Die Rolle des westafrikanischen Substrats bei

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Die Rolle des westafrikanischen Substrats bei
Die Rolle des westafrikanischen Substrats bei
der Entstehung der seriellen Verbkonstruktionen
in den französischbasierten Kreolsprachen
der Karibik
Claudia Bucheli Berger
In diesem Beitrag soll der Einfluss der westafrikanischen Sprachen,
kurz Substrat genannt, auf die Genese der seriellen Verbkonstruktionen in den französischbasierten Kreolsprachen der Karibik untersucht
werden.1 Ob überhaupt und in welcher Form die westafrikanischen
Sprachen einen Beitrag zur Kreolgenese geleistet haben, ist in der
Linguistik immer wieder Gegenstand heftiger Debatten gewesen. Dies
wird zunächst kurz dargestellt. Danach wird die Rolle des Substrats
bei der Entstehung der seriellen Verbkonstruktionen im Kreol von
Haiti detailliert beschrieben. In einem typologisch-vergleichenden
Ansatz und unter Einbezug der Grammatikalisierungstheorie von
Heine, Claudi und Hünnemeyer (1991) sollen die seriellen Verbkonstruktionen in näheren Zusammenhang mit bestimmten westafrikanischen und südostasiatischen Sprachen gebracht werden, die ebenfalls
serielle Verbkonstruktionen haben und auch morphologiearm («isolierend») sind. Dieses Vorgehen stellt eine Möglichkeit dar, aus der Gesamtheit der Prozesse der Kreolisierung diejenigen Sprachwandelprozesse und -phänomene herauszufiltern, die nicht nur bei Kreolsprachen auftreten, sondern universal beim natürlichen Sprachwandel
beobachtbar sind. Somit kann gezeigt werden, dass neben speziellen
Kreolisierungsprozessen auch reguläre Sprachwandelprozesse bei der
Genese der Kreolsprachen beteiligt waren. Ich verwende im Folgenden haitianische Sprachbeispiele, die aus basilektalen Texten (Morisseau-Leroy 1982) und aus Befragungen von Informantinnen und In-
1
Ich danke allen, die diesen Artikel kommentiert haben, insbesondere Prof. Thomas
Bearth und den Herausgeberinnen und dem Herausgeber des Buches.
158
Claudia Bucheli Berger
formanten stammen.2 Im Weiteren erlauben mir die im Internet
komplett auf Haitianisch übersetzte Bibel sowie andere haitianische
Texte, meine Ergebnisse zu überprüfen und mit zusätzlichen Beispielen zu ergänzen.
Zum historischen Kontext des Haitianischen
Haiti hat etwa 8,8 Millionen Einwohner (Der Fischer Weltalmanach
2001). Die meisten Haitianerinnen und Haitianer sprechen Kreolisch,
nur eine kleine Elite spricht und schreibt zusätzlich Französisch oder
Englisch. In jüngster Zeit wird auch Kreolisch geschrieben.3
Ungefähr eine Million Haitianer leben im Exil, hauptsächlich in
den USA, in Kanada und in der Dominikanischen Republik. Das
Kreol von Haiti ist daher heute weit verbreitet und dient dank dem
Internet auf vielfältige Art und Weise der Kommunikation innerhalb
der haitianischen Diaspora sowie im Kontakt mit den in Haiti Gebliebenen. Haitis erste Besiedlung durch Franzosen und schwarze Sklaven
aus Westafrika begann 1659 (vgl. Singler 1995). Nach verschiedenen
Aufständen der Sklaven erlangte Haiti 1804 als erste «schwarze» Republik die Unabhängigkeit. Die Kolonialherren flohen oder wurden
getötet, was die Präsenz der französischen Sprache auf Haiti drastisch
reduzierte. Es folgten im 19. und 20. Jahrhundert viele Bürgerkriege
und Diktaturen bei wechselnden Staatsformen, was aus Haiti bis heute
eines der ärmsten Länder der Welt gemacht hat. Die Arbeitsmigration
in die Dominikanische Republik ist seit dem 19. Jahrhundert verbreitet, das führte zum Kontakt mit der spanischen Sprache. Von 1912 bis
1935 besetzten US-Truppen Haiti, dies wiederholte sich 1994/1995.
