Maß für Maß - Schauspiel Stuttgart

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Maß für Maß - Schauspiel Stuttgart
Maß für Maß
von William Shakespeare
Hintergrundmaterial für den Unterricht
Premiere > Samstag, den 26. November 2011
Spielzeit 2011/2012
Liebe Lehrerinnen und Lehrer,
Maß für Maß ist eines der aufregendsten Stücke Shakespeares. Es ist auch eines seiner
verwickelsten, und wohl deswegen findet es auf dem Theater meist nur reservierte
Aufnahme: Zu abstrakt-theoretisch, zu philosophisch-kalt und unauflösbar widersprüchlich
konstruiert erscheint vielen diese Geschichte zwischen Richterbank und Rotlichtbezirk,
in der es keine wirklichen Identifikationsfiguren gibt.
Das Justizdrama Maß für Maß scheint an der Oberfläche wenig mit den Verhältnissen und
moralischen Auffassungen unserer Zeit zu tun zu haben: Todesstrafe für Geschlechtsverkehr unter Verlobten ordnen wir dem Mittelalter oder den rätselhaften Sitten des fernen
Orients zu; eine fromme Nonne, die mit dem Satz „Mehr als ein Bruder muss uns
Keuschheit sein“ ihren Bruder dem Henkersbeil ausliefert, wenn sie ihn gegen Preisgabe
ihrer Keuschheit vor dem verbrecherischen Richterspruch retten könnte, erscheint in
sexuell libertären Zeiten als geradezu barbarisch.
Wir leben auch nicht mehr in einem Gottesstaat, in dem weltliche Richter „Gottes Schwert“
zu führen behaupten, sondern erfreuen uns in säkularer, nachaufklärerischer Welt der
historischen Errungenschaft einer politisch unabhängigen Rechtsprechung nach
rechtsstaatlichen Grundsätzen; und ein Herrscher, der seine Macht aus einem
Gottesgnadentum legitimiert und als Kapuzenmönch winkelschleicherisch durch die Stadt
läuft, erscheint uns wenig überzeugend als Repräsentation konkreter Staatsgewalt.
In solchen historischen staatlichen, gesellschaftlichen und weltanschaulichen Verhältnissen
aber ist das Justizdrama Maß für Maß sehr explizit angesiedelt, und aus den dazugehörigen
theologischen Diskursen nimmt es seine juristischen Argumente. Unbestreitbar ist Maß für
Maß in seinen Bezügen und Prämissen spontan nicht so ganz leicht zu überschauen und
erfordert einige Abstraktionsbereitschaft und Übersetzungs-Leistung seines Publikums.
So weit entfernt uns manches erscheinen mag, so überraschend vertraut wirken andere
Positionen des Stückes, und manche Sätze klingen wie getränkt mit modernen
Bedeutungen: „Wir dürfen nicht das Recht zur Vogelscheuche machen“ erklärt zum
Beispiel der unerbittliche strenge Richter Angelo – und nicht anders argumentiert ein Chor
heutiger Stimmen zu jedem „milden“ Urteil nach einem spektakulären Gewaltverbrechen.
„Die vielen hätten nicht gewagt zu freveln, / Hätt gleich der Erste, der Erlasse brach, / Sein
Thun gebüßt“. – Das ist auch der heutzutage gültige juristische Standpunkt, der staatliche
Strafgewalt legitimiert: die Abschreckungstheorie oder Generalprävention.
Ein Satz wie „man heißt sie’s tun, / Wenn man der schlimmen Tat den Freipass gibt / Anstatt
die Strafe“ ist nicht nur heutige Urteilsschelte; es ist auch ein legitimer juristischer
Standpunkt im komplizierten Diskurs über das Verhältnis von Recht und Moral, der seit
Aristoteles und Platon bis auf den heutigen Tag geführt wird und die Grundlagen jeder
staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung betrifft:
Wie legitimieren sich Gesetze? Warum müssen Gesetze befolgt werden? Müssen Gesetze
immer befolgt werden? Wer setzt das Recht? Hat das Recht eine objektive sittliche
Grundlage oder ist es willkürlich gesetzt? Wie ist das Verhältnis von Recht und
Gerechtigkeit? Wie legitimiert sich eine Rechtsordnung? Wie soll ein Staat
Rechtsverletzungen sanktionieren? Wie legitimiert sich eine Strafjustiz, die in Freiheit und
Besitz des Individuums eingreift?
An diesen uralten Diskursen, die das komplizierte Zusammenleben der Menschen zu
verstehen und zu ordnen suchen, beteiligt sich Maß für Maß in seinem Nachdenken über
Sittlichkeit und Recht.
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In einer Welt, in der „alle gute Sitte verquer geht“, in einer Welt zwischen Bordell und
Beichtstuhl, zwischen Sex & Crime und Law & Order entsteht in Maß für Maß ein Wirrsal
der Werte und Worte. Die vertrackte Dialektik des Stückes schafft Widersprüche über
Widersprüche: Zum Beispiel führt das gnadenlos radikale Rechtsdenken eines Angelo dazu,
dass ein angehender Familienvater wegen eines kleinen Fehltritts zum Tode verurteilt wird,
während die milde Rechtsauslegung des Richters Escalus den oftmals verwarnten,
hartgekochten Zuhälter Pompejus frei laufen lässt.
Angelos absolutes Bestreben, alle fleischliche Sünde auszumerzen, würde zur Ausrottung
der ganzen Bevölkerung führen. Was Pompejus aber als naturgegebene Art des Menschen
bezeichnet, wird wiederum von ihm als Zuhälter nur ebenso kriminell wie kommerziell
ausgebeutet. Während Pompejus’ Gerichtsauftritt einerseits als sympathisch-anarchischrebellische Selbstverteidigung gegen repressive staatliche Institutionen erscheint,
wird sie relativiert durch seine erklärte Absicht, sein ungesetzliches Zuhältertreiben nach
gutwilligsten Ermahnungen nicht um einen Deut zu ändern.
Wirrsal der Werte und Worte:
zum einen in den Debatten
zwischen den Personen des
Stückes, die je nach ihrem
sozialen Ort unter-schiedliche
Sprachen sprechen und sich in
ihren
unterschiedlichen
Auffassungen
von
Sünde
und
Sexualität, von Freiheit und Recht
und Gerechtigkeit Szene für
Szene sprachlich missverstehen
und aneinander vorbeireden; zum
anderen zwischen dem Stück und
uns, die wir manche der alten
Verkleidungen
grundlegender
Themen nicht so leicht nachvollziehen können.
Aber diese historischen Themen können, wenn man sie nur als vage Analogien in unsere
heutige Welt übersetzt, plötzlich als aktuell explosive und kontroverse Themen
wiederentdeckt werden in heutigen streitbaren Debatten – die Spannung zwischen Staat
und Recht und Individuum ist jeden Tag neu zu erleben.
Und der brodelnde Rumor der Sexualität und Obszönität ist nicht ausgestorben, auch wenn
die gesellschaftliche Sprengkraft des Sexuellen in Zeiten der Kommerzialisierung auf
unerwartete Art entschärft ist.
Maß für Maß – ein Stimmengewirr über kontroverse Themen, das vom heute bis weit in die
Vergangenheit zurückreicht, bis weit vor Shakespeares Text. „Wirrsal“ ist die Übersetzung
des Namens der alten Stadt Babel, und dort wohl spielt eigentlich das Stück: im Babylon
der Werte und Worte.
Wir wünschen eine spannende Auseinandersetzung mit diesem Material
und ein anregendes Theatererlebnis!
Daniela Urban
Theaterpädagogik
SCHAUSPIELSTUTTGART
daniela.urban@staatstheater-stuttgart.de
FON > 0711.2032-234
FAX > 0711.2032-595
Silke Duregger
Schul- und Gruppenreferat
SCHAUSPIELSTUTTGART
silke.duregger@staatstheater-stuttgart.de
FON > 0711.2032-526
FAX > 0711.2032-595
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Zur Inszenierung
In Wien herrscht der Ausnahmezustand. Anstand und Moral gelten nichts mehr. Zu
schwach, dem ungezügelten Treiben Einhalt zu gebieten, ersinnt Herzog Vincentino eine
List: Sein Stellvertreter Angelo, ein tugendhafter Sittenwächter und Moralapostel, soll
vorübergehend die Amtsgeschäfte führen. Er selbst, so gibt der Herzog vor, müsse wegen
unaufschiebbarer Verpflichtungen für einige Zeit die Stadt verlassen.
Tatsächlich kehrt Vincentino jedoch heimlich nach Wien zurück. Als Mönch verkleidet will
er beobachten, wie Angelo seine Aufgabe erfüllt. Der schreitet auch, kaum dass er die
Amtsgeschäfte führt, sogleich zur Tat, und verurteilt den jungen Claudio zum Tode, da
dessen Freundin Julia ein Kind von ihm erwartet, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Claudio
bittet seine wunderschöne Schwester Isabella, die sich gerade anschickt in ein Kloster
einzutreten, bei Angelo um Gnade für ihn zu ersuchen. Und in der Tat: Angelo wird
schwach beim Anblick Isabellas und verspricht, Claudio zu begnadigen, wenn sie sich
Angelo für eine Nacht hingibt. Tief gekränkt in ihrer Ehre weist Isabella diesen Vorschlag
weit von sich und läuft zu ihrem Bruder ins Gefängnis, um sich von ihm die Richtigkeit
ihrer Entscheidung bestätigen zu lassen. Doch Claudio ist das eigene Leben wichtiger als
die Ehre seiner Schwester und er fleht sie an, Angelos unsittliches Angebot anzunehmen.
Isabella ist verzweifelt.
Da taucht alles andere als zufällig der verkleidete Herzog im Gefängnis auf, dem Isabella in
ihrer Verzweiflung gerade recht kommt – hat er doch selbst noch eine Rechnung offen mit
seinem ungeliebten Stellvertreter.
Besetzung:
Vincentio, Herzog von Wien
Angelo, sein Stellvertreter
Escalus
Claudio
Isabella
Lucio
Ellbogen
Schließer
Madame Oberweite
Pompeius
Musiker
Elmar Roloff
Holger Stockhaus
Michael Stiller
Toni Jessen
Lotte Ohm
Lukas Rüppel
Johannes Benecke
Catherine Stoyan
Martin Leutgeb
Sebastián Arranz
Jens Dohle, Falk Effenberger, Steffen Illner
Regie
Bühne
Kostüme
Musik
Dramaturgie
Christian Weise
Jo Schramm
Andy Besuch
Jens Dohle
Christian Holtzhauer
Regie > Christian Weise
Nach Abschluss seines Studiums an der Berliner Hochschule für
Schauspielkunst „Ernst Busch“ war Christian Weise als
Schauspieler und Puppenspieler am Maxim Gorki Theater Berlin,
am Schauspiel Frankfurt und am TaT Frankfurt engagiert. Seit
2001 arbeitet er als Regisseur, mit Inszenierungen u.a. am
Nationaltheater Mannheim, an der Columbia Universtity (New
York), am Schauspiel Köln, am Neuen Theater Halle, am
Deutschen Theater Berlin, am Schauspielhaus Zürich und bei den
Salzburger Festspielen. Von 2005 bis 2007 war er Hausregisseur
am Neuen Theater Halle. In der Spielzeit 2009/10 inszenierte er
unter dem Titel ALICE UNDER GROUND eine gemeinsam mit
Anne Tismer bearbeitete Fassung von »Alice im Wunderland«
(Ballhaus Ost, Berlin), Falk Richters »Wenn es Nacht wird. Männer
am Rande des Nervenzusammenbruchs« sowie Kleists »Die
Familie Schroffenstein« in Dessau. Eine lange und intensive
Zusammenarbeit verbindet ihn mit dem Autor Soeren Voima. Für
Stuttgart ist dies bereits seine zweite Shakespeare-Inszenierung.
