L`Ève Future
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L`Ève Future
Future Sex in Queertopia L’Ève Future arum, so ließe sich fragen, ist das Projekt der Maschinisierung des Menschen so männlich und das Projekt der Vermenschlichung der Maschine so weiblich? Zunächst, so scheint es, ist die bürgerliche Gesellschaft darin übereingekommen, dass der weibliche Körper mehr Zeichen als Handlung ist. Und so ist, zum Beispiel in C.L. (= Catherine Lucile) Moores Geschichte No Woman Born (Nie wurde eine solche Frau geboren; 1944) der Beginn allen Schreckens das Missgeschick einer Schauspielerin, die bei einem Brand ihres Theaters alles verliert, was an ihre außergewöhnliche Schönheit erinnert. Deirdre wird als maschinell-organische Einheit wieder geboren, doch sie will nicht mehr das (unvollkommene) Abbild vergangener Schönheit sein, und das Bewusstsein der Widersprüchlichkeit ihrer neuen Existenz führt sie zur Erkenntnis auch ihres früheren Lebens als Frau und Schauspielerin; es ist die Macht, die die Projektion über das Publikum hat, und es ist zugleich die Ohnmacht gegenüber der Projektion selbst: Die Maschinenfrau ist nur die radikale Fortsetzung der »konstruierten« Frau in der Gesellschaft. Es liegt auf der Hand, dass sie, wie in Fritz Langs METROPOLIS (1927), zunächst »metallisch« sein muss. Es hängt zum einen mit dem Licht zusammen: In einer Welt – wie der des »expressionistischen Films«, aus dem Fritz Lang schöpft –, in der die beiden Gegensatzpaare männlich/weiblich und gut/böse sich im Gegensatz von hell/dunkel treffen, muss jener Frau, die schlichtweg W 54 L’Ève Future das Licht ist, nämlich der guten Maria in METROPOLIS, jene entgegenstehen, die es vollkommen reflektiert. Die metallische Frau hat weder ein eigenes Licht noch eine eigene Temperatur, die Haut wurde ihr zum Panzer und die Form zum Inhalt. (Und so wie der Roboter immer auch dem Ritter – der feudalen Kampfmaschine – ähnelte, so ähnelt die neue metallische Eva den Walküren und gepanzerten Frauen des Mythos.) In METROPOLIS verwandelt sich der weibliche Roboter indes in den Androiden, die vollständige Täuschung. Und als solche tritt sie in den Ur-Mythos von der Menge, die sich das Opfer sucht. Langs künstliche Eva ist also so etwas wie eine Schnittstelle zwischen den beiden mythischen Erzählungen vom Verbot und vom Opfer. Beides, überkommen aus der Ur-Religion, hat nun ein weibliches Gesicht, beides aber kann nur wirken, weil die Frau »künstlich« ist, und damit: Weil die Frau das Geschöpf des Mannes ist. Rothwang, vom Begehren durchdrungen, ohne das Begehrte zu kennen, erschafft die künstliche Frau, weil er zur natürlichen ganz direkt, durch den Tod, den Kontakt verloren hat. Aber stets ist die künstliche Frau mehr als nur ein Ersatz, sie ist immer auch der Ausweg aus der Beziehung von Verbot und Opfer. Im Ursprung liegt nicht nur die Liebe, sondern vor allem die Rivalität. Nun ist also die Frage, ob die künstliche Frau entweder eine Möglichkeit darstellt, der Rivalität zu entkommen – dafür spricht die Ausschließlichkeit, mit der Pygmalions Nachfahren ihr Geschöpf begehren. Noch in John Hughes’ WEIRD SCIENCE (L.I.S.A. – Der helle Wahnsinn; 55 Future Sex in Queertopia Die Maschinenfrau ist die radikale Fortsetzung der »konstruierten« Frau in der Gesellschaft: METROPOLIS 1985) ist ja der Traum des Jungen, eine Frau »für sich allein« zu haben (wie sie sonst nur gleichsam öffentlich, als Prostituierte oder, sublimer, als Playboy-Model zu haben ist), oder aber im Gegenteil, das verlorene Spiel der Rivalitäten wieder aufnehmen zu können – schließlich kann man eine künstliche Frau »haben«, wie man eine Frau nicht einmal mehr in der patriarchalen bürgerlichen Gesellschaft »haben« konnte (und die künstliche Frau in METROPOLIS ist zugleich Ausdruck und Ursache fortwährender erotischer Rivalität). Die künstliche Frau unterscheidet sich vom künstlichen Mann in unserer populären Mythologie zweifellos bereits durch ihre Geschichte. Sie bestätigt das plato56 L’Ève Future nische Weltbild vom »schöpfenden Mann« und von der »empfangenden Frau« – auch und gerade durch ihre Störung: Die künstliche Frau, die zwar geschaffen wurde, aber nicht empfangen kann, scheint nachgerade für das Opfer selbst kreiert. Auch Frankensteins Monster stirbt, wie die künstliche Eva, durch den Mob, der reuelos und vollständig legitimiert das Menschenopfer an einem vollzieht, der ja kein Mensch genannt werden muss, doch wird das Opfer hier auf andere Art erbracht: Frankensteins Braut darf das Labor, die Aura