Der finale Bruch mit der Klassik Alexander
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Der finale Bruch mit der Klassik Alexander
Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Kunstgeschichte Proseminar Skulptur und Plastik 1890–1950 SoSe 2013 Dozentin: xxx Der finale Bruch mit der Klassik Alexander Archipenkos Schreitende Frau Verfasserin: Anke Gröner; Matrikelnummer xxx B.A. Kunstgeschichte/Kunst, Musik, Theater; 2. Semester Gärtnerstraße 86, 20253 Hamburg Abgabedatum: 15. September 2013 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung S. 3 2. Biografie S. 4 3. Der Weg zur Schreitenden Frau S. 5 4. Werkbetrachtung Schreitende Frau S. 7 5. Schlussbemerkungen S. 11 6. Literaturverzeichnis S. 13 7. Abbildungsverzeichnis S. 15 2 1. Einleitung Seit der Antike hatten für die Darstellung des Menschen in der Skulptur oder Plastik die gleichen Regeln gegolten: Der Mensch war klar als solcher erkennbar, wurde vollständig mit allen Gliedmaßen dargestellt und das Kunstwerk war massiv. Unzählige Zeugnisse der griechischen und römischen Kunst wurden nach diesen Regeln geformt, und auch im Mittelalter und in der Neuzeit hielten sich Künstler und Künstlerinnen an diese Vorgaben – bis Auguste Rodin als Erster dagegen verstieß. Seiner Auffassung nach war bereits ein Torso eine vollständige Skulptur eines Menschen1, ein „Teilkörper (...) eine Gestalteinheit“2. Seine Torsi „entindividualisierte[n zudem] die menschliche Figur“3, indem sie nicht mehr als eine bestimmte Person erkennbar waren; sie waren Fragmente, nur eine Andeutung von Menschlichkeit im bisher gelernten Sinne. Rodin brach noch mit einer weiteren Regel, die es seit der Renaissance gab: die der möglichst wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe des Menschen. Ein Torso, selbst wenn er realistisch gestaltet wird, ist im klassischen Sinne unmenschlich – er ist abstrakt.4 Damit ebnete Rodin den Weg für Künstler und Künstlerinnen, die im 20. Jahrhundert ein neues Menschenbild darstellen wollten. Einer von ihnen war Alexander Archipenko. Archipenko war als ausgebildeter Bildhauer (siehe biografische Notizen im nächsten Abschnitt) sicherlich mit den Arbeiten Rodins vertraut. Auch in seinem Frühwerk finden sich Torsi, bis er 1912 einen ähnlich radikalen Schritt machte wie Rodin 30 Jahre vor ihm. Seine Schreitende Frau (Abb. 1) ist die endgültige Absage an die klassische Plastik: Sie verzichtet auf die vollständige Darstellung aller Gliedmaßen, sie zeigt keine klar erkennbare Person und sie ist vor allem nicht mehr massiv. Diese Arbeit beschreibt die Schreitende Frau im Zusammenhang mit den Arbeiten Rodins sowie Archipenkos Kontakt zu den kubistischen Bildwerken zum Beispiel von Pablo Picasso und Georges Braque. Zusätzlich versucht die Arbeit, die Schreitende Frau in die gesellschaftlichen Strömungen ihrer Zeit einzuordnen. 1 Vgl. Schnell 1977 S. 12. Albrecht 1977, S. 79. 3 Schnell 1977 S. 12. 4 Vgl. Schnell 1977 S. 15. 2 3 2. Biografie5 Alexander Archipenko wurde 1887 in Kiew in der Ukraine geboren. Ab 1902 studierte er an der dortigen Kunstschule, wo er nach kurzer Zeit von der Malerei zur Skulptur wechselte. Bereits 19066 beteiligte er sich in Moskau an einigen Gruppenausstellungen, bevor er 19087 nach Paris übersiedelte. Von 1909 bis 1914 nahm er am Salon des Indépendants teil, von 1911 bis 1914 am Salon d'Automne. 1912 war er Mitinitiator der kubistischen Ausstellungsgemeinschaft Section d'Or in Paris, an der sich unter anderem auch Pablo Picasso und Georges Braque beteiligten. Zusätzlich eröffnete er eine eigene Kunstschule. 1913 war Archipenko mit vier Skulpturen und fünf Zeichnungen auf der Armory Show in New York vertreten. 