ibidem
Ibidem
Ibidem
Taroskedgy
Ibidem
Sook
Ibidem
Megyer
Ibidem
Negyed
Ibidem
Farkasd
Andod
Komjath
Ibidem
Surány
Bankeszy
Varad
Nagyszegh
Csornok
Andács
Elecske
Alsó Récsény
Kelecsény
Saagh
Udvarnok
Bajmocska
Salgocska
Nemeskürth
Pusztakürth
Romanfalva
Posztka
Gerencsir
Csitar
Ghimes
Kolon
Kiss Hind
Nagy Hind
Nagy Czétény
Csalad
Babindal
Geszthe
Kalaz
Dicske
Vajk
Martonyfalva
Szt. Mihály Úr
Gyarak
Kiss Manya
Födimes
Eördeghe
Also Szöllös
Felsö Szöllös
Pann
Julianna Nyerges
Susanna pilez
Maria Taruz
Elisabetha E zt vér
Anna Tóth
Elisabetha Takács
Maria Fekete
Maria Mihlik
Maria Provodierky
Catharina Kormtesky
Catharina Molnár
Theresia Totth
Catharina Siposs
Anna Mészáros
Catharina Pcsenas
Anna Hlavaty
Anna Narosdgyan
Maria Smetana
Catharina Bezuba
Catharina Halaz
Eva Csaky
Catharina Pagacska
Maria Hugyik
Anna Hranka
Eva Hrcsár
Anna Regik
Catharina Kacserka
Maria Sagocsky
Anna Hruskova
Anna Borik
Catharina Gnoska
Eva Kucha
Maria Brnka
Maria Bernath
Dorothea Magha
Catharina Sinko
Anna Sipos
Catharina Duvacs
Catharina Mika
Catharina Chudoba
Susanna Juhasz
Elisabetha Kosztolany
Rosa Brath
Elisabetha Barrak
Catharina Sipkova
Catharina Kovacs
Catharina Faricska
Anna Vlcskova
Helena Belova
Catharina Kocsis
Susanna Porocsna
Anna Kosztolanyicska
Juditha Bekecs
Dorothea Lubora
Catharina Haluza
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Calvin.
Calvin.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Luther.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
Cathol.
46
51
41
44
52
40
43
50
51
49
57
49
42
39
54
45
47
48
38
58
47
39
45
60
61
48
58
59
64
50
45
52
59
66
62
41
37
49
50
66
62
55
66
47
50
56
63
49
60
44
48
51
53
60
43
Per Parochum
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Per Paroch.
Fungitur
munio
ab annis
7
13
6
3
9
3
5
6
7
4
8
5
4
3
7
6
10
8
3
17
7
4
12
14
19
8
9
11
13
10
7
8
11
4
17
9
6
9
10
21
20
14
9
10
11
12
15
7
15
7
9
14
16
5
7
19 ULA C 66 Nr. 22. pos. 3/1783-84
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Solutionem habet a
singula puerpera
fl.
cr.
16
16
16
16
17
17
17
17
17
17
17
17
17
17
20
20
20
18
18
30
18
18
12
12
18
18
18
18
18
18
18
18
18
18
18
18
15
15
18
18
15
15
15
15
15
15
15
18
18
15
12
15
12
12
17
194
Lilla Krász
Tabelle 3: Klassifikationsliste der Hebammen aus dem Zipser Komitat/178920
Nr.
Namen derselben
Wohn Ort
Ihr Alter
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
Eva Polsch
Susanna Kraußin
Catharina Kißlerin
Anna Pavliczkin
Sophia Langin
Clara Benno
Catharina Hussin
Maria Knotin
Susanna Fischer
Catharina Klugin
Maria Behlerin
Susanna Veberin
Susanna Hollumczerin
Sophia Jaczkin
N. Schlofferin
Maria Mauriczin
N. Topscherin
Maria Schwarzin
Sophia Kerkin
Susanna Schwarcz
Maria Strompfin
Catharina Demütherin
N. Knießnerin
Kesmark
Kesmark
Kesmark
Kesmark
Kesmark
Laibicz
Laibicz
Rusz-quinocz
Durand
Durand
Menhard
Menhard
Matthaeocz
Georgen-berg
Georgen-berg
Poprad
Poprad
Strása
Strása
Felka
Felka
Bela
Bela
reifen Alter
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Jung
reifen Alter
Mitteljährig
reifen Alter
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Jung
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
reifen Alter
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Catharina Pavolnin
Anna Chlebakin
Agnethe Marczlin
Cuneg. Cajezkin
Juliana Kosakovski
Sophia Demkin
Margaretha Grabin
Alexandra Zuranin
Susanna Hermann
Anna Maria Hermann
Maria Illnerin
Maria Bendlin
Agnetha Raczenberger
Susanna Klosin
Catharina Faixin
Catharina Kalixin
Susanna Barcsin
Podolin
Podolin
Gnezda
Gnezda
Lublo
Iglo
Iglo
Varalya
Wallendorff
Wallendorff
Dobravola
Zsegre
Krompach
Burgerhoff
Eißdorf
Eißdorf
Eißdorf
reifen Alter
reifen Alter
Jung
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
reifen Alter
Mitteljährig
reifen Alter
Jung
Jung
reifen Alter
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
Wie lange Sie die Geburts Ihre Fähigkeit
Hülfe ausübt
seit zwey Jahren
Erster Classe
eine Anfängerin
Erster Classe
eine Anfängerin
Erster Classe
eine Anfängerin
2ter Classe
eine Anfängerin
3ter Classe
eine Anfängerin
Erster Classe
seit 5 Jahren
2ter Classe
eine Anfängerin
3ter Classe
seit 16 Jahren
2ter Classe
eine Anfängerin
2ter Classe
seit 7 Jahren
2ter Classe
seit 12 Jahren
ist davon gelaufen
seit 3 Jahren
Erster Classe
eine Anfängerin
Erster Classe
seit einigen Jahren
ist ausgeblieben
eine Anfängerin
2ter Classe
seit einigen Jahren
ist ausgeblieben
seit 15 Jahren
3ter Classe
eine Anfängerin
2ter Classe
seit 8 Jahren
2ter Classe
eine Anfängerin
Erster Classe
seit 6 Jahren
2ter Classe
seit einigen Jahren
hat sich Befehl
widersezt, und ist
vorszlich
ausgeblieben
seit 4 Jahren
Erster Calsse
seit 12 Jahren
ist davon gelaufen
eine Anfängerin
3ter Classe
eine Anfängerin
3ter Classe
eine Anfängerin
3ter Classe
seit 14 Jahren
3ter Classe
seit mehreren Jahren
2ter Classe
seit einem Jahre
Erster Classe
seit 6 Jahren
Erster Classe
eine Anfängerin
Erster Classe
eine Anfängerin
2ter Classe
seit einigen Jahren
3ter Classe
eine Anfängerin
2ter Classe
eine Anfängerin
3ter Classe
seit 9 Jahren
3ter Classe
eine Anfängerin
2ter Classe
seit einigen Jahren
ein sonst geschiktes Weib ist dermahl ausgeblieben
20 ULA C 66 Nr. 125. pos. 1/1789.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Das Hebammenwesen im Ungarn des 18. Jahrhunderts
195
Nr.
Namen derselben
Wohn Ort
Ihr Alter
37.
38.
39.
40.
41.
Anna Schvarczin
Eva Barcsin
Rifke Jüdin
Jac. Reiszin Jüdin
Maria Glaczin
Alt
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Jung
42.
43.
Susanna Philippin
Sophia Greyszin
Mitteljährig
Mitteljährig
seit einigen Jahren
eine Anfängerin
2ter Classe
3ter Classe
44.
Sophia Scherffeln
Mitteljährig
seit 9 Jahren
2ter Classe
45.
46.
47.
48.
49.
50.
51.
52.
53.
54.
Maria Knießnerin
Maria Horvai
Eva Kurßkin
Susanna Jurnerin
Anna Pudleinerin
Maria Oszvaldin
Anna Bobakin
Susanna Jaczkin
Susanna Blosin
Sophia Adamkovicz
Hundsdorf
Hundsdorf
Hundsdorf
Hundsdorf
Kakas Lomnicz
Mülenbach
Großschlagdorf
Großschlagdorf
Altvaltdorf
Neuvaltdorf
Neuvaltdorf
Forberg
Bussocz
Viborna
Topporcz
Hollomnicz
Hollomnicz
Hopfgart
Wie lange Sie die Geburts Ihre Fähigkeit
Hülfe ausübt
seit 3 Jahren
3ter Classe
eine Anfängerin
2ter Classe
seit mehreren Jahren
2ter Classe
eine Anfängerin
3ter Classe
seit zwey Jahren
Erster Calsse
Mitteljährig
Alt
Mitteljährig
Alt
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Jung
Jung
Jung
eine Anfängerin
seit 14 Jahren
eine Anfängerin
seit 3 Jahren
eine Anfängerin
eine Anfängerin
eine Anfängerin
eine Anfängerin
eine Anfängerin
eine Anfängerin
2ter Classe
3ter Classe
davon gelaufen
3ter Classe
3ter Classe
2ter Classe
2ter Classe
2ter Classe
2ter Classe
gute, aber mitten
in der Lehre
krank geworden
Verzeichnis der slowakischen Hebammen aus dem Zipser Komitat
Nr.
Namen derselben
Wohn Ort
Ihr Alter
55.
56.
57.
Elisabetha Repaßki
Anna Motika
Catharina Subova
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
58.
59.
60.
61.
62.
63.
64.
65.
66.
67.
68.
69.
70.
71.
72.
73.
74.
75.
Elisabetha Matiska
Maria Tomkus
Maria Voitkova
Anna Koperdan
Theresia Karhutnyak
Anna Kostan
Sophia Kosztelnik
Maria Utlak
Maria Klacsicha
Anna Scharnik
Maria Berko
Anna Missaga
Catharina Dreiko
Catharina Schavkova
Helena Mazurka
Anna Bednarova
Eva Marschalko
Theresia Zoltiz
Zavada
Uloza
Pongraczfalva
Biaczovecz
Ordzovian
Lengvard
Kolbach
Ober Repas
Toriska
Pavlan
Unter Repas
Olsavicza
Brutocz
Kolcsova
Almas
Lucska
Görgö
Görgö
Dolian
Varalya
Neu Bela
Wie lange Sie die Geburts Ihre Fähigkeit
Hülfe ausübt
eine Anfängerin
Erster Classe
eine Anfängerin
2ter Classe
eine Anfängerin
Erster Classe
Mitteljährig
Mitteljährig
Alt
Alt
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Alt
Mitteljährig
Alt
Alt
Alt
Alt
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
Mitteljährig
seit einem Jahre
seit 3 Jahren
seit 20 Jahren
seit 8 Jahren
seit 5 Jahren
eine Anfängerin
eine Anfängerin
eine Anfängerin
seit 7 Jahren
seit 9 Jahren
seit 6 Jahren
seit 9 Jahren
seit 9 Jahren
seit 4 Jahren
eine Anfängerin
eine Anfängerin
eine Anfängerin
eine Anfängerin
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Erster Classe
2ter Classe
3ter Classe
Erster Classe
Erster Classe
2ter Classe
Erster Classe
Erster Calsse
Erster Classe
3ter Classe
3ter Classe
3ter Classe
2ter Classe
2ter Classe
3ter Classe
3ter Classe
3ter Classe
2ter Classe
196
Lilla Krász
Tabelle 4: Conduitliste aus dem Ödenburger Komitat/178621
21 ULA C 66 Nr. 56. pos. 247/1785-86.
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Das Hebammenwesen im Ungarn des 18. Jahrhunderts
197
Tabelle 5: Anzahl der geprüften, staatlich bezahlten Hebammen nach den einzelnen
Distrikten/178622
Distrikt
Gespanschaft
Neutraer
Preßburger
Neutraer
Trentschiner
Berscher
Raaber und Wieselburger
Ödenburger
Komorner und Graner
Eisenburger
Wesprimer
Thurotzer
Honter
Lyptau und Arwaer
Gömörer
Zipser
Scharoscher
Abaujwarer
Sempliner
Unghwarer
Beregher und Ugotscher
Szathmarer
Maramaroscher
Szaboltscher
Biharer
Bikescher Tschongrader und Tschanader
Arader
Hajducker Städte
Pester
Hewescher
Neograder
Borsoder
Weißenburger
Jazigien und Kumanien
Tolnauer
Baranyer
Sayrmier
Werowititzer
Schimegher
Temescher
Kraschower
Torontaler
Batscher
Salader
Waraschdiner
Agramer und Seweriner
Kreutzer
Poscheganer
Raaber
Neusohler
Kaschauer
Munkatscher
Großwardeiner
Pester
Fünfkirchner
Temescher
Agramer
Anzahl der ordentlich geprüften, bezahlten Hebammen
15
6
0
3
5
7
9
8
4
9
5
3
1
1
2
5
2
1
4
4
1
19
5
18
5
4
2
16
3
4
6
4
5
5
4
2
6
18
3
-
22 ULA C 66 Nr. 43. pos. 40/1785-86.
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und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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198
Lilla Krász
Bibliographie
Bächtold-Stäubli, Hans (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. III. Berlin; New York 1987, 1587-1603.
Dömötör, Tekla: Die Hebamme als Hexe. In: Röhrich, Lutz (Hg.): Probleme der Sagenforschung. Freiburg im Breisgau 1973, 17-189.
Jantsits, Gabriella: Az elsö magyar bábatankönyv illusztrációi. In: Orvostörténeti
Közlemények 18 (1986), 188-201.
Jütte, Robert: Die Präsistenz des Verhütungswissens in der Volkskultur. In: Medizinhistorsches Journal 24 (1989) 214-231.
Kapros, Márta: A születés és a kisgyermekkor szokásai. In: Hoppál, Mihály (Hg.): Magyar
néprajz. Bd. VII. Budapest 1990, 9-31.
Labouvie, Eva: Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der frühen Neuzeit.
Frankfurt am Main 1991.
Linzbauer, Franciscus Xaverius: Codex-Sanitario-Medicinalis Hungariae. Bd. 1. Buda,
1852-1861.
Pócs, Éva: Malefícium-narratívok – konfliktusok – boszorkánytípusok (Sopron vármegye,
1529-1768). In: Népi kultúra – népi társadalom 18 (1995), 9-63.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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II.
Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer
Heilweisen
»Diese Bitte war ich der Menschheit schuldig« – Das Wirken des homöopathischen Laienheilers Arthur Lutze (18131870) in Preußen
Hartmut Bettin, Ulrich Meyer, Christoph Friedrich
Summary
“My Contribution to Humanity." The Work of the Prussian Lay Physician Arthur Lutze (18131870)
The aim of this paper is to describe the life and work of the homeopathic lay physician
Arthur Lutze (1813–1870), particularly his work in Prussia. The paper also helps explain
the extraordinary popularity of non-medical practitioners during this period.
Lutze’s years in Prussia were fundamental for his homeopathic ambitions, since they afforded him access to many of the renowned homeopaths of the period. Lutze gained popularity by focusing his practice on the common people. Even though he was not licensed
and he collaborated with unknown non-medical practitioners, Lutze gained legitimacy
through the work of properly certified doctors.
Einleitung
Nichtapprobierte »Wunderheiler« sorgen bis in die Gegenwart mit ihren
vermeintlich spektakulären Heilungserfolgen immer wieder für Aufsehen
und geben manchem von der Schulmedizin aufgegebenen Kranken neue
Hoffnung. Die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts kennt mehrere
Beispiele solcher medizinischer »Volkshelden«, deren Wirken sich u. a. auf
das neue Heilverfahren der Homöopathie stützte.1 Die Homöopathie wurde
bekanntlich von dem Arzt Samuel Hahnemann (1755-1843) begründet, der
zu den naturwissenschaftlich bestausgebildetsten Ärzten seiner Zeit zählte.
Im Gefolge Hahnemanns erlangten neben homöopathischen Ärzten auch
einige nichtapprobierte homöopathische Heiler eine erstaunliche Popularität. Dennoch hat die Wissenschaftsgeschichte von ihnen kaum Notiz genommen und sie bestenfalls einer Fußnote oder Randnotiz für würdig befunden. Dies gilt auch für den in Pommern geborenen Arthur Lutze (18131870). Lutze, gewiß eine schillernde Figur in der »posthahnemannischen
Ära«, spielte in der Homöopathiegeschichte zunächst nur insofern eine Rolle, als er für die Gegner der Homöopathie ein »bequemer Prügelknabe« und
1
Auch auf dem Gebiet des »tierischen Magnetismus« bzw. »Mesmerismus« oder »Lebensmagnetismus« ist etwa zur gleichen Zeit ein Nebeneinander von approbierten
Ärzten und Laienheilkundigen zu beobachten; vgl. Freytag (1997), S. 141-166.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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200
Hartmut Bettin, Ulrich Meyer, Christoph Friedrich
»Kronzeuge zur Kennzeichnung der Homöopathie« war.2 Bei Rudolf
Tischner findet er nur »anhangsweise kurz« als ein von den Homöopathen
seiner Zeit verfemter Einzelgänger Berücksichtigung.3 Selbst die hervorragende »Geschichte der alternativen Medizin« von Robert Jütte erwähnt ihn
nur beiläufig.4 Die wenigen Veröffentlichungen, die es über ihn gibt, darunter ein Aufsatz von Wolf-Dieter Müller-Jahncke und ein Beitrag von Ingeborg Streuber, konzentrieren sich auf Lutzes Köthener Zeit, während seine
preußischen Jahre weitgehend im Dunkeln blieben beziehungsweise nur
kurz anhand seiner Autobiographie beleuchtet werden. Zwei umfangreiche
Akten »betr. den medizinischen Unfug der homöopathischen Afterärzte
Arthur Lutze und Johann Pantillon aus den Jahren 1843-1869« aus dem
Geheimen Staatsarchiv Berlin erlauben nunmehr eine genauere Betrachtung
dieser Zeit.
Nicht zuletzt weist das ausgewertete Aktenmaterial auch auf Lutzes bislang
weitgehend unbekanntes Schweizer Pendant Johann Pantillon hin, der zur
selben Zeit und in ähnlicher Weise in Preußen wirkte.
Lutzes Entwicklung zum Homöopathen
Wie er sich selbst sah und sehen wollte, spiegelt Lutzes Autobiographie wider. Verschiedene in den vorgenannten Akten enthaltene Behördenberichte
liefern indes kontrastierende und ergänzende Einblicke in seine Persönlichkeit und seinen Lebensweg.
Dort heißt es, daß
Lutze als ehemaliger Postsekretär und jetziger Dr. der Philosophie, der Sohn des verstorbenen Englischen Consuls Lutze in Stettin, am 29ten Mai 1833 zum Postdienst
vereidigt5 und am 16. Sept. 1839 zum Post-Sekretair ernannt worden sei, ohne jedoch
mit fixirtem Gehalte angestellt zu sein.
Seit seinem Eintritt in den Postdienst habe er
sich stets zu praktischen Versuchen und literarischen Arbeiten hingeneigt, auch mehrere Schriften belletristischen Inhalts herausgegeben6, seine Dienstgeschäfte aber häufig
2
Tischner (1939), S. 500 f.
3
Tischner (1939), S. 500 f.
4
Vgl. Jütte (1996), S. 235.
5
Arthur Lutze war zunächst eine Apothekerlehre in der Berliner »Löwen-Apotheke« bei
Johann Heinrich Julius Staberoh (1785-1858) empfohlen worden, die er aber – anders
als bei Kaiser und Völker dargestellt – offenbar gar nicht erst antrat, da ihm Staberoh
von vornherein abriet; vgl. dazu Kaiser (1987), S. 86, sowie Müller-Jahncke (1985), S.
817.
6
Am 19. Juli 1842 erhielt Lutze auf seinen Brief nebst beigelegtem »Liederbuch zur
Ehre Gottes« ein wohlmeinendes Antwortschreiben Ernst Moritz Arndts (1769-1860),
in dem dieser aber mit keinem Wort auf den Inhalt von Lutzes Büchlein einging; vgl.
Lutze (1866), S. 153 f.
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»Diese Bitte war ich der Menschheit schuldig«
201
vernachlässigt und hierdurch, so wie durch Ungehorsam, Leichtsinn, Anmaßung und
Ueberschätzung Anlaß zur Unzufriedenheit und zum Tadel gegeben.7
Seine Dienstgeschäfte vernachlässigte Lutze auch aus einem anderen Grund.
Bereits während der Zeit seines Postdienstes in Nordhausen hatte er den mit
Hahnemann sympathisierenden Arzt Philipp Rath (1786-1860) kennengelernt, der Lutzes Interesse für Homöopathie nachhaltig weckte. Die überschwengliche Dankbarkeit, die Rath von geheilten Patienten bezeigt wurde,
muß Lutze tief beeindruckt haben. Zudem hatte er von Rath eine kleine
homöopathische Apotheke und »Herings Hausarzt«8 bekommen.9 Dieses
Werk Constantin Herings (1800-1880) diente den meisten nachfolgenden
»Hausärzten« zumindest im deutsch- und englischsprachigen Raum als
Grundlage.10
Über verschiedene Stationen seines Postdienstes gelangte Lutze kurzzeitig
nach Berlin, wo er mit dem homöopathischen Mittel Spigelia11, das er aus
der homöopathischen Apotheke in der Jerusalemerstraße bezogen hatte,
eine Frau vom Gesichtsschmerz heilte. Bestärkt durch diesen Erfolg, faßte
er wohl endgültig den Entschluß, sich ganz der Homöopathie zu widmen.
Im November 1839 reiste Lutze nach Halle und betrieb dort eine ausgebreitete homöopathische »Winkelpraxis«. 1840 wurde er nach Cottbus versetzt,
wo man ihn allerdings »während seiner Beschäftigung bei dem Post-Amte
zu Cottbus im Jahre 1841 [...] der Veruntreuung von Cassengeldern im Betrage von 172 rh.« beschuldigte.12 Der zweite gegen Lutze erhobene Vorwurf, der unsittlichen Berührung eines jungen Mädchens,13 wird im Bericht
7
Bericht des Generalpostministers von Nagler in Freienwalde vom 7. Juli 1844. In:
GStA PK, I. HA, Rep. 76 Abt. VIII A, Nr. 2230; Acta betr. den medizinischen Unfug
der homöopathischen Afterärzte Arthur Lutze und Johann Pantillon vom Sept. 1843
bis Decbr. 1845, unpaginiert.
8
Titel der verfügbaren zweiten für Deutschland unwesentlich veränderten Auflage:
»Homöopathischer Hausarzt. Für die deutschen Bürger der Vereinigten Staaten nach
den besten vaterländischen Werken und eignen Erfahrungen bearbeitet von C. Hering« (Jena 1838). Die deutsche Erstauflage erfolgte 1837. Zuvor erschien das Werk
bereits 1835 für die Missionsanstalt der evangelischen Brüdergemeinde in Paramaribo
und kurz darauf in englisch als »The Homoeopathist, or Domestic Physician« in den
USA. Näheres zu »Herings Hausarzt« bei Willfahrt (1991) Teil III, S. 196-198; zur
homöopathischen Hausarztliteratur s. a. die ersten beiden Teile und Teil IV; Willfahrt
(1991) Teil I, S. 114-121; (1991) Teil II, S. 153-159; (1992) Teil IV, S. 62-72.
9
Lutze (1866), S. 43.
10 Vgl. Willfahrt (1991) Teil II, S. 156.
11 Mit Spigelia war Herba Spigeliae anthelmiae, wurmtreibende Spigelie oder Wurmkraut gemeint. Man bezog Wurzeln und Kraut der Pflanze aus Brasilien, Cajenne,
Martinique oder den Antillen; vgl. Gruner (1845), S. 164.
12 Bericht des Generalpostministers von Nagler in Freienwalde vom 7. Juli 1844 (wie
Anm. 7).
13 Streuber (1996), S. 162.
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202
Hartmut Bettin, Ulrich Meyer, Christoph Friedrich
des Generalpostministers von Nagler über Lutze indessen überhaupt nicht
erwähnt. Nach Langensalza versetzt, erkrankte Lutze, wie er schrieb, infolge
der »schändlichen Verleumdungen«14 an einem »Nervenfieber«, von dem er
sich durch Dr. Friedrich August Günther (1802-1865)15 homöopathisch
heilen ließ. Die Mittel »Aconit[um napellus], Byron[ia alba], Rhus [toxicodendron], Bellad[onna] und Veratrum [album] x.«16, die er während seiner Krankheit von Günther verabreicht bekam und die ihm offenbar Besserung verschafften, waren jene »Polychreste«, die Lutze später selbst bevorzugt anwandte.
1843 gelangte Lutze nach Mühlhausen. Mittlerweile war er wegen seines
Postvergehens
bei der deshalb gegen ihn eingeleiteten gerichtlichen Untersuchung, durch das [!] erste
Erkenntnis vom 20ten Mai 1843 außerordentlich zur Amtsentsetzung und zu einem
zweijährigen Festungs-Arreste verurtheilt worden.
Weiter hieß es: »Das Erkenntnis in zweiter Instanz steht noch zu erwarten.
Seit dem Erscheinen des vorgedachten Erkenntnisses, ist er vom Postdienste
suspendirt worden.«17 Zu dieser Zeit betrieb Lutze aber bereits eine gutgehende homöopathische Praxis. Erst eine Anzeige des Mühlhausener Kreisphysikus Dr. Becker18 (geb. 1792) wegen Lutzes fehlender Approbation
lenkte nun die Aufmerksamkeit des preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten und des Innenministeriums bzw. der Polizeibehörden auf ihn, so daß seine weiteren Aktivitäten in
Preußen aktenkundig geworden sind.
Die Akten dokumentieren fortan ein zähes Ringen Lutzes mit den Aufsichtsbehörden, wobei es ihm immer wieder gelang, bereits verfügte Verbote durch Ausnahmeregelungen des Königs zu umgehen.
14 Lutze (1866), S. 117.
15 Friedrich August Günther, ein ehemaliger Theologe, wirkte als Homöopath in Langensalza. Dort war bereits 1832 einer der ersten homöopathischen Laienvereine und
die erste homöopathische Laienzeitschrift gegründet worden. Günther verfaßte u. a.
die mehrbändigen Werke: »Der homöopathische Thierarzt« (1837) und »Der homöopathische Hausfreund« (1840), dem wahrscheinlich Herings »Homöopathischer
Hausarzt« als Vorlage gedient hatte. Günther gilt wie Hahnemann als Anhänger des
Mesmerismus; vgl. hierzu Willfahrt (1996), S. 276-278. Lutze handelte, solange er
noch an seinem eigenen Hausarztbuch schrieb, zunächst mit diesen Werken von Günther und Hering.
16 Lutze (1866), S. 119.
17 Bericht des Generalpostministers von Nagler in Freienwalde vom 7. Juli 1844 (wie
Anm. 7).
18 Christian August Becker veröffentlichte u. a. zusammen mit Nicolaus Gräger: »Beiträge zur Würdigung der Homoeopathie« (Mühlhausen 1833) und »Der mineralische
Magnetismus und seine Anwendung in der Heilkunst« (Mühlhausen 1829).
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»Diese Bitte war ich der Menschheit schuldig«
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Lutzes Kampf mit den Behörden
Am 6. September 1843 suchte Lutze, der von der Polizeibehörde in Mühlhausen auf Grund der Anzeige des Kreisphysikus Dr. Becker mit Verbot
und Strafe wegen unbefugten Praktizierens belegt worden war, erstmals um
die Erlaubnis nach, entgeltlich homöopathisch tätig sein zu dürfen. Sein
Schreiben war, für ihn typisch, nicht an die zuständige Behörde, sondern
direkt an den preußischen König gerichtet. Ein am 20. Juni 1843 ergangenes »Reglement über die Befugniß der approbierten Medicinal-Personen
zum Selbstdispensieren der nach homöopathischen Grundsätzen bereiteten
Arzneimittel« erlaubte es homöopathischen Ärzten nämlich ausdrücklich,
selber Arzneimittel herzustellen und zu dispensieren, wenn sie zuvor die
Genehmigung des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und MedizinalAngelegenheiten eingeholt und sich einer Prüfung hinsichtlich ihrer pharmakologischen und pharmazeutisch-technischen Kenntnisse unterzogen
hatten.
Lutze entwarf in seinem Gesuch an den Monarchen ein plastisches Bild der
unerhörten Dimensionen und Erfolge seiner Tätigkeit, was natürlich in erster Linie darauf abzielte, als Nichtapprobierter eine Ausnahmegenehmigung
zu erwirken, jedoch gleichzeitig Spiegel seines überspannten Selbstverständnisses als homöopathischer Wunderheiler ist und zugleich viel von seiner
Persönlichkeit offenbart. Es soll daher in längeren Auszügen wiedergegeben
werden. Lutze schrieb:
Seit 4 bis 5 Jahren habe ich in meinen Mußestunden Medizin und zwar Homöopathie
mit regem Eifer studirt und ebensolange praktizirt.
Im ersten Jahre nahm ich die scheinbar leichtesten, eigentlich die schwersten Krankheiten vor, nämlich die Heilung der Zahnschmerzen und Magenkrämpfe etc., worin
ich nun eine solche Übung bekommen, daß ich jedes Zahnweh in der Regel in der
Zeit von 10 bis 15 Minuten heile, und zwar mit den verschiedensten Mitteln, so daß
dabei alles auf scharfe Diagnose ankommt. Ebenso ist noch kein Magen- oder Brustkrampf von mir ungeheilt geblieben.
Mit jedem Jahre mehrte sich in allen Städten der Zulauf von Patienten, der jetzt zu
solchem Umfange herangewachsen ist, das ich in diesem Jahre bis jetzt – also in 7 1/2
Monaten nach meinem Krankenjournal bereits 2,237 Kranke geheilt habe, nachdem
ich 1/2 Jahr in Mühlhausen anwesend war, ungerechnet die auswärtigen in Cassel,
Eschwege, Wanfried, Treffurt, Heiligenstadt, Dingelstädt, Erfurt, Halle, Berlin, Königsberg, Elbing, Konitz etc.In der letzten Zeit, nachdem ich einige Blinde geheilt und mehrere ungewöhnliche
Kuren gemacht hatte, ist meine Praxis so gestiegen, daß an jedem Tage 40 bis 60 –
aber auch noch mehr Kranke auf mein Zimmer kommen; da ich fast nur von meinem
Zimmer aus die Praxis betreibe, und allein in Entzündungsfällen oder sonstigen
akuten Krankheiten die Kranken im Hause besuche, ganz wie es Hahnemann vorgeschrieben hat.
Lutze behauptete, Tausende Atteste Geheilter beibringen zu können. Sein
Behandlungsspektrum umfaßte nahezu alle Krankheiten, wobei er insbesondere mit schnellen Heilungserfolgen bei Patienten aufwartete, die, und
damit hoffte er, sich auch aus dem Kreis der Homöopathen herauszuheben,
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Hartmut Bettin, Ulrich Meyer, Christoph Friedrich
von Allopathen und Homöopathen bereits aufgegeben worden wären. So
resümiert er:
Nicht bloß jede Art von Entzündung, als: Gehirn-Lungen-Leber-Darm-HalsEntzündung, häutige Bräune, alle akuten Krankheiten, als: Blutstürze, Blutflüsse,
Krampf-Anfälle, Stük- und Schlagflüsse habe ich schnell und sicher geheilt; sondern
auch die lange Zeit vergeblich von anderen Doctoren behandelten chronischen
Krankheiten, als Epilepsie, Katalepsie, Veitstanz, chronische Erbrechen und Durchfälle, Knochen- und Hautauftreibungen, Beinfraß seit 27 Jahren, Flechten aller Art,
krebsartige Geschwüre, Geschwüre in den Eingeweiden, Menstruations-Beschwerden,
Weißflüsse, Syphilis und Sykosis.