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Interview mit dem Regisseur Christian Weise
In „Maß für Maß“ geht es um Politik, Macht - und Sex. Auch heutzutage keine ganz
ungefährliche Mischung. Vincentio, Herzog von Wien, gibt sein Amt vorübergehend ab.
Angelo, sein Stellvertreter, soll alte, längst vergessene Gesetze wieder zur Anwendung bringen,
um der allzu ausschweifenden Sexualität in der vermeintlichen Hauptstadt des Lasters Herr zu
werden. Außerehelicher Geschlechtsverkehr wird von nun an mit dem Tode bestraft, die
Bordelle werden abgerissen. Keine angenehme Situation für ein Gewerbe, das von sexuellen
Dienstleistungen lebt. Prostitution verbieten? Geht das überhaupt?
Um herauszufinden, was heutzutage wirklich hinter den Fenstern mit den roten
Leuchtstoffröhren geschieht, waren der junge Autor Paul Brodowsky, der das Stück für das
Schauspiel Stuttgart neu übersetzt und bearbeitet hat, der Regisseur Christian Weise und der
Dramaturg Christian Holtzhauer in Vorbereitung auf die Inszenierung „Maß für Maß“ einige
Wochen im Stuttgarter Rotlichtviertel rund um die Leonhardstraße unterwegs und haben mit
Menschen gesprochen, die im „ältesten Gewerbe der Welt“ ihr Geld verdienen - oder es zu
kontrollieren und bekämpfen versuchen.
Christian Holtzhauer: Christian, bist Du oft im „Leonhardsviertel“ unterwegs?
Christian Weise: Ja, und zwar meistens abends, wenn dort Hochbetrieb herrscht, aber aus
anderen Gründen als viele der Herren, die dort ihren Verrichtungen nachgehen. Ich bin ja
fast immer nur zum Arbeiten in Stuttgart, und während der Probenphasen hält man sich
den ganzen Tag im Theater auf. Aber nach der Probe, oft erst gegen elf Uhr abends, gehen
wir häufig noch zusammen essen. Beispielsweise in die „Weinstube Fröhlich“ in der
Leonhardstraße. Wenn man dort vor oder nach dem Essen vor der Tür steht, hat man die
ganze Straße im Blick und kann dem lustigen Treiben ganz gemütlich zuschauen. Das
kleine Stuttgarter Rotlichtviertel ist eine eigene, streng abgegrenzte Welt, von der wir uns
bei den Proben zu „Maß für Maß“ inspirieren lassen. Schräg gegenüber von der „Weinstube
Fröhlich“ hat ein netter Mensch einen roten Klappstuhl an die Wand geschraubt, damit die
Damen sich nicht die Beine in den Bauch stehen müssen. Dieser Klappstuhl wird auch in
unserem Bühnenbild auftauchen.
Christian Holtzhauer: Nun gehörte Prostitution zu Lebzeiten Shakespeares angeblich zum
Theaterbesuch dazu. Im dritten Rang des Globe-Theaters soll es Logen mit Vorhängen
gegeben haben, die man zuziehen konnte, wenn man während der Aufführung andere
Formen der Ablenkung suchte. Dass Sex mit dem Tod bestraft wird, war aber schon im
17. Jahrhundert eher ungewöhnlich. Hat also das Bild, das Shakespeare in seinem Stück
vom Rotlichtmilieu entwirft, noch irgendetwas mit unserer Zeit zu tun?
Paul Brodowsky: Die Todesstrafe erscheint einer liberalen Gesellschaft natürlich
übertrieben, aber es gibt auch heute durchaus Menschen, die aus gutem Grund finden,
dass Prostitution verboten gehört - um die Frauen zu schützen. Jedoch glaubt keiner
unserer Gesprächspartner, mit denen wir in den letzten Wochen über die Stuttgarter
Rotlichtszene gesprochen haben, daran, dass sich solch ein Verbot wirklich durchsetzen
ließe. Das hat Shakespeare ganz genauso gesehen. In „Maß für Maß“ gibt es einen
Zuhälter, der sinngemäß sagt, dass sich das älteste Gewerbe der Welt nicht verbieten lasse,
so lange es Menschen zweierlei Geschlechts gibt, und dass die neuen Gesetze lediglich die
Preise in die Höhe treiben wurden. Das ist streng marktwirtschaftlich und damit ziemlich
modern gedacht.
Christian Weise: Wobei modern gedacht noch nicht unbedingt modern geschrieben
bedeutet. Wie so oft bildet Shakespeare auch in „Maß für Maß“ eine ganze Gesellschaft ab,
in der „die da oben“ Gesetze erlassen, unter deren Folgen „die da unten“ - in diesem Falle
also das Rotlichtmilieu - leiden. Die Konflikte auf der Ebene der Herrschenden, also
politische Intrigen, Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe, erscheinen nahezu zeitlos,
auch wenn bestimmte Motive - ein Herzog, der sich als Mönch verkleidet, eine junge
Nonne, die in die Fänge der Macht gerät - eher an Mantel-und-Degen- Filme erinnern.
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Da kommt das Stück zwar wie ein Märchen daher, aber das lässt sich auch heute noch
erzählen, denn schließlich lesen wir Märchen ja auch immer noch. Die Szenen aber, die im
Rotlichtmilieu spielen, sind bei Shakespeare als Gesellschaftssatire gemeint. Sie sollen
witzig sein, sind es jedoch nicht mehr. Deshalb war es mir wichtig, dass das Stück neu
übersetzt wird und wir uns für die Szenen, die im „Milieu“ spielen, auch im echten
Stuttgarter Rotlichtviertel umsehen.
Christian Holtzhauer: Allerdings
waren nicht alle diese Gespräche
wirklich lustig. Wir haben uns mit
Sozialarbeiterinnen getroffen und
mit Politikern, mit Bordellbetreibern
und mit ehemaligen Zuhältern, mit
der Polizei und natürlich auch mit
Frauen, die selbst anschaffen gehen
oder gingen. Da waren viele skurrile
Anekdoten dabei, etwa von Frauen,
die ihre Freier als ihre Liebhaber
ausgaben,
wenn
die
Polizei
vorbeikam. Trotzdem schien selbst
über den komischen Geschichten
eine gewisse Traurigkeit zu liegen.
Paul Brodowsky: Das stimmt. Die Zeiten scheinen härter geworden zu sein. Viele
ehemalige Aktive trauern den „goldenen Jahren“ hinterher, als es im Rotlichtmilieu vor
allem darum ging, eine gute Zeit zu haben. Sex spielte damals angeblich gar keine so große
Rolle. Heute dagegen ist Prostitution ein knallhartes Geschäft, bei dem es vor allem um
schnelle Triebabfuhr geht - und um Geld. Die Ökonomie steht im Vordergrund, nicht das
Lebensgefühl. Obwohl Prostitution vor ein paar Jahren legalisiert wurde, ist es offenbar
immer noch kein Geschäft wie jedes andere - das merkt man der Argumentation der
Bordellbetreiber an. Sie kommen dann fast ein bisschen wie die Heilsarmee daher und
legitimieren den Fakt, dass sie an Frauen verdienen, die sexuelle Dienstleistungen
verkaufen, damit, dass sie den Frauen wenigstens angenehme Arbeitsbedingungen bieten
wurden. In einem anderen Fall geht es um ein Bordell, das es eigentlich gar nicht geben
dürfte. Doch obwohl jeder sieht, was in diesem Haus vorgeht, gelingt es dem Besitzer
immer wieder, mit Hilfe spitzfindiger Ausreden die drohende Schließung abzuwenden.
Christian Weise: Wie die Leute sich rausreden, das ist interessant für uns. Denn trotz des
im Stück verhängten Verbots, weiterhin Bordelle zu betreiben, geschieht natürlich genau
das. Schließlich müssen die Puffmutter und ihr Zuhälter ja auch von irgendetwas leben, und
ihre Kunden und Geschäftspartner wollen auch nicht auf ihren Spaß verzichten. Not macht
erfinderisch. Immerhin steht das Milieu zu seinem Gewerbe - anders als der Herzog, der
sich aus der Verantwortung stiehlt, oder des Herzogs Stellvertreter. Denn kaum ist der im
Amt, und kaum läuft ihm eine junge Frau über den Weg, die er begehrt, benutzt er seine
neu gewonnene Macht dazu, sie ins Bett zu kriegen. Auch das soll heute ja immer mal
wieder vorkommen und ist natürlich auch ziemlich schrecklich - zugleich aber auch Stoff
für eine große Komödie. Und die wollen wir gern erzählen.
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Die Allegorie der guten und der schlechten Regierung
Im Palazzo Pubblico der alten italienischen Stadt Siena gibt es zwei große Fresken zu
besichtigen, 1339 von Ambrogio Lorenzetti gemalt, betitelt „Die Allegorie der guten und
der schlechten Regierung“. Es ist eine Darstellung der Gesellschaft als Gesamtheit und als
Gemeinschaft Einzelner, eine Verschmelzung von philosophischer Allegorie und
lebensnaher Schilderung einer Arbeits- und Alltagswelt, die den individuellen Menschen
zum Mittelpunkt hat – ein erstaunlicher Vorgriff auf die Renaissance.
Die gute Regierung, versinnbildlicht durch eine greise Männergestalt mit Zepter und
Stadtsiegel, ist umgeben von den Tugenden Gerechtigkeit, Mäßigung, Großmut, Stärke
und Frieden; über ihr schweben Glaube, Hoffnung und Barmherzigkeit, die drei
theologischen Tugenden. Daneben, sehr betont, nochmals Gerechtigkeit: eine Frauengestalt
mit einer Waage. Darunter werden die Auswirkungen der Guten Regierung abgebildet: ein
blühendes Leben in gegenseitiger Durchdringung von Stadt und Land, geprägt von reich
bestellten Feldern, von emsigen Handel, geschäftigem Handwerk und heiterer Muße –
das Bild einer prosperierenden, auf den Menschen bezogenen Kultur, voll
überschwänglichem Bürgerstolz. Ein idealisches Bild.
