235-242 - Institut für Osteuropäische Geschichte
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235-242 - Institut für Osteuropäische Geschichte
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Novaja imperskaja istorija postsoveLSkogo prostranstva [Neue Imperialgeschichte des beschrieben, der von begriffsnahen Phänomenen wie "Kolonialreich", "Kolonie" oder posLSowjetischen Raumes]. Hrsg. v. I1)a V. Gerasimov. Kazan' 2004. "Kolonialismus" zu trennen ist, die Herrschaftsverhältnisse definieren. Das Verbindende 27. Of Religion and Empire. Missions, Conversions and Tolerance in Tsarist Russia. Hrsg. v. zwischen ihnen liegt darin, dass mit der Expansion eines Volkes oder einer /'GeseIJschaft Robert P. Geraci, Michael Khodarkovsky. Ithaca 2001. über ein als angestanunter Lebensraum gedeutetes Territorium in der Regel ein Kontakt 28. Osterhammel, lürgen: Kolonialismus. Geschichte - Formen - Folgen. 5. Aufl. München bzw. eine Auseinandersetzung mit "Andersartigkeit", "Fremden", "fremden Völkern", 2006. 29 . Ders.: Russland und der Vergleich zwischen Imperien. Einige Anknüpfungspunkte. In: ,,Fremdheit" und hierarchische Ordnungsvorstellungen von Kulturen verbunden waren. Kolonisation wurde so zu einem Baustein der Selbstdeutung und FremdwaJm1ehrnung - und Comparativ (2008), H. 2, S. 11-26. 30 . Peopling the Russian Periphery. Borderland Colonization in Eurasian History. Hrsg. v. Ni in der Legitimation von Herrschaftsverhältnissen politisiert. Mit der ihr eigenen Tendenz cholas Breyjogle u. a. London 2007. zur Beherrschung eines Territoriums und der dort siedelnden "fremden" Bevölkerung un 31. Russian Empire: Space, People, Power 1700-1930. Hrsg. von lane Burbank u. a. Blooming terscheidet sie sich von bloßer Be-, An- oder Aufsiedlung und Migrationsprozessen . Der ton 2007 . Begriff ,,Kolonisation" ist in der russischen historischen und politischen Literatur veran 32. Russia's Orient. Imperial Borderlands and Peoples 1700-1971. Hrsg. v. Daniel Brower, kert, seitdem ihn Klassiker der russischen Geschichtsschreibung wie Sergej M. Solov'ev, Edward Lazzerini. Bloomington 1997. Vasilij O. Kljucevskij ("Die Geschichte Russlands ist die Geschichte eines Landes, das 33. Slezkine, luri: Arctic Mirrors. Russia and the Small Peoples of the North. Ithaca 1994. kolonisiert wird.") u. a. nicht nur aufgenommen, sondern mit ihm auch ein Grundcharak 34. Sunderland, Willard: Taming the Wild Field. Colonization and Empire on the Russian teristikum der russischen historisch-kulturellen Entwicklung zu erfassen suchten (/'Histo Steppe. Ithaca 2004. 35 . Window on the East. National and Imperial Identities in Late Tsarist Russia. Hrsg. v. Ro riographie, Forschw1gsrichtungen). In der neueren deutschsprachigen Literatur wird er häu fig durch andere, welill auch verwandte Begriffe ersetzt wie "Landnal1rne", "Landesausbau" , ber/ P. Geraci. Ithaca 2001. 36. Wortman, Richard S: Szenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, "Aufsiedlung" bei den Mediävisten oder ,,Ex pansion", "Eroberung" und "Erschließung" bei 2 Bde. Princeton 1995, 2000. Frühneuzeit- und Neuzeithistorikern. In der französisch- und englischsprachigen Literatur 37 . www .empirevergleich .de (Forschungsprojekt eines Vergleichs europäischer Großreiche in hat er sich dagegen stärker durchgesetzt, was auf andere historiographische und histori 19. und frühen 20. J alutlundert). sche Traditionen hinweist. Die Auflösung alter Kolonialreiche im 20. Jahrhundert wird als Prozess der