Außerdem – was am meisten Bewunderung erregt hat – Augenübel aller Art, worunter
zweimal der schwarze Staar mit völliger Blindheit, Harthörigkeit und Taubheit, und
jahrelange Lähmung der Glieder durch Gicht und Rheuma.19
Obwohl Lutze immer wieder sein selbstloses Wirken für die ärmeren Bevölkerungskreise betonte, zeigt sich an einer Stelle seines Schreibens, daß,
wie später in besonderem Maße in Köthen, auch Wohlhabendere zu seinen
Patienten zählten, denn er beklagt:
Bei diesem Zulauf, und namentlich deshalb, daß auch fast alle Vornehmen der Stadt
sich in bedenklichen Fällen an mich wandten, konnte es nicht ausbleiben, daß mich
die Aerzte denuncirten, weil ich kein promovirter Arzt bin, sondern meine medizinischen Kenntnisse vom eifrigen Selbststudium und der früheren Correspondenz mit
den ersten homöopathischen Aerzten verdanke.
Lutze führt weiter erstaunlicherweise aus, daß »die Denunciation des Kreisphysikus Dr. Becker vom Ober-Landes-Gericht in Halberstadt zurückgewiesen« worden sei, weil er nie Bezahlung für seine Heilungen genommen,
»die Medizin verschenkt, und nirgends Schaden angerichtet« hatte.
Ferner teilt er seine Absicht mit, den Schul- und Regierungsrat von Türk in
Klein Glienicke bei Potsdam bei der Erziehung seiner Waisen unterstützen
zu wollen. Zugleich legt er Atteste bei, die von zwei Offizieren stammten,
womit er wohl hoffte, den König besonders überzeugen zu können. Über
die Verhältnisse in Mühlhausen berichtet Lutze schließlich, »daß die drei
hier Homöopathie ausübenden Aerzte von dem rechten Wege abgeirrt wären« und er der Einzige sei, der sich streng an die Hahnemannsche Lehre
halte. Der folgende Absatz enthält sein Bekenntnis zu Hahnemann und
spiegelt gleichsam Lutzes Sendungsbewußtsein als Erlöser der Menschheit
wider:
Diesem Umstande, daß ich die reine Hahnemannsche Homöopathie anwende, sind
mir die ungewöhnlich glücklichen Erfolge zuzuschreiben, die mich bei meiner ausgebreiteten Praxis begleitet haben. Als eine Folge hiervon kann wieder angesehen werden, daß praktische Aerzte bereits, die meinen Heilungen beigewohnt und dieselben
beobachtet haben, in diesem Jahre erst zur Homöopathie übergegangen sind, weil
19 Es sind dies überwiegend dieselben Leiden, von denen auch die sich hauptsächlich auf
die Heilmethode des tierischen Magnetismus stützenden Laienheiler behaupteten, sie
erfolgreich therapieren zu können; vgl. Freytag (1997), S. 153.
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»Diese Bitte war ich der Menschheit schuldig«
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ihnen Fälle vorgekommen, welche die Allöopathie ein für allemal als unheilbar erklärt.
Da ich nun selbst einsehe, welches Heil ich durch die Ausübung der reinen Homöopathie der leidenden Menschheit bringen kann, es aber wieder unmöglich ist, diesen
Weg ohne höhere Autorisation zu verfolgen, weil ich gar kein Vermögen habe, wie
Ew. Majestät bekannt ist, und ich ferner nicht unentgeltlich heilen könnte; so bitte ich
Ew. Majestät in tiefster Unterthänigkeit: mir die Praxis der reinen Homöopathie huldvoll zu gestatten, indem ich mich anheischig mache, mein Krankheits-Journal pünktlich fortzuführen, jeden einzelnen Fall mit allen Symptomen, dem Heilmittel und Erfolge einzutragen, damit es dem Kreis Physikus möglich werde, jeden beliebigen Fall
jederzeit controlliren zu können.
Sein umfangreiches Schreiben schließt mit den Worten:
Diese Bitte war ich meinen Mitbürgern, war ich der Menschheit schuldig; in Ew. Majestät Hand habe ich sie gelegt, weil ich weiß, Allerhöchstdieselben werden weise entscheiden – und Gott wird ferner helfen! In tiefster Ehrfurcht Ew. Majestät allerunter-thänigster Dr: Arthur Lutze.20
Trotz eines beigefügten Bittschreibens Mühlhausener Bürger mit zahlreichen Unterschriften, aus dem hervorgeht, daß Lutze seit Beginn des Jahres
1845 Patienten behandelt und daß er erfolgreicher als alle anderen Doktoren in Mühlhausen gewirkt habe, wurde Lutzes Ersuchen abgewiesen. Es
hieß, auf den Antrag könne nicht weiter eingegangen werden, da der Antragsteller die Approbation zur ärztlichen Praxis noch nicht erlangt habe.
Nachdem Lutze 1843 aus dem Postdienst entlassen und ihm seine homöopathische Tätigkeit in Mühlhausen verboten worden war, ging er nach
Potsdam, wo er gewissermaßen durch die Hintertür die Gestattung der homöopathischen Praxis zu erlangen hoffte. Noch gegen Ende des Jahres 1843
folgte Lutze, der von 1827 bis 1829 in Bunzlau selbst eine Waisen- und
Schulanstalt besucht hatte, wie im obigen Schreiben an den König bereits
angekündigt, dem Ruf des Regierungs- und Schulrates Wilhelm von Türk
(1774-1846)21 nach Klein Glienicke, um an dessen Waisenanstalt im ehemaligen Jagdschloß Glienicke eine Stelle als Hauslehrer anzutreten.22 Hier eröffnete er noch im selben Jahr sein Kinderlazarett »Hahnemannia« und bezeichnete sich fortan als Doktor der reinen Homöopathie und Direktor der
homöopathischen Heilanstalt Hahnemannia in Potsdam.
Wie sehr Lutze von Türk verehrte, wird aus folgendem an die Zöglinge der
Anstalt gerichteten Gedicht deutlich, das er nach von Türks Tod verfaßte:
Der Vater starb! – Habt Ihr das Wort vernommen?
20 An den König gerichteter Brief vom 6. September 1843 (wie Anm. 7).
21 Zu v. Türk siehe Erbach (1993).
22 Türk holte Lutze trotz des negativen Berichts des Generalpostministers von Nagler,
der ihn »unterm 30. October v. J. von den Verhältnissen des Lutze« in Kenntnis gesetzt hatte; vgl. Anm. 7. Am Ende des Schreibens findet sich der Hinweis auf Personal- und Untersuchungsakten (317 fol. und 197 fol.).
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206
Hartmut Bettin, Ulrich Meyer, Christoph Friedrich
Und habt Ihr heiße Thränen ihm geweint?
Wann wird ein solcher Vater wiederkommen,
Der es so gut, so treu mit Waisen meint?
Der Vater lebt! – Er lebt in bess’ren Räumen
Und sorgt von dorther für die kleine Schar.
O, strebt ihm nach, ohn’ Rasten, ohne Säumen,
Und werdet gut, wie Er so gut Euch war!
Er stirbt uns nie! Denn was er fromm gesäet,
War Geistessaat auf eine Spanne Zeit.
Doch wenn der Herr einst seine Garben mähet,
So ist das Erntefeld – die Ewigkeit!23
Am 12. Januar 1844 durch das Oberlandesgericht in Halberstadt von der
Anschuldigung strafbarer Verabreichung homöopathischer Arzneien freigesprochen,24 erlangte Lutze sogar die Erlaubnis, in Berlin im Saale des englischen Hauses zur Totenfeier Hahnemanns eine Vorlesung »Über das Wesen der Homöopathie im Allgemeinen« sowie auch fernerhin Vorlesungen
zur Homöopathie halten zu dürfen. Hierdurch ermutigt, stellte Lutze erneut
einen Antrag auf Gestattung der homöopathischen Praxis,25 dem er ein Unterstützungsschreiben des Regierungsrates von Türk26 sowie eine Unterschriftenliste derjenigen Bürger von Nowawes27, die gratis Medizin von ihm
empfangen hatten, beifügte. Dieses Gesuch erfuhr ebenso eine Ablehnung
wie eine nachfolgende »Immediat-Vorstellung« an den Staatsminister Johann Albrecht Friedrich Eichhorn (1769-1856).28 Die in diesem Zusammenhang bei den Regierungen in Erfurt und Potsdam eingeholten Berichte
fielen wegen der vielen gegen Lutze erhobenen Vorwürfe äußerst ungünstig
aus. Auch distanzierten sich in der »Vossischen Zeitung« (Nr. 128) vom 1.
Juni 1844 die homöopathischen Ärzte Berlins nunmehr öffentlich von Lut23 Aus: N. N.: Ueberblick (o. J.), S. 63.
24 Vgl. Lutze (1866), S. 181 sowie Erbach (1993).
25 In dem Schreiben, das ähnlich wie jenes vom September 1843 gehalten war und seine
homöopathischen Heilerfolge, nebst neuerlicher Heilungen in Potsdam, verzeichnete,
brüstete sich Lutze überdies, weitere Allopathen zur Homöopathie bekehrt zu haben;
Brief Lutzes vom 9. März 1844 an den Staatsminister (wie Anm. 7).
26 Schreiben von Regierungsrat Türk mit Bitte um Unterstützung vom 30.4.1844 (wie
Anm. 7).
27 Nowawes, heute Potsdam-Babelsberg, war eine verwahrloste böhmische Weberkolonie
mit unterernährten Kindern, so daß verständlich wird, warum Lutze hier viele Magenleiden kurieren konnte; s. Verzeichnis mit Unterschriften der Patienten aus Nowawes,
die Medizin gratis empfangen haben (wie Anm. 7).
28 Ablehnungen durch das Ministerium vom 5. Mai 1844 sowie vom 1. Juni 1844 (wie
Anm. 7).
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»Diese Bitte war ich der Menschheit schuldig«
207
ze, und in der »Allgemeinen Homöopathischen Zeitung« wurde Lutzes
Schrift von »Hahnemanns Todtenfeier« (Potsdam 1844) vernichtend besprochen.29 Als dann am 20. Juni 1844 gegen Lutze ein generelles behördliches Verbot, medizinisch tätig zu sein, verhängt worden war,30 schrieb dieser sofort noch einmal an den König,31 der ihm schließlich laut allerhöchster Kabinettsorder vom 21. Oktober 1844 gestattete,32 alle von ihm bisher
betreuten Kranken weiterhin zu behandeln, ihn aber zugleich aufforderte,
anschließend das vorgeschriebene Medizinstudium nachzuholen und das
homöopathische Examen abzulegen. Am 9. November ließ Lutze in der
»Allgemeinen medicinischen Centralzeitung«33 veröffentlichen, daß der
König ihm die homöopathische Praxis gestattet habe, ohne jedoch die damit verbundenen Auflagen zu erwähnen, an die er sich ohnehin nicht hielt.
Vielmehr nahm er, nachdem er auch in dritter Instanz durch das Oberlandesgericht in Münster vom Vorwurf strafbarer Verabreichung homöopathischer Arzneien freigesprochen worden war34, neue Patienten an, wie aus
einem Schreiben vom 28. Januar 1845 hervorgeht.35
Als die Fragen nach der Herkunft seines Doktortitels immer lauter wurden,
gab Lutze an, daß Constantin Hering in Philadelphia ihn als Doktor und
Praktiker der reinen Homöopathie an dessen Anstalt berufen hätte. Auf
Lutzes Gesuch vom 22. Oktober 1844 hin, diesen Titel auch im Inland führen zu dürfen, wurde ihm aber bedeutet, daß die Verleihung eines Doktortitels ausschließlich Recht der Universitäten sei.
In Erwiderung eines nochmaligen Gesuchs vom 15. November 1844, ihm
die homöopathische Praxis zu gestatten, wurde Lutze ultimativ aufgefordert,
sich bis zum 1. Februar 1845 zur Staatsprüfung zu melden. Lutze, der sich,
wie er schrieb, »mit Freuden der Staatsprüfung unterwerfen« wollte, erbat
sich, da er aus »Potsdam und den umliegenden Städten gegenwärtig 14.000
Kranke in Kur habe« und »da unter diesen einige hundert sehr veraltete
Augen- und Knochenleiden seien, deren Heilung wohl über Jahr und Tag
dauern möchte«36, vor der Prüfung eine Frist von zwei Jahren.
29 Allgemeine Homöopathische Zeitung 27 (1844), S. 203 f.; vgl. Tischner (1939), S.
500f.
30 Schreiben des Innenministeriums an die königliche Regierung vom 20. Juni 1844 (wie
Anm. 7).
31 Schreiben vom 21. Juni 1844 (wie Anm. 7).
32 Allerhöchste Kabinettsorder vom 21. Oktober 1844 (wie Anm. 7).
33 Allgemeine medicinische Centralzeitung (1844), S. 795.
34 Vgl. Lutze (1866), S. 181.
35 Beschwerde des Dr. Thümmel, Sanitätsrat und Kreisphysikus des Nieder Barnim’schen Kreises vom 28. Januar 1845 (wie Anm. 7).
36 Schreiben Lutzes vom 19.11.1844 (wie Anm. 7).
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Lutze und »Professor« Pantillon
In der Folgezeit kreuzten verschiedene Personen Lutzes Lebensweg, die in
seiner Autobiographie entweder nicht namentlich oder überhaupt nicht
erwähnt werden, die aber dennoch eine wichtige Rolle in seinem Leben
gespielt haben.
Gegen Ende des Jahres 1844 dürfte Lutze in Potsdam die Bekanntschaft des
vormals in Luckenwalde praktizierenden Schweizer homöopathischen »Professors« Johann Pantillon gemacht haben, der ebenso wie Lutze bei den
preußischen Behörden, gestützt auf Bittschriften Potsdamer Bürger, um Erlaubnis nachsuchte, homöopathisch praktizieren zu dürfen. Von seiten der
Behörden wurde jedoch der Verdacht geäußert, daß Lutze und Pantillon
die Bittschriften der Potsdamer Bürger selber veranlaßt hätten. Pantillon,
1803 in Praz bei Churten im Kanton Freiburg geboren und aus Montellieu
nach Preußen gekommen,37 war jünger als Lutze. Er besaß wie dieser keine
Legitimation zur ärztlichen Praxis, und auch für seine Promotion und seinen Professorentitel fehlten amtliche Bestätigungen.
Die Ausübung der Homöopathie durch nichtapprobierte Heilpraktiker war
offenbar auch in der Schweiz keine Seltenheit. So wird in einem frühen, nur
mit der Initiale »H.« unterzeichneten historischen Rückblick über die Geschichte der Homöopathie in der Schweiz in der »Allgemeinen Homöopathischen Zeitung« aus dem Jahre 1844 berichtet, daß im Züricher Raum die
Homöopathie von Laien, insbesondere von im medizinischen Staatsexamen
durchgefallenen Kandidaten ausgeübt wurde.38
Während gegen Lutze eine Kriminaluntersuchung lief, da drei Patienten, die
er u. a. mit Belladonna behandelt haben sollte, gestorben waren, führten die
Behörden auch gegen Pantillon Untersuchungen durch, allerdings wegen
sektiererischer Umtriebe, wobei man ihm »paptistisch schwärmerische Bestrebungen, namentlich wegen Vollziehung des Taufactes in freien Gewässern« zur Last legte. Es bestätigte sich auch hier, daß die Homöopathen und
insbesondere die Laienbehandler die Homöopathie in dieser Zeit selten als
einziges Heilverfahren anwandten. Pantillon favorisierte offensichtlich das
Naturheilverfahren der Hydrotherapie, respektive Wasserkuren39, wohingegen Lutze sich eher dem Mesmerismus40 und der Geistheilung zuwandte.41
37 Polizeibericht vom 9. Nov. 1844 (wie Anm. 7).
38 Vgl. Fäh (1996), S. 103.
39 Näheres hierzu bei Jütte (1996), S. 115-135.
40 Franz Anton Mesmer (1734-1815) postulierte, daß es nur eine Krankheit (die fluidale
Disharmonie) und deshalb auch nur ein Heilmittel (den tierischen Magnetismus) gäbe.
Näheres hierzu bei Freytag (1997) und Jütte (1996), S. 103. Der Mesmerismus war das
einzige nichthomöopathische Heilverfahren, dem Hahnemann in seinem Organon einen gebührenden Platz einräumte; vgl. Eppenich (1991), S. 155.
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»Diese Bitte war ich der Menschheit schuldig«
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Dem Habitus nach müssen sich Lutze und Pantillon sehr geähnelt haben,
denn letzterer wurde als »kleiner Mann mit einem sehr langen braunen
Bart«42 beschrieben, »der schon viele weiße Haare hatte.«
Abb. 1: Porträt Arthur Lutzes (1813 – 1870). Aus: Lutze (1866).
Die Auftritte Lutzes und Pantillons erinnern an Inszenierungen mittelalterlicher fahrender Ärzte. Boten kündigten das Kommen der »berühmten Doktoren« an und berichteten, wie segensreich diese andernorts gewirkt hätten.
Da zudem der örtliche Markttag ausgewählt wurde, war der Zulauf groß.43
In auffälliger Bekleidung – Pantillon trug rote »Saffian-Stiefel« und eine
»rothe betroddelte Mütze« – erteilten Lutze und Pantillon in vermutlich
41 Aus seiner tiefen Gottesfurcht – Lutze wollte ursprünglich Priester werden [vgl. Lutze
(1866), S. 20] – und der wachsenden Überzeugung heraus, daß er zum Heiler berufen
sei, entwickelte Lutze einen starken Glauben an transzendentale Kräfte, die er schließlich auch bei sich selbst entdeckt zu haben meinte. Zudem bedienten sich seine großen
Vorbilder Hahnemann und Günther des Mesmerismus. So nimmt es nicht wunder,
daß Mesmerismus und Geistheilung Eingang in Lutzes heilkundliches Wirken fanden,
boten sie ihm doch eine ideale Ergänzung zu seinem homöopathischen Betätigungsfeld.
42 Offenbar war er wie Lutze der Überzeugung, daß mit dem Abschneiden des Bartes
und der Haare auch die Kraft aus dem Körper flösse. Diesen Rat hatte Lutze von Dr.
Ludwig Mertens (geb. 1812) erhalten; Lutze (1866), S. 257.
43 In der Anzeige des Dr. Kallenbach, Berlin vom 30. März 1845 heißt es, daß Lutze
und Pantillon seit mehr als 6 Monaten eine ausgebreitete ärztliche Winkelpraxis verbotswidrig betrieben und der leichtgläubigen Menge selbstbereitete Arzneien verkauften (wie Anm. 7).
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210
Hartmut Bettin, Ulrich Meyer, Christoph Friedrich
kurzzeitig angemieteten, zentral gelegenen Wohnungen – in Rheinsberg war
es die Wohnung des Portiers des königlichen Schlosses – den Kranken Ratschläge und verteilten überdies aus der Handapotheke homöopathische
Arzneimittel. Der ärztliche Rat kostete hierbei angeblich 10 Silbergroschen,
zudem wurde Lutzes Büchlein »Hahnemanns Todtenfeier« für 5 Silbergroschen angeboten.44
Ohne daß die Polizei etwas dagegen unternahm, dehnten Lutze und Pantillon ihr Wirken auf drei Regierungsbezirke aus. Allwöchentlich zogen die
beiden »mit dem Arzneikasten unter dem Arm, in kleineren Städten herum«, und »homöopathisierten« in Brandenburg, Genthin, Nauen, Friesack,
Fehrbellin, Spandow, Müncheberg, Neuruppin, Rheinsberg, Treuenbrietzen
und Lindow. Der Geheime Obermedizinalrat Dr. Johann Christoph Friedrich Klug (1775-1856) aus Berlin sprach in seinem Bericht an den Staatsminister Eichhorn sogar von einer Verbindung Pantillons und Lutzes »zur
planmäßigen Ausbeutung der kleinen Städte und Ortschaften«.45 In der
Folge wurden ihre Auftritte deshalb zunehmend behindert. Die Bürgermeister, sensibilisiert durch die Presse, forderten die Legitimation sowie Listen
der Altpatienten, deren nachträgliche Zusammenstellung Lutze und Pantillon bei ihrem Massenbetrieb kaum mehr möglich gewesen sein dürfte.
Wenn diese aber nicht vorgelegt werden konnten, wurde die weitere Praxis
am Orte untersagt.
Auch in Potsdam praktizierte Lutze gemeinsam mit Pantillon, der zuvor mit
Dr. Emil Friedrich Burrchardt in Luckenwalde zusammen »homöopathisiert« und sich infolge massiver Beschwerden der dortigen Ärzte nach Potsdam gewandt hatte. Schon in den Monaten Oktober und November des
Jahres 1844 sollen »Schaaren von Kranken aller Art« von Luckenwalde
nach Potsdam gezogen sein, um sich von Professor Pantillon und Dr.
Arthur Lutze homöopathisch kurieren zu lassen. Hierbei, so heißt es, hätten
400 – 500 Menschen außer Arzneien (u. a. Streukügelchen46 für 15 Schillinge oder beliebiges Honorar) auch Exemplare der bekannten Broschüre
»Hahnemanns Todtenfeier von Dr. Arthur Lutze, zweite Auflage vermehrt
durch Lebensregeln«47 (Potsdam 1844) für 5 Schillinge erhalten. Aufgebrachte allopathische Ärzte berichteten dem Polizeipräsidium vom fortgesetzten Treiben der beiden. Dr. Klug informierte das Ministerium u. a. dar44 Beilage zur Königl. privilegirten Berlinischen Zeitung vom 28. März 1845.
45 Schreiben vom Geheimen Obermedizinalrat Dr. Klug aus Berlin vom 3. Januar 1845
an Staatsminister Eichhorn (wie Anm. 7).
46 Lutze benetzte mit seinen vornehmlich bis C30 potenzierten homöopathischen Dilutionen, die er zudem mit der Ausstrahlung seiner Hände magnetisiert hatte, kleine
Streukügelchen; vgl. Willfahrt (1996), S. 278.
47 Lutzes 1844 erschienene Abhandlung »Hahnemann’s Todtenfeier« und eine parallel
dazu von Lutze herausgegebene identische Schrift »vermehrt durch Lebensregeln der
neuen naturgemäßen Heilkunst« zählten im 19. Jahrhundert zu den verbreitetsten Laienschriften über die Homöopathie; vgl. hierzu auch Willfahrt (1996), S. 279.
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»Diese Bitte war ich der Menschheit schuldig«
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über, daß »der Andrang der Hilfesuchenden an zwei Tagen, an denen Lutze
in Potsdam weilte, so groß gewesen sei, daß der Hausflur sie nicht fassen
konnte.«48 Lutze und Pantillon umgingen die behördlichen Verbote schließlich, indem sie im Hause des approbierten Arztes Dr. Burrchardt (mitunter
auch Burkhard geschrieben) in der Besselstraße Nr. 17 praktizierten.
In der Beilage der »Königl. privilegierten Berlinischen Zeitung« vom Januar
1845 wurde Lutze in Form einer »Bescheidenen Anfrage« denunziert:
Muß der umherreisende Doktor, der wöchentlich zweimal in der Besselstraße an Tausenden den Arzt und Apotheker in einer Person macht, gleich den hiesigen Ärzten, einem königlichen Polizei-Präsidio, bei 5 Thlr. Strafe, einen vierteljährlichen Sanitätsbericht einsenden?49
In der Ausgabe vom 4. Februar 1845 dementierte Lutze:
Um allen Mißverständnissen zu begegnen, mache ich hiermit bekannt, daß ich, mit
Ausnahme Sonnabend und Sonntag, zwar täglich in Potsdam homöopathische Klinik
halte, nie aber in Berlin dergleichen vornehme, wie irrthümlich mehrmals erwähnt ist.
Er entschuldigte sich gleichzeitig, daß viele Krankenberichte nur deshalb
unbeantwortet geblieben wären, weil der viele persönliche Besuch ihn daran
gehindert hätte.50
Die zahlreichen Bittgesuche dankbarer Patienten an den König verhalfen
Pantillon und Lutze indessen immer wieder zu Ausnahmegenehmigungen
und ermöglichten ihnen das Weiterpraktizieren. Sogar die am 14. April
gegen Pantillon bereits verfügte Ausweisung wurde aus diesem Grund auf
allerhöchsten Befehl ausgesetzt.
Am 16. Mai 1845 wurde Lutze dann offiziell die Praxis verboten, da er
»sich geweigert, das vorgeschriebene Staats-Examen zu machen.« Gendarmen hielten die Kranken von Lutzes Haus fern.51 Auf Lutzes Beschwerde
beim König veranlaßte dieser allerdings, daß die Gendarmen wieder abgezogen wurden. Lutze veröffentlichte daraufhin einen übermütigen, die Regierung kompromittierenden Artikel, in dem er sie »grober frecher Lügen«
zieh. Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) von Preußen, bis dahin Lutze stets
wohl gesonnen, konnte diese Schmähung seiner Behörden nicht hinnehmen
und entzog Lutze nunmehr erbost seine Gunst, da er sich »seiner gutwilligen Order vom 21. Oktober 1844 unwürdig erwiesen« habe und verlangte
48 Schreiben von Dr. Klug vom 27. Januar 1845 aus Berlin an Staatsminister Eichhorn
(wie Anm. 7).
49 Vgl. Erste Beilage zur Königl. privilegierten Berlinischen Zeitung, Nr. 21, 25. Januar
1845.
50 Vgl. Erste Beilage zur Königl. privilegierten Berlinischen Zeitung, Nr. 29, 4. Februar
1845.
51 Nr. 20 des Regierungs-Amtsblatts vom 16. Mai 1845; vgl. Lutze (1866), S. 209f.
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Hartmut Bettin, Ulrich Meyer, Christoph Friedrich
ausdrücklich dessen Bestrafung.52 Lutze hatte obendrein, obwohl er behauptete, sich bereits im Januar bei der »homöopathischen Examinationskommission« gemeldet zu haben, aber ohne Antwort geblieben zu sein, die behördliche Auflage, einen Examenstermin festlegen zu lassen, nicht erfüllt. Es
wurde ferner festgestellt, daß eine homöopathische Prüfungskommission im
eigentlichen Sinne gar nicht existiere, sondern nur eine zur Erlangung der
Erlaubnis zur Selbstdispensation nach homöopathischen Grundsätzen.53
Diese Ereignisse markieren gewissermaßen einen Wendepunkt in Lutzes
Leben. Ihm wurde deutlich, daß er ohne die Gunst des Königs auf Dauer
nicht mehr in Preußen geduldet werden würde und versuchte den Monarchen am 24. Juni 1845 abermals zu erweichen, indem er in einer »letzten
Bitte auf deutschem Boden« klagte, »daß er durch das Verbot zu praktizieren, gezwungen sei Kranke abzuweisen, die daraufhin sogar gestorben seien«. Er bat um die Gnade einer Ausnahmegenehmigung und verwies in
diesem Zusammenhang auf ähnliche Beispiele. So »erhielt unterm 11. Juli
1843 der Regierungsrath und Kataster-Einnehmer von Bönninghausen54 zu
Münster [...] ohne Examen die völlige Praxis bewilligt.«55 Weiterhin verwies
er auf seinen Intimus, den Schweizer Professor Pantillon, der noch nicht
halb solange Homöopathie studiert hätte wie er und dennoch in Berlin un52 »Allerhöchste Kabinettsorder« vom 26. Mai 1845; veröffentlicht in der Vossischen
Zeitung Nr. 126 vom 3. Juni 1845.
53 Durch die am 11. Juni 1843 von Friedrich Wilhelm IV. erlassene »Allerhöchste Kabinettsorder« wurde das am 20. Juni 1843 verfaßte »Reglement über die Befugniß der
approbirten Medizinalpersonen zum Selbstdispensiren der nach homöopathischen
Grundsätzen bereiteten Arzneimittel« zum Gesetz. Auf dessen Grundlage konnten approbierte Ärzte nach einer Prüfung die Dispensiererlaubnis des Ministers für Medizinalangelegenheiten erlangen. Hierzu wurden neben Berlin auch in Breslau und Magdeburg Prüfungsstellen eingerichtet; vgl. hierzu Michalak (1991), S. 25-27.
54 Freiherr Clemens von Bönninghausen (1785-1864), Hahnemanns engster Vertrauter,
hatte kein Studium der Medizin absolviert, jedoch 1843 laut königlichem Dekret die
Erlaubnis erhalten, in Preußen homöopathisch tätig zu sein. Damit war er kein Einzelfall, denn auch Heinrich August Freiherr von Gersdorff (1793-1870), ein Freund
Hahnemanns und Pate dessen Sohnes, war ebenfalls ein bedeutender Homöopath, der
kein Medizinstudium absolviert hatte. Auch Dr. Georg Heinrich Gottlieb Jahr (18001875), der mit Hahnemann zusammen die ersten Arzneimittelverzeichnisse erarbeitet
hatte, war zuvor Lehrer gewesen, so daß es im Fall Lutzes kaum mehr ungewöhnlich
erscheint, daß sich ein Postsekretär zum Homöopathen aufschwang; vgl. hierzu Handley (1996), S. 176.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Homöopathen jedoch längst
nicht mehr der Hauptgegner der sich hinter dem Banner der »wissenschaftlichen Medizin« versammelnden Ärzteschaft. Man fühlte sich sehr viel stärker von den Naturärzten bedroht, die gleichfalls oft keine approbierten Mediziner, sondern heilkundige
Laien waren. Zudem hatten bis 1873 alle Bundesstaaten des Deutschen Reiches die
völlige Kurierfreiheit gewährende Gewerbeordnung übernommen; vgl. Jütte (1996), S.
36.
55 Lutze legte die betreffende allerhöchste Kabinettsorder in Abschrift bei (wie Anm. 7).
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gestört praktizieren dürfe. Doch Lutze erhielt die Ausnahmegenehmigung
nicht.
Lutze und Dr. Gustav Knape
Am 4. Oktober 1848 wurde Pantillon ultimativ unter Androhung von Strafe des Landes verwiesen. Lutze hingegen versuchte noch einmal das behördliche Verbot zu umgehen, indem er sich mit dem Allopathen Dr. Gustav
Knape56 zusammentat, um als dessen formeller Gehilfe weiter praktizieren
zu können. Dieser geriet jedoch auf Grund seines Zusammenwirkens mit
Lutze alsbald in das Visier des Innenministeriums, so daß am 7. Oktober
1845 die Polizei-Direktion beauftragt wurde, Dr. Knape »welcher sich unwürdiger Weise zum Werkzeuge des Afterarztes Lutze gebrauchen läßt«,
ihre Mißbilligung auszudrücken, »vor weiterer Beteiligung zu verwahren
und ihn wegen seines unbefugten Selbstdispensierens von Arzneien zur Untersuchung und Strafe zu ziehen«.
Knape gab an, seit 15 Jahren nach homöopathischen Grundsätzen kuriert
und dispensiert zu haben, berief sich dabei auf das Zeugnis des praktischen
Arztes Dr. Westphal57 in Berlin und bemerkte gegen den Vorwurf seines
Selbstdispensierens, daß er die Arzneimittel verschenkt habe, da sie in der
hiesigen Apotheke nicht vorhanden gewesen wären.
