Stadtteilanalyse Jena

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Stadtteilanalyse Jena
F A C H
H O C H
SCHULE
J E N A
Fachbereich
Sozialwesen
University of Applied Sciences
Stadtteilanalyse
Jena - Winzerla
Annette Elsner
Prof. Dr. Ulrich Lakemann
ISBN 3-932886-04-6
Jena 2003
Inhaltsverzeichnis
1. Städtische Neubauquartiere - Entwicklung und Perspektiven...............5
1.1
1.2
1.3
1.4
Städte zwischen Rationalität und Urbanität........................................................ 5
Randstädtische Neubauquartiere ......................................................................... 9
Gemeinwesenarbeit, Vernetzung und Quartiersmanagement.......................11
Ausgangsüberlegungen und Fragestellungen des Forschungsprojekts ......16
2. Methoden der Datenerhebung und –analyse...................................... 18
2.1 Bevölkerungsbefragung im Stadtteil Winzerla .......................................................18
2.2 Experteninterviews .....................................................................................................25
3. Der Stadtteil Winzerla ........................................................................... 26
3.1 Entstehung des Stadtteils ..........................................................................................27
3.2 Bevölkerungsstruktur von Jena und Winzerla im Vergleich. ...............................28
4. Grünflächen im Stadtteil ....................................................................... 32
4.1 Grünflächen und Bänke im Wohngebiet.................................................................32
4.2 „Wasserachse“ und Kunst im Wohngebiet .............................................................36
5. Parkplätze im Stadtteil.......................................................................... 40
6. Freizeitverhalten und Freizeitangebote in Winzerla............................ 42
7. Situation der Kinder und Jugendlichen im Wohngebiet...................... 45
7.1 Umfang von Freizeitflächen für Kinder und Jugendliche ....................................46
7.2 Qualität der Freizeitflächen für Kinder und Jugendliche ......................................49
7.3 Störungen durch Kinder und Jugendliche ..............................................................53
8. Nachbarschaft und Haus ...................................................................... 56
8.1 Nachbarschaftsbeziehungen: Bekanntheit und grüßen .......................................56
8.2 Unterhaltungen, Besuche und gegenseitige Hilfe .................................................58
8.3 Subjektive Zufriedenheit mit nachbarschaftlichen Kontakten..............................61
8.4 Sauberkeit im Haus ....................................................................................................62
8.5 Konflikte unter Nachbarn...........................................................................................63
9. Selbsthilfepotenziale im Wohngebiet................................................... 66
9.1 Aktivierung des Selbsthilfepotenzials durch soziale Arbeit..................................67
9.2 Aktivierung auch älterer Menschen .........................................................................67
10. Politik und Ortschaftsrat ..................................................................... 69
11. Kriminalitätsfurcht im Wohngebiet ..................................................... 71
11.1 Unsicherheitsgefühl nach Geschlecht, Alter und Region...................................72
11.2 Gründe für Angst ......................................................................................................76
11.3 Dominante Jugendgruppen im Stadtteil................................................................77
12. Identifikation mit Winzerla .................................................................. 80
13. Zusammenfassung ............................................................................. 85
Literatur ..................................................................................................... 87
2
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Stadtteil Winzerla ............................................................................................19
Abbildung 2: A lter der Bevölkerung in Winzerla und Stichprobe im Vergleich............20
Abbildung 3: Geschlechterverteilung Stichprobe und Stadtteil im Vergleich................21
Abbildung 4: Erwerbsstatus der Befragten (N=334) .........................................................22
Abbildung 5: Größe der Haushalte in unserer Stichprobe...............................................23
Abbildung 6: Familienstatus der Befragten (N=337) ........................................................23
Abbildung 7: Wohndauer in Winzerla ..................................................................................24
Abbildung 8: Wohndauer in der Wohnung .........................................................................25
Abbildung 9: Winzerla und die Stadt Jena .........................................................................26
Abbildung 10: Altersstruktur der Jenaer Gesamtbevölkerung im Vergleich zur
Bevölkerung Winzerlas (2001) .....................................................................................29
Abbildung 11: Altersstruktur in Winzerla, Lobeda Ost und Löbstedt im Vergleich
(2002) ...............................................................................................................................30
Abbildung 12: Bevölkerungsentwicklung der drei großen Jenaer Neubauquartiere in
den Jahren 1995-2001 (Hauptwohnung; Angaben in Prozent) ..............................31
Abbildung 13: Bevölkerungsentwicklung in Winzerla zwischen 1995 und 2001 nach
Altersgruppen..................................................................................................................31
Abbildung 14: Quantitative Ausstattung des Stadtteils mit Grünflächen aus der Sicht
der Bewohner..................................................................................................................32
Abbildung 15: Beurteilung der Qualität von Grünflächen im Stadtteil............................33
Abbildung 16: Änderungswünsche bei der Gestaltung von öffentlichen Grünanlagen
und Grünanlagen in den Innenhöfen nach Anzahl der Nennungen.......................33
Abbildung 17: Einschätzung der "Wasserachse" ..............................................................37
Abbildung 18: Denken Sie, dass man durch Kunst Ihren Stadtteil verschönern kann?
...........................................................................................................................................38
Abbildung 19: Denken Sie, dass man durch Kunst Ihr Wohngebiet verschönern
kann? Wenn ja: durch welche? ....................................................................................39
Abbildung 20: Quantität der Parkmöglichkeiten im Stadtteil ...........................................40
Abbildung 21: Welche Möglichkeiten der Parkplatzgestaltung sehen Sie?..................41
Abbildung 22: Wo verbringen Sie und Ihre Familie größtenteils ihre Freizeit? ............42
Abbildung 23: Quantität der Freizeitflächen für Kleinkinder und Kinder........................46
Abbildung 24: Quantität der Freizeitflächen für Jugendliche...........................................47
Abbildung 25: Nutzung freier Räume in den Wohnhäusern durch Kinder und
Jugendliche .....................................................................................................................48
Abbildung 26: Beurteilung der Qualität von Freizeitflächen für Kinder und Jugendliche
...........................................................................................................................................49
Abbildung 27: Verbesserungsvorschläge bei der Freiflächengestaltung für Kinder
und Jugendliche .............................................................................................................49
Abbildung 28: Störungen durch Kinder und Jugendliche im Stadtteil ..........................54
Abbildung 29: Ursachen einer Störung durch Kinder und Jugendliche im Stadtteil....54
Abbildung 30: Wie viele Nachbarn aus Ihrem Hauseingang kennen Sie mit Namen?
(N=336) ............................................................................................................................57
Abbildung 31: Wie viele Nachbarn aus Ihrem Haus grüßen Sie (N=334).....................57
Abbildung 32: Mit wie vielen Nachbarn unterhalten Sie sich? (N=333) ........................58
Abbildung 33: Nachbarschaftliche Besuche ......................................................................58
Abbildung 34: Zonenspezifisch: Wurden Sie von Nachbarn in deren Wohnung
eingeladen? .....................................................................................................................59
Abbildung 35: Häufigkeit gegenseitiger Besuche .............................................................59
Abbildung 36: Helfen Sie sich manchmal gegenseitig? ...................................................60
3
Abbildung 37: Helfen Sie sich manchmal unter Nachbarn? Wenn ja: wie?..................61
Abbildung 38: Wünschen Sie sich mehr Kontakte zu Ihren Nachbarn oder sind Sie
zufrieden damit, wie es ist? ..........................................................................................62
Abbildung 39: Wie zufrieden sind Sie mit der Sauberkeit im Haus?..............................62
Abbildung 40: Falls weniger oder gar nicht zufrieden: Was stört Sie? ..........................63
Abbildung 41: Gibt es im Haus manchmal Konflikte oder Probleme unter Nachbarn?
...........................................................................................................................................63
Abbildung 42: Welche Anlässe gibt es für Konflikte? .......................................................64
Abbildung 43: Haben Sie Interesse, sich mit einigen anderen Bewohnern hier aus
Winzerla zusammen zu tun, um gemeinsam etwas in Winzerla zu verbessern? 66
Abbildung 44: Glauben Sie, dass sich die Leute aus dem Rathaus um Winzerla
kümmern? ........................................................................................................................69
Abbildung 45: Seit einem Jahr gibt es in Winzerla einen Ortschaftsrat. Wird sich
dadurch für Winzerla etwas verändern? .....................................................................70
Abbildung 46: Wird sich durch den Ortschaftsrat etwas verändern; wenn ja, was? ...70
Abbildung 47: Einschätzung der Kriminalität Winzerlas im Vergleich zum Rest der
Stadt .................................................................................................................................71
Abbildung 48: Vergleich des subjektiven Sicherheitsgefühls im Stadtteil tagsüber und
nachts ...............................................................................................................................72
Abbildung 49: Subjektives Sicherheitsgefühl in Winzerla bei Nacht: Männer und
Frauen..............................................................................................................................73
Abbildung 50: Subjektives Sicherheitsgefühl in Winzerla bei Nacht nach Alter...........73
Abbildung 51: Subjektives Sicherheitsgefühl in Winzerla bei Nacht nach Zonen........75
Abbildung 52: Gründe für subjektives Unsicherheitsgefühl im Stadtteil........................76
Abbildung 53: Was glauben Sie, wie Einwohner anderer Stadtgebiete Winzerla
finden? .............................................................................................................................80
Abbildung 54: Gründe für Besuche Winzerlas durch Bewo hner anderer Stadtteile ....81
Abbildung 55: Welche der folgenden Aussagen über Winzerla trifft auf Sie zu? ........82
Abbildung 56: Warum wolle n Sie in Winzerla bleiben? ....................................................83
Abbildung 57: Warum würden/wollen Sie aus Winzerla wegziehen? ............................84
4
1. Städtische Neubauquartiere - Entwicklung und Perspektiven
Im Zentrum unseres Forschungsprojekts steht das Jenaer Wohngebiet „Winzerla“. Es
handelt sich dabei um ein randstädtisches Neubauquartier in Plattenbauweise mit
fünf- und mehrgeschossigen Zeilenbauten. Das Projekt wurde in den Jahren 2001/02
durchgeführt im Rahmen des Hochschul- und Wissenschaftsprogramms (HWP) des
Thüringer Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst.
Um die empirischen Ergebnisse unserer Einzelfallstudie in einen übergreifenden Diskussionskontext stellen zu können, werden in diesem Kapitel zunächst einige Überlegungen zur ost- und westdeutschen Stadtentwicklung in den letzten Jahrzehnten
angestellt. Speziell betrachten wir dabei die Situation der randstädtischen Neubauquartiere und die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, auf die zum Teil eskalierenden Problemsituationen in diesen Wohngebieten zu reagieren.
Im Anschluss an eine Darstellung unserer Forschungsmethoden werden in den folgenden Kapiteln die Ergebnisse aus einer Bevölkerungsbefragung und aus mehr als
zwanzig Expertengesprächen zum Wohngebiet präsentiert. Die quantitativen und
qualitativen Daten bilden die empirischen Grundlagen für die weitere Arbeit im und
am Wohngebiet Winzerla.
1.1 Städte zwischen Rationalität und Urbanität
Mehr denn je drücken sich in den Städten heute die übergreifenden gesellschaftlichen Strukturprinzipien von Arbeitsteilung und Rationalität im Sinne von Funktionalität oder Effektivität aus. Es dominiert also die Zweckmäßigkeit und der Zweck ist vor
allem in randstädtischen Neubauquartieren fast ausschließlich das Wohnen. Für die
gesamte Stadt sind die Zwecke sicherlich differenzierter zu betrachten. Eine Stadt, in
der man nur wohnen kann wäre keine Stadt, da sie viele Bedürfnisse ihrer Bewohner
unberücksichtigt lassen würde und sie deshalb wahrscheinlich schon bald keine Bewohner mehr hätte. Die Stadt berücksichtigt also mehr Funktionen: Neben das Wohnen tritt das Arbeiten. Die Wege zwischen beiden erfordern die Fortbewegung.
Daneben tritt der Konsum, die Freizeit und vieles mehr. Städte sind in ihrer Gesamtheit also "bunter" als manche auf das Wohnen reduzierte Stadtteile. Dennoch ist
auch ihr Gestaltungsprinzip eine rationale und effektive Funktionalität. Grundlegende
Mechanismen dieser funktionalen Differenzierung der Stadt sind der Wettbewerb, die
Arbeitsteilung und in deren Folge ein Segregationsprozess mit reichen, mittelständischen und armen Milieus sowie einer funktionalen Verinselung. Helga Zeiher (1990)
hat dies mit Blick auf das städtische Leben von Kindern verdeutlicht: Kinderleben in
der Stadt findet vor diesem Hintergrund auf funktional spezialisierten räumlichen "Inseln" statt, zwischen denen die Eltern die räumlichen Verbindungen durch entsprechende Fahrten herstellen müssen. Alles in allem funktioniert die Stadt wie eine
komplexe, gut geölte Maschine, die aus mehreren Modulen besteht. Die Transaktionen zwischen diesen Modulen verursachen allerdings wiederum zusätzliche Kosten.
Diese hochgradige Funktionalisierung von Teilräumen in der Stadt und ihre fehlende
Zusammenführung zu einer Einheit kann auch die sozialen Beziehungen funktionalisieren und sie auf das reduzieren, was der jeweilige Ort als Verhalten vorsieht. An
einem Ort, an dem z.B. nur Fortbewegung als Funktion vorgesehen ist, kommt es nur
schwer zu Formen sozialen Verhaltens, die nichts mit Fortbewegung zu tun haben.
In konkreten Situationen drückt sich die Funktionsspezialisierung der Stadt im relativ
harmlosen Fall in der Anonymität auf Bahnhöfen aus, im weniger harmlosen Fall in
der Toleranz und Ignoranz gegenüber öffentlich ausgeübter Gewalt. Dabei haben
5
sich auch die Formen sozialer Kontrolle ausdifferenziert. Sie findet nicht mehr als
immanenter, tagtäglicher und so als „natürlich“, wenn auch manchmal lästig oder ärgerlich empfundener Bestandteil sozialer Beziehungen statt. In der funktionalisierten
Stadt treten an die Stelle einer solchen direkten sozialen Kontrolle organisierte und
zum Teil auch technisch mediatisierte Kontrollformen. Das Aufgebot an staatlicher
Kontrolle muss steigen, um die zunehmende Kriminalität einzudämmen. Auch die
möglich gewordene vollkommene Überwachung des Stadtraums durch Kameras ist
kein technisches, höchstens noch ein rechtliches oder ethisches Problem.
Hinter diesen Formen der Stadtentwicklung steht eine entsprechende, bis heute dominierende Planungsideologie der modernen Großstadt, die Hartmut Häussermann
wie folgt beschreibt:
"Rationalisierung und Ökonomisierung waren »modern«, und diese Gedanken hatten auch tiefgreifende Einflüsse auf den Wohnungsbau und die Stadtplanung. Rationalisierung wurde in den Köpfen von
Architekten und Stadtplanern zum Leitbegriff für die Gestaltung auch der außerbetrieblichen Lebenswelt. Das Prinzip der kurzen Wege wurde auf die Planung der Stadt und der Wohnung übertragen:
Alles sollte »zweckmäßig« werden. Die Stadt sollte wie eine Fabrik organisiert werden: Trennung der
unterschiedlichen Funktionen, ihre räumliche Verortung in verschiedene Zonen der Stadt und ihre
Verknüpfung durch die verschiedenen Verkehrsarten nach dem Prinzip des Fließbandes. ... Auch die
Wohnung wurde wie eine Maschine geplant. Eine ganze Architektengeneration befaßte sich mit der
Rationalisierung der Bewegungsabläufe in der Wohnung und mit der Arbeitsorganisation in der Küche.
Der Mensch wurde zu einem abstrakten Wesen, das sich den Bedingungen des modernen Lebens
anzupassen hatte. Und die neue Ästhetik orientierte sich ungeniert an der industriellen Produktion ein technisches, zweckmäßiges Aussehen galt als besonders chic" (Häussermann 1999: 17).
In diesen, die räumliche Gestaltung der Städte prägenden Leitbildern drücken sich
einerseits gesellschaftliche Bedingungen aus, andererseits wirken die räumlichen
Gegebenheiten wiederum auf soziale Bedingungen zurück. Dieter Keim (1979) hat
städtische Milieus als sozialwirksame Raumstruktur und raumwirksame Sozialstruktur beschrieben. Räumliche Bedingungen prägen also einerseits soziale Beziehungen, und andererseits beeinflussen soziale Beziehungen wiederum räumliche Bedingungen. In städtischen Milieus drücken sich demnach Nutzungsstrukturen aus, die
das Verhältnis der Bewohner gegenüber dem "Sachkomplex" des Quartiers und ihre
Aneignung der Sachumwelt verdeutlichen. Gleichzeitig sind sozialstrukturelle Eigenschaften des Milieus in Zusammenhang mit Wohnverhältnissen und dem Ausstattungsgrad des Quartiers zu betrachten. Räumliche Enge und bauliche Normierung sind in vielen Beispielen als Blockaden für soziale Beziehungen im Stadtteil identifiziert worden. Die Bewohner müssen viel „soziale Energie“ aufbringen um diese
Blockaden zu überwinden; oftmals schaffen sie es nicht.
Angesichts der Interaktion zwischen Sozialem und Raum könnte man als Parallele
zu den sozio-technischen-Systemen, die eine Interaktion zwischen Mensch und Maschine kennzeichnen, von sozio-räumlichen-Systemen sprechen. Hinter jeder Gestaltung von Raum steckt dabei ein bestimmtes Menschenbild, in dem sich Planungsideologien und letztendlich wiederum Herrschafts- und Machtstrukturen ausdrücken.