1921 ließ er sich in Berlin nieder und eröffnete wiederum eine Kunstschule. Im gleichen Jahr fand seine erste Einzelausstellung im Museum of Modern Art in New York statt. 1923 emigrierte er mit seiner ersten Ehefrau Gela Forster in die USA, wo er 1928 die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm.8 Bis zu seinem Tod im Jahre 1964 betrieb Archipenko neben seinem künstlerischen Schaffen weitere Kunstschulen und lehrte an diversen Colleges und Universitäten. 5 Die biografischen Angaben folgen Schmoll 1986 sowie Melcher 2008. Melcher 2008 gibt als Datum 1907 an. 7 Melcher 2008 gibt als Datum der Übersiedlung nach Paris 1909 an. 8 Archipenko schrieb 1923: "America is the only country not jaded and rent by war. It is the land where the great art of the future will be produced. America fires my imagination more than any other country and embodies more of that flexibility and yeastiness, which means life and vitality and movement." (Kardashan, Donald (Hrsg.): Archipenko. International Visionary, Washington 1969, S. 72, zitiert bei Wassermann 1980, S. 12.) 6 4 3. Der Weg zur Schreitenden Frau 1909 experimentierte Archipenko erstmals mit dem Weglassen von Masse. Sein Female Torso (Abb. 2) bewegt sich in der Tradition Rodins: Wir sehen eine klar erkennbare weibliche Figur mit ausgeformtem Rumpf und Kopf auf kräftigen Beinstümpfen. Der rechte Arm der Figur ist vollkommen ausgestaltet und ergreift die linke Brust, während der linke Arm nur teilweise vorhanden ist. Er besteht aber nicht nur aus einem verkürzten Oberarm, wie es von Rodin bekannt ist, sondern aus eben diesem Stumpf – plus einer Hand, die auf dem linken Oberschenkel ruht. Der Körperteil, der Oberarm und Hand verbinden müsste, fehlt. Allerdings fühlt sich es für den Betrachter nicht wie ein Fehlen an: Stattdessen wird die Aufmerksamkeit ganz besonders auf diesen Arm gelenkt, obwohl er nicht plastisch vorhanden ist. 50 Jahre später erläuterte Archipenko seinen Gedankengang: „Die Form des leeren Raumes ist es, die den Eindruck dessen bestimmt, was zwar nicht real vorhanden ist, was jedoch schöpferisch wieder aufbaut, was in uns ist. (...) In der Kunst sollte die Form des leeren Raumes nie weniger Bedeutung haben als die Form der soliden Masse.“9 Archipenko war nicht der einzige, der den Bruch mit klassischen Traditionen bzw. der jahrhundertelang gelernten Ästhetik probte. 1909 postulierten die Futuristen in ihrem Manifest eine „neue Schönheit“10, die mechanische, metallene Produkte wie Rennwagen über klassische Kunstwerke wie die Nike von Samothrake stellte.11 Umberto Boccioni verfasst 1912 sein Technisches Manifest der futuristischen Skulptur, in dem er neue Formen für die Skulptur fordert; sie „können nur erreicht werden, wenn man die gegenständliche und die atmosphärische Ebene zusammenbrächte, also Figur und Umfeld miteinander verzahnte“12. In Ateliers und Cafés in Paris, Archipenkos Wohnort um diese Zeit, wurden zum Teil sehr gegensätzliche philosophische und naturwissenschaftliche Theorien diskutiert13, zum Beispiel die antirationalistischen Schriften Henri Bergsons, die eine 9 Archipenko, Alexander: Erläuterungen zu meiner Arbeit, in: Das Kunstwerk 9/XII, 1959, S. 16, zitiert bei Thier 1999, S. 99. 10 Zeller 1986, S. 328. 11 Vgl. Feist 1996, S. 41/42. Er spricht allerdings fälschlicherweise von der „Venus von Samothrake“. 12 Schneede 1994, S. 123/124. 13 Vgl. Beloubek-Hammer 2008 (1), S. 389. 5 gemeinsame Entwicklung von „Natur, menschlichem Sein und Kunstschaffen“14 beschrieben, oder die 1905 veröffentlichte spezielle Relativitätstheorie Albert Einsteins, die ein neues Bezugssystem für Zeit und Raum begründete.15 Paul Klee schrieb 1917 in seinem Tagebuch: „Das Formale muss mit der Weltanschauung verschmelzen.