Dekolonisation gefasst und auch auf die Auflösung der /'Sowjetunion be Ulrike von Hirs chhausen zogen. Wenn man den Begriff "Kolonisation" als Kategorie mit Erklärungsanspruch für die Geschichte des Zarenreiches und der Sowjetunion erhalten oder entwickeln möchte, so ist er aus der nationalen Kontextualisierung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu lösen, die bis heute tradiert wird und ostslavisch-russische Expansion als nationale, über Raum und Zeit hinweg einheitsstiftende Eigenschaft naturalisierte. Ein territorialer Zugriff, wie er bei Kljucevskij zum Teil vorliegt, müsste folgende Fragen in den Vorder grund stellen: Wer trat auf dem sich verändernden Territorium des Zarenreiches und der SowjetW1ion als Kolonisatoren auf (ständisch-soziale und konfessionell-ethnisch-nationale Gmppen)? Was war und was galt als Ausgangsraum oder "angestammter Lebensraum"? Welche Phasen und Formen können wir erkennen? Wie wurden Kolonisationsprozesse von Kolonisatoren und von Kolonisierten im historischen Wandel wahrgenommen und 236 Probleme und Interpretationen gedeutet? Die Forschung ist jedoch noch weit von einer solchen systematisierenden und vergleichenden Schau entfemt. Die sowjetische Siedlungsarchäologie und Geschichtswis senschaft hat grundlegende Arbeiten vorgelegt, deren Interpretationsmöglichkeiten aller dings begrenzt waren; die "westliche" Forschung hat sich fiir das Thema nur in exemplari scher Weise interessiert, dabei aber eine größere Interpretationsbreite gezeigt. Grundprobleme a) Die "westliche" Med iävistik ist vorsichtig bei der B eulteilung zentraler Auf- und Ent siedlungsvorgänge (sogenannte Wüstungen) der Kiever Rus', da erzählende Quellen (Chro niken, Heiligenviten) nur begrenzte Informationen enthalten, urkundli c he Quellen in größerer Zahl erst seit dem 14. Jahrhundelt, grundbuchartige Aufzeichnungen seit dem 15. Jahrhundert vorliegen (l'Quellenkunde, Archive) und deshalb den Ergebnissen der Archäologie eine zentrale Bedeutung zukommt. Für die Erforschung der wichtigen Beziehungen zwischen der Kiever Rus', die in der Waldsteppenzone am mittleren Dnepr ihren Siedlungsschwerpunkt und ihr Machtzentrum hatte, mit den im südlich und südöstlich sich anschließenden Steppensaum nomadisierenden Völkern (Petschenegen, Polovcer, I'Türkvölker) lassen sich so nur dürftige Aussagen über Kontakte, Kooperationen und Konflikte treffen, zumal keine schriftlichen Quellen aus der Sicht der Nomadenvölker vorliegen. Bei den nachgewiesenen großen Wüstungs perioden im 10. und besonders im 13 . Jahrhundert sp ielten - nach bisheriger Kenntnis kriegerische Konflikte eine zentrale Rolle (Mongolensturm) und fuhrten zum fluchtartigen Abfluss eines Teils der Bevölkerung (~ 15). Die Bedeutung dieser Beziehungen liegt fiir die weitere ostslavisch-russische Geschichte darin, dass sich (1) hier zw ischen ostslavischen Waldsteppenbewohnern und türksprachigen Steppennomaden prägende Kontaktrnuster herausbildeten (~20). Ob aber die mittelaltcrlichen kulturellen und politischen Erfahrungen mit der Steppe, vor all em Bedrohungsängste angesichts eines militärisch nur schwer zu sichernden Grenzsaumes, noch in der neuzeitlichen Expansionspolitik gegenüber dem pontischen Steppensaum und dem Nordrand des Schwarzen Meeres (einschließlich der Krim ) wirksam wurden, ist schwierig nachzuweisen. Naheliegender ist (2) die Frage nach der Siedlungsrichtung, die den Entsiedlungsvorgängen im 13. Jahrhundert folgte. Denn hi ermit sind Probleme der politischen, ku lturellen und sozialen Kontinuität auf der Ebene kollektiver Erfahrung wie ideologischer Legitimation angesprochen, die unn1ittelbare Aus wirkung auf eine Gesamtdeutung der ostslavisch-russischen Geschichte als eines cinheit li chen Prozesses haben. Anhand der Frage von Siedlungskontinuität oder Siedlungsabfluss und -richtung lässt sich zudem zeigen, wie eng Fragen der mittelalterlichen Kolonisation mit Fragen des neuzei tlichen Nationalismus oder der Nationsbildung (l'Nationalität) ver knüpft sind. Die Aufsiedlung der nordöstlichen Rus' im Zweistromland zwischen oberer Wolga und Oka im 10. und vor allem im 11. Jahrhundert (mit dem neuen Herrschafts zentrum V ladimir-Suzda l'), die zur Begegnung mit der dort bereits ansässigen finnischen Bevölkerung fuhrte und die Ethnogenese der Russen einleitete (I'Ostslaven, I'Finno Ugrier), scheint wohl nicht w1illittelbar mit der Entsied lung im mittleren Dnepr-Gebiet in Verbindung zu stehen (sondern eher mit der Aufsiedlung aus dem Smolensker und vor al lem aus dem Novgoroder Land). Der singulären Übersiedlung von *Fürsten, kirchlichen Kolonisation 237 Würdenträgern und *Bojaren folgte keine massenhafte Übersiedlung, stattdessen aber ein Bevölkerungsa bfluss ins westliche Gebiet um Halyc'. Die modeme ukrainische National geschichtsschreibung hat die Siedlungskontinuität im Kiever Raum und die westliche Siedlungsbewegung ins Gebiet Hal yc' herausgestrichen, während schon die klassische russische Geschichtsschreibung dynastische und kirchli c he Kontinuitäten und damit die Verbindung zwischen Kiev und Vladimir-Suzdal' in den Vordergrund rückte (l'Histori sche Geographie). b) Das Expansionsstreben des Moskauer Großfurstentums, das sich seit dem 14. Jahr hundert herausbildete, mit der Unterordnung der benachbarten Teilfiirstentümer im 15 . und frühen 16. Jahrhundert konsolidierte ("Sammeln der russischen Erde") und in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts zu Eroberungszilgen aufbrach, bestimmte die weitere territoriale Gestalt Russlands und gab die folgenden KOlonisationSrichtungen vor. Einer lang anhaltenden Wüstungsperiode von etwa 1560 bis 1620, die durch Kriege, Hunger und Seuchen her vorgerufen war und sich beso nders verheerend im Pskoverund Novgoroder Land auswirk te, folgte eine neue Periode der Aufs iedlung im 17. Jahrhundert. Durc h die Niederlage im *Livländischen Krieg (1558-1582) und die aus klimatischen Gründen nur bedingt mögli che und zum Teil auch bereits von Novgorod aus erfolgte Kolonisation der riesigen Ge biete des russischen Nordens (l'Nordrussland) bis zum Weißen Meer (*Pomor) schieden der Westen und der Süden als Hauptkolonisationsrichtungen 'aus, boten sich der Osten (nach der Eroberung der Khanate Kazan', Astrachan' und Sibir ' 1552, 1556 und 1582) und Süden dagegen an. Einstmals militärisch überlegen e Nachbarn wie die *Goldene Horde mit ihrem Herrschaftszentrum an der unteren Wolga waren politisch zerstört worden, Nachfo lgereiche wie die Khanate der Nogaier oder der Krimtataren hielten zwar noch an tradierten Gleichheitsansprüchen fest , mussten nach einer Phase militärischen Gleichge wichts auf Dauer aber die Überlegenheit des Moskauer Großfiirsten- bzw. *Zmtums aner kennen (in der Steppe erst im 18. Jahrhundcrt). Als neue Kolonisationsgebiete öffneten sich so die mittlere und untere I'Wolgaregion (die östliche und südliche Kolonisations richtung miteinander verband und d ie Expansion in den Nordkaukasus (l'Kaukasus), die kasachische Steppe und nach I'Mittelasien vorbereitete), I'Sibirien (das bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Pazifik erobert war) sowie der südliche Steppensaum im euro päischen Russland. Die sozialen Träger der Kolonisation im späten 16. und vor allem im 17. Jahrhundert waren in den drei Kolonisationsgebieten unterschiedlich. Strittig ist in der Forschung, wer jeweils die Initiatoren waren, adlige Gutsherren (Adelsko lonisation), Klöster (Klosterkolonisation) oder Bauern (Bauern- oder Volksko lonisation). Entscheiden der Motor scheint aber eine freie Bauem- oder Volkskolonisation gewesen zu sein, die ihre wirtschaftliche und soziale Ursache in einer sich verfestigenden *Leibeigenschaft hatte, vo r der abgaben- und dienstpflichtige Gutsbauern in die wenig besiedelten und kaum be hen'Schten Grenzgebiete flüchteten. Freie I'Kosaken trugen wesentlich zur Erschließung der Steppengebiete an Don; Dnepr, Wolga und Jaik bei. Das I'Moskauer Reich war nicht tahig, die formal zu ihm gehörenden Territorien politisch administrativ zu durchdringen : Raum wird hier in einer grund legenden Weise in seiner Rückwirkung auf die Politik wirksam und erkennbar. Orthodoxe Klöster spielten bei der Kolonisation der oberen und mittleren Wol ga eine wichtige Rolle, nicht jedoch bei der Ko loni sation des südlichen Steppensaums im europäischen Russland und nur eine geringe bei .I 238 Probleme und Interpretationen der Besiedlung Sibiriens. Elemente einer staatlichen Kolonisationspolitik lassen sich in der Anlage von Festungen als Kerne zukünftiger Städte (--"Urbanisierung) (z. B. an der mittleren und unteren Wolga Ende des 16. Jahrhunderts, in Sibirien und in der *Sloboda Ukraine (Slobids 'ka Ukrafna) in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts) oder in der Bildwlg von Kosakenheeren erkennen. festungen oder Garnisonen wurden seit dem Ende des 16. Jahrhunderts zu sogenalmten Grenzverhaulinien verbunden, deren bekannteste die in den 1630er Jahren enichtete "Belgoroder Linie", die sich weiter östlich anschließende "Sim birsker Linie" und im 18. Jahrhundert die "Orenburger Linie" waren, mit deren Hilfe die Kosaken die Steppenkolonisation weiter vorschoben . Die Kolonisation in den drei ge nannten Gebieten war ein lang anhaltender und nicht immer kontinuierlicher Prozess. Er kann als Grenzkolonisation gefasst werden, desse n Motive im Falle Sibiriens primär die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und im falle der Südgrenze die militärische Si cherung war. Die Hauptkolonisatoren waren zwar Russen , aber auch andere Gruppen traten als Ko lonisatoren auf: etwa im Falle der Sioboda-Ukraine vor allem ukrainische Bauern und Kosaken, und im Rahmen einer planenden Kolonisation lud Katharina II. zur Besiedlung der mittleren und unteren Wolga auch .?'Deutsche ein . Sie und weitere ethnische Gruppen waren auch bei der Kolo nisation des Stcppensaums nördlich des Schwarzen Meeres ein schl ießlich des Küstenstreifens und der Krim beteiligt, Gebiete, die das Russische Reich in vers chiedenen Schritten von 1774 bis 1791 nach der Zerschlagung des Krimkhanates vom Osmanischen Reich eroberte. Sie wurden administrativ unter der Bezeichnung "Neuruss land" zusammengefasst (allerdings mit sich zunächst ändernden Grenzen). Eine staatliche Kolonisationspolitik siedelte in dem Gebiet, zuvor Kontakt- und Konfliktzone zwischen Kosaken und Krimtataren, plannläßig nIssische Adlige und Militäroffiziere, Deutsche, .?'Griechen, Bulgaren u. a. (die als Kolonisten rechtlich privilegiert wurden) sowie ostsla vische Bauern an und öffnete es auch filr die jüdische Bevölkerung (J' Juden). Daneben kam es jedoch auch zu einer breiten und freien bäuerlichen Kolonisation aus den sich nördlich anschließenden Gebieten, die im 19. Jahrhundert zu einer ukrainischen Bevölke rungsmehrheit in "Neurussland" fuhrten. Ukrainische Historiker sehen hierin im Gegen satz zu nIssischen Historikern eine fortsetzung eines älteren Kolonisationsprozesses von Kosaken der *Zaporoger Sie', die durch eine staatliche Kolonisationspolitik quasi abge blockt werden sollte (-+4). "Neurussland" war so im 19. Jahrhundert eine konfessionell und ethnisch äußerst heterogen besiedelte Region , die russischen und ukrainischen Integrati onsbestrebungen ausgesetzt war, im 20. Jahrhundert Teil der ukrainischen Sowjetrepublik wurde und heute Teil der Ukraine ist und Südukraine genannt wird. Die Koloni sationsgebiete waren in der Regel nicht unbesiedelt, sondern waren zum Beispiel Räume nomadischer Bevölkerung. Zumal es sich bei der Kolonisation Sibiriens um einen gewaltsamen Prozess handelte, dessen Opfer die indigene finno-ugrische, türk und mongolsprachige (--"Mongolen) sowie paläoasiatische (J'Paläoasiaten) Bevölkerung war, die p3Itiell heftigen Widerstand gegenüber den Kolonisatoren lei stete. Während zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch 90 % der knapp 200.000 Bewohner Sibiriens indigenen Völkern angehörte, waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts 90 % der jetzt 9,4 Mio. Ein woh ner Sibiriens Russen. Eine massive Auswanderung hatte vor allem seit den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eingesetzt. Allein von 1897 bis 1911 verließen 3,5 Mio. Kolonisation 239 Menschen das europäische Russland und ließen sich in Sibirien nieder (-+26). Kolonisa tionsprozesse und -politik fanden auch noch in der sowjetischen Periode statt, bekannte Beispiele sind die weitere Kolonisation Sibiriens oder die sogenannte "Neulandgewin nung" unter Chruseev in Kasachstan. Konzeptionalisierungen a) Kontinuität mit mittelalterlichem europäischem Landesausbau: Die ostslavische Koloni sation, besonders die russische Eroberung und Erschließung Sibiriens, wird in uni versalge schichtli cher Perspektive auch als Fortsetzung des mittelalterlichell europäischen Lan desausbaus betrachtet. Zwar gab es zunächst keine Landesplanung und Raumordnung im Zarenreich im Sinne einer geplanten politischen Steuerung der Kolonisationsprozesse, sondern das Interesse an den Reichtümern Sibiriens (Pelze, Gold) filhrte zu unkontrollierter Kolonisation und zur gewaltsamen Vernichtung von Kulturen . Aber Elemente mittelalterli cher Kol onisation, etwa aus dem Novgoroder Land, wurden auch auf die Kolonisation Sibiriens übertragen, die seit dem 18. Jahrhundert immer stärker Objekt staatlicher Politik wurde. Die Eroberung und Erschließung Sibiriens (der russische Historiker Platonov sprach sogar von einem "russischen Drang nach Osten" [-+38, S. 79]) wird somit als Teil eines lang anhaltenden Prozesses der .?'Europäisierung Russlands gedeutct, dessen Anfange in der mittelalterlichen Ostkol'onisation des Karolingerreiches lagen (-+51) und die Teil des neuzeitlichen europäischen Expansionsvorganges war. b) Frontier-These: Die amerikanische Forschung hat in den letzte n dreißig Jahren ver schiedene Versuche unternommen, die Ende des 19. Jahrhunderts von Fredelick W. Turner aus der amerikanischen Geschichte gewonnene FrOnlier-These in angepasster FOIm auf das Zarenreich anzuwenden. Die ,,rrontier" wird dabei als eine Region gefasst, dic den Rand eines besiedelten oder kultivierten Gebietes bildet, innerhalb oder außerhalb eines politischen Herrschaftsverbandes liegt und sich von einer festen Grenzlinie ("border" ) zwischen zwei Herrschaftsgebilden oder Staaten unterscheidet. Auf Russland übertragen wird die westl iche Grenze des Moskauer Russland als Grenzlinie zwischen Staaten ange sehen, die nördliche (Novgoroder Kolonisation), vor allem aber die zur Steppe und nach Sibirien hin offene südliche und östliche Grenz e dagegen als ,,Fron/ier". Typische Ele mente der ,,Fron tier" und der Politik gegenüber den nomadisierenden oder halbllomadi sierenden Völkern der Steppe oder den Jagdvölkern Sibiriens waren zum Beispiel militä rische Bündnis- oder Absichcmngsverträge (mit großen Deutungsunterschieden auf beiden Seiten) und die Geise lnahme. In den Grenzregionen bildeten sich häufig Grenzge sellschaften mit eigenen Nonnen und Praktiken heraus, etwa bei den Kosaken an Dnepr, Don, Wolga, Jaik (Ural) und Terek oder in Sibirien . Die meisten am erikanischen Forscher verbinden mit der amerikanischen ,,Fron tier" den Sieg des Freiheitsgedankens und des Individualismus in den USA und sehen die russ ländische "FroJ1lier" als ein Gegenbeisp iel. Es gibt jedoch auch Forscher (-+50), die wie die Mehrheit der russischen und ukrainischen Historiker die ostslavische Herrschafts- und Erobemngsfahigkeit in den Vordergrund rücken und hierin ein zentrales einheitsstiftendes Moment ihrer Geschichte sehen. In der Regel bleibt dabei die indigene Bevölkerung außer Betracht, obwohl die Untersuc hung von Akkulturation und Gegen-Akkulturation von 240 Probleme und Interpretationen zentraler Bedeutung für die Konstitution von Grenzgesellschaften ist. In der Diskussion um die ,,Frontier" geht es so nicht nur um politische und soziale Prozesse, sondern auch um die grundlegende Frage der Selbst- und Fremddeutung im historischen Wandel (-23 ). c) Die Deutung und Politisierung der Kolonisation öffnet das Thema für vie le Phäno mene, Epochen und Großregionen wie etwa ?Nationalität und ?Gewalt, ?Krieg, Militär und ?Außenpolitik, ?historische Geographie und historische ?Demographie. Im Vorder grund steht aber die übergreifende Diskussion der Herrschaftsbeziehungen zwischen ostslavisch-russischer wld nichtrussischer indigener Bevö lkeru ng durch die Begriffe "Kolo nialismus", "Kolonialpolitik" und "Kolonialreich". Im Zarenreich und in der Sowjetunion hat es viele Elemente gegeben, die man als Kolonialpolitik, Kolonialismus und kolonia listisches Denken (-33) bezeichnen kann. Es ist jedoch strittig, ob insgesamt eine Kenn zeichnung der beiden Folgereiche als Kolonialreiche möglich ist. Für eine vergleichende Analyse müssten zumindest folgende Fragen beantwortet werden: Gab es im Zarenreich sowohl de jure als auch de facto keine Privilegierung der russischen bzw. ostslavischen Bevölkerung außerhalb ihrer traditionellen Siedlungsgebiete? War die Kooptation der nichtrussischen Eliten in die Reichseliten ein Element der Kolonialpolitik oder ist sie eher ein Beispiel für das Gegenteil? Waren der Zarenstaat und die Sowjetunion überhaupt in der Lage, e ine nachhaltige Kolonialpolitik zu betreiben bzw. durchzusetzen? Lässt sich da s Zentrum-Peripherie-Verhältnis auf wirtschaftlicher Ebene als ein koloniales Verhält nis beschreiben? Nahmen die ostslavisch-russische und die indigene Bevölkerung das Za renreich und die Sowjetunion als ein Kolonialreich wahr? Auswahlbibliographie I. Arms/rong, Terence: Russian Settlement ofthe North. Cambridge 1965 . 2. Baberawski, Jörg: Auf der Suche nach Eindeutigkeit: Kolonialismus und zivilisatorische Mission im Zarenreich und in der Sowjetunion. In: JBfGOE NF 47 (I 999), S. 482-504. 3. Bachru!iin, S. Naucnye trudy. Bd. 3, Teil I: Voprosy russkoj kolonizacii Sibiri v XVf XVII vv. [Wissenschaftliche Arbeiten. Bd. 3, Teil I: Probleme der russi schen Kolonisation Sibiriens im 16. und 17. Jahrhundert]. Moskva 1955. 4. 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Mentalität (russ.: mentalnost') bezeiclmet das vielschichtige En semble sittlicher, gefLihlsbedingter und auf Erkenntnis beruhender, teils bewusster, teils un bewusster verhaltensrelevanter KolJektivvorstellungen bestimmter Menschengruppen. Die Grilndung der Zeitschrift Annales d'hislOire economique et sociale durch Lucien Febvre und Marc Bloch im Jahr 1929 markiert den Beginn der Mentalitätenforschung, die Impulse aus der Literatur der Aufklärung (Voltaire), Kulturgeschichte (Johan Huizinga) und Soziologie (Emile Durkheim) aufnahm. Nicht länger sollten nur Eliten und politische Großereignisse von der historischen Forschung in den Blick genommen werden, sondern neben Wirtschafts- und Sozialgeschichte auch die kollektiven Auffassungen in bestimmten Epochen. "Die historischen Tatsachen sind wesentlich psychische Tatsachen", formulierte programmatisch Mare Bloch (--+8, S. 147), der die Menschen in den Mittelpunkt des Inte resses einer umfassenden Sozialgeschichte gerückt hat. Thematisiert werden seitdem die Vorstellungen der Menschen von und ihr Umgang mit Leib und Seele, Jugend und Alter, Sexualität und Liebe, Angst und Hoffnung, Glück und Leid; Krankheiten, Sterben und Tod, Individuum, Familie und Gesellschaft, Arbeit, Freizeit und Festen, Macht und Herrschaft, Gewalt, Krieg und Frieden, Recht und Ethik, Religion, Teuflischem und Gott, Glauben und Wissen, Raum und Zeit, Natur und Technik, Kommunikations- und Umgangsfonnen, gesellschaftlichen und ästhetischen Werten. Mentalitätenforschung fragt, wie soziales Wissen, Weltbilder, Lebensgefühl und unbe wusste Einstellungen bestimmter historischer Kollektive sich wandelten und das Denken und Handeln der Menschen mitprägten. Sie hat zum Entstehen neuer kulturgeschichtli cher Forschungsrichtungen beigetragen und profitiert ihrerseits von den Grenzüberschrei tungen zur Historischen Anthropologie, Mikro-, Alltags- und Geschleehtergeschichte so wie von den Anregungen Norbert Elias' zu interdisziplinären Herangehensweisen an die Erforschung von Alltagsritualen, vom *linguiSfic turn und der Vorgehensweise der "dichten Beschreibung" (.l'Historiographie, Forschungsrichtungen). In der westlichen Russlandforschung hat die Liberalisierung im Archivwesen der UdSSR seit dem Ende der 1980er Jahre eine breite Hinwendung zur Kulturgeschichte erst ermöglicht. Die Leistungsfahigkeit der neuen methodischen Ansätze wird in der Fachlite ratur diskutiert (--+ 13,21,30). Hier sollen einige Beispiele aus der Forschung erwälmt werden, die auf die historische Dimension und Entwicklung der Mentalitäten in Russland und der Sowjetunion hinweisen: Ludwig Steindorff (--+ 31) hat in seiner Untersuchung der christlichen Totensorge ge zeigt, dass diese ein Element altrussischer Lebensformen und durch vielfaltige Gemeinsam keiten mit der Memorialkultur der Westkirche verbunden war. Die Säkularisierung des