Diese ziehen ein starres oder flexibleres sozio-räumliches-System mit entsprechenden Freiheits- bzw. Unfreiheitsgraden für den Menschen nach sich. Sozio-räumlicheSysteme unterscheiden sich also in dem Ausmaß, in dem sie den Menschen Entfaltungsspielräume lassen.
6
Zum Wechselverhältnis zwischen Raum und Sozialem wurden einige "klassische"
Thesen formuliert, die Keim (1979: 48 f.) folgendermaßen zusammengefasst hat:
⇒
Je mehr in einem Wohnquartier materielle, institutionelle und Aktivitätsstrukturen
deckungsgleich sind, also ineinander greifen, desto wirksamer sind diese Eigenschaften für sozialstrukturelle Zusammenhänge. Sie bilden umso deutlicher das
Gerüst und die Begrenzung eines einheitlichen sozialen Lebens. (Überlagerungsthese von Chombart de Lauwe).
⇒
Solange wirtschaftliche und kulturelle Möglichkeiten von Bewohnergruppen beschränkt sind (benachteiligte Bewohnergruppen), bleibt der Einfluss eines erneuerten Wohnumfeldes auf ihre Reproduktionsweise ineffektiv, d.h. überholte sozialstrukturelle Zusammenhänge können sich längerfristig halten (Coings Ungleichzeitigkeitsthese).
⇒
Wenn Sachanlagen, Geräte und andere materielle Ausstattungen innerhalb der
Reproduktionsweise von Bewohnern gemeinsam benötigt werden, bilden sich sozialstrukturelle Zusammenhänge heraus, die wesentlich über den Gebrauch solcher Ausstattungen vermittelt sind (Geigers analoge Sachdominanzthese).
⇒
Wenn in einem Wohnquartier subkulturelle Entwicklungen als Bestandteil der Reproduktionsbedingungen entstehen, dann verändern Subkultur-Gruppen die
raumstrukturellen Milieueigenschaften - und zwar umso mehr, je schwächer die
politisch-administrativen Akteure auftreten. Das heißt materielle Bedürfnisse, und
"moralische Ordnung" prägen die räumlichen Strukturen und das Milieu. Eigensinnige Gestaltung der Quartiersstrukturen sind durch Fähigkeiten der Bewohner
geprägt. (Chombart de Lauwes Modifizierungsthese).
Die vier Thesen zeigen die Potenziale der Raumstrukturen für soziale Beziehungen
auf, verdeutlichen aber gleichzeitig auch deren Grenzen. Die gemeinsame Nutzung
von Raum und Anlagen kann grundsätzlich eine Basis für weitergehende soziale Beziehungen sein. Diese werden sich aber nur dann längerfristig entfalten können,
wenn dem nicht ökonomische Benachteiligungen z.B. durch Arbeitslosigkeit und Armut entgegenstehen. Die Ursachen dafür findet man in der Regel außerhalb der
Stadtgrenzen in gesellschaftlichen Umbruchsituationen und globalisierten Märkten.
In der gemeinsamen Nutzung von öffentlichem Raum, der zudem vielfältige Nutzungsmöglichkeiten vorsieht oder offen lässt, können sich demgegenüber urbane
Sozialbeziehungen entfalten. In dem Begriff 'Urbanität' drückt sich Aufgeschlossenheit und Toleranz gegenüber dem anderen aus. Es handelt sich dabei auch um Toleranz gegenüber Unterschiedlichkeiten und Widersprüchen. Urbanität würde sich also
z.B. nicht in der Verwischung kultureller Unterschiede und der einfachen Integration
verschiedener Kulturen ausdrücken, sondern in der Akzeptanz ihrer Unterschiedlichkeit, ohne dass daraus Abgrenzung, Segregation und Diskriminierung resultieren.
Dem entsprechen auch Erving Goffmans (1971) Studien zum urbanen Verhalten in
seinen zahlreichen differenzierten Facetten, wie es zum Beispiel auf öffentlichen
Plätzen in wenig funktionalisierten Lebenswelten möglich ist. Es umfasst die Bereiche der nichtzentrierten Interaktion in der Öffentlichkeit: flanieren, beobachten, möglichst wenig hinhören und der zentrierten Interaktion: nach der Uhr fragen, ein Gespräch beginnen und der zugänglichen Interaktion: aus einem zufälligen Gespräch
wird eine Szene, bei der andere zuschauen, sich einmischen usw. Wesentlich ist,
dass diese Regeln urbanen Verhaltens für alle Individuen und Gruppen im Stadtraum
gleichermaßen gelten.
7
Städtische Lebenswelten, die solche Verhaltensweisen zulassen, sind oftmals ganzheitlicher und in vielerlei Hinsicht weniger rational, weniger effektiv oder funktional
sondern multifunktional. Ein Hinterhof gehört z.B. ebenso dazu wie eine brach liegende Fläche. Ein Stadtteilzentrum ebenso wie ein vielfältig nutzbarer Platz. Sie lassen Freiräume in Gestaltung und Nutzung. Ihr Gestaltungsprinzip ist das was Häussermann / Siebel (1987) als "Neue Urbanität" beschrieben haben. Neue Urbanität
lässt Planungen offen, macht sie angesichts einer offenen Zukunft revidierbar und
erlaubt die Freiheit des Irrtums. Sie berücksichtigt eine Pluralisierung von Lebensstilen, sie wertet die Stadt als Lebenswelt auf durch Gärten, Eigenarbeit, Nachbarschaftshilfe und Kooperation. In der Vorstellung von "Neuer Urbanität" wird für jeden
die Wahl von Aneignung und Distanz offen gehalten, ebenso wie die Suche nach
Kontakt oder Anonymität, nach privaten oder öffentlichen Kommunikationsformen.
In räumlicher Hinsicht hat Andreas Feldtkeller (1994) die Straße mit dicht angrenzenden privaten Häusern als eine Form städtischer Öffentlichkeit charakterisiert, in
der eine solche Polarisierung möglich ist. Solche Straßen bieten prinzipiell die Chance einer Verzahnung von Öffentlichkeit und Privatheit. Trotz der harten räumlichen
Grenze sind bei entsprechender Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten (und nicht bei
eindimensionaler Nutzung mittels Vorbeifahren oder -gehen) Übergänge möglich. Die
Straße ist nach Feldtkeller vergleichbar mit einem Tisch, um den Leute herumsitzen.
Der Tisch erzeugt einerseits Distanz, andererseits durch die gemeinsame Benutzung
auch Verbundenheit. Dieser öffentliche Raum ist in vielen Städten kaum noch zu finden; der Tisch ist durch einen magischen Trick aus der Mitte einer Anzahl von Menschen, die um ihn herumsitzen, verschwunden. Dadurch entfällt die Möglichkeit der
Kommunikation, denn zwischen den Menschen ist nichts Trennendes und nichts verbindend Greifbares mehr vorhanden.
So ist das Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit angesichts der hochgradigen Funktionalisierung und Differenzierung von Städten gestört. Hans Paul Bahrdt
(1961) stellte bereits in seinem Klassiker „Die moderne Großstadt“ fest, dass mit dem
Auseinandertreten dieser beiden Grundformen gesellschaftlichen Lebens und ihrer
bewussten Gestaltung die Stadt im soziologischen Sinne erst beginnt. Erst in der Polarität zwischen Privatheit und Öffentlichkeit sind städtische Sozialbeziehungen möglich. Stattdessen herrscht in der heutigen Gesellschaft die Veröffentlichung des Privaten und die Privatisierung des Öffentlichen vor, wie sie Richard Sennett in seinem
berühmten Buch „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens - Die Tyrannei der Intimität“ (1983) beschrieben hat. Nach Sennett haben in der modernen Gesellschaft die
Anonymität, vor allem aber die Komplexität so stark zugenommen, dass sie den
Menschen in das Private „vergrault“. Um das Ausmaß an Komplexität und damit verbundener Entfremdung noch aushalten zu können, schneiden sich die Menschen die
Gesellschaft in psychologisierte „Häppchen“ zurecht. Diese Personalisierung der Gesellschaft zeichnet sich aus durch ein übermäßiges Interesse an Personen. Nicht die
Inhalte erwecken Vertrauen oder Misstrauen sondern die Art ihrer Darstellung. Für
Sennett ist dies gleichbedeutend mit einem Verfall des öffentlichen Lebens, das zu
Beginn der Neuzeit durch Normen, Verhaltens- und Umgangsformen geregelt wurde.
Mag von vielen die Abschaffung dieser Umgangsformen und der mit ihnen verbundenen Befangenheiten befürwortet werden, so war die aus ihnen resultierende soziale Distanz doch wichtig für Gesellschaftlichkeit. Durch das gestörte Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Privatheit droht heute vielen Stadtteilen die „Einkapselung“
des Menschen in seine private Wohnwelt („cocooning“) und vielen sozialen Beziehungen die Überforderung durch Intimisierung.
8
Ist die Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit also aufgehoben und damit
die These von Norbert Elias (1939; 1982) widerlegt, der den Zivilisationsprozess beschrieb mit einem zunehmenden Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle, einer Zunahme von Selbstzwangmechanismen und einer stärkeren Affektkontrolle? Diese These
stimmt nach wie vor, wenn man sich vergegenwärtigt, welchem Ausmaß an Selbstzwang und Affektkontrolle es bedarf, sich den Spielregeln der modernen Gesellschaft
zu unterwerfen. Ab einer gewissen Reizschwelle gerät das Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit aber ins Ungleichgewicht. Sind die Rationalitätsanforderungen der Stadt-Gesellschaft so hoch, dass sie nur noch den rationalen Teil des Menschen anfordern, ja ihn überfordern, muss sich der irrationale Teil andere Verwirklichungsformen suchen. Nur geht es dabei nicht mehr darum, authentische, lebensweltliche Kommunikationsformen entstehen zu lassen. Es geht vielmehr darum, sich
gut zu inszenieren: "Im Jahr 2000 wird jeder für 15 Minuten berühmt sein" sagte Andy Warhol in den 60er Jahren. Dieses Bedürfnis, sich von der Masse abzuheben,
über die Medien zum Star zu werden ist heute ausgeprägter denn je.
Elektronische Medien können neue Öffentlichkeiten schaffen; diese sind aber globalisiert und haben vielleicht die ganze Welt als regionalen Bezugspunkt. Globalisierte
Massenmedien könnten in Zukunft verstärkt dazu neigen, regionale, kleinräumige
und zum Teil über lange Zeit gewachsene Lebenszusammenhänge völlig außer Acht
zu lassen und damit zu einer allmählichen Abnahme ihrer Bedeutung beitragen (vgl.
Sennett 1983; Feldtkeller 1994). Waren zuvor die Massenmedien im Alltagsgebrauch
weitestgehend zumindest an nationale Grenzen gebunden, so ist durch das Internet
eine neue Dimension dieser Reduktion lokaler Bedeutung erreicht. Paul Virilio (1990:
479) stellt dazu fest : „Wenn uns der Platz am Ende der Straße, der zu Fuß in zehn
Minuten zu erreichen ist, ebenso fern vorkommen wird, wie Peking, was bleibt dann
von der Welt? Was bleibt von uns?“
1.2 Randstädtische Neubauquartiere
Die bisherigen Ausführungen zur Rationalität und Ausdifferenzierung von Städten
treffen auf kaum einen anderen Milieutypus so zu wie auf das randstädtische Neubauquartier. In Westdeutschland drückt sich in ihnen die Wohnungsbaupolitik der
60er, 70er und frühen 80er Jahre aus. Typisch für diese Zeit war die Bewegung der
Stadtbevölkerung aus den Innenstädten an den Stadtrand („Suburbanisierung“). Die
randstädtischen Neubausiedlungen ermöglichten einen höheren Wohnkomfort als es
die Innenstädte bieten konnten. Ihre Raumstruktur ist geprägt durch fünf- und mehrgeschossige Zeilenbauten mit einem hohen Grad an Gleichförmigkeit und Normierung. In den randstädtischen Neubausiedlungen dominiert die Wohnfunktion, so dass
sie oftmals als "Wohnsilos", "Schlafstädte" oder „Arbeiter-Schließfächer“ bezeichnet
wurden.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich nur in geringem Maße Anknüpfungspunkte für
soziale Kontakte und die Anonymität ist in der Regel größer als in anderen Stadtteilen. Dadurch werden häufiger als in den anderen Quartieren als Nachbarn primär die
Mitbewohner des Hauses oder sogar nur der Etage angesehen, nicht aber die der
anderen Häuser.
Solche Quartiere sind hauptsächlich mit Einrichtungen ausgestattet, die notwendig
sind, um den Grundbedarf an Versorgungsleistungen abzudecken (Supermärkte,
Kindereinrichtungen und Schulen). Es fehlen aber relativ häufig Freizeiteinrichtungen
vor allem im kulturellen Bereich. Dadurch werden diese Stadtteile nicht als freizeitrelevant wahrgenommen. Allenfalls die oftmals zahlreichen Grünflächen und ländlichen
9
Gebiete in unmittelbarer Umgebung erhöhen aus der Sicht der Bewohner die Freizeitattraktivität des Neubauquartiers.
In den ostdeutschen Plattenbausiedlungen zeigte sich bis zur Wende ein etwas anderes Bild als in Westdeutschland. Durch die von vornherein erheblich stärkere bevölkerungsstrukturelle Mischung aller Statusgruppen, den oftmals sehr ähnlichen Erwerbskontext im gleichen Kombinat und die auch ökonomischen Vorteile guter
Nachbarschaft, war das Interesse an funktionierenden sozialen Netzwerken groß. So
wiesen viele ostdeutsche Plattenbausiedlungen bis zur Wende ein reges soziales
Leben auf, obwohl die räumlichen Strukturen dem eigentlich entgegen standen.
Seit der Wende sind in den ostdeutschen Neubausiedlungen aber ähnliche Veränderungen festzustellen wie in Westdeutschland bereits seit den 70er Jahren. So findet
eine zunehmende Entmischung der Bevölkerung statt. Ökonomisch besser gestellte
Bewohnergruppen in den mittleren und höheren Sozialstatusgruppen ziehen allmählich in andere Stadtteile. Überproportional häufig wollen auch jüngere Personen bis
35 Jahre sowie Kernfamilien in der Expansionsphase umziehen (Herlyn / Hunger
1994). In die frei werdenden Wohnungen rücken verstärkt ökonomisch schwächere
Haushalte nach; auch der Anteil von Problemgruppen nimmt zu. Diese Quartiere
weisen mehr und mehr Anzeichen zu Ghettoisierung und sozialer Segregation auf.
Das Wohnen in ihnen ist oftmals Teil eines Stigmas, das den entsprechenden Bevölkerungsgruppen ohnehin anhaftet.
Neben der Zunahme sozio-ökonomischer Ungleichheit sind diese Prozesse in den
ostdeutschen Bundesländern auch mit einer Zunahme von Wohnalternativen außerhalb der Neubauquartiere begründbar. So entstand nach der Wende attraktiver
Wohnraum durch die Sanierung der Innenstädte oder den Neubau von Einfamilienhaussiedlungen am Stadtrand. Zusammen mit der Abwanderung eines nicht unerheblichen Bevölkerungsanteils in die westdeutschen Bundesländer und der drastischen Abnahme der Geburtenrate kommt es zu mittlerweile erheblichen Leerständen
in vielen ostdeutschen Plattenbausiedlungen (vgl. Rietdorf 1997: 34 ff.).
Die stattfindenden bevölkerungsstrukturellen Wandlungen mit einem zunehmenden
Anteil sozial schwacher Schichten ziehen eine deutliche Schwächung sozialer Netzwerke in diesen Stadtteilen nach sich. Solche Netzwerke beruhen auf gegenseitigen
Hilfserwartungen. Wenn ein Haushalt aber kaum die Ressourcen für die Stabilisierung des eigenen minimalen Lebensstandards aufbringen kann, wird es ihm nicht
möglich sein, andere zu unterstützen. Die Inanspruchnahme von Beziehungen in
Netzwerken hängt also davon ab, ob man die Möglichkeit hat, "zurückzuzahlen" und
davon, wie die Verpflichtung zur Gegenseitigkeit innerhalb des Netzwerks aufgefasst
wird. Die sozialwissenschaftliche Forschung zeigt, dass fehlende oder "brüchige"
primäre soziale Netzwerke zahlreiche Nachteile für die materielle, und immaterielle
Lebensqualität der Betroffenen nach sich ziehen. Fragen der psychischen Gesundheit und sozialen Integration hängen vom Ausmaß sozialer Netzwerke ab. Insbesondere Haushalte mit psychosozialen und finanziellen Problemen wären aber auf ein
ausgeprägtes informelles Netzwerk angewiesen, da sie zum einen hauswirtschaftliche und familiäre Dienstleistungen des Marktes nicht bezahlen können, zum anderen
aber einen hohen Zeitanteil für Erwerbsarbeit aufwenden müssen. So ist das Gleichgewicht von „Geben und Nehmen“ in randstädtischen Neubauquartieren stärker als
in anderen Stadtteilen oftmals grundlegend gestört. Ein Vergleich der Situation von
Sozialhilfeempfängern in verschiedenen städtischen Milieus zeigt beispielsweise,
dass diese Bevölkerungsgruppe in randstädtischen Neubauquartieren auf das
schwächste soziale Netzwerk und damit die geringsten wechselseitigen Unterstützungsbeziehungen trifft (Herlyn/ Lakemann/ Lettko 1991).