“16 Es ist schwer zu sagen, ob Archipenko sich von diesen Stimmungen, Manifesten und Diskussionen hat beeinflussen lassen. Sicher ist aber, dass er Zugang zu den Werken Picassos und Braques hatte, die bereits 1908/09 mit konvexen und konkaven Formen in ihren Bildern experimentierten17 oder kurze Zeit später Umrisse verschwinden ließen und die Formvollkommenheit damit aufgaben.18 Archipenko beschreibt in seiner Autobiografie Fifty Creative Years seine Gedankengänge zu den Themen Form, Raum und Skulptur(-masse), die Ähnlichkeiten zu den Überlegungen Boccionis bzw. den Werken Picassos und Braques aufweisen: „Es existierte der traditionelle Glaube, daß die Skulptur da anfing, wo das Material den Raum berührt. Somit verstand man unter Raum eine Art Einrahmung der Masse. Ich experimentierte im Jahre 1912, indem ich von der umgekehrten Idee ausging. Ich erklärte, daß Skulptur da beginnen könne, wo der Raum vom Material umschlossen ist. In solchen Fällen ist es das Material, das zum Rahmen rund um eine Raumform wird.“19 Mit dem Female Torso von 1909 war ein erster Schritt in Richtung Raum als formbares Material gegangen, wenn auch nur im Ansatz. Mit der Schreitenden Frau vollendete Archipenko seine Idee. 14 Beloubek-Hammer 2008 (2), S. 515. Vgl. Beloubek-Hammer 2008 (1), S. 387, wo die spezielle Relativitätstheorie erläutert wird. Archipenko dementierte allerdings laut Beloubek-Hammer 2008 (1), S. 392, dass Einsteins Theorien Einfluss auf seine Werke gehabt hätten, die sich auch mit dem Phänomen von Raum und Zeit befassen (siehe die Inschrift der Schreitenden Frau, die in Abschnitt 4 beschrieben wird). 16 Beloubek-Hammer 2008 (1), S. 18. 17 Vgl. Michaelsen 1977, S. 52. 18 Vgl. Michaelsen 1977. S 51. 19 Schnell 1980, S. 117, im englischen Original Archipenko 1960, S. 56. 15 6 4. Werkbetrachtung Schreitende Frau Die Schreitende Frau erscheint zunächst erkennbar als figurative Plastik. Zudem weist der Titel des Werks deutlich auf das Dargestellte hin. Trotzdem muss der Betrachter viele seiner erlernten Erkennungszeichen einer weiblichen Figur vergessen und sich der Schreitenden Frau neu nähern. Die Plastik deutet eher menschliche Formen an, als sie realistisch abzubilden, und nutzt geometrische Figuren, um einzelne Körperteile darzustellen. Dabei arbeitet Archipenko sowohl mit kantigen, harten Formen als auch eher dem Weiblichen zugeordneten abgerundeten, weichen Formen und Verläufen. Die 134 Zentimeter hohe Figur aus bronzefarben getöntem Gips20 steht auf einem kleinen Sockel, der die Plastik erdet und ihr festen Stand verleiht. Ihr rechtes Bein besteht aus einer dreieckigen Form, die nach oben zur Hüfte hin schmaler wird. Aus dem unteren Teil des Dreiecks wurde ein leicht gekrümmtes Teil entfernt, so dass in der Seitenansicht (Abb. 3) ein Knie und ein Unterschenkel in Bewegung erkennbar werden. Das linke Bein scheint ebenfalls aus einem Dreieck zu bestehen; betrachtet man die Plastik von hinten (Abb. 4), sehen beide Beine gleich aus. Von vorne aber sieht man, dass der linke Unterschenkel eine hohle Kegelform ist, die nach unten hin spitz zuläuft. In der Seitenansicht ist zu erkennen, dass das linke Bein hinter dem rechten angeordnet ist; es entsteht die Illusion einer Schrittbewegung. Durch die nach unten verbreiterten Dreiecksformen der Beine werden Füße eher angedeutet als ausgestaltet. Beide Beine werden von einer weiteren Dreiecksform durchzogen, die sich im rechten Winkel zu den Beinen befindet: Sie beginnt an der Hüfte, durchschneidet das rechte Bein knapp unterhalb des Knies und wird