Darüber schwebt eine engelhafte Frauengestalt
mit dem Namen Securitas, die Sicherheit. Ein
Schriftband in ihrer rechten Hand besagt:
„Jedermann gehe frei ohne Angst seines Weges
und arbeite und säe, während diese Frau über die
Gemeinschaft wachen wird, von der Guten
Regierung erhoben zur Hüterin über alle Dinge...“
Und erst bei näherem Hinsehen erkennt man,
was die segensreiche Frau in ihre linken Hand
hält: einen kleinen Galgen mit einem Gehängten.
Die Kombination von „Sicherheit“ und „Halsgerichtsbarkeit“ ist für heutige Betrachter
geradezu schockierend. Securiats, Sicherheit und gerechte Ordnung, war der vor allem
anderen erstrebte Zustand; er bedeutete Freiheit ohne Angst, Willkür und Krieg. Securitas
war sowohl Ergebnis der Guten Regierung als auch Voraussetzung für ein blühendes
Staatsleben. Dazu unabdingbar nötig war der Schutz der Staatsmacht, die nach Recht und
Billigkeit Gewalt ausübt gegen die Missetäter – der Miniatur-Gehenkte als Drohung für den
Friedensstörer wie als Beruhigung für den Braven, der sich durch gerechte Justiz vor
Angriffen geschützt fühlen konnte.
Was fehlende Securitas bewirkt, zeigt warnend das konträre Schreckbild auf der
gegenüberliegenden Wand: Dort ist das Ergebnis des schlechten Regierens zu besichtigen,
dort herrscht Timor, die Furcht, über einer verwüsteten Landschaft, über leerstehenden
Häusern und zerfallenden Mauern, dort regiert die Tyrannei, umgeben von Krieg, von der
Grausamkeit, dem Verrat und der Zwietracht, während die zu Boden getrampelte
Gerechtigkeit gebunden darniederliegt.
Stabile staatliche Ordnung war Sehnsuchtsziel in gefahrvoll instabiler und nur allzu oft
rechtloser Zeit, in der Faustrecht, Gewalt, Erbfolgekriege und Fürstenrivalitäten die Welt
bestimmten und Zusammenbruch und Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung mit allen
grausamen Folgen für viele fürchterliche Erfahrung war.
Je fester und straffer aber eine Ordnung, umso mehr war sie natürlich gefährdet, in nackte
Tyrannei umzuschlagen. Indikator für den Stand der Dinge war die Art, wie das
Rechtswesen in einem Staate gepflegt wurde, und misstrauisch beäugte man, wie Justitia in
Gestalt des von Gott als Richter bestellten Fürsten in alltäglichen Verhältnisse der
Menschen eingriff.
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So war die Fähigkeit, Justice and Mercy (Recht und Gnade) auszuüben, das zentrale Element
im Anforderungsprofil, das ein Renaissance-Herrscher erfüllen sollte, der als oberster
Richter "Gottes Schwert auf Erden" zwischen den Polen Securitas und Tyrranei zu führen
sich anheischig machte. Denn ohne klares und auch hartes Recht war die so wichtige
Ordnung nicht aufrechtzuerhalten; umgekehrt war aber ohne Gnade jede Ordnung in
Gefahr, zur Tyrranei zu entarten. Ein ausgewogenes Maß war idealerweise nötig, denn in
Ausschließlichkeit war jedes der beiden Elemente von Übel.
In einer Abhandlung über die Billigkeit (William Perkins: Treatise of Christian Equity and
Moderation) empört sich ein Zeitgenosse Shakespeares sowohl über jene Richter, die nur
eine "foolish sort of mercy" praktizieren, "nothing but mercy, mercy", als auch über den
anderen Typus mit "Nothing in their mouth but the law, the law and Justice, Justice". Diesen
beiden Typen entsprechen Angelo und Escalus in Maß für Maß recht genau.
Allerdings ist die Sache mit dem "Regieren, was das fordert" einigermaßen kompliziert, wie
man beim kalten Machtanalytiker Machiavelli nachlesen kann: "Ein Fürst", schreibt
Machiavelli, "darf die Nachrede der Grausamkeit nicht scheuen, um seine Untertanen in Treue
und Einigkeit zu erhalten; denn mit einigen Strafgerichten, die du verhängst, bist du
menschlicher, als wenn du durch übertriebene Nachsicht Unordnungen einreißen lässt, die zu
Mord und Raub führen. Diese treffen ein ganzes Gemeinwesen, wogegen die Strafgerichte, die
der Fürst verhängt, nur dem Einzelnen schaden."
Zweck und Mittel sind nicht identisch, heißt das, aber das bedeutet nicht nur, dass der gute
Zweck die bösen Mittel heiligt, es funktioniert vertrackterweise auch umgekehrt: Der böse
Zweck kann durchaus ungeplante, positive Folgen haben, ebenso, wie der gute Zweck zu
schlimmen Katastrophen führen kann. Mit diesem Problem hat der Herzog in Maß für Maß
zu kämpfen:
"Wir haben scharfes Recht und schneidende Gesetze, [...]
Die Wir bald vierzehn Jahr nun schleifen ließen,
[...] Wie nun, wenn Väter,
Kindsnärrisch, nur die Birkenrute binden
Als Schreckgespenst, das man den Kindern zeigt,
Doch nie gebraucht, bis mit der zeit die Gerte
Mehr Spott als Furcht weckt: so ist Unsre Satzung,
Weil tot im Rechtsbrauch, in sich selber tot,
Und Willkür tanzt Justitia auf der Nase,
Der Säugling schlägt die Amme, und verquer
Geht alle gute Sitte."
Der Herzog beichtet sein staatsmännisches Fehlverhalten, Gesetz, recht, Ordnung, kurz:
die Securitas, zum Schaden des ganzen Staates nicht durchgesetzt zu haben, in einer VaterKind-Metapher: Als liebender, nachsichtiger Vater hat er seine Kinder immer nur an die
Grenzen des Zulässigen erinnert, aber die Verhaltensnorm nicht mit Strafen durchgesetzt.
Als Ergebnis lebten nun alle ohne Ordnung, mit gemeinschaftsschädlichen Folgen. Ein
"Erziehungsfehler" - starker Tobak natürlich für demokratische Zeiten, in denen das Volk
nicht als Horde schwererziehbarer Kinder gilt, sondern aus mündigen Bürgern besteht;
aber eine funktionierende Rechtsordnung ist auch in Demokratien Voraussetzung jeglichen
friedlichen Zusammenlebens. Wo diese zerfällt, kommt Rechtssicherheit abhanden und
Willkür greift um sich.
Jedenfalls aber hat's der Herzog nach eigener Aussage gut gemeint: er wollte "den Leuten
Luft lassen", also ihnen liberal Freiheit und Freiraum zugestehen, und das, so meint er nun,
war offenbar falsch: Sie haben es als Lizenz zu Rechtsverletzungen verstanden und genutzt.
Und er wollte ihnen doch ein liebender Vater sein...
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Er wollte sich nicht unbeliebt machen. Nun will er seine Macht nicht einsetzen und
seine herrscherlichen "Schrecken" (in heutiger Welt: sein staatliches Gewaltmonopol)
nicht gebrauchen, ganz im Widerspruch zu Machiavellis Erkenntnis: "Ein Fürst muss daher
sowohl den Menschen wie die Bestie zu spielen wissen." Der Herzog möchte die ihm
wiederstrebende Tyrannei ganz entscheiden nicht ausüben - warum? Aus Feigheit?
Aus Angst? Aus Redlichkeit? Aus Schwäche? Aus Überzeugung? Aus mangelnder
Führungskraft? Aus machtpolitischem Kalkül?
Jedenfalls schickt er den strengen Angelo vor, die anstehende Drecksarbeit zu erledigen
und im Staat wieder Recht und Gesetz einzuführen. Der Herzog selbst möchte der geliebte
"pater familias" bleiben. Machiavelli würde ihm hingegen sagen, dass er sich letztlich nicht
aus der Verantwortung stehlen kann: "Ein Fürst darf die Nachrede der Grausamkeit nicht
scheuen..." Der Herzog tut es. Er scheint lieber zusehen zu wollen, auf welche Art und
Weise ein anderer sein Amt erfüllt, der es - anders als er selbst - "streng nimmt". Ihn
scheint ein Angelo, ein von keinem Selbstzweifel angekränkelter (Selbst-) Gerechter,
als Gegenentwurf zu sich selbst zu faszinieren: der "gibt kaum zu, / Dass in ihm Blut fließt",
meint der Herzog, und hat dabei doch den Verdacht, Mätthäus 4,3 von der Versuchung
Jesu durch den Satan zitierend, dass der geradezu nicht-menschlich strenge, gerechte,
engelsgleiche Angelo anders als Jesus wohl auch der Versuchung erliegen könnte, die die
Macht bietet (was im Umkehrschluss aber auch heißt, dass wohl nur Jesus den Lockungen
der Macht widerstehen könnte).
Schon vorher hat der Herzog von Macht gesprochen: Dem theoretischen Kenner der
Staatskunst, Escalus, wollte er das angemessene Maß an praktischer Macht übergeben und
diese Mischung wirken lassen. Macht als Phänomen ist dem Herzog problematisch
geworden; er, der eigentliche Inhaber der Macht, wurde an ihrer Ausübung irre. Von der
Macht einen Schritt zurücktreten, andere in der Auseinandersetzung mit ihr beobachten zu
können, das scheint seine Absicht zu sein - er möchte ein Experiment machen zu
Forschungs- und Klärungszwecken: Was erfordert die rechte Handhabung von Macht, der
er selbst nicht gewachsen ist und der er selbst nicht genügt hat?
Aus kontemplativer Distanz wird
er in der Folge ein ganzes
Panoptikum von Machtverwaltern
bei
ihren
Amtsgeschäften
beobachten können: nicht nur
einen Angelo, der sie allzu schnell
missbraucht;
auch
einen
wohlmeinenden Escalus, der,
wider besseren Wissens sich dem
unrechten Gebot der Macht
beugend,
Mitläufer
beim
Verbrechen wird und hinterher
meint, "er hätte nicht mehr tun
können."
Das Ergebnis dieses Experiments wird ebenso deprimierend wie verwirrend sein und den
Experimentator selbst verändern. Und irgendwann, bevor die von ihm in Gang gesetzte
chemische Reaktion außer Kontrolle gerät, bevor Nichtwiedergutzumachendes geschieht,
wird er eingreifen, das Experiment abbrechen - und wieder selbst handeln müssen.
Bloß wie?
Frank Günther
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Vom Herrschen
Am 24. März 1603 stirbt nach knapp fünfundvierzigjähriger Regierungszeit Elisabeth I.
Zu ihrem Nachfolger hat die "Virgin Queen" testamentarisch den Sohn Maria Stuarts
bestimmt, die sie 1587 hatte hinrichten lassen: James VI. von Schottland, von nun an
James I. eines Vereinigten Königreiches. Vier Tage später, am 28. März 1603, erfolgt der
Eintrag des Fürstenspiegels "Basilikon Doron", den James für seinen Sohn Henry
Geschrieben hatte und 1599 in nur sieben Exemplaren als seine Staatsgeheimnisse
verteilen ließ, in das Register der Londoner Buchhändlergilde, gleich darauf der Druck.