10
Auch eine hohe Arbeitslosigkeit, die offensichtlich durch massive strukturelle Krisen
verursacht wurde, verändert diese Netzwerkstrukturen trotz einer ähnlichen Notlage
nicht grundsätzlich in Richtung stärkerer gegenseitiger Unterstützung. Schon die
klassische Arbeitslosenstudie von Jahoda/ Lazarsfeld und Zeisel (1983, zuerst 1933)
zeigte die lähmenden Folgen struktureller Arbeitslosigkeit für Individuen, Familien
und die Stadt. In individualisierten Gesellschaften ist die Bewältigung der Folgen von
Arbeitslosigkeit noch weniger in solidarischen sozialen Netzwerken möglich als in
den dreißiger Jahren. Sie wird zur „Privatsache“ der Betroffenen und ihrer Familien,
tritt aber nicht an die Öffentlichkeit des Stadtteils. Arbeitslosigkeit ist „Gift“ für soziale
Netzwerke.
Wenn diese primären Netzwerke schwach sind, kann nur durch einen Aufbau sekundärer Netzwerke versucht werden, die Defizite zu kompensieren und die gravierenden Folgen der beschriebenen Entwicklungen aufzufangen. Ebbe/ Friese (1989) bezeichnen mit dem Begriff sekundäres oder formelles soziales Netzwerk alle stadtteilbezogenen institutionalisierten, rechtlich verankerten Beziehungen zwischen Organisationen (im weitesten Sinne) bzw. zwischen Organisationen und Klienten. Die Beziehungen im sekundären sozialen Netzwerk dienen als Ersatz für verschwundene
und nicht mehr ersetzte informelle Relationen.
Vor diesem Hintergrund sind in vielen Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf Projekte der Gemeinwesenarbeit und Vernetzung entstanden. Diese können
einen Teil der problematischen Entwicklungen zwar mildern oder aufhalten, grundsätzlich hängen die Chancen der großen Neubauquartiere aber von einer ganzen
Reihe von Faktoren ab. Eine Studie zum experimentellen Wohnungs- und Städtebau
kommt dabei zu folgenden Ergebnissen:
„Die Perspektiven großer Neubauquartiere sind umso günstiger,
je besser die wirtschaftliche und soziale Perspektive der Region bzw. der betreffenden Stadt ist,
je größer ihre Bedeutung für die Gesamtstadt ist,
je besser ihr Image aus Sicht der Stadt als Ganzes ist,
je besser die politischen und Verwaltungsstrukturen ihren spezifischen Problemfragen entsprechen - 'Gebietslobbies' sind unerläßlich,
je besser sie an den Stadtorganismus einerseits und an die Landschaft andererseits angeschlossen sind,
je vielfältiger ihr Wohnraumangebot ist,
je kleiner bzw. überschaubarer sie (in Relation zur Größe der jeweiligen Stadt
bzw. Gemeinde) sind,
je engagierter die lokalen Akteure (Bewohner, Verwaltung, Politik, Wohnungsunternehmen) Entwicklungschancen wahrnehmen und vorhandene Potentiale
nutzen.“ (ExWoSt 1996: 83; zit. nach Rietdorf 1997: 50)
1.3 Gemeinwesenarbeit, Vernetzung und Quartiersmanagement
Gemeinwesenarbeit ist gegenüber dem Stadtteilmanagement der klassische Ansatz,
um Fehlentwicklungen in städtischen Milieus aufzufangen. Es handelt sich um ein
zielgruppenübergreifendes sozialarbeiterisches Arbeitsprinzip, das am Alltag der
Klientel, seiner Lebenswelt und seinem Lebensraum orientiert ist. Die Gemeinwesenarbeit vermeidet im Kontrast zu anderen sozialarbeiterischen Methoden eine
Spezialisierung ihrer Angebote und Zielgruppen, sondern leitet ihre konkreten Aufgaben von den Bedürfnislagen und sozialen Strukturen eines Gemeinwesens ab. Als
11
Gemeinwesen werden dabei insbesondere Stadtteile oder andere kleinräumige Einheiten, wie z.B. Dörfer angesehen.
Der "Klient" der Gemeinwesenarbeit ist somit das ganze Wohnmilieu und nicht nur
Individuen, Familien oder einzelne Bevölkerungsgruppen. Gemeinwesenarbeit zielt
auf eine intakte Nachbarschaft sowie eine Verbesserung sozialer Infrastruktur unter
der Voraussetzung von Bürgerbeteiligung und Selbsthilfe ab.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich folgende Aufgabenschwerpunkte der Gemeinwesenarbeit (Iben u.a. 1981):
•
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Ansprache zuständiger Stellen zur Verbesserung der Miet- und Wohnsituation
Anregungen für eine Stadtteilzeitung
Zielgruppenarbeit, besonders für Kinder, Jugendliche und alte Menschen
Schaffung von Gemeinschaftsräumen für Bewohneraktivitäten
Anregung von Festen, Ausflügen etc., um gegenseitiges Kennen lernen zu ermöglichen und Gemeinschaftsgefühle zu fördern
Ergänzung durch traditionelle Formen von Sozialarbeit: Einzelberatungen und konkrete Hilfeleistungen
Stärkung bzw. Initiierung sozialer Netzwerke der Bewohner
Stärkung bzw. Initiierung von Selbsthilfe / semiprofessionellen Netzwerken in den Bereichen Gesundheit, gemeindenahe Psychiatrie, Gesundheitsläden; Aktivierung von Laienhilfe
Aufgreifen kultureller Impulse von Bewohnergruppen, Verwandlung in Aktionen, Vernetzung mit
anderen Kulturprojekten und Verbindung mit Kulturpolitik
Aktivitäten im Rahmen der lokalen Ökonomie: Vernetzung alternativer Projekte und Beschäftigungsinitiativen; Sanierung ehemals besetzter Häuser und ähnlicher Projekte, Gründung von
”Tauschbörsen”, Gemeinwesenarbeit kann solche Initiativen anregen, organisieren, betreuen; soziale Ressourcen und soziales Kapital zusammenbinden
Vernetzung der sozialen Einrichtungen in einem Stadtteil
Erarbeitung lokaler Bestandsaufnahmen und Analysen; Entwicklung entsprechender Umsetzungsperspektiven
Ein wesentliches Ziel der Gemeinwesenarbeit ist die Aktivierung und Beteiligung der
Bürger des jeweiligen Gemeinwesens. Ohne eine angemessene, ernsthafte und kontinuierliche Bürgerbeteiligung ist jedes Projekt der Gemeinwesenarbeit zum Scheitern verurteilt.
Zwei Problemfelder deuten sich dabei an:
Erstens ist nicht vorbehaltlos vorauszusetzen, dass sich die Bewohner eines Stadtteils überhaupt im Rahmen einer Gemeinwesenarbeit engagieren wollen. Es stellt
sich somit die Frage, welche Hindernisse auf Seiten der Bürger deren Beteiligung
und Engagement einschränken bzw. welche Beteiligungspotenziale vorhanden sind.
Zweitens ist zu berücksichtigen, dass in der Regel ein starkes Machtgefälle zwischen
den in einem Stadtteil planenden bzw. dort tätigen Organisationen und den unorganisierten Bewohnern besteht. Selbst wenn Beteiligungsbereitschaft vorliegt, stellt sich
immer noch die Frage, welche Hindernisse auf Seiten der Institutionen bestehen, um
Bürger zu Experten und Gestaltern ihrer eigenen Lebenswelt zu machen bzw. welche Bereitschaft vorliegt, entsprechende Konzepte bei Planung und Umsetzung zu
berücksichtigen.
Verschiedene Modelle der Bürgerbeteiligung sind entwickelt worden, die mehr oder
weniger erfolgreich versuchen, die beiden Probleme in den Griff zu bekommen:
♦
Anwaltsplanung: Ein professioneller Planungsexperte hat die Aufgabe der Interessenvertretung und Beratung der betroffenen Bürger (vgl. Davidoff 1965; Affeld
1974). Er ist Vermittler zwischen Verwaltung und Betroffenen. Dieses Konzept beruht auf der Überlegung, "... daß ein Haupthindernis gegen eine angemessene Be12
rücksichtigung der Interessen von Planungsbetroffenen bei der Durchführung von
Planungsmaßnahmen in deren Unkenntnis des komplexen formalen Planverfahrens begründet ist" (Schmidt-Relenberg u.a. 1973: 54). Eingewendet wurde gegen
dieses Modell, dass die überlokal getroffenen Entscheidungen ebenso wie die
Skepsis der Betroffenen vom Anwaltsplaner häufig kaum überwindbar sind (Körber/ Siebel 1971; Offe 1977: 144).
♦
Das Modell des Ombudsman, das vor allem in den skandinavischen Ländern angewendet wurde, ist anzusehen als eine Art "Beschwerdebriefkasten mit Verstärkereffekt" (Offe 1977: 145). Aufgabe des Ombudsmans ist es, Beschwerden aktiv
kontrollierend zu verfolgen. Ein Problem dieses Modells liegt sicherlich in der "Expost-Perspektive" und damit in der unzureichenden Einbindung des Ombudsmans
in den gesamten Prozeß der politischen Planung (vgl. Offe 1977: 146).
♦
Während die beschriebenen Partizipationsmodelle immer eine vermittelnde Instanz zwischen betroffenen Bürgern und der Verwaltung voraussetzen, gilt dies
nicht für die Form der Bürgerinitiative. Bürgerinitiativen werden getragen "... von
dem Verständnis, daß es in einem pluralistisch regulierten Interessenausgleich
hauptsächlich auf eine wirkungsvolle Darstellung der Berechtigung eigener Vorstellungen und Wünsche ankommt" (Schmidt-Relenberg u.a. 1973: 53). Bürgerinitiativen sind demnach vom Anspruch her selbstorganisiert und von ihrer inhaltlichen Orientierung auf ein spezifisches Thema konzentriert, das häufig aber auch
erst dann öffentlich artikuliert wird, wenn ganz zentrale Planungsentscheidungen
bereits getroffen sind.
♦
Im Gegensatz zur Bürgerinitiative, die eher als eine Bewegung von "unten" anzusehen ist, wird die Planungszelle von der Verwaltung organisiert. Dabei werden
nach einem Zufallsverfahren 25 Bürger ausgewählt, die - von 2 Fachleuten und 2
Prozessbegleitern unterstützt - für 3 Wochen an einer Planungsaufgabe arbeiten
(Dienel 1978). Hierdurch sollen die Schwächen bisheriger Partizipationsverfahren
wie z.B. der geringe Informationsstand oder die ungleiche Berücksichtigung verschiedener Sozialschichten gemildert werden: "... die langfristigen Effekte liegen
angeblich bei der Umstrukturierung schichtenspezifischer Machtverhältnisse, einer
Neuverteilung der Rollen im politischen Teilsystem und einer Weiterentwicklung
politischer Kultur" (Korte 1986: 61). Kritisiert wurde an diesem Modell der tendenziell systemstabilisierende Charakter durch den Interessen und Vorschläge, die
nicht in das System der Planung "passen" nur schwer artikulierbar sind (Korte
1986: 62).
♦
Ähnliche Probleme können sich auch im Modell des Beirats ergeben. Seine Mitglieder setzen sich aus Vertretern verschiedener Gruppen (z.B. Eigentümer, Mieter, Arbeitnehmer des angesiedelten Gewerbes) zusammen und werden nach einem bestimmten Proporzsystem von der planenden Verwaltung berufen. Im Unterschied vor allem zu Bürgerinitiativen ist die Arbeit des Beirats nicht öffentlich,
sondern dient der Beratung von Verwaltung und Politikern. Neben der eingeschränkten öffentlichen Interessenartikulation ergibt sich als Problem die oftmals
fehlende Repräsentanz unterprivilegierter Schichten (Herlyn u.a. 1976: 116 f.).
♦
Im Kontrast zum Beirat dient das Bürgerforum weniger der Beratung von Verwaltung sondern der Stimulierung einer Artikulation von stadtplanungsbezogenen n
Iteressen durch eine Intensivierung der öffentlichen Diskussion. Wie z.B. die Erfahrungen des "Münchner Forums" zeigen, konnte aber auch mit diesem Modell nicht
das allen Partizipationsverfahren inhärente Problem gelöst werden, auf welche
Weise das Informations- und Machtgefälle zwischen Verwaltung und betroffenen
13
Bürgern wesentlich reduzierbar oder aufzuheben ist (Herlyn u.a. 1976: 118 f.; Offe
1977: 150 f.). Dieses Problem verstärkt sich vor allem dadurch, "... daß diejenigen
Bevölkerungsgruppen, bei denen die größten bzw. vielfältigsten sozialen Probleme zu vermuten sind, von sich aus am wenigsten befähigt sind, ihre Bedürfnisse
politisch zu artikulieren" (Kaufmann u.a. 1979: 512).
Anzunehmen ist, dass viele dieser Modelle für die gegenwärtige Situation ostdeutscher Neubauquartiere ungeeignet sind. Beer (1997: 217 ff.) stellt auf der Basis empirischer Untersuchungen beispielsweise fest, dass viele Bewohner skeptisch sind
gegenüber einzelnen Interessenvertretern, die für sich in Anspruch nehmen, dass sie
die Interessen der Bürger eines Stadtteils z.B. gegenüber der Verwaltung oder großen Wohnungsgesellschaften vertreten. Auch die Planungszelle ist nur in einer bestimmten Phase der Stadtteilentwicklung sinnvoll einsetzbar und hat im übrigen den
Nachteil, dass durch sie keine Quartiersöffentlichkeit hergestellt wird. Erfahrungen
mit Beiräten zeigten eine selektive, nicht auf das gesamte Quartier ausgerichtete
Perspektive und nur eine mittelfristige zeitliche Orientierung. Modelle der Anwaltsplanung richten sich eher auf die Interessen unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen
und Bürgerinitiativen dienten häufig eher der Abwehr geplanter Maßnahmen nicht
aber der aktiven Mitgestaltung von Planungsprozessen.
Gleichzeitig führen oftmals eine ungenügende Vernetzung von Planungs- und Beteiligungsprozessen ohne Zusammenarbeit der Akteure, eine fehlende Kontinuität mit
starker Ungleichzeitigkeit von Planung und Realisierung sowie eine fehlende Bereitschaft, überhaupt Planung „von unten“ zuzulassen zu einem Misslingen von beteiligungsorientierten Planungsprozessen (vgl. Beer 1997: 226 f.).
Vor diesem Hintergrund ist wahrscheinlich, dass für die ostdeutschen Großsiedlungen Beteiligungskonzepte zu entwickeln sind, die spezifische Modalitäten in der Entwicklungsgeschichte, Bevölkerungsstruktur und der Identifikation mit dem Wohngebiet zu berücksichtigen haben. Beer (1997: 219 ff.) nennt dazu vor allem dialogorientierte Instrumente wie z.B.
„Gemeinsame Hofbegehungen und Spaziergänge im Stadtteil, um die Defizite gemeinsam zu begutachten und erste Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten
- ‚Talk im Wohngebiet’ - Veranstaltungen zu sozialen Themen ‚Älter werden und Alt
sein im Wohngebiet’ oder ‚Sport und Gesundheit im Wohngebiet’ etc.,
- Bewohnerbefragung und Interviews,
- Einwohnerfragestunden,
- Auswertung von Schulaufsätzen und Darstellung der Ergebnisse,
- Bürgerversammlungen,
- Ausstellungen zum Rahmenplan und zu Wohnumfeldmaßnahmen“ (Beer, 1997:
219).
-
Als eine angemessene Beteiligungsform nennt sie das Bürgerforum (siehe oben), in
dem alle Beteiligten in einem kontinuierlichen Prozess und mit Entscheidungsmacht
ausgestattet die Zukunft des Wohngebiets planen. Dabei kann es z.B. um folgende
Themen gehen:
„Verdichtung durch zusätzlichen Wohnungs- und Gewerbebau,
- Veränderung der verkehrlichen Situation in den Wohngebieten,
- funktionale Ergänzungen durch zusätzliche Dienstleistungen und soziokulturelle
Einrichtungen,
- Freiraumkonzepte und Verbesserung der ökologischen Qualitäten,
- Verhältnis von Wohnungsbaugesellschaft bzw. -genossenschaft zu den Mietern“
(Beer, 1997: 220).
-
14
Grundsätzlich gilt für gelingende Beteiligungsprozesse, dass sie die Bewohner zu
einem frühen Zeitpunkt in einem kontinuierlichen Austausch zwischen allen Interessenvertretern und ausgestattet mit Fähigkeiten zur Mitentscheidung in die aktive
Gestaltung des Wohnquartiers einbeziehen. Dies kostet viel Zeit und Geld, vermeidet
aber zahlreiche Folgeprobleme, die erheblich kostenintensiver sein können. So zeigen alle Erfahrungen mit städtischen Entwicklungsprozessen, dass eine eigene aktive Gestaltung der sozialräumlichen Umwelt durch die Bewohner ihre Identifikation
mit dem Wohngebiet erhöht und Vandalismus, Kriminalität sowie Wegzugsabsichten
reduziert (vgl. auch Rietdorf 1997: 49).
Die Frage, welches Modell der Bürgerbeteiligung das geeignete ist, hängt ab von den
spezifischen Potenzialen und Problemen des Wohngebietes. Kein stadtteilorientierter
Ansatz wird arbeitsfähig sein, ohne diese herausgefunden zu haben. Geeignet dafür
ist das Konzept der aktivierenden Befragung (vgl. Hinte / Karas 1989: 41 ff.). Dabei
ist die Kooperation von Bewohnern, Wissenschaftlern und Praktikern beim Design,
der Durchführung und Auswertung einer Befragung zum Wohngebiet in jedem Fall
notwendig. Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht als "Forschungsobjekte" betrachtet, sondern es wird eine gleichwertige Subjektbeziehung zwischen den Forschern und den Betroffenen angestrebt.