von der Kegelform des linken Beins aufgenommen. Sie scheint weder zur Front noch zur Rückansicht der Figur zu gehören, sie verlässt das gelernte Schema einer festen Zuordnung der Körperteile. In der Rückansicht ist diese Form teilweise geglättet, teilweise sind an ihr ungeordnete Schraffuren zu erkennen, die Stofflichkeit andeuten könnten. Auf der vorderen Seite 20 Die Beschreibung der Plastik folgt der Gipsfassung von 1935, die heute im Saarland-Museum zu finden ist. Weitere Versionen sind laut Barth 1997 (2), S. 86–89, eine Gips- sowie eine Bronzefassung von 1912 und eine Terrakottafassung von 1918; bei diesen Werken ist der Verbleib unbekannt. Die dritte Fassung von 1935 existiert laut Barth als Gipsfassung und als Bronze in zwei verschiedenen Größen (68 und 134 cm) sowie als Hydrostoneversion. 7 haben die Schraffuren hingegen eine klare Richtung: An der Dreiecksform zwischen den Beinen finden sich geschwungene Linien, die an einen bewegten Rock erinnern. Die Oberkörper der Figur wird von einer Form gekennzeichnet, die die Schreitende Frau zu einer besonderen Plastik macht: Sie ist gleichzeitig positive Masse und negativer Leerraum. Die Form gleicht einer Acht oder Niere; sie beginnt am unteren Ende – der Hüfte – mit einer rundlichen Form, die sich mittig verengt und am oberen Ende zu angedeuteten Schultern wieder verbreitert. Sie überwölbt die Beinstümpfe, auf die sie hart und ohne Verbindung aufgesetzt wurde, und drängt über sie hinaus in den Raum. Nur in der Vorderansicht ist ein Berührungspunkt zu erkennen: Das linke Bein ragt in die Oberkörperform hinein und durchstößt sie sogar fast. Die linke obere Hälfte der Form endet in einem rundlichen Stumpf, der in den mittigen Leerraum eindringt und eine weibliche Brust andeuten könnte. An die geschwungene, durch die mittige Verengung weiblich und weich wirkende Form schließen sich als Kontrast kantige Blöcke an, die Arme, Schultern, Hände und eine Art Mantel bilden. Die Schultern sind eine gerade Linie, die nur von kleinen, halbrunden Einkerbungen und dem Hals unterbrochen wird. Der rechte Arm folgt in seiner Form dem weichen Schwung des Oberkörper, endet aber in einem deutlich abgesetzten, starren Quader, wo eine Hand sein müsste. Der rechte Arm mit Hand sowie die linke Schulter sind schraffiert; Arme und Schultern sind schräg schraffiert, wodurch ein bewegter Eindruck entsteht, während die Handschraffuren gerade nach unten weisen – die angedeutete Hand wirkt dadurch noch steifer als sie es durch ihre Quaderform schon ist, es entsteht wieder ein Kontrast, dieses Mal zwischen Bewegung und Stille. Und wo man sich bis jetzt sicher sein konnte, dass Schraffuren Kleidungsstoff darstellen sollen, irritiert Archipenko hier: Die unbekleidete Hand dürfte eigentlich keine Schraffuren aufweisen; die linke Hand ist unschraffiert. An der linken Seite der Figur befindet sich auf Hüfthöhe eine wie angesetzt wirkende Form, die einen wehenden Mantel andeuten könnte, mit etwas Fantasie vielleicht sogar eine Tasche. Die Form sitzt blockartig am linken Oberschenkel, und der linke Unterarm ruht auf ihr bzw. schwingt über sie hinweg, je nachdem, ob man die Figur als starr oder bewegt ansieht. Der linke Unterarm ist, ähnlich wie der linke Unterschenkel, deutlich anders gestaltet als sein rechtes Äquivalent. Er besteht aus einer vorspringenden, gebogenen Form, die über die optische Grenze aus Schulter 8 und Mantel/Tasche hinausgeht. Hier ist die Hand kein eckiges Objekt, sondern ein halbkreisförmiges Gebilde, das sich ohne Übergang aus dem linken Unterarm entwickelt anstatt wie im rechten klar abgegrenzt zu sein. Der linke Unterarm ist glatt und unschraffiert. Auch