OPERNWELT November 2010: Carmen für alle
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OPERNWELT November 2010: Carmen für alle
OW_11-2010_70-79:OW Muster Panorama 02 14.10.2010 14:13 Uhr Seite 77 Die Ratten vor den Ratten Mehr Meinung als Geschichte – eine späte Wagner-Uraufführung beim Festival Junger Künstler in Bayreuth Das Festival Junger Künstler war schon immer für Überraschungen gut. Im Europasaal des «Zentrums», wo 1982 die szenische Uraufführung von Mozarts Azione teatrale «Il sogno di Scipione» stattfand, wurde tatsächlich ein Stück von Richard Wagner aus der Taufe gehoben. Kein Wunder allerdings, dass die Posse «Eine Kapitulation» bislang nie gespielt wurde. Sie gehört zweifellos zu den wirrsten, politisch abstoßendsten – wenn auch interessantesten Schöpfungen des reifen Wagner. Sie ist beides: erstens eine auf historischen Ereignissen basierende politische Satire gegen die Franzosen, als solche eine unwürdige, übel kabarettistische Rache für die doppelte Vertreibung Wagners aus Paris (1842 und 1861), und zweitens eine Kritik an der Vergnügungssucht der eigenen Landsleute. Es gehe einzig darum, «die deutschen Theaterzustände lächerlich zu machen», behauptete Wagner im Vorwort zu seinem «aristophanischen Lustspiel». Ob man ihm das glauben soll, ist strittig. Regisseur Georgios Kapo- glou, der beim Festival Junger Künstler bereits zwei schöne Wagner-Produktionen inszenierte, nimmt eher das selbstkritische Moment wahr, um das im Affekt geschriebene Tages-Mach-Werk vor dessen Schöpfer und dem Publikum zu retten. Schwierig ist der Fall schon deshalb, weil, wie Dramaturg Dirk Schattner sagt, das Stück mehr Meinung als Geschichte ist, mehr Rhetorik als Handlung. Aber das stimmt nicht ganz. Man muss allerdings den Text mehrmals lesen, um die Winkelzüge der Handlung, den Wechsel der revolutionären Parteien und Gegenparteien im belagerten Paris zu begreifen, auf die Wagner einschlug. Die Regie tut ihr Bestes und kann in Michaela Muchinas Bühne doch nur Absurditäten darstellen. Seinen Spaß darf man trotzdem haben. Wagner hatte ja die Befreiungsbemühungen der Pariser Regierung in einer überbordenden, boshaften Fantasie satirisch gegeißelt. Schon lange vor den Ratten im neuen Bayreuther «Lohengrin» ließ er ein Rattenheer von Aufständischen auf- treten. Bei der Uraufführung sind es drei Rocker, die die dekadente Regierung beseitigen wollen. Der Fotograf und Ballonfahrer Nadar verwandelt sich in einen riesenhaften Ballon (und klettert über eine Strickleiter mit Gambetta – eine starke Leistung: Desirée Hall – auf die Empore des Saals); der Dichter Victor Hugo (sehr gut: Björn Bürger) – steigt aus der Kloake (des Orchestergrabens) und verglüht schließlich in einem bengalischen Feuer. Hier bricht der mehrfach verwandelte, rosa gewandete, mit einem W gekennzeichnete und am Ende entlarvte Schöpfer dieser Posse in schrilles Lachen aus... Sehr seltsam das alles. Am Ende trötet «Jack von Offenback» zum Tanz auf, und das Publikum darf die «schöne Nacht» mit den Statisten tanzen. Absurdes, wenn auch poetisches Theater. Zu «Eine Kapitulation» ist keine Musik Wagners überliefert. Hans Richter, der erste Bayreuther «Ring»-Dirigent, schrieb damals eine (verlorene) Begleitmusik. Für die Uraufführung hatte das Festival einen begabten jungen Mann engagiert, der als Offenbach (freilich ohne Maske) auftritt: Paul Leonard Schäffer, Jahrgang 1987. Die Musik, die er Wagners Posse beigab, ist unterhaltsam und gut gemacht: eine Mischung aus Schauspielmusik und Rezitativ, Chorsätzen und atmosphärischer Untermalung, auf schräge Weise lustvoll