Selbstverständlich ist das politische England höchlich interessiert, etwas von James'
Vorstellungen vom Königsamt zu erfahren - mit vier Auflagen noch 1603 wird das Werk
zum Bestseller.
Eine reale Vorstellung seiner Königsmacht gibt James
am 21. April 1603 in Newark-upon-Trent: Einen Dieb,
der auf frischer Tat ertappt worden war, lässt er ohne
Gerichtsverhandlung aufhängen, die übrigen Insassen
des örtlichen Gefängnisses werden summarisch
begnadigt und freigelassen. James macht für alle
Augen sichtbar, dass er weiß, worin Herrschen sich am
klarsten manifestiert: in der Macht über Leben und
Tod, in - wie es die offizielle Berichterstattung exakt
benennt - "Gerechtigkeit mit dem Tode zu bestrafen
ebenso wie in gütiger und erlauchter Gnade". Die
Gefahren die von einem solch machtvollkommenen
Herrscher ausgehen, kommentiert einer der scharfsichtigsten Höflinge der Zeit, Sir John Harington: "Ich
höre, dass unser neuer König einen aufhängen ließ,
ohne ihm den Prozess zu machen; das ist befremdlich
gehandelt; denn wenn der Wind jetzt so weht, warum
sollte nicht einem der Prozess gemacht werden, ohne
dass er etwas begangen hat?"
Noch theatralischer inszeniert James das Ende des Hochverratsprozesses im
aristokratischen Milieu im Winter 1603: Er lässt die Verurteilten, die Lords Cobham und
Grey sowie Sir Griffin Markham, einzeln aufs Schafott führen, lässt sie öffentlich Reue
üben.. Dann wird die Hinrichtung aufgeschoben, die Verurteilten werden erneut
gemeinsam auf die Exekution vorbereitet - in letzter Minute wird die Begnadigung durch
einen "reitenden Boten" überbracht. Und Sir Walter Raleigh, ebenfalls angeklagt und auf
der Warteliste des Henkers, darf bzw. muss dies aus seinem Gefängnis mit ansehen.
Ein öffiziöser Bericht lässt erkennen, worum es James geht; denn Begnadigung wird den
Verurteilten just "nach ihren Schuldgeständnissen" verkündet, und zwar nach den auf der
Bühne des Schafotts öffentlich geäußerten. James hat sicht- und hörbar gemacht, dass vor
ihm kein Verbrechen in Gedanken, Worten und Werken geheim bleiben kann. Der
theatralische, in jedem Wortsinne spektakuläre Charakter dieser machtvollen Vorstellung
des Herrschers teilte sich den Augenzeugen unmittelbar mit, denn "nichts bedurfte es,
Applaus vom Publikum zu heischen", schreibt einer, dieser wurde lauthals gespendet.
Elisabeth I. war sich der Problematik der Sichtbarkeit - und damit der theatralischen
Repräsentation ihrer wie aller Macht - voll bewusst: "Fürsten", so erläutert sie 1586
Ratgebern, die sie zur Unterzeichnung des Hinrichtungsbefehls für Maria Stuart drängen
wollen, "Fürsten, sage ich Euch, stehen auf Bühnen, genau beobachtet vom Blick, der Sicht
der Welt. Die Augen vieler sehen unsere Taten, ein Fleck auf unserer Kleidung wird gleich
erspäht, ein Makel unseres Tuns schnell bemerkt."
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Was ihr zum Nachteil war, wusste sie freilich auch zu nutzen. Im Kult der jungfräulichen
Königin musste ihr der Adel im doppelten Wortsinne den Hof machen, ließ sie sich von
Verehreraugen zur Ikone stilisieren. Und Elisabeth blickte zurück - zum einen, indem sie
die Mächtigen ihres Landes an ihren Hof in London band und so unter Aufsicht hielt, zum
anderen, indem sie ihren Minister Francis Walsingham Schritt für Schritt den ersten
englischen Spionagedienst aufbauen ließ. Im sogenannten Regenbogenportrait (ca. 1600),
das sie in einem mit Augen und Ohren bestickten Gewand zeigt, ist solches machtvolles
Sehen und Gesehenwerden repräsentiert.
Das prekäre elisabethanische Gleichgewicht von Sicht und
Sichtbarkeit verändert sich mit James' Herrschaftsantritt.
Auch er weiß, wie er es in seinem Basilikon Doron
formuliert, dass Könige "auf einer öffentlichen Bühne im
Blickpunkt aller Leute stehen". Dies freilich empfand
James als unangenehm, aber nicht nur, wie überwiegend
angenommen, aus persönlicher Abneigung: James'
Vorstellung vom Königtum war eine andere als Elisabeths,
es war die des Gottesgnadentums, des Herrschers als
Stellvertreter Gottes auf Erden, der schon irdisch mit
göttlicher Machtvollkommenheit ausgestattet ist. Diese
besteht vorzüglich darin, dass - so der erste Satz des
Basilikon Doron - "nichts so versteckt ist, dass es nicht
enthüllt, nichts so geheim ist, dass es nicht offenbar
werden wird", und zwar "dem allsehenden Auge und
durchdringenden Licht, das bis in das Innerste der
Dunkelheit selbst dringt".
Was hier von Gott gesagt wird, reklamiert James für sich als König von Gottes Gnaden.
Er ist der character angelicus des übermenschlichen, engelsgleichen Sehenden und
Wissenden, der selbst ungesehen bleibt. James' herrscherlicher Paradigmenwechsel ist
ebenso rückwärts gewandt wie vorwärts gerichtet - rückwärts, weil er ein Gottesgnadentum
meint, dessen ideologische Basis im England der Rosenkriege und im Europa der
Reformation völlig ausgehöhlt worden war; vorwärts, weil er die Praxis der Macht in das
Innere, die Seele, die Psyche eindringen möchte, um diese zu enthüllen, zu veröffentlichen
und so zu beherrschen.
Im Drama der Tudor- und Stuart-Zeit, das ja meist schnell, genau und in schützender
Verschiebung die aktuellen Probleme auf- und in sie eingreift, lässt sich diese
Herrschaftsproblematik unschwer wiederfinden.
Am 15. März 1604 hält James Einzug durch sieben Triumphbögen in London - fast ein Jahr
lang hat die Pest ihn davon abgehalten. In seinem Gefolge befindet sich in königlicher
Livree Shakespeare als der vielleicht wichtigste Teilhaber der Schauspieltruppe, die James
unter sein Patronat genommen hat und die sich darum nun "Kings Men" nennen darf. Der
Rückzug der Pest erlaubt es auch, am 9. April 1604 die Theater wieder zu öffnen, welche
mehr als ein Jahr geschlossen geblieben waren. Nun lohnt es sich wieder bzw. ist für die
Theater überlebenswichtig, neue Stücke zu produzieren. Eines davon ist - so der Eintrag in
die königlichen Rechnungsbücher für Festlichkeiten, Revels Account - Mesur for Mesur von
Shaxberd, das James am 26. Dezember 1604 an seinem Hof in Whitehall aufführen lässt.
Hamlet, der detektivische Prinz der letzten Regierungsjahre Elisabeths, dessen Stück "The
Mousetrap" auch weit hinten in Wien gespielt wird, um ganz in der Nähe Geheimnisse
aufzudecken, ist als Idealfigur "th'observ'd of all observers". In den Jahren unmittelbar nach
James' Thronbesteigung 1603 entsteht hingegen eine Größere Zahl an Stücken, in denen
der Fürst sich verkleidet, "to look into the hart and bowels of his dukedom." Aus dem von
allen Beobachtern Beobachteten ist der unbemerkte Merker geworden. So kann er das
Vertrauen aller gewinnen, sich in Ihre innersten Gedanken und geheimsten Wünsche
einschleichen.
11
Die Verkleidung des Herzogs in Maß für Maß dienst ebensolchem Zweck. Sie ist freilich
anspruchsvoller, geschickter, um nicht zu sagen perfider, gewählt. Zum Charisma
geistlicher Macht versucht der Herzog - so weit fürstenmöglich -, Allwissenheit und
Allgegenwart bei weitestgehender Unsichtbarkeit zu gesellen, also exakt das, was absolute
Macht kennzeichnet; denn als Mönch kann er, was ihm nicht sichtbar wird, in der Beichte
hörbar machen, bekommt er Zutritt zu Orten, die ihm sonst verschlossen blieben.
Shakespeares Fürst tritt nicht erst zu Ende der Geschichte auf, er ist vielmehr das ganze
Stück präsent, er wird zum Mitspieler und Regisseur.
In all dem sieht das Publikum aber
schließlich ein Weiteres: Es sieht, dass
alle macht sich repräsentieren muss,
dass all dies Schauspiel, Theater ist.
Der Fürst hat ebenso eine Rolle, ist
ebenso Spieler, sei es als Akteur oder
Regisseur, wie alle anderen Figuren
auch. Die Rolle aber hängt vom
Kostüm ab - auch Maß für Maß ist, wie
alle anderen Dramen Shakespeares,
ein Stück, das seinen Spielcharakter
offenbart, durch seine Kostüm- und
Theatermetaphorik etwa - gleich zu
Anfang wird Angelo in sein neues Amt
"gekleidet"-, vor allem aber dadurch,
dass das Intrigenspiel des Herzogs als
solches, als Spiel, bewusst gemacht
wird.
Nicht der Herzog, sondern das Publikum er - und behält dabei den Überblick, die Einsicht
in das Geschehen, die Gedanken und Absichten der Figuren - wobei der Herzog als
Repräsentant der Macht mit einer Aura der Unbestimmtheit, der Gefahr umgeben bleibt.
Ob König oder Lehrling, ab Bürgersfrau oder Hure: Jede und jeder im Publikum kann und
wird das Urteil nach dem eigenen, dem eingenommenen - und das ist im Theater auch ganz
wörtlich zu verstehen - Stand- und Blickpunkt fällen. Jede und jeder wird ihre und seine
Macht strafen, lohnend, zischend und klatschend spielen lassen, angesichts eines Stückes,
das sie und ihn solcherart theatralisch ermächtigt.
Kurt Tetzeli von Rosador
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William Shakespeare - Fragmente eines Lebens
Ungeachtet der Frage, ob Shakespeare wirklich der Verfasser der ihm zugeschriebenen Werke
war, ist zumindest seine Existenz bezeugt. Leider auch nicht soviel mehr - was zum einen die
altbekannte Frage um die Urheberschaft seiner Werke aufwirft, zum anderen den Kinoerfolg
"Shakespeare in Love" gestattete, sein ganz eigenes Bild des Barden zu entwerfen.
Die Eltern
Obwohl Shakespeares Leben besser bezeugt ist als das vieler seiner Zeitgenossen, lässt
sich seine Biographie nur in groben Umrissen rekonstruieren - besonders was die Zeit
seiner späten Jugend betrifft. William Shakespeare wurde laut Kirchregister am 26. April
1564 in Stratford-on-Avon, Warwickshire, getauft, sein Geburtstag wird heute der
Einfachheit halber auf den 23. April datiert - ist Shakespeare doch am gleichen Tage des
Jahres 1616 verstorben.