hier wird die Wahrnehmung ambivalent: Was man bisher als Beinstumpf aufgefasst hat, könnte auch ein geschlossener Regenschirm sein. Die Kegelform lässt beide Interpretationen zu, und die rundliche Hand schafft eine optische Verbindung zur halbrunden Kegelbasis. Über den geraden Schultern erscheint schließlich der Kopf, der aus zwei Teilen besteht. Die rechte Hälfte entsteht bruchlos aus der rechten Schulter, wobei sie anders schraffiert ist als der Rest des Oberkörpers. Hier findet sich die stoffliche Schraffur wieder, die wir bisher nur auf der Rückseite der Plastik gesehen haben. Dort ist die Verbindung noch deutlicher – die Schraffur zieht sich ohne Unterbrechung von der rechten Hand bis zur rechten Kopfhälfte. Trägt die Schreitende Frau vielleicht eine Kopfbedeckung aus Stoff oder Tuch? Die linke Hälfte des Kopfes erscheint in der Vorderansicht wie eine Seitenansicht: Ihre leicht gewölbte Form erinnert eher an ein Profil als an eine Frontalansicht. Ihre fehlende Schraffur verbindet sie organisch mit dem Rumpf. Die beiden Kopfhälften zitieren den Oberkörper, indem auch sie um leeren Raum geformt sind anstatt massiv zu sein. Am linken unteren Bein der Figur finden sich eine Inschrift sowie eine Datierung21: „Archipenko Paris 1912 APRES MOI VIENDRONT DES JOURS QUAND CETTE OEUVRE (GUI DERA) ET LES ARTISTES SCULPTE RONT L'ESPACE (ET LE TEMPS)22 21 Die Datierung von 1912 findet sich auf allen Versionen der Plastik, auch auf denen, die nach 1912 gefertigt oder gegossen wurden. Archipenko: "This statue is made three times: 1912, 1918 and 1935; of course, in re-sculpting the same problem, the forms are not as mathematically exact as if they where [sic] cast from the same mold. However on all replics [sic] I prefer to keep the date of the original." (Schmoll 1986, S. 30.) 22 Zitiert nach Schmoll 1986, S. 28. Übersetzung bei Melcher 2008, S. 34: „Nach mir werden Tage kommen, wenn dieses Werk den Weg weisen wird und die Künstler Raum und Zeit plastisch umsetzen werden.“ 9 Diese Aussage verdeutlicht, dass sich Archipenko durchaus darüber im Klaren war, welch programmatisches Werk er geschaffen hatte. Gleichzeitig steht er mit der Schreitenden Frau auch in der Tradition der Bergson'schen Philosophie, die in L'evolution creatice von 1907 eine „fortwährende Transformation und Metamorphose alles Kreatürlichen“23 beschreibt. Archipenko: „Für mich setzt die Nicht-Existenz einer bekannten Form das Verlangen und den Impuls in Gang, diese Abwesenheit in eine Anwesenheit zu verwandeln. Ich glaube, dass die gesamte biologische Evolution der Menschheit und der Fortschritt der Zivilisation nur darauf basieren, dass die kreativen Kräfte der Natur etwas erzeugen wollen, was noch nicht da ist.“24 23 24 Melcher 2008, S. 18. Übersetzung der Verfasserin, englisches Original bei Archipenko 1960, S. 57/58. 10 5. Schlussbemerkungen Wo klassische Bildhauer noch einen ganzen Menschen skulptierten, seine Haut aus glattem Marmor formten und ihm unverwechselbare Gesichtszüge gaben, nutzt Archipenko rudimentäre geometrische Formen, leeren Raum und programmatische Auslassungen. Er meißelt kein Individuum mehr in Stein, sondern schafft eine Hommage an den modernen, anonymen Menschen.25 Die radikale Abkehr von der klassischen, mimetischen Formensprache wurde nur möglich durch eine „Entheroisierung der Skulptur“26. Sie dient nicht mehr der Verherrlichung des Menschen, sondern stößt ihn vom Sockel, auf dem er jahrtausendelang stand. Er ist kein „Abbild der Gottheit“27 mehr, er ist ein „reines Formproblem“28. Er verliert zudem sein Gesicht, das ihn unverwechselbar macht. Mit dem Verzicht auf den ausgestalteten Kopf raubt Archipenko