unterhaltend, versehen mit Zitaten aller Art zwischen der Barcarole und «Auld Lang Syne», der Marseillaise und einem echten, mitreißenden MusicalFinale: «Dansons! Chantons!» Fausto Nardi dirigiert das Blasorchester. Schade, dass der von hinten eingespielte Ton die Originalmusik stört. Hat sich’s gelohnt? Die zahlreichen Zuschauer dürften begriffen haben, dass «Eine Kapitulation» nur sehr schwer zu vermitteln ist. Aber ein Trost bleibt doch. Nur wer den ganzen Wagner kennt, vermag ihn auch zu beurteilen. Für diese Erkenntnis war die engagierte, musikalisch und szenisch kurzweilige Uraufführung gut. Frank Piontek Carmen für alle Oper Schenkenberg: Wie im Schweizerischen Aargau ein neues Festival zum Publikumserfolg wurde Schinznach-Dorf ist ein Ort im Aargau mit 1200 Einwohnern, nicht weit von Zürich entfernt, in der Nähe der deutschen Grenze gelegen, umgeben von Hügeln und Weinbergen. Die Idee, in dieser verschlafenen Idylle ein Opernfestival ins Leben zu rufen, erscheint aberwitzig. Der Tenor Peter Bernhard, der dort wohnt, hatte sie trotzdem und setzte über Jahre hinweg alles daran, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Zu seiner eigenen Überraschung fand er bei den ersten Ansprechpartnern, den Gemeinden des Schenkenberger Tales, zu dem Schinznach-Dorf gehört, offene Türen. Mit einem Startkapital von 60 000 Franken trat man dann an mögliche Sponsoren heran, die sich in beeindruckend großer Zahl einfanden und die Veranstalter in die Lage versetzten, dieses Projekt nicht nur in künstlerischer, sondern auch in organisatorischer Hinsicht professionell in Angriff zu nehmen. Mit Bizets «Carmen», einer der populärsten Opern des Repertoires, hoffte man ein großes Publikum nicht nur aus der Region, sondern auch von | november 2010 außerhalb, nicht zuletzt aus Deutschland anzuziehen. Gemeinsam mit dem Bühnenbildner Karel Spanhak wurde die Idee entwickelt, auf einem umwaldeten Platz auf dem Feldschen-Hügel eine Arena aufzubauen, die als Schauplatz der Handlung dienen soll, während die (maximal 1500) Zuschauer wie beim Stierkampf auf Tribünen sitzen. In diesem Arena-Rund veranstaltet die Freilichtbühnen-erfahrene Regisseurin Anette Leistenschneider ein theatralisches Volksfest, ohne dabei das Stück zu verraten. Jordanka Milkova ist eine rassige Carmen, die sich auf die Attraktivität ihres dunklen, herben Mezzos verlassen kann und keine künstliche Erotik herstellen muss. Ihr steht in Peter Bernhard ein stolzer Don José gegenüber, der sich stimmlich von Akt zu Akt steigert. Die beiden Protagonisten schaukeln sich gegenseitig hoch. Ihr Showdown, obwohl vergleichsweise konventionell inszeniert, geht unter die Haut. Wieland Satter bewältigt den Part des Escamillo, der einen Bass mit tenoraler Höhe verlangt, ohne Mühe und verfällt nie ins Brüllen, Jana Havranová Peter Bernhard als Don José © Oper Schenkenberg/Ingolf Hoehn schließlich ist eine starke Micaëla und echte Gegenspielerin Carmens. Das Orchester musste ad hoc für diese Produktion zusammengestellt werden, nachdem sich die vorgesehene Formation kurz zuvor aufgelöst hatte. Dem Dirigenten Marc Tardue war es gelungen, die Musiker in relativ kurzer Probenzeit zu einem homogenen Klangkörper zu formen. Bei Tardue klingt Bizet molto secco, besonders bei den Streichern, dramatische Spannung entsteht aus rhythmischer Energie. Das Publikum war von Beginn der Vorstellung an in bester Stimmung, es gab Szenenapplaus auch bei kurzen Nummern, dass bei den orchestralen Wiederholungen des Toreroliedes rhythmisch mitgeklatscht wurde, versteht Ekkehard Pluta sich fast von selbst. 77