Sein Vater, John Shakespeares, war ein angesehener Landwirt und Händler. Er wurde 1565
zum Stadtrat gewählt, war später Stadtverwalter (eine mit einem Bürgermeister
vergleichbare Position). Aufzeichnungen berichten von einigen Fehlschlägen in den
Geschäften, die zwischenzeitlich wohl zu einer Verarmung der Familie führten. William´s
Mutter, Mary Arden of Wilmcote, entstammt einem alten, aber unbedeutenden
Adelsgeschlecht und war Erbin eines kleinen Stück Landes. Entsprechend des damaligen
sozialen Gefüges dürfte die Heirat Mary Ardens für John einen Aufstieg in der lokalen
Hierarchie gleichgekommen sein.
Williams Jugend
Stratford-on-Avon besaß eine Schule von gutem Rufe, die Teilnahme war frei, da der
Unterhalt der Schule vom Bezirk getragen wurde. Diese Tatsache und die Amtsposition des
Vaters lässt vermuten, das William eine gute Ausbildung erhielt. Diese konzentrierte sich
zur damaligen Zeit auf das Studium der lateinischen Sprache, Dichtung und Geschichte.
William besuchte keine Universität - ob dies finanzielle Gründe hatte, kann heute nicht
mehr beantwortet werden.
Familienvater
Im Jahre 1582 - im Alter von ganzen 18 Jahren - heiratete er
die einige Jahre ältere Anne Hathaway. Wann genau und wo
ist nicht detailliert bekannt, allerdings registrierte das
bischöfliche
Sekretariat
von
Worcester
eine
Schuldverschreibung (verbürgt von zwei Stratforder Bauern
namens Sandells und Richardson) als Sicherheit für eine
Heiratslizenz von William Shakespeare und "Anne Hathaway
von Stratford". Am 26. Mai 1583 wurde in Stratford Williams
Tochter Susanna, am 2. Februar 1585 seine Zwillinge
Hamnet und Judith getauft. Hamnet, Shakespeares einziger
Sohn, verstarb im Alter von 11 Jahren. Seine Todesursache
ist nicht bekannt.
Die frühen Jahre
Wann genau Shakespeare nach London übersiedelte, ist nicht bekannt. Es gibt einige
Berichte - diese wurden jedoch erst lange nach seinem Tod schriftlich niedergelegt - die
von Problemen mit dem lokalen Adel berichten, von Diebstählen oder einer Tätigkeit als
Schulmeister an der örtlichen Schule und verschiedenen Hilfstätigkeiten in seiner ersten
Zeit in London.
13
Jedenfalls hatte er es 1592 bereits geschafft, sich als angeblicher Emporkömmling den Neid
anderer Dramatiker zuzuziehen. Graham Greene, ein Dramatiker, verfasste auf seinem
Sterbebett im Jahre '92 folgende Worte:
There is an upstart crow, beautified with our feathers, that with his “Tygers
heart wrapt in a Players hide” supposes he is as well able to bombast out a
blank verse as the best of you; and, being an absolute “Johannes Factotum”,
is in his own conceit the only Shake-scene in a country.
Diese Worte erschienen nach Greenes Tod, versehen mit einem Vorwort eines
gegenseitigen Bekannten, in dem dieser Shakespeare entschuldigt und dessen Begabung
betont. Dies zeigt auch, dass Shakespeare es durchaus verstand, sich wichtige
Freundschaften zu sichern, wie auch die spätere Freundschaft mit Henry Wriothesley, dem
3. Earl von Southhampton, bewies. Ihm widmet William auch seine ersten veröffentlichten
Gedichte, Venus und Adonis und The Rape of Lucrecia.
Ab 1594 gehörte er als Schauspieler den "Lord Chamberlain´s Men" (ab 1603 entsprechend
einer Erlaubnis James I. "King´s Men") an. Diese Truppe besaß mit Richard Burbage den
besten damaligen Schauspieler, später das beste Theater, nämlich das Globe, und den
besten Dramatiker - William Shakespeare.
Der Aufstieg
Ein Beweis für den steigenden Wohlstand Williams war 1596 die Bewilligung eines
Familienwappens. Das Wappen prangt auf dem Shakespeare-Denkmal (in der vor 1623
errichteten Kirche zu Stratford). Außerdem erwarb er ein großes Haus am Rande Stratfords.
Dorthin zog er sich 1611 zurück.
Ab 1599 spielte die Truppe vor allem im eigenen berühmten Globe-Theatre, bei dem
Shakespeare auch finanzieller Teilhaber war. Shakespeare galt als gewandter Geschäftsmann. Aus seinem privaten Leben sind nur wenige Details bekannt, private Briefe sind nie
ans Licht der Öffentlichkeit gelangt.
Der letzte Wille
Shakespeares letzter Wille, verfasst am 25. März 1616, liegt noch als Original vor.
Im ausführlichen und sehr detaillierten Dokument hinterließ er den größten Teil seines
beträchtlichen Vermögens dem Sohn seiner ältesten Tochter, die mit Thomas Quiney
verheiratet war, dem Sohn des Shakespeare-Freundes Richard Quiney. Aber auch die
zweite Tochter, die mit John Halle, einem angesehenen Mediziner aus Stratford, verheiratet
war und natürlich Anne Hathaway wurden entsprechend bedacht. Die Unterschrift unter
dem Dokument war mit zitternder Hand geschrieben - der Erblasser war bereits schwer
krank. William Shakespeare starb am 23. April 1616.
14
Prostitution - die Geschichte der käuflichen Liebe
Prostitution gilt als das "älteste Gewerbe der Welt". Handel mit der menschlichen Sinnlichkeit
gab es zu allen Zeiten bei allen Völkern - und doch wird kaum ein Thema mit so spitzen
Fingern angefasst. Es hat viele Versuche gegeben, Sexarbeit wegen sittlicher Bedenken zu
verhindern. Trotzdem hat sie immer fortbestanden, oft verschleiert und auf heimlichen Pfaden,
nicht zuletzt, weil das Sexgewerbe schon immer ein wichtiger Wirtschaftszweig war.
Die Tempelprostitution als Fruchtbarkeitsritus
Pierre Dufour, ein französischer Kulturwissenschaftler aus dem 19. Jahrhundert, spekulierte
über die Anfänge der sexuellen Dienstleistung in seiner legendären "Weltgeschichte der
Prostitution": "Die Prostitution hat an dem Tage ihren Einzug in die Welt gehalten, an dem
das erste Weibe sich als Ware verkaufte." Es ist unklar, wann das genau gewesen sein soll.
Belege für eine erste, frühe Form von Prostitution gibt es aus der Zeit um 3000 vor
Christus. Die so genannte "Tempelprostitution" war eine Art kultischer Entjungferung vor
der Ehe gegen Bezahlung: Junge Frauen boten sich Männern in einem Tempel an, zu Ehren
der Fruchtbarkeitsgöttin; bei den Assyrern hieß sie Mylitta, bei den Griechen war es
Aphrodite. Dieser religiöse Ritus, bei dem das von den Frauen verdiente Geld an
Tempeldienerinnen oder Priester ging, beschränkte sich aber nicht nur auf Europa oder
den Orient – er ist weltweit belegt. Im gesellschaftlichen Gefüge der Antike war die Frau
dem Mann untergeordnet und Prostitution eine zum Vergnügen des Mannes offen
betriebene und institutionalisierte Aktivität. Sexualität war kein Tabu, und profane
gewerbliche Prostitution gehörte selbstverständlich zum Leben dazu.
Von griechischen und römischen Machos
Bei den Griechen und Römern gewannen die geschäftliche Berechnung und die Sicht auf
den Körper als Ware an Bedeutung. Nach historischen Überlieferungen soll es die ältesten
offiziellen Bordelle in Griechenland gegeben haben: Der griechische Staatsmann Solon ließ
im siebten Jahrhundert vor Christus die so genannten Staatsbordelle errichten – und
verdiente gutes Geld damit. Zu jener Zeit arbeiteten Frauen aus allen
Bevölkerungsschichten als Sexarbeiterinnen, aber insbesondere die Geschichten von den
sogenannten Hetären, bezahlten Geliebten bedeutender griechischer Männer, sind
überliefert: Aspasia, die Freundin und spätere Frau des athenischen Staatsmannes Perikles,
der im fünften Jahrhundert vor Christus regierte, oder Thais, die Geliebte von Alexander
dem Großen (356-323 vor Christus), waren sehr gebildete Frauen, die auch die Geschichte
ihrer Zeit geistig mitbestimmten. Ein Relikt des Sexgewerbes aus römischer Zeit ist wegen
seiner erotischen Fresken weltberühmt und heute noch zu besichtigen: das Lupanar von
Pompeji. Die heidnische Antike und ihr vorurteilsfreier Umgang mit der käuflichen Liebe
wurde im Laufe der Geschichte mal als pure Lebensfreude, mal als unheilvolle Dekadenz
und Vorbote des Verfalls interpretiert.
Christliche Doppelmoral
Die frühen Christen sahen das Lustvolle und Lebensfrohe der heidnischen Antike als
Auswuchs der Dekadenz an; ihrer Meinung nach war der Untergang Pompejis im Jahr 79
nach Christus der Beweis dafür. Sie entwickelten in den ersten Jahrhunderten nach Christi
Geburt einen religiös-moralischen Gegenentwurf: Nach ihrem Verständnis galt das
weibliche Geschlecht als Verführung, allein sexuelle Askese und die Hinwendung zu Gott
konnten das Seelenheil bringen. Sexualität in der Ehe diente der Fortpflanzung, Sex als
körperliches und seelisches Vergnügen war reine Sünde. Christliche Dirnenlegenden,
wie die von Maria Magdalena, sind Beispiele für Prostituierte als reuige Sünderinnen.
Die Menschen im Mittelalter hatten eine ambivalente Einstellung zur Prostitution: Religiösmoralisch wurde sie verurteilt, aber rechtlich war sie erlaubt. Nicht zuletzt um die "ehrbare
Frau" zu schützen und wegen der finanziellen Einnahmen wurde sie von den behördlichen
Instanzen offiziell geregelt und somit auch, paradoxerweise, von der Kirche toleriert,
15
die im Mittelalter großen gesellschaftlichen Einfluss hatte. In Deutschland wie in anderen
europäischen Ländern entstanden im 12. und 13. Jahrhundert sogenannte Frauenhäuser –
von staatlicher Macht organisierte Bordelle. Die Bedingung: An heiligen Sonn- und
Feiertagen mussten sie geschlossen bleiben. Die Menschen, die im Prostitutionsgewerbe
tätig waren, gehörten zur Gruppe der Randständigen und waren wie Handwerker in
Zünften organisiert.
Zum Ende des Mittelalters hatte sich eine große Kluft zwischen Moral und Praxis im
Umgang mit dem Thema aufgetan. Insbesondere die Reformation, die Inquisition und die
Ausbreitung der Geschlechtskrankheit Syphilis führten ab dem 15. Jahrhundert innerhalb
nur weniger Jahrzehnte zur gesellschaftlichen Ausgrenzung von Prostituierten: Sie wurden
jetzt als das "Tor des Teufels" gebrandmarkt und als Hexen verdammt. Die Kirche bot
Ausstiegshilfen an - die Prostituierten konnten ein Leben im Kloster wählen - aber das
Gewerbe starb nicht aus. Prostitution wurde unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit
weiter praktiziert.
Industrialisierung - Prostitution als Massenphänomen
Im 18. und im 19. Jahrhundert, im Zeitalter der industriellen Revolution, strömten viele
Menschen in die Städte, in denen geschäftige Betriebsamkeit herrschte. Prostitution erfuhr
einen rasanten Aufwind: Angeblich kamen im Jahr 1839 in London auf 800.000 Einwohner
rund 80.000 Prostituierte! Sex gegen Geld war zum Massenphänomen geworden.
Armutsprostitution, die Kriminalisierung des Milieus und die weitere Verbreitung von
Geschlechtskrankheiten führten schließlich dazu, dass in ganz Europa wieder verschiedene
Anti-Prostitutions-Gesetze verabschiedet wurden und sich die Prostituierten zudem
regelmäßig Gesundheitschecks unterziehen mussten.
Im Jahr 1901 entwickelte das Reichsgericht eine Definition für das "Anstandsgefühl aller
billig und gerecht Denkenden"; Prostitution war fortan sittenwidrig; das Bordell war Ort der
Unzucht. Prostituierte, das waren Gestalten der "Halbwelt", die im Untergrund ihren
Geschäften nachgingen. Prostitution passte nicht in eine tugendhafte, aufgeklärte
Gesellschaft. Der Umgang mit dem Phänomen wurde immer widersprüchlicher.
Sexarbeit: ein ganz legaler Beruf?
In Deutschland suchen pro Tag etwa 1,2 Millionen Männer die Dienste von Prostituierten
auf. Der Jahresumsatz im Sexgewerbe, in dem die heterosexuelle Prostitution dominiert,
betrug im Jahr 2004 knapp 15 Milliarden Euro. Die Bundesregierung schätzt die Zahl der
Sexarbeiter auf rund 400.000 – 98 Prozent davon sind Frauen. Die Hälfte dieser Frauen sind
Migrantinnen, die für eine gewisse Zeit legal in Deutschland leben und dann wieder in ihre
Heimat zurückkehren – sie sind quasi Handlungsreisende in Sachen Sex.
Ein großes Problem im Zusammenhang mit Prostitution ist der Menschenhandel: Nach
Schätzungen der Vereinten Nationen werden allein in Europa jährlich 500.000 meist
osteuropäische Frauen und Mädchen verschleppt und zur Prostitution gezwungen.
Der Jahresumsatz, der mit Frauenhandel gemacht wird, wird auf rund zehn Milliarden Euro
geschätzt.
Im neuen Jahrtausend sucht die aufgeklärte Wissensgesellschaft nach einem bewussten
Umgang mit dem mittlerweile globalen Thema Prostitution. Es soll nicht länger ein Tabu
sein, auch wenn die europäischen Staaten das Phänomen auf ganz unterschiedliche Weise
angehen. In Schweden werden seit 1999 die Freier bestraft, wenn sie sexuelle
Dienstleistungen gegen Geld in Anspruch nehmen. Man versucht sozusagen, das Übel an
der Wurzel zu packen, denn, so die Argumentation, es seien ja die Männer, die das
Geschäft durch ihre Bedürfnisse am Laufen hielten. Verhindern lässt sich Prostitution
dadurch nicht. In Holland hingegen ist Prostitution seit dem Jahr 2000 völlig legitim. Nach
dem Motto: Was man nicht verhindern kann, soll wenigstens geregelt sein. In Deutschland
gab es einen Schritt in die holländische Richtung: Seit 2002 ist Sexarbeit nicht mehr
sittenwidrig.
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Das Prostitutionsgesetz
Das Prostitutionsgesetz (Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten –
ProstG) ist ein aus drei Paragraphen bestehendes Bundesgesetz in Deutschland, das die
rechtliche Stellung von Prostitution als Dienstleistung regelt, um die rechtliche und soziale
Situation von Prostituierten zu verbessern. Das Gesetz wurde am 20. Dezember 2001
verkündet und gilt seit dem 1. Januar 2002 (BGBl. I 2001, S. 3983; FNA 402–39).
Gleichzeitig wurden das Strafgesetzbuch (StGB) in § 180a (Ausbeutung von Prostituierten)
und § 181a (Zuhälterei) dahingehend geändert, dass das Schaffen eines angemessenen
Arbeitsumfeldes nicht mehr strafbar ist, solange nicht eine Ausbeutung von Prostituierten
stattfindet.
Durch Vereinbarungen über sexuelle Handlungen sollen seit Inkrafttreten des Gesetzes
klagbare Entgeltforderungen begründet werden können. Das hat nicht nur Bedeutung für
das Zivilrecht, sondern auch Auswirkungen auf das Strafrecht (Vermögensdelikte).
Außerdem können sich Prostituierte nun regulär in den gesetzlichen Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen versichern.
Wortlaut des Gesetzes
§ 1 Sind sexuelle Handlungen gegen ein vorher vereinbartes Entgelt vorgenommen
worden, so begründet diese Vereinbarung eine rechtswirksame Forderung. Das Gleiche
gilt, wenn sich eine Person, insbesondere im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses,
für die Erbringung derartiger Handlungen gegen ein vorher vereinbartes Entgelt für eine
bestimmte Zeitdauer bereithält.
§ 2 Die Forderung kann nicht abgetreten und nur im eigenen Namen geltend gemacht
werden. Gegen eine Forderung gemäß § 1 Satz 1 kann nur die vollständige, gegen eine
Forderung nach § 1 Satz 2 auch die teilweise Nichterfüllung, soweit sie die vereinbarte
Zeitdauer betrifft, eingewendet werden. Mit Ausnahme des Erfüllungseinwandes gemäß
dem § 362 des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Einrede der Verjährung sind weitere
Einwendungen und Einreden ausgeschlossen.
§ 3 Bei Prostituierten steht das eingeschränkte Weisungsrecht im Rahmen einer
abhängigen Tätigkeit der Annahme einer Beschäftigung im Sinne des Sozialversicherungsrechtes nicht entgegen.
Regelungsgehalt
In § 1 wird angeordnet, dass nach Erbringung („vorgenommen worden“) der sexuellen
Dienste ein Anspruch auf Zahlung der versprochenen Gegenleistung besteht. Damit wird
klargestellt, dass nicht etwa ein Leistungsanspruch des Kunden auf Erbringung der
Dienstleistung entsteht oder diese gar einklagbar wäre. Angesichts der Tatsache, dass
selbst Urteile auf Herstellung der ehelichen Gemeinschaft nicht vollstreckbar sind, § 888
Abs. 3 ZPO, wäre das ein kaum erklärlicher Widerspruch und höchstwahrscheinlich auch
wegen Verstoßes gegen Art. 1 GG (Achtung der Menschenwürde) verfassungswidrig.
§ 2 des Gesetzes stellt sicher, dass die Einwendung der Sittenwidrigkeit wegen der Art der
erbrachten Dienstleistung ebenso ausgeschlossen ist wie die der Schlechterfüllung: es soll
vor Gericht nicht Beweis erhoben werden müssen über die Qualität der erbrachten Dienste.
Entgegen dem Gesetzestext sind auch weitere Einwendungen wie Geschäftsunfähigkeit und
wohl auch Sittenwidrigkeit wegen Wuchers nicht ausgeschlossen.
Zudem soll die Entgeltforderung nicht abgetreten werden können. Entgegen dem Wortlaut
soll die Forderung auch nicht im Wege der Einziehungsermächtigung bzw.
Prozessstandschaft geltend gemacht werden können, während Stellvertretung (Handeln in
fremdem Namen) möglich bleibt. Dadurch wird der Handel mit solchen Forderungen
unmöglich gemacht.
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In § 3 werden die Voraussetzungen für die Aufnahme in Sozialversicherungen geschaffen.
Die Einklagbarkeit von Entgelten hat in der Praxis nur geringe Bedeutung, da praktisch
immer mit Vorkasse gearbeitet wird.
Das Werbeverbot für die Ausübung sexueller Dienstleistungen (§ 119 OWiG) wurde mit
dem Prostitutionsgesetz nicht aufgehoben. Unverändert geblieben sind auch die
Ordnungswidrigkeit (§ 120 OWiG) und der Straftatbestand (§ 184d StGB) der verbotenen
Prostitution, also der Zuwiderhandlung gegen eine auf Grundlage von Art. 297 EGStGB
erlassene Sperrbezirksverordnung.
Rechtsgeschichtlicher Hintergrund
Vor Inkrafttreten des Prostitutionsgesetzes wurden Verträge über sexuelle Dienstleistungen
als sittenwidrig im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB angesehen. Rechtsfolge der Sittenwidrigkeit
ist die Nichtigkeit des Vertrages. Daher entstand weder ein Anspruch des Kunden auf
Erbringung der Dienstleistung noch ein Anspruch der Prostituierten auf die vereinbarte
Gegenleistung. Folge war die Praxis der Vorauskasse.
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes Berlin war die Prostitution bereits vor dem
Prostitutionsgesetz nicht mehr sittenwidrig: „…die staatliche Verpflichtung zum Schutz der
Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) darf nicht dazu missbraucht werden, den
einzelnen durch einen Eingriff in die individuelle Selbstbestimmung gleichsam vor sich
selbst zu schützen…“. Der Europäische Gerichtshof hat klargestellt, dass Prostitution zu
den Erwerbstätigkeiten gehört, die „Teil des gemeinschaftlichen Wirtschaftslebens“ im
Sinne von Art. 2 EG sind. Entscheidungen, die die Sittenwidrigkeit in Zweifel zogen, sind im
Zivilrecht aber nicht ergangen, da sich hier sofort die Anschlussfrage nach Einklagbarkeit
der Dienstleistung, Schadensersatz für Schlechtleistung usw. stellt.
Diese zivilrechtliche Beurteilung hatte auch Auswirkung auf den strafrechtlichen
Vermögensbegriff und damit insbesondere auf den Betrugstatbestand, der einen
Vermögensschaden erfordert. Konnte die Arbeitsleistung der Prostituierten keine
Forderung begründen, gehörte sie auch nicht zum strafrechtlich geschützten Vermögen.
Wer also sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nahm und dabei über seine
Zahlungswilligkeit täuschte, beging mangels Vermögensschaden keinen Betrug. Der
Bundesgerichtshof hatte diese Konsequenz im Dirnenlohnfall bestätigt. Andererseits beging
die Prostituierte, die Geld annahm und dabei den Kunden über ihre Bereitschaft zur
Erbringung sexueller Dienste täuschte, sehr wohl einen Betrug, da das „gute Geld“ des
Kunden nach überwiegender Ansicht trotz des sittenwidrigen Zwecks zum geschützten
Vermögen des Kunden gehörte. Diese Rechtslage wurde vom Gesetzgeber als
reformbedürftig beurteilt.