der Schöpfers, gar nicht erst verlassen. Gewiss eine gewagte These: In der populären Mythologie (also unserer barbarischen Religion) wird die Ève Future geschaffen, um geopfert zu werden, so wie der Posthumane geschaffen wurde, um geopfert zu werden. Wie gegenüber dem Halbwesen ist der Mob auch ihr gegenüber vollkommen »im Recht«. Ève Future in ihren schwärzesten Bildern ist ja nicht nur die Fremde, die radikalste Femme fatale, die Verbrecherin, sie ist die Frau, die nicht sein darf. Ihre bloße Existenz ist Verbrechen genug, um sie zu verbrennen. Und dennoch hat die Ève Future größere Chancen mit dem Leben davonzukommen als der Adam Future. Zum einen liegt dies wohl in ihrer mimetischen Kunst. Ève Future sieht viel eher aus wie eine »echte Frau« als Adam Future wie ein »echter Mann«, und während Adam aus schierem Zorn zu bestehen scheint, ist Eva, bei allem Bösen, was sie bringen mag, von der Liebe getrieben (oder dem, was die Schöpfer der populären Mythen dafür jeweils gerade halten). 57 Future Sex in Queertopia Jedenfalls geht fast immer etwas schief, wenn es gilt, die ideale Frau herzustellen, sei es in maschineller oder organischer Form, durch plastische Chirurgie oder chemisches Doping: FRANKENSTEINS BRAUT (1935; Regie: James Whale) verliebte sich statt in das Monster, für das sie geschaffen wurde, in ihren Schöpfer. Frank Henenlotters FRANKENHOOKER (1990), eine aus den Leichenteilen von ermordeten Prostituierten zusammengesetzte Traumfrau eines jugendlichen Mad Scientist, richtete Blutbäder unter ihren Kunden an (sie kann, grotesk genug, eben nicht aus ihrer Haut). In Fred Olen Rays ATTACK OF THE 60 FOOT CENTERFOLDS (1995) will ein Playmate bei einer Schönheitskonkurrenz durch unerlaubte Mittelchen einen Vorteil erringen und verwandelt sich prompt in ein Riesenweib, ebenso wie eine Rivalin, mit der sie sich auf dem Hollywood Boulevard einen bemerkenswert destruktiven catfight liefert. In Jesus Francos LA MALDICIÓN DE FRANKENSTEIN (Das Blutgericht der gequälten Frauen; 1972) hat Dr. Frankenstein wieder mal ein Monster erschaffen, doch diesmal wird es von einer (glücklicherweise) blinden, menschenfressenden Vogelfrau zwecks Begründung einer Supperrasse entführt. (Im Steinbruch der Mythen ist es ein Leichtes, die Neurosen spazierenzuführen.) Signifikant jedenfalls bleibt noch weit in die neuere Genre-Entwicklung, dass die Gefahr der Zukunft von weiblichen Sex-Robotern und männlichen Kriegs-Robotern ausgeht. Thomas Bergers Roman Adventures of the Artificial Woman (2004) spiegelt die Rolle von Frauen in der Sex- und Pornoindustrie, aber auch im Entertain58 L’Ève Future ment und in der Politik am Werdegang eines täuschend menschenähnlichen weiblichen Roboters. Ève Future ist indes, wie erwartet, längst kein Mythos und keine Fiktion mehr; sie wird gebaut. EveR-2 zum Beispiel wurde in Korea entwickelt als direkte Antwort auf den japanischen Actroid, ein androider Roboter, der in der Lage ist, eine (sehr) einfache Unterhaltung zu führen (»ihr« Wortschatz umfasst etwa vierhundert semiotische Elemente), menschliche Ausdrucksweisen in Mimik und Gestik zu simulieren (die Maschine bewegt die Lippen synchron zur Sprachmodulation) und vor allem: EveR-2 kann singen! Eves Körper ist nach dem Idealmaß einer koreanischen etwa zwanzigjährigen Frau geformt (160 cm groß, 50 kg schwer), ihre bewegliche Silikon-Haut ist durchaus »täuschend«, sie kann ihr Gegenüber vermittels Kamera und Bildverarbeitung erkennen und nach einfachen Kriterien einschätzen (männlich/weiblich, alt/jung, asiatisch/europäisch etc.). Das Künstliche nun kann ebenso wie das Androgyne auch als Shifter oder relationales Zeichen verwendet werden: Künstlich in Bezug auf was? Stets ist das Geschöpf »künstli- Immer geht etwas schief, wenn es gilt, die cher« als der Schöp- ideale Frau herzustellen: ATTACK OF THE fer, da erstere in 60 FOOT CENTERFOLDS 59 Future Sex in Queertopia ihm gedacht war, und ein wenig ist vom Schöpfen auch im »Zeugen« geblieben. Und das Künstliche ist ein Shifter zwischen Subjekt und Objekt, immer ist das Subjekt weniger »künstlich« als das Objekt. Und darüber wölbt sich der alte Geschlechter-Diskurs, der seit Plato das Männliche als das Formende, Planende und Aktive, das Weibliche als das Passive, Stoffliche und eben »Natürliche« darstellt, mit wechselnden Begriffen. So entsteht ein Beziehungssystem männlich/künstlich – Schöpfung – weiblich/natürlich. Das »Natürliche« meint in diesem Zusammenhang mehr als das »Gegebene«, wie wir es am Beginn beschrieben haben, etwas das zugleich vor der Ordnung existiert und als ihr Ziel: Der »Mann« dieser Mythen-Linie ist demnach mit nichts anderem beschäftigt, als die Ordnung, aus der er sich durch seine Umtriebigkeit entfernt hat, wieder herzustellen, oder, mit anderen Worten, seine Angst und sein Begehren auszubalancieren, »Mutter« und »Geliebte«, »Körper« und »Bild« etc. zu trennen. Doch statt den Shifter des Androgynen zu verwenden, verwendet er den Shifter des »Erschaffens«. In der künstlichen Frau versucht er die beiden Aspekte zu vereinen. Drei Grundmodelle haben dabei die Fantasien immer wieder beflügelt und einen Kanon geschaffen, aller Versuche literarischen Widerspruchs zum Trotz: a) E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1817): die künstliche Frau als Wahrnehmungsproblem (nebst Ableitung des Kindheitstraumas); b) Mary W. Shelleys Frankenstein, oder Der neue Prometheus (1818): der künstliche Mensch (nebst Ableitung des Inzesttabus); 60 L’Ève Future c) Philippe Auguste de Villiers de L’IsleAdams Ève Future (Die Eva der Zukunft; 1886): die künstliche Frau als Idealkonstruktion (nebst Ableitung des Narzissmus). In Der Sandmann verfällt der arme Nathanael hoffnungslos der schönen Olimpia, und dass sie auf seine Verse und Schwärmereien immer nur mit »Ach!« antwortet, interpre- Die koreanische Antwort auf den tiert er als ein schön- japanischen Actroid: EveR-3 geistiges, inniges Verständnis. Nicht zufällig bei einem Streit ihrer Schöpfer, der Alchemisten Spalanzani und Coppelius, erkennt Nathanael erst, dass Olimpia nichts anderes als eine animierte Holzpuppe ist. Nach einer Zeit im »Tollhaus« vermeint er sich geheilt, doch bei einer Wiederbegegnung mit Coppelius, jener traumatischen Wiederkehr des Sandmannes aus der Kindheit, der den Schlafenden die Augen ausreißt, wirft er sich vom Rathausturm. Ob das Problem für Nathanael diese Wiederkehr des Kindertraums ist, der künstliche Mensch oder das mehr oder weniger wissenschaftliche 61 Future Sex in Queertopia Instrument, mit dem er »sieht«, nämlich das »Perspektiv« (durch das alles auf den Kopf gestellt wird), muss ungeklärt bleiben. Aber ganz offensichtlich ist die Konkurrenz der beiden Frauen, der intelligenten Clara, mit der Nathanael verlobt ist, und Olimpia, die Erfüllung des »Ideals«. Bei alledem gibt es so etwas wie einen »Turing«-Test: Das Publikum, aber vielleicht auch die Menschen einer Performance-Gesellschaft, möchte am falschen Singen oder Tanzen bewiesen haben, dass man es mit einem Menschen aus Fleisch und Blut und nicht mit einem Automaten zu tun hat. Das Misstrauen ist ebenso groß wie der Zorn auf den Betrug. Die Angst vor dem Verlust des Augenlichts, der Unfähigkeit zu Sehen, durchzieht die Handlung wie ein tiefgreifender Bruch zwischen den Geschlechtern. In dem Roman L’Ève Future von Auguste de Villiers de L’Isle-Adam, ist es der Forscher Thomas Edison, der in der Abgeschiedenheit seines Landsitzes Manlo Park über den Gerätschaften brütet, als der englische Lord Ewald mit einem ungewöhnlichen Problem an ihn herantritt: Ewald ist rasend in eine Sängerin verliebt, deren Körper man wohl nicht anders als perfekt beschreiben kann. Aber die Seele! Nichts außer Plattheiten und Eitelkeit. Edison weiß Rat: Er verspricht, einen Automaten zu bauen, der Ewalds Vorstellung von einer idealen Frau erfüllen würde. Und seine künstliche Frau wird in der Tat ein Meisterwerk der Harmonie, nicht nur zwischen Körper und Geist, sondern offensichtlich auch zwischen der europäischen Mythologie und dem neuen »amerikanischen« Geist des technischen Fortschritts. (Die deutsche Ausgabe erscheint denn auch unter dem Titel Edi62 L’Ève Future sons Weib der Zukunft.) Hadaly, die neue Eva, hat eine Gegenspielerin in Evelyn Habal, gleichsam die Lilith in diesem neuen Ur-Drama. Sie ist die »verworfene« Frau, wie in den Apokryphen auch von Adams erster Frau berichtet wird, einem geflügelten Dämon, um genau zu sein, deren Untaten dazu führen, dass die »richtige« Frau aus Adams Rippe geschnitten wird, also ein Teil von ihm selber ist. Aber auch die neue Eva ist für die Unvollkommenheit der Liebe und der Welt keine Lösung: Hadaly und ihr Liebhaber müssen kläglich bei einem Schiffsunglück untergehen. So unterschiedlich die drei Grundmodelle sein mögen, und noch mehr ihre Revisionen, wie Angela Carters The Passion of New Eve (In der Hitze der Stadt; 1977), so ist ihnen doch allen gleich, dass die Auflösung der Verhältnisse zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen, die zugleich die Auflösung der Verhältnisse zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen ist, eine Situation des »Chaos« bringen, das sowohl Bedrohung als auch Chance bedeutet: »Ich weiß nichts. Ich bin eine Tabula rasa, ein leeres Blatt Papier, ein noch nicht ausgebrütetes Ei. Ich bin noch keine Frau geworden, obwohl ich die Gestalt einer Frau besitze. Nein, keine Frau – mehr als eine wirkliche Frau und weniger. Nun bin ich ein Wesen, so mythisch und monströs wie Mutter selbst, doch ich kann mich nicht dazu bringen, daran zu denken. Eva verharrt eigensinnig in dem Zustand der Unschuld, der dem Fall vorausgeht«, so heißt es bei Angela Carter. In einer postapokalyptischen Welt bekämpfen sich die Rassen, Klassen und Geschlechter in einem Bürgerkrieg. 63 Future Sex in Queertopia Es ist die Geschichte von Professor Evelyn, der gerade einen neuen Posten an der Universität von einem heruntergekommenen New York angenommen hat. Seine Obsession von der englischen Film-Diva Tristessa wird abgelöst durch die Faszination von der afroamerikanischen Tänzerin Leila, doch bleibt die Beziehung zu ihr oberflächlich und sexuell. Als sie schwanger wird, verlässt er sie. In der Wüste wird Professor Evelyn von einer Bewohnerin der Frauenstadt Beulah gefangengenommen und zur grausamen, vielbrüstigen »Mutter« geschleppt, die sich mit dem Skalpell erschuf und die nun Evelyn in die Frau verwandelt, die sie sich immer ersehnt hat. Die neue Eve soll den »Messias« gebären, gezeugt durch Evelyns Samen, der ihm vor der Operation entnommen wurde. Eve gelingt die Flucht, aber nur, um nun in die Hände von Zero zu fallen, dem einäugigen und einbeinigen Anführer eines nicht minder grausamen Männerkults, der einen Harem unterwürfiger Frauen sein eigen nennt. Zero vergewaltigt Eve und macht sie zu seiner neuen Sklavin, aber er bezieht sie auch in seine Suche nach eben jener Tristessa ein, die auch ihn zum Besessenen machte, diese Verkörperung von Schönheit und Trauer, von der er glaubt, sie sei an seiner Unfruchtbarkeit schuld. So gelangen sie an Tristessas Glaspalast, in dem die Diva inmitten von Wachsfiguren ruht. Endlich, nachdem sie auf einen der Türme ihres Refugiums gejagt wurde, offenbart Tristessa ihr Geheimnis: Sie ist ein Mann. Zero und seine Leute organisieren eine Hochzeit und zwingen Eve und Tristessa zum Sex. Doch die beiden können erneut in die Wüste entkommen. Dort indes fallen sie einer Bande von 64 L’Ève Future kriminellen Teenagern zum Opfer, deren 14jähriger Anführer panische Angst vor der Dunkelheit hat; Tristessa wird von ihnen erschossen. Nach ihrer erneuten Flucht trifft Eve auf Leila, die sich nun Lilith nennt (nach den apokryphen Schriften die erste Frau Adams) und eine Gruppe von Rebellen anführt. Nach einer neuerlichen Begegnung mit der »Mutter«, treffen sie auf eine alte, heruntergekommene Frau am Strand, die von Wodka und Junk Food lebt. Leila, so erkennt Eve, hat nie wirklich existiert, sie ist eine Projektion seines Begehrens wie seiner Angst gewesen. Lilith treibt Eve zu einer neuerlichen Begegnung mit der »Mutter« und zu einer symbolischen Wiedergeburt in einem Felsenspalt. Während Lilith den Kampf wieder aufnimmt, will Eve eins mit den unendlichen Wassern werden: »Ozean, Ozean, Mutter der Mysterien, trag mich zum Ort der Geburt.« Wie Virginia Woolfs Orlando ist The Passion of New Eve ein Wandern durch die geschlechtlichen und sozialen Identitäten und zeigt unterschiedlichste Weisen, wie »Weiblichkeit« erzeugt wird, durch Performance, durch die Operation, durch den Mythos, durch den Willen, durch das Kino und die Interessen. Am Ende auch: durch den Text. Angela Carters Dekonstruktionen der Weiblichkeitsmythen in The Passion of New Eve schienen ein wenig zu ungemütlich; denn in dem, was die Autorin unterhalb der Mythen freilegt, lauert immer auch eine ungeheure Gewalt. Und es gibt, sehen wir vom Eins-werden mit dem Ozean ab, keine Heimat für die neue Eva, weder im Mythos selber noch im »Archetyp«. Die Frau ist das Unbewusste des Mannes, der sich wiederum des Weiblichen 65 Future Sex in Queertopia bewusst werdend, verwandeln muss, in das Bewusste des Mannes, also: wieder eine Frau. Anders gesagt: Die Geschlechter sind nicht nur Konstruktionen, sondern auch Konstruktionen von Konstruktionen (und schon gar nicht in einem Jungschen Archetyp zu fassen, an dem sich die Autorin ein wenig zu sehr abzuarbeiten hat, denn schon zum Zeitpunkt des ersten Erscheinens wirkte das alles schon längst nicht mehr so dräuend). Die Mär vom »geistigen« Mann und der »fühlenden« Frau ist also durchaus drastisch widerlegt, auch wenn die Mythen von Eros, Anima und Thanatos nun flickern. Aber je näher man »Frau« ansieht, desto ferner sieht es zurück. Der ewige Kampf des Mannes schließlich mit der gewaltigen »Mutter« führt zugleich hinaus und hinunter, in die Gesellschaft und in die Seele, wenn man so will. Auch bei Angela Carter ist die androgyne zugleich eine apokalyptische Welt. Die Ordnung der Geschlechter Dekonstruktionen der Weiblichmuss zuerst zerfallen, keitsmythen: THE PASSION OF NEW EVE und ein blutiger Bürger66 L’Ève Future krieg scheint unabwendbar, bevor es eine neue Gerechtigkeit geben kann. Und offensichtlich sind auch die postjungianischen Konzepte des Androgynen gewaltige Fallen (unter anderem eine klammheimliche Rettung männlicher Vorherrschaft in einer ent-patriarchalisierten Welt). Und wie der Held, so muss sich nun auch die Heldin einen neuen Geburtsraum suchen, was wahrhaft keine einfache Angelegenheit ist: »Oh wie streng und ernst sind die Bewohnerinnen von Beulah! Beulah liegt im Inneren, in den Eingeweiden der Erde, sein Zeichen ist der Stumpf einer zerbrochenen Säule; in Beulah herrscht die Philosophie über die Steine. Mutter hat diese unterirdische Stadt erbaut, sie hat sie unter dem Sand ausgehöhlt; die Heilige Mutter, deren Finger Skalpelle sind, hat die konzentrisch absteigenden Sphären von Beulah ausgegraben, sofern sie nicht selbst von Anbeginn dort unten gewesen ist – eine Erdgöttin, eine Gegenwart, die in der Bildkraft des Traumes stets gegenwärtig ist. Sie ist eine heilige Frau; es ist ein profaner Ort. Es wird zum Ort meiner Geburt werden.« Wie ihre Vorgänger, Olimpia, das Monster, die Ève Future, muss sich das Geschöpf erst »entpuppen«, und wie bei jenen, so sind auch bei Angela Carters neuer Eva mehrere, widersprüchliche »Schöpfer« am Werk. Sie selbst zu werden ist daher kein einfacher Akt der Befreiung, und kein role playing. Als der Mann zur Frau werden soll, fragt er sich nach der Veränderung. Wird er, wie eine Frucht, die die Farbe ihrer Schale wechselt, doch er selbst bleiben? »Eine Veränderung des äußeren Aussehens wird auch das Wesen verändern, versicherte mir Sophia 67 Future Sex in Queertopia kühl. Psychochirurgie nennt Mutter es.« Diese neue Eva ist das Subjekt-Geschöpf, und neben vielem anderen geht es bei Angela Carter auch darum, die Geschichte der Parallelschöpfung (oder des Diskurswechsels, wie man es nimmt) nicht von den Schöpfern bzw. den fassungslos kindlichen Zeugen, sondern vom Geschöpf aus zu schreiben. Schon weil es Eves Geschichte ist, funktionieren die prä-diskursiven Zuschreibungen nicht. Die Suche nach sich selbst erscheint dann wie eine Parodie der Heldenreise, und statt sich seiner Männlichkeit zu vergewissern, ist dieser »androgyne« Held bereit, sich der Dekonstruktion der Geschlechtlichkeit zu stellen. Alle Geschlechter erweisen sich als Phantasmen, jedes ist die Unterdrückung des anderen. »Tristessa fuhr sich mit den langen Händen über das Gesicht, als riebe er sich die Augen, und sah mit leerem Blick auf seine eigene Männlichkeit hinunter, als hätte er sie noch nie gesehen. Er schien betäubt von der Wiederentdeckung des Männlichen bei sich; es war ihm unbegreiflich.« Wie der gewöhnliche Held auf seiner Reise so begegnet auch die neue Eva vorwiegend den eigenen Spiegelungen und Abspaltungen. Mutter, der Harem, Tristessa, Leila und Lilith – es sind die Frauen-Bilder einer zerfallenden patriarchalen Gesellschaft, die auch in ihrer »Rebellion« noch die Herkunft nicht verleugnen. Die »herrschende« wie die »unterworfene« Weiblichkeit, die flüchtende wie die angreifende, stets produziert dies »unglückliches Bewusstsein« bei der Gegenseite; unausweichlich aber scheint der Kampf des Helden / der Heldin mit »Mutter« zu sein, so unausweichlich wie das Durchqueren der 68 L’Ève Future Wüste, der Zerfall der Städte (Sodom und Gomorrha, zweifellos) und das Erreichen des Ozeans, wo Ende und Anfang keinen Unterschied mehr machen. Das System der Geschlechter ist untrennbar mit dem der Räume verbunden: Der Held bzw. die Heldin wird vom Mann zur Frau, indem er die Stadt verlässt. Und Identität ist vor allem an den Schmerz gebunden, den andere dem Körper zufügen. Für die Protagonisten in Passion of New Eve genügen niemals die chirurgischen Eingriffe (ein einfaches Wegnehmen oder Hinzufügen), um ein Geschlecht – im doppelten Sinne – anzunehmen. Aber auch die schmerzhafte biografische Arbeit reicht dazu nicht, und weil es weder »Waffenstillstand« zwischen den Geschlechtern noch