Die Polizei-Direktion konstatierte indessen, daß Dr. Knape keine Erlaubnis
habe, homöopathische Arzneimittel abzugeben, denn dazu sei eine spezielle
Genehmigung des Ministers für Medizinalangelegenheiten von Eichhorn
erforderlich.58
Knape führte jedoch an, daß er schon seit 15 Jahren mit ausdrücklicher
Erlaubnis des Staates selbst dispensiert habe. Sein Verhältnis zu Lutze stellte
Knape wie folgt dar:
so werde ich es anderwerts zur Entscheidung bringen, ob ich mich unwürdiger Weise
zum Werkzeug des Lutze gebrauchen lasse. Heim kostete Urin bei Zuckerharnruhrkranken, der Wissenschaft zu nutzen, Hunter Menschenfleisch, Kalow das Blut der
Cholera-Kranken, Knape benutzte des Postsecretair Lutze vielleicht unverdienten Ruf
der Wissenschaft zu nützen, keineswegs aber, als Arzt der nun 15 Jahre vielfache
schriftliche Belobigungen der königlichen Regierung zu Cösslin bei der dort herrschenden Choleraseuche aufzuweisen hat, um gegen die Gesetze zu handeln.
56 Hierbei dürfte es sich um Gustav Alexander Eduard Theodor Knape (geb. 1794) handeln, der 1823 in Berlin seine Dissertation »Monstri humani maxime notabilis descriptio anatomica« veröffentlicht hatte.
57 Wahrscheinlich ist Wilhelm Westphal (geb. 1816) gemeint, der durch seine Schrift
»De angina gangraenosa epidemica« (Berlin 1841) bekannt wurde.
58 Es hieß: »Niemand darf ohne ausdrückliche Genehmigung des Staates Arzneien zubereiten, verkaufen oder sonst anderen überlassen.«; Schreiben des Innenministeriums
vom 26. November 1845 (wie folgende Anm. 59). Vgl. auch Michalak (1991), S. 2527.
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Hartmut Bettin, Ulrich Meyer, Christoph Friedrich
Seiner dortigen Verdienste wegen hätte die königliche Regierung, wie seine
eingesandten Papiere beweisen könnten, ihm selbst zu dispensieren erlaubt,
und die Apotheker in Stolpe und Lauenburg wären beauftragt worden, ihm
Handapotheken zu liefern.59
Knape wurde das Selbstdispensieren dennoch untersagt und Lutze zum 17.
Dezember 1845 ein letzter Termin für sein Examen gesetzt. Unter Verlautbarung, daß er sich nicht von allopathischen Ärzten prüfen lassen wolle,
ließ Lutze auch diesen Termin verstreichen.
Die Polizeibehörden überwachten daraufhin Lutzes Wirken im Verbund
mit Knape auf das Genaueste. In einem Schreiben vom 5. Januar 1846 zeigte die Stettiner Polizeidirektion an, daß »Arthur Lutze am 11. Okt. v. J. in
Begleitung des Dr. Knape, jedoch nur auf einen Tag hier anwesend gewesen
und bei dieser Gelegenheit als Amanuensis [Gehilfe] des Letzteren fungirt«
hätte. Weiter hieß es: »Es fanden sich eine Menge Patienten ein, ohne daß
dadurch eine Ruhestörung herbeigeführt wurde. Der Dr. Knape examinirte
die Kranken und dictirte dem Lutze die Recepte.« Auch wurden, wie der
Bericht der Polizeidirektion vermerkte, Arzneimittel dispensiert. Auf Nachfrage, ob eine Erlaubnis zum Selbstdispensieren vorhanden sei, wies Knape
Atteste vor, wonach er länger als fünf Jahre als homöopathischer Arzt praktiziert hätte – was irrtümlich von der Polizei-Direktion als Berechtigung
angesehen wurde. Am Folgetag wollte man nach genauerer Einsicht des
Reglements vom 20. Juni 1843 das Selbstdispensieren verhindern, doch
beide waren bereits abgereist.60
Die Polizeidirektion wurde angewiesen, Lutze und Knape streng zu überwachen, vor allem sollte darauf geachtet werden, wie und auf welche Art sie
ihr Publikum von ihrer Ankunft in Kenntnis setzten und evtl. »anlockten«.
Knape, der wie bereits aus dem Vernehmungsprotokoll vom 27. Oktober
1845 hervorgeht, Lutzes Popularität nutzte, um selbst ein bekannter und
gesuchter Homöopath zu werden, stellte für Lutze zunehmend eine Gefahr
dar. Dies zeigte sich insbesondere als Knape, der in Lutzes Haus wohnte,
dessen zeitweilige Arrestierung zu nutzen versuchte, um Lutze aus seiner
Praxis zu verdrängen und ihn offenbar sogar wegen angeblicher Schulden
anzeigte. Lutze reagierte darauf mit einer Anzeige, in der er sehr ausführlich
sein Verhältnis zu Knape beschrieb:
Ich halte es für meine Christenpflicht Ew. Exc. eine im Fortgange begriffene Handlung, die ich nur nicht Betrug nennen will, weil ich fürchte, mich dadurch einer Inju59 Aus dem Protokoll einer polizeilichen Vernehmung vom 27.10.1845. In: GStA PK, I.
HA, Rep. 76 Abt. VIII A, Nr. 2231; Acta betr. den medizinischen Unfug der homöopathischen Afterärzte Arthur Lutze und Johann Pantillon Vol. 2. (1845-1869), unpaginiert.
60 Bericht des Polizeipräsidiums in Stettin vom 5.1.1846 in einem Schreiben der Regierung Abteilung des Innern, Stettin, betr. den Aufenthalt des ehem. Posts. Arthur Lutze
am hiesigen Orte, ad rescr. vom 4. Dez. 1845 (wie Anm. 59). In Stettin hatte Lutze das
Gymnasium besucht; s. Lutze (1866), S. 4.
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»Diese Bitte war ich der Menschheit schuldig«
215
rie schuldig zu machen, anzuzeigen, weil wenn dieselbe durchginge, Menschenleben
dadurch aufs Spiel gesetzt würden. Es betrifft den Dr. med. Knape aus Berlin, den
Sohn des bekannten dort verstorbenen Anatomen. Der selbe wendete sich an mich,
nachdem mir die Praxis im Juni v. J. verboten war, mit dem Vorgeben, wenn er, als
praktischer Arzt, bei mir wäre, so dürften die Kranken auch ferner abgefertigt werden.
Ich selbst war dieser Meinung und habe mich erst vom Gegentheil überzeugt, nachdem ich bei Ew. Excellenz deshalb angefragt habe und Belehrung erhalten habe. Da
ich den Charakter des p. Knape nicht näher kannte, sondern nur hörte, daß er ein gelehrter Arzt u. guter Anatom sei, so nahm ich ihn unter folgenden Bedingungen zu
mir ins Haus; ich gab ihm täglich 1 rh Diäten baar, außerdem Wohnung, Essen,
Trinken, Licht, Wäsche, mit einem Worte: seinen ganzen Unterhalt, dafür versprach
er, mich in Abfertigung meiner Kranken zu schützen, wobei es mir namentlich auf die
vielen Armen ankam, die stets bei mir Rath u. Arznei unentgeltlich erhalten hatten u.
die sonst gänzlich verlassen gewesen wären. Der Dr. Gustav Knape wollte dabei die
Homöopathie studiren und sich Ueberzeugung darin verschaffen was mich mit bewog, ihn anzunehmen, da ich wußte, daß er bisher ein Gegner derselben gewesen war;
aber die feste Ueberzeugung hatte, der größte Gegner müßte überführt werden, wenn
er die Resultate vor Augen sähe.
Als er erst bei mir war, wurde mir zwar manchmal etwas bange, wie ich sah und hörte, daß er das früheste und heiligste frech verhöhnte, u. wie ich Manches über seinen
Lebenswandel erfuhr.
Leider kam mir zu spät die Nachricht, daß er bereits seit einem Jahr in Berlin keine
Wohnung gehabt, sondern bei Leuten unangemeldet in Schlafstelle gelegen hatte. Da
mußte ich ihm Geld zur Auslösung seiner Approbation, seiner Zeugnisse, seines guten
Anzugs, seines Mantels, seiner Kriegsdenkmünze etc geben, und so schaffte er sich die
versetzten Sachen nach einander an, u. er studirte recht fleißig, ließ sich von mir instruiren und repetirte die Sachen, wobei ich mir rechte Mühe gab, ihm meine vieljährigen Erfahrungen mitzutheilen.
Da warnten mich Einige, die ihn kannten, und sagten: ›Der wird Dein Judas!‹ Andere
aus Berlin kommende zuckten die Achseln und wunderten sich, daß ich Knape zu mir
genommen hätte, es ging gut solange ich um ihn war. Kaum war ich aber meiner Injurie halber, in Arrest61, so trat er erst anmaßend gegen meine Dienstboten auf, u.
dann gegen mich selbst, indem er als Herr im Hause schalten und walten wollte. Als
er nun gar an mich zu schreiben wagte: ›ich hätte von seinen Almosen gelebt, wäre
ihm 116 rh schuldig, und Injurien halber verklagt‹ bat ich den hiesigen Stadtgerichtsdirektor um Hülfe.
Weiter berichtete Lutze, daß sich Knape, aufgefordert sein Zimmer zu räumen, auf eine Art Mietvertrag berufen habe. Zugleich empörte sich Lutze
darüber, daß Knape die hilfesuchenden Armen hintergehen würde, indem
er sich im Potsdamer Wochenblatt als homöopathischer Arzt bezeichnet
und an seine Tür »homöopathische Heilanstalt« geschrieben hätte. Damit
kam er endlich auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. Lutze warf
Knape vor, den Staat zu hintergehen, indem er sich einige unrechtmäßige
Atteste verschafft hätte, wonach er angeblich bereits vor 15 Jahren in der
Cholerazeit homöopathisch geheilt habe. Lutze erklärte hierzu: »Als der
Knape die Wirksamkeit kleinerer Gaben sah, sagte er mir: ›ich habe auch
in der Cholera oft ganz kleine (allöop.) Gaben Opium gegeben u. das hat
61 Lutze wurde sechs Wochen arrestiert; vgl. Lutze (1866), S. 253.
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Hartmut Bettin, Ulrich Meyer, Christoph Friedrich
oft geholfen, das ist schon homöopathisch gewesen‹« und führte weiter aus:
»Darüber [homöop. Heilungen vorgenommen zu haben] nun, [hätte] sich
Knape von Dr. Westphal und Dr. Levis62 Atteste ausstellen lassen, auch
[hätte] er frühere Patienten aufgefordert zu sagen sie seien homöop. geheilt
worden.« Lutze schwor, daß »Knape als er zu ihm kam die Homöopathie
nur dem Namen nach kannte, alles nur bei ihm gelernt und sich unter Zeugen noch im Mai und Juni lächerlich machend über die Homöopathie geäußert« hätte. Er selbst würde »bald Potsdam und den Preußischen Staat
verlassen«, müsse jedoch »sein Gewissen beruhigen«.63
Am 31. Januar 1846 wurde der Antrag Knapes, homöopathische Arzneimittel selbst dispensieren zu dürfen, durch das Ministerium abgelehnt, das
auch das Verhältnis zu Lutze als Grund für die Ablehnung anführte.
Ein letzter Versuch - Lutze verläßt Preußen
Lutze plante bereits während seiner sechswöchigen Arrestierung im
»Schuldzimmer« wegen Regierungsbeleidigung – er hatte an den Polizeidirektor geschrieben: »Ich hoffe, daß endlich die Verfolgungen der Regierung
aufhören werden.« – seinen Weggang aus Preußen.
Am 4. Februar 1846 erging die Order, Lutze weitere Geld- und Gefängnisstrafen zu erlassen, wenn er Preußen verließe. Laut Mitteilungen des Kammergerichts vom 6. November 1845 und 21. August 1846 war Lutze zum
einen wegen unbefugten Kurierens zu sechs Monaten Gefängnis, zum anderen wegen Anmaßung des Doktortitels zu 50 Reichstalern Strafe und
schließlich noch wegen Beleidigung der Regierung zu Potsdam zu vier Monaten Gefängnis rechtskräftig verurteilt worden.64
Zunächst plante er offenbar, nach London zu gehen, denn die Stettiner Regierung berichtete am 9. Februar 1846, daß Lutze, der
am 31. v. M. dort angekommen wäre, um von seinen hiesigen Patienten Abschied zu
nehmen, nach London65 gehen wolle, in Begleitung eines angeblichen Doctors der
62 Hier könnte Dr. Anselm Levis gemeint sein, der 1804 in Göttingen mit der med. Diss.
»Historia morbi nuperrime in puero leproso observati« promoviert wurde.
63 Brief von Lutze an Staatsminister Eichhorn vom 2. Jan. 1846 (wie Anm. 59).
64 Mitteilung des Justizministeriums vom 19.8.1848 (wie Anm. 59).
65 Lutze hatte seine Reise nach England bereits vorbereitet und sich zwei große homöopathische Apotheken schicken sowie zwei seiner Bücher ins Englische übersetzt und
drucken lassen; vgl. Lutze (1866), S. 253. Für Lutzes Pläne mag es von Bedeutung gewesen sein, daß 1844 an Hahnemanns Geburtstag (10. April) in London auf Initiative
von Frederick F. H. Quinn (1799-1878) die »British Homoeopathic Society« gegründet worden war, die ihre Aktivitäten auf die Gründung eines Homöopathischen Hospitals konzentrierte; vgl. Nicholls/Morell (1996), S. 188.
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»Diese Bitte war ich der Menschheit schuldig«
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Medizin Rentsch66 aus Mühlhausen, welcher sich durch Approbation und Vereidigungsprotokoll legitimiert hätte.67
Auch die Abschrift eines Reskripts, wonach er mit abgelegter Prüfung als
homöopathischer Arzt befugt sei, selbst zu dispensieren, hatte Rentsch vorgelegt. Allerdings zweifelte die Stettiner Polizeibehörde an deren Echtheit,
da die Abschrift nur durch ein verwischtes Siegel eines Kreisphysikus beglaubigt war, wobei der Sitz des Kreisphysikus sich als unlesbar erwies.
Lutze mußte nun mit seiner Verurteilung rechnen, da er die ihm gestellten
Auflagen nicht erfüllt und behördliche Verbote übertreten hatte. Am 18.
Februar 1846 begnadigte Friedrich Wilhelm IV. ihn höchstoffiziell, jedoch
war dies mit der Forderung verbunden, das Land zu verlassen. Lutze blieb
indessen weiterhin in Preußen und praktizierte heimlich unter dem Schutz
von Dr. Rentsch aus Mühlhausen weiter, wurde jedoch am 21. Februar
1846 von seinem Widersacher Dr. Knape angezeigt, worauf man die »Beobachtung der fortgesetzten medicinischen Pfuscherein des Arthur Lutze
unter Schilde des Dr. Rentsch aus Mühlhausen« anordnete.
Zwar meldete sich Lutze zwischen dem 1. und 4. Juli 1846 von Köthen und
Bernburg aus, doch eigentlich hielt er sich noch immer in Preußen auf, und
zwar bei Dr. Ludwig Mertens (geb. 1812)68 in Moabit, den er zur Homöopathie bekehrt hatte.69 Inzwischen wurde er von den Behörden gesucht, da
man ihn noch im Land vermutete. Laut eigener Angaben war Lutze am 24.
August 1846 schließlich in Köthen »eingezogen«.70
Die herzogliche Medizinaldirektion in Anhalt-Köthen zog Lutzes Legitimation zur Ausübung der homöopathischen Praxis zunächst in Zweifel. Die
Echtheit der vorgelegten Atteste wurde jedoch bestätigt. Das Gutachten des
bekannten Homöopathen Dr. Gustav Wilhelm Gross71 (1794-1847) aus
Jüterbog, »Mitglied der königl. Prüfungs-Commission für homöopathische
Aerzte in Berlin«, vom 27. Juni 1845 bescheinigte, daß
Lutze Hahnemanns Ansichten gut kennt, und darauf genügende Rede und Antwort
geben konnte, daß er große praktische Gewandheit und gute ärztliche Beobachtungs-
66 Hierbei könnte es sich um Georg Friedrich Sigismund Rentsch (1819-1885) gehandelt
haben, der mit der med. Diss. »De pathologia amauroseos« (Berlin 1842) promoviert
wurde.
67 Bericht der Bezirksregierung vom 9. Febr. 1846 über das fernere Verhalten des ehemal. Posts. Arthur Lutze in Stettin, ad. rescr. v. 10. Jan. 1846 (wie Anm. 59).
68 Ludwig Mertens veröffentlichte 1839 in Berlin seine med. Diss. »In tegumentis salus«.
69 Lutze (1866), S. 254.
70 Lutze (1866), S. 285.
71 Vgl. über Gross auch Lutze (1866), S. 178.
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gabe besitzt sowie die reine Arzneimittellehre wirklich studirt [habe], da er von den
meisten Mitteln den Charakter ihrer Wirkung anzugeben wisse.72
Der „Medizinalrath und Ritter pp“ Dr. Ernst Stapf (1788-1860), ebenfalls
Mitglied der königlichen Prüfungskommission homöopathischer Ärzte in
Berlin, attestierte Lutze am 9. September 1846
eine ihm eigenthümliche scharfe Beobachtungsgabe und daß er reine Homöopathie
betreibt, im Gegensatz zur sich neuerdings (in unserer Zeit) geltend machenden mißbräuchlichen sogenannten spezifischen73 Methode.74
Am 30. Oktober 1846 erhielt Lutze schließlich – wieder unter dem Druck
vieler Bittschriften von Patienten – von Herzog Heinrich zu Anhalt-Köthen
(1778-1847) die vorläufige Erlaubnis, für drei Monate im Land zu bleiben
sowie die Genehmigung, nach den Regeln der Homöopathie selbst zu dispensieren, allerdings mit der Auflage, wöchentlich die Namen und Krankheiten der Patienten zu melden. Obwohl Lutze seit dem 18. Mai 1850 ein
reguläres Doktordiplom75 der Universität Jena vorweisen konnte und sich
im Januar 1851 erneut einer Prüfung, diesmal durch den Hofrat und Mitstreiter Hahnemanns Dr. Karl Julius Aegidi (1795-1874)76 sowie Dr. Ludwig Mertens in Berlin, unterzogen hatte, war das Mißtrauen der anhaltinischen Behörden noch nicht völlig ausgeräumt, denn es gab weitere Nachfragen bei den preußischen Ämtern. In einem Schreiben des preußischen
Staatsministers an das herzoglich anhaltinische Staatsministerium zu
Köthen vom Februar 1851 wurde die Echtheit der Zeugnisse von Aegidi
und Mertens zwar bestätigt; allerdings fand sich wiederum der Hinweis,
daß eine besondere Prüfungskommission für »Homöopathische Ärzte« gar
nicht existiere, wohl aber eine »Prüfungs-Commission für Aerzte zur Erlangung der Erlaubnis zum Selbstdispensiren von homöopathischen Arzneien«, in der Aegidi Mitglied war. Zudem zweifelten die preußischen Behörden an dem Titel »Dr. med.«, den Lutze bis zu seiner Auswanderung nicht
besessen hatte. In einer Vernehmung bestätigten die Schreiber der Zeugnis-
72 Attest des Dr. Wilhelm Gross, Mitglied der königl. Prüfungs-Commission für homöopathische Aerzte in Berlin vom 27. Juni 1845, Jüterbog (wie Anm. 59).
73 Bei den »Spezifikern« handelt es sich um eine »naturwissenschaftlich-kritische« Richtung innerhalb der Homöopathie, die bemüht war, aktuelle Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Forschung zu berücksichtigen und daher neben der Homöopathie
auch andere Möglichkeiten der Krankheitsheilung anerkannte. Vgl. dazu Lucae
(1998). Hauptrepäsentant der spezifischen Methode war Ludwig Griesselich (18041848); zu Griesselich vgl. Faber (1996), S. 255-269; Tischner (1939), S. 483ff.
74 Attest des Medizinalrath Ritter pp D. Stapf, Mitglied der königl. PrüfungsCommission homöopathischer Aerzte in Berlin am 9. September 1846 (wie Anm. 59).
75 Vgl. Streuber (1996), S. 170.
76 Zu dem Homöopathen Karl Julius Aegidi; vgl. Deutsches Biographisches Archiv II
11, 183, sowie Streuber (1996), S. 170f., Anm. 52.
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se zwar deren Echtheit, verwiesen aber darauf, daß keine vollständige Prüfung in allen Fächern der Medizin erfolgt wäre.77
Dennoch reichte dies aus, um die Bedenken der Köthener Behörden grundsätzlich zu zerstreuen, und im Juli 1851 gestattete eine Ministerialverfügung
Lutze die homöopathische Praxis bis auf weiteres.78
Sehnsucht nach der Heimat
Lutze, der sich mit dem Kauf eines Grundstücks in der Springstraße im
Jahre 1847 bereits dauerhaft in Anhalt-Köthen niedergelassen,79 hier noch
im Frühjahr 1849 eine zeitweilige »komfortable« Arrestierung80 auf der
Grundlage der in Preußen verhängten Freiheitsstrafe abzusitzen hatte, faßte
bald Fuß in Köthen, wo er im Oktober 1854 den Bau seiner Homöopathischen Heil- und Lehranstalt begann, der zum 100. Geburtstag Hahnemanns
am 10. April 1855 vollendet wurde.81 Dennoch zog es ihn immer wieder
zurück in seine preußische Heimat.
Sein erster Rückkehrversuch stand in Zusammenhang mit einer Epidemie
in Oberschlesien. Lutze zeigte dem Staatsminister am 16. Februar 1848 von
Köthen aus an, sich in die Unglücksorte begeben zu wollen, um den dort
herrschenden Typhus homöopathisch zu heilen. Er verwies dabei auf Erfolge bei der Behandlung der Krankheit, insbesondere darauf, daß er eine
glänzende Praxis in Köthen,
eine Heilanstalt führ(e), die ganz gefüllt (sei), in der u. a. zwei Engländer, zwei Russen
und Dr. med. Moldenhawer82 aus Berlin leb(t)en, so daß er aus reiner Menschenliebe
gewillt (sei) zu helfen.
Lutze betonte seine Selbstlosigkeit, da er u. a. bereit sei, seine Gattin83, die
er erst im November geheiratet hatte, dafür zu verlassen, doch »er wolle all
diese Opfer auf sich nehmen um den Armen zu helfen«. Er gab zudem zu
77 Mitteilung des Polizei-Präsidiums vom 8. März 1851 (wie Anm. 59).
78 Historisches Museum Köthen: Handschriftenbestand, Acta, die dem homöopathischen Arzte Arthur Lutze aus Potsdam gnädigst ertheilte Erlaubniß zur temporären
Niederlassung in Köthen und zur Ausübung der ärztlichen Praxis betreffend. 18461854. Abteilung des Innern u. d. Polizei. H[erzogliche] Regierung zu Köthen. V S 164,
S. 335; vgl. Streuber (1996), S. 171.
79 Vgl. Streuber (1996), S. 167.
80 Lutze durfte im Hause des Gefängnisaufsehers täglich Sprechstunden abhalten; vgl.
Anhalt-Cöthensche Zeitung Nr. 33 vom 25.4.1849.
81 Vgl. Streuber (1996), S. 176.
82 Wahrscheinlich ist Karl Friedrich Wilhelm Moldenhawer gemeint, der mit der med.
Diss. »De varia ustionem adhibendi Ratione apud Hippocratem« (Berlin 1818) promoviert wurde.
83 Lutze heiratete Auguste Lautsch (1823-1900) eine Pfarrerstochter aus Aschersleben;
vgl. Streuber (1996), S. 167.
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bedenken, daß homöopathische Arzneimittel aus den Händen Unkundiger
und Unerfahrener hierbei möglicherweise nicht mit Erfolg anzuwenden
seien.84
Lutzes Ziel war es anscheinend, in Oberschlesien die Überlegenheit der
homöopathischen Heilmethode bei der sogenannten »Hungertyphusepidemie«85 von 1848 unter Beweis zu stellen, so wie es Hahnemann und anderen Homöopathen bei der Cholera gelungen war. Lutze versprach sich
hiervon offenbar einen beträchtlichen Reputationsgewinn, der ihm letztlich
die Rückkehr nach Preußen ermöglichen sollte.86
1853 weilte Lutze wahrscheinlich ohne Wissen der preußischen Behörden
in Putbus auf der Insel Rügen, eigentlich, wie er schrieb, »um in der Stille,
an meinem ›Lehrbuche der Homöopathie‹ arbeiten zu können« 87, wovon
er jedoch durch zahlreiche Hilfesuchende abgehalten wurde.
Er engagierte sich auch auf andere Weise in Preußen, wie aus der Anzeige
des Kreisphysikus Dr. Timpf zu Loewenburg aus dem Jahr 1857 hervorgeht, wonach Lutze von Köthen aus eine Art Agentengeschäft zum Vertrieb
seiner Arzneimittel in Siebenthal (Preußen) unterhielt.88 August Schoen
übernahm anstelle Lutzes Aufträge von Kranken und verschaffte diesen
»von dem Dr. Lutze in Coethen ärztliche Rathschläge und Arzneien«. Dafür soll er jedoch einen übermäßigen Zuschlag genommen haben. Die
Vermittlung von Geschäften usw. wurde als Verstoß gegen die Gewerbeordnung gewertet, da hierfür eine Erlaubnis erforderlich war. Man befürch-
84 Lutze an den Staatsminister, Koethen 16. Februar 1848, Lutze unterschrieb als: »herzogl. Anhalt-Coethenscher approbirter Arzt« (wie Anm. 59).
85 Rudolf Virchow (1821-1902) räumte 1868 rückschauend ein, daß diese seinerzeit von
ihm als Hungertyphusepidemie gekennzeichnete Seuche anhand der Symptome wohl
eher als eine Fleckfieberepidemie angesehen werden müsse; vgl. Virchow (1868), S.
13.
86 Zur Jahreswende 1847/48 brach in Schlesien eine Seuche aus, an der 16.000 Menschen starben und fünfmal so viele erkrankten. Die Mediziner sprachen von Hungertyphus. Der König soll, wie August Varnhagen am 28. Februar in seinem Tagebuch
vermerkte, von dem Notstand infolge der »oberschlesischen Hungerpest« erst durch
die Zeitungen erfahren haben, worüber er sehr aufgebracht gewesen sei. Daraufhin
wurde eine wissenschaftliche Abordnung nach Oberschlesien entsandt, in der sich
auch Rudolf Virchow befand, der in seinen »Mitteilungen über die in Oberschlesien
herrschende Typhus-Epidemie« eine umfassende Studie über das Notstandsgebiet erstellte; Varnhagen von Ense (1986); Vasold (1990), S. 66f.
87 Lutze (1866), S. 300.
88 Reg. Abt. des Innern in Berlin an Staatsminister Raumer, betr. die Kuren des Dr.
Lutze in Coethen, Liegnitz, den 10.2.1857 (wie Anm. 59).
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tete zudem, daß Lutze diese Unternehmungen auch auf andere Teile Preußens ausdehnen würde.89
1860 scheiterte dann ein erneuter Versuch Lutzes, mit Unterstützung Berliner Patienten eine dauerhafte Rückkehr in die Heimat zu erreichen am Widerstand der preußischen Behörden, obwohl sein Anliegen durch eine Petition hunderter Berliner Bürger, die baten »den Dr. med. Arthur Lutze in
Köthen zur Errichtung einer Klinik und Ausübung der Homöopathie nach
Berlin« zu berufen, gestützt wurde.90
Doch Lutze wünschte offensichtlich um jeden Preis, wenn auch nur für einen Krankenbesuch, nach Preußen zurückzukehren, und so bat er am 8.
Dezember 1860 erneut, einen Pockenkranken in Danzig behandeln zu dürfen.91 Anscheinend glaubte er fest an die Prophezeiung eines Wahrsagers,
der ihm die Rückberufung nach Preußen vorhergesagt hatte.92 Über Regierungsrat Türk organisierte er die Ausbildung seines Sohnes Ernst Arthur
Lutze (geb. 1848)93 am Gymnasium in Potsdam von 1861 bis 1870.94 Verzweifelt suchte er schließlich um 1864 um einen Paß oder Heimatschein
nach, der ihm jedoch verweigert wurde.95
Lutze berief sich in seinen Bittschriften immer wieder darauf, daß er formell
nie aus den preußischen Diensten entlassen worden wäre und somit noch
preußischer Untertan sei. Ihm wurde jedoch mitgeteilt, daß er seine staatsbürgerlichen Ansprüche infolge Verjährung und nach mehr als zehnjähriger Abwesenheit verloren hätte.96 1867 stellte man definitiv fest, daß »Lutze
seit 1857 nicht mehr als preußischer Untertan zu betrachten« sei.97
89 In seiner Köthener Klinik produzierte Lutze in großem Umfang selbst homöopathische Heilmittel und vertrieb diese neben seinen Büchern und Broschüren, in denen er
gleichzeitig für seine Produkte warb, auch per Versand; vgl. Wolff (1996), S. 107.
90 An Staatsminister Herrn [Moritz August] von Bethmann Hollweg [gest. 1877] zu Berlin, Potsdam den 27.5.1860 (wie Anm. 59).
91 Schreiben Lutzes vom 8.12.1860 (wie Anm. 59).
92 Vgl. Lutze (1866), S. 255.
93 Zu dem späteren Arzt Ernst Arthur Lutze vgl. Deutsche Schriftstellerwelt 2 (1899), No.
11, S. 1.
94 Brief von A. Lutze an Karl Türk vom 21.3.1866; Berlin, Staatsbibliothek der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz, Handschriftensammlung, Nachlaß: Arthur Lutze, Brief Nr.
6.
95 An Staatsminister Herrn Grafen zu Eulenburg zu Berlin betr. Lutze, Potsdam den
31.7.1869 (wie Anm. 59).
96 Daß er formell nie entlassen worden ist, wird bestätigt, jedoch angeführt, daß seine
Zugehörigkeit nach 27 Jahren Abwesenheit vom Postgeschäft als erloschen betrachtet
werden könne, zumal er ja nie etatmäßig, sondern immer nur diätarisch angestellt gewesen wäre; vgl. Schreiben an den Staatsminister [Botho] Graf zu Eulenburg (18311912) zu Berlin, betr. Lutze, Potsdam den 31.7.1869 (wie Anm. 59).
97 Königl. Reg. Abt. d. Innern 1867 (wie Anm. 59).
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Selbst das Tragen eines Ordens verwehrten ihm die preußischen Behörden,
als er am 9. März 1869 um die Erlaubnis zur Anlegung des ihm verliehenen
Mecklenburg-Strelitzschen Ordens der Wendischen Krone in Preußen bat.
Lutze merkte hierbei an, daß er am Hofe des Großherzogs »seit mehreren
Jahren als homöopathischer Arzt aussgeholfen« hätte.98
Am 11. April 1870 schließlich, »betrauert von Tausenden und Abertausenden, denen er Hülfe und Linderung der körperlichen Leiden gespendet hatte«,99 nahm Lutze die unerfüllte Sehnsucht nach seiner Heimat Preußen mit
ins Grab.
Diskussion
Die homöopathischen Laienheiler des 19. Jahrhunderts bezogen einen großen Teil ihrer Legitimation aus ihrer Popularität beim sogenannten »Publikum«100. Laienpraktiker wirkten in dieser Zeit jedoch nicht nur auf dem
Gebiet der Homöopathie, sondern verwendeten auch andere Heilmethoden,
wie den »tierischen Magnetismus«101, den »Baunscheidtismus«102 sowie naturheilkundliche Verfahren103.
Die von Freytag herausgearbeiteten Vorgänge um den Laienmagnetiseur
und ehemaligen Kutscher Georg Heinrich Pflüger, der ebenfalls in den
1840er Jahren in Preußen wirkte, zeigen bemerkenswerte Parallelen zu Lutze. Auch Pflüger versuchte von den preußischen Behörden eine Legitimation für seine Therapien zu erwirken, wobei er sich gleichfalls auf Testate von
Patienten und approbierten Medizinern stützen konnte. Er war den preußischen Behörden suspekt geworden und wandte sich daher wie Lutze direkt
an den preußischen König. Ebenso beschränkte sich Pflüger nicht nur auf
eine Heilmethode und verdiente am Verkauf selbsthergestellter Arzneien.
Derartige Fälle der illegalen Ausübung alternativer Heilverfahren durch
Nichtapprobierte sind auch aus anderen Ländern bekannt. Ein namhaftes
Beispiel hierfür ist Mélanie Hahnemann (1800-1877), die zweite Frau Sa98 Auf die Bitte Lutzes zum Tragen des »Ritterkreuzes des Ordens der Wendischen Krone« des Großherzogs von Mecklenburg-Strelitz vom 9.3.1869 erging am 27.9.1869
vom Preußischen Minister des Innern der Bescheid an Lutze, daß er kein preußischer
Untertan mehr sei und den Mecklenburg-Strelitzschen Orden daher nicht in Preußen
tragen dürfe (wie Anm. 59).
99 Deutsche Schriftstellerwelt. II. Jg. Berlin, den 1. Juni 1889.
100 Die Bedeutung des sogenannten »Publikums« für die Homöopathie betonte besonders
der Dresdener Homöopath und Hydrotherapeut Bernhard Hirschel (1815-1874).
Hirschel äußert sich auch zu den Ursachen der Verbreitung der homöopathischen
Laienpraktiker; vgl. Hirschel (1851), S. 12-19.
101 Vgl. hierzu und zu weiteren Beispielen Freytag (1997).
102 Vgl. hierzu Müller (1970), S. 100-107.
103 Zu den Naturheilverfahren vgl. auch Rothschuh (1983) und Jütte (1996), S. 115-178.
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muel Hahnemanns. Ihre Auseinandersetzung mit den französischen Behörden erinnert an Lutzes Ringen mit den preußischen Instanzen. Mélanie
praktizierte nach dem Tod ihres Mannes ohne ärztliche Approbation in
Paris weiter, geriet dadurch unter Anklage, wobei gegen sie in einem am 20.
Februar 1847 eröffneten Prozeß ähnliche Vorwürfe erhoben wurden wie
gegen Lutze. So beschuldigte man sie, auf Visitenkarten den Titel »Docteur
en médecine« unrechtmäßig geführt sowie Medizin und Pharmazie illegal
ausgeübt zu haben. In ihrer Verteidigung berief sie sich wie Lutze auf ein
Diplom von Constantin Herings Allentown Academy of Homoeopathy in
Pennsylvania, das sie 1840 noch auf Fürsprache ihres Mannes erhalten hatte. Mélanie Hahnemann argumentierte, daß sie nur beratend bzw. mittelbar
über anerkannte und zugelassene Ärzte homöopathisch tätig gewesen wäre
und in der Pharmazie die Dienste des qualifizierten Pharmazeuten Charles
Lethière benutzt hätte.104
Solch erfolgreiche Vertreter alternativer Heilmethoden stellten für die allopathisch orientierten Mediziner, aber auch für die Apotheker105 eine bedrohliche Konkurrenz dar und wurden daher mit besonderem Argwohn
betrachtet. Der eigentliche Erfolg der Homöopathie in dieser Zeit resultierte
nicht zuletzt auch aus dem Versagen der »aderlassenden« Medizin bei der
Behandlung der Cholera zwischen 1830 und 1836, während die Homöopathie hier Erfolge verzeichnen konnte.106 Aber auch der mögliche niedrige
Preis homöopathischer Arzneimittel vergrößerte den Zulauf zu den homöopathischen Laienheilern beträchtlich. In einer Phase der Massenverarmung
einerseits und teurer medizinischer Behandlungen andererseits bot die von
Laienpraktikern betriebene Homöopathie »durch die Wohlfeilheit der
durch sie bewirkten ärztlichen Hülfe«107 und wegen der geringen Kosten der
selbst hergestellten Arzneimittel eine günstige Alternative. Die Homöopathie
kam hierbei häufig auch in Verbindung mit anderen weitgehend arzneimittellosen alternativen Heilverfahren zur Anwendung. Auch Lutze nutzte geschickt eine Lücke auf dem medizinischen Markt, indem er gegen geringes
Entgelt massenweise Behandlungen von Patienten aus den ärmeren Bevölkerungsschichten zumal in kleineren Städten und Ortschaften vornahm. Er
vertrat damit eine sozial verträgliche Medizin.
Die starke Verbreitung der homöopathischen Laienpraxis erklärt sich außerdem aus der Einfachheit der verordneten Arzneimittel, der Verabrei104 Vgl. Handley (1996), S. 176-184.
105 Der Apotheker Ludwig Franz Bley (1799-1868) in Bernburg beklagte bereits 1835
seine Einbußen durch die Konkurrenz der Homöopathen. In einem Brief vom 9. Oktober an Johann Bartholomäus Trommsdorff (1770-1837) teilte er u. a. mit: »allein die
Homöopathie u[nd] die Entwöhnung von Arzneien, [...] machen das Geschäft jetzt gering«; vgl. Götz (1987), S. 100.
106 Scheible (1994), S. 70-76.
107 Stens (1848), S. 21.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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224
Hartmut Bettin, Ulrich Meyer, Christoph Friedrich
chung sowie der häufigen Wiederkehr der Polychreste. Von der allopathischen Medizin weitestgehend abgelehnt, erhoben die Homöopathen die
Anleitung zur Selbstmedikation zu einer wichtigen Aufgabe108 und regten
damit einen großen Kreis von Laien zur Beschäftigung mit der Homöopathie an.109 Diese organisierten sich teilweise in Laienvereinen, wie sie zuerst
im Cholerajahr 1832 in Thüringen entstanden waren110, oder schwangen
sich verschiedentlich, wie im Falle Lutzes, anhand der verbreiteten homöopathischen Literatur zu ambulanten Heilpraktikern auf. Diese »wandernden« Homöopathen profitierten von dem zu allen Zeiten verbreiteten Wunderglauben. In der Mundpropaganda wurden die »Heilungswunder«, ähnlich wie die Mirakel der Wallfahrtstätten, verklärt und erfuhren eine außerordentliche Popularisierung. Dementsprechend setzte Lutze seine Auftritte
wirkungsvoll in Szene.
Bis zu seiner Examinierung umging Lutze ohne Approbation die Medizinalgesetze, wobei ihm immer wieder das dankbare »Publikum« und seine
Fähigkeit zur wirkungsvollen Selbstdarstellung zu »allerhöchsten« Ausnahmeregelungen verhalfen. Auffällig ist, daß er zeitweise sogar den preußischen König für sich einzunehmen wußte. Selbst nach dem endgültigen
Verbot seiner homöopathischen Tätigkeit praktizierte er unter dem Deckmantel verschiedener approbierter Ärzte weiter, die ihrerseits von der Popularität Lutzes zu profitieren hofften.
Als er von der Wanderpraxis zur Gründung seiner Homöopathischen Klinik in Köthen schritt, hob er sein Wirken auf eine neue Stufe. Diese Gründung stellte eine der wenigen erfolgreichen Institutionalisierungen der Homöopathie auf klinischem Gebiet dar, Hahnemanns Popularität in Köthen
hatte hierfür den Boden bereitet. Arthur Lutze blieb, obgleich ihm erst in
Köthen endgültig die Zulassung seiner homöopathischen Praxis gewährt
wurde und er erst hier durch seine Heilanstalt zu überregionalem Ansehen
und zu einem beträchtlichen Vermögen gelangte, dennoch seiner Heimat
Preußen eng verbunden. Bis zu seinem Tode hoffte er immer noch, nach
Preußen zurückkehren zu können.
108 Lutze bot schriftliche Anweisungen zur Selbsthilfe gegen Cholera, Zahnschmerzen,
»häutige Bräune« und Pocken zum Verkauf an.
109 Die der asiatischen Akupunktur entlehnte Methode der Behandlung mit dem Baunscheidtschen »Hautbeleber« erfuhr nach anfänglichem Interesse eine wachsende offene
Ablehnung durch die Ärzteschaft, denn mit Zunahme der Selbstbehandlung durch
Kranke, der Veröffentlichung von Berichten Geheilter und dem Zulauf, den Baunscheidt daraufhin erfuhr, wurde der Baunscheidtismus zur bedrohlichen Konkurrenz
für die konventionelle allopathische Medizin; vgl. Müller (1970), S. 104.
110 Diese ersten homöopathischen Laienvereine entstanden eher situationsbedingt infolge
eines Mangels an homöopathischen Ärzten während der Choleraepidemie. Die Mitglieder der Vereine behandelten sich, mit homöopathischen Ärzten in Verbindung
stehend, selbst; Vgl. Wolff (1992), S. 205f. Erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts
traten die Laienvereine mehr und mehr in die Öffentlichkeit und wurden ein wichtiger
Faktor für die Verbreitung der Homöopathie; vgl. hierzu Karrasch (1998), S. 122.
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
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»Diese Bitte war ich der Menschheit schuldig«
225
In der hier beschriebenen »preußischen Zeit« erwarb Arthur Lutze wichtige
Erfahrungen als Laienheiler. In Preußen begann sein Aufstieg zum erfolgreichen Homöopathen. In diesen Jahren knüpfte er richtungsweisende Kontakte zu bedeutenden Heilkundigen und schuf einen großen Teil seines erfolgreichen Schrifttums. Insofern war diese Zeit mehr als nur ein Köthener
Vorspiel.
Abb. 2: Weberhaus, Friedrichstr. 5 (jetzt Gartenstr. 5); Museum Potsdam, Inv. Nr. 81-05283-12.
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226
Hartmut Bettin, Ulrich Meyer, Christoph Friedrich
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Der Einfluß der Ersten Wiener Schule auf das Arzneiverständnis bei Samuel Hahnemann
Urs Leo Gantenbein
Summary
The First School of Vienna and Samuel Hahnemann’s Pharmaceutical Techniques
The First or Elder Vienna School of Medicine was initiated by Gerard van Swieten, the
famous pupil of Herman Boerhaave. The aim of this school was to put medicine on new
scientific foundations – promoting unprejudiced clinical observation, botanical and chemical research, and the introduction of simple but powerful remedies.
One of the products of this school was Anton Störck (1731-1803), appointed Director of
Austrian public health and medical education by Empress Maria Theresia Following the
tradition of the Vienna School, Störck was the first scientist to systematically test the effects
of so-called poisonous plants (e.g., hemlock, henbane, meadow saffron). Discovering new
therapeutic properties in previously dreaded plants, Störck used himself as a subject in
experiments to determine tolerable dose levels. As a result of his investigations, Störck was
able to successfully treat his patients using the drugs he discovered.
Samuel Hahnemann’s later writings, including his “Organon”, show that he was
considerably influenced by Störck’s ideas. In fact, Hahnemann’s clinical teacher at Vienna
was a follower of Störck, Joseph Quarin. Hahnemann’s elaborate system of validating
homeopath material can be seen as a development and refinement of the techniques he
learned in Vienna.
Einleitung
Wie bekannt, nannte Samuel Hahnemann in der Einleitung zu seinem Organon der Heilkunst einige Ärzte, die sein Simile-Prinzip antizipiert hatten,
die also »ahneten, daß die Arzneien durch ihre Kraft, analoge KrankheitsSymptome zu erregen, analoge Krankheits-Zustände heilen«.1 Zu diesen
Vorläufern der Homöopathie zählte er unter anderen den Arzt Anton
Störck (1731-1803), der ein Hauptträger der in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts florierenden Ersten Wiener Schule war. Störck hatte 17601771 in mehreren Schriften die Ergebnisse seiner experimentellen Heilmittelforschung vorgestellt, die in ganz Europa für Aufsehen sorgten und zu
einer ausgedehnten Polemik führten. Im Tier- und Patientenversuch und,
was ein aufsehenerregendes Novum war, auch im Selbstversuch hatte er
mehrere Giftpflanzen auf ihre möglichen Heilwirkungen hin geprüft. So
hatte Störck 1762 in seinem Untersuchungsbericht zu den arzneilichen Eigenschaften des Stechapfels, Bilsenkrauts und Eisenhuts folgende, von
Hahnemann wörtlich angeführte Vermutung geäußert:
1
Schmidt (1992), S. 62. Zitate aus dem Organon werden im Folgenden der textkritischen Ausgabe der 6. Auflage des Organons von Josef M. Schmidt entnommen.
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Urs Leo Gantenbein
Wenn der Stechapfel den Geist zerrüttet und bei Gesunden Wahnsinn hervorbringt,
sollte man dann nicht versuchen dürfen, ob er bei Wahnsinnigen durch Umänderung
der Ideen gesunden Verstand wiederbringen könne?2
Tatsächlich scheint Störck hiermit vierzig Jahre vor Hahnemann das Simile-Prinzip wenigstens als Idee formuliert zu haben.3 Als Ausgangspunkt zu
seiner Vermutung hatten Störck die Äußerungen einiger alter Autoren gedient, daß der Stechapfel bei innerlicher Einnahme den Geist verwirre,
Wahnsinn herbeiführe, die Gedanken und das Gedächtnis auslösche und zu
Krämpfen führe.4 Allerdings ging Störck noch nicht von einem allgemeinen
Heilprinzip aus, so wie es Hahnemann später vorschwebte, sondern die vermutete Umkehr der Gift- in eine Heilwirkung diente ihm lediglich zur Auffindung möglicher allgemeiner und somit nicht individualisierter Heilindikationen der von ihm neu erprobten Giftpflanzen.
Trotzdem nahm Tischner diese verblüffende Vorwegnahme des SimilePrinzips zum Anlaß, sich näher mit Störck zu beschäftigen.5 Er meint feststellen zu können, daß wenn man die Krankengeschichten Störcks durchsehe, dieser den Versuch gemacht habe, seine »sehr spärlichen Prüfungsergebnisse und auch die Angaben Früherer im Sinne des Ähnlichkeitsgrundsatzes zu verwenden«; dies sei nicht nur beim Stechapfel der Fall, sondern
auch bei der Prüfung des Bilsenkrauts, wo Störck auf Grund von den durch
diese Pflanze hervorgerufenen Vergiftungserscheinungen mit Erregungszuständen und Krämpfen vorwiegend Kranke mit solchen Symptomen behandelt habe.6 Wenn Störck in seiner Schrift über die Küchenschelle (Pulsatilla
pratensis Mill., Anemone pratensis L.) berichtet, daß bei der Einnahme der
2
Schmidt (1992), S. 63. Im lateinischen Original spricht Störck, Libellus (1762), S. 8f.,
seine Vermutung zusätzlich für Krämpfe aus: »Si Stramonium turbando mentem adfert insaniam sanis, an non licet experiri: num insanientibus & mente capitis turbando,
mutandoque ideas, & sensorium commune adferret mentem sanam, & convulsis tolleret contrario motu convulsiones?«
3
Noch viel früher und deutlicher hatte Paracelsus das Heilprinzip nach dem Ähnlichen
ausgesprochen, so daß Hahnemann schon zu Lebzeiten wiederholt der Vorwurf des
Plagiats gemacht wurde. Vgl. hierzu die Diskussion und Literaturzusammenstellung
bei Gantenbein (1999). Obwohl Hahnemann mit seiner immensen Kenntnis der chemischen und der pharmazeutischen Literatur mehrfach auf Paracelsus aufmerksam geworden sein mußte, erwähnt er diesen in seinem Gesamtwerk mit keinem Wort. Einzig bei der »Beleuchtung der Quellen der gewöhnlichen Materia medica« im 3. Band
der »Reinen Arzneimittellehre« verspottet Hahnemann, in Anspielung auf die Paracelsis-ten, die »Thorheit jener ältern Aerzte«, die Arzneimittel nach der Signatur bestimmten, vgl. Hahnemann (1822/27), Bd. 3, S. 21. Dabei kam Hahnemann nicht
umhin, bei seiner deutschen Übersetzung von William Cullens Arzneimittellehre, Cullens zwar kritische, doch mitunter auch lobende historische Bemerkungen zu Paracelsus und die Paracelsisten zu übersehen, vgl. Cullen (1790), Bd. 1, S. 22-27, 36.
4
Störck: Libellus (1762), S. 8.
5
Tischner (1932), S. 79-88.
6
Tischner (1932), S. 81f.
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Der Einfluß der Ersten Wiener Schule
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Pflanze als einziges Symptom seine alte Augenverletzung wieder zu schmerzen begonnen und er durch deren Gabe bei Augenkrankheiten gute Resultate erzielt habe, so spannt Tischner den Bogen zu weit, wenn er aus diesem
Umstand schließen will, daß Störck hier »mehr und bewußter denn je«
nach dem Simile-Prinzip gehandelt habe.7 Es ist unverkennbar, daß Tischner mitunter versuchte, homöopathisches Denken in Störck hineinzuinterpretieren und seine Argumentation in diesem Fall allzusehr durch die Sichtweise der zeitgenössischen Homöopathie geprägt war. Das wird besonders
dann deutlich, wenn er die Leistungen Störcks an den schon ausgereiften
Konzepten Hahnemanns messen will. So spricht Tischner von einem »eigentümlichen Schwanken« Störcks, indem dieser die Symptome »bald nach
dem Simile, bald nach dem Contrarium« auswerte, und bedauert, daß
Störck »seine große Aufgabe im Beginn unvollendet liegen ließ« und »seine
beiden guten Einfälle«, nämlich die Behandlung nach dem Ähnlichkeitsgesetz und die Prüfung am Gesunden, nicht weiterverfolgt und ausgebaut habe.8
Wie nachfolgend gezeigt wird, kam Hahnemann bereits 1777 in seiner Wiener Studentenzeit mit den neuen Medikamenten Störcks in Kontakt und
verwendete diese in seiner vorhomöopathischen Zeit ausgiebig. Hahnemann dürfte also schon sehr früh und lange vor seinem berühmten Versuch
mit der Chinarinde im Jahre 1790 mit Störcks Vermutung der umgekehrten
Giftwirkung des Stechapfels konfrontiert worden sein. Dies ist ein weiteres
Indiz dafür, daß der Chinaversuch kein Newtonscher Apfel im Sinne eines
genialen Einfalls gewesen sein konnte und daß der Simile-Gedanke in
Hahnemann allmählich heranreifte.9 Es war aber nicht nur die Antizipation
des Simile-Prinzips, die Hahnemann beeinflußte, sondern vielmehr die Suche nach einer geläuterten und vereinfachten Pharmakotherapeutik als Gegenpol der sonst in der damaligen Medizin üblichen unüberschaubaren
Polypragmasie. Dieses sich Abheben von der »Vielmischerei« war aber keine Erfindung Hahnemanns, wie gerne dargestellt wird, sondern ein zentrales Anliegen und erklärtes Forschungsziel der Ersten Wiener Schule und
insbesondere Störcks. Hahnemann mochte von dorther zum Prüfen neuer
Arzneimittel angeregt worden sein, und es ist nicht gewagt zu behaupten,
daß von der Ersten Wiener Schule her die Entwicklung der Homöopathie
sozusagen als Exzeß in direkter Linie erfolgte. In diesem Licht betrachtet,
erhält man den Eindruck, daß der Chinaversuch für Hahnemann ein unverhofftes und überraschendes Wiederaufleben Störckscher Ideen bedeutete,
auch wenn er sich nicht in diesem Sinn geäußert hatte. Störcks Biographie
und seine experimentellen Arzneimittelversuche wurden einigermaßen er-
7
Tischner (1932), S. 83.
8
Tischner (1932), S. 84.
9
Vgl. dazu auch die Diskussion bei Bayr (1989), S. 41-44.
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Urs Leo Gantenbein
schöpfend durch Huege, Zumstein und Schweppe untersucht,10 lediglich die
homöopathiegeschichtliche Einordnung und Wertung stand noch aus und
soll im Folgenden versucht werden.
Anton Störck und die Erste Wiener Schule
Die medizinischen Reformbestrebungen Herman Boerhaaves (1668-1738)
übten einen nachhaltigen Einfluß auf die weitere Entwicklung der Medizin
des 18. Jahrhunderts aus. Neben einer vorurteilsfreien Bewertung der medizinischen Autoritäten und dem Unterricht am Krankenbett wertete er neben
der Anatomie auch Chemie und Botanik zu wichtigen medizinischen Hilfswissenschaften auf, deren weitere Erforschung energisch vorangetrieben
werden sollte. Als die Kaiserin Maria Theresia Boerhaaves Schüler Gerard
van Swieten (1700-1772) im Jahr 1745 nach Wien holte, befand sich das
dortige Gesundheitswesen auf einem Tiefpunkt. Mit heute unvorstellbarer
Machtfülle ausgestattet, leitete van Swieten im Sinne seines Lehrers tiefgreifende Reformen ein und machte Wien innerhalb weniger Jahre zu einem
medizinischen Zentrum ersten Ranges.11 Er bekleidete zugleich die Ämter
des Protomedicus, des ersten Arztes am Hofe, des Präses der medizinischen
Fakultät, des Studiendirektors und des obersten Zensors. Van Swietens
Kommentare der medizinischen Aphorismen Boerhaaves stiegen zu den
meist gelesenen Lehrbüchern der Medizin auf.12 Für den Unterricht am
Krankenbett und die klinische Forschung berief van Swieten 1754 mit Anton de Haen (1704-1776) einen weiteren Schüler Boerhaaves als Professor
für praktische Medizin ins Wiener Bürgerspital. Genaue Beobachtung,
Sammlung und Vergleich empirisch gefundener Fakten und deren Einordnung in das iatromechanische System des 18. Jahrhunderts gehörten zu den
erklärten Zielen dieser sogenannten Ersten Wiener Schule der Medizin.13 Es
war van Swietens Vorgabe, daß durch die Verbesserung sowohl der chemischen als auch der botanischen Ausbildung der Heilmittelschatz erweitert
und neue Substanzen und Pflanzen nach experimenteller Prüfung aufgenommen würden, und daß weiter klare Indikationen für eine einfache und
rationale Therapie herausgearbeitet werden sollten.14 So hatte beispielsweise
van Swieten das Quecksilbersublimat in die Syphilistherapie eingeführt, de
Haen die Bärentraube (Arctostaphylos uva-ursi L.) als Nierenmittel, Opi-
10 Die Werke Störcks werden inhaltlich am besten durch Huege (1940) beschrieben,
während Schweppe (1976) die medizin- und zeitgeschichtliche Einordnung samt
Nachwirkung darstellt.
11 Vgl. hierzu Neuburger (1918).
12 Swieten (1741/72).
13 Zur Ersten Wiener Schule und van Swieten vgl. u.a. Lesky (1959, 1973), Neuburger
(1921), Probst (1972), Puschmann (1884), Sigerist (1954).
14 Vgl. hierzu Schweppe (1976), S. 48-51.
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Der Einfluß der Ersten Wiener Schule
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umpräparate und insbesondere auch die Chinarinde (Cinchona officinalis
L.) als Fiebermittel experimentell und klinisch geprüft.15
Van Swieten ließ viele talentierte, jedoch mittellose Studenten der Medizin
auf seine eigenen Kosten studieren. Dies war auch bei Anton Störck der
Fall, der 1731 im süddeutschen Saulgau als Sohn eines Schmieds geboren
wurde.16 1746 kam er als Waise nach Wien, um dort Philosophie und Medizin zu studieren. Sein älterer Bruder Melchior Störck war ihm vorangegangen, hatte in Wien wohlwollende Gönner gefunden und es bis zum Professor der theoretischen Medizin gebracht, in welcher Funktion er für eine
gewisse Zeit die Vorlesungen van Swietens übernahm. Anton Störck konnte
1757 seine Doktorschrift17 vorlegen und wurde daraufhin Assistent im Bürgerspital bei de Haen. Störck muß sich bald als ein außergewöhnlich fähiger Arzt erwiesen haben, denn bereits 1758 wurde ihm im Alter von 29 Jahren die Leitung des Parzmayrschen Hospitals (des sogenannten »Bäckenhäusels«) übertragen. Getreu dem Vorbild seiner Lehrer entfaltete er unverzüglich eine ausgedehnte klinische Forschungstätigkeit, über die er in seinen
Jahresberichten Rechenschaft ablegte.18 Als ein weiteres Zeichen der hohen,
Störck entgegengebrachten Gunst ist zu werten, daß schon 1760 seine Ernennung zum kaiserlich-königlichen Hof- und Leibmedicus erfolgte.
Noch als Assistent unter de Haen hatte Störck mit der klinisch-pharmakologischen Untersuchung einiger Giftpflanzen begonnen, die er für die
Pharmakotherapie nutzen wollte. Mit einer für die damalige Zeit neuartigen
Methode testete er die jeweilige Pflanze zunächst im Tierversuch auf ihre
potentielle Gefährlichkeit, beobachtete dann die pharmakologischen Wirkungen im Selbstversuch, um dann die Pflanze in entsprechender Verdünnung beziehungsweise in steigender Dosierung ausgedehnt an seinen Patienten, bei denen die herkömmliche Therapie versagt hatte, klinisch zu erproben. Die Wahl der Indikation erfolgte teils basierend auf den Schilderungen
der Giftwirkung durch ältere Autoren, teils auf Grund der beobachteten
pharmakologischen Wirkung und teils angeregt durch ein vermutetes Simile-Prinzip. Störcks erste diesbezügliche Publikationen galten dem gefleckten
Schierling (Conium maculatum L.), von ihm selber nach dem damaligen
Gebrauch als
»Cicuta« bezeichnet.19 Sie enthalten mehrere Krankengeschichten, die von zum Teil erstaunlichen Heilerfolgen in zum Teil
hoffnungslosen Fällen berichten, dies vor allem bei gewissen Tumor15 De Haen (1756-1772) setzte seine Resultate in der fortgesetzt erscheinenden »Ratio
medendi« auseinander.
16 Zu Störcks Biographie vgl. außer den allgemeinen Werken zur Medizingeschichte
Wiens Hirsch (1934); Huege (1940); Pagel (1971); Schweppe (1976), S. 22-26;
Schweppe (1982), S. 342-344; Zumstein (1968), S. 9-12.
17 Störck (1757).
18 Störck (1760/61).
19 Störck (1760), Libellus (1761), Supplementum (1761).
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Urs Leo Gantenbein
patienten. Störcks Ergebnisse waren um so bedeutender, als van Swieten an
den Therapieversuchen regen Anteil nahm und die Heilungen persönlich
kontrollierte.
Trotzdem wurde Störck von einer heftigen Polemik überrascht, die sich unmittelbar um seine neuartige Therapiemethode entspann und sich mehrere
Jahre hinzog.20 Die Ärzte waren einerseits skeptisch wegen dem Vergiftungstod durch den Schierlingstrank, den Sokrates erlitten hatte, andererseits wurden Störcks Zubereitungsvorschriften nicht genau befolgt, so daß
die nun allerorts durchgeführten Versuche mit der Cicuta zu keinerlei vergleichbaren Ergebnissen führten. Befürworter und Gegner standen sich in
ganz Europa gegenüber. In Zürich setzte sich Salomon Schinz (1734-1784)
mit Nachdruck für Störck und seine Cicuta ein und übersetzte einige von
dessen Schriften ins Deutsche. Der erbittertste Gegner in diesem »CicutaStreit« war aber niemand anderes als Störcks ehemaliger Lehrer de Haen.
Noch am 4. April 1759 hatte de Haen eine Patientin mit einem häßlichen,
exulzerierten Brustgeschwür und multiplen »Scirrhi« (verhärteten Geschwülsten) am Hals, in der Achsel und im »Schoß« für einen Therapieversuch mit der Cicuta zu Störck geschickt. Allen Erwartungen zum Trotz
gelang Störck eine weitgehende Heilung.21 Die anfängliche Gewogenheit de
Haens wandelte sich jedoch bald nach Erscheinen der ersten Cicuta-Schrift
im Jahr 1760 fast schlagartig. De Haen selber war ein ausgezeichneter Kliniker und scharfer Beobachter und hatte sich vorwiegend mit seinen Untersuchungen zur Temperaturmessung Nachruhm gesichert.22 Neid gegenüber
dem kometenhaften Aufstieg seines Schülers mag bei ihm eine Rolle gespielt haben, gegensätzliche Standpunkte zwischen de Haen und Störck
zeichneten sich auch auf anderen Gebieten ab.23 So wandte sich Störck als
Primarius des Bäckenhäusels in seinen Jahresberichten vehement gegen zu
häufigen und nicht indizierten Aderlaß, da solcher den Körper unnötig
schwäche,24 dies ganz im Gegensatz zur Meinung de Haens. Ein weiterer
Streitpunkt war die Blattern-Inokulation, für die Störck eine eigene Methode
entwickelt hatte,25 die wiederum von de Haen abgelehnt wurde. Die Kaiserin entschloß sich jedoch in der Blatternfrage für Störck und ließ sich von
diesem behandeln.
20 Der »Schierlings-Streit« findet sich bei Schweppe (1976), S. 113-155, dargestellt.
21 Störck: Beobachtungen (1762), S. 39-41.
22 Zur Biographie und Bedeutung de Haens vgl. Boersma (1961-1963) und Thomae
(1976). Als medizinhistorische Kuriosität darf die Altersbeschäftigung des aufgeklärten
Klinikers Haen mit der Magie gelten, vgl. hierzu Cichon (1971).
23 Zu den Differenzen zwischen Störck und de Haen vgl. Schweppe (1976), S. 40-43 und
Schweppe (1982), S. 350-352.
24 Störck (1760/61), Ausgabe 1774, S. 4, 20.
25 Störck: Abhandlung (1771).
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Der Einfluß der Ersten Wiener Schule
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Im Zeitraum von 1760 bis 1771 veröffentlichte Störck zahlreiche weitere
Untersuchungen zu Giftpflanzen, so zum Stechapfel (Datura stramonium
L.), zum Bilsenkraut (Hyoscyamus niger L.), zum Eisenhut (Aconitum napellus L.), zur Herbstzeitlose (Colchicum autumnale L.), zum Brennkraut
(Clematis recta L.), zum Diptam (Dictamnus albus L.) und zur schwärzlichen Küchenschelle (Pulsatilla pratensis Mill., Anemone pratensis L.).
Störck wurde durch diese Bemühungen weit bekannt. Sein weiterer beruflicher und sozialer Aufstieg lag jedoch nicht nur darin begründet, sondern
auch in der hohen Gunst, die er bei van Swieten und der Kaiserin genoß.
Van Swieten hatte von Anfang an regen Anteil an Störcks Untersuchungen
gezeigt und wurde restlos überzeugt, als Störck ihn selber mit der Cicuta
von einem lebensgefährlichen Geschwür am linken Fuß heilte.26 Es war von
da an offensichtlich, daß Störck van Swietens Nachfolge antreten würde.