In diesem Sinne setzt sich aktivierende Befragung insgesamt zum Ziel, in einem sozialen Beziehungsgefüge zwischen Forschern, Betroffenen und Experten eine wissenschaftliche Analyse des Wohngebietes durchzuführen und auf der Basis der Ergebnisse Veränderungsprozesse in Gang zu setzen. Diese Prozesse werden dann
wiederum beschrieben und auf ihre Effektivität zur Lösung eines bestimmten Problems hin kontrolliert.
Über die ursprüngliche Intention der Gemeinwesenarbeit, eine Machtentwicklung von
„unten“ zu erreichen gehen neuere Ansätze hinaus. Der Ansatz stadtteilbezogener
sozialer Arbeit sieht die staatlichen Institutionen nicht grundsätzlich als Gegner, sondern als Bündnispartner an. Die stadtteilbezogene soziale Arbeit übernimmt vor diesem Hintergrund nicht grundsätzlich parteiliche sondern primär moderierende Funktionen (vgl. Hinte 1985). Dabei ist es auch ein Ziel dieses Ansatzes, den ASD stärker
sozialräumlich zu orientieren (vgl. Oelschlägel 2001: 657).
Diese Ansätze können Bestandteile einer übergreifenden institutionellen Vernetzung
sein. So wird von den systemischen und ganzheitlichen Konzepten im Rahmen sekundärer Netzwerke eher erwartet, dass sie den zunehmend komplexen Anforderungen an die Leistungsfähigkeit sozialer Dienste gerecht werden. Dies impliziert nicht
nur eine qualitativ bessere, sondern auch eine ökonomisch effektivere soziale Arbeit.
Einrichtungen zu vernetzen heißt in diesem Sinne, die unterschiedlichen Handlungsweisen zum Wohle der Zielgruppen und ökonomisch effizienter zusammenzuführen.
Vernetzung setzt eine genaue Kenntnis der Problematik und der Ressourcen des
Stadtteils und an der Problemlösung beteiligter Institutionen voraus, insbesondere
hinsichtlich ihrer finanziellen, personellen und organisatorischen Ausstattung sowie
ihrer inhaltlichen Programmatik. Transparenz der Konzepte, klare administrative und
pädagogische Verantwortlichkeiten sowie eine dauerhafte und ernsthafte Motivation
aller Beteiligten sind erforderlich, damit eine Vernetzung wirksame Effekte für das
Wohngebiet nach sich zieht. Dabei gilt es zahlreiche Hindernisse zu überwinden:
"Statt einen fachlichen Meinungsaustausch zu führen, werden Statements abgegeben, häufig bleibt
unklar, um was es geht, was veranlaßt werden soll und wer Verantwortung übernimmt. Wechselseitige
Blockaden von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung werden so zu einem Hindernis für die
angestrebte Kooperation" (Hege/Schwarz 1992: 193).
15
Als Weiterentwicklung zur Gemeinwesenarbeit sind auch Projekte der Gemeinwesenökonomie zu erwähnen (vgl. Oelschlägel 2001: 658). Ihr Ziel ist eine ökonomische Stärkung des Stadtteils. Sie berücksichtigen beispielsweise, dass die Bewohner
benachteiligter Stadtteile angesichts hoher Arbeitslosenquoten oftmals viel Zeit aber
wenig Geld haben – eine Überlegung, die zur Gründung zahlreicher Tauschringe
führte. In diesen wird Zeit und nicht Geld als Gegenleistung für Dienstleistungen geboten. Die Bewohner unterstützen sich wechselseitig nach eigenen Bedürfnissen
bzw. Fähigkeiten und Kräften.
Die hier vorgestellten Ansätze münden in einen umfassenden Ansatz des Quartiersmanagements. Hier kommen sowohl sozialwissenschaftliche und sozialarbeiterische
wie auch stadtplanerische und administrative Aufgaben zusammen. Es geht um Aktivierung, um Vernetzung, Mittelbeschaffung und Projektinitiierung. Quartiersmanager
verstehen sich als Koordinatoren und Moderatoren, sie sind intermediäre Instanzen;
im Idealfall gelingt es ihnen, die Kräfte aller Beteiligten aufeinander abzustimmen und
zu bündeln, Synergieeffekte zu erzeugen und so die Entwicklung des Wohngebiets
sichtbar voranzubringen. Im Problemfall sitzen Quartiersmanager zwischen allen
Stühlen.
„Der Quartiermanager (oder die Quartiermanagerin) bildet die Schnittstelle zwischen
den beteiligten Akteuren mit dem Ziel der Vernetzung und Integration, um langfristig
eine eigenständig tragfähige Entwicklung des Quartiers herzustellen. Er arbeitet und
bewegt sich also im Spannungsfeld zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und anderen Akteuren im Stadtteil, der Verwaltung und Politik, Wirtschaft, Sozial- und Beschäftigungspolitik und weiterer Öffentlichkeit. Insofern nimmt er eine intermediäre
Rolle ein“ (Arbeitspapiere 2001: 2) .
1.4 Ausgangsüberlegungen und Fragestellungen des Forschungsprojekts
Unser Untersuchungsstadtteil Winzerla war wie viele ostdeutsche Neubauquartiere
bis zur Wende ein attraktives und sozial durchmischtes Wohngebiet. Heute droht
auch Winzerla zunehmend das Schicksal sozialer Entmischung, sozialer Randständigkeit, leer stehenden Wohnraumes und kultureller wie wirtschaftlicher Verödung.
Es besteht die Gefahr, dass viele soziale und nachbarschaftliche Ressourcen an Bedeutung verlieren, stadtteilnahe Dienstleistungs- und Gewerbebetriebe in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten und vor allem jüngere Menschen ihren Stadtteil zunehmend als unattraktiv erfahren.
Eine Schwächung sozialer Netzwerke hätte entsprechende Konsequenzen für die
Alltagsorganisation von Familien und anderen Lebensformen. Es stellt sich somit die
Frage, wie die Bewohner Winzerlas die alltäglichen Lebensbedingungen im Stadtteil
sowohl mit Blick auf die sozialen Beziehungen, als auch hinsichtlich der eigenen privaten Lebensweise beurteilen.
Die problematischen Veränderungen randstädtischer Neubausiedlungen in Westund Ostdeutschland wurden in Abschnitt 1.2 bereits dargestellt. Gleichzeitig deuten
sich in den Neubauquartieren der neuen Bundesländer und so auch in Winzerla aber
noch eine ganze Reihe von sehr wichtigen Potenzialen an, auf deren Basis es gelingen könnte, die vermuteten negativen Entwicklungen aufzufangen. Insbesondere ist
die vergleichsweise lange Wohndauer im Stadtteil zu nennen. In der Folge und unter
den spezifischen Bedingungen vor der Wende haben sich zahlreiche Kontakte herausgebildet, die zu einer vergleichsweise hohen Identifikation mit Nachbarschaft und
Stadtteil führen. Unser Ziel war es, empirisch genau herauszufinden, wo die Potenzi16
ale des Stadtteils Winzerla liegen, um entsprechende Strategien zu ihrer Stärkung
entwickeln zu können.
Im Hintergrund steht die Frage, inwiefern es gelingt, vorhandene Netzwerke und
Gemeinschaften zu erhalten und zu festigen. Kann das sozialräumliche Milieu in
Winzerla einen Filter bieten für die Konsequenzen des gesamtgesellschaftlichen
Umbruchs oder wird es, da es sich selbst radikal verändert, solche Entwicklungen
noch verstärken (vgl. Keim 1979; Hradil 1995: 13)? So ist durchaus denkbar, dass es
in der Folge gesamtgesellschaftlicher Strukturveränderungen zu einer Potenzierung
sozialer Ungleichheiten kommen kann, die unter anderem an folgendem ‘Auflösungssyndrom’ festgemacht wird: “Es kommt zur Emanzipation, aber noch mehr zur
Segregation, die als Vorruhestand die Älteren, als Arbeitslosigkeit die Arbeiter und
als Rückkehr in die Familie die Frauen trifft und für die meisten einen empfindlichen
Statusverlust bedeutet” (Vester 1995:42).
Es ist davon auszugehen, dass nicht nur Arbeitslosigkeit sondern bereits die zunehmende Konkurrenz im Erwerbssektor ‘Gift’ für soziale Netzwerke ist. Es ist schwer
vorstellbar, dass zwei Nachbarn, die im Betrieb um den gleichen Arbeitsplatz konkurrieren, außerhalb des Betriebes gute Freunde sind und sich gegenseitig unterstützen. Vielmehr wird durch Arbeitslosigkeit und Konkurrenz der bereits beschriebene
Rückzug aus der städtischen Öffentlichkeit in den privaten Wohnbereich zusätzlich
verstärkt, zumal formalisierte Kontaktanlässe abgenommen haben und Freizeit außer
Haus teuer geworden ist.
Vor diesem Hintergrund werden sich auch in Jena Modernisierung und Deklassierung parallel entwickeln. "Die Modernisierung der Sozialstruktur vermittelt also insgesamt die gespaltene Erfahrung zwischen ‘Individualisierung’ und ‘Deklassierung’: der
Öffnung des sozialen Raums in der sicheren Mitte und der privilegierten Spitze steht
die Schließung für jene gegenüber, die in dieser Mitte ihre Sicherheiten verlieren oder gar in prekäre Lebensverhältnisse absteigen müssen” (Vester 1993:47).
Es besteht starker Anlass zu der Vermutung, dass der Stadtteil Winzerla ebenso wie
das Neubauquartier Lobeda eher als andere Jenaer Stadtteile von langfristigen Deklassierungstendenzen bedroht sind. Solche Tendenzen lassen sich in fast allen
stadt- und industriesoziologischen Untersuchungen der neuen Bundesländer belegen
(vgl. z.B. Herlyn / Bertels 1994; Lange / Schöber 1993; Richter / Förster / Lakemann
1997). Sie werden gerade dort besonders ausgeprägt sein, wo die ökonomischen,
räumlichen und sozialen Strukturen ohnehin geschwächt sind und den gesamtgesellschaftlichen Problemen nur wenig entgegenzusetzen haben. Dies gilt in Jena vor
allem für die randstädtischen Neubauquartiere Lobeda und Winzerla.
Auch innerstädtisch wird die soziale Ungleichheit steigen, wenn nicht die Potenziale
der vom "Absinken" bedrohten Stadtteile rechtzeitig genutzt werden (vgl. Friedrichs
1995). Es wird Stadtteile geben, die von ihrem baulichen Erscheinungsbild und ihrer
Sozialstruktur eine Aufwertung erfahren, andere werden einer Abwertung unterliegen. Angesichts einer stadtteilspezifischen Differenzierung von Sanierung und Mieten wird es zu einer Umsetzung bzw. Verdrängung ‘wenig solventer’ Bevölkerungsschichten aus "besseren" Wohnquartieren kommen, wie es seit den 60er Jahren in
Westdeutschland feststellbar war (vgl. Tessin u.a. 1983). Solche Prozesse führen zu
einer schwerwiegenden Konzentration von Arbeits- und Wohnungsproblemen insbesondere in Neubauquartieren wie Winzerla.
Wie weit die in Winzerla noch vorhandenen sozialen Netzwerke genutzt und gestärkt
werden können und wie weit die Institutionen und politischen Gremien bereit sind,
diesen Prozess zu stützen, ist noch weitgehend offen. Im Rahmen weitergeführter
17
und begleiteter Gemeinwesenarbeit wäre der Versuch möglich, solche Prozesse gezielt mit zu unterstützen und ihren Verlauf für weitere vergleichbare Projekte der
Stadtteilkultur- und Gemeinwesenarbeit zu beobachten und auszuwerten. Unsere
Untersuchung liefert dazu anhand einer Bewohnerbefragung und durch zahlreiche
Expertengespräche die empirischen Grundlagen.
2. Methoden der Datenerhebung und –analyse
Eine quantitative und eine qualitative Forschungsstrategie ist in Kombination miteinander am ehesten geeignet, die zum Teil komplexen Zusammenhänge in einem
Stadtteil abzubilden. Wir entschieden uns in einem ersten Arbeitsschritt für eine Bevölkerungsbefragung mit dem Ziel, quantitative Aussagen über Winzerla aus der
Sicht seiner Bewohner zu machen und quantitative Grundlagendaten über die Strukturen im Stadtteil zu erarbeiten.
2.1 Bevölkerungsbefragung im Stadtteil Winzerla
Gemeinsam mit Vertretern des Stadtplanungsamtes und des Jugendamtes wurde für
die Bevölkerungsbefragung ein Fragebogen entwickelt. Grundlage dafür waren die in
den Jahren 1995 und 1996 durchgeführten Bevölkerungsbefragungen in Lobeda
West und Lobeda Ost, die entsprechend der Stadtteilproblematik erweitert und modifiziert wurden1. Der Fragebogen umfasst neben anderen vor allem die folgende Fragekomplexe:
Freizeit: Freizeitumfang, Freizeitaktivitäten und die Nutzung von Freizeitangeboten
in Winzerla
Freiflächen: In welchem Ausmaß werden Grünflächen, Spielplätze und Parkplätze
genutzt? Welche Verbesserungswünsche gibt es?
Nachbarschaftsbeziehungen und soziale Netzwerke: Wie stellen sich Nachbarschaftsbeziehungen in Ausmaß und Qualität dar; wie haben sie sich verändert?
Selbsthilfe: Welche Selbsthilfepotenziale gibt es in Nachbarschaft und Stadtteil?
Abweichendes Verhalten und Subkulturen im Stadtteil: Wie stark ist das Ausmaß
von Kriminalität und Zerstörung im Stadtteil? Werden (jugendliche) Subkulturen von
den Einwohnern des Stadtteils als störend empfunden?
Einschätzung des Stadtteils als Lebensraum: Wie stark ist die Identifikation mit
dem Stadtteil und wie stark sind Umzugswünsche ausgeprägt?
Gemeinsam mit dem Stadtplanungsamt wurde das gesamte Neubauquartier in sieben Teilquartiere unterteilt, die sich in Entstehungszeitraum, Bebauungsdichte, Lage
im Stadtteil und ähnlichen Merkmalen unterscheiden und eine unterschiedliche Beantwortung der Fragen vermuten ließen (vgl. Abbildung 1).
1 Lakemann 1995, 1996
18
Abbildung 1: Stadtteil Winzerla
Quelle: Stadt Jena. Dezernat Stadtplanung und Bauwesen. Stadtplanungsamt: Lebendiges
Wasser lebendige Stadt. Ideenwerkstatt zur Wasserachse Jena - Winzerla. Jena 2001, S. 3
19
Diese Zonen lassen sich folgendermaßen charakterisieren:
Zone 1: Altneubaugebiet
Zone 2: Direkter Bezug zum Landschaftsraum
Zone 3: Privatisierungsgebiete der SWVG
Zone 4: Nördliches Randquartier
Zone 5: Quartiere an der Siemsenstraße (stark verdichtet)
Zone 6: Wohngebiet an der Wasserachse
Zone 7: Städtebaulich monotonstes Gebiet.
Studierende des Fachbereichs Sozialwesen führten die Interviews im Sommer und
Herbst 2001 durch. Die Befragung fand in 2er Teams statt. Die Anzahl der jeweiligen
Interviews wurde quotiert nach der geschätzten Einwohnerzahl in den einzelnen Zonen. Innerhalb dieser Gebiete wurde jedem Team ein begrenzter Aktionsradius von
200 bis 300 Haushalten zugewiesen. In diesem Rahmen erfolgte die Auswahl der
Interviewpartner nach dem Zufallsprinzip („random route Verfahren“) und wurde beginnend von der oberen Etage eines Hauses in jedem fünften Haushalt durchgeführt.
Kam hier kein Interview zustande, wurde im sechsten, siebenten usw. nachgefragt,
bis Interviewbereitschaft vorlag. Von da an wurden wiederum die Bewohner des darauf folgenden fünften Haushalts angesprochen. Auf diese Weise bekamen wir in
Winzerla insgesamt 337 Interviews .
Zusammensetzung der Stichprobe
Als sozio-demografische Grundlagendaten und mit Blick auf die Repräsentativität
unserer Untersuchung lassen sich die folgenden Aussagen zur Stichprobe machen:
Alter
Wie auch die folgende Abbildung zeigt, ergibt sich im Hinblick auf die Altersverteilung
unserer Stichprobe im Vergleich zur Gesamtbevölkerung des Stadtteils folgendes
Bild:2
Abbildung 2: Alter der Bevölkerung in Winzerla und Stichprobe im Vergleich
>65 Jahre
60<65 Jahre
45<60 Jahre
27<45 Jahre
25<27 Jahre
18<25 Jahre
16<18 Jahre
0%
5%
10%
15%
20%
25%
30%
35%
40%
16<18
Jahre
18<25
Jahre
25<27
Jahre
27<45
Jahre
45<60
Jahre
60<65
Jahre
>65 Jahre
Stichprobe
5,3%
17,5%
3,3%
29,7%
16,0%
8,3%
16,6%
Winzerla
4,1%
12,2%
2,5%
34,0%
24,8%
7,9%
14,5%
2 Bei der Berechnung werden nur BewohnerInnen bzw. Interviewte ab 16 Jahren berücksichtigt (vgl.
Jenaer Statistik, Quartalsbericht IV/2000; 10. Jg., Heft 37: 45/ Stand 31.12.2000)
11 der von uns Befragten waren unter 16 Jahren.