Kritik
Es wird argumentiert, dass die Formulierung, es seien „weitere Einwendungen und
Einreden ausgeschlossen“, zu weit geraten sei und einer teleologischen Reduktion bedürfe.
Denn auch die Geschäftsunfähigkeit, insbesondere die Minderjährigkeit des Kunden, ist
eine (rechtshindernde) Einwendung, die nach dem Wortlaut ausgeschlossen wäre. Es könne
nicht vom Gesetzgeber gewollt sein, dass etwa der Minderjährige, der nicht einmal
wirksame Verträge über den Erwerb alltäglicher Gegenstände abschließen kann, nun
wirksame Entgeltforderungen für sexuelle Dienste gegen sich begründen kann.
Da die Menschenwürde als oberster Verfassungswert (Art. 1 GG) nicht zur Disposition des
Staates steht, auch nicht durch Gesetz, ist die Prostitution nach Auffassung mancher
Juristen auch weiterhin sittenwidrig. Dafür spräche insbesondere, dass § 2 ProstG lediglich
die Einwendung der Sittenwidrigkeit ausschließt und § 1 nur von einer „rechtswirksame[n]
Forderung“ spricht, dagegen nicht positiv anordnet, dass der Vertrag nicht sittenwidrig
oder auch nur wirksam sei. Auch die fehlende Einklagbarkeit der sexuellen Leistung zeige
deutlich, dass es sich nach wie vor nicht um einen gewöhnlichen Vertrag handelt.
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Das alles kann jedoch insoweit dahinstehen, als die Rechtsverhältnisse durch das
Prostitutionsgesetz abschließend geregelt sind. Auch für das Strafrecht gehören jetzt
erbrachte Dienstleistungen zum geschützten Vermögen; die „Dirnenlohn“-Rechtsprechung
ist damit überholt.
§ 180a StGB sanktioniert zwar die „Ausbeutung von Prostituierten“. Der Paragraph wird
aber selten angewandt, da sowohl wirtschaftliche Abhängigkeit als auch persönliche
Abhängigkeit schwierig zu beweisen sind und es strittig ist, ab wann eine Abhängigkeit
besteht. Eine Verurteilung im Strafverfahren ist allerdings ohne Aussage der Betroffenen
eher unwahrscheinlich.
Die Zeitschrift Emma kritisiert, dass das Prostitutionsgesetz vor allem die
Zwangsprostitution fördere. Eine angekündigte Begleitforschungsstudie ist nach Angaben
der Zeitschrift bislang nicht veröffentlicht worden. Die Kritik vom Emma richtet sich
allerdings nicht speziell gegen das Prostitutionsgesetz, sondern gegen Prostitution als
solche.
Das Bundessozialgericht hat im Urteil vom 6. Mai 2009 festgestellt, dass das
Prostitutionsgesetz zum Schutz der Beschäftigten und nicht zur Förderung des Geschäfts
erlassen wurde. Ein Bordellbetreiber kann demnach nicht von der Bundesagentur für Arbeit
die Vermittlung von Prostituierten verlangen.
19
"Die Prostitution war für mich nur ein Job"
Morgens zur Uni, abends ins Bordell: Alexandra Aden führte während ihres Studiums ein
Doppelleben. Ihre Erfahrungen hat die Kulturmanagerin in einem Buch verarbeitet.
Frau Aden, Prostitution gehört nicht gerade zu den klassischen Studentenjobs.
Wie sind Sie dazu gekommen?
Am Anfang meines Studiums musste ich gar nicht arbeiten, weil ich einen recht
wohlhabenden Freund hatte. Als der mich verließ, stand ich vor dem Problem, mich selbst
finanzieren zu müssen. Ich habe es erst mit normalen Jobs versucht, kam aber überhaupt
nicht über die Runden. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich nicht mit Geld umgehen
kann. Durch Zufall bin ich auf eine Annonce in der Zeitung gestoßen. Ich hab einfach mal
angerufen und geschaut, worum es da geht.
Was stand in dieser Annonce?
Es wurden Frauen ab 18 gesucht, die sich vorstellen können, in einem Club zu arbeiten.
Sehr viel mehr stand nicht dabei. Deswegen wusste ich auch nicht 100-prozentig, was auf
mich zukommt. Geht es da nur um Unterhaltung? Oder um mehr? Ich habe meinen Mut
zusammengenommen und angerufen, und man hat mich noch am selben Abend dahin
bestellt. Und recht schnell war klar: Es geht um Sex. Ich bin ins kalte Wasser gestoßen
worden, hab mich schnell umgezogen, der erste Gast kam und zack, war ich auf dem
Zimmer.
Das erste Mal einem Freier gegenüberstehen, seinen Körper verkaufen. Wie war das?
Ich hatte zum Glück nicht lange Zeit, darüber nachzudenken. Das war vielleicht das Beste.
Als ich im Zimmer stand, hatte ich natürlich schon Angst. Der Gast duschte, und ich wusste
nicht genau, wie ich mich jetzt verhalten soll. Man hatte mir vorher gesagt, was er möchte,
nämlich französisch. Das hab ich einfach getan. Ich habe mich weitestgehend abgeschaltet.
Danach bin ich erstmal duschen gegangen, weil das doch alles sehr fremd war. Aber als ich
das Geld bekam, hat mich das überzeugt. Wenn das erste Mal schlimm verlaufen wäre,
hätte ich es sofort wieder gelassen. Aber es war eben okay.
Sie haben danach ein Doppelleben geführt, waren einerseits Studentin, andererseits
Prostituierte. Wie haben Sie das organisiert?
Ich habe tagsüber studiert und Seminare besucht, und abends bin ich ein- oder zweimal pro
Woche in den Club zum Arbeiten gegangen. In dem Moment, in dem ich mich umgezogen
und geschminkt habe, war ich eine andere Person. Da war die Studentin verschwunden.
Dadurch, dass ich nicht so oft gearbeitet habe, habe ich das Doppelleben ganz gut
hinbekommen. Ich habe mich auch als Studentin gesehen, nicht als Prostituierte. Das war
einfach ein Job, um Geld zu kriegen.
Gab es Situationen, mit denen Sie zu kämpfen hatten?
Eigentlich nicht, meistens war es Routine. Allerdings gab es hin und wieder besondere
Wünsche von Freiern. Einer bestellte mich mal in eine Kirche, ich stand also im Kreuzgang,
und da war jemand, der vermutlich der Pastor war, er war zumindest so angezogen.
Und da kam es eben zum Sex. Einen Stammgast hatte ich, der war Richter, er hatte
seine ganz eigenen Vorstellungen von seinem Besuch. Es war fast eine Art Bühnenstück,
das wir da immer aufführten. Die anderen Männer kamen, tranken etwas, wollten Sex und
gingen wieder.
Die meisten sind also Durchschnittstypen?
Ja, Mittelschicht. Die allermeisten sind verheiratet und haben Familie, Kinder.
Sie unterscheiden sich nicht von anderen Männern, haben aber ihre Bedürfnisse.
Warum schlafen die nicht einfach mit ihren Ehefrauen?
Das machen die auch. Ich denke, dass Männer einfach anders gestrickt sind, vielleicht
evolutionär bedingt. Die wollen Abwechslung. Ich hatte Männer, die 40 Jahre lang treu
gewesen waren. Die fingen erst im Alter damit an. Die haben mir das auch erzählt:
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"Ich bin heute das erste Mal da, ich hab das noch nie gemacht, ich weiß auch nicht, warum
jetzt." Ob die dachten, sie versäumen was, ich weiß es nicht. Für Männer ist es ein Kick,
ins Bordell zu gehen.
Wurden Sie nie mit Perversionen konfrontiert?
Ich hatte ganz wenig mit Perversionen zu tun. Das gab es in unserem Club nicht, dafür gibt
es eigene Clubs. Aber einen Gast hatte ich, der sich ein bisschen von den anderen
unterschied. Er hat sich auch gar nicht ausgezogen, sondern eine kleine Micky-Maus-Figur
hervorgeholt und in die Toilette gelegt. Alles, was er von mir wollte, war, dass ich auf die
Figur pinkele. Das kam mir ein bisschen absurd vor, aber ich habe es gemacht. Danach
musste ich die Micky Maus runterspülen. Und ich glaube, in dem Moment ist ihm einer
abgegangen. Ich weiß es nicht, er war ja bekleidet. Er hat damit irgendetwas verbunden,
mit dieser Figur.
In Ihrem Buch heißt es, einer Ihrer Kunden sei Dozent an Ihrer Universität gewesen.
Das war peinlich. Ich hatte natürlich auch Stammgäste, und als ich eines Tages über den
Campus lief, begegnete mir einer von ihnen. Wir konnten nicht ausweichen, sind dann
aufeinander zu, haben uns erstmal nur angeschaut und begrüßt, beide peinlich berührt. Ich
habe herausgefunden, dass er Dozent an meiner Uni ist. Wir haben gar nicht darüber
gesprochen, sondern haben in der anderen Welt weitergemacht. Ich musste mir auch keine
Sorgen machen, dass er irgendetwas sagt oder mich verrät und umgekehrt. Es war wirklich
unangenehm, weil sich beide Welten auf einmal berührten.
Wussten eigentlich Ihre Freunde und Ihre Familie Bescheid?
Ich hatte zwei gute Freundinnen, die Bescheid wussten. Die waren mehr oder weniger
interessiert, man hat am Anfang mal ein bisschen darüber geredet, aber später war es kaum
mehr ein Thema. Meine Eltern wussten es natürlich nicht, auch heute nicht. Das sind die
Allerletzten, denen ich das erzählt hätte. Als ich dann später eine Beziehung eingegangen
bin, habe ich es gesagt. Ich denke, wenn man eng zusammenlebt, sollte man nicht mit
Lügen anfangen.
Wie hat Ihr Partner auf die Prostitution reagiert?
Ich habe meinen Mann, wir sind mittlerweile verheiratet, während meiner aktiven Zeit
kennengelernt, an der Uni. Er wusste von Anfang an Bescheid, ist aber sehr froh, dass ich
mich jetzt nicht mehr prostituiere. Mein Buch zum Beispiel hat er nicht gelesen, er wird es
auch nicht lesen. Das wäre dann wohl doch zu nah.
Wie viel Geld haben Sie verdient?
Ich kam richtig gut zurecht. 2000 Euro waren es schon im Monat. Es kam immer drauf an,
wie oft ich hingegangen bin. Wenn ich meine Ausgaben gedeckt hatte, bin ich nicht
arbeiten gegangen. Allerdings wachsen mit dem Geld auch die Bedürfnisse, etwa wollte ich
eine größere Wohnung. Für viele Studenten ist das so verlockend, dass sie irgendwann mit
dem Studium aufhören. Für mich kam das nicht infrage, weil die Uni für mich immer im
Vordergrund stand.
Das Portal gesext.de, das wohl größte Auktionshaus für sexuelle Kontakte, meldete vor
einigen Monaten, dass die Zahl der studentischen Auktionen seit Einführung der
Studiengebühren um 400 Prozent gestiegen sei. Denken Sie, dass sich durch die
Gebühren mehr Studentinnen prostituieren?
Da sehe ich auf jeden Fall einen Zusammenhang. Die Studiengebühren und alle anderen
Kosten steigen, sodass Eltern gar nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder zu unterstützen.
Wenn dann die Angebote da sind, wie es heute nun mal der Fall ist, überlegt sich das
manch eine Studentin. Ich denke sogar, dass es noch schlimmer werden wird.
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Haben Sie denn andere Studentinnen kennen gelernt, die sich prostituieren?
Nein, gar nicht. Aber ich war auch nur an zwei Orten, nämlich im Club und in einem
Massagesalon. Allerdings wird man in Escort-Services sehr viele finden, weil auch da eine
freie Zeiteinteilung möglich ist.
Aus Ihrer Sicht klingt der Job recht nüchtern, als sei nichts dabei.
Man sollte schon schauen, ob man sein Leben ohne den Job auf die Reihe bekommt. Ich
habe das Buch von Laura D. gelesen, einer französischen Studentin, die sich ebenfalls
prostituiert hat. Die war ja sehr jung, die kam gar nicht mit dem Job zurecht, sodass am
Ende ihr Studium und ihr ganzes Leben litten. Man sollte nicht leichtfertig beginnen, weil
immer die Gefahr des Hängenbleibens besteht. Wenn man einmal gesehen hat, dass man
relativ leicht und zügig Geld verdient, ist die Motivation, unbequeme Jobs zu machen, nicht
so groß.
War es für Sie immer klar, dass Sie nach dem Studium mit der Prostitution aufhören?
Es war eine Katastrophe. Ich war fertig mit dem Studium, fand aber überhaupt keinen Job,
was auch an meinem exotischen Studienfach Kulturwissenschaften lag. Ich hatte kurzfristig
aufgehört mit der Prostitution, stieg dann aber wieder ein. Und merkte, dass es mir
schlecht dabei geht, weil die Perspektive fehlte. Alle Hoffnungen, die ich mit dem Studium
verbunden hatte, die waren auf einmal weg. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich neue
Projekte gefunden hatte. Mittlerweile muss ich mich nicht mehr prostituieren.
Wenn Sie wählen könnten, würden Sie alles noch einmal genau so machen?
Ja. Es ist ja alles relativ gut gelaufen, ich habe keine besonders schlimmen Erfahrungen
gemacht. Es war einfach ein Mittel zum Zweck, daher habe ich die Entscheidung
nie bereut.
Der Name Alexandra Aden ist ein Pseudonym, auch ihr Alter verrät die Autorin nicht. Enge Freunde wissen von
ihrer Vergangenheit als Prostituierte, der Ausstieg ist ihr mittlerweile gelungen. Aden hat im Rhein-Main-Gebiet
Kulturwissenschaften studiert. Heute ist sie selbstständige Kulturmanagerin. Sie organisiert Ausstellungen und
schreibt Beiträge für Kataloge. Ihr Buch "Und nach der Vorlesung ins Bordell - Bekenntnisse einer deutschen
Kunststudentin" ist bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen und kostet 9,90 Euro.
Johanna Kutsche
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Prostitution in Deutschland > "Keine von uns wollte in den Keller"
Mit dubiosen Versprechungen locken Menschenhändler osteuropäische Frauen nach
Deutschland. Die meisten landen in trostlosen Bordellen. Tanjura ist eine von ihnen.
In SPIEGEL ONLINE erzählt die junge Frau von ihrem Leidensweg.
Berlin - "Ich hätte es eigentlich merken müssen. Schon als die Kundin mich fragte, ob ich
nicht nach Deutschland wolle, während ich ihr die Haare schnitt. Zehnmal so viel könne ich
dort verdienen, sagte sie mir. Ich war geblendet von so viel Reichtum. Mit 120 Euro im
Monat war ich Großverdienerin in meiner Heimat.
Ich hätte es merken müssen, als die Kundin mir Geld lieh. Als fremde Männer mir ein
Touristenvisum besorgten für ein paar Tage Deutschland. Als sie 400 Euro für die Fahrt
zahlten und dafür meinen Personalausweis behielten. Spätestens im Zug nach Berlin hätte
ich begreifen müssen, was ich dort tun soll. So doof kann man eben sein.
Wir waren zu sechst. Über 20 Stunden Fahrt. Vier Frauen, eine andere und ich
Frischfleisch", wie es in den Puffs heißt, und zwei Begleiter. Irgendwann versuchten die
Männer uns zu vergewaltigen, waren dann aber zu betrunken.
Die beiden, die schon mal in Berlin gearbeitet hatten, taten geheimnisvoll. Sie hätten viel
Geld verdient in Deutschland, sagten sie uns. Sie sagten uns nicht, wie. Nur, dass sie auch
kaum ein Wort Deutsch könnten. Zum Geschirrspülen braucht es eben keine Worte, dachte
ich da nur.
Schulden beim Vermittler
Ich war 24, lebte getrennt von meinem Mann und hatte ein Kind zu Hause. Schon mit 1500
Euro könnte ich mir die eigene Wohnung kaufen, die ich brauchte. Ich bin klein, ich bin
dünn, ich habe zwar einen Busen, aber nach der Geburt bestand der auch nur noch aus
Haut - ich hätte nie gedacht, dass ich mit diesem Körper Geld verdienen soll.
Ich kam in Berlin-Lichtenberg an. Ich und mein Plastikbeutel, darin ein Jacket und ein Rock
für schickere Stunden. Ein Mann in einem Golf holte uns ab. Er bezahlte 1500 Euro für uns,
wie ich später erfuhr. Das Geld schuldete ich ihm nun.
Wir fuhren zu seinem Anwalt. Eine russische Frau erklärte uns, dass wir ihm jetzt unsere
Reisepässe geben müssten. Er wolle das Visum verlängern. Nur zu unserem Besten. Mir
fielen plötzlich die Worte meiner Mutter ein. "Sieh zu", hatte die mir zum Abschied gesagt,
"dass niemand dir deinen Pass wegnimmt. Ohne Pass bist du nichts". Doch die anderen
gaben ihm das Dokument. Das muss jetzt wohl so sein, dachte ich. Und tat es auch. Ich
hatte Angst. Aber ich dachte, "Deutsche sind seriös und verlässlich, da wird nichts
passieren". Der Anwalt kostete mich fünfhundert Euro.
Gegen zwanzig Uhr am Tag der Ankunft holte der Mann uns in unserer Wohnung ab. Wir
sollten arbeiten. Ich trug Jeans und T-Shirt, ich hatte mich ein bisschen geschminkt.
Gemeinsam gingen wir in die Bar im Erdgeschoss. Spiegelbedeckte Wände reflektierten
blaues Licht, Frauen trugen Minirock und Tiefausgeschnittenes.
Ohne Pass in der Falle
Ich war noch nie in einer Bar gewesen, es war wie im Film für mich. Eine nahm mich zur
Seite und erklärte mir die Regeln. Was eine Frau hier anzieht, und wie sie an der Stange
tanzt. Wie mit den Kunden umzugehen ist. Und das wichtigste: dass wir mit ihnen "ins
Zimmer" gehen sollen - "ins Zimmer gehen" das war so ein Begriff. Ich wollte das nicht. Ich
konnte das nicht. Ich war in der Falle. Ich hatte kein Geld, keinen Pass, ich konnte nicht
einmal nach dem Weg fragen. Ich musste da jetzt durch.
Am nächsten Tag wurde ich angewiesen, Unterwäsche zu kaufen. Ich musste unters
Solarium, mich überall rasieren. Eine russische Frau, die schon länger da war, erklärte uns,
was passiert, wenn wir nicht spurten. Der Besitzer der Bar würde uns in den Keller sperren
und grün und blau schlagen. Keine von uns wollte in den Keller. Wir waren ab dann wie die
Mäuse. Ich bin eben ein Mensch, der schon anfängt zu weinen, wenn man ihn nur
anschreit.
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Auf dem Weg zur Selbstzerstörung
Die blonden Barfrauen waren wie Nazis. Sie befahlen uns auf die Bühne zum Tanzen, sie
befahlen uns, zu den Kunden zu gehen. Einmal musste eine Kollegin tanzen, die gerade
operiert worden war. Bauchhöhlenschwangerschaft. Das Blut lief ihr die Beine hinunter.
Ich fing an zu rauchen. Ich trank. Ich habe mich völlig in mich zurückgezogen. Ich habe
meinen Kopf ausgeschaltet, nichts mehr von anderen mitbekommen. Ich wollte nur noch
Geld verdienen, um ein Ticket zu kaufen. Die Kunden freuen sich, wenn die Frauen kein
Deutsch können. Dann wissen sie, dass sie Frischfleisch sind. Ich verdiente mehr als die
anderen.
Doch egal, wie viel Kunden ich durchzog, ich bekam jeden Tag nur 25 Euro. Fünfzig Euro
kostete in der Bar eine halbe Stunde. Geschlechtsverkehr und Französisch. Am Anfang
rechnete ich noch nach, dann gab ich es auf.
Im Februar, ich war gerade vier Wochen da, kam gegen 23 Uhr die Polizei. Eine Razzia. Ich
konnte nur die Kopie meines Passes vorweisen und ein Schreiben des Anwalts darüber,
dass ich gerade einen Asylantrag stellte. Ich landete im Knast. Mein Anwalt kam vorbei. "Es
wird alles gut", schärfte er mir ein, wenn ich erzähle, ich sei nur zufällig in der Bar
gewesen. Sonst würde ich für immer dort bleiben. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht ins
Gefängnis. Eine Woche später war ich wieder auf freiem Fuß.
Die Flucht
Nach fünf Monaten, es war im Mai, konnte ich nicht mehr. Es gab ein paar Franzosen in der
Bar. Die kamen immer wieder vorbei. Kleinkriminelle. Wenn sie da waren, musste wir nicht
tanzen, nichts trinken und mit niemandem schlafen. Sie haben eine Menge Geld für mich
und meine Freundin ausgegeben. Nach einer weiteren langen Nacht in der Bar flohen wir
mit ihnen.
Zunächst ins Ausland. Dann ging ich wieder zurück. Eine Bekannte überredete mich, zur
Polizei zu gehen. Ich sagte aus. Es kam zum Prozess. Meine Gefängniswärter kamen fast
alle mit Bewährung davon. Nach den Verfahren habe ich eine befristete Aufenthaltserlaubnis bekommen. Den Nachnamen habe ich geändert. Weder mit meiner Familie noch
mit meinen Freunden rede ich über die Zeit.
Niemandem habe ich erzählt, wo ich gearbeitet habe, nicht einmal meinem Partner. Auch
mein inzwischen zehnjähriger Sohn weiß von nichts. Nur in meiner Heimatstadt ahnen es
manche. Es kamen schon Bemerkungen. Ich habe direkt abgewiegelt, es war eine
fürchterliche Situation. Ich werde mich mein ganzes Leben lang verstecken müssen".
Aufgezeichnet von Caroline Schmidt
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