1995 bis 2000 und erneut ab 2004 waren UNO-Truppen auf der Insel
2
Zu meinen in der Schweiz befragten Informantinnen und Informanten zählen unter
anderem ein ursprünglich aus Haiti stammendes Ehepaar, das seit 1964 in der französischen Schweiz lebt, sowie zwei Personen, die teilweise in Haiti und in den USA
aufgewachsen sind.
3
Dies berichtet Rico Valär, ein Schweizer Primarlehrer, der 2003 als Zivildienstleistender für eine NGO in Desarmes (Haiti) war, um Primarlehrer zu neuen Unterrichtsmethoden zu inspirieren.
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stationiert. Wie immer die Beziehung zu den USA sich auch gestaltete, ob kriegerisch oder friedlich, es ist nicht von der Hand zu weisen,
dass das US-Englisch im Verlauf des 20. Jahrhunderts begann, als
Überdachungs- und Ausbausprache dem Französischen Konkurrenz
zu machen.
Die Debatte um den Einfluss des Substrats
Es soll im Folgenden dargelegt werden, dass die Frage nach dem Substrat für alle Theorien zur Genese des Kreolischen als eine Art
Gretchenfrage von grosser Bedeutung ist. Schon 1883 trug Lucien
Adam dem besonderen Charakter der Kreolsprachen Rechnung, indem
er sie als «hybrid» bezeichnete. Während er den grössten Teil des Vokabulars der Kreolsprachen als aus den europäischen Zielsprachen
abgeleitet verstand, betrachtete er die Phonologie und die Grammatik
als «afrikanisch». Für das Haitianische behauptet Suzanne Sylvain
(1936: 178) etwas Ähnliches: «Nous sommes en présence d’un français coulé dans le moule de la syntaxe africaine ou, […], d’une langue
éwé à vocabulaire français.» Diese Position hatte in der damaligen
Zeit sicherlich revolutionären Charakter und ist in ihrer Verallgemeinerung aus den damals beschränkten Kenntnissen der afrikanischen
Sprachen zu erklären. Sie lässt sich aber beim heutigen Wissensstand
wohl kaum in so extremer Form aufrechterhalten. Gemeinsam ist
diesen Autoren jedoch, dass sie erkannt haben, dass dem Substrat sehr
wohl eine Rolle zukommt. Sylvain (ebd.) hat für verschiedenste Bereiche der Grammatik den Einfluss sowohl des Französischen als auch
der westafrikanischen Sprachen in Erwägung gezogen. Für die
seriellen Verbkonstruktionen erklärt sie den Einfluss des Substrats
zum entscheidenden Faktor.
Nichtsdestoweniger publiziert Jules Faine (1936) im selben Jahr
wie Sylvain seine Grammatik des Haitianischen, welche den Einfluss
der französischen Dialekte generell als dominant bezeichnet. Dies
stellt zwar einen einseitigen Ansatz dar, ist aber insofern interessant,
als Faine aufzeigt, dass die Kreolsprachen nicht aus der Standardspra-
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che abzuleiten sind, sondern durch die Dialekte und überregionalen
Varianten des Französischen der Kolonialzeit geprägt sind.