20
3,3% aller Befragten waren unter 16 Jahren alt. Sie wurden in diesem Vergleich nicht
berücksichtigt. Unsere jüngste Interviewpartnerin war 12 Jahre alt; unser ältester Interviewpartner zählte 95 Jahre.
Etwas unterrepräsentiert sind in unserer Befragung die Altersgruppen der erwerbstätigen Bevölkerung von 27 bis 45 Jahren (4,3% weniger) und 45 bis 60 Jahren (8,8%
weniger). Die Ursache dafür ist wahrscheinlich in den Interviewzeiten zu finden, die
schwerpunktmäßig am Tag und nur selten in den späteren Abendstunden lagen. Besonders junge Leute zwischen 18 und 25 Jahren nahmen demgegenüber überproportional oft (5,3% mehr) an den Interviews teil.
Geschlecht
An unserer Befragung haben sich mehr Frauen als Männer beteiligt. Knapp zwei Drittel aller Interviewten waren weiblich. Dies sind 9,4% mehr als in der Bevölkerung
Winzerlas. Der höhere Anteil der Frauen in der Stichprobe konnte auch schon bei
den Befragungen in Lobeda Ost und Lobeda West festgestellt werden. Möglicherweise ist das auf eine stärkere Bindung der weiblichen Bevölkerungsteile an den
Haushalt aufgrund eingeschränkter Erwerbstätigkeit und umfangreicherer Kinderbetreuung zurückzuführen. Da Frauen und Kinder, anders als die meist außerhalb
des Stadtteils arbeitenden Männer, die Hauptnutzer des Lebensraums Stadtteil sind,
können sie diesen auch am besten einschätzen. Eine stark verzerrende Einschränkung der Repräsentativität unserer Stichprobe ergibt sich daraus nicht.
Abbildung 3: Geschlechterverteilung Stichprobe und Stadtteil im Vergleich
70%
60%
61,7%
50%
52,3%
47,7%
40%
38,3%
30%
20%
10%
0%
männlich
weiblich
Stichprobe
Winzerla-gesamt
Insgesamt wurde bei der Stichprobe eine annähernde Repräsentativität erreicht, die
durch die flächendeckende räumliche Streuung der Interviews im Stadtteil noch gestärkt wird. Weitere Vergleichsdaten zur Bevölkerung Winzerlas liegen leider nicht
vor.
21
Erwerbstätigkeit
61,9% aller Befragten unserer Stichprobe waren nicht erwerbstätig; die meisten davon Rentner/ Vorruheständler, Arbeitslose sowie Studenten und Schüler. 38,1% gaben an erwerbstätig zu sein; die meisten davon in unbefristeter Anstellung.
Abbildung 4: Erwerbsstatus der Befragten (N=334)
selbständig
Sonstiges/ erwerbstätig
in Ausbildung
in Umschulung
Hausmann/Hausfrau
in befristeter Anstellung
Rentner/ Vorruheständler
in unbefristeter Anstellung
Student
arbeitslos
Schüler
Sonstiges nicht erwerbstätig
Babyjahr
nicht Erwerbstätige
: 61,7%
Erwerbstätige
: 38,3%
Insgesamt gaben nur 13,5% der Befragten unserer Stichprobe an, arbeitslos zu sein.
Das sind etwas mehr als im Gesamtdurchschnitt der Stadt3 und weniger als im Stadtteil Winzerla 4.
3 Die Arbeitslosenquote der Stadt Jena betrug im ersten Quartal 2001 zwischen 12,6% und 13,1%
(vgl. Jenaer Statistik; Quartalsbericht I/2001: 16)
4 im Durchschnitt mehr als 20,1% im Jahr 2001
22
Haushaltssituation
Betrachtet man die Größe der Haushalte in unserer Stichprobe so ergibt sich folgendes Bild (vgl. auch Abbildung 5):
•
•
•
•
•
Ein Viertel aller Befragten (24,9%) leben allein in der Wohnung.
31,3% zusammen mit noch einer weiteren Person im 2-PersonenHaushalt;
24,4% in einem 3-Personen- Haushalt und
16,7% in einem 4 Personen- Haushalt sowie
3% mit 5 oder mehr Personen gemeinsam.
Abbildung 5: Größe der Haushalte in unserer Stichprobe
Haushaltsgröße (Anzahl der Personen)
35%
30%
31,2%
25%
24,9%
24,6%
20%
15%
16,3%
10%
5%
3%
0%
1 Person
2 Personen
3 Personen
4 Personen
5 und mehr
Personen
Ein Viertel aller Befragten lebt in Singlehaushalten; ein knappes Drittel mit einer und
etwa ein Viertel zusammen mit zwei Personen. In fast jedem zweiten Haushalt unserer Stichprobe leben Kinder. In mehr als einem Fünftel dieser Haushalte werden die
Kinder von nur einem Elternteil erzogen.
Abbildung 6: Familienstatus der Befragten (N=337)
Sonstiges
0,3%
WG
6,5%
Single
24,9%
Ehe/
Lebensgemeinschaft
23,1%
Familie mit Kindern
35,0%
Alleinerziehende mit
Kindern
10,2%
23
Wohndauer
Die Befragten leben im Durchschnitt seit 10 Jahren im Stadtteil. Setzt man das in
Bezug zum Baubeginn der Siedlung kann davon ausgegangen werden, dass der
Großteil der von uns befragten Winzerlaer Erstbezieher der neu gebauten Häuser
waren. Mehr als ein Viertel lebt weniger als 5 Jahre hier; 7,8% weniger als 1 Jahr.
Ein knappes Drittel aller Befragten gibt eine Wohndauer zwischen 10 und 15 Jahren
an (vgl. auch Abbildung 7).
Abbildung 7: Wohndauer in Winzerla
15-20 Jahre
19,4%
20 Jahre
und mehr
6,6%
10-15 Jahre
31,6%
0-1 Jahr
7,8%
1-5 Jahre
19,4%
5-10 Jahre
15,2%
Mehr als die Hälfte aller Interviewten wohnt weniger als 12 Jahre im Stadtteil und ist
dementsprechend erst nach der politischen „Wende“ dorthin gezogen.
Betrachtet man ergänzend dazu die Wohndauer in der Wohnung, so zeigen sich die
folgenden Ergebnisse: Die durchschnittliche Wohndauer in der Wohnung beträgt 8
Jahre; etwas mehr als jeder Zehnte Befragte lebt erst seit einem Jahr oder weniger in
seiner derzeitigen Wohnung. Ein Viertel aller Befragten ist innerhalb des Stadtteils
mindestens einmal umgezogen.
24
Abbildung 8: Wohndauer in der Wohnung
0-1 Jahr
12,5%
15-20 Jahre
17,5%
1-5 Jahre
8%
10-15 Jahre
27,5%
5-10 Jahre
13,1%
Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse zur sozio-demografischen Struktur unserer Stichprobe eine annähernde Repräsentativität in Alter und Geschlecht, wobei die
mittleren Alterskategorien etwas unterrepräsentiert, die Frauen etwas überrepräsentiert sind. Fast zwei Drittel der Befragten sind nicht erwerbstätig. Ein Viertel sind Singles; die Familie mit Kindern ist zu einem Drittel vertreten. Mehr als die Hälfte der
Befragten lebt seit mindestens 10 Jahren in Winzerla. Auch die durchschnittliche
Wohndauer in der Wohnung ist mit acht Jahren recht lang. Neben den quantitativen
Daten wurden in unserer Untersuchung auch qualitative Daten über Winzerla im
Rahmen von Experteninterviews erhoben.
2.2 Experteninterviews
Der zweite Forschungsschritt umfasste insgesamt 21 qualitative Experteninterviews
vor allem mit Vertretern stadtteilansässiger sozialer Vereine, Einrichtungen und Organisationen, Vertretern von Handel und Gewerbe, den beiden großen Wohnungseigentümern und Verantwortlichen in Ämtern. Dazu waren im Vorfeld aus dem umfangreichen Datenmaterial der Winzerlaer Bevölkerungsbefragung besonders prägnante
Ergebnisse zu einem übersichtlichen Thesenpapier zusammengefasst und versandt
worden. Ziel der Experteninterviews war neben einer Validierung der gewonnenen
quantitativen empirischen Ergebnisse besonders eine Diskussion möglicher praktischer Umsetzungsperspektiven sowie eine Analyse der sozialen Arbeit von Vereinen
und Einrichtungen im Stadtteil.
Die Expertengespräche erfolgten als leitfadengestütztes offenes Interview, wurden
auf Tonband aufgezeichnet und anschließend protokolliert. Neben der spezifischen
Funktion der Einrichtung im Stadtteil wurden eine Stellungnahme zu den Ergebnissen der Bevölkerungsbefragung, die individuelle Sichtweise auf den Stadtteil, seine
Probleme, und mögliche Entwicklungsperspektiven erhoben.
25
3. Der Stadtteil Winzerla
Winzerla ist eines von drei großen Neubauquartieren der Stadt Jena. Es befindet
sich ca. 4 Kilometer südwestlich vom Stadtzentrum zwischen dem Dorf Winzerla und
der Siedlung Ringwiese und wurde an einem nach Nordosten geneigtem Hang mit
Ausblick ins Saaletal und auf die gegenüberliegenden Muschelkalkhänge errichtet.
Im direkten Umfeld des Stadtteils befinden sich schnell erreichbaren Wälder und Täler sowie zahlreichen Quellen. Günstig wirken sich die Nähe zur Oberaue mit ihren
zahlreichen Sport- und Freizeitmöglichkeiten sowie einem Badesee und die vielen in
der Peripherie und im nahen Umfeld entstandenen Kleingartenanlagen aus.
Abbildung 9: Winzerla und die Stadt Jena
Zentrum
Winzerla
26
Winzerla ist mit dem Stadtzentrum und den anderen Wohngebieten durch Straßenbahn- und Buslinien verbunden. Großräumige Verkehrsachsen sind durch den Autobahnanschluss und den Bahnhof Göschwitz in kurzer Zeit erreichbar.
3.1 Entstehung des Stadtteils
In den Jahren 1969 bis 1973 entstand im Süden übergangslos bis unmittelbar an die
noch vorhandenen kleinteiligen dörflichen Strukturen des alten Weinbauerndorfs
Winzerla ein erstes Wohngebiet in 5-geschossiger Montagebauweise mit Kinderkombination, Schule und Kaufhalle. Das Gebiet war für 1225 Wohnungen konzipiert.
Heute wird es das „Altneubaugebiet“ genannt.
Nach dem Bauende in den Neubaugebieten Lobeda Ost und Lobeda West im Jahre
1982 konzentrierte sich die weitere Bautätigkeit zwischen Stadtzentrum und Südrand
der Stadt. In einem ersten Bauabschnitt von 1981-1986 entstanden auf dem Gebiet
zwischen dem Zentrum des Stadtteils und dem Altneubaugebiet insgesamt 2625
Wohnungen in vorrangig 6-geschossigen Häusern mit einem hohen Anteil an 3- und
4-Raum- Wohnungen.
Von 1985 bis 1986 wurde in nordwestlicher Richtung der zweite Bauabschnitt mit
insgesamt 1302 Wohnungen abgeschlossen. Hier dominieren 2- und 3- Raum- Wohnungen. Durch die Installation von Fahrstühlen konnten die kleinteiligen Wohneinheiten als altersgerechter Wohnraum genutzt werden.
Der dritte Bauabschnitt bildet den Abschluss des Gebiets nach Nordwesten und wurde bis 1990 nur noch teilweise realisiert. Hier entstanden 1348 Wohnungen in überwiegend 6-geschossigen Häusern.
Wie auch in anderen Städten der ehemaligen DDR entstanden die in Großplattenbauweise errichteten Gebäude mit nahezu identischem Erscheinungsbild und nur
wenig gestalterischem Spielraum. Während im so genannten Altneubaugebiet das
einzige Unterscheidungsmerkmal die Länge der jeweiligen Gebäude war, eröffnete
sich mit der Einführung einer neuen Wohnungsbauserie (WBS 70) ein etwas größerer Gestaltungsspielraum, der zur Ausbildung verschiedener Gebäudetypen und
Raumstrukturen beitrug. Ziel der Wohnungsbaukonzeption war es, durch die Unter27
brechung an geeigneten Stellen eine Blickbeziehung in den landschaftlichen Nahraum zu schaffen.5
Die Bautätigkeit nach der politischen Wende 1989 konzentrierte sich nicht mehr vorrangig auf den Wohnungsbau, sondern auf die Errichtung von Handels- und Dienstleistungseinrichtungen wie z.B. zwei größeren Einkaufszentren, einer Bank, Parkhäusern u.ä. Diese Neubauten setzen sich besonders durch ihre bauliche Gestaltung
von der Monostruktur des Stadtteils ab.
Der Stadtteil Winzerla ist noch weitgehend unsaniert. Erste entsprechende Maßnahmen der Wohnungseigentümer zur Verbesserung der Wohnqualität wie z.B. Isolierung der Außenwände, Reparaturen, Anbau von Fahrstühlen und Balkonen wurden
aber an einigen Stellen des Stadtteils bereits durchgeführt.
Derzeit gibt es in Winzerla 853 Wohnhäuser mit insgesamt 6273 Wohnungen.6 Die
beiden großen Wohnungseigentümer im Stadtteil sind die Städtische Wohnungsbauund Verwaltungsgesellschaft mbH und die Wohnungsgenossenschaft „Carl Zeiss“.
Einige der Wohnungen sind inzwischen Mietereigentum.
3.2 Bevölkerungsstruktur von Jena und Winzerla im Vergleich.
Derzeit lebt mehr als jeder elfte Jenaer mit Haupt- oder Nebenwohnsitz im Stadtteil
Winzerla.7 Wie auch Abbildung 10 zeigt, sind besonders Kinder und Jugendliche bis
5 Architektur- und Stadtplanungsbüro Helk 1995
6 http //www.jena.de/statistiortsteil/index.html
7 Wohnberechtigte Bevölkerung 2001 (HW und NW): 12.822 lt. Statistikstelle des Einwohnermeldeam-
tes der Stadt Jena
28
18 Jahre und Erwachsene von 35 bis unter 50 Jahren überdurchschnittlich oft hier
zuhause. Die Zahl der Bewohner über 65 Jahren liegt unter dem Stadtdurchschnitt.
Abbildung 10: Altersstruktur der Jenaer Gesamtbevölkerung im Vergleich zur Bevölkerung
Winzerlas (2001)
35%
30%
32,7%
25%
25,8%
25,1%
20%
20,6%
15%
10%
18,5%
18,1%
19,3%
14,6%
13,6%
11,7%
5%
0%
0 bis unter 18 Jahre
18 bis unter 35 Jahre
35 bis unter 50 Jahre
Jenaer Gesamtbevölkerung
50 bis unter 65 Jahre
65 Jahre und älter
Winzerla
Quelle: Statistikstelle des Jenaer Einwohnermeldeamtes 2001; eigene Berechnungen
Die Anzahl der Bewohner mit Nebenwohnsitz in Winzerla hat sich seit 1996 von
3,1% auf 7% im Jahr 2001 mehr als verdoppelt. Die Ursache dafür wird in einer stärkeren Vermietung des preisgünstigen Wohnraums an Studierende vermutet. Trotz
dieser Tendenz liegt die Zahl der Einwohner des Stadtteils zwischen 18 und 35 Jahren deutlich unter dem Stadtdurchschnitt, was eine nur geringe Attraktivität Winzerlas
für diese Altersgruppe vermuten lässt.
Besonders Familien mit Kindern haben im Vergleich zum Stadtdurchschnitt überproportional oft ihren Wohnsitz in Winzerla. Auffällig ist der im Stadtdurchschnitt höchste
prozentuale Anteil an allein erziehenden Elternteilen gemessen an der Gesamtbevölkerung des Stadtteils (5,41%). Der Anteil von Ausländern an der Bevölkerung im
Stadtteil hat sich in den letzten Jahren auf fast 2% erhöht. 8
Da Winzerla als letztes der drei Neubauquartiere errichtet wurde, weist es aufgrund
des so genannten „Durchalterungsprozesses“ den jüngsten Altersdurchschnitt auf.
Das heißt, mit der Errichtung der Siedlung zog eine spezifische Altersgruppe in den
Stadtteil, die überwiegend auch heute noch dort wohnt und den Altersdurchschnitt
(noch) wesentlich prägt.9
Wie auch Abbildung 11 zeigt, ist im Stadtteil Winzerla der Anteil an den Altersgruppen von Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 18 Jahren und der Bewohner
zwischen 27 und 45 Jahren im Vergleich höher als in Lobeda oder Löbstedt. Der Anteil der Bewohner über 65 Jahre ist dementsprechend geringer.
8 Morgenstern 2002
9 Analyse und Konzepte: Stadt Jena 2002
29
Abbildung 11: Altersstruktur in Winzerla, Lobeda Ost und Löbstedt im Vergleich (2002)
35%
30%
25%
20%
15%
10%
5%
0%
0- unter 3
Jahren
3- unter 6
Jahren
Lobeda- Ost
2,1%
1,9%
Löbstedt
2,2%
1,4%
Winzerla
2,0%
1,8%
6-unter 18 18- unter 27 27-unter 45 45-unter 60 60- unter 65
Jahren
Jahren
Jahren
Jahren
Jahren
10,1%
65 Jahre
und älter
16,9%
21,9%
24,4%
7,8%
15,1%
8,6%
8,7%
20,8%
13,2%
15,4%
29,7%
13,1%
14,3%
27,0%
21,0%
7,5%
13,4%
Lobeda- Ost
Löbstedt
Winzerla
Quelle: Statistikstelle der Stadt Jena; eigene Berechnungen
Wie in fast allen Städten der neuen Bundesländer ist auch in Jena die Zahl der Einwohner mit Hauptwohnsitz gesunken. Verantwortlich für diese Entwicklung ist zum
einen der massive Geburtenrückgang seit den neunziger Jahren und zum anderen
die Abwanderung in die alten Bundesländer. Insgesamt stellt sich die Situation in Jena durch die Ansiedlung verschiedener Institute und Wirtschaftsunternehmen und
durch die Zuwanderung von Studierenden noch vergleichsweise positiv dar. Verglichen mit 1990 kam es bis zum Jahr 1997 im gesamten Stadtgebiet zu einem Bevölkerungsverlust von 6,5%10. Seit 1999 steigen die Einwohnerzahlen wieder leicht an.