der Schreitenden Frau ihre Individualität – sie ist als Art noch erkennbar, aber nicht als Person.29 Mit diesem bildhauerischen Werk ist Archipenko ganz Kind seiner Zeit. Die fortschreitende Industrialisierung sowie die gefühlte ständige Beschleunigung der Zivilisation gehörten zu seiner Lebenswirklichkeit in der Moderne. Es ist daher erstaunlich, dass er sich relativ schnell von dieser revolutionären, zeitgemäßen Formensprache wieder verabschiedete. Seine Plastiken, die in den Folgejahren entstanden, zum Beispiel Green Concave von 1913 (Abb. 5) oder Geometric Statuette von 1914 (Abb. 6), zeigen noch Spuren der Ideen, die in der Schreitenden Frau stecken, aber sie haben bereits die kantige Formensprache von 1912 verloren. Spätestens in den 20er Jahren schafft Archipenko wieder deutlich gefälligere, „von der Masse bestimmte Formen“30 und bleibt diesem Stil bis zu seinem Tod treu. In Amerika wagt er immerhin Experimente mit verschiedenen modernen Materialien 25 Auch Bildhauer vor Archipenko schufen Skulpturen, die kein Individuum darstellten, sondern als Allegorie gelten können oder eine programmatische Aussage hatten, zum Beispiel Rodin mit seinem Ehernen Zeitalter (Abb. 7). Aber selbst diese nutzten noch die menschlichen Gesichtszüge, um eine emotionale Reaktion des Betrachters auszulösen, der sich in der Figur wiedererkennen konnte. Archipenko stößt die Plastik in den Bereich der absoluten Anonymität. 26 Barth 1997 (1), S. 229. 27 Gertz 1953, S. 11 28 ebd. 29 Vgl. Gertz 1953, S. 13. 30 Barth 1997 (1), S. 82. 11 wie Plexiglas oder Bakelit31 oder erdenkt mit Archipentura sogar selbst eine Maschine, die „Zeit und Raum (...) für den Betrachter sichtbar und nachvollziehbar“32 machen sollte. Umso bedeutender ist die Schreitende Frau als ein stürmischer Aufbruch in die Moderne: radikal, aufwühlend und einzigartig – und mit einer ähnlichen Auswirkung33, wie sie Rodins Torsi Jahrzehnte vorher ebenfalls hatten. 31 Barth 1997 (1), S. 97. Barth 1997 (1), S. 77. Vgl. auch Archipenkos Beschreibung der Maschine und ihrer Funktion bei Archipenko 1960: "Archipentura is a machine, conceived to produce the illusion of the motion of a painted subject, analogous to slow motion in the cinema. I designed, built and patented this machine in 1928 in the United States" (S. 65, Beschreibung der Funktionsweise S. 65/66). 33 Melcher 2008 charakterisiert die moderne Bildhauerei durch „Erlebnis des Raumes“ sowie „Topos der Rhythmik“ (S. 12), die Archipenko so als erster etablierte und damit das Spielfeld der Skulptur und Plastik massiv vergrößerte. Feist 1996 weist auf eine weitere Errungenschaft des Künstlers hin: „Schließlich kam Archipenko 1913 mit seiner Plastik Boxer [Abb. 8, bei Barth 1997 (2) mit Boxkampf betitelt] zur ersten völlig aufs Non-Figurative abstrahierten plastischen Darstellung einer gesehenen Realität“ (S. 39), die ebenfalls viele Nachahmer fand. 32 12 6. Literaturverzeichnis Albrecht 1977 Albrecht, Hans-Joachim: Skulptur im 20. Jahrhundert. Raumbewußtsein und künstlerische Gestaltung, Köln 1977 Archipenko 1960 Archipenko, Alexander: Fifty Creative Years, New York 1960 Barth 1997 (1) Barth, Anette: Alexander Archipenkos plastisches Oeuvre. Erster Teil: Seine Bedeutung für die Skulptur des 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Lichtplastiken, Frankfurt am Main 1997 Barth 1997 (2) Barth, Anette: Alexander Archipenkos plastisches Oeuvre. Zweiter Teil: Werkverzeichnis, Frankfurt am Main 1997 Beloubek-Hammer 2007 (1) Beloubek-Hammer, Anita: Die schönen Gestalten der besseren Zukunft. Die Bildhauerkunst des Expressionismus und ihr geistiges Umfeld, Band 1, Köln 2007 Beloubek-Hammer 2007 (2) Beloubek-Hammer, Anita: Die schönen Gestalten der besseren Zukunft. Die Bildhauerkunst des Expressionismus und ihr geistiges Umfeld, Band 2, Köln 2007 Feist 1996 Feist, Peter H.: Figur und Objekt – Plastik im 20. Jahrhundert, Leipzig 1996 Gertz 1953 Gertz, Ulrich: Plastik der Gegenwart, Berlin 1953 Goldscheider 1989 Goldscheider, Cécile: Auguste Rodin. Catalogue raisonné de l'oeuvre sculpté. Tome 1: 1840–1886, Lausanne/Paris 1989 13 Melcher 2008 Melcher, Ralph (Hrsg.): Alexander Archipenko, München 2008 Michaelsen 1977 Michaelsen, Katherine Jánszky: Archipenko. A Study of the Early Works 1908–1920, New York/London 1977 Schmoll 1986 Schmoll, Helga/Heilmann, Angela: Alexander Archipenko. Band 1: Alexander Archipenkos Erbe. Werke von 1908 bis 1963 aus dem testamentarischen Vermächtnis, Saarbrücken 1986 Schneede 1994 Schneede, Uwe M.: Umberto Boccioni, Stuttgart 1994 Schnell 1977 Schnell, Werner: Zwischen Abbild und „Realität“ – auf dem Weg zur Plastik ohne mimetische Funktion, in: Kat. Ausst. Skulptur. Ausstellung in Münster, Katalog I: Die Entwicklung der abstrakten Skulptur im 20. Jahrhundert und die autonome Skulptur der Gegenwart, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1977, Münster 1977 Schnell 1980 Schnell, Werner: Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980 Thier 1999 Thier, Eduard: Bildhauertheorien im 20. Jahrhundert, Berlin 1999 Wassermann 1980 Wassermann, Jeanne L.: Three American Sculptors and the Female Nude: Lachaise, Nadelman, Archipenko, Cambridge/Massachusetts 1980 Zeller 1986 Zeller, Reimar: Das Automobil in der Kunst 1886–1986, München 1986 14 7. Abbildungsverzeichnis Abb. 1, S. 3 Alexander Archipenko, Schreitende Frau (Frontalansicht) 1912 Gips, bronzefarben getönt 134 cm Saarland-Museum, Saarbrücken (Version von 1935) Vgl. Barth 1997 (2), S. 86–89 Bildquelle: Prometheus-Bildarchiv Abb. 2, S. 5 Alexander Archipenko, Female Torso 1909 Gips ca. 127 cm Verbleib unbekannt Vgl. Barth 1997 (2), S. 26/27 Bildquelle: Prometheus-Bildarchiv Abb. 3, S. 7 Alexander Archipenko, Schreitende Frau (Seitenansicht) 1912 Bronze 134 cm Privatbesitz (Version von 1935) Vgl. Barth 1997 (2), S. 86–89 Bildquelle: Archipenko 1960, Abb. 176 15 Abb. 4, S. 7 Alexander Archipenko, Schreitende Frau (Rückansicht) 1912 Gips, bronzefarben getönt 134 cm Saarland-Museum, Saarbrücken (Version von 1935) Vgl. Barth 1997 (2), S. 86–89 Bildquelle: Prometheus-Bildarchiv Abb. 5, S. 11 Alexander Archipenko, Green Concave 1913 Terrakotta 48 cm Privatbesitz Frances Gray-Archipenko, USA Vgl. Barth 1997 (2), S. 112/113 Bildquelle: Prometheus-Bildarchiv Abb. 6, S. 11 Alexander Archipenko, Geometric Statuette 1914 Gips 52,5 cm Privatbesitz Vgl. Barth 1997 (2), S. 120/121 Bildquelle: Prometheus-Bildarchiv 16 Abb. 7, S. 11 Auguste Rodin, Das eherne Zeitalter 1876/77 Bronze 175 cm Musée Rodin, Paris Vgl. Goldschneider 1989, S. 114–117 Bildquelle: Prometheus-Bildarchiv Abb. 8, S. 12 Alexander Archipenko, Boxkampf 1914 Gips, schwarz getönt 60 cm Saarland-Museum, Saarbrücken Vgl. Barth 1997 (2), S. 126–129 Bildquelle: Prometheus-Bildarchiv 17 Erklärung Die Unterzeichnete versichert, dass sie die vorliegende schriftliche Hausarbeit (Seminararbeit) selbständig verfasst und keine anderen als die von ihr angegebenen Hilfsmittel benutzt hat. Die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinne nach entnommen sind, wurden in jedem Fall unter Angabe der Quellen (einschließlich des World Wide Web und anderer elektronischer Text- und Datensammlungen) kenntlich gemacht. Dies gilt auch für beigegebene Zeichnungen, bildliche Darstellungen, Skizzen und dergleichen. München, 1. August 2013 Anke Gröner 18