Abgesehen von diesen Extrempositionen gibt es auch Autoren, die
moderate Positionen einnehmen, indem sie den Substrateinfluss neben
dem Einfluss des Französischen und anderen Faktoren zulassen. So
ordnet Robert Hall (1950, 1951, 1955) das Haitianische zwar unter die
neo-romanischen Sprachen ein und sieht gar die Merkmale einer indoeuropäischen Sprache gegeben, aber er plädiert auch dafür, dass es
neben Konvergenz und Entwicklungen aus der Zielsprache (Französisch, Englisch usw.) Entwicklungen gäbe, die alleine auf den Einfluss
der afrikanischen Sprachen zurückgingen.4 Gerade bei den seriellen
Verbkonstruktionen stimmen Autorinnen und Autoren verschiedenster
Schulen darin überein, dass der Substrateinfluss bei der Genese beteiligt war, zum Beispiel beim Anschluss des Dativobjekts durch das
Verb bay/ba/ban «geben», beim Komparativverb pase «(dé)passer»
und bei den nachgestellten direktionalen Bewegungsverben (Bollée
1982: 397–398; Boretzky 1983: 184; Alleyne 1996: 184; Fattier
2003).
Auch auf sozio-historischer Ebene kann man meines Erachtens den
Einfluss des Substrats plausibel machen, obwohl viele Substratgegner
argumentieren, dass das westafrikanische Substrat zu heterogen gewesen sei, als dass es einen Einfluss auf die Entstehung der Kreolsprachen ausgeübt haben könnte. Arbeiten von Anthropologen wie Herskovits (1936, 1971) legen dar, dass in Haiti insbesondere in der Kultur
und Religion (voudou) Übereinstimmungen mit Westafrika im Bereich des Ewe und des Fongbe bestehen. Es scheint also auch eine Art
innerafrikanischen Sprach- und Kulturkontakt auf Haiti gegeben zu
haben, der zur Dominanz einer bestimmten afrikanischen Kultur geführt hat. Des Weiteren haben Arbeiten zur sozio-historischen Demographie aufgezeigt, dass Kwa-Sprachen, insbesondere die Gbe-Spra4
In den englischen Beiträgen (Hall 1950, 1951) wird dieser Prozess mit dem Terminus loan-translation beschrieben, was einer Relexifikation nahe kommt. Im italienischen Beitrag (Hall 1955) tritt ein Prozess hinzu, der eine Reanalyse bezeichnet,
die vom Substrat in der Zielsprache ausgelöst wurde.
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chen, zahlenmässig in der founder population tatsächlich dominant
gewesen waren (Singler 1995).
Insgesamt verdeutlicht die Geschichte der Kreolistik, dass der Einfluss des Substrates umstritten war und, wenn von einem Substrateinfluss ausgegangen wird, sein genaues Wirken unklar bleibt. Meines
Erachtens ist es schwierig, den Einfluss des Substrats isoliert zu betrachten, weil eine Vielzahl von Prozessen und Faktoren an der
linguistischen Kreolgenese beteiligt waren. Folglich gehe ich davon
aus, dass es für die Kreolsprache eine «vielfache Herkunft» gibt, was
eine enorme Herausforderung an das klassische Stammbaummodell
und an die Beschreibung der Genese darstellt. Selbst bei den seriellen
Verbkonstruktionen werden wir sehen, dass es nicht etwa eine eindeutige Zuordnung zu einer einzigen Quelle gibt, da nicht nur die
westafrikanischen Sprachen, sondern auch universale Grammatikalisierungspfade eine bedeutende Rolle gespielt haben. Durch meinen
typologisch-vergleichenden Ansatz ist es möglich, das Zusammenwirken der verschiedenen Prozesse zu beschreiben und eine Hierarchie
der Prozesse aufzustellen.