Das ist aber vor allem auf einen melderechtlichen Effekt zurückzuführen: Die Stadt
Jena übernimmt seit 1999 für Studierende, die ihren Hauptwohnsitz in Jena anmelden die Semesterbeiträge. Im Jahr 2000 fielen allein 36% der Zuzüge in die
Altersgruppe der 18-25jährigen.11
Überproportional stark betroffen vom Bevölkerungsrückgang waren die drei großen
Neubauquartiere der Stadt. Allein in den Jahren 1995-2001 verringerte sich die Bevölkerung mit Hauptwohnsitz in Lobeda Ost um 40,6%, in Lobeda West um 19,1%
und in Winzerla um 16,2% (vgl. auch Abbildung 12). Eine gewisse Entlastung wird
durch den Anstieg der Einwohnerzahlen mit Nebenwohnsitz, vor allem aufgrund der
Vermietungen an Studierende erreicht.
10 Aus Politik und Zeitgeschichte B5/99
11 Analyse & Konzepte: Stadt Jena 2002
30
Abbildung 12: Bevölkerungsentwicklung der drei großen Jenaer Neubauquartiere in den Jahren 1995-2001 (Hauptwohnung; Angaben in Prozent)
120%
100%
97,7%
83,8%
80%
80,9%
60%
59,4%
40%
20%
0%
1995
1996
1997
Jena:
1998
Lobeda- Ost
1999
Lobeda- West
2000
2001
Winzerla
Quelle: eigene Berechnungen auf der Grundlage der Daten der Statistikstelle im Einwohnermeldeamt der Stadt Jena
Eine Folge dieses Bevölkerungsverlusts ist der Leerstand von Wohnraum, der in
Winzerla inzwischen ca. 5%12 erreicht hat. Das hat nicht nur finanzielle Einbußen der
Eigentümer zur Folge, sondern zeigt auch Auswirkungen auf die Lebensqualität in
den Neubauquartieren.
„Wenn man durch die Straßen geht und sieht die ganzen Wohnungen leer stehen, da macht man sich
schon seine Gedanken.“ (EPG 3)
Wie Abbildung 13 zeigt, haben in den Jahren zwischen 1995 und 2001 besonders
Eltern mit Kindern den Stadtteil verlassen: die Zahl der Kinder von 6 bis unter 16
Jahren und der Altersgruppe der Elterngeneration (27 bis unter 45 Jahre) sank kontinuierlich. Der Anteil der älteren Bewohner stieg an.
Abbildung 13: Bevölkerungsentwicklung in Winzerla zwischen 1995 und 2001 nach Altersgruppen
40%
35%
30%
25%
20%
15%
10%
5%
0%
0 bis unter 3 bis unter 6 bis unter 16 bis
3 Jahre
6 Jahre
16 Jahre unter 18
Jahre
1995
1996
18 bis
unter 25
Jahre
1997
25 bis
unter 27
Jahre
1998
1999
27 bis
unter 45
Jahre
2000
45 bis
unter 60
Jahre
60 bis
unter 65
Jahre
65 Jahre
und älter
2001
Quelle: Statistikstelle des Jenaer Einwohnermeldeamtes 2001; eigene Berechnungen
12 Analyse & Konzepte: Stadt Jena 2002
31
4. Grünflächen im Stadtteil
Für eine nähere Charakterisierung des Stadtteils eignet sich zunächst ein Blick auf
die vorhandenen Grünflächen.
4.1 Grünflächen und Bänke im Wohngebiet
Die Ergebnisse unserer Befragung zeigen in dieser Hinsicht einen hohen Grad an
Zufriedenheit. Wie Abbildung 14 verdeutlicht, sind vier Fünftel aller Befragten der Ansicht, es gebe im Stadtteil genügend Grünflächen.
Abbildung 14: Quantitative Ausstattung des Stadtteils mit Grünflächen aus der Sicht der
Bewohner
Frage: Gibt es Ihrer Meinung nach genügend Grünflächen in
Ihrem Wohngebiet?
80,9%
17,9%
1,2%
ja
nein
interessiert mich
nicht
Um die Zufriedenheit mit der Gestaltung dieser Flächen differenziert zu erheben, haben wir im Fragebogen zwischen öffentlichen Grünflächen und solchen in Innenhöfen
unterschieden. Wie Abbildung 15 zeigt, sind zwei Drittel aller Interviewten mit der
Gestaltung der öffentlichen Grünanlagen zufrieden. Die Gestaltung der Grünflächen
in den Innenhöfen wird geringfügig schlechter bewertet.
32
Abbildung 15: Beurteilung der Qualität von Grünflächen im Stadtteil
Frage: Sind sie mit der Gestaltung der Grünflächen zufrieden?
a) in den Innenhöfen (N=325)
b) öffentliche Grünflächen (N=329)
70%
60%
50%
40%
30%
20%
10%
0%
66,3%
64,9%
31,7%
29,5%
3,4%
ja
nein
in den Innenhöfen
4,2%
ist mir egal
öffentliche Grünanlagen
Ein Kritikpunkt aus Bewohnersicht ist aber vor allem eine mangelnde Pflege und
Sauberkeit der Anlagen. Weiterhin mehrfach genannt wurden als Änderungsvorschläge: der Wunsch nach mehr Bäumen und Bänken zum Hinsetzen und Ausruhen
sowie der Wunsch nach einer anderen Gestaltung der Flächen. In den Innenhöfen
wünschen sich die Befragten außerdem vor allem Spielplätze und mehr Blumen.
Abbildung 16: Änderungswünsche bei der Gestaltung von öffentlichen Grünanlagen und Grünanlagen in den Innenhöfen nach Anzahl der Nennungen
(Mehrfachnennungen möglich; öffentl. GA N=119 / Innenh. N=124)
Parkverbot/ Innenhöfe
weniger Bäume
Hundetoiletten
mehr Grünflächen
mehr Parkplätze
weniger Zerstörung
mehr Bänke
mehr Blumen
mehr Spielplätze
bessere/ andere Gestaltung
mehr Bäume
mehr Pflege/ Sauberkeit
0%
5%
10%
15%
Innenhöfe
20%
25%
30%
35%
40%
öffentliche Grünanlagen
Die Ergebnisse der Expertengespräche zeigen, dass die Problematik einer mangelnden Pflege der Grünanlagen wahrgenommen wird. Eine Ursache wird in der angespannten Finanzlage gesehen.
„wenn ich alleine hier hinter`s Haus schaue, die große Wiese, die wird nie gemäht. Da sind
kleine Bäumchen und Sträucher, die mal gepflanzt wurden, vor Jahren, die kommen überhaupt nicht zum Wachsen, weil die förmlich unter dem Unkraut ersticken. Voriges Jahr haben
33
sie ein einziges mal die Wiese gemäht auf Anraten des Ortschaftsrates- weil da hat sich wirklich der Ortschaftsrat drum gekümmert, sonst wär das auch wieder nicht passiert. Aber das
liegt wirklich am Geld- weil kein Geld vorhanden ist, für solche Sachen.“ (EPG 2)
Diese Haushaltszwänge musste auch ein stadtteilansässiger Verein erleben, der
„hier gerne mal ein bisschen Ordnung rein bringen“ würde, aber aufgrund mangelnder Finanzierung das Projekt nicht durchführen konnte:
„In die Außenanlagen. Das haben wir der Stadt angeboten; und haben das auch- hätten das
sofort machen können. Aber die haben keine Transportkapazität und keine Fachanleiter dazu.
Die Transportkapazität habe ich ja. Aber die kostet ja Geld. Ich muss ja Benzin reinfüllen, ich
muss Versicherung zahlen, Steuern zahlen, muss die Leute zahlen, die den Dreck zusammen
lesen hier. Ich brauche Besen, ich brauche Müllsäcke dazu und, und, und.... und da die Stadt
kein Geld hat, bleibt das eben liegen. Da bleibt das eben dreckig. Das kann sich die Stadt
wahrscheinlich leisten.“ (EPG 3)
Die Grünflächen in den Innenhöfen bzw. im direkten Nahbereich der Häuser werden
durch die Wohnungseigentümer gepflegt. Die Kosten werden auf die Betriebskosten
umgelegt und müssen von den Mietern getragen werden. Steigen die Kosten, kommt
es zu Protesten. Als mögliche Alternative wird eine Müllvermeidung im direkten
Wohnumfeld gesehen:
„ ...das ist das Eine, was man will und auch die Grünanlagen die man gerne mit mehr Blumen
haben möchte. Wir streiten uns jedes Jahr mit der Betriebskostenabrechnung, wenn die Mieter die Grünanlagenpflege bezahlen sollen. Die schmeißen zwar ihre Kippen `raus, wir haben
Mülleinhausungen- eine Mülleinhausung kostet 20.000 Mark- wir haben etliche in Winzerla errichtet- die schmeißen ihren Müll nach wie vor daneben. Und diese Einrichtungen haben wir
wirklich in erster Linie gemacht, um den Mietern die Möglichkeit der Kostensenkung einzuräumen. Dass sie eben getrennt ihren Müll sortieren können... es wird trotzdem daneben geschmissen. Also Kosten spielen bei manchen gar keine Rolle... nur wenn die Abrechnung
kommt, dann wird im Kleinen.. gesucht: hier, wo waren da noch 97 Pfennig, die ich noch bezahlen muss? Also man sagt: ich möchte vieles haben, aber man sagt nicht: das ist natürlich
klar, dass das auch was kostet.“ (EPG 18)
Ein weiterer Streitpunkt in Diskussionen und Gesprächen mit Winzerlaern ist die Verschmutzung von Spielplätzen und Grünanlagen durch Hundekot und der damit verbundene Mangel an Hundetoiletten im Stadtteil. Auch mehrere Projekte von Kindern
hatten diese Problematik zum Thema. Zum Beispiel wurde eine „Frau vom Ordnungsamt“ von Kindern des Stadtteils zu einer Ortsbegehung eingeladen, die über
das Ausmaß der Verschmutzung durch Hundekot im Stadtteil erstaunt war:
„Die hat gesagt, so viel Hundehaufen auf so.. kleinem Territorium, das hätte sie nur am Lommerweg dahinten, wo dann ganz viele langgehen... aber hier ist es ja ein reines Wohngebiet.
Das ist total extrem. Da muss was dagegen gemacht werden.“ (EPG 8)
Ein erster Schritt zur Lösung des Problems ist das Angebot des Stadtteilbüros Winzerla, kleinere Stückzahlen an so genannten „Hundetüten“ kostenlos an Hundebesitzer abzugeben.
Anzutreffen sind in Winzerla auch immer wieder demontierte Bänke vor den Häusern. Laut Aussagen der Wohnungseigentümer waren sie auf Wunsch der Mieter
entfernt worden, weil sie vor allem Gruppen von Jugendlichen als Treffpunkt gedient
hatten. Die Bewohner fühlten sich durch Lärm und zurückgelassene Abfälle gestört.
34
Abgesehen vom optischen Eindruck ist ein weiterer Nachteil, dass dadurch auch für
alle anderen Hausbewohner eine Begegnungs- und Kommunikationsmöglichkeit im
direkten Wohnumfeld weniger besteht. Das unmittelbare Umfeld des Hauses ist somit weniger einladend für nachbarschaftliche Kontakte und Beziehungen geworden.
Bänke vor den Häusern als Treffpunkte für Mieter oder keine Bänke zur Vermeidung
von Lärm und Verschmutzung? Auch in den Experteninterviews wird das Thema kontrovers diskutiert. So wird auf der einen Seite das Bedürfnis der Mieter nach Vermeidung von Lärm und Verschmutzung verstanden:
„Die Bänke vorm Haus weg haben wollen, das verstehe ich schon- wenn man Parterre wohnt
und vor dem Fenster eine Bank hat.“ (EPG 2)
35
Andererseits wird ein Umdenken gefordert, um die Attraktivität des Freiraums im direkten Wohnumfeld nicht zu verschlechtern:
„Die Tendenz geht auch immer mehr dahin, was ich überhaupt nicht verstehen kann, keine
Bänke mehr unten- da setzen sich nur die Jugendlichen drauf.... da ist wahrscheinlich noch
´ne ganze Menge an Überzeugungsarbeit zu leisten, gerade bei den Wohnungseigentümern,
dass das irgendwie dazugehört zu ´ner Wohnung, dass man auch unten mit dem Freiraum
was anfangen kann.“ (EPG 15)
Einig sind sich allerdings sowohl die Einwohner wie auch die Experten in der Einschätzung, dass Bänke in öffentlichen Grünanlagen fehlen. Besonders ältere oder
gehbehinderte Menschen benötigen Sitzgelegenheiten im öffentlichen Raum zum
Ausruhen.
„Aber die Wege sind ja nicht direkt vor dem Haus. Wenn man alleine schon den Weg von der
Steenbeckstr.- nehmen wir das jetzt mal als Beispiel, die Straße- auch die Straße von der
Steenbeckstr. `runterwärts zu Rewe zu kommen- da ist überhaupt nichts. Und da wohnen alte
Leute. Und da wäre eine Möglichkeit. Und genauso ist es hochwärts in dieses Columbuscenter. Zum Win-Center führt zum Beispiel auch eine Straße, wo ein großer Abstand zu den
Wohnhäusern da ist. Entweder lang hoch mit einer Grünanlage oder unten parallel sind auch
einige Meter Grünfläche.“ (EPG 2)
„Mehr Bänke wird von ganz vielen Leuten gewünscht. Die Leute, die in die Rewe-Kaufhalle
einkaufen gehen, gerade die Älteren, die brauchen halt mal eine Bank zwischendrin. Das ist
wichtig. (EPG 8)
Nach Ansicht der Experten werden durch den Mangel an Ruhepunkten nicht nur der
Aktionsradius älterer Menschen eingeschränkt, sondern gleichzeitig deren Selbständigkeit erschwert und Vereinsamungstendenzen gefördert.
„wenn man jetzt die Standards sieht: Einkaufsstandort und die Wohnungen. Sowohl Rewe
auch hoch in dieses Columbuscenter und Win-Center. Da ist doch für ältere Menschen, die
ein bisschen gehbehindert sind, immer mal eine Pause notwendig. Und wenn da immer mal
eine Bank stehen würde, wäre es leichter für sie immer mal zwischendurch sich hinzusetzen.
Wir wollen ja die Älteren fördern und fordern. Ich meine, es ist eine Leichtigkeit einen Service
einzurichten, der einkauft. Manche verdienen sich ja eine goldene Nase damit. Aber indem
wir das dem älteren Menschen auch abnehmen, tun wir ihn eigentlich verdammen, in der
Wohnung zu bleiben und sich nicht mehr zu bewegen. Und wenn ein Mensch in einer Wohnung bleibt und sich nicht mehr bewegt, nicht nach außen kommt, vereinsamt er, die Leiden
werden schlimmer und er wird viel schneller ein Pflegefall als einer, der noch aktiv ist. Und
wenn eine gehbehinderte Frau jeden Tag ihre eine Tüte Milch oder was weiß ich, ihr Brötchen,
ihr Bonbon jeden Tag holt und noch aktiv ist, dann trifft sie auf dem Weg in dieses Einkaufszentrum zehn Leute.“ (EPG 1)
Natürlich benötigen ältere Menschen dringender Bänke. Aber die Diskussion sollte
sich nicht darauf beschränken. Bänke sollten wichtige Begegnungs- und Treffpunkte
für alle Altersgruppen sein, um ein öffentliches Leben zu ermöglichen und die Kontakte aller zu fördern.
4.2 „Wasserachse“ und Kunst im Wohngebiet
Städteplanerisch hebt sich in Winzerla das Gebiet zwischen Rewe-Markt und WinCenter hervor. Diese so genannte „Wasserachse“ durchbricht einen hoch verdichteten Teil des Wohngebiets mit einem künstlich angelegten Wasserlauf und Ruhezonen. Die „Wasserachse“ wird besonders im Sommer durch Eltern mit ihren Kindern
stark frequentiert. An ihrem unteren Ende befindet sich ein neu gestalteter Markt mit
einem Brunnen („Flößerbrunnen“).
36
Dieses Gebiet ist der einzige Bereich im hoch verdichteten Stadtteilzentrum, der sich
zum Ausbau eines Zentrums mit Identifikationscharakter eignen würde. Bisher
scheint dieses Ziel mit der Neugestaltung des Marktes noch nicht erreicht worden zu
sein. Im Kommunalen Entwicklungskonzept der Stadt Jena wird das Zentrum folgendermaßen beschrieben: „Die Gestaltung des Zentrums wirkt unentschlossen; seine
Attraktivität bleibt daher trotz eines beeindruckenden Ausblicks ins Pennickental hinter seinen Möglichkeiten zurück.“(Analyse und Konzepte 2002: 39)
Wie Abbildung 17 zeigt, urteilen die Bewohner des Stadtteils anders: insgesamt mehr
als vier Fünfteln aller Befragten gefällt das Areal zwischen Win-Center und ReweMarkt; etwas mehr als einem Fünftel gefällt es sogar sehr.
