Adliswiler Predigt vom 10.04.2009
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Adliswiler Predigt vom 10.04.2009
PREDIGT Ref. Kirche Adliswil Predigt zum Karfreitag 10. April 2009 Text: Passionsgeschichte aus Markus 14 und 15 Titel: «Menschen der Passionsgeschichte und ihre Botschaft für uns heute» Pfarrer Achim Kuhn Liebe Gemeinde Die Passionsgeschichte spricht von Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen, die ganz verschieden auf Jesu Leiden und Tod reagieren. Dadurch zeigt die Passionsgeschichte zweierlei: Zum einen, dass mein Glaube und die eigene, persönliche Lebenssituation zusammengehören, dass sie sich gegenseitig beeinflussen; und zum anderen zeigt die Passionsgeschichte bestimmte Grundmuster menschlichen Verhaltens. Grundmuster menschlichen Verhaltens angesichts des Leidens und Todes Jesu; Grundmuster menschlichen Verhaltens als Folge der Begegnung mit Jesus. Drei Menschen der Passionsgeschichte wollen wir betrachten: Pilatus, Barrabas und Simon von Kyrene. Pilatus – der römische Gouverneur. An sich interessiert ihn die ganze Sache mit diesem Jesus überhaupt nicht. Und überhaupt – Religion. Was bringt’s?! Pilatus steht für Menschen, die finden: Mir reicht meine Welt, mein Ansehen, mein Besitz. Was soll mir die Jenseitigkeit, wenn ich hier im Diesseits alles haben kann, was ich zu einem glücklichen Leben brauche. Ganz nach dem Motto der Busbeschriftungen in London, die von atheistischen Gruppen bezahlt wurden, und auf denen es heisst: „Wahrscheinlich gibt es keinen Gott – darum sorge dich nicht und geniesse dein Leben.“ Eine rein diesseitig-beschränkte LebensAusrichtung. Wie bei Pilatus. Wenn es nach Pilatus ginge, dann würde er Jesus sofort wieder frei lassen. Für Pilatus ist Jesus nur ein völlig unbedeutender, religiös etwas verwirrter Mensch, der Unruhe bringt. Um Jesu Bedeutungslosigkeit zu zeigen, so erzählt das Johannes-Evangelium, lässt er ihn Dornenkrone und den roten Mantel tragen. Pilatus sagt zu den Juden: „Seht, welch ein Mensch. Seht ihn euch an!“ Und Jesus schweigt. Weil hier nichts mehr zu sagen ist. Die Entscheidung über seinen Tod ist längst gefallen. Ist Pilatus damit entschuldigt? Nein, ist er nicht. Denn er stellt sich nicht einer Entscheidung, sondern er nutzt Jesus aus, um seine ins Wanken geratene Karriere zu retten. Pilatus hat bereits eine Warnung aus Rom erhalten, dass er vielleicht bald abgezogen würde, wenn noch mehr Beschwerden über ihn zu hören seien. Das beschäftigt ihn sehr. Sein ganzes Leben hatte er so genau vorausgeplant gehabt; zielstrebig hatte er die Karriereleiter erklommen; bis zum Gouverneur hatte er es geschafft. Hier in Palästina wollte er nun reich werden. Und jetzt heisst es plötzlich: Rom droht, ihn abzuberufen. Jetzt muss er schnellstens dafür sorgen, dass die jüdische Elite – die Reichen und Mächtigen in Palästina – ihn auch mal in Rom lobt. Und hier – an dieser Stelle – wird Jesus plötzlich interessant für ihn. Der Tod Jesu wird für ihn zu einem politischen Instrument, um seine Karriere zu retten. Und die Wahrheit und die Gerechtigkeit? Wo bleiben diese Werte in seinem politischen oder menschlichen Koordinatensystem? Als Pilatus gegen das Kreuzige-Geschrei des Volkes nicht mehr ankommt, so erzählt das Johannes-Evangelium, lässt er sich Wasser reichen und wäscht sich die Hände vor dem Volk und spricht: „Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten. Sehet ihr zu!“ Also: Pilatus hebelt das Recht aus. Er urteilt ungerecht, weil es das Volk so will. Seine Rechtsprechung richtet sich nach seiner Karriere, nicht nach der Gerechtigkeit. Und ungewollt und unbewusst sagt er das Umfassendste über den, der von Gott zu uns kam. Er sagt: „Ecce homo – seht, welch ein Mensch.