Prozesse des Substrateinflusses bei den seriellen
Verbkonstruktionen
In einem früheren Artikel habe ich dargelegt, dass es nötig ist, neben
dem Substrateinfluss auch den Einfluss von universalen Sprachwandelpfaden bei der Genese gewisser serieller Verbkonstruktionen zu
berücksichtigen (Bucheli 2001). Diesen Gedanken werde ich im Folgenden vertiefen. Ich stelle die Hypothese auf, dass es einen Grammatikalisierungsprozess gegeben hat, dessen Initialzündung vom Substrat
stammt, der ansonsten aber den universell beobachtbaren Grammatikalisierungspfaden folgt. Diesen Prozess nenne ich «substratinitiierte
Grammatikalisierung». Beim Grammatikalisierungsprozess handelt es
sich um einen Sprachwandelpfad, der für Nicht-Kreolsprachen in
Afrika und Südostasien beschrieben worden ist und daher als
universell gelten kann (vgl. Heine, Claudi und Hünnemeyer 1991;
Lord 1993; Bisang 1996). Dabei grammatikalisieren Verben einer be-
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stimmten Semantik in seriellen Verbkonstruktionen zu Adpositionen.
Meine Hypothese basiert auf folgender Annahme: In den karibischen
Franko-Kreolsprachen ist dieser Grammatikalisierungsprozess durch
den Kontakt mit den westafrikanischen Kwa-Sprachen ausgelöst
worden, welche ihrerseits über die betreffenden seriellen Verbkonstruktionen verfügen. Der Grammatikalisierungsprozess hat sich
dann gemäss dem universellen Grammatikalisierungspfad weiterentwickelt. Aus dieser «substratinitiierten Grammatikalisierung» sind die
den karibischen Franko-Kreolsprachen gemeinsamen seriellen
Verbkonstruktionen entstanden. Zusätzlich verfügt das Haitianische
über spezielle Weiterentwicklungen und über weniger Dekreolisierungseffekte,5 so dass es heute über mehr und weiter entwickelte serielle Verbkonstruktionen verfügt als die Franko-Kreolsprachen der
Kleinen Antillen. Die These der «substratinitiierten Grammatikalisierung» soll im Folgenden anhand der nachgestellten direktionalen
Bewegungsverben (abgekürzt V2) vertieft werden.
Serielle Verbkonstruktionen
Ich folge dem typologischen Ansatz von Bisang (1996: 9), der die
Verbserialisierung als «unmarkierte Juxtaposition zweier oder mehrerer Verben oder Verbalphrasen definiert, wovon jede/s auch allein
einen Satz bilden kann». Dies ist eine sehr offene Definition, die sich
hauptsächlich auf strukturell-syntaktische Eigenschaften stützt.
Direktionale Bewegungsverben als V2 im Haitianischen
Wenn direktionale Bewegungsverben als V2 in einer seriellen Verbkonstruktion stehen, fügen sie zur Semantik des V1 die Komponente
der gerichteten Bewegung hinzu und können dessen Valenz erhöhen,
wenn sie einen zusätzlichen, peripheren Aktanten einführen. Die Kon-
5
Der Grund dafür ist, dass das Französische in Haiti nicht so stark präsent blieb wie
in den Kleinen Antillen.
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stituenten haben eine feste Abfolge, wobei das Patiens und der Lokus
nicht obligatorisch ausgedrückt werden müssen:6
(1) S TAM V1 NPPatiens V2 NPLokus /PPLokus
Zur Illustration soll das folgende Beispiel dienen:
(2) Yo
3PL
mennen-l
tounen
Grangozye. Haitianisch
menner-3SG
retourner
Grand-Gosier
«Puis on l’accompagna jusqu’à Grand-Gosier» (Morisseau-Leroy
1982: 98).
Es können auch mehrere transitive V1 stehen, wobei dann das PatiensObjekt nur einmal, nach dem ersten V1, realisiert wird:
(3) Si se
si
je
ou
ki
pou ta
FOK yeux POSS REL pour IRR
fè
ou tonbe nan peche,
faire toi tomber dans péché
rache
li voye
jete byen
lwen
ou. Haitianisch
arracher
il
jeter bien
loin
toi
envoyer
«Et si ton œil est pour toi une occasion de chute,
arrache-le et jette-le loin de toi» (Bible: Matthieu 18: 9).