Abbildung 17: Einschätzung der "Wasserachse"
Frage: Wie gefällt Ihnen der Fußgängerbereich zwischen WinCenter und Rewe-Markt?
64,0%
21,6%
8,4%
gefällt mir sehr
gefällt mir
gefällt mir
weniger
1,1%
gefällt mir gar
nicht
4,8%
ist mir egal
37
Bemängelt wurden allerdings die mangelnde Pflege dieses Bereiches, insbesondere
das unsaubere Wasser im Brunnen, Begehungsprobleme durch holprige Pflastersteine mit Kinderwagen oder Rollstuhl, bereits wieder zerstörte Anlagen sowie der
Leerstand von Geschäftsräumen entlang der Wasserachse. Auch das Fehlen von
Bänken zum Ausruhen wurde hier wiederholt thematisiert.
„Und auch: es ist doch eigentlich schön diese Grünanlagen- diese Wiese hier vor der Wasserachse. Das ist nun mal die Fußgängerzone. Warum soll es da keine Möglichkeit geben, dass
sich die Leute treffen und sich hinsetzen und mal einen Schwatz halten? Das muss nicht am
Weg lang sein. Da unten an der Apotheke, in dem Rondell- irgendwas muss da mal werden“
(EPG 8)
Im Herbst 2001 fand unter der Leitung des Jenaer Stadtplanungsamtes eine so genannte „Ideenwerkstatt Wasserachse“ statt. Eingeladen waren Künstler und Architekten, um in mehreren Projektgruppen Entwürfe für eine mögliche Umgestaltung des
Areals zu entwickeln. Erste Ergebnisse unserer Bevölkerungsbefragung wurden dabei vorgestellt und flossen in die Diskussion einer möglichen Neugestaltung mit ein.
Die Ergebnisse der Ideenwerkstatt wurden in einer Ausstellung im damaligen Stadtteilbüro einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt und diskutiert. In der Vorbereitung dieser Veranstaltung interessierte, ob die Bewohner Kunst als Mittel zur Verschönerung
des Wohngebiets akzeptieren. Wie Abbildung 18 zeigt, stehen dem drei Fünftel aller
Befragten positiv gegenüber.
Abbildung 18: Denken Sie, dass man durch Kunst Ihren Stadtteil verschönern kann?
ist mir egal
5,5%
nein
34,5%
ja
60,0%
Wichtig für eine weitere künstlerische Gestaltung war auch die Frage nach der Akzeptanz verschiedener Kunstformen. Im Fragebogen vorgegeben waren die Items
`Skulpturen, Malerei, Straßentheater, Musik und Sonstiges`. Wie aus Abbildung 19
ersichtlich, nannten die meisten Befragten vor allem Skulpturen und Malerei als
künstlerische Gestaltungselemente im Stadtteil. Musik und Straßentheater stehen an
dritter und vierter Stelle.
38
Abbildung 19: Denken Sie, dass man durch Kunst Ihr Wohngebiet verschönern kann? Wenn ja:
durch welche?
(Mehrfachnennungen möglich; Anzahl der Nennungen N=344)
künstl. gestaltete Grünanlagen mit Bänken
1,5%
Brunnen
2,4%
Stadtteilfest/ Gastronomie
2,7%
Fassadengestaltung/ Grafitti
Straßentheater
Musik
Malerei
Skulpturen
4,3%
12,2%
14,8%
24,4%
33,7%
Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass Kunst als Gestaltungselement im Stadtteil
nicht nur Befürworter hat. Mehr als ein Drittel aller Befragten lehnte sie ab. Auch in
den Experteninterviews wurden darauf hingewiesen, dass andere bauliche Veränderungen wie die Schaffung von Freiräumen gegenüber künstlerischen Elementen
möglicherweise vorrangig umgesetzt werden sollten.
„Sagen wir mal, vielleicht 5% der Bevölkerung sind künstlerisch-ästhetisch animiert. Und können das bewerten und können das nutzen. Die Masse der Bevölkerung sucht einfach ganz
normale Entspannung.... Und da weiß man, was das ist. Das sind offene Räume, das sind
Räume, wo ein bisschen mehr Grün ist; das sind Dinge, wo Wasser fließt in der Wasserachse- das gehört alles dazu; wo ein paar Ladengeschäfte da sind; wo sich vielleicht mal eine
Kneipenszene entwickeln kann. Aber die kann sich ja nur entwickeln, wenn man überhaupt
erst mal die Voraussetzungen schafft, dass sich Leute treffen- wo sich Leute in irgendeiner
Form hingezogen fühlen. Wenn ich das nicht schaffe, geht es nicht. Ich brauche Teile für Kinder, ich brauche Teile für Jugendliche und ich brauche Teile für normale Bevölkerung ab, was
weiß ich, 25 bis Lebensende, die sich dort dann auch wohl fühlen. Und das ist das, was ich in
Winzerla ganz stark vermisse. (EPG 20)
Neben künstlerischen verfolgte das
Projekt „Steine für die Wasserachse Bildhauerwerkstatt für Kinder“ auch
pädagogische Zielsetzungen. Es wurde vom 11.-18.9.2002 durch das Kinderbüro Winzerla der Initiative kinderfreundliche Stadt e.V. durchgeführt.
Unter organisatorischer Leitung des
Stadtplanungsamtes und fachlicher
Leitung der Laasaner Bildhauerin
Regina Lange haben Kinder und Jugendliche Sandsteinblöcke künstlerisch gestaltet und an der „Wasserachse“ aufgestellt. Gefördert wurde
die Arbeit durch die Stadt Jena unter
Verwendung von Städtebaufördermitteln.
39
5. Parkplätze im Stadtteil
Die Flächennutzung in einem Wohngebiet beschränkt sich nicht nur auf Grün- und
Freizeitflächen. Auch die Frage, wie viel Parkplätze zur Verfügung stehen und wo
sich diese befinden, sind entscheidende Kriterien für die Wohn- und Lebensqualität
der Bewohner. Der Blick auf die Einschätzung der Parkplatzsituation zeigt allerdings
ein deutlich negativeres Bild. Fast vier Fünftel der von uns befragten Personen beurteilen die vorhandenen Parkmöglichkeiten als nicht ausreichend (vgl. Abbildung 20).
Abbildung 20: Quantität der Parkmöglichkeiten im Stadtteil
Halten Sie die Parkmöglichkeiten in Winzerla für ausreichend?
ja
21%
nein
79%
Die Problematik mangelnder Parkplätze zeigen wohl alle Umfragen in Plattenbauquartieren der ehemaligen DDR. Bereits bei der Planung des Wohngebietes wurde
aufgrund des hohen Anteils an Ein- und Zweiraumwohnungen besonders für ältere
Mieter die „Komplexrichtlinie für die städtebauliche Planung und Gestaltung von
Neubauwohngebieten“ nicht erfüllt, die pro Wohneinheit einen Stellplatz vorsah, der
zu 80% in ebenerdiger Aufstellung nachzuweisen war. So wurde der Bedarf im ersten und zweiten Bauabschnitt in Winzerla nur zu 76% abgedeckt.13
Im hoch verdichteten Zentrum Winzerlas sind zugeparkte Gehwege, die Blockierung
abgesenkter Bordsteine, zugestellte Innenhofbereiche und Grünflächen keine Seltenheit. Besonders für die Mitarbeiter von sozialen oder Rettungsdiensten ist der
Mangel an Parkplätzen problematisch. Sie wünschen sich einzelne, speziell gekennzeichnete Parkplätze.
„ Wir haben wirklich große Wege, um erst mal einen Parkplatz zu finden und dann wieder zum
Patienten zu kommen, was früher nicht so war, als die Flächen noch frei waren14. Da hat man
immer mal noch eine Lücke gefunden... und wenn es nur 1, 2 Parktaschen wären, die speziell
für Pflegedienste oder ärztliches Personal- es ist ja auch so, wenn ein Notarzt kommt, der
weiß ja gar nicht, wo er sich hinstellen soll.“ (EPG 2)
Wir befragten die Bewohner nach möglichen Wegen aus dem Parkplatznotstand 15.
Die Antworten sind in Abbildung 21 dargestellt. Die am häufigsten gewählten Alterna13 Architektur- und Stadtplanungsbüro Helk 1995
14 jetzt Parkflächen oft mit Wohnung vermietet und abgesperrt
15 folgende Antwortmöglichkeiten waren vorgegeben: Parkhaus, Tiefgarage, Sonstiges und zwar....
40
tiven werden im Bau eines Parkhauses und in der Neuschaffung von Stellplätzen in
den Innenhöfen gesehen. Ein Viertel der Befragten sieht zur Zeit gar keine Lösung
für die Parkplatzproblematik.
Abbildung 21: Welche Möglichkeiten der Parkplatzgestaltung sehen Sie?
(Mehrfachnennungen möglich; nach Anzahl der Nennungen N=361)
sonstiges
1,4%
Parkhaus billiger
1,4%
Markierung ändern/ kleinere Abstände/ schräg)
1 Parkplatz pro Haushalt
1,7%
2,2%
Schaffung neuer Parkflächen
7,5%
Tiefgarage
10,0%
Neuschaffung von Stellplätzen in den Innenhöfen
19,4%
30,7%
Parkhaus
keine
0%
25,8%
5%
10%
15%
20%
25%
30%
35%
Grundsätzlich könnte der Mehrbedarf an Parkplätzen nur noch in der Peripherie des
Stadtteils abgedeckt werden. Hier existieren sogar zur Zeit noch freie Parkplatzkapazitäten, die aber kaum genutzt werden. Als Ursachen dafür werden immer wieder
Nutzergewohnheiten und die Bequemlichkeit der Autobesitzer angeführt. Viele Autobesitzer würden Wert auf einen kostenfreien Parkplatz in Sichtweite der Wohnung
legen.
„... drei- bis vierhundert Meter ist schon fast zu weit...Auto....ist das noch wichtig für die meisten. Und die wollen das noch sehen, wenn sie das Fenster aufmachen“. (EPG 20)
Die Ergebnisse unserer Befragung zeichnen ein anderes Bild. Etwas mehr als die
Hälfte unserer Interviewten ist Autobesitzer. Wir fragten sie, ob sie ihr Fahrzeug auch
weiter als 100 m von der Wohnung entfernt parken würden. Zwei Drittel waren dazu
zumindest „auf dem Papier“ bereit. Nur ein Fünftel lehnte die Nutzung eines Parkplatzes in dieser Entfernung ab.16
Sehr wahrscheinlich sprechen also auch noch andere Gründe gegen die Nutzung
eines vom Wohnhaus relativ weit entfernten Parkplatzes. Ein Parkplatz vor der Tür ist
kostenlos - ein weiter entfernter im Parkhaus hingegen oftmals nicht. So scheiterte
der geplante Neubau eines Parkhauses am Rande des Wohngebietes aufgrund des
zu geringen Interesses bei der Anmietung von Stellflächen. Außerdem bieten Parkhäuser aus er Sicht der Nutzer relativ wenig Komfort und Sicherheit.
„Parkhäuser, das kann ich ihnen hundert Prozent sagen, das kann sich der Schnitt nicht leisten und will es sich auch nicht leisten - sechzig oder siebzig Mark für ein Parkhaus auszugeben.... Ein Parkhaus oder ein überdachter Stellplatz nützt mir nur, wenn ich ihn garagenähnlich habe, wo ich dann auch Räder oder Gerätschaften und so abstellen kann. Die verschlossen sind. Offene Zugänge zum Parkhaus - weil da kann ich genauso zerkratzen, da
kann ich auch Räder abmontieren. Die kriege ich überall durch die Schranke durch. Überhaupt kein Problem.“ (EPG 20)
16 13,5% gaben an, sie würden „vielleicht“ ihr Fahrzeug dort abstellen.
41
Wie sehr der Wunsch nach ausreichenden Parkplätzen im Kontrast zu einem begrünten Wohnnahbereich stehen kann, zeigt sich in der Diskussion über eine Umgestaltung von Innenhöfen in Parkflächen. Die unberechtigte Nutzung solcher Flächen findet bereits statt. Experten verweisen auf die Einschränkungen, die eine Umnutzung
der Innenhöfe haben würde.
„Neuschaffung von Parkplätzen in den Innenhöfen bin ich strikt dagegen. Da ist doch für die
Leute gar kein Platz mehr da, wo sie sich überhaupt noch (.) sich bewegen; sich aufhalten
können. Da sind sie ja mit Autos total zugestellt. Da stehen ja teilweise schon viele Autos in
den Innenhöfen und auf der Wiese haben wir sie fotografiert und auf dem Wäscheplatz zwei
Autos. Und dann durch die Räder ist alles zerschlammt und zerfahren. Das ist wirklich für die
Kinder eine große Eingrenzung, aber auch für Leute, die sich mal raussetzen wollen... es soll
auch ein bisschen Freiflächen noch in den Innenhöfen geben. Es kann nicht sein, dass das
einzige Grün noch die Wasserachse ist. Die Leute müssen sich ja auch wohl fühlen.“ (EPG 8)
In der Nutzung der Freiflächen drücken sich immer auch Lebensstile und Freizeitpräferenzen aus. Eine Frage ist dabei, ob die Ressourcen des Wohngebietes eine Verwirklichung individueller oder gruppenspezifischer Interessen ermöglichen. Darüber
hinaus kann eine hohe Freizeitattraktivität des Wohngebietes die Nachbarschaftsbeziehungen und die Identifikation mit dem Stadtteil stärken.
6. Freizeitverhalten und Freizeitangebote in Winzerla
Der Umfang der Freizeit17 an den Arbeitstagen und am Wochenende variiert erwartungsgemäß stark. Kann an normalen Arbeitstagen von einem Freizeitumfang von
durchschnittlich 3,5 Stunden ausgegangen werden, genießen mehr als zwei Drittel
aller Befragten am Wochenende mehr als 6 Stunden freie Zeit. In der Woche ist der
Freizeitumfang erwartungsgemäß stark abhängig vom Alter, dem Familienstand und
dem Erwerbsstatus: arbeitslose Befragte hatten deutlich mehr freie Zeit als Erwerbstätige; Väter mit Kindern weniger Zeit als Singles und Menschen über 60 Jahre deutlich mehr Freizeit als die mittleren Altersgruppen.
Abbildung 22: Wo verbringen Sie und Ihre Familie größtenteils ihre Freizeit?
außerhalb von Winzerla
in Winzerla
54,6%
34,6%
in beiden gleich 10,8%
17 Freizeit definierten wir als „Zeit, in der Sie machen können, was Sie wollen“
42
Doch wo verbringen die Befragten mit ihren Familien den größten Teil dieser freien
Zeit? Abbildung 22 zeigt, dass mehr als die Hälfte meist Angebote außerhalb des
Stadtteils in Anspruch nimmt. Nur etwas mehr als ein Drittel nutzt die Möglichkeiten
des Wohngebiets auch für die Freizeitgestaltung.
Warum verbringen so viele Befragte mit ihren Familien die Freizeit außerhalb des
Stadtteils? Es liegt vor allem an den zu geringen Angeboten im Stadtteil. Nur jeder
elfte Interviewte meint, das Angebot an Freizeit- und kulturellen Einrichtungen in
Winzerla reiche aus.
Befragt nach Wünschen zur Verbesserung wurden folgende Angaben g emacht:
•
Angebote für Jugendliche wie Clubs, Diskotheken oder Probenräume,
•
die Öffnung von Cafes, Restaurants oder Biergärten,
•
Ermöglichung von sportlichen Aktivitäten für alle Altersgruppen (hier wurde neben allgemeinem Wunsch nach mehr Sportmöglichkeiten besonders die Öffnung einer Bowlingbahn gewünscht);
•
ein Kino,
•
kulturelle Veranstaltungen wie Theater, Ausstellungen oder Livekonzerte ähnlich der Jenaer
Kulturarena,
•
ein Freizeit- und Kulturzentrum mit vielfältigen Angeboten
•
und eine Schwimmhalle bzw. ein Bad (ist inzwischen in unmittelbarer Nähe eröffnet).
Seltener geäußert wurde der Wunsch nach
•
einer Diskothek/ Tanz für „Ältere“ (Altersgruppe der über 30-jährigen);
•
Bildungsangeboten;
•
Angeboten für Kinder
•
Angeboten für Senioren,
•
ein Straßen- bzw. Stadtteilfest sowie
•
einer Stadtteilbibliothek.
Ein Viertel aller, die das Angebot zwar als nicht ausreichend eingeschätzt hatten,
konnten dennoch keine Verbesserungswünsche nennen („dazu fällt mir nichts ein“).
Die Gründe dafür liegen wahrscheinlich in der guten verkehrstechnischen Erreichbarkeit des nahen Stadtzentrums mit seinen vielfältigen Freizeitangeboten. Darauf
wurde auch in den Experteninterviews immer wieder hingewiesen.
Doch nicht nur organisierte Angebote sondern auch attraktiv gestaltete Freiflächen
könnten Bewohner dazu veranlassen, gemeinsam mit ihren Familien die Freizeit in
Winzerla zu gestalten. Leider zeichnen die Ergebnisse unserer Befragung ein anderes Bild: nur etwa jeder Dritte nutzt in seiner Freizeit die Grünanlagen im Stadtteil.