neue Harmonie, weder Ambiguität noch Androgynität als Lösung gibt, bleibt in Angela Carters schwerer Mythe nur die Zerstörung der Geschlechter. Das sexuelle Hybrid zerfällt so schnell, wie es sich bildet. Und Chaos ist »das früheste Stadium der unorganisierten Schöpfung«. Auch der Text und das Bild müssen sich daher dem Chaos beugen, weder hier noch dort gelangen wir zu einer diskursiven Einheit des Geschlechterdiskurses (zurück). Der nicht geplanten Stadt entspricht der nicht geplante Körper, der dekonstruierten Stadt der dekonstruierte Körper. Das Heterotopia der neuen Eva ist ganz direkt kenntlich als ein Labyrinth, das keinen Ausweg kennt (denn vermutlich geht die Geschichte von Eve auch im nächsten Geburtsraum, dem Ozean, weiter oder beginnt von neuem). Besonders Mainstream-fähig ist das alles natürlich nicht. 69 Future Sex in Queertopia Im unendlichen Irrgarten der Sinnlichkeit: Barbarella, Alice und die anderen ine etwas derrangierte Galaxis im Jahr 40.000: Der Präsident der Erde schickt die Astronautin Barbarella aus, um den Wissenschaftler Durand-Durand zu suchen, der mit seinen furchtbaren Waffen-Erfindungen den kosmischen Frieden bedroht. »Sieg der Liebe«, lautet die Parole. Auf dem Weg zu dem Planeten, auf dem man Durand-Durand vermutet, gerät Barbarellas Raumschiff indes in einen elektrischen Strudel und stürzt ab. Roger Vadims BARBARELLA (1968) entstand nach den Comic Strips von Jean-Claude Forest, die seit 1962 im V-Magazine erschienen und in einem weltweit populären Buch zusammengefasst wurden. Als dieses 1964 wegen seiner Freizügigkeit verboten wurde (und 1966 eine nur leicht retuschierte Ausgabe herauskam), war der Mythos perfekt: Barbarella triumphierte über den Mief der Reaktion. Der Jean-Claude Forests BarbarellaComics klassische sexploitation E 70 Im unendlichen Irrgarten der Sinnlichkeit strip mit nicht gerade überwältigend eigenem Strich erwies sich als Geniestreich der erwachsenen bandes dessinées, weil er auf eine ausgesprochen unbekümmerte Art mit den Pop-Mythen verfuhr, ohne den Realitätsbezug und die Provokationspflicht der amerikanischen Underground-Comics. Comic wie Film setzen sich gleichsam aus bewusst ikonischen erotischen Traumbildern zusammen, beginnend mit dem Striptease in Schwerelosigkeit, über die Orgasmusmaschine, den blinden Engel, den wilden »Jäger« auf dem Eis, die bösen Puppen – alle diese Bilder lassen sich zugleich innerhalb der Pop Art und der Psychoanalyse verstehen. Auf dem Planeten wird Barbarella zuerst einmal von Kindern angegriffen, die ihre mörderischen Puppen auf sie hetzen. Vor deren kannibalistischen Gelüsten wird sie in letzter Minute von einem zotteligen »Jäger« gerettet, der ihr zum ersten Mal das Vergnügen körperlicher Sexualität bereitet (was für jemanden, der bislang nur »Verzückungsübertragungpillen« kannte einigermaßen überraschend kommt). Mit seinen beiden Roboter-Gehilfen bringt der Jäger Barbarella zu ihrem Raumschiff zurück und repariert es. Nicht gut genug indes, denn bald darauf erleidet sie erneut Havarie. Diesmal findet sie bei ihrer Suche nach Hilfe einen blinden Engel namens Pygar, der Barbarella schließlich zum Labyrinth bringt. Es ist der Ort, an den der »große Tyrann« alle jene verbannt, die sich der Herrschaft nicht vollständig unterwerfen. Pygar, der nach den Folterungen die Fähigkeit zu fliegen verloren hat, wird durch Barbarellas Hingabe geheilt. Er bringt sie zur Stadt des großen Tyrannen (ein Angriff feindlicher 71 Future Sex in Queertopia Alice im Sex-, Drogen- und Pop-Art-Wunderland: BARBARELLA Raumschiffe muss noch überstanden werden), und der entpuppt sich als grausame Frau, die es nicht minder auf Barbarella abgesehen hat. Als diese sich indes den lesbischen Avancen dieser schwarzen Königin – gespielt von der Rock-Muse Anita Pallenberg – entzieht, werden sie und Pygar in den Kerker geworfen. Aber die Rebellen verhelfen ihr zur Flucht, und endlich steht sie DurandDurand gegenüber, der seine gefährlichste Waffe an ihr erprobt: Die »Lustorgel«, durch die die Opfer an einem »Übermaß sexueller Freude« sterben. Aber Barbarella ist diesbezüglich mittlerweile einigermaßen widerstandsfähig geworden; sie hält die Lustfolter durch und zerstört damit das Gerät. Endlich können die Rebellen die Roboter und Raumschiffe des großen Tyrannen zerstören. 72 Im unendlichen Irrgarten der Sinnlichkeit Aber Durand-Durand hat noch ein Ass im Ärmel: Mit seiner Laserwaffe versetzt er seine Widersacher in die vierte Dimension. Der große Tyrann setzt dagegen den »Mathmos« ein und zerstört die Stadt, Durand-Durand und seine Wunderwaffen. Nur Pygar, Barbarella und die schwarze Königin überleben die Katastrophe und kehren zu Barbarellas Raumschiff zurück, das unterdessen von Pygars Freund, dem Professor, endgültig instandgesetzt wurde. Als Barbarella Pygar fragt, warum er denn auch die böse Tyrannin gerettet habe, die ihn doch so malträtierte, antwortet er, ein Engel habe kein Gedächtnis (und außerdem sei es leichter, mit einer Frau in jedem Arm das Gleichgewicht zu halten). Schöner Blödsinn in einigermaßen trashigen Kulissen, einerseits. Und andererseits war BARBARELLA ein Schlüssel für die sexuelle und ästhetische Befreiung der kommenden Jahre: Ein erotischer Drogentrip, in dem die Kaninchen nicht weiß, sondern blau sind, Kinder ein Ski-Jöring mit roten Mantarochen veranstalten und sich Wände in amorphe Blasen auflösen. Und das alles geschieht hier noch in einer Form von Unschuld, die es sehr rasch nicht mehr geben wird: Alice im Sex-, Drogen- und Pop-Art-Wunderland. Für die textilen Codes wurden Barbarellas knappe Weltraumkleider beinahe so wichtig wie Mary Quandts Minirock oder die langen Haare der Beat-Musiker. Der Modedesigner Paco Rabanne, der die glänzenden Catsuits und Korsagen für den Film entworfen hatte, entwickelte daraus eine Linie des space look. Jenseits des Beat und Hippietums sah er hier schon die nächste Bewegung des 73 Future Sex in Queertopia Körperkults, im Disco, Psychedelia und Glamour um die Ecke. Und gegen die Natürlichkeit der Sexualität, die die erste Welle der Befreiung betont hatte, setzten Vadim und seine Mitarbeiter (nur Jane Fonda war kreuzunglücklich über diesen Film) die künstlichen Paradiese angewandter Pop Art. Natürlich war die Zahl der NachfolgerinBeauty & the Space-Biests: Uranella nen Legion, in den italienischen fumetti neri (Uranella) bis zu leicht trashigen Fernseh-Varianten in deutschen Serien oder amerikanischen Sexploitation Movies. Uranella (1968–1969), die Blaupause für die Sub-Barbarella-Heldinnen jener Zeit, ist eine Prinzessin, die durch die Intrigen des bösen Zauberers Morbius von ihrem Heimatplaneten Neutron vertrieben wurde und seitdem als mehr oder minder einsame Kämpferin für die Gerechtigkeit das All durchstreift. Kindisch-sexistisch wie das ganze war, bedeuteten die Weltraumheldinnen der sechziger und siebziger Jahre doch einen bemerkenswerten Wechsel in der populären Mythologie. Diese Heldin war aus dem Rang der screaming lady befreit, agierte, in all dieser suggestiven Fülle von Angst-Bildern, autonom 74 Im unendlichen Irrgarten der Sinnlichkeit und selbstbewusst und definierte sich nicht mehr durch die Beziehung zu einem männlichen Beschützer. Und es gab eine Hoffnung darauf, dass im Weltraum ganz allgemein, wie einst in den unentdeckten Ländern, ein kindlich-erotisches Paradies zu finden sei. Schon in Georges Méliès’ LE VOYAGE DANS LA LUNE (Die Reise zum Mond; 1902) zeigte sich, worum es im Genre stets auch gehen würde: um schöne Frauen und glibbrige Monster, um den perfekten Frauenkörper, der in der Schwerelosigkeit wie in der polymorphen Grenzenlosigkeit nur noch perfekter werden konnte, und um deformierte Mischwesen mit seltsamen Begehren, und natürlich war es auch die Wiederkehr des Motivs vom Tod und dem Mädchen. Aber »dort draußen« eben konnten sich seit Fritz Langs DIE FRAU IM MOND (1929) auch Emanzipationsgeschichten abspielen, und bis in die ALIEN-Saga hinein war die Frau im All scheinbar befreit von den normalen Zuschreibungen, insbesondere der »Mütterlichkeit« und der Passivität, und die Heldinnen durften erleben, was vorher ihren männlichen Kollegen vorbehalten war, die konstante Begegnung mit den abgespaltenen Phantasmen des eigenen Begehrens. Doris Wishman und Raymond Phelan versprachen uns die NUDE ON THE MOON (1961) in einem wunderschön bescheuerten sexploitation movie, wo die üblichen zwei Wissenschaftler mit einer Rakete auf dem Mond landen, der bewohnbarer ist als die Erde, nämlich voll mit blühender Vegetation und, oweh!, Goldbrocken, und der bewohnt wird vom Volk der telepathisch begabten »Nudi«, die natürlich ihrem Namen Ehre ma75 Future Sex in Queertopia chen (obwohl es eher um »Oben ohne« als um vollständige Nacktheit geht). Das alles muss natürlich gründlich untersucht werden, und insbesondere die nackte Mondkönigin bringt die beiden Männer auch in romantische Verwicklungen. Nach der Rückkehr zur Erde allerdings sind alle Beweise zerstört. So können die Nudi hoffen, in Ruhe gelassen zu werden. Aber erst in der Popmusik entwickelten sich ähnlich polymorphe Rollenmodelle wie etwa Madonna, die beständig die Bühnen-Persona wechseln und sogar innerhalb einer Performance vom Mädchen zum Vamp wechseln konnte. Nicht Angela Carters schöpferisches Chaos (zurück zum »Beginn vor dem Beginn des Beginnens«), wohl aber ein schönes semantisches Durcheinander war mit den drei Chiffren Frau, Zukunft, Weltraum zu erzielen Ungefähr das, was lange vorher, mit Alice im Wunderland (1865) zu erzielen war: Das Mädchen, das auf der Spur eines weißen Kaninchens in eine Welt fiel, in der, ausgerechnet, die Logik ein gewaltiges Chaos anrichtete, und in der der Körper sich beständig verändern konnte, (im Beginn vor dem Beginn des Beginnens oder aber jenseits des Endes vom Ende des Beendens), konnte sich nur hier behaupten, gegen freundliche Zurichtungen, Texte und Erziehung. (Wir können uns, die Fotografien betrachtend, die der Professor von den kleinen Mädchen machte, dem sexuellen Misstrauen nicht entziehen, indes kam Alice aus dem Wunderland mit einer gehörigen Portion Selbstermächtigung zurück: Ihr war vermutlich klar geworden, dass Ordnungen nicht natürlich sind.) 76 Im unendlichen Irrgarten der Sinnlichkeit Barbarella und ihre Schwestern waren, logisch, Männerfantasien, sie waren sexualisierte (und vereinfachte) Versionen von Alice, und sie waren weibliche Ermächtigungsfantasien. Ob sie reaktionär oder revolutionär, Sexobjekte oder Rebellenbilder waren, das kam jeweils auf den Blickpunkt an. (Und guilty pleasures waren es von allen Seiten her.) Die nächste vergleichbare Ikone, auf den ersten Blick in allem eher ein Rückschritt, entstammte naturgemäß dem neuen Medium des Computergames. Die Heldin des abenteuerlichen Jump-and Run-Spiels Lara Croft war wohl die erste Computerspiel-Figur, die wesentlich mehr auslöste als die rudimentäre »Sympathie«, auf die sich die Erben von PacMan und SuperMario berufen durften. Die Heldin der 1996 gestarteten Spieleserie unterscheidet sich von ihren Vorgängern durch drei Attribute: Sie ist »realistisch« gestaltet, sie hat eine Identität, komplett mit einer Art Familienroman: Tochter eines britischen Lords mit einer perfekten Ausbildung, unter anderen in der Schweiz, danach einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes im Himalaya, und sie ist geschlechtlich (über-)determiniert. »Sie war die erste virtuelle Gestalt, die den Schritt aus der Spielewelt in die universale Medienrealität schaffte. Schon wenige Monate nach der Lancierung des Computerspiels begegnete man ihr auf Plakatsäulen, im Fernsehen, auf den Titelseiten von Magazinen wie Playboy, Spiegel und Stern, in einschlägigen Game-Zeitschriften und in den Feuilletons diverser Tages- und Wochenzeitungen. Junge Frauen liehen der Kunstfrau ihren Körper, um sie als ›offizielle Lara-Croft77 Future Sex in Queertopia Models‹ in der realen Welt zu vertreten. Sie gaben im Namen von Lara Croft Interviews und Autogramme und ließen sich im Lara-Kostüm fotografieren. Lara Croft ist auf Konzerten bekannter Rockgruppen aufgetreten und hat Modedesignern Modell gestanden. Sie diente als Werbefigur für Uhren, Autos, Softdrinks, für Zeitungen wie die Welt und Magazine wie Brigitte.« (Astrid Deuber-Mankowsky). Es ist eine »Ermächtigungsfantasie«, nun vielleicht im post-postmodernen (bzw. post-post-feministischen) Stadium. Zugleich aber auch die Erfüllung der Männerfantasie (der überdimensionale Busen der Heldin) und daher ein theoretisches Problem. Lara Croft war die karnevalisierte Gestalt der Begegnung »männlicher« und »weiblicher« Wünsche und daher eine dritte Variante der Neuschöpfung. Alle Subtexte sind hier nach außen gekehrt und einer radikalen Komplexitätsreduzierung unterworfen; Barbie, die neue Eva, Barbarella; das Chaos, die Neuordnung, die Aneignung; die Erfüllung, der Widerspruch, der Kompromiss, etc. Die »unlesbare« (neue) Frau, die ambigue (neue) Frau, und nun: die beliebig lesbare Frau. Die weibliche Oberfläche ohne weiblichen Inhalt: Ganz im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen und Vor-Bildern bestehen Lara Crofts Abenteuer nicht in der Konstruktion ihres Geschlechts, sondern im ironischen Aufdecken und Verbergen. Bei Lara Croft ist Weiblichkeit, zum ersten Mal jedenfalls in dieser Deutlichkeit, weder Inhalt noch Wesen, weder Problem noch Projekt, weder Mythos noch Materie. Weiblichkeit bei Lara Croft ist ein Effekt. Auszug aus: Georg Seeßlen: Future Sex in Queertopia. 78 978-3-86505-713-6 © Bertz + Fischer Verlag. ISBN http://www.bertz-fischer.de/futuresex.html