Die Liste der Verben, die als V2 verwendet werden können, umfasst
nach dem aktuellen Stand meiner Forschungen folgende Verben, die
eine selbstangetriebene Bewegung in eine bestimmte Richtung ausdrücken:7
6
S = Subjekt, TAM = Tempus-Aspekt-Modus-Markierung, V = Verb, NP = Nominalphrase, PP = Präpositionalphrase.
7
Im Vergleich zu Bucheli (2001: 9) umfasst diese Liste nun auch rive «arriver» und
antre «entrer». Zudem bringe ich jete «jeter» mit diesem direktionalen Paradigma in
Zusammenhang.
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Tabelle 1
Haitianisch
al(e)
vin(i)
rive
sòt(i)
antre
monte
desann
(re)tounen
als Prädikat
«gehen»
«kommen»
«ankommen»
«herauskommen»
«hineingehen»
«hinaufgehen»
«hinuntergehen»
«zurückgehen»
als V2
hin
her
zu X, bis X
aus dem Innern von X heraus/hinaus
in X hinein/herein
hinauf
hinunter
zurück
Diese V2 bilden ein Paradigma, das die horizontale und die vertikale
Raumachse umfasst, mit jeweils einem Hin und Her (al(e) «aller»,
vin(i) «venir»), dem Hinauf und Hinunter (monte «monter», desann
«descendre»). Das Ankommen (rive «arriver») oder das Hinein- oder
Herausgehen (antre «entrer», sòt(i) «sortir») werden unterschieden,
auch das Zurück ((re)tounen «retourner»). Man stellt fest, dass das
Haitianische ein reichhaltiges Paradigma an direktionalen V2 hat.
Zusätzlich fügt sich das transitive Verb jete «jeter», das eine von
aussen erlittene Bewegung eines Objekts kodiert, in dieses Schema.
Als V2 ist jete in Kombination mit den transitiven V1 pòt(e) «porter»,
voye «envoyer», bwote «transporter», rale «tirer», rache «arracher»
und vide «vider» belegt. In diesen Kombinationen scheint jete das
obige Paradigma der direktionalen Bewegungsverben zu ergänzen,
indem es die richtungsindifferente Komponente «weg» angibt. Es
unterscheidet sich jedoch von den direktionalen Bewegungsverben, da
diese intransitiv verwendet werden oder eine Lokus-NP/-PP
verlangen, während jete ein direktes Patiens-Objekt braucht, das in
Kombination mit obigen V1 nur einmal – nämlich nach dem V1 –
realisiert wird.
Es stellt sich nun die Frage nach dem Grammatikalisierungsgrad
der in der Tabelle 1 verzeichneten Verben, wenn sie in V2-Funktion
stehen. Keines ist auf diese V2-Funktion beschränkt, denn alle können
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als Verben das alleinige Prädikat eines Satzes bilden. Zur Illustration
soll das Verb sòti «sortir» genügen:
(4) Mwen
sòti
Jakmèl. Haitianisch
moi
sortir
Jacmel
«Je viens de Jacmel» (actuellement ou d’origine; Interview).
Nichtsdestoweniger ist die Grammatikalisierung als V2 auf semantischer Ebene relativ weit fortgeschritten, da sich im Haitianischen, wie
wir oben festgestellt haben, ein vielfältiges Paradigma herausgebildet
hat. Im Vergleich dazu habe ich in der linguistischen Literatur zu den
französischbasierten Kreolsprachen der Kleinen Antillen lediglich
Belege mit folgenden V2 gefunden:8 alé, vini, monté, desann und viré.
Dieses reduzierte Paradigma könnte auf eine ältere, d. h. weniger V2
umfassende Grammatikalisierungsstufe hindeuten, obgleich man nicht
ausschliessen kann, dass es sich auch um Lücken in der Dokumentation oder gar um Effekte der Dekreolisierung handeln könnte.
Aber auch in der V1-Funktion habe ich im Haitianischen wesentlich
mehr verschiedene Verben angetroffen als in den Frankokreols der
Kleinen Antillen, wenngleich in beiden Regionen die zwei V1-Grundtypen vorkommen, die ich im Folgenden für das Haitianische genau
beschreiben möchte. Einerseits handelt es sich um Bewegungsverben,
welche die Art der Bewegung ausdrücken (kouri «courir», woule
«rouler», glise «gliser» usw.), andererseits um transitive Verben, die
einen Transfer ausdrücken (pote «(ap)porter», voye «envoyer»,
mennen «mener» usw.). Es ist klar, dass es sich bei den V1 theoretisch
um eine offene Gruppe handelt, die aber mit dem semantischen Rahmen des Transfers und der Bewegung eng verbunden ist, so dass ich
in der linguistischen Literatur, in meinem Textkorpus und im Internet
insgesamt dreissig verschiedene V1 fürs Haitianische ausgemacht
habe. Darüber hinaus können die direktionalen Bewegungsverben
8
Die Orthographie der Kleinen Antillen markiert die offenen Vokale mit dem accent aigu, während das Haitianische diese Vokale nicht markiert, daher die verschiedenartige Schreibweise. Auf den Kleinen Antillen wird das Zurück als V2 mit
viré, auf Haiti mit (re)tounen ausgedrückt.
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selber auch als V1 verwendet werden (nicht in Kombination mit sich
selber). Die Grammatikalisierung scheint auf der semantischen Ebene
fortgeschritten zu sein, da nicht nur konkrete Bewegungen wie kouri
«courir», glise «gliser», sondern auch andere Verben wie voye «envoyer» in dieser Verbverbindung als V1 auftreten, denn bei letzterem
V1 wird das V2 ja von der konkreten, selbst angetriebenen Bewegung
auf die Richtungskomponente reduziert. Dieser Effekt wird in der
Grammatikalisierungstheorie als «semantic bleaching» beschrieben.
Des Weiteren deutet auf der syntaktischen Ebene die Tatsache, dass
direkt vor dem V2 kein TAM-Morphem gesetzt werden kann,
ebenfalls darauf hin, dass sein Verbalcharakter reduziert ist.
Demgegenüber steht jedoch die Beobachtung, dass sich die Grammatikalisierung (noch) nicht auf phonetischer Ebene durch eine
Reduktion der Form manifestiert. Ich habe festgestellt, dass im Haitianischen die drei Verben al(e), vin(i) und sòt(i), welche als Verb und
auch als V2 fakultativ den auslautenden Vokal verlieren können, nicht
etwa als V2 bevorzugt in Kurzform auftreten, wie man das erwarten
könnte. In meinem Korpus ist es so, dass immer die Langform steht,
wenn nach V2 kein Lokus folgt, und wenn nach V2 ein Lokus steht,
dann tritt bei al(e) und sòt(i) deutlich häufiger die Langform als die
Kurzform auf. Nur bei vin(i) tritt vor Lokus-NP die Kurzform häufiger
auf, was noch genauer untersucht werden müsste.
Aus diesen empirischen Beobachtungen folgere ich, dass die Grammatikalisierung sozusagen im Gange ist: Auf der semantischen Ebene
ist sie schon einigermassen fortgeschritten, während sie auf der phonetischen Ebene noch keine Spuren hinterlässt. Die direktionalen Bewegungsverben als V2 sind in einem Kontinuum zwischen Verb und
Präposition anzusiedeln.
Typologischer Vergleich mit Westafrika und Südostasien
Ein typologischer Vergleich mit Westafrika ist äusserst erhellend.
Verben, die den haitianischen direktionalen Bewegungsverben in ihrer
Semantik entsprechen, kommen in vielen westafrikanischen Sprachen
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ebenfalls als V2 vor – zumindest die Verben «gehen» und «kommen»
sind in vielen Kwa-Sprachen und im Yoruba belegt. Die folgenden
Beispiele veranschaulichen, dass die seriellen Verben des Haitianischen (5) und des Gen/Gbe/Kwa (Togo) (6) sich in ihrer Bedeutung
entsprechen:
(5) Pa
pote
chay
soti lakay nou
NEG (ap)porter charge sortir maison POSS
jou repo
a. (Hait.)
jour repos
DET
«Ne sortez de vos maisons aucun fardeau le jour du sabbat» (Bible: Jérémie 17: 22).
(6) é
il
dró
à_kà à
só
porter
caisse
venir de Lomé
DET
lòmè. Gen/Gbe (Togo)
«Il a (ap)porté la caisse de Lomé» (Kangni 1989: 145, [ma glose]).
Dass sich die V2 auch in Westafrika in einem Kontinuum graduell
zwischen Verb und Adposition bewegen, zeigt der Umstand, dass es
von Sprache zu Sprache Unterschiede im Grammatikalisierungsgrad
des V2 gibt. Im Gen/Gbe (Togo) gibt es – wie im Haitianischen –
keine TAM-Markierungen am V2, was auf einen reduzierten Verbalcharakter in dieser Position schliessen lässt, während zum Beispiel im
Fante/Akan (Ghana) gewisse TAM-Markierungen am V2 in Erscheinung treten (Osam 1994). Letzteres bekräftigt den Verbalcharakter des
V2 :
(7) Wo-yi-i
no
fi-i
they-take-PAST 3SG be from/leave-PAST
Mankesim. Fante/Akan
Mankesim
«S/he was removed/transferred from Mankesim» (Osam 1994:
26).
Ein Kontinuum zwischen Verb und Adposition wird auch für verschiedene südostasiatische Sprachen beschrieben (Bisang 1992, 1996),
wir können also von einem universellen Sprachwandelpfad ausgehen.
Im Weiteren ist zu beachten, dass die oben suggerierte Gleichheit
nur die seriellen Verben betrifft. Bei der Einführung der Lokus-NP
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gibt es einen relevanten Unterschied zwischen Westafrika und den
Frankokreols. Wenn ausgedrückt werden soll, dass die Handlung in
oder auf einem Lokus endet/beginnt, dann treffen wir im Haitianischen Präpositionen an, die dem V2 unmittelbar folgen und vor dem
Lokus stehen, während nach Heine, Claudi und Hünnemeyer (1991:
128, 134, 138) in vielen westafrikanischen Sprachen Postpositionen
verwendet werden, die nach dem Lokus stehen. Betrachten wir dazu
die folgenden Beispiele. Das Innen wird im haitianischen Beispiel (8)
als Endpunkt der Handlung angegeben:
(8) Twòp
lapli
pa
bon.
Li
bwote
tout
tè
trop
pluie
pas
bon
elle
transporter
toute
terre
al
nan
lanmè. Haitianisch
aller
dans
mer
«Trop de pluie entraîne presque toute la terre dans la mer» (Morisseau-Leroy 1982: 10).
Weiter oben hat das Beispiel (6) zwar gezeigt, dass im Gen ein direktionales Bewegungsverb mit einem Städtenamen ohne Präposition
verbunden wird. Aber im folgenden Beispiel (9) tritt eine statische
Postposition auf, hier mè «Inneres, in», welche angibt, dass das Kind
ins Hausinnere gebracht wurde:
(9) kòfí kpl ∃
èví
àx ≅ mè. Gen/Gbe
Koffi accompagner enfant DET
aller
maison intérieur [ma glose]
«Koffi a accompagné l’enfant à la maison» (Kangni 1989: 145).
á
yì
Der Unterschied liegt nicht nur in der Position der Adposition. Es tritt
auch noch das Phänomen hinzu, dass die Postpositionen sehr
durchsichtig sind, indem sie von Körper- oder Landschaftsnomen
abgeleitet sind. Wie Heine, Claudi und Hünnemeyer (1991) detailliert
darlegen, stellt dies einen in ganz Afrika verbreiteten Grammatikalisierungspfad dar, der in 125 Sprachen belegt ist. Der typologische
Vergleich deckt somit auf, dass bei der Kreolisierung die statische
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Komponente «in» (und auch «auf») absolut nicht nach westafrikanischem Vorbild als Postposition modelliert wurde, sondern die französische Strategie der Präposition so dominant gewesen sein musste,
dass sie beibehalten bzw. nach einer Reanalyse übernommen wurde.
Die Reanalyse bewirkt, dass die französische Präposition nur noch den
Ausdruck der statischen Relation übernimmt, während die direktionale
Relation dem seriellen Verb vorbehalten ist. Wir stellen also fest, dass
es keine Eins-zu-eins-Übernahme von seriellen Verbkonstruktionen
aus westafrikanischen Sprachen gegeben hat. Für den Transfer sind
komplexere Mechanismen verantwortlich.
Zusammenfassung
Diese Arbeit zeigt, dass der typologische Vergleich zwischen Haiti,
Westafrika und Südostasien in Bezug auf die seriellen Verbkonstruktionen äusserst lohnenswert ist. Die These, dass ein Prozess der
«substratinitiierten Grammatikalisierung» für die Genese der seriellen
Verbkonstruktionen verantwortlich ist, konnte in dieser Arbeit für die
nachgestellten direktionalen Bewegungsverben belegt werden. Dem
westafrikanischen Substrat kommt in der Karibik die Rolle einer Initialzündung zu. Bei der Bestimmung des Grammatikalisierungsgrades
der seriellen Verbkonstruktionen im Haitianischen haben wir gesehen,
dass die semantische Ebene eine fortgeschrittene Grammatikalisierung
vorweist, während auf der phonetischen Ebene davon keine Spuren
auszumachen sind. Insgesamt ist es durch den typologischen Vergleich möglich, diejenigen Sprachwandelprozesse herauszufiltern, die
nicht speziell kreolisch sind, sondern zum universellen Sprachwandel
gehören.
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Claudia Bucheli Berger
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Résumé
Dans cet article, nous examinons le rôle que les langues de l’Afrique
de l’Ouest (le substrat) ont joué pendant la genèse des créoles français
dans la zone américo-caraïbe, en regard des constructions à verbes sériels. La comparaison typologique révèle des parallèles structurels
entre les verbes sériels des créoles français et les langues de l’Afrique
de l’Ouest, particulièrement les langues kwa. La théorie selon laquelle
les verbes sériels tendent à se grammaticaliser vers des prépositions
(cf. Bisang 1996; Lord 1993; Heine, Claudi et Hünnemeyer 1991) sert
de point de départ à l’hypothèse d’un processus de « grammaticalisation initialisée par le substrat ouest-africain » faisant surgir les verbes
sériels pendant la créolisation. Pourtant, nous montrons aussi les limites de l’influence substratique en rendant compte des différences
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Claudia Bucheli Berger
structurelles entre les deux régions, à savoir l’existence de postpositions dans de nombreuses langues ouest-africaines et celle de prépositions en haïtien.
Die Autorin
Claudia Bucheli Berger, 1971, Studium der Französischen Sprachund Literaturwissenschaft, Deutschen Sprachwissenschaft und Allgemeinen Sprachwissenschaft an der Universität Zürich und am Institut
des Langues et Civilisations Orientales in Paris. Von 2000 bis 2003
wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt «Dialektsyntax
des Schweizerdeutschen», finanziert vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung SNF.
Seit 2004 Arbeit an der Dissertation zum typologischen Vergleich von
seriellen Verbkonstruktionen der Franko-Kreolsprachen mit den
westafrikanischen und den südostasiatischen Sprachen.
Niederhofenrain 12, CH-8008 Zürich, Tel.: +41-44-420 10 50, EMail: cbcb@gmx.ch