Dabei halten sich vor allem jüngere Befragte bis 19 Jahre vergleichsweise häufig hier
auf. Winzerlaer zwischen 40 und 60 Jahren trifft man eher selten hier an. Die vorrangigsten Aktivitäten sind Spazieren gehen, Spielen, Erholung, wie z.B. Sonnen, auf
Bänken sitzen oder Grillen.
Abschließend erfragten wir zum Thema Freizeit im Stadtteil das Interesse an Begegnungsmöglichkeiten und Treffpunkten zur Förderung von Kommunikation und
Selbsthilfe. Mehr als die Hälfte aller Befragten äußerte kein Interesse an der Einrichtung solcher Kommunikationsorte.
43
Gleichzeitig muss aber auch festgestellt werden, dass in der Interviewsituation eine
deutliche Abgrenzung zur Frage nach Freizeit- und Kulturangeboten nicht immer gelang. Viele Befragte verwiesen auf die Beantwortung der vorangegangenen Frage
bzw. benutzten die gleichen Items (gastronomische Einrichtungen, Angebote für Jugendliche, Angebote für Senioren).
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Ergebnisse einige problematische
Aspekte der Freizeitsituation im Stadtteil widerspiegeln. Für viele der von uns Befragten hat Winzerla als Ort für die Freizeitgestaltung nur eine geringe Relevanz. Das ist
einerseits auf einen Mangel an attraktiven organisierten Freizeitangeboten und andererseits auf die nicht zum Verweilen einladende Gestaltung der Grün- und Freiflächen
im Stadtteil zurückzuführen. Die Situation verliert durch die Nähe und gute Anbindung zum Stadtzentrum allerdings etwas an Brisanz.
Der Mangel an Cafes, Restaurants oder Biergärten, als kommerzielle Orte für Freizeit
und Begegnungsmöglichkeiten, ist auffällig. In Experteninterviews wird aber gerade
dieser Wunsch nach gastronomischen Einrichtungen im Stadtteil immer wieder sehr
skeptisch gesehen. Sie verweisen einerseits auf die zu geringe Zahl von Gästen in
vorhandenen gastronomischen Einrichtungen und andererseits auf das relativ hohe
Preisniveau in Gaststätten:
„wer geht denn in die Gaststätten und kauft für vier, fünf Mark ein Bier?.. Wer trinkt Café und
wer isst Kuchen? Wenn man sich die Preise ansieht und die im Supermarkt…“ (EPG 21)
Eine Alternative könnte das vom Stadtteilbüro angedachte Stadtteilcafe sein, dessen
Realisierung aber bisher noch nicht gelang.
44
7. Situation der Kinder und Jugendlichen im Wohngebiet
Die Ausstattung des Stadtteils mit Schulen, Sportstätten und Kindertagestätten wird
im Kommunalen Stadtentwicklungskonzept als „gut“ beschrieben. Die Anzahl der
Schulen stellt „angesichts stark rückläufiger Kinderzahlen eine Überversorgung
dar.“18
Diese gute Ausstattung verbunden mit der räumlichen Begrenzung des Stadtteils
bietet gerade für Kinder einige Vorteile. Weite Wege entfallen genauso wie ein
Wechsel des Freundeskreises zwischen formellem Bereich der Schule und informeller Freundesgruppe in der Freizeit.
„Die Kinder fühlen sich richtig wohl im Stadtteil. Weil sie nämlich folgendes erleben: dass
sie also in die Schule gehen... kommen aus der Schule `raus, können mit ihren Freundinnen und Freunden möglichst noch einen gemeinsamen Weg begehen und treffen sich
abends- oder nachmittags auf ihrem Spielplatz wieder. Und können also da weiter miteinander umgehen.“ (EPG 17)
Für Jugendliche befinden sich im Stadtteil zwei Jugendclubs der Stadt Jena und ein
Treffpunkt der evangelischen Kirche. Zusätzlich leisten mehrere Vereine und Initiativen Kinder- und Jugendarbeit. Die Ausstattung des Stadtteils mit organisierten Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche wird von den Experten sogar höher als im
Stadtdurchschnitt beschrieben, es mangelte in der Vergangenheit aber an Investitionen.
„Hast, denke ich, gut funktionierende Einrichtungen für Kinder und Jugendliche. In die aber
auch nicht investiert worden ist... Dann ziemlich viele Projekte, die entstanden sind. Also ich
denke, von der infrastrukturellen Ausstattung für Kinder und Jugendliche ist es dort am besten
in der Stadt ...“ (EPG 6)
Alle Vertreter der Kinder- und Jugendarbeit im Stadtteil haben sich zu einer Vernetzungsgruppe Winzerla zusammengeschlossen und arbeiten regelmäßig stadtteilspezifische Problemlagen auf oder unterstützen sich gegenseitig.
18 Analyse & Konzepte: Stadt Jena, 2002: 39
45
7.1 Umfang von Freizeitflächen für Kinder und Jugendliche
In unserer Bevölkerungsbefragung baten wir um eine Einschätzung der Quantität
und der Qualität von Freizeitflächen für Kleinkinder, Kinder und Jugendliche. Betrachten wir zunächst die Flächen für Kinder, so zeigt Abbildung 23 folgendes: Die Ausstattung des Stadtteils mit Freizeitflächen für Kleinkinder wird etwas besser bewertet,
als die für Kinder. Vor allem mit Blick auf die Kinder zeigt sich aber eher ein negativer
Trend. Mehr als zwei Fünftel aller Befragten schätzen die Zahl an Freizeitflächen für
Kinder als nicht ausreichend ein.
Abbildung 23: Quantität der Freizeitflächen für Kleinkinder und Kinder
Frage: Ist Ihrer Meinung nach das Angebot an Freizeitflächen für Kleinkinder und Kinder ausreichend?
ich weiß nicht
nein
ja
26,20%
21,8%
33,90%
45,1%
39,90%
33,1%
Kinder
Kleinkinder
Unsere Befragung zeigte in den verschiedenen Regionen des Stadtteils sehr unterschiedlich Ergebnisse. Mehr als drei Viertel aller Befragten in den westlichen Randgebieten mit direktem Anschluss an den Naturraum und vielen privatisierten Wohnungen meinen, die Anzahl an Freizeitflächen vor allem für Kleinkinder reiche aus.
Besonders schlecht wird die Ausstattung an Kleinkindspielplätzen in den Regionen
Schrödingerstraße/ Zielinskystraße und nördlich der Winzerlaer Straße beurteilt: e
jweils mehr als drei Fünftel dieser Befragten sind der Meinung, die Zahl der Spielflächen sei nicht ausreichend.
In den Experteninterviews wird ein anderes Bild gezeichnet. Die Anzahl der Flächen
wird immer wieder als ausreichend dargestellt. Handlungsbedarf sehen die Experten
vor allem in einer stärkeren Pflege der Anlagen und einer attraktiveren Gestaltung.
„Mehr Spielplätze wurden erwähnt. Ich bin der Meinung, in Winzerla gibt es genügend Spielplätze. Aber.. die sollen auf jeden Fall besser gepflegt werden.... dass sie nicht kaputt sind,
46
dass sich die Kinder nicht daran verletzen können und dass sie vielleicht teilweise doch mehr
ein bisschen umgebaut werden. Für größere Kinder. Dass es nicht nur Kleinkindspielplätze
sind. Sondern dass es eben auch etwas für die 10, 12jährigen gibt, wo die sich austoben können. Nicht nur eine Rutsche und ein kaputtes Klettergerüst.“ (EPG 8)
Betrachten wir die Freizeitflächen für Jugendliche, so zeigen die Ergebnisse unserer
Befragung einen deutlichen Mangel. Wie Abbildung 24 verdeutlicht, meinen mehr als
zwei Drittel aller Interviewten, dass es nicht genügend Freizeitflächen für Jugendliche
im Stadtteil gibt.
Abbildung 24: Quantität der Freizeitflächen für Jugendliche
Frage: Ist Ihrer Meinung nach das Angebot an
Freizeitflächen für Jugendliche ausreichend?
kann ich nicht
einschätzen
21,1%
nein
ja
68,2%
10,7%
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
In Zusammenhang mit dem geringen Angebot an Freizeitflächen für Jugendliche
stellt sich die Frage nach der Nutzung freier Räume. Uns interessierte, inwiefern bei
den Bewohnern Bereitschaft besteht, Jugendlichen z.B. ungenutzte Kellerräume im
Haus zur Verfügung zu stellen. Die Beantwortung der Frage nach Einrichtung von
Gemeinschaftsräumen für Kinder und Jugendliche in ungenutzten Räumen des Hauses im Keller oder Eingangsbereich verdeutlicht durch Abbildung 25 ein recht ambivalentes Bild von Befürwortern und Gegnern: Während 47,9% einer Nutzung zustimmten, waren fast genauso viele Befragte (45,8%) dagegen. Die Altersgruppe der
bis 40-jährigen war deutlich positiver gegenüber einer solchen Nutzung eingestellt,
als ältere Befragte.
47
Abbildung 25: Nutzung freier Räume in den Wohnhäusern durch Kinder und Jugendliche
Was halten Sie von folgender Idee: Man könnte in ungenutzten
Räumen (z.B. im Keller oder Erdgeschoss) Ihres Hauses für
Kinder und Jugendliche Gemeinschaftsräume einrichten?
ist mir egal
6,3%
finde ich nicht gut
47,9%
finde ich gut
45,8%
Die Experten für Kinder- und Jugendarbeit stehen einer Nutzung von Räumen durch
Kinder und Jugendliche eher skeptisch gegenüber. Gerade unbetreute Räume im
direkten Wohnbereich bergen ihrer Meinung nach ein hohes Konfliktpotenzial, das
hervorgerufen wird durch die unterschiedlichen Interessenslagen von Jugendlichen
und Anwohnern.
„ Meine Erfahrung hat gezeigt, dass es nicht funktioniert..... weil in einer Jugendgruppe immer
bestimmte Strukturen vorherrschen. Gruppenstrukturen.... Also ich kann nicht sozusagen jeder Gruppe einen Freiraum - einen unbeobachteten Freiraum zugestehen. Das wird zu Konflikten mit den Anwohnern führen. Bestimmte Entwicklungsprozesse, die begleitet werden sollten, sind dann unbeobachtet. Das halte ich aus sozialpädagogischer Sicht nicht immer für
glänzend.... Zumal es sich doch wieder um die gleichen Gruppen dreht - also die Platzgruppen, mit denen wir ja versuchen, relativ intensiv versuchen, die Leute irgendwo anzubinden.“
(EPG 11)
Auch der Versuch, Jugendlichen Räume selbst verwaltet zu überlassen, musste nach
einiger Zeit aufgrund großer Unordnung wieder abgebrochen werden.
„... das sie (die Jugendlichen) selbst verantwortlich sein wollen, aber es klappt überhaupt
nicht. Ich hab` auch zu zweien mal gesagt: na okay, dann probieren wir es mal `ne Woche
mal. Dann passt ihr abends so ein bisschen auf; aber das ist immer irgendwie ausgeartet. Also da (.) kugeln die Flaschen hier rum`, da ging es zu wie (.) Da hab ich auch gemeint, das ist
doch nix hier.“ (EPG 19)
Mehr als zwei Drittel aller, die einer Nutzung von Räumen im Haus zugestimmt hatten, waren der Meinung, dass die Räume auch offen für Nichthausbewohner sein
sollten; ein knappes Drittel möchte die Räume nur von Kindern und Jugendlichen aus
dem eigenen Haus genutzt wissen. In letzterem sehen die Experten auch die einzige
Nutzungsmöglichkeit. Im sozialen Zusammenhang der Hausgemeinschaften lassen
sich Fragen wie Verantwortlichkeit für die Räume oder kleinere Grenzverletzungen
möglicherweise leichter lösen.
„ich denke mal, die Leute können eher mitgehen, wenn es ihre eigenen Kinder sind, dass sie
sich treffen, im Gemeinschaftsraum sind.... ich gehe nur von mir aus: wenn den ganzen Tag
`ne Horde fremder Kinder da sind und den ganzen Tag Bambule...und eine Frage, wer reinigt
das wieder... es ist auch gar nichts so einfach so irgendwo Jugendliche unbeaufsichtigt hinzulassen. Wer ist verantwortlich? Das ist dann immer wieder die Frage.“ (EPG 21)
48
7.2 Qualität der Freizeitflächen für Kinder und Jugendliche
Neben der Anzahl kommt es wesentlich auch auf die Qualität der Freizeitflächen für
Kleinkinder, Kinder und Jugendliche an. Bereits in den Expertengesprächen deutet
sich besonders hier ein Handlungsbedarf an. Auch die Ergebnisse unserer Befragung weisen in diese Richtung: Wie Abbildung 26 zeigt, ist mehr als die Hälfte aller
Befragten nicht der Meinung, dass die Wünsche von Kindern und Jugendlichen bei
der Gestaltung der Freizeitflächen Berücksichtigung fanden.
Abbildung 26: Beurteilung der Qualität von Freizeitflächen für Kinder und Jugendliche
Entspricht die Gestaltung der Freizeitflächen aus Ihrer Sicht den
Wünschen der Kinder und Jugendlichen?
kann ich nicht
einschätzen
33,9%
nein
51,8%
ja
14,3%
Bei der Frage nach Verbesserungswünschen wurden vor allem die Schaffung von
Sportanlagen, Einrichtungen für Jugendliche wie Jugendclub/ Diskothek sowie Treffpunkte oder Aufenthaltsräume genannt. Auf den vorhandenen Spielplätzen für Kinder
mangelt es vor allem an Pflege und Sauberkeit, hier wurde immer wieder die Verunreinigung durch Hundekot angesprochen. Auch anderes Spielgerät wird gewünscht
bzw. eine Umgestaltung der vorhandenen Spielflächen in z.B. Abenteuerspielplätze
und eine Erweiterung des Angebots an Spielflächen insgesamt wird als notwendig
erachtet. Des weiteren wurden mehr Angebote mit Betreuung und Anlaufstellen für
Kinder und Jugendliche gewünscht (vgl. Abbildung 27).
Abbildung 27: Verbesserungsvorschläge bei der Freiflächengestaltung für Kinder und
Jugendliche
(Mehrfachnennungen möglich; nach Anzahl der Nennungen; N=184)
Sportanlagen
27,6%
Club/ Diskothek
17,7%
mehr Pflege/ Sauberkeit der Spielplätze
16,6%
Treffpunkte/ Aufenthaltsräume
11,0%
bessere Ausstattung der Spielplätze
12,2%
mehr Spielpätze
7,2%
Angebote mit Betreuung
Anlaufstellen (auch streetwork)
5,5%
2,2%
49
Als eine der Ursachen für die ungenügende Pflege der vorhandenen Flächen wird
die schlechte Finanzlage der Wohnungseigentümer angeführt. Beschädigte Spielgeräte werden nicht mehr repariert oder ausgetauscht.
„Für Kleinkinder gibt es viele Sandkästen, wo sie sich aufhalten können, wo sich die Mutti vielleicht mal mit hinsetzt, aber für größere, ja, da gehen die Spielgeräte kaputt. Die Wohnungsgesellschaften sagen, sie haben kein Geld, die Kinder verletzen sich.“ (EPG 8)
Im Folgenden eine detaillierte Auflistung der genannten Wünsche:
Sportmöglichkeiten:
•
Plätze für Lagerfeuer; usw.
•
Tischtennisplatten
•
•
Volleyball-, Basketballfelder; Fußballplätze
Plätze mit Betreuung/ betreute Angebote an Freizeitaktivitäten
•
mehr Plätze und Stellen; besonders im
Winter
•
Nutzung der Containerstellplätze vor
dem Haus
•
Aufenthaltsräume für Jugendliche
•
Tennisplatz
•
Skatepark
•
Nutzung der Schul- und Sportplätze
am Nachmittag
Spielplätze
• statt Kies, Sand in den Sandkästen
Sonstiges, Allgemeines:
•
Erweiterung der Spielplätze; mehr Geräte; außergewöhnliche Spielgeräte;
•
mehr Kontrolle
•
mehr Beschäftigung
•
mehr Spielplätze
•
•
mehr Angebote
Scherben verschmutzen Spielplätze
•
•
Feste besser organisieren
Einzäunen der Spielplätze, um Hunde
fernzuhalten/ Verschmutzung durch
Hunde
•
Clubhaus Ringwiese erhalten
•
mehr Flächen, auf die Kinder ungestört
`rauf können
•
in Zusammenarbeit mit den Kindern
und Jugendlichen
•
Alternativen außerhalb des Wohngebiets (Stück weg)
•
Abenteuerspielplätze
•
Kontrolle der Spielgeräte und bei Bedarf Reparatur
•
Sauberkeit der Spielplätze
•
mehr Holzspielplätze
•
neue Sachen hinbauen
•
mehr Sandkästen
•
Jugendclub
•
mehr Freizeitangebote
Treffpunkte, Anlaufstellen, Nutzräume
•
•
Billard
Anlaufstelle für Jugendliche
•
•
mehr Geld für Jugendclubs
Kellerräume für Jugendliche
•
•
Beschäftigungen
Treffpunkte
•
Vereine
•
Nutzung der Innenhöfe (auch Fußball
spielen dürfen)
Der Wunsch nach einem Abenteuerspielplatz als Spiel- und Lernmöglichkeit im uniformen Stadtteil wurde in den Experteninterviews unterstützt. Gleichzeitig wird aber
auch auf die Notwendigkeit einer Betreuung für ein solches Projekt verwiesen.
50
„Abenteuerspielplatz; das fehlt total. .. aber so ein richtiger Abenteuerspielplatz der müsste
von jemandem betreut werden... wo die Kinder werkeln können, vielleicht ein Baumhaus bauen - so was fehlