Jürgen Oelkers: Es gibt kein Monopol auf gute Ideen

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Jürgen Oelkers: Es gibt kein Monopol auf gute Ideen
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Es gibt kein Monopol auf gute Ideen
In der ZEIT Nr. 41/10 verteidigten Hans Brügelmann und
Bernhard Bueb die Reformpädagogik gegen die Kritik der
Ex-Kultusministerin Gabriele Behler (ZEIT Nr. 39/10). Ihnen
antwortet der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers
VON Jürgen
Oelkers | 14. Oktober 2010 - 08:00 Uhr
© Hulton Archive/ Getty Images
Sie war Feindbild und Ansporn für die Reformer: Die autoritäre Schule des 19. Jahrhunderts
Eine Tradition ist nur dann ein glaubwürdiges Vorbild für die Gegenwart, wenn sie ohne
einen Makel verstanden werden kann; das Bild der Vergangenheit muss rein sein, wenn
man sich auf sie berufen will. Der Streit um die Reformpädagogik seit der Aufdeckung
der jahrzehntelangen Praxis sexueller Übergriffe in der Odenwaldschule dreht sich um
diese Frage: Wie kann weiterhin vorbildlich sein, was belastet ist mit einem unfassbaren
Skandal?
Die Verteidiger der Reformpädagogik fürchten, dass ihre Errungenschaften in
Mitleidenschaft gezogen werden könnten, wenn die Tradition ihren Halt verliert.
Verhindert werden soll ein Rückfall in autoritäre Verhältnisse »vor« der Reformpädagogik,
die als Feindbild oder Legitimationsrückhalt genutzt werden, ohne genauer sagen
zu müssen, worin sie bestanden haben und ob sie nicht ganz ohne Reformpädagogik
überwunden wurden, einfach durch den Wandel der Lebensformen. Neue Einstellungen
zur Erziehung seit Mitte des 19. Jahrhunderts haben auch mit dem Erfolg der öffentlichen
Bildung zu tun, den die deutsche Reformpädagogik immer bestritten hat.
Aber die erste Frage muss sein, wie die Konstruktion der besonderen Tradition überhaupt
zustande gekommen ist, nämlich durch Glorifizierung der zeitgenössischen Akteure und
nicht durch Prüfung ihrer Praxis. Genauer: Von der publizistischen Rhetorik aus wurde
– und wird – auf die Praxis geschlossen, die unabhängig vom historischen Abstand nach
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wie vor vorbildlich sein soll. Grundlagen sind die Schriften von Schulgründern, also
Selbstdeutungen, hinzu kommen die zeitgenössischen Bewunderer sowie die heutigen
Interpreten, die unverzichtbare Errungenschaften vermuten.
Die Schulen, um die es geht, also vor allem die Landerziehungsheime, waren teure
Privatschulen, die schon aus diesem Grunde keine Vorbilder sein können. Und fragt
man nach ihren »Errungenschaften«, dann wird es noch dünner. Das Zusammenleben
in Internaten kann kein Modell sein für die öffentliche Schule, spezielle Methoden wie
offener Unterricht, Lernen in Projekten oder Individualisierung haben ihren Ursprung
nicht in Landerziehungsheimen, und die Formen der Partizipation, die es in diesen
Heimen gegeben hat, stammen aus den Vereinigten Staaten. Hier war das Testfeld der
Schulreformen. Landerziehungsheime gab es nicht, und die öffentlichen Schulen haben sich
selbst entwickelt.
Die Legende der Landerziehungsheime
Hinter der Legende der Landerziehungsheime steht der Gedanke der Rettung durch eine
neue Erziehung, den Johann Gottlieb Fichte 1808 in den Reden an die deutsche Nation
entwickelt hat. Auf dem Lande und in Internaten, also unbehelligt von den Erwachsenen,
sollte eine neue Generation erzogen werden, die die Erneuerung der Gesellschaft besorgen
würde. Die Idee des pädagogischen Moratoriums geht auf Rousseau zurück und wird am
Ende des 19. Jahrhunderts in der Lebensreformbewegung wieder aufgegriffen. Internate,
die wegen des inhärenten »Pennalismus« – Übergriffe der Älteren auf die Jüngeren – stets
anrüchig waren, wurden nunmehr zu Rettungsinseln stilisiert.
Wer sich auf die deutsche Reformpädagogik beruft, muss mit solchen missionarischen
Tönen rechnen, begleitet von der Stilisierung pädagogischer Größe. Untersucht man
dagegen die Praxis von Landerziehungsheimen, so erkennt man fehlbare Gestalten, subtile
Herrschaftstechniken, harte innere Konflikte, ständige Wechsel in der Lehrerschaft,
Finanznot und Lohndumping, heftige Auseinandersetzungen mit den Eltern und ein höchst
unterschiedliches Echo bei den Schülern, man erkennt, kurz gesagt, eine riesige Lücke
zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Der ständige Zwang zum Makellosen hatte Folgen auch nach innen. Viele Lehrkräfte und
nicht wenige Schüler übernahmen die Idee des Auserwähltseins und verstanden sich in
strikter Abgrenzung von der pädagogischen Außenwelt, also den staatlichen Schulen, die
als »Paukbetriebe« verunglimpft werden konnten.
Das Sendungsbewusstsein erklärt sich primär aus dem fehlenden Vergleich. Die
Schulreformen außerhalb der wenigen und immer sehr kleinen Landerziehungsheime
wurden nicht zur Kenntnis genommen oder abgewertet. Daher sprach der Freiburger
Philosoph Jonas Cohn schon 1915 in der Zeitschrift Logos von »Sekten«, die sich
unterscheiden müssen, wenn sie überleben wollen. Der Fehler auch des heutigen
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Streits über Reformpädagogik besteht darin, allzu sehr auf diese Sekten der
Lebensreformbewegung zu achten und das Heil von dort zu erwarten.
Die Rede ist von einigen Dutzend privaten Instituten in der Weimarer Republik, die zu den
Landerziehungsheimen gezählt werden können. Gerade drei sind überhaupt im größeren
Maße beachtet worden, neben der Odenwaldschule die Freie Schulgemeinde Wickersdorf
und die Deutschen Land-Erziehungs-Heime von Hermann Lietz. Die historische Szene
der Alternativschulen war größer, aber immer noch winzig gegenüber der Zahl der
Staatsschulen. Es empfiehlt sich also, die »Reformpädagogik« genau hier zu suchen, bei
den Staatsschulen in der Mitte des Systems und nicht bei einigen wenigen Schulen an den
Rändern. Von dort auszugehen ergäbe nur Sinn, wenn die große Mehrheit der Schulen
komplett abgeschrieben würde oder groteske Transfererwartungen bestünden. Die Frage
ist dann, wo und wie neue Einstellungen zur Erziehung und zu den Kindern entstehen
konnten und warum das mit Nachhaltigkeit verbunden war. Die Antwort: Dafür gibt es kein
bestimmtes Datum und auch keinen Namen, der einzigartig wäre.
Die eine beste Pädagogik für alle Fälle gibt es nicht
Das überflüssige Konstruieren absurder Gegensätze zeigt sich am Beispiel »verwaltete
Schule«, dem traditionellen Feindbild der deutschen Reformpädagogik: Erst sie ermöglicht
doch jene Kontinuität, die erforderlich ist, um Reformen im Sinne wirklich neuer
Problemlösungen überhaupt vorantreiben – und überprüfen – zu können. Der Streit um den
Verlust der großen Tradition der Reformpädagogik wird dann ziemlich müßig, wenn man
erkennt, dass der erwartete Verlust an reformerischer Tatkraft nicht eintreten wird oder
unvermeidlich ist – weil die Reformpädagogik nicht Gegensatz, sondern Teil der großen
Mehrheit der Schulen ist. Und was heute eine »reformpädagogische« Schule genannt wird,
muss sich denselben Fragen der Wirksamkeit stellen wie alle anderen Schulen auch. Denn
wonach immer gesucht worden ist, die eine beste Pädagogik für alle Fälle, die gibt es nicht.
Der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers lehrt an der Universität Zürich
COPYRIGHT: DIE
ZEIT, 14.10.2010 Nr. 42
ADRESSE: http://www.zeit.de/2010/42/C-Reformpaedagogik-Streit
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