“ Jesus steht nicht nur einfach für sich; sondern er steht nun für den Menschen, der von Leid und Schmerzen geplagt wird; er steht für den Menschen, der gotterfüllten Dunkelheit; für den Menschen, der nicht flieht, dem nichts erspart wird und der nicht das Leiden idealisiert. Für den Menschen, der so von sich absieht, dass er in überlegener Freiheit die Welt aushält. Er ist der Mensch, der die Gottesblindheit und den Gotteshass mit seinem eigenen Leib auffängt. Jesus ist aber zugleich auch der Mensch, der durch die Ohnmacht siegt. Der Mensch, ganz anders als wir und doch einer von uns! Und nun wir: Was bleibt uns von Pilatus? Mit ihm bleibt die Erinnerung daran, wie wir alles Mögliche fürchten und gefürchtet haben, auch den Absturz der Karriere und der Aktienkurse, nur nicht Gott. Die Erinnerung auch an die Versäumnisse, die Ungerechtigkeiten, angesichts derer wir auch ganz gern unsere Hände in Unschuld waschen würden. Die Geschichte von Pilatus zeigt, dass wir der Verantwortung nicht entgehen. Jede Flucht aus dieser Verantwortung stellt uns auch heute noch an seine Seite. Niemand kann Gott entgehen. Das bedeutet aber nicht Verzweiflung oder Angst, sondern eine letzte und einzige grosse Hoffnung. Einer Hoffnung, die dann eben doch zuversichtlich stimmt. Jesus oder Barabbas – was für eine Frage! Da muss ja jeder Vernünftige wissen, wen er wählt. So hatte Pilatus gerechnet. Bei diesem EntwederOder konnte doch nichts schief gehen: Der Mann der Hilfe gegen diesen Revolutionär und Mörder?! Aber diese kluge Rechnung, mit der sich Pilatus vor der Entscheidung drücken wollte, ging nicht auf. Das Volk entschied sich für Barabbas. Es verlangte nach dem Volkshelden. Es wählte den, in dem alle Träume von Macht, Größe und Stärke sich symbolisieren. Alte Schriften behaupten, dass auch er den Vornamen Jesus, das heißt Retter, getragen habe. Das verschärft jenes EntwederOder. Die Frage hieße dann etwa: Von woher erwartet das Volk Hilfe? Von der Umwälzung der äußeren Verhältnisse mit dem Revolutionär Jesus Barabbas? Oder verspricht man sich diese Hilfe von der Erneuerung des Menschen, der durch Leiden zur Vollendung geht: also von Jesus Christus? In Barabbas spiegelt sich noch ein weiterer Gedanke wider: Barabbas, ein Mensch, den Tod vor Augen, schuldig gesprochen, wird freigelassen, weil ein anderer für ihn stirbt. Was wird er gedacht haben, als er draußen unter dem Volk, dort am Hügel von Golgatha, zuschaute? „Dieser steht an meiner Stelle? Er stirbt für mich? Er stirbt, und du lebst? Der wird verurteilt, und du bist freigesprochen?“ Wie lebt einer, für den ein anderer starb? Eine Frage, die sich alle die stellen müssen, denen das stellvertretende Leben, Leiden und Sterben Jesu Inhalt ihres Glaubens ist. Wie leben die, die behaupten, dass sie alles, was sie sind, was in ihrem Leben Zukunft hat, einem ganz anderen verdanken? Also: Wir müssen uns fragen: Leben wir so, dass sein Leben durch unser Leben hindurchgeht? Lieben wir so, wie er uns geliebt hat? In einem Gespräch zwischen Christen und Freidenkern fragte ein Atheist: „Was ist das Eigentliche am Christentum?“ Und einer antwortete nach langem Nachdenken: „Ich sehe ein Kreuz. An dem Kreuz hängt ein Mann. Und eigentlich sollte ich da hängen.“ Dieser Satz trifft wohl auf niemanden so wortwörtlich zu wie auf Barabbas, der Jesus das Leben verdankt. Barabbas, der Mann, für den das Volk sich entschied. So etwas passiert jeden Tag. Man war so schön mittendrin, irgendwo unterwegs, und plötzlich wird man herausgerissen. Plötzlich sagt einer: „Sie waren Zeuge. Sie haben es gesehen. Sie müssen mir helfen. Kommen Sie, machen Sie Ihre Aussage.“ Und man ist in eine Sache verwickelt, für die man weder vorbereitet ist noch irgendwelche Kenntnisse mitbringt. Und wie reagiert man da? Das geht mich nichts an? Da sehen Sie zu, wie Sie fertig werden!? Was bilden Sie sich ein? Einfach so über mich zu verfügen? Als Simon von Kyrene dem Zug, der sich in Richtung Golgatha bewegte, begegnete, hatte er gar keine Zeit für solche Überlegungen. Er war nicht einmal unter den Zuschauern. Er kam vom Acker, von seiner Arbeit, er wollte nach Hause. Er war einer von denen, die ihre Nase nicht in die Sachen fremder Leute stecken und die damit einigermaßen ungeschoren davonkommen. Plötzlich sah er sich herausgeholt aus den vielen und stand neben dem Mann, der unter dem Kreuz zusammengebrochen war. Dass hier einer tragen helfen musste, vielleicht sah er das ein. Aber warum gerade er? Warum nicht einer von den vielen, die bisher schon mitgezogen waren? Die hatten doch offenbar Zeit für solch ein Schauspiel. Er wollte in Ruhe gelassen werden. Sonst nichts. Im Grunde der Mensch, der ganz gut zusehen kann, wie ein anderer sein Kreuz trägt, vielleicht zu sehr mit sich beschäftigt. Vielleicht aus dem Gefühl: Jeder muss sein Päckchen tragen, muss sehen, wie er damit fertig wird. Aber diese Römer – wer weiß, was sie mit ihm anstellen würden, wenn er jetzt nicht anpackte? Simon von Kyrene war kein barmherziger Samariter, den das Mitleid trieb, Jesus zu helfen. Er wollte mit diesem Mann nichts zu tun haben und wird nun so ganz dicht zu ihm hingerückt. Im Grunde war es eine Schande, in diese Sache hineingezogen zu werden. Wenn es nach ihm gegangen wäre ... Aber das war nun zu spät. Nun musste er ran. Er musste eine Richtung einschlagen, die ihm nicht passte. Er musste eine Last auf sich nehmen, die er sich nicht ausgesucht hatte. Das Kreuz muss Simon tragen. Aber daran sterben – das übernimmt der andere. Ob er das gedacht hat, als er hinter diesem Zerschundenen einherging? Es ist ja nicht weit. Bald ist es geschafft. Die Last ist schwer, aber die eigentliche Arbeit muss der andere leisten. Simon von Kyrene wird hier zum Symbol: Christsein heisst „Kreuztragen auf Zeit“, weil dort, wo es darauf ankommt, Jesus selbst es letztlich trägt. Er, von dem Dietrich Bonhoeffer sagt: „Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt. Aber gerade so ist er bei uns und hilft uns. Er tut das nicht kraft seiner Allmacht, sondern Kraft seiner Schwachheit, seines Leidens.“ Im Sterben Jesu ist alles mitenthalten: die Verlassenheit des Menschen, die Angst vor dem Kreuz und dem Tod; als sollte damit gesagt werden: Niemand braucht es so noch einmal zu erleiden. Noch gibt es das, dass Menschen seufzen unter dem Kreuz. So wie Simon damals geseufzt haben mag. Und viele wehren sich gegen das, was ihnen auferlegt wird. So wie Simon sich gewehrt haben mag. Bis man die eigentümIiche Entdeckung macht, erstaunt, überrascht: Gott will sich helfen lassen von uns. Auf Zeit. Und er will dem Menschen helfen. Für immer. Dort, wo wir eine Zeitlang ein Kreuz im Leben tragen, trägt er es nicht nur mit, sondern er sorgt dafür, dass wir nicht unsere ganze Existenz dran nageln. Stattdessen lässt er sich für uns ans Kreuz hängen. Dort, wo wir ein Stück seines Weges mitgehen, geht er unseren ganzen Weg mit. Und das ist nicht nur der Kreuzweg, sondern auch der in einen offenen Horizont des Lebens. Wissen Sie: Eigentlich haben fast alle Personen der Passionsgeschichte ein Manko: Petrus ebenso wie die römischen Soldaten, das Volk, Pilatus, Barrabas und Simon, usw. Denn sie alle setzen gleichsam ein Minus vor ihr Leben. Vielleicht so, wie wir es manchmal auch tun. Karfreitag möchte aus den Minuszeichen, die wir oftmals selber immer wieder vor unser Leben stellen, ein Plus machen. Karfreitag – das heisst ja eigentlich „Tag der Trauer“ (althdt.). Aber eigentlich ist Karfreitag kein trauriger Tag, sondern ein Tag, der unsere Hoffnung, unser Lebens-Plus begründet. Freilich: Wann und wie intensiv einem das aufgeht – das hängt auch an der eigenen Lebensgeschichte. Amen