1766 wurde Störck Dekan der medizinischen Fakultät, 1768 Rektor der
Wiener Universität und übernahm 1771 vom erkrankten van Swieten die
Zensurgeschäfte bei der Bücherrevisions-Hofkommission. Als nun van
Swieten im folgenden Jahr starb, erhielt Störck dessen Stelle als Protomedicus und wurde medizinischer Studiendirektor. Die volle ursprüngliche
Machtfülle van Swietens erhielt Störck 1779, als er auch noch als Präses der
medizinischen Fakultät eingesetzt wurde. Die Kaiserin erhob ihn zudem
1775 in den österreichischen Freiherrenstand, und zwei Jahre später erfolgte
die Aufnahme in den niederösterreichischen Herrenstand. Es versteht sich
von selbst, daß Störck nun kaum mehr Zeit für klinische Forschung aufwenden konnte. Mit Elan trieb er die Reform des Medizinstudiums weiter
voran. Die von ihm geschaffenen Studienpläne mit einem vorklinischen
und einem klinischen Teil blieben bis weit in die heutige Zeit hinein wegweisend. Im Rahmen seiner amtlichen Tätigkeit verfaßte Störck nun ein
Lehrbuch zum medizinisch-praktischen Unterricht für die Feld- und Landwundärzte27 und eine österreichische Pharmakopoe.28
Störcks experimentelle Pharmakologie
Wie oben dargelegt, folgte Störck dem Forschungsauftrag van Swietens,
wenn er neue Heilmittel gewinnen wollte. Das Besondere an seinen Versuchen bestand darin, daß er gerade die giftigsten Pflanzen auf ihre Eig26 Erwähnt in Störck: Libellus (1765). Störcks Begeisterung über die gelungene Heilung
seines Meisters kannte keine Grenzen, als er überschwenglich vermelden konnte:
»Hätte ich der gelehrten Welt einen größeren Dienst leisten können? Ich erhielt
dadurch unsern allerhöchsten Oberhäuptern und dem ganzen kaiserlich-königlichen
Hause einen Mann [van Swieten] bei Leben, dem sie ihre Gesundheit anvertrauen, den
sie lieben und hochschätzen. Mir habe ich einen Vater erhalten, dem ich alles zu danken habe, was ich bin. Möchte ihn doch der Schierling unsterblich machen.« Zitiert
nach Zumstein (1968), S. 27f.
27 Störck (1776).
28 Störck (1794).
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nung hin prüfte. Wohl hatten schon viele andere vor ihm Vergiftungserscheinungen beschrieben, dies jedoch zum Zweck der Schilderung der Toxikologie der entsprechenden Pflanzen und zur Suche von Gegenmitteln. So
verabreichte Pietro Andrea Mattioli (1500-1577) zum Tode verurteilten
Straftätern die Wurzel des Eisenhuts, beschrieb minutiös die sich einstellenden Intoxikationserscheinungen und versuchte diese mit Gegengiften
aufzuheben.29 Der Schaffhauser Arzt Johann Jakob Wepfer (1620-1695)
dokumentierte zahlreiche Vergiftungsfälle, so etwa solche mit dem Wasserschierling (Cicuta virosa L.), und versuchte die physiologischen Auswirkungen zu erklären.30 Störck war nun der Auffassung, daß auch den Giftpflanzen in der Wohlordnung der Schöpfung eine zweckdienliche Aufgabe
zugeteilt worden sei, »daß nichts von dem gütigen Schöpfer erschaffen worden, was nicht gut und nützlich sey«.31 So versprach er sich von den Giftpflanzen überaus viel.32 Er war davon überzeugt, daß für jedes Leiden ein
passendes Heilmittel existiere und dieses bloß noch gefunden werden müsse.33 Diese fast axiomatisch zu nennende Hoffnung war später auch ein
Kennzeichen der Homöopathie.
Noch als Assistent bei de Haen hatte sich Störck 1757 als erstes vorgenommen, die »Cicuta«, den gefleckten Schierling, genauer zu erkunden. In der
älteren Literatur hatte er gefunden, »daß dieses Kraut vornehmlich in denen
ältern Zeiten zur Zertheilung kalter Geschwülste, zur Auflösung der Scirrhus [verhärtete Tumore] und Milderung der Schmertzen bey Krebsen, mit
großem Nutzen angewendet worden sey«.34 Nachdem Störck mit äußerlichen Umschlägen bei rheumatischen und gichtartigen Schmerzen und Auftreibungen, wie auch bei »scirrhösen Kröpfen, verhärteten Drüßen und
Brüsten, ja sogar in den schlimmsten Krebsen« gute Resultate erzielt hatte,
kam er auf den Gedanken, »ob nicht alle diese auflösende, durchdringende
und zertheilende Kraft in dem Saft der Cicutae verborgen liege«.35 Störck
erhoffte sich somit von der innerlichen Einnahme des Schierlings eine noch
stärkere Heilwirkung, die über die äußerliche Anwendung hinausging. Da
er den Schierlingssaft zu Recht nicht unmittelbar an einem Kranken aus29 Vgl. die Schilderung bei Tischner (1932), S. 75-77.
30 Vgl. hierzu Maehle (1987).
31 Störck: Beobachtungen (1762), S. 2.
32 Störck: Libellus (1762), Praefatio: »Herbae venenatae nobis multum promittunt.«
33 Störck (1769), S. 2f., übersetzt nach Schweppe (1976), S. 36: »Wie glücklich würden
die Kranken sein, wenn das Studium zur Erforschung der pflanzlichen Heilkräfte mit
größerem Eifer betrieben würde. Warum sollte es nicht für alle die verschiedenen Leiden ein Heilmittel geben? Würde nicht der sich am meisten um das menschliche Geschlecht und das Vaterland verdient machen, der ein neues Mittel gegen die verderblichsten Krankheiten entdeckte?«
34 Störck: Beobachtungen (1762), S. 2f.
35 Störck (1762), S. 4.
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probieren wollte, entschloß er sich zunächst zu einem Tierversuch. Als er
mit kleinen Gaben des Extrakts bei einem Hund keine nachteiligen Wirkungen feststellen konnte, wurde er »behertzter und dreister, und machte
den Versuch an mir selbst«.36 Erst als er auch bei steigenden Dosen in seinem Körper keine Giftwirkung feststellen konnte, fühlte er sich berechtigt,
sein Präparat einem Kranken darzureichen.37 Störck warnte eindringlich,
beim ersten Versuch einer Giftpflanze an einem Menschen immer mit der
kleinsten Dosis zu beginnen, da man nie »gewisse Idiosyncrasien« ausschließen könne, also individuelle Empfindlichkeiten, auf Grund welcher
auch die »allerunschädlichsten Mittel Schaden bringen können«.38
Störcks systematische Vorgehensweise, die erst auf Tier- und Selbstversuch
die klinische Anwendung folgen ließ, war in der Geschichte der Medizin
und Pharmakologie ein Novum. Wohl hatte auch schon Conrad Gessner
(1516-1565) Selbstversuche mit Giftpflanzen durchgeführt, diese jedoch nie
veröffentlicht, verstreute Hinweise finden sich in seinem Briefwechsel.39 Die
36 Störck (1762), S. 5.
37 Wegen der Bedeutung von Störcks Methode zur Prüfung eines potentiellen Heilmittels
soll sein erster Versuch an sich selbst hier ausführlich geschildert werden. Störck
(1762), S. 4f.: »Ich habe daher den Saft der Cicutae ausgepreßt, und in einem irdenen
Gefäße bey dem gelindesten Feuer zu einem Extract abrauchen lassen. Indessen war es
unbillig, diesen Extract bey einem Menschen zuerst zu versuchen. Aus diesem Grunde
gab ich in einem Tag dreymal einem kleinen Schoos-Hunde einen Scrupel von diesem
Extract mit einem bißgen Fleisch zu fressen. Und gab sodann genau acht, was vor
Veränderungen in dem Hund vorgehen würden. Der Hund blieb gesund, war munter
und erwartete mit großer Begierde ein Stück Fressen. Den andern Tag gab ich die
nehmliche Menge von dem Extract, und beobachtete das nehmliche. Ja den dritten
Tag bemerkte ich keinen schlimmen Zufall an dem Hunde. Hierdurch wurde ich also
behertzter und dreister, und machte den Versuch an mir selbst, und nahm Morgens
und Abends einen Gran von diesem Extract, und tranck eine Tasse voll Thee nach.
Hierauf beobachtete ich eine genauere Diät, damit ich es bald wahrnehmen könnte,
wenn etwas ungewöhnliches in meinem Körper vorgehen würde. In dieser Dosi fuhr
ich 8. Tage lang fort, ohne die geringste Beschwerdnis darauf zu empfinden; ich war
munter, robust, und hatte das beste Gedächtnis, guten Appetit und sanften Schlaf. In
der folgenden Woche darauf verstärkte ich die Dosin, und verschluckte Morgens und
Abends jedesmal zween Gran, aber auch hierauf erfolgte in meinem Körper weder
was übels noch was ungewöhnliches. Nun mehr war es mir also erlaubt, mit gutem
Recht und gutem Gewissen dieses Mittel auch bey andern zu versuchen.«
38 Störck: Beobachtungen (1762), S. 7f.: »Nichts desto weniger ist es allezeit besser, mit
einer kleinen Dosi anzufangen, und es sind gewisse Idiosyncrasien, bey welchen die allerunschädlichsten Mittel Schaden bringen können; damit wir nun bey diesen keine
Gefahr laufen, und nach und nach von der Natur dergleichen Patienten eine Känntnis
erlangen, so muß man erst den sichersten Weg gehen.«
39 Es ist das Verdienst von Tischner (1932), S. 77f., auf diesen Umstand hingewiesen zu
haben. Auch Hahnemann (1805) erwähnt in den Fragmenta mit Bezugnahme auf
Gessner (1578), Bl. 69, einige Intoxikationssymptome, die Gessner »durch das Einflößen von einigen Körnchen« weißen Germers (Veratrum album L.) an sich beobachtet
hatte, vgl. Wettemann (2000), S. 266. Eine systematische Untersuchung des Selbstversuchs bei Conrad Gessner steht noch aus.
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Geschichte des ärztlichen Selbstversuchs ist wissenschaftlich erst wenig erforscht, obwohl ihm bei der medizinischen Wissensvermehrung zweifellos
eine bedeutende Rolle zukam.40 Für Störck bestand der Zweck des Selbstversuchs in erster Linie darin, die Verträglichkeit des Gifts zu erkunden,
bevor er dessen Anwendung einem Patienten zumuten wollte. So kann man
bei der Cicuta von einer reinen Verträglichkeitsprüfung sprechen. Erst in
zweiter Linie, und wohl mehr zufällig, entdeckte er gewisse pharmakologische Wirkungen, die er dann für die Therapie auszuwerten versuchte. Der
Eisenhut löste bei ihm einen Schweißausbruch aus, die Herbstzeitlose wirkte diuretisch, also setzte er diese Pflanzen als schweiß- beziehungsweise
harntreibende Mittel ein, das letztere sogar mit überaus gutem Erfolg bei
Wassersucht. Anders als später Hahnemann, war es noch nicht die Absicht
Störcks gewesen, mit seinen Selbstprüfungen Symptome zu gewinnen, die
dann über eine Simile-Hypothese zu Heilanzeigen führen würden. Wie
Tischner zwar richtig bemerkte, hatte Störck den Stechapfel und das Bilsenkraut durchaus im Sinne der Ähnlichkeitsregel als ein auf die Psyche wirkendes und als Krampfmittel verwendet,41 die psychotrope und spasmogene
Wirkung jedoch nicht an sich selber beobachtet, sondern der Literatur entnommen. Wieder eine andere Vermutung hatte Störck zur Anwendung des
Schierlings als Mittel gegen Tumore geführt, indem er die in der Literatur
bekannte äußerliche Wirksamkeit durch die innerliche Einnahme weiter
verstärken wollte.42
Wir sehen also, daß Störck entsprechend seiner unvoreingenommenen experimentellen Ausrichtung bei der Indikationsstellung von jeweils verschiedenen Arbeitshypothesen ausging, die er in der Folge dem klinischen Versuch aussetzte. Weiter schwebte Störck keineswegs ein feststehendes Konzept wie die Ähnlichkeitsregel vor, die er, wie später Hahnemann, zu allgemeiner Gültigkeit hätte erheben wollen. Überhaupt bestach Störck nicht als
ein blendender Theoretiker. Seine zahlreichen Schriften über die Giftpflanzen-Versuche bestehen vorwiegend aus Kasuistiken, angereichert mit pharmazeutischen Anleitungen, die von meist geglückten Behandlungen mit den
entsprechenden Tinkturen berichten. Nur in einem verhältnismäßig kurzen
Anhang diskutierte er jeweils seine Resultate, die er nicht immer kritisch
genug bewertete,43 und machte keinen expliziten Versuch, diese in ein größeres medizintheoretisches Gebäude einzubetten. Wenn Schweppe nun in
zwar verdienstvoller Weise versucht, Störcks Prämissen und Arbeitshypothesen herauszuarbeiten und diese im Lichte des iatromechanischen
40 Zum ärztlichen Selbstversuch vgl. Schott (1995) und Winau (1986). Ohne auf Störck
einzugehen, beleuchtet Fischer (1977) den Arzneimittelversuch im 19. Jahrhundert.
41 Tischner (1932), S. 81f.
42 Zur Tumortherapie bei Störck vgl. Schweppe (1981).
43 Vgl. hierzu Zumstein (1968), S. 44.
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Systems zu interpretieren,44 so sind diese Aussagen nur implizit und im Gesamtwerk verstreut nachzuweisen. Im klinischen Bereich war Störck ein
reiner Empiriker, der, obschon er exakt beobachtete und das Gesehene akribisch beschrieb, seine Ergebnisse nur dürftig und zum Teil unkritisch kommentierte und wohl auch zu wenig reflektierte. Anders läßt es sich nicht
erklären, daß seine beachtlich zu nennende klinisch-pharmakologische Versuchsanordung auf die Nachwelt, Hahnemann ausgenommen, von verhältnismäßig geringem Einfluß blieb.
Die Rezeption der Ersten Wiener Schule bei Samuel Hahnemann
Nicht zu Unrecht bemerken Zumstein und Wettemann, Hahnemann habe
Störcks Methodik der Arzneiprüfung übernommen.45 Wir haben allen
Grund anzunehmen, daß dies in weit größerem Ausmaß der Fall gewesen
war, als bisher angenommen wurde. Wie aus Hahnemanns verstreuten Bemerkungen hervorgeht, hatte er in seiner vorhomöopathischen Zeit Störcks
neue Medikamente ausgedehnt zur Anwendung gebracht und damit gute
therapeutische Resultate erzielen können. Erst allmählich entfernte sich
Hahnemann von Störck, dem er in seiner homöopathischen Frühzeit noch
durchaus Respekt zollte, um es in den letzten Auflagen des Organon bei der
Nennung von dessen Antizipation der Simile-Regel zu belassen. Hahnemann hatte in Wien studiert, wohin er sich, von Leipzig herkommend, Anfang 1777 gewandt hatte, wo er aber wegen Geldnöten nur ein Dreiviertel
Jahr bleiben konnte.46 Trotzdem hinterließ der Aufenthalt den größten Eindruck in ihm. Er hatte dort nämlich in Joseph Quarin (1733-1814) einen
verehrten Lehrer gefunden, der ihn im Spital der barmherzigen Brüder in
die klinische Medizin einführte und zum Arzt heranbildete. Es darf wohl als
für Hahnemann außergewöhnlich eingestuft und als Zeichen der wahren
Wertschätzung gesehen werden, wenn er für einen andern Arzt folgende
lobende Worte fand:
Dem Spital der barmherzigen Brüder in der Leopoldstadt daselbst, oder vielmehr dem
großen praktischen Genie, dem Leibarzt von Quarin, verdanke ich, was Arzt an mir
genannt werden kann. Seine Liebe, ich möchte sagen, seine Freundschaft hatte ich, ich
war der Einzige meiner Zeit, den er zu seinen Privatkranken mit sich nahm. Er zeichnete mich aus, liebte und lehrte mich, als wenn ich der Einzige und Erste seiner Schüler in Wien und mehr noch gewesen wäre, und Alles dies, ohne je von mir Vergeltung
erwarten zu können.47
Hahnemann war also von Quarin stark beeinflußt worden. Quarin seinerseits stand unter dem Stern Störcks. Im Schierlingsstreit trat er mit einer ei44 Schweppe (1976), S. 51-92; Schweppe (1981), S. 107f.
45 Zumstein (1968), S. 32; Wettemann (2000), S. 16.
46 Zu Hahnemanns Wiener Aufenthalt vgl. Tischner (1934), S. 17-19 (117-119); Haehl
(1923), Bd. 1, S. 19-24.
47 Zitiert nach Tischner (1934), S. 18 (118).
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genen Schrift über die Cicuta hervor, worin er die Position Störcks verteidigte.48 Weiter wäre Quarin 1784 kaum die Leitung des neu erstellten Allgemeinen Krankenhauses übertragen worden, wenn er Störck nicht genehm
gewesen wäre. Offenbar hatte Hahnemann Störcks Therapie mit Giftpflanzen bereits in Wien kennengelernt. Er berichtet, daß er dort den »Zeitlosensauerhonig«, also die von Störck angegebene arzneiliche Zubereitung aus
der Herbstzeitlose, mit Erfolg einem achtjährigen Mädchen gegeben habe,
das nach einer Scharlacherkrankung ausgeprägte Oedeme entwickelt hatte.49 Überhaupt kommt Hahnemann in seinen frühen Schriften wiederholt
auf Störcks Giftpflanzen zurück. Auch hier erweisen sich Hahnemanns Bemerkungen zu seiner deutschen Übersetzung der Arzneimittellehren von
William Cullen (1790) und Donald Monro (1794) als wertvolle Quellen. Er
betont hier mit Nachdruck die Wichtigkeit Störcks für den Fortschritt der
Pharmakologie. Was Störck selber beobachtet habe, sei immer von großem
Gewicht, es sei nur schade, daß er die »größere Hälfte seiner Versicherungen« nicht selbst in Erfahrung gebracht habe, und wenn man das Wahre
vom Falschen trenne, so bleibe in seinen Schriften »so viel wichtiger Kern,
daß dieser Arzt billig für einen der größten Wohltäter der Menschen zu
schätzen« sei.50
Die Cicuta nahm für Hahnemann anfänglich einen breiten Raum ein. Den
Behauptungen seiner beiden englischen Kollegen, der Schierling erweise
sich bei der klinischen Prüfung als nutzlos, trat er energisch entgegen. Die
»Ursachen der so häufigen Unkräftigkeit des Schierlingsextraktes« seien
nicht schwer ausfindig zu machen, sie bestünden aus botanischer Unkenntnis der richtigen Pflanze, falscher Aufbewahrung der getrockneten Pflanzen,
wodurch diese ihre Heilkraft verlören, jedoch der schlimmste Fehler sei die
falsche Zubereitungsweise.51 In der gleichen Anmerkung zu Cullen fügte
Hahnemann die korrekte Vorschrift für den Extrakt an, wodurch er sich als
Kenner auswies, der mit der Cicuta schon oft experimentiert hatte.52 Mit
48 Quarin (1761).
49 Monro (1794), Bd. 2, S. 274, Anm. 1: »Ich gab den Zeitlosensauerhonig erstmals in
Wien einem achtjährigen Mädchen, welches nach dem Scharlachfieber sehr angeschwollen war, und auf reichliche Gaben dieses Mittels zur Bewunderung geschwind
genas. Ob die Squille [Meerzwiebel, Scilla maritima L.] nicht fast eben dies gethan
haben würde, will ich nicht leugnen.«
50 Monro (1794), S. 324, Anm. 1: »und was Dr. Störck selbst beobachtete, war immer
von großem Gewichte; nur Schade, daß er nicht die größre Hälfte seiner Versicherungen selbst in Erfahrung brachte. Daß nun so manches, was er von heroischen Heilmitteln schrieb, nicht eintraf, dieses machte die Aerzte gegen alle seine Versicherungen
argwöhnisch; aber mit Unrecht. Wenn man das Wahre von dem Falschen seiner Behauptungen sichtet, so bleibt so viel wichtiger Kern, daß dieser Arzt billig für einen
der größten Wohltäter der Menschen zu schätzen ist.«
51 Cullen (1790), Bd. 2, S. 303, Anm. 1.
52 Cullen (1790), Bd. 2, S. 303: »Die dritte und gröste Ursache der Kraftlosigkeit des
Extraktes, ist die übereilte Bereitung desselben. Der ausgepreßte Saft sollte in flachen
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dem richtig zubereiteten Extrakt dürfe man innerlich mit nur wenig anfangen, »mit einem Grane (und kaum)«, von dem «unkräftigen« könne man
hingegen »ohne Wirkung mehrere Quentchen« eingeben.53 Ganz auf der
Linie Störcks empfahl Hahnemann weiter, für eine optimale Arzneiwirkung, wenn »das Mittel seine Dienste leisten soll«, die Dosis alsbald zu erhöhen, bis »sinnliche Wirkungen« und darauf »etwas heftige (Schwindel,
Betäubung, Zittern u.s.w)« entstünden.54 Weiter fügte er eine Bemerkung an,
die aus dem Munde des späteren Verfechters extremer Verdünnungen erstaunt: »Das Tändeln mit kräftigen Mitteln hat letztere oft mehr in übeln
Ruf gebracht, als die heroische Gebrauchsart.«55 Hahnemann stand 1790
also noch durchaus für hohe und kräftige Arzneigaben ein. Auch bei den
Indikationen der Cicuta lehnte sich Hahnemann durchweg an Störck an.
Er verabreichte sie mit gutem Erfolg bei »schmerzhaften Drüsenverhärtungen«, die von äußeren Gewalteinwirkungen herrühren, bei »von Milchstockungen entstandenen Brustverhärtungen«, bei der »Hüftgicht« und bei
»Nachwehen vom Mißbrauch des Quecksilbers«, wo sie »eins der besten
Mittel« sei.56 Allerdings rühmte sich Hahnemann, daß er »fast nie nöthig«
hatte, »den innern Gebrauch des Schierlings zu Hülfe zu nehmen«, ihm also
bereits das äußerliche Auflegen gute Resultate gebracht habe. Diese Aussagen wiederholte er im ersten Band seines »Apothekerlexikons« (1793), wo
er im Eintrag zum »Fleckenschierling« festhält, dieser habe sich bei »Verstopfungen des Drüsen- und Lymphsystems« als »sehr kräftig erwiesen«,
allerdings erst in Dosen, die nebenher heftige Vergiftungssymptome zeitigten.57 Als schonende Zubereitungsart gibt er hier das Abdampfen des Preßsafts im Wasserbad oder in der »freien Zugluft« an.58
Geschirren, welche in siedendem Wasser stehen, und nie im Sande oder über freiem
Feuer abgeraucht werden; schon bei 212° [Fahrenheit] geht viel kräftiges davon, geschweige bei der Hitze, die gewöhnlich bei der mehrern Verdickung des Saftes angewendet wird, die oft bis auf 400° steigt. Bei diesem Grade geht vollends alle Kraft in
die Luft fort. Der bei der übereilten Verfertigung aufsteigende Dunst frißt Augen,
Mund und Nase an, diese wirksamen Theile aber bleiben in dem auf angegebene Art
verfertigten zurück.«
53 Cullen (1790), Bd.1, S. 304, Anm. 1. Hahnemann fährt hier fort: »Ich muß einigen
Dresdner Apotheken des Lob vorzüglich guter Bereitungen der Extrakte ertheilen.«
Dieser Umstand verwundert nicht, denn gerade in Dresden hatte Störck in Georg
Ludwig Rumpelt (1729-1785) einen Befürworter und Übersetzer seiner CicutaSchriften gefunden, vgl. Störck: Beobachtungen (1762).
54 Cullen (1790), Bd. 2, S. 303, Anm. 2.
55 Cullen (1790), Bd. 2, S. 303, Anm. 2.
56 Cullen (1790), Bd. 2, S. 300, Anm. 1; S. 301, Anm. 1.
57 Hahnemann (1793), S. 306f.
58 Hahnemann (1793), S. 306f. Da Hahnemann im »Apothekerlexikon« Störck als Bezugsquelle nicht nennt, nahmen seine Zeitgenossen und mit ihnen Brand (1982), S. 30,
an, das schonende und die Arzneikraft erhaltende Abdampfen eines giftigen Pflanzenextrakts im Wasserbad gehe auf Hahnemann zurück.
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Weiter wies Hahnemann 1794 in der Übersetzung Monros erneut darauf
hin, daß nur die korrekte Zubereitung des Schierlings zum Erfolg führe,
und bezeugte erneut seinen häufig gepflegten Umgang mit der Pflanze.59
Ebenfalls in seiner ersten Programmschrift zur Homöopathie, dem »Versuch über ein neues Princip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneisubstanzen« (1796) kam Hahnemann ausführlich auf den Schierling zurück,
den er nun in Linnéscher Terminologie »Conium maculatum« nannte.60
Auf die ausgedehnte Literatur zum Schierling anspielend, die er somit gekannt haben mußte, bemerkte er: »wohl aber sind von dem empirischen
Lobe und dem so empirischen Tadel dieser Pflanze ganze Bücher angefüllt«.61 Hahnemann versuchte nun gemäß seiner Vorgabe, die von Störck
beobachteten Wirkungen des Schierlings nach dem Ähnlichkeitsprinzip zu
erklären. Da seine Einnahme beim Gesunden Schmerzen in den Drüsen
hervorrufe, sei »leicht zu glauben, daß er bei schmerzhaften Drüsenverhärtungen, beim Krebse, und bei den schmerzhaften Knoten, die der Quecksilbermißbrauch zurückläßt, in mäßiger Gabe angewendet, das vortrefflichste
Mittel ist«, und zwar weit wirksamer, als der «palliative Mohnsaft und alle
übrigen narkotischen Mittel«.62 Allerdings sprach Hahnemann, anders als
Störck, dem Schierling die Fähigkeit ab, beim »wahren Brustkrebse« heilsam zu sein. Da der Schierling weiter die Gesichtsnerven lähme, werde es
begreiflich, daß er im »schwarzen Staare« Hilfe geleistet habe, und
»krampfhafte Beschwerden, Keuchhusten und Fallsucht« habe er behoben,
da er zu Konvulsionen geneigt mache, und dasselbe sei beim Schwindel der
Fall.63 Man darf vermuten, daß für Hahnemann die homöopathische Erklärung der pharmakologischen Wirkung des Schierlings, mit dem er sich so
lange Jahre beschäftigt hatte, noch einleuchtender und erleuchtender gewesen sein dürfte, als der viel gepriesene Versuch mit der Chinarinde. Während Hahnemann in seiner »Reinen Arzneimittellehre« (1811-1821) nun
zugeben mußte, daß der Schierling zu den »am schwierigsten nach ihrer
Erst- und Nachwirkung auszuforschenden und am schwierigsten zu beurtheilenden Arzneien« gehöre,64 bekräftigte er in den »Chronischen Krankheiten« (1828-1830) nochmals seine Überzeugung von der Richtigkeit der Beobachtungen Störcks, der »in seinen zahlreichen Büchern von den großen
Erfolgen des conium maculatum geschrieben« habe, woraus man »gar
leicht die nicht geringe Arzneikräftigkeit dieser Pflanze« ersehe.65 Zugleich
warnte er eindringlich vor der Gefährlichkeit der Pflanze, die durch Über59 Monro (1794), Bd. 2, S. 267, Anm. 1.
60 Hahnemann (1829), Bd. 1, S. 159-161.
61 Hahnemann (1829), Bd. 1, S. 159.
62 Hahnemann (1829), Bd. 1, S. 160.
63 Hahnemann (1829), Bd. 1, S. 161.
64 Hahnemann (1822/27), Bd. 4, S. 237.
65 Hahnemann (1828/30), Bd. 4, S. 156.
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
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Der Einfluß der Ersten Wiener Schule
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dosierung »Menschen in nicht geringer Zahl« »tödtete«.66 Entgegen seiner
früheren Überzeugung, empfahl er nun durchwegs die Verabreichung
»kleinster Gaben der höchsten Verdünnung« und reiht den Schierling entsprechend der neuen Miasmenlehre unter die »wichtigsten antipsorischen
Arzneien« ein.67 Anhand des Schierlings läßt sich somit in einem Bogen der
Wandel von Hahnemanns Arzneiverständnis verfolgen, der von den Wiener Studentenjahren bis zur endgültigen Ausgestaltung seiner Lehre reicht.
Der ursprüngliche, in heroischen Dosen verabreichte Extrakt mutierte zunächst zu einer homöopathisch reflektierten kleinsten Gabe und verwandelte sich im weiteren Verlauf der Zeit in ein Mittel gegen chronische Krankheiten.
Hahnemann nahm auf viele weitere der von Störck eingeführten Giftpflanzen Bezug. Seine Bekanntschaft mit der Herbstzeitlose wurde bereits
weiter oben erwähnt. Durch eigene Beobachtung bestätigte er die schlaffördernden, schmerz- und krampfstillenden Eigenschaften des Bilsenkrauts, die
das Opium, wie Störck festgestellt hatte, oft übertreffen.68 Zu Monros Arzneimittellehre fügte er sogar eine längere Anmerkung an. Er habe »das Bilsenkraut häufig anzuwenden Gelegenheit gehabt« und berichtet von zahlreichen Versuchen und von Fällen, »wo Mohnsaft offenbar geschadet haben würde«.69 Bei Cullen bemängelte Hahnemann, daß der Sturm- oder
Eisenhut nicht erwähnt werde und behob diesen Mangel durch die Beifügung eigener Beobachtungen. Seine Erfahrungen mit dem Extrakt aus demselben gestatteten es ihm nicht, »ihn mit Stillschweigen zu übergehen«.70
Von den Störckschen Giftpflanzen erwähnte Hahnemann im Apothekerlexikon neben dem bereits erwähnten Fleckenschierling den Eisenhut (»Aconitum«), die Herbstzeitlose und die »Küchenschellwindblume«, wobei er
nur bei der letzteren Störck namentlich erwähnte und lobend vermerkte,
Störck habe mit dieser Pflanze »Blinde an schwarzem und grauem Staare
wieder hergestellt«71. Überhaupt bildete Störck für Hahnemann in seinen
»Fragmenta de viribus medicamentorum positivis« (1805), der ersten homöopathischen Heilmittellehre, in Bezug auf die Pulsatilla die Hauptquelle,
indem Hahnemann hier 23 von Störck gefundene Symptome der Küchen66 Hahnemann (1828/30), Bd. 4, S. 157.
67 Hahnemann (1828/30), Bd. 4, S. 157.
68 Cullen (1790), Bd. 2, S. 303, Anm. 1.
69 Monro (1794), Bd. 2, S. 324, Anm. 1.
70 Cullen (1790), Bd. 2, S. 320, Anm. 1. Hahnemann setzt den Eisenhut bei »chronischem Rheumatism« und »herumziehender Gicht« ein. Die Einnahme errege oft kalten Schweiß. Auch hier liege die Ursache für die Kraftlosigkeit des Extrakts in der falschen Zubereitung. »Der frische Saft im Wasserbade abgedampft giebt das einzig zuverlässige Extrakt aus Sturmhut, Schierling, Bilsenkraut, Belladonna u.s.w.« In ähnlichem Sinn äußert sich Hahnemann bei Monro (1794), Bd. 2, S. 222, Anm. 1.
71 Hahnemann (1793), S. 534.
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schelle anführt.72 Aus all diesen Bemerkungen ist ersichtlich, daß Hahnemann bereits vor 1790 ausgedehnte Versuche mit den Störckschen Giftpflanzen angestellt hatte, die wiederum später einen wesentlichen Bestandteil seiner homöopathischen Materia medica bilden sollten.
Die Homöopathie als Konsequenz der Ersten Wiener Schule?
Hahnemann hatte bei der »Beleuchtung der Quellen der gewöhnlichen Materia medica« für sich in Anspruch genommen, seine »verbesserte Heilkunst« schöpfe nicht aus den bisherigen unreinen Quellen, seine »reine Arzneimittellehre« gehe nicht »jene uralten, träumerischen Irrwege«, sondern
sie prüfe zunächst unter möglichst weitgehendem Ausschluß äußerer Faktoren ihre »reinen Wirkungen« am gesunden Menschen.73 Wie hinlänglich
gezeigt wurde, geht jedoch von diesem, das heißt homöopathischen Arzneiverständnis Hahnemanns ein roter Faden zurück in seine Wiener Studentenzeit. Auf Geheiß van Swietens hatten de Haen und Störck ihre Arzneimittelversuche in Angriff genommen. Bereits de Haen wies in seiner »Ratio
medendi« von 1759 auf Hunderte von Giftpflanzen hin, die, weil sie giftig
seien, auch zu heilen vermöchten.74 Es war de Haen, der die Bärentraube
als isoliertes Arzneimittel auf ihre reine Wirksamkeit hin überprüfte,75 sich
aber auch eingehend mit dem therapeutischen Nutzen von Opium und der
Chinarinde, die ja für Hahnemann später besondere Bedeutung erlangen
sollte, beschäftigte.76 Über seinen verehrten Lehrer Quarin, der zu den Befürwortern Störcks gehörte, lernte Hahnemann die neuen Giftpflanzenextrakte kennen und anwenden. In den folgenden Jahren gebrauchte er sie in
seiner Praxis häufig und erweiterte so seinen Erfahrungsschatz zusehends.
Störck hatte den Arzneimittelselbstversuch erfunden und auf der Anwendung kleinster Gaben bestanden, um möglichen idiosynkratischen Reaktionen zuvorzukommen. Schon Boerhaave hatte auf eine Vereinfachung der
Therapie gedrängt und auch van Swieten wandte sich gegen die herrschende therapeutische Polypragmasie. Einfache und gut bekannte Medikamente sollten an die Stelle der Vielgemische treten.
Wesentliche Elemente der homöopathischen Lehre waren somit von der
Wiener Schule Störckscher Prägung schon vorweggenommen worden: Ver72 Hahnemann (1805), S. 233. Vergleichsweise dürftig bleibt die Ausbeute an Störckschen Symptomen beim Bilsenkraut (8 Symptome), beim Eisenhut und beim Stechapfel (je 1 Symptom). Hahnemann geht in den »Fragmenta« nicht weiter auf Störck ein.
Eine deutsche Übersetzung samt Würdigung der »Fragmenta« besorgte Wettemann
(2000).
73 Hahnemann (1822/27), Bd. 3, S. 58
74 Vgl. Tischner (1934), S. 60f. (160f.), der dort de Haen zu den wichtigen Anregern
Hahnemanns zählt.
75 Schweppe (1976), S. 97-100; Thomae (1976), S. 68-82.
76 Thomae (1976), S. 84-121.
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einfachung der Materia medica und deren Erweiterung durch Hinzunahme
von starken Giften, Verabreichung kleiner Gaben, Erkundung der reinen
Arzneimittelwirkung durch Selbstversuche. Und wenn Hahnemann später
gegen den Aderlaß zu Felde zog, so war es auch schon Störck gewesen, der
früh, und diesmal im Gegensatz zu de Haen, vor einem übermäßigen Gebrauch gewarnt hatte. Der Kreis schließt sich weiter, wenn wir nun bei
Störcks Beschreibung des Stechapfels das Ähnlichkeitsprinzip als Idee formuliert finden. Hahnemann mußte mit dieser Aussage schon früh konfrontiert worden sein und diese auch reflektiert haben. Es fällt schwer zu glauben, daß er erst durch den Versuch mit der Chinarinde auf den entscheidenden Gedanken gekommen sei, vielmehr mochte er diesen als eine
Bestätigung hingenommen haben. Es ist ferner nicht abwegig zu vermuten,
daß die Chinarinde nicht die erste von Hahnemann im Selbstversuch eingenommene Giftpflanze gewesen war, sondern vielmehr dürfte er nach dem
Vorbild Störcks den einen oder anderen Extrakt an sich selbst versucht haben. Wenn Hahnemann nun weitere Gifte erprobte und auf ihre reinen
Arzneimittelwirkungen hin untersuchte, so erwies er sich als direkter Nachfolger der Ideen Störcks, wenn er diese auch weiter perfektionierte und in
ein eigenes System einbaute. Hahnemann löste sich zwar von der iatromechanischen Betrachtungsweise seiner Wiener Lehrer, versuchte dafür den
dadurch entstandenen Mangel einer fehlenden theoretischen Untermauerung seiner Pharmakodynamik mit vitalistischen Konzepten wettzumachen,
denn gerade im selben Jahr, in dem Hahnemanns berühmte Programmschrift zur Homöopathie erschien, machte der Vitalismus mit Johann
Christian Reils (1759-1813) Werk »Von der Lebenskraft« (1796) Furore.
Es war nicht zuletzt Hahnemann selbst, der mit zunehmendem Alter um
sich herum einen Mythos spann, den Mythos des revolutionären Erneuerers
und Retters der bis dahin verdorbenen Heilkunde, der alles aus sich selbst
erschuf. Diese Legende wurde von Hahnemanns Nachfolgern weiter genährt und teilweise auch von der Homöopathiegeschichtsschreibung übernommen. Im Licht der obigen Betrachtungen scheint es jedoch erwiesen,
daß wesentliche Anstöße zur Grundlegung der Homöopathie von der Wiener Schule um die Mitte des 18. Jahrhunderts ausgegangen waren.
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Störck, Anton: Libellus secundus, quo confirmatur: Cicutam non solum usu interno tutissime exhiberi, sed et esse simulu remedium valde utile in multis morbis, qui hucusque
curatu impossibiles dicebantur. Wien 1761; deutsch Dresden; Warschau 1762; engl. London 1761, 1762.
Störck, Anton: Supplementum necessarium de Cicuta, ubi simul iungitur cicutae imago,
aere excusa. Wien 1761; deutsch Dresden; Warschau 1762; engl. London 1762.
Störck, Anton: Libellus, quo demonstratur: Stramonium [„Stechapfel“], Hyosciamum
[„Bilsenkraut“], Aconitum [„Eisenhütlein“] non solum tuto posse exhiberi usu interno hominibus, verum et ea esse remedia in multis morbis maxime salutifera. Wien 1. Aufl. 1762,
2. Aufl. 1776; deutsch Augsburg 1763, Zürich 1763; franz. Paris 1763; engl. London 1763.
Störck, Anton: Beobachtungen von dem Gebrauch und Nutzen des Schierlings, sowohl in
innerlichen wie in äuserlichen [sic!] Kranckheiten. Übersetzt u. mit einer Einleitung versehen von Georg Ludwig Rumpelt. Dresden; Warschau 1762. [Übersetzung von Störck
(1760, 1761ab)].
Störck, Anton: Libellus, quo demonstratur; Colchici autumnalis [„Zeitlose“] radicem non
solum tuto posse exhiberi hominibus, sed et eius usu interno curari quandoque morbos
difficillimos, qui aliis remediis non cedunt. Wien 1763; engl. London 1764.
Störck, Anton: Abhandlung vom dem sicheren Gebrauch und der Nutzbarkeit der Lichtblum. Übersetzt v. Salomon Schinz. Zürich 1764.
Störck, Anton: Libellus, quo continuantur experimenta et observationes circa nova sua
medicamenta. Wien 1. Aufl. 1765, 2. Aufl. 1769.
Störck, Anton: Beobachtungen von dem sicheren Gebrauch und Nutzen des Schierlings,
Stechapfel, Bilsenkraut, Eisenhütlein und der Zeitlosen. Übersetzt v. Georg Ludwig Rumpelt. Dresden; Warschau 1765.
Störck, Anton: Libellus, quo demonstratur: Herbam veteribus dictam Flamulam Jovis
[„Brennkraut“] posse tuto et magna cum utilitate exhiberi aegrotantibus. De Dictamo albo
[„weißer Diptam“]. Wien 1769; deutsch Frankfurt; Leipzig 1769.
Störck, Anton: Libellus de usu medico Pulsatillae nigricantis [„schwärzliche Küchenschelle“]. Wien 1771; deutsch Frankfurt u. Leipzig 1771.
Störck, Anton: Abhandlung von der Einpfropfung der Kinds-Blattern. Wien 1771.
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III. Neuerwerbungen der Bibliothek des HomöopathieArchivs 2000 (14)
Monographien
bearb. von Beate Schleh
A
Ahlemeier, Heinrich: Dr. [Doktor] med. Paul Dahlke : Leben und Werk / von Heinrich
Ahlemeier. - Berlin, 1992. - 102 S. : zahlr. Ill.
Berlin, Freie Univ., Diss., 1992. - KOPIE
H/a/2/682
Aktual'ni pytannja homeopatyčnoï medycyny : prači peršoï Ukraïns'koï NaukovoPraktyčnoï Konferenciï "Aktual'ny Pytannja Homeopatyčnoï Medycyny", m.
Odesa, 3-4 žovtnja 1998 r. = Aktual'nye voprosy gomeopatičeskoj mediciny /
Odes'ke Naukovo-Medyčne Homeopatyčne Tovarystvo ... Holovnyj red. O. P. Ivaniv. - Odesa : Čornomor'ja, 1998. - 198 S. : graph. Darst.
(Ukraïns'kyj homeopatyčnyj Ščoričnyk / Odes'ke Naukovo-Medyčne Homeopatyčne Tovarystvo ... ; 1)
Urgent problems of homeopathic medicine. Transactions of First Ukrainian Scientific Practical Conference "Urgent Problems ..."
ISBN 966-555-011-X
H/a/1/581
Arzneimittelliste mit Indikationen / zusammengest. von M. Barthel. Homöopathische
Arzneimittel Barthel. - Schäftlarn : Barthel & Barthel, [o.J.] - 32 S.
H/c/1/834
Auszug aus dem speciellen illustrirten Preisverzeichnis des Homöopathischen Etablissements von Dr. Willmar Schwabe in Leipzig : mit einem Anhange: Die homöopathische Arzneibereitung und das Homöopathische Etablissement von Dr.
Willmar Schwabe in Leipzig. - Leipzig : Schwabe, 1886. - 39 S. : Ill.
Weiteres Ex. angebunden an: H/d/8/558a/1889
H/c/1/833
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Beate Schleh, Uta Schweizer
B
Bach, Gitta: Zwischen Staatsideologie und Islam: malaiische Medizin in Singapore / Gitta
Bach. - [Auszug]. - Münster : LIT-Verl., 1991. - S. 161-213
(Medizinkulturen im Vergleich ; 1 [Ausz.])
Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1991. - Enth.: Kap.6. Homöopathie, eine Alternative
für Malaien. Kap. 7. Epilog u. Kap.8. Anhang. - KOPIE
ISBN 3-89473-236-9
H/k/Bach/1991,1
Beuchelt, Hellmuth: Konstitutions- und Reaktionstypen in der Medizin mit Berücksichtigung ihrer therapeutischen Auswertbarkeit in Wort und Bild / von Hellmuth Beuchelt. - 5., erw. Aufl. - Heidelberg : Haug, 1977. - 215 S. : Ill.
1. u. 2. Aufl. u.d.T.: Homöopathische Konstitutions-Typen in Wort und Bild. - 3.
Aufl. u.d.T.: Homöopathische Reaktionstypen in Wort und Bild
ISBN 3-7760-0468-1
H/d/6/530/1977
Bibliotheca homoeopathica : Antiquariatskatalog / von Haug & Cie, Wissenschaftliche
Buchhandlung und Antiquariat. [Bibliographische Bearb.: Rudolf Fritsch]. - Ulm :
Haug, 1955. - 20 S.
Daran: Sammlung von 10 Antiquariatskatalogen (1950-55): 1. Delikatessen aus dem
Antiquariat. - 1955. - 19 S. - 2. Bunte Medizin von Rabelais bis Carossa. - 1954. Ungez. - 3. Reine und angewandte Chemie in Auswahl. - o.J. - 20 S. - 4. Was den
Arzt interessiert. - 1952. - Ungez. - 5. Homöopathie. - 1952. - 28 S. [Weiteres Ex.:
H/a/1/437] - 6. Parapsychologie und verwandte Gebiete. - 1951. - Ungez. - 7. Rara
et Curiosa. - 1951. - 11 S. - 8. Außenseitermedizin. - T. 1. - o.J. - 14 S. - 9. Bücher
für Weihnachten. - 1951. - Ungez. - 10. Kostbare und wohlfeile Bücher für den
Weihnachtstisch. - 1950. - 22 S.
H/a/1/436/1955
Bibliotheca homoeopathica : Antiquariats-Katalog / von Haug & Cie, Wissenschaftliche
Buchhandlung und Antiquariat. [Katalogred.: Werner Fritsch]. - Ulm : Haug, 1958.
- 47 S.
H/a/1/436/1958
Bier, August: Wie sollen wir uns zu der Homöopathie stellen? / von August Bier. - 6.-8.
erg. Aufl. - München : Lehmann, 1925. - 36 S.
Sonderabdr. aus der »Münchener medizinische Wochenschrift, 72. 1925, Nr. 18 u.
19«
H/b/2/147/1925 (6.-8.)
Bönninghausen, Clemens von: Die Körperseiten und Verwandtschaften / Dr. C. von
Bönninghausen. - Heidelberg : Haug, 1967. - 32 S.
H/g/1/100/1967
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Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs 2000
253
Braun, Artur: Methodik der Homöotherapie : Leitfaden für die Ärztekurse in homöopathischer Medizin / von Artur Braun. - 2. Aufl. - Regensburg : Sonntag, 1982. - 228
S.
(Biologische Taschenbuchreihe ; 4)
ISBN 3-87758-023-8
H/b/3/840/1982
C
Cagliano, Stefano: Guarire dall'omeopatia / Stefano Cagliano. - Venezia : Marsilio,
1997. - 135 S.
(I grilli Marsilio)
ISBN 88-317-6780-1
H/a/3/1997,1
Cartier, François: Homöopathische Stärkungs- und Kräftigungsmittel / von F. Cartier.
Ins Dt. übertr. von W. Scharff. - Leipzig : Schwabe, 1923. - 16 S.
H/c/2/913
Chammah, Ina: »Das Archiv für die homöopathische Heilkunst« : (1822 - 1848) ; eine
Analyse der Berichterstattung / vorgelegt von Ina Chammah. - Hannover, 1999.
Hannover, Med. Hochschule, Diss., 1999
1. Statistische und inhaltliche Bearbeitung. - 2, 1, 53 S. : graph. Darst.
2. Inhaltliche Gliederung. - III, XII, 156 S.
3. Formale Gliederung. - III, 89 S.
H/a/1/469
Chepmell, Edward C.: A domestic homoeopathy : restricted to its legitimate sphere of
practice ; together with rules for diet and regimen / by Edward C. Chepmell. - 5. ed.
- London : Longmann, Brown, Green, and Longmans, 1851. - XX, 304 S.
H/d/8/517
125 [Ciento veinticinco] aniversario del comienzo de la construcción del Instituto
Homeopático y Hospital de San José : 26 de Mayo de 1873 - 26 de Mayo de
1998. - San José : Fundación Instituto Homeopático y Hospital de San José, 1998. 139 S. : Ill.
(Recopilacion historica ; 6)
H/a/2/786
Cortés, Félix Antón: Lembranza homeopática / Félix Antón Cortés. - Sevilla : Fed. Española de Médicos Homeópatas ; Fundación Instituto Homeopático y Hospital de
San José, 1999. - 122 S.
(Revista española de homeopatía ; Edición special)
H/Z/r/8
Curie, Paul Etienne François Gustave: Domestic homeopathy / by P.F. Curie. With
additions and improvements by Gideon Humphrey. - Philadelphia : Harding, 1839.
- XXXIV, 250 S.
H/d/8/516
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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254
Beate Schleh, Uta Schweizer
D
Dem'jan Popov : osnovatel' Kievskoj gomeopatičeskoj školy v vospominanijach sovremennikov / sostavitel' T. D. Popova. - Kiev, 1999. - 113 S. : Ill.
ISBN 966-7652-00-9
H/a/2/790
Deutscher Zentralverein Homöopathischer Ärzte: Mitglieder-Verzeichnis / Deutscher
Zentral-Verein homoeopathischer Aerzte. - 1. Januar 1951. - Frankfurt am Main,
1951. - 19 S.
H/a/5/403/1951
Deutscher Zentralverein Homöopathischer Ärzte: Mitglieder-Verzeichnis / Deutscher
Zentral-Verein homoeopathischer Aerzte e. V. - 1. Januar 1956. - [o.O.], 1956. - 67
S.
H/a/5/403/1956
Deutscher Zentralverein Homöopathischer Ärzte: Mitgliederverzeichnis / Deutscher
Zentralverein homöopathischer Ärzte e.V. - [o.O.], 1963. - 57 S. - Beigelegt: Berichtigungen zum Mitgliederverzeichnis 1963 des »Deutschen Zentralvereins Homöopathischer Ärzte e.V.« - Stand 15.2.1965. - Ohne Zählung
H/a/5/403/1963
Deutscher Zentralverein Homöopathischer Ärzte: Mitgliederverzeichnis : alphabetisch
/ Deutscher Zentralverein Homöopathischer Ärzte e.V. - [o.O], [1977] - Ohne Zählung
H/a/5/403/1977
Deutscher Zentralverein Homöopathischer Ärzte: Mitgliederverzeichnis / Deutscher
Zentralverein Homöopathischer Ärzte e.V. - Stand 1.10.1983. - [o.O.], 1983. - 121
S.
H/a/5/403/1983
[Doctor Don Anastasio Garcia López] El Dr. D. Anastasio Garcia López. - Madrid :
Administración Cuchilleros, 1897. - 13 S.
In: El propagador homeopático ; 2. 1897, Mayo, No. 4
H/k/Garc/1897,1
Dokumentation zur Homöopathie : American Institute of Homoeopathy - Deutscher
Zentralverein homöopathischer Ärzte / Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Ansprechpartner für die Dokumentation: Martin Dinges. [Red.:
Sonja Müller]. - Stuttgart : Inst. für Geschichte d. Med., 2000. - 51 S. + 1 Diskette
H/a/1/473
Dulac, Charles: L'homoeopathie appliquée aux maladies des femmes : avec quelques
observations nouvelles sur le présent et l'avenir de cette science, et sur son application aux maladies tant aiguës que chroniques / par Charles Dulac. - [Nachdr.], Paris: Baillière, 1844. - Paris : Barnéoud, 1999. - 16 S.
Eingelegt in: Majer-Julian, Evelyne: L'homéopathie, pour bien vivre la ménopause.
- Paris, 1998
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs 2000
255
zu: H/d/5/365
E
Eberle, Hans: Arzneimittellehre : Heilung von Krankheiten in modernen Lebenssituationen / Hans Eberle ; Friedrich Ritzer. - München : Müller & Steinicke
Bd. 1. Neue homöopathische Arzneien / mit e. Vorwort von Alfons Geukens. 1999. - 402 S.
ISBN 3-87569-147-4
H/c/2/360
Ehrler, Witold: Das Wesen der homöopathischen Potenzen : Vortrag, Juni 1995 / Witold
Ehrler. - Freiburg : Freiburger Homöopathie-Verl., [1995]. - 85 Min.
(Eine Kassette der Freiburger Homöopathie Tage)
Umschlagt.: Neue Erkenntnisse über das Wesen der homöopathischen Potenzen
H/b/3/479
Ehrlich, Kurt: Paracelsus Pharmakon : Rezeptierbuch / Kurt Ehrlich. - [Memmingen] :
Feiner, [1960]. - 60 S.
H/d/9/611
Eichsteller, Wilhelm: Der praktische Homöopath : markante Leitsymptome in der homöopathischen Praxis ; e. Kompendium der homöopathischen Therapie ... / Wilhelm Eichsteller. - Oberursel/Taunus : Eichsteller, 1957. - 285 S.
H/c/2/476
Elemente zur Berliner Homöopathie. - Berlin : Berliner Verein Homöopathischer Ärzte
3. Vorträge aus den Jahren 1985 und 1986. - 1988. - III, 145 S.
H/b/3/706
L'enseignement du Docteur Pierre Schmidt / textes recueillis par le Dr J. Baur. - Paris :
Ed. Similia, 1990-1991.
Titel des 2. Bd.: L’enseignement du Dr. Pierre Schmidt
1. Notes personnelles et autobiographiques : généralités sur l'homoeopathie. - 1990.
- 434 S. : Ill.
ISBN 2-904928-52-9
2. 1991. - 508 S. : Ill.
ISBN 2-904928-59-6
H/a/2/584
Esparza y Dominguez, Estéban: Discurso : leído en el Instituto Homeopático en el acto
de la apertura del curso de 1883-84 / por Estéban Esparza y Dominguez. - Madrid :
Lapuente, 1883. - 24 S.
H/a/2/785
F
Fernández Sanz, Juan José: La prensa homeopática española en el siglo XIX / Juan José
Fernández Sanz. - Madrid : Fundación Instituto Homeopático y Hospital de San José, 1999. - 241 S. : Ill.
ISBN 84-607-0018-6
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
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256
Beate Schleh, Uta Schweizer
H/a/1/474
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257
Flores y Plá, Manuel: Memoria : leída en el acto de la apertura del curso de 1886-87 del
Instituto Homeopático / por ... Manuel Flores y Plá. Instituto Homeopático de Madrid y Hospital Clínico de San José. Discurso leído [en el acto inaugural del curso
de 1886-87 del Instituto Homeopático] / por Luis de Hysern y Catá. - Madrid : Tipografía de los Huérfanos, 1886. - XII, 77 S.
H/a/2/784
Fritsche, Herbert: Probleme der natürlichen Heilkunst / Herbert Fritsche. Mit e. Einf.
von Ernst Kalaß... - Berlin, 1979. - Getrennte Zählung
Außens. 100 Esoterik 1979
Fritsche, Herbert: Vom Werdeziel und der Heilung des Menschen : aus den Archiven
von Herbert Milas u. John Uhl / Herbert Fritsche. - Berlin, 1980.
Bd. 1. 9 Essays. - 1980. - 81 S.
(Die ungedruckten Bücher der verkannten und vergessenen Dichter ; 29)
Bd. 2. 18 Essays, ein Verlagsprospekt, eine gegnerische Polemik von Kelber und ein
Nekrolog von Dr. med. E. H. Schmeer, München. - 1980. - S. 82-150
(Die ungedruckten Bücher der verkannten und vergessenen Dichter ; 30)
Außens. 100 Esoterik 1980
25 [Fünfundzwanzig] Jahre Elektroakupunktur nach Voll (EAV) und Medikamententestung (MT) : Jubiläumskongreßbericht 1981 der Internationalen Medizinischen Gesellschaft für Elektroakupunktur nach Voll / mit Vorträgen von K. Beisch
... Zus.-gest. u. hrsg. von Reinhold Voll. - Uelzen : Medizinisch-Literarische Verl.Ges., 1982. - 282 S. : zahlr. Ill.
ISBN 3-88136-091-3
Außens. 100 Akup. 1982
G
Gallavardin, Jean-Pierre: Homöopathische Beeinflussung von Charakter, Trunksucht
und Sexualtrieb / von Jean Pierre Gallavardin. Ausgew., übers. u. bearb. von Hans
Triebel. - 3. Aufl. - Heidelberg : Haug, 1976. - 110 S.
ISBN 3-7760-0221-2
H/d/4/111/1976
García López, Anastasio: Programa de las lecciones de la primera asignatura : o sea de
la exposicion de la doctrina homeopatica ; bajo sus aspectos histórico, filosófico, fisiológico, patológico y terapéutico / por ... Anastasio García Lopez. - Madrid : Cámara, 1882. - 19 S.
H/d/3/120
Geoffroy, Daniel: Docteur Gilbert Charette (1878-1953) : chevalier de la médecine /
Daniel Geoffroy. - Nantes : Éd. Opéra, 1998. - 205 S. : zahlr. Ill.
ISBN 2-913343-06-6
H/a/2/562
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Beate Schleh, Uta Schweizer
Gerhardt, Adolph von: Gomeopatija : praktičeskoe rukovodstvo / Adol'f fon Gergardt. Izdanie 2., A. Forbrichera, Moskva, 1883, [Nachdr.]. - Moskva : Izdatel'stvo
"Dvojnaja Zvezda", 1993. - 775 S.
(Zabytye iskusstva)
2. Ausg. 1883 u.d.T.: Praktičeskoe rukovodsvtvo k'' gomeopatičeskoj medicinĕ
ISBN 5-86201-006-8 - ISBN 5-87495-015-X
H/d:3/234
Grenzgebiete der Schulmedizin : ein Katalog / von Haug & Cie, Wissenschaftliche
Buchhandlung und Antiquariat. [Katalogred.: Rudolf Fritsch]. - Ulm : Haug, [1957].
- 36 S.
H/a/1/435
Grote, Siegfried: Carduus marianus : eine Arzneimittelstudie / von Siegfried Grote. Stuttgart, [1941]. - 54 S.
Heidelberg, Univ., Diss.
H/c/4/Card-m.(1)
Günther, Friedrich August: Der homöopathische Hausfreund : ein Hülfsbuch für alle
Hausväter, welche die am häufigsten vorkommenden menschlichen Krankheiten in
Abwesenheit oder Ermangelung des Arztes schnell, sicher und wohlfeil selbst heilen
wollen ; nach den besten Quellen und Hülfsmitteln und vielfältigen eigenen Erfahrungen bearb. und hrsg. / von Friedrich August Günther. - Sondershausen : Eupel
1. Die Krankheiten der Erwachsenen ; ein Hülfsbuch für alle Hausväter, welche die
am häufigsten vorkommenden menschlichen Krankheiten in Abwesenheit, oder
Ermangelung des Arztes schnell, sicher und wohlfeil selbst heilen wollen ; nach den
besten Quellen und Hülfsmitteln und vielfältigen eigenen Erfahrungen bearb. und
hrsg. / von Friedrich August Günther. - 7., sehr verm. u. verb. Aufl. - 1858. XXXII, 583 S.
H/d/8/540/7.Aufl.
H
Hahnemann, Samuel: Iz''jasnenie vinnoj proby / Ganeman. - Sanktpeterburg, 1793.
Einheitssacht.: Über die Weinprobe <russ.> - KOPIE
In: Vračebnyja vedomosti, Febralja, 1793, S. 106-108.
H/e/3/1793,2
Hahnemann, Samuel: Nadežn''išee domašnee sredstvo ot'' omertvenija členov'' (Sphacelus) / Ganeman. - Sanktpeterburg, 1793
Einheitssacht.: Die verlässlichste Hausmedizin gegen Nekrose <russ.> - KOPIE
In: Vračebnyja vedomosti, Febralja, 1793, S. 108
an: H/e/3/1793,2
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Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs 2000
259
Hahnemann, Samuel: Opyt'' novago prinzipa dlja nachoždenija : cĕlitel'nych'' svojstv''
lĕkarstvennych'' veščestv'' ; 1796-1896 / Samuela Ganemana. ... Perevod'' s'' nĕmeckago s'' predisloviem'' L. E. Brazolja. - S.-Peterburg'' : Izdanie S.-Peterburgskago
obščestva Bracej Gomeopatov'', 1896. - XI, 84 S.
Einheitssacht.: Versuch über ein neues Prinzip zur Auffindung der Heilkräfte der
Arzneisubstanzen, nebst einigen Blicken auf die bisherigen <russ.>
H/e/2/41r/1896
Hahnemann, Samuel: Organon vračebnogo iskusstva : ili osnovnaja teorija gomeopatičeskogo lečenija / Samuelja Ganemana. - Sankt-Peterburg : Avrora, 1992. - 143 S.
H/e/2/70r/1992
Hahnemann, Samuel: Traité de matière médicale homoeopathique : ou de l'action pure
des médicamens homoeopathiques / par Samuel Hahnemann. Avec des tables proportionnelles de l'influence que diverses circonstances exercent sur cette action, par
C. Boenninghausen. Traduit de l'allemand par A.-J.-L. Jourdan. - Reprint [der
französ. Übers. von 1834 der 3. dt. Ausgabe]. - Paris : Ed. Similia, 1989.
Einheitssacht.: Reine Arzneimittellehre <franz.>
1. 1989. - XLI, 613 S.
ISBN 2-904928-41-3
2. 1989. - 570 S.
ISBN 2-904928-42-1
3. 1989. - 779 S.
ISBN 2-904928-43-X
H/e/2/75f/1989
Hamamelis : ein vorzügliches amerikanisches Heilmittel. - Leipzig : Dr. Willmar Schwabe, [o.J.] - 16 S.
H/c/4/Ham.(1)/o.J.
Hamamelis : ein gutes Heil- und Toilettenmittel / bearb. von Gustav Puhlmann. - Leipzig
: Dr. Willmar Schwabe, [um 1936]. - 24 S.
H/c/4/Ham.(1)/1936
Haug & Cie., Wissenschaftliche Buchhandlung und Antiquariat: Homöopathie :
enthaltend Werke aus den Bibliotheken C. v. Bönninghausen, E. Bastanier, R. u. E.
Haehl / Haug & Cie, Saulgau-Württ., Wissenschaftliche Buchhandlung und Antiquariat. - Saulgau : Haug, [1952]. - 28 S.
H/a/1/437
Hengstebeck, Theodor: Die Pflege des Ohres in ihren wichtigsten Grundzügen für Haus
und Familie / von Th. Hengstebeck. - Leipzig : Schwabe, [1895]. - 60 S.
H/d/4/351
Hense, Heinrich: Heilsystem »Truw« : Thorraduran-Radium-Homöopathie / Heinrich
Hense. - Hüls bei Krefeld : Verl. Thorraduranwerk, 1937. - XII, 519 S. : Ill. + 10
Bilder
H/d/9/920/1937
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
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260
Beate Schleh, Uta Schweizer
Hering, Constantin: [Homöopathischer Hausarzt] Hering's Homöopathischer Hausarzt. 23. Aufl. / vollst. umgearb. von Richard Haehl. - Stuttgart : Fromann, 1912. - XVI,
440 S.
H/d/8/513/1912
Hering, Constantin: [Homöopathischer Hausarzt] Hering's Homöopathischer Hausarzt /
Hering. - 24. Aufl. / vollst. umgearb. von Richard Haehl. - Stuttgart : Fromann, [um
1915]. - XVI, 440 S.
Umschlagt.: Hering-Haehl: Homoeopathischer Hausarzt
H/d/8/513/1915
Hering, Constantin: [Homöopathischer Hausarzt] Homöopathischer Hausarzt / HeringHaehl. - 28. Aufl. / vollst. neu bearb. von Richard Haehl. - Stuttgart : Fromann,
1923. - XVI, 469 S.
Umschlagt.: Hering-Haehl: Homoeopathischer Hausarzt
H/d/8/513/1923
Hering, Constantin: Homöopathischer Hausarzt / Hering-Haehl. - 29. Aufl. / vollst. neu
bearb. von Richard Haehl. - Stuttgart : Fromann, [1925]. - XVI, 469 S.
Umschlagt.: Hering-Haehl: Homoeopathischer Hausarzt
H/d/8/513/1925
Hering, Constantin: [Homöopathischer Hausarzt] Constantin Hering's Homöopathischer
Hausarzt : nach den besten homöopathischen Werken und eigenen Erfahrungen bearb. ; mit den Zusätzen der Dr. Dr. Goullon, Groß und Stapf / Hering. - 6.-20. Tsd.
des Nachdrucks der Originalausg. mit einigen Zusätzen in Fußnoten. - Berlin : Madaus, 1928. - 344 S.
H/d/8/512/1928
Hering, Constantin: Homöopathischer Hausarzt / Hering-Haehl. Neubearb. von Erich
Haehl. - 31. Aufl., 109.-114.Taus. - Stuttgart : Frommann, 1938. - XV, 504 S.
H/d/8/513/1938
Hering, Constantin: Homöopathischer Hausarzt / Hering-Haehl. Neubearb. von Erich
Haehl. - 32. Aufl., 115.-118. Taus. - Stuttgart : Frommann, 1942. - XV, 510 S.
Umschlagt.: Hering-Haehl: Homoeopathischer Hausarzt
H/d/8/513/1942
Hering, Constantin: Homöopathischer Hausarzt / Hering-Haehl. - 33. Aufl. - Stuttgart :
Frommann, 1946. - XV, 510 S.
H/d/8/513/1946
Hilfe für kranke Tiere : ein zuverlässiger Ratgeber Ihrer Apotheke. - Ründeroth : Apothekenverl. Verunda, [o.J.] - 32 S.
H/d/9/551
Hommage au Docteur Pierre Schmidt : comptes-rendus du Symposium Homoeopathique de Genève 24-27 septembre 1974 / [J. Baur.] [Vorw.] - [O.O.], 1974. - 447 S.
: Ill.
H/a/1/567
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Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs 2000
261
Homöopathie : eine Heilkunde und ihre Geschichte ; eine Ausstellung des Deutschen
Hygiene-Museums und des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch
Stiftung Stuttgart / präsentiert von der BKK in Baden-Württemberg. [Konzeption u.
Texte: Sigrid Heinze... Wiss. Leitung: Robert Jütte ; Martin Dinges.] - Dresden :
Deutsches Hygiene-Museum, [1997]. - 40 S. : zahlr. Ill.
H/a/2/298
Die Homöopathie und ihre religiösen Gegner im Blickwinkel medizinischen Wissens und christlichen Glaubens / Karl Kleinschmidt ; Hermann Frick. - 2. Aufl. Metzingen : Franz, 1999. - 126 S.
ISBN 3-7722-0299-3
H/b/3/713
Homöopathie und Philosophie & Philosophie der Homöopathie / hrsg. von Rainer
G. Appell. - Eisenach : Bluethenstaub-Verl., 1998. - 196 S.
ISBN 3-933717-00-0
H/b/3/715
Der homöopathische Hausfreund : eine Sammlung der wichtigsten homöopathischen
Arzneimittel und ihre Anwendung, den Freunden der Homöopathie gewidmet ;
nebst Anhang Hamamelis Virginica / von Prof. Dr. Mauch in Göppingen. - Göppingen : Rung, 1905. - 16 S.
H/c/1/832/1905
Der [homöopathische] homöopath. Hausfreund : eine Sammlung der wichtigsten homöopathischen Arzneimittel und ihre Anwendung, den Freunden der Homöopathie
gewidmet ; nebst einem Anhang Hamamelis Virginica u. Lebertran-Ersatz Piscin
von Dr. Stäger / von der Homöop. Zentralapotheke von Dr. R. Mauch in Göppingen. - Göppingen : Mauch, [1912]. - 56 S.
H/c/1/832/1912
Homöopathisches Repetitorium : Arzneimittellehre in Tabellenform / hrsg. von d. Dt.
Homöopathie-Union. Unter Beratung von Heinz Schoeler. - Karlsruhe : Dt. Homöopathie-Union, 1980. - 340 S.
H/c/2/315/1980
Homöopathisches Repetitorium : Arzneimittellehre in Tabellenform / hrsg. von d. Dt.
Homöopathie-Union. Unter Beratung von Heinz Schoeler. - Karlsruhe : Dt.
Homöopathie-Union, 1982. - 341 S.
H/c/2/315/1982
Homoeopathy : the guide ; a library on CDROM ; ADROM 1 - Version 1.0 ; Glasgow
unified information & data extraction / from AdHom: The Academic Departments
Glasgow Homoeopathic Hospital. - Glasgow : ADHOM, 1997. - 1 CD-ROM
Enth. HOM-INFORM Database
H/a/1/471
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
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262
Beate Schleh, Uta Schweizer
I
Improving the success of homeopathy 2 : developing and demonstrating effectiveness ;
conference proceedings ; an international conference, 15-16 April 1999, London,
UK / proceedings ed. by: Robbert van Haselen. - London : The Royal London
Homoeopathic Hospital, Academic Unit, 2000. - 72 S.
(British homeopathic journal / Supplement ; 1)
H/Z/b/40
Index medicus homoeopathica internationalis 1994 / [Albert Soler-Medina]. Liga
Medicorum Homoeopathica Internationalis. - Barcelona : L.M.H.I., 1995. - Ohne
Zählung
H/a/1/472
Internationaler Kongress für Homöopathische Medizin <1967, New Delhi>: Souvenir : International Homoeopathic Congress New Delhi 22nd to 26th Oct. 1967. [New Delhi], [1967]. - Getrennte Zählung
H/Z/i/55
Internationaler Kongress für Homöopathische Medizin <37, 1982, Brighton>: Papers and summaries : XXXV [sic] Congress Liga Medicorum Homoeopathica Internationalis, University of Sussex, 28 March - 2 April 1982. - [O.O.], 1982. - 580 S.
H/Z/i/55
Internationaler Kongress für Homöopathische Medizin <52, 1997, Seattle, Wash.>:
Proceedings of the 52nd Congress of the Liga Medicorum Homeopathica Internationalis 28 May - 1 June 1997 Seattle, Washington, USA : sponsored by the American Institute of Homeopathy / ed. by Dean Crothers. - Edmonds, WA : Arnica
Publ. ; American Institute of Homeopathy, 1997. - 207 S. : graph. Darst.
H/Z/i/55
Ivachnova, Anna M.: Bibliographie der Literatur zur Homöopathie in der Russischen
Nationalbibliothek St. Petersburg / Anna M. Ivachnova. - Aachen : Shaker Verl.,
2000. - VII, 84 S.
(Deutsch-russische Beziehungen in Medizin und Naturwissenschaften ; 3)
ISBN 3-8265-8022-2
H/a/1/475
J
O jovem / La junulo Hahnemann : do menino ao médico = de la knabo ĝis la kuracisto
; Meissen, Leipzig, Wien, Hermannstadt, Erlangen / Museu de Homeopatia Abrahão Brickmann. - Ribeirão Preto : Museu de Homeopatia Abrahão Brickmann,
2000. - 31 S. : zahlr. Ill.
H/a/2/426
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs 2000
263
K
Kästner, Ingrid: Homöopatie in Russland / Ingrid Kästner. - 2000.
In: Deutsch-russische Beziehungen in der Medizin des 18. und 19. Jahrhunderts /
Ingrid Kästner (Hg.), S. 83-91
Ges.med. 65 2000
Katalog der Bibliothek des Homöopathie-Archivs : Neuerwerbungen des Homöopathie-Archivs ... - Stuttgart : Steiner
13. Monographien / bearb. von Helena Korneck-Heck. Zeitschriften / bearb. von
Uta Meyer. - 1999. - Aus: Medizin, Gesellschaft und Geschichte, 18. 1999 (1999), S.
210-231
H/a/1/460
Kent, James Tyler: Was der Arzt, um erfolgreich verordnen zu können, wissen muß /
von James Tyler Kent. Dt. Bearb. Joachim Zinke. - Ulm : Haug, 1964. - 32 S.
Einheitssacht.: What the doctor needs to know in order to make a successful prescription <dt.>
H/b/3/507
Kilian, Hans: Der Homöopath : Doktor Samuel Hahnemann, der Arzt, der eine neue,
aufsehenerregende Heilmethode lehrte ; die Geschichte seines abenteuerlichen Lebens / von Hans Kilian. - [o.O.], [um 1980]. - 31 Bl. : Ill.
Artikelserie, die um 1980 in der Fernseh-Zeitschrift "Hörzu" erschienen ist. - KOPIE
H/a/2/403
Kleine homöopathische Arzneimittellehre : oder kurzgefaßte Beschreibung der gebräuchlichsten homöopathischen Arzneimittel / von A. v. Fellenberg-Ziegler. - 11.,
erw. u. verb. Aufl. - Leipzig : Schwabe, 1940. - XIX, 394 S.
H/d/8/302/1940
L
Larousse de l'homéopathie / sous la direction du docteur Philippe M. Servais. - Paris :
Larousse, 2000. - 318 S. : zahlr. Ill.
ISBN 2-03-510102-6
H/a/1/174
M
MacLeod, George: Pferdekrankheiten : homöopathisch behandelt / G. MacLeod. Übersetzung: Barbara D. Schrecke ; Gerhard Wertsch. - Schorndorf : WBV BiologischMedizinische Verl.-Ges., [1977]. - 180 S.
Einheitssacht.: The treatment of horses by homoeopathy <dt.>
ISBN 3-921988-18-7
H/d/7/528
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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264
Beate Schleh, Uta Schweizer
Majer-Julian, Evelyne: L'homéopathie, pour bien vivre la ménopause / Evelyne MajerJulian. - Paris : Ed. Similia, 1998. - 159 S.
Beigelegt: Dulac, Charles: L'homoeopathie appliquée aux maladies des femmes. Repr., Paris, 1844. - 1999
ISBN 2-904928-86-3
H/d/5/365
Mallonga esperanto kurso por homeopatiaj fakuloj : estude homeopatia e aprenda
esperanto / [comp.: Roger Carneiro Soares]. Departamento de Esperanto do Instituto Homeopático François Lamasson. - 1. ed. - Ribeirão Preto, 1995. - 45 S. : zahlr.
Ill.
H/d/8/262
Mandl, Elisabeth: Arzneipflanzen in der Homöopathie / Elisabeth Mandl. Mit e. Vorw.
von Mathias Dorcsi. - Wien : Maudrich ; München ; Bern, 1985. - 226 S. : zahlr. Ill.
ISBN 3-85175-415-8
H/c/1/229
Mantero de Aspe, Marcos: El ejercicio médico de la homeopatía en España a finales del
siglo XX : (análisis médico-legal) ; tesis doctoral / autor: Marcos Mantero de Aspe. Madrid : Dep. de Toxicología y Legislación Sanitaria de la Fac. de Med. de la Univ.
Complutense, 2000. - 273 Bl. : graph. Darst.
Madrid, Univ., Diss., 2000
H/a/2/787
Meissen : o berço da homeopatia = la naskigejo de homeopatio / publicação do Museu de
Homeopatia, eldonita de la Muzeo de Homeopatio, Abrahão Brickmann. - Ribeirão
Preto, 1999. - 20 S. : zahlr. Ill.
H/a/2/425
Müller, Andres: Pastor Felke und seine Heilmethode / von Andres Müller. - 29. stark
vermehrte und verb. Aufl. - Krefeld : Van Acken, [nach 1927]. - 375, VIII S.
Naturh. 29 1912
Müller, Clotar: Der homöopathische Haus- und Familienarzt : eine Darstellung der
Grundsätze und Lehren der Homöopathie zur Heilung der Krankheiten / von
Clotar Müller. - 15. Aufl. / völlig neu bearb. in der wiss. Abt. der Firma Dr. W.
Schwabe. - Leipzig : Schwabe, 1930. - XV, 361 S.
H/d/8/524/1930
Mukerjee-Guzik, Shiela: Homöopathie in der Praxis : Anwendungsbeispiele für Einsteiger / Shiela Mukerjee-Guzik. - Essen : KVC-Verl., 1999. - IX, 232 S.
(Forum Homöopathie)
ISBN 3-933351-06-5
H/d/3/189
Mukerjee-Guzik, Shiela: Praktische Veterinärhomöopathie : Anwendungsbeispiele für
Einsteiger / Shiela Mukerjee-Guzik. - Essen : KVC-Verl., 1999. - IX, 215 S.
(Forum Homöopathie)
ISBN 3-933351-07-3
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs 2000
265
H/d/7/401
Mullick, Gour Mohun: Pocket manual of homoeopathic therapeutics / by Gour Mohun
Mullick. - 1st ed. - Leipzig : Schwabe, 1934. - 301 S.
H/d/3/149
N
Der neue praktische Hausarzt : wohlerprobte Haus- und homöopathische Mittel nebst
Behandlung von Frauen- und Kinderkrankheiten / hrsg. von M. Lang. - 4. neu bearb. Aufl., 60.-70.Taus. - Stuttgart : Blüming, [o.J.] - 225 S.
1. Aufl. u.d.T.: Der vollständige Hausdoktor
H/d/8/580/4.Aufl.
Der neue praktische Hausarzt : wohlerprobte Haus- und homöopathische Mittel nebst
Behandlung von Frauen- und Kinderkrankheiten / hrsg. von M. Lang. - 5. neu bearb. Aufl., 71.-80.Taus. - Stuttgart : Blüming, [o.J.] - 225 S.
Umschlagt.: Der praktische Hausarzt. - 1. Aufl. u.d.T.: Der vollständige Hausdoktor
H/d/8/580/5.Aufl.
Neue vollständige, illustrierte Preis-Liste der Homöopathischen Central-Apotheke
zum Goldenen Engel Regensburg, Wahlenstrasse 23. - Regensburg : Sonntag,
1912. - VIII, 144 S. : zahlr. Ill.
H/c/1/835
Nuñez, José: Estudio médico del venero de la tarántula : segun el método de Hahnemann, precedido de un resúmen historico del tarantulismo y tarantismo, y seguido
de algunas indicaciones terapéuticas y notas clinicas / por D. José Nuñez. - Facsimil
Madrid, 1864. - Sevilla : Haro Artes Gráficas, 2000. - 204 S.
H/c/4/Tarent.(1)
P
Patel, Ramanlal P.: Die Kunst der Fallaufnahme : und Repertorisationspraktik in der
Homöopathie / Ramanlal P. Patel. Dt. Übers. Jutta Ramatschi. - 1. dt. Aufl. - München : Müller & Steinicke, 2000. - 255 S.
Einheitssacht.: The art of case taking and practical repertorisation in homoeopathy
<dt.> - Übers. der 6. engl. Aufl.
ISBN 3-87569-163-6
H/b/3/551
Pellicer, Tomás: Instruccion clara y metódica acerca del uso de los preservativos
igiénicos y medicinales del colera morbo epidémico y de los medicamentos para
combatirle / por Tomás Pellicer. - 4. Ed. aumentada. - Madrid : Alonso, 1885. - 36
S.
H/d/6/156
Pellicer, Tomás: Programa para los exámenes de Clínica Médica Homeopatica / por
Tomás Pellicer. - Madrid : Lapuente, 1883. - 20 S.
H/d/3/121
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Beate Schleh, Uta Schweizer
Popov, Dem'jan Vladimirovič: Kyevskaja homeopatyčeskaja skola : sbornyk statej i
dokladov / D[em'jan] V[olodymyrovyč] Popov ; T[etjana] D[em'janivna] Popova ;
A[nton] V[olodymyrovyč] Popov. - Kyev : Vipol, 1994. - 157 S.
ISBN 5-8238-0239-0
H/b/2/580
Popova, Tat'jana Dem'janovna: Ot arniki do jada kobry : gomeopatija i my / Tat'jana
Popova. - Moskva : Tekst, 1995. - 314 S. : zahlr. Ill.
(Ot A do Ja)
ISBN 5-7516-0045-2
H/c/2/358
The poultry doctor : including the homoeopathic treatment and care of chickens, turkeys, geese, ducks and singing birds ; also a materia medica of the chief remedies. Philadelphia : Boericke & Tafel, 1891. - IV, 85, III S.
H/d/7/592
Präparate-Kompendium / Dr. Madaus & Co. - Köln-Merheim : Madaus, 1982. - 83 S.
H/c/1/863
Preisliste für Ärzte : gültig ab 1. Februar 1999 / Weleda AG Heilmittelbetriebe, Zweigniederlassung der Weleda AG, Arlesheim/Schweiz. - Schwäbisch Gmünd : Weleda,
1999. - 25 S.
H/c/1/925
Preisliste über Arzneimittel der Homöopathie, Biochemie, Jso-KomplexHomöpathie und über allopathische Spezialitäten, Tierarznei-Mittel, Toilette-Artikel / Jso-Werk Regensburg A.G. - Ausg. 1934 (Mai). - Regensburg : Selbstverl., 1934. - 88 S.
H/c/1/836
Psychische Erkrankungen und ihre homöopathische Behandlung : 145. Jahrestagung
des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte Kiel 1994 / hrsg. von Anton
Drähne. - Karlsruhe : Deutsche Homöopathie-Union, 1994. - 53 S.
H/d/4/124
R
Raba, Peter: Eros und sexuelle Energie durch Homöopathie : unter besonderer Berücksichtigung der "sieben Todsünden" / Peter Raba. Mit Photographien von Adrian
Bela Raba u. Peter Raba. - 1. Aufl. - Murnau : Andromeda-Verl., 1998. - 816 S. :
zahlr. Ill.
ISBN 3-932938-38-0
H/d/5/236
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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267
Raba, Peter: Göttliche Homöopathie : vom notwendigen Erwachen im 3. Jahrtausend ;
Ein-Fälle zum Nach-Denken über homöopathische Grundprinzipien sowie über die
Natur ausgewählter homöopathischer Arzneien und ihre Beziehung zu archetypischen menschlichen Fehlhaltungen verdichtet zu Worten und Bildern / von Peter
Raba. - 1. Aufl. - Murnau-Hechendorf : Andromeda-Verl., 1999. - 448 S. : zahlr. Ill.
(Homöothek ; Sonder-Ed.)
ISBN 3-932938-03-8
H/d/8/700
Raba, Peter: Homöopathie : das kosmische Heilgesetz / Peter Raba. - 1. Aufl. - Murnau :
Andromeda-Verl., 1997. - 738 S. : zahlr. Ill.
ISBN 3-932938-93-3
H/d/9/193
Recherche en homéopathie 1995 : nouveaux thèmes de découvertes, bilan des travaux
en cours / Boiron. - Sainte-Foy-lès-Lyon : Boiron, 1995. - 36 S.
H/c/1/733
Repertorium der Psora nach Samuel Hahnemann / hrsg. von Bernhard Bloesy. - Greifenberg : Hahnemann-Institut, 1999. - VI, 183 S.
ISBN 3-929271-16-8
H/d/2/588
Riskin, Marc: Où va la médecine? / Marc Riskin. - Vernier [u.a.] : Ed. Beaujardin, 1994.
3. L'homéopathie élucidée. - 1994. - 16 S.
4. Dédié à ceux qui aspirent à la carrière médicale. - [1994?]. - 12. S.
H/d/8/263
Robert, Th. [Pseud.]: Die Funktionsheilmittel Dr. Schüßlers oder Kleiner biochemischer
Hausarzt : zur Behandlung der Krankheiten nach Dr. Schüßlers Methode nebst Angabe der entsprechenden homöopath. Mittel / von Th. Robert. - 8., verb. u. verm.
Aufl. - Leipzig : Schwabe, 1925. - XII, 245 S.
H/d/9/382
Das Robert-Bosch-Krankenhaus im Betrieb. - Stuttgart, 1940. - S. 41-63
Enth. u.a.: Ansprache des Herrn Walz. Ansprache des Herrn Robert Bosch.
In: Der Bosch-Zünder, 22. 1940, 5/6, Mai/Juni
H/k/ZZ/1940,1
S
Schilsky, Benno: Homöopathiefibel für Ärzte / von Benno Schilsky. - 4., unveränd. Aufl.
- Ulm/ Donau : Haug, 1959. - 63 S.
H/c/2/314/1959
Schoeler, Heinz: Elementa homoeopathica / hrsg. von der wissenschaftl.-lit. Abteilung
der Firma Dr. Willmar Schwabe. - Karlsruhe : Schwabe, 1956. - 32 S.
H/b/2/822/1956
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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268
Beate Schleh, Uta Schweizer
Schroeter, Fr.: Der homöopathische Federvieharzt : kurze leichtverständliche Anleitung
zur homöopathischen Behandlung des erkrankten Federviehs einschließlich der Stubenvögel unter Mitberücksichtigung der Biochemie / von Fr. Schröter. Bearb. in der
Wissenschaftlich-literarischen Abteilung der Firma Dr. Willmar Schwabe, Leipzig. 4. verb. u. verm. Aufl. - Leipzig : Schwabe, 1932. - IV, 95 S.
H/d/7/590/1932
Schüßler, Wilhelm Heinrich: Biochimičeskaja terapija : funkcional'nyja sredstva ;
sostavil'' po sočinenijam'' Doktorovy Schuessler "Eine abgekürzte Therapie" i Boericke and Dewey "The twelve tissue remedies" ... B. V. Borel' / Sjussler. ... - Reprintnoe izdanie. - S.-Peterburg'' : Pentkovskago, 1905. - 23 S.
H/d/9/303
Seer, J. A. H.: Handbuch der Thierheilkunde oder Anleitung, die Krankheiten der Haussäugethiere richtig zu erkennen, zu beurtheilen und zu heilen : mit Berücksichtigung
der von der Homöopathie empfohlenen Arznei-Mittel und Angabe der in Deutschland, vornehmlich aber in Preußen Geltung habenden polizeilichen u. gerichtlichen
Maßnahmen / von H. Seer. - 2. verm. u. verb. Aufl. - Glogau : Flemming, 1867. XVI, 832 S. : Ill., XV Taf.
H/d/7/312
Society of Homoeopaths: Annual report 1992 / The Society of Homoeopaths. - Northampton : Candor Print, 1992. - 38 S.
H/a/5/561
Spenglersan : die bewährte immunbiologische Konstitutions- und EntgiftungsEinreibetherapie nach Dr. med. Carl Spengler, Tuberkulose- und Krebsforscher /
Paul A. Meckel, Spenglersan, Bonn, Inh.: K. Arens. - Bonn, [o.J.] - 25 S.
H/d/6/517
Spezialpräparate Schwabe : Gesamtverzeichnis / Dr. Willmar Schwabe. - Karlsruhe :
Schwabe, 1975. - 47 S.
H/c/1/817/1975
Spezialpräparate TRUW / Thorraduranwerk Hense KG. Arzneimittelfabrik Hüls bei
Krefeld. - Hüls bei Krefeld : Thorraduranwerk Hense, [1959]. - Loseblattausg.
H/d/9/923
Spezialpräparate »TRUW« / Thorraduranwerk Hense KG. Arzneimittelfabrik Hüls bei
Krefeld. - Hüls bei Krefeld : Thorraduranwerk Hense, 1966. - 27 S.
H/d/9/922
Stäger, Robert: Die Geschichte vom weißen Raben : Unterhaltungen über Homöopathie
/ von Stäger. - Olten [u.a.] : Walter, 1939. - 55 S.
H/b/1/351
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs 2000
269
Stauffer, Karl: [Homöopathisches Taschenbuch] Stauffers homöopathisches Taschenbuch
: kurzgefaßte Therapie und Arzneimittellehre zum Gebrauche für die ärztliche Praxis. - 10., verb. Aufl., nach der von Stauffer besorgten Erstausg. / von Martin Schlegel. - Heidelberg : Haug, 1970. - XIII, 250 S.
ISBN 3-7760-0024-4
H/d/3/160/1970
Stephenson, James: Hahnemannsche Arzneimittelprüfungen : (Hyganthropharmakologie) 1924-1959 / von James Stephenson. - 1. Aufl. - Merzig : Homoeopathie-Verlag
Jost, 1999. - 255 S.
ISBN 3-931700-05-4
H/b/3/351
Stiegele, Alfons: Gomeopatičeskoe lekarstvovedenie / Al'fons Ščtigele. - Perevod s nemeckogo B. M. Paščenko. - Moskva : Terra, 1994. - 429 S.
Einheitssacht.: Homöopathische Arzneimittellehre <russ.>
ISBN 5-85255-393-X
H/b/2/657
Strömungen der Homöopathie : Konzepte, Lehrer, Verbreitung / Martin Schmitz
(Hrsg.) Mit Beitr. von Kerstin Schröder, Michael Teut u. Jörg Mielchen. - Essen :
KVC-Verl., 2000. - VIII, 230 S.
(Forum Homöopathie)
ISBN 3-933351-11-1
H/a/2/297
Swayne, Jeremy: [International dictionary of homeopathy] Churchill Livingstone's international dictionary of homeopathy : prepared in collaboration with the Faculty of
Homeopathy and the Homeopathic Trust / Jeremy Swayne. - Edinburg [u. a.] :
Churchill Livingstone, 2000. - XIV, 251 S.
ISBN 0-443-06009-6
H/a/1/173/2000
T
Tenbrock, Herbert: Secale cornutum : eine Arzneimittelstudie / von Herbert Tenbrock. Tübingen, 1942. - III, 87 S.
Tübingen, Univ., Diss.
H/c/4/Sec.(1)
Thomass, Gerolf: Die Behandlung der Cystopyelitis : Erfahrungen mit Eucalyptus glob.
und Cantharis am Homöopathischen und Robert Bosch-Krankenhaus / von Gerolf
Thomass. - Stuttgart, 1942. - II, 54 Bl.
Tübingen, Univ., Diss.
H/c/4/Eucal.(1)
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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270
Beate Schleh, Uta Schweizer
Traube, Isidor: Ueber die Wirkung von Arzneimitteln und Giften : pharmakologische
und toxikologische Probleme. Die Kolloidlehre und die Homöopathie / von J.
Traube. - Radeburg : Madaus, 1927. - 30 S.
(Medizinisch-biologische Schriftenreihe ; 6)
H/b/3/123
U
Ullman, Dana: The consumer's guide to homeopathy : the definitive resource for understanding homeopathic medicine and making it work for you / Dana Ullman. - New
York : Tarcher, 1995. - XIX, 409 S.
ISBN 0-87477-813-1
H/d/8/261
V
Voll, Reinhold: Indikationsliste der Nosoden : und ihre homöopathische Begleittherapie
für die ärztliche und zahnärztliche Praxis / von Reinhold Voll. - 5. Aufl. / überarb.
von H. Rossmann ; H. Sarkisyanz ; J. Thomsen ; M. Thyson. - Göppingen : Staufen-Pharma, 1999. - VII, 344 S.
H/c/2/914
W
Walach, Harald: Methoden der homöopathischen Arzneimittelprüfung : T.1: Historische
Entwicklung und Stand der Forschung / Harald Walach. - 1999. - 42 S.
In: Naturheilverfahren und unkonventionelle medizinische Richtungen / hrsg. von
M. Bühring ... - Berlin [u.a.]
H/k/Wala/1999,1
Wapler, Hans: Die Homöopathen-Frage und der Weg zu ihrer Lösung / von Hans Wapler. - Leipzig : Wittrin, 1913. - 24 S.
H/b/3/103
Weiterbildung Homöopathie : eine Fachbuchreihe des Deutschen Zentralvereins Homöopathischer Ärzte e.V. (DZVHÄ) / Hrsg.: Gerhard Bleul. - Stuttgart : Sonntag
Teil A. Grundlagen der homöopathischen Medizin. - 1999. - XV, 231 S. : Ill.,
graph. Darst.
ISBN 3-87758-194-3
H/b/2/769
Winston, Julian: Homoeopathic library of Julian Winston, New Zealand : as at April
2000 / [by Julian Winston]. - [Tawa, New Zealand], 2000. - 56 Bl. - KOPIE
H/a/1/470
Winter, Norbert: Handbuch der homöopathischen Fallanalyse / Norbert Winter. - 4.
Aufl. - Karlsruhe : Schule für Klassische Homöopathie, 2000. - 106 S. : Ill., graph.
Darst.
H/b/3/506
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs 2000
271
Wischner, Matthias: Fortschritt oder Sackgasse? : die Konzeption der Homöopathie in
Samuel Hahnemanns Spätwerk (1824-1842) / Matthias Wischner. - Essen : KVCVerl., 2000. - IX, 366 S.
(Edition Forschung)
ISBN 3-933351-10-3
H/e/5/2000,1
Witt, Claudia: Physikalische Untersuchung homöopathischer Hochpotenzen / Claudia
Witt. - Essen : KVC-Verl., 2000. - VIII, 82 S.
(Edition Forschung)
Berlin, Univ., Diss.
ISBN 3-933351-09-X
H/b/3/485
Z
Zandvoort, Roger van: Complete repertory : Gemüt bis Allgemeines / Roger van Zandvoort. Übertragung in die dt. Sprache von Henning Droege. - Dt. Ausg. - Ruppichteroth : Similimum-Verl. Stefanovic, 2000. - 3160 S. + 1 CD-ROM
Einheitssacht.: The complete repertory <dt.>
ISBN 3-930256-28-2
H/d/2/310
Zeitschriften
bearb. von Uta Schweizer
A
Allgemeine homöopathische Zeitung : für wissenschaftliche und praktische Homöopathie / Hauptschriftleitung: Karl-Heinz Gebhardt - Heidelberg : Haug
ISSN 0175-7881
245.2000
H/Z/a/20
American Institute of Homeopathy <Washington, DC>: Journal of the American
Institute of Homeopathy. - Denver, CO
65.1972, 3
73.1980, 2
75.1982, 3
79.1986, 2
92.1999
H/Z/j/70
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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272
Beate Schleh, Uta Schweizer
B
Bibliothèque homoeopathique / publ. par la Société Hahnemannienne Fédérative. Paris : Baillière
2.1869
H/Z/b/30
British homoeopathic journal / ed.: Peter Fisher. Faculty of Homoeopathy. - London :
Faculty of Homoeopathy
37.1947, 3
39.1949, 1
44.1954, 1
47.1958, 4
53.1964, 2
89.2000
H/Z/b/40
C
Current health literature awareness services : homoeopathy, allied sciences ; CHLAS /
Central Council for Research in Homoeopathy / Library Section. - New Delhi
12.1999
H/Z/q/25
D
Deutsche populäre Wochenschrift für Homöopathie. - Stuttgart : Zahn & Seeger
14.1895, Kopie gebunden in 2 Bänden
H/Z/d/20
Documenta homoeopathica / hrsg. von Ludwig-Boltzmann-Institut für Homöopathie,
Österreich. Ges. für Homöopath. Medizin. Red. Franz Swoboda. - Wien [u.a.] :
Maudrich
20.2000
H/Z/d/40
H
L'Homéopathie française / fondée en 1912 par Léon Vannier. Directeur de la réd. Henri Vannier. - Paris : Centre d'Etudes Homéopathiques de France
Vorg.: L'homoeopathie française
72.1984,3/4. = Numéro spécial: Recherche expérimentale. - 1984
H/Z/h/52
HomInt: R&D Newsletter. - Karlsruhe : HomInt-Gruppe
1999
H/Z/r/2
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs 2000
273
The Homoeopath : the journal of the Society of Homoeopaths / ed. Robin Logan. Northampton : Society of Homoeopaths
2000, no. 76-79
H/Z/h/21
The Homoeopathic prestige : an international monthly journal. - New Delhi : Pratap
9.1993,2 = 99: Towards the Hahnemannian horizons
H/Z/h/39
Homoeopathic up-date : monthly publication of B. Jain Group. - New Delhi : Jain
7.1999
H/Z/h/38
Homöopathie direkt : Nachrichten des Deutschen Zentralvereins Homöopathischer Ärzte. - Stuttgart : Sonntag
1999
H/Z/h/50
Homöopathische Flugblätter : Mitteilungsblatt des Wilseder StudentInnen Forums für
Homöopathie / Red.: Dorothee Schimpf, Karl und Veronica Carstens-Stiftung, Oliver Bonifer. - Essen
1999
2000
Auszüge aus den Flugblättern ; Reader. - 1/92 bis 4/95. - 1996. - 150 S. : Ill.
H/Z/h/63
I
India / Central Council for Research in Homoeopathy: CCRH news / Central Council for Research in Homoeopathy. - New Delhi
25.1999
H/Z/q/25
International Homeopathic League: L.M.H.I. news bulletin : official publications,
communications, information / Liga Medicorum Homoeopathica Internationalis. Bloemendaal : Management
1981/82. - Enth.: 8 Hefte mit der Bezeichnung: Code 06, 81/1 (Dec. 1980), 81/2
(Jan.), 81/3 (Juni), 81/4 (Oct.), 82/1 (Jan.), 82/2 (April), 82/3 (July), 82/4 (Oct.) 1981-1982. - Ohne Zählung
1983/85. - Enth.: 8 Hefte mit der Bezeichnung: Code 06, 83/1 (Jan.), 83/2 (April),
83/3 (Jul.), 83/4, 84/1, 84/2, 85/1, 85/2. - 1983-1985. - Ohne Zählung
H/Z/j/86
J
Le journal de l'homéopathie : lettre mensuelle d'informations médicales. - Sainte-Foylès-Lyon : Boiron
N.S. 1999, no. 61-67
H/Z/j/54
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
274
Beate Schleh, Uta Schweizer
[Le journal de l'homéopathie / Hors-série] Le journal de l'homéopathie : lettre mensuelle d'informations médicales. Hors-série. - Sainte-Foy-lès-Lyon : Boiron
(Le journal de l'homéopathie : Supplément)
1999, no. 13, 14
H/Z/j/54
M
The Monthly homoeopathic review : a monthly record of scientific therapeutics, general
medicine and surgery. - London : Turner [u.a.]; New York, NY : Smith
34.1890, 3
H/Z/m/50
N
National journal of homoeopathy. - Bombay : Advani
8.1999
H/Z/n/8
P
Patientenforum Homöopathie. - Hardegsen : Bundesverband Patienten für Homöopathie
2000
H/Z/h/72
Q
Quarterly homoeopathic digest / comp., transl., publ. by K. S. Srinivasan. - Korattur,
Chennai (India)
16.1999
H/Z/q/40
R
Revista de homeopatia / publ. da Asociação Paulista de Homeopatia - São Paulo : APH
63.1998, 1/2 (Heft 3/4 nicht erschienen)
64.1999,1/4
H/Z/r/7
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs 2000
275
Revista española de homeopatía : boletín de la Federación Española de Médicos
Homeópatas. - Sevilla
0.1992
1.1995
2.1995 nicht erschienen
3.1996
4.1997
5.1998
6.1999 = IV Jornadas Nacionales de Homeopatía, Sevilla
7.1999
1999,ed. spécial
H/Z/r/8
S
Schweizerischer Verein Homöopathischer Ärztinnen und Ärzte: Bulletin / SVHA,
SSMH. - Aeugst
1.1996, 1 (Heft 2 nicht erschienen)
2.1997, 1,2
3.1998, 1,2
4.1999, 1,2
5.2000, 1,2
H/Z/s/26
Das Similimum : das Mitteilungsblatt des Dietrich-Berndt-Institutes zur Förderung der
Homöopathie / Red.: Joachim Radke. - Göttingen : Dietrich-Berndt-Institut
H. 1-6 u.d.T.: Das Similum
2000, H.14
H/Z/s/29
Simillimum : the journal of the Homeopathic Academy of Naturopathic Physicians. Portland, OR
12.1999
H/Z/s/31
Substrat : Materialdienst für das Essener Forum für Homöopathie. - Essen : Karl und
Veronica Carstens-Stiftung
1999
2000
H/Z/s/93
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
IV. Homöopathiegeschichte: Laufende Forschungen und
Veranstaltungen
1. Laufende Forschungen
Heike Kron
Mühlgasse 12
86916 Kaufering
Tel. +49-8191-966860
Email: heike_kron@yahoo.de
James Tyler Kents Einfluß auf die Homöopathie im Spiegel der deutschen homöopathischen Zeitschriften
Laufzeit: April 1999 bis ca. 2004
Dissertation (Medizin), betreut von Prof. Dr. Wolfgang Locher, Institut für Geschichte der
Medizin der Ludwig-Maximilians-Universität München
Es sind hauptsächlich zwei Fragestellungen, die die Untersuchung leiten: 1. Welche homöopathischen Ärzte haben »Kent« nach Deutschland gebracht? 2. Welchen Einfluß hatte
Kent durch die Veröffentlichungen seiner Materia Medica, seines Repertoriums und seiner
Schriften zur Theorie der Homöopathie? Als Quellen kommen alle deutschen homöopathischen Zeitschriften aus dem Zeitraum 1880 bis 2000 in Betracht sowie die Originalquellen von Kent, soweit sie verfügbar sind.
Fritz D. Schroers
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
70184 Stuttgart
Tel. +49-711-46084165
Email: fritz.schroers@igm-bosch.de
Lexikon homöopathischer Ärzte im deutschsprachigen Raum seit 1832
Laufzeit: Oktober 2000 bis ca. 2002
Betreuer des Projekts: Prof. Dr. Robert Jütte, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart
Geplant ist, ein möglichst umfassendes Lexikon homöopathischer Ärzte zu erstellen, die
seit 1832 namhaft gemacht werden können. Das Lexikon soll alle Homöopathen umfassen,
von denen Daten ermittelt werden können, die über das Geburtsdatum hinausgehen. Die
Personen werden in einer Kurzbiographie dargestellt, dazu kommen Literatur- und bibliographische Angaben. Als Quellen dienen alle deutschsprachigen homöopathischen Zeitschriften.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Homöopathiegeschichte
276
Martin Zipf
Hohenzollernstr. 124
66117 Saarbrücken
Tel. +49-681-55648 oder 5897070
Email: MartinZipf@aol.com
Datenbank der homöopathischen Arzneimittelprüfungen
Laufzeit: 1998 bis offen
Die Basis der Homöopathie ist das Wissen um die Wirkung der Arzneistoffe durch Arzneimittelprüfungen. Seit der Begründung der Homöopathie durch Samuel Hahnemann
existiert das Problem, daß die ständig anwachsende Zahl von Arzneiprüfungen in Büchern
und Zeitschriften in verschiedenen Sprachen über die ganze Welt verstreut veröffentlicht
wird, aber für den praktizierenden Homöopathen nicht zentral zugänglich ist. In der Konsequenz geht Wissen, daß dem Praktiker helfen könnte, Kranke zu heilen, wieder verloren,
weil es verborgen in Archiven schlummert.
Das Ziel unseres Projektes besteht darin, sämtliche Arzneiprüfungen von Beginn der Homöopathie bis heute im Original in Form einer elektronischen Datenbank zu erfassen –
wobei nicht-deutschsprachige Texte, wie beispielsweise Allens »Encyclopedia«, ins Deutsche übersetzt und mit Hilfe eines eigens hierzu entwickelten Computerprogramms für die
praktische Arbeit des Homöopathen zugänglich gemacht werden. Dem praktizierenden
Homöopathen soll so ermöglicht werden, Arzneimittel anhand der originalen Prüfungssymptome verschreiben zu können. Hierbei erweist sich die Bibliothek des Instituts für
Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung von unschätzbarem Wert.
Seit zwei Jahren arbeiten 10 praktizierende Homöopathen ehrenamtlich an diesem Projekt.
Eine Unterstützung durch Förderer oder Mitgliedschaft in einem in nächster Zukunft zu
gründenden Verein wäre wünschenswert.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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V.
Sozialgeschichte der Medizin: Laufende Forschungen
und Veranstaltungen
1. Laufende Forschungen
Astrid Amhausend
Universität Rostock
Medizinische Fakultät, Institut für Arbeits- und Sozialmedizin
Schillingallee 70
18057 Rostock
Die Gründungsphase des Rostocker Stadtkrankenhauses (1794-1865)
Laufzeit: 1998 bis 2000
Dissertation (Medizin), betreut von PD Dr. Hans-Uwe Lammel, Arbeitsbereich Geschichte
der Medizin, Universität Rostock
Auf der Basis einer guten stadtarchivalischen Überlieferung zeichnet die Arbeit die Interessen und Gegensätze um das Projekt eines Stadtkrankenhauses in Rostock nach, wie sie sich
in den Auseinandersetzungen zwischen der Stadt, vertreten durch das Armendirektorium,
der Universität und der Regierung in Schwerin artikuliert haben, und fragt nach der Dialektik von Modernisierung und Traditionalismus.
Matthias Dahl, Dr. med.
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Universität Göttingen
Humboldtallee 36
37073 Göttingen
Tel. +49-551-394184
Fax +49-551-399554
Email: mdahl@wdg.de
Die Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie im 20. Jahrhundert unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten am Beispiel Göttingen
Laufzeit: Dezember 2000 bis November 2001
Das Projekt wird im Rahmen eines Forschungsförderungsprogramms der Medizinischen
Fakultät der Universität gefördert
Über die Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie im 20. Jahrhundert fehlt
es bislang an umfassenden Darstellungen. Als medizinisches Fach mit sozialer und interdisziplinärer Ausrichtung (Medizin, Pädagogik, Heilpädagogik, Psychologie) gewann die
Kinder- und Jugendpsychiatrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an zunehmender
Bedeutung. Anhand der beiden Periodika »Zeitschrift für Kinderforschung« und »Zeitschrift für Kinderpsychiatrie« wird die fachliche Entwicklung der 20er und 30er Jahre
analysiert. Anteil an dieser Entwicklung hatte eine Reihe von jüdischstämmigen Ärzten,
die jedoch ab 1933 emigrieren mußten. Die Schicksale dieser Berufskollegen sollen ebenso
nachgezeichnet werden wie ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Entwicklung ihres
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Sozialgeschichte
278
Faches. Darüber hinaus wird auf die regionalen Gegebenheiten in Göttingen eingegangen.
Am Beispiel des Provinzial-Erziehungsheimes, das 1912 eröffnet wurde und an die bestehende Heil- und Pflegeanstalt Göttingen angelehnt war, wird die lokale Entwicklung beispielhaft dargestellt.
Susanne Dietrich, Dr. phil.
Hartensteinallee 13
71638 Ludwigsburg
Tel. +49-7141-901217
Weise Frauen-Ärztinnen und Hebammen, Nonnen und Beginen in Württemberg. Frauenleben und
Medizingeschichte
Laufzeit: Januar 2000 bis Frühjahr 2001 (Erscheinungstermin)
Buchprojekt
Inhalt:
A Biographien.
Antike: Beispiele aus Byzanz und dem Orient.
Mittelalter und Europa: Die gelehrten Frauen von Salerno – die Trotula. Nonnen – Hildegard von Bingen und Herrade von Landsberg. Jüdische Ärztinnen und amtliche Hebammen in den Städten. Zauberkundige Hebammen und fahrende Heilerinnen auf dem Lande.
Württemberg: Die Alchimistenküche des Herzogs und der Pomeranzengarten der Herzogin: Von der kräuterkundigen Fürstin Sybilla und praktischen Pfarrfrau Maria Andreä.
Die Hofapothekerin Ruckher in Stuttgart. Die kaiserliche Leibärztin Agathe Streicher. Die
linke Salondame Else Kienle als Wohltäterin der Armen.
B Klöster und Hospitäler
Armenfürsorge und Krankenpflege. Seuchenbekämpfung und Hungersnöte. Klosterbrüder
und Beginen.
C Geburt, Krankheit, Tod und die Rolle der Frauen
Die Machtfrage: Ärzte und Hebammen. Von weiblicher Geburtenkontrolle zu männlicher
Bevölkerungspolitik.
Die Geldfrage: Doktoren, Heilerinnen und Wundärzte.
D Heilkräuter und Zaubertränke
Apothekerinnen und Hexen – Aberglaube, Brauchtum und Magie.
E Kriegswirren – von der Marketenderin zur barmherzigen Schwester
Huren und adlige Fräulein im Lazarett.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Laufende Forschungen und Veranstaltungen
279
Michael G. Esch, Dr.
Abt. Osteuropäische Geschichte
Heinrich-Heine-Universität
Universitätsstr. 9
40225 Düsseldorf
Email: esch@phil-fak.uni-duesseldorf.de
Das deutsche öffentliche Gesundheitswesen im besetzten Polen 1939-1944
Laufzeit: Dezember 1999 bis Dezember 2001
Es handelt sich um ein nicht qualifizierendes Forschungsprojekt, für das eine Finanzierung
noch aussteht
Die Medizin hat, als Wissenschaft und als Ideologie – indem sie beanspruchte, nicht nur
den einzelnen Menschen, sondern die Gesellschaft insgesamt heilen zu können und zu
sollen –, entscheidenden Einfluß auf die innenpolitische Entwicklung Deutschlands seit
dem Kaiserreich und schließlich auch auf die Entwicklung des nationalsozialistischen Gesellschaftskonzeptes gehabt. Insbesondere das nationalsozialistische Gesellschaftskonzept
basierte, so die These, von der das hier skizzierte Forschungsprojekt ausgeht, auf einer
Biologisierung gesellschaftlicher Verhältnisse und Phänomene; diese Biologisierung wies
der Medizin, und insbesondere dem öffentlichen Gesundheitswesen, eine entscheidende
Rolle bei der Gestaltung und Umsetzung bevölkerungs-, sozial- und gesellschaftspolitischer Entscheidungen zu. Folgerichtig setzte sich nach 1933 die rassenhygienische Variante
einer gesamtgesellschaftlich orientierten Medizin als eine unter mehreren innenpolitischen
Leitwissenschaften durch. Während aber Struktur und Tätigkeit der seit 1934 vereinheitlichten deutschen Gesundheitsverwaltung im Reichsgebiet seit einigen Jahren intensiv erforscht wird, fehlt es noch weitgehend an Studien zur Rolle, organisatorischen Struktur
und Tätigkeit des öffentlichen Gesundheitswesens in den besetzten Gebieten, wo sich insbesondere die rassistischen und rassenhygienischen Vorgaben ebenso wie die Bedingungen
einer rigiden Leistungsmedizin oft deutlicher als im Reichsgebiet niederschlugen. Der
»Reichsgau Wartheland« und das »Generalgouvernement für die besetzten polnischen
Gebiete«, später kurz »Generalgouvernement« genannt, sind für eine Untersuchungen der
organisatorischen Struktur, der Ziele, Methoden und Inkonsistenzen nationalsozialistischdeutscher Gesundheitspolitik besonders geeignet: Mit dem »Reichsgau Wartheland« soll
ein Gebiet untersucht werden, das staatsrechtlich ins Deutsche Reich eingegliedert wurde,
in manchen Bereichen aber unter Sonderrecht stand. Es war gleichzeitig ein Gebiet, in dem
sich nationalsozialistische Ordnungsvorstellungen in reinerer Form niederschlagen konnten, als dies im »Altreich« oder den Teilen der »eingegliederten Ostgebiete« der Fall war,
da die deutsche Verwaltung ohne Rücksichtnahme auf tradierte ministerialbürokratische
Strukturen aufgebaut werden konnte. Mit dem »Generalgouvernement« wird ein Gebiet
untersucht, das in der Zeit seines Bestehens mehrere Funktionswandel durchmachte und in
dem, was das Rechtssystem insgesamt angeht, alle Möglichkeiten zur Herstellung rechtsfreier Räume von vornherein dadurch angelegt waren, daß die zunächst weiter geltenden
polnischen Gesetze per Verordnung außer Kraft gesetzt werden konnten, soweit sie den
deutschen Besatzungszielen widersprachen. Quellen der Untersuchung sind in erster Linie
deutsche Behördenakten; darüber hinaus werden autobiographische Zeugnisse insbesondere polnischer und polnisch-jüdischer Mediziner und Medizinerinnen herangezogen.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Sozialgeschichte
280
Karoline Großenbach
Heinrichstr. 25
64283 Darmstadt
Tel. +49-6151-997522
Die Patienten des großherzoglich-hessischen Landeshospitals Hofheim im Vormärz. Männliche Krankheitsmuster und männliche Erfahrungen (1821-1849)
Laufzeit: Mitte 1999 bis Mitte 2002
Dissertation, betreut von Prof. Dr. Peter Krüger, Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften, Fachgebiet Neuere und Neueste Geschichte der Philipps-Universität Marburg
Durch die computergestützte Auswertung von etwa 1.500 Krankenakten des ehemaligen
großherzoglich-hessischen Landeshospitals Hofheim bei Darmstadt – heute Zentrum für
Soziale Psychiatrie Riedstadt – aus der Amtsperiode des ersten hauptamtlich dort tätigen
ärztlichen Leiters Franz L. Amelung 1821-1848 will die Arbeit Aufschluß über typisch
männliche Krankheitsmuster in der Psychiatrie des Vormärz gewinnen. Der Ansatz ist
einerseits der Patientengeschichte, andererseits der historischen Männerforschung verpflichtet und sucht einen Zugang zur alltäglichen ärztlichen und gutachterlichen Praxis und zu
den männlichen Patienten als Subjekten. Ihre Krankheitsgeschichten sollen im Kontext
ihrer sozialen Einbindung, ihrer meist dörflichen Lebenswelt und nicht zuletzt im Kontext
ihrer Auseinandersetzung mit ihren geschlechtlichen Rollencharakteren analysiert und den
zeitgenössischen Krankheitserklärungen, die schicht- und geschlechtsspezifisch unterschieden, gegenübergestellt werden. Auf diese Weise wird vor allem die These des bürgerlichen
Geschlechterdualismus mit seinen gesellschaftlichen und kulturellen Zuschreibungen im
Rahmen einer allgemeinen, auf breiter Basis geführten Forschungsdiskussion anhand der
Schicksale psychisch »abweichender« Männer einer kritischen Prüfung unterzogen. Als
Nebeneffekt dürften außerdem detailreiche Einsichten in die Praxis der zentralen Irrenanstalt eines deutschen Mittelstaates in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erwarten
sein, die dazu beitragen können, das historiographische Bild der reinen Detentions- und
Disziplinaranstalt zu korrigieren und zu differenzieren.
Susanne Kreutzer
Prinzenallee 58d
13359 Berlin
Tel. +49-30-4946417
Email: Susanne.Kreutzer@laohu.de
»Liebestätigkeit« als moderner Frauenberuf. Die gewerkschaftliche Interessenvertretung des weiblichen
Krankenpflegepersonals im »Bund freier Schwestern« der ÖTV 1949-1968
Laufzeit: Juni 1999 bis März 2002
Dissertation am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der TU
Berlin, betreut von Prof. Dr. Karin Hausen
Die Studie fragt zum einen danach, wie und mit welchem Erfolg die ÖTV auf die Veränderung des Berufsfeldes Krankenpflege eingewirkt hat. Im wesentlichen geht es dabei um
die Verberuflichung und Professionalisierung eines bis dahin weitgehend caritativ verfaßten Arbeitsbereiches. Zum anderen werden die Bedingungen, unter denen Krankenschwestern für die gewerkschaftliche Arbeit gewonnen werden konnten, und die Möglichkeiten
ihrer Interessenartikulation in der ÖTV untersucht. Die Studie stützt sich neben veröffent-
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Laufende Forschungen und Veranstaltungen
281
lichten und unveröffentlichten Gewerkschaftsquellen auf Interviews und Publikationen des
Gesundheitswesens.
Sabine Merta
Reeser Str. 3
47533 Kleve
Tel./Fax: +49-2821-92708
Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen
Lebensstilformen 1880-1930
Laufzeit: Ende 1994 bis Anfang 2001
Dissertation, betreut von Prof. Dr. Hans-Jürgen Teuteberg em., Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Quellen: Lebensreformerische und medizinische Primärquellen; zeitgenössische Gesundheits-, Diät-, Schönheits-, Fitness- und Schlankheitsratgeber.
Sekundärliteratur zur Diät-, Körperschönheits-, Fitness- und Schlankheitsthematik.
Fragestellungen: Wo sind die sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Wurzeln des modernen Schlankheitskults anzusiedeln?
Welcher Zusammenhang besteht mit einem gewandelten Gesundheits-, Ernährungs- und
Körperbewußtsein?
Was sind die historischen Ursprünge unserer modernen Diätkost und der aktuellen Fitnessbewegung?
Christine Pieper, M.A.
Scheideweg 46
20253 Hamburg
Tel./Fax: +49-40-88099567
Die Sozialstruktur der Ärzteschaft des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Barmbek 1914-1933.
Ein Beitrag zur kollektivbiographischen Forschung
Laufzeit: 1. April 1999 bis 31. März 2001 (halbjährige Verlängerung beantragt)
Dissertation, betreut von Prof. Dr. Franklin Kopitzsch, Sozialwissenschaftliche Fakultät der
Universität Hamburg. Gefördert von der Studienstiftung des deutschen Volkes
Die Erstellung einer Kollektivbiographie von 32 leitenden Oberärzten des AK Barmbek in
Hamburg basiert vor allem auf der Auswertung der im Staatsarchiv Hamburg vorhandenen Personalakten aus den Bereichen »Gesundheitsverwaltung«, »Hochschulwesen« und
»Entnazifizierung« sowie zeitgenössischer Zeitschriften, wie die »Mitteilungen der ärztlichen Bezirks-Vereine zu Hamburg«, die »Hamburger Ärzte-Correspondenz«, die »Mitteilungen für die Ärzte und Zahnärzte Groß-Hamburg«, die »Hamburger Wochenschrift für
Ärzte und Krankenkassen«, die »Jahrbücher der hamburgischen Staatskrankenanstalten«,
das »Ärzteblatt für Hamburg und Schleswig-Holstein« und das »Ärzteblatt für Norddeutschland«.
Das grundlegende Erkenntnisziel bezieht sich auf die Herausarbeitung des standes-, wissenschafts-, gesellschafts- und parteipolitischen Engagements der Kollektivärzte, die neben
ihrer Krankenhaustätigkeit vielfach in der »Gesundheitsfürsorgebewegung« (Tuberkulose-,
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Sozialgeschichte
282
Geschlechtskranken-, Schulgesundheits-, Krankenhaus- und Diabetikerfürsorge) des 20.
Jahrhunderts ehrenamtlich tätig waren.
Gerret Liebing Schlaber
Institut for Historie, Kultur og Samfundsbeskrivelse
Syddansk Universitet
Campusvej 55
DK-5230 Odense M
Tel. +45-6550-3134
Email: gerret@hist.sdu.dk
Zwischen Liberalismus und dem frühen Wohlfahrtsstaat: Sozialpolitik im Schleswiger Land 18381883
Laufzeit: April 1999 bis April 2002
Dissertaton an der Humanistischen Fakultät der Süddänischen Universität (Syddansk Universitet) Odense, betreut von Lektor Ph. D. Michael Bregnsbo
Ziel der Arbeit ist es, die Entwicklung der Sozialpolitik in Schleswig (bis 1864 Herzogtum
unter der dänischen Krone, danach Teil einer preußischen Provinz) vor dem Hintergrund
des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses zu beleuchten. Dabei
spielt die Entwicklung der Sozialmedizin eine hervorragende Rolle. Durch die Auswertung
von Physikatsberichten, Protokollen des Sanitätskollegiums, Korrespondenz der Medizinalverwaltung
auf
Amtsebene,
der
engagierten
Berichte
des
ProvinzialMedizinalkommissars und anderer Quellen soll die Modernisierung des Medizinalwesens
analysiert werden. Besondere Beachtung finden dabei der Zugang zu medizinischer Betreuung für die finanzschwachen Bevölkerungsschichten, der Aufbau des modernen Krankenhauswesens und Hygienemaßnahmen in der wenig industrialisierten Region, die in
diesem Zeitraum große politische, staatsrechtliche, wirtschaftliche und soziale Veränderungen erlebte.
Florian Steger, M. A.
Offenbachstr. 26
81245 München
Tel. +49-89-21949603
Email: florian.steger@stud.uni-muenchen.de
Asklepiosmedizin in der Römischen Kaiserzeit
Laufzeit: Januar 2000 bis Dezember 2001
Dissertation an der Fakultät für Geschichtswissenschaft – Alte Geschichte – der RuhrUniversität Bochum, betreut durch Prof. Dr. Linda-Marie Günther, Bochum, und Prof. Dr.
Renate Wittern-Sterzel, Erlangen
Das Konzept der Dissertation mit dem Arbeitstitel »Asklepiosmedizin in der Römischen
Kaiserzeit« sieht vor, eine möglichst vollständige Erschließung der verstreuten Quellen zur
medizinischen Alltagskultur der Kaiserzeit zu erreichen. Die Ergebnisse werden in einen
kulturhistorischen Kontext eingebunden und dabei die Koexistenz medizinischer Kulturen
im Imperium Romanum nachgewiesen. Auf der gewonnenen Folie wird die Asklepiosmedizin als eigene Form der Medizin beschrieben. Es wird die These verfolgt, daß sie in den
Tempelbezirken eine auf Beobachtung und vernunftgemäßen Naturverständnis basierende,
rational-wissenschaftliche Medizin betrieb. Die Asklepiosmedizin war zugleich mit dem
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
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Laufende Forschungen und Veranstaltungen
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Heilkult vernetzt und durch die Integration des Heilkultes in die Medizin um eine ganzheitliche Orientierung erweitert.
Karsten Uhl
Dorfstr. 41
25495 Kummerfeld
Tel. + 49-4101-810581
Fax +49-4101-810583
Email: karsten_uhl@gmx.de
Das »verbrecherische Weib«. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im Diskurs des 19. und 20. Jahrhunderts
Laufzeit: April 1998 bis 2000
Dissertation im Fachbereich Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, betreut von Prof. Dr. Martin Geyer, München, und Prof. Dr.
Norbert Finzsch, Hamburg. Gefördert durch das Münchener Graduiertenkolleg »Geschlechterdifferenz & Literatur«
Mein Dissertationsprojekt untersucht den Diskurs über die Natürlichkeit von Geschlecht
und Verbrechen, der sich durch die Humanwissenschaften (v. a. Kriminologie, Psychiatrie,
Gerichtsmedizin, Psychologie und Soziologie) und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts
verfolgen läßt. Ziel ist dabei, aufzuzeigen, wie in einem komplizierten und umkämpften
Konstruktionsprozeß Geschlecht und Verbrechen natürlich werden. Diese Naturalisierungspraktiken sollen dekonstruiert werden, indem der untersuchte Diskurs immer im
Lichte seiner gesellschaftlichen Funktionalität erscheint. Mit Michel Foucault geht es um
die Analyse von Macht-/Wissen-Komplexen; der Nutzen der Aussagen rückt in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses, nicht ihr Wahrheitsgehalt.
Im einzelnen geht es mir zunächst darum, herauszuarbeiten, wie sich im letzten Drittel des
19. Jahrhunderts ein neues Wissen über den »Verbrechermenschen« formieren konnte. Es
soll deutlich werden, wie das Konzept des frühen 19. Jahrhunderts, welches das Verbrechen als eine bewußte Tat eines freien Subjekts begriff, im Laufe weniger Jahrzehnte verschwand. Damit einher ging ein Bruch im Strafsystem. Was vormals als Bestrafung der
Schuld an einem Verbrechen ausgeübt wurde, wurde um 1900 als staatliche Sanktion gegen ein »gefährliches Individuum« zum Schutz der Gesellschaft gedacht. Neben die Moral
trat nun eine Sozialtechnik. Mit der Etablierung dieses Wissens, einhergehend, aber nicht
identisch mit der Institutionalisierung der Kriminologie, formierte sich der eigentliche Gegenstand meiner Untersuchung, der Diskurs über das »verbrecherische Weib«. Verbrechen, die von Frauen begangen wurden, konnten nun nicht mehr ohne Rückgriff auf die
Natur ›der Frau‹ an sich sowie der Verbrecherin erklärt werden. Im Gegensatz zur gängigen Interpretation der Geschichte der Kriminologie möchte ich darauf verzichten, von
einer Kontroverse zwischen Kriminalanthropologie und Kriminalsoziologie auszugehen.
Vielmehr gilt es zu zeigen, wie die Aussagen aus beiden ›Schulen‹ nach gemeinsamen Regeln gebildet wurden. Gerade an den Texten über Verbrecherinnen wird deutlich, daß
auch Ansätze, die den Umweltfaktor hervorheben, Verbrechen nie ohne einen Rückgriff
auf die Anlage der Täterin, bei welchem immer auch Wissen über die Geschlechterdifferenz einfloß, erklären konnten.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Sozialgeschichte
284
Ines Wiebersiek
Universität Bremen
Fachbereich 8 Abteilung Neuere und Neueste Geschichte
Postfach 33 04 40
28334 Bremen
Email: wiebers@uni-bremen.de
Die Kultur- und Sozialgeschichte der Amme im 18. und 19. Jahrhundert
Dissertation am Institut für Geschichte, Abteilung Neuere und Neueste Geschichte der
Universität Bremen, betreut von Prof. Dr. Doris Kaufmann
Laufzeit: Oktober 2000 bis September 2003
Die Dissertation hat zum Ziel, zu einer bisher fehlenden Sozial- und Alltagsgeschichte der
Ammen und zwar der Hausammen, der Fernammen und der Ammen in den Findelhäusern beizutragen. Die Ausgangsfragestellung ist, warum im 18. und 19. Jahrhundert das
Ammenwesen trotz Warnungen von Medizinern, Theologen und Humanisten eine so weite Verbreitung fand.
Neben den zahlreichen zeitgenössischen medizinischen und »kinderheilkundlichen« Ratgebern sollen Quellen aus den Bereichen der Kunst-, Rechts- und Kirchengeschichte sowie
»Ego-Dokumente«, wie Autobiographien, Briefe und Tagebücher, herangezogen werden.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Laufende Forschungen und Veranstaltungen
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2. Tagungen
Tagungsankündigung, Call for papers
Anatomie im 18. Jahrhundert
Internationales Abraham-Vater-Symposium
Wittenberg, 15. bis 17. November 2001
Die anläßlich des 250. Todestages des Wittenberger Anatomen Abraham Vater stattfindende Tagung wird den historischen Kontext anatomischen Denkens und anatomischer
Praxis im 18. Jahrhundert möglichst umfassend aufzeigen. Folgende Themenbereiche werden angesprochen:
Forschungen und Entdeckungen in der Anatomie des 18. Jahrhunderts
Auswirkungen anatomischer Forschungen auf die medizinische Praxis
Anatomischer Unterricht
Präparationstechniken und Präparate
Sammlungswesen
Verbreitung anatomischen Wissens in laienmedizinischer und nicht-medizinischer Literatur
Anatomie im sozialen und ökonomischen Kontext
Die Tagung findet in den Räumen der Stiftung Leucorea statt. Preisgünstige Übernachtungen (EZ 45 DM/Nacht) sind in den Gästezimmern der Leucorea möglich. Anmeldungen
bis zum 15. Oktober 2001 an: Dr. Jürgen Helm oder Karin Stukenbrock M.A., MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, D06097 Halle/Saale, e-mail: juergen.helm@medizin.uni-halle.de. Weitere Informationen:
http://www.medizin.uni-halle.de/geschichte/vater.html.
Call for papers
Erwünscht sind Beiträge in englischer oder deutscher Sprache. Vortragsanmeldungen mit
kurzen Abstracts werden bis zum 1. Mai 2001 erbeten an: Dr. Jürgen Helm oder Karin
Stukenbrock M.A., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Geschichte
und Ethik der Medizin, D-06097 Halle/Saale, e-mail: juergen.helm@medizin.uni-halle.de.
Weitere Informationen: http://www.medizin.uni-halle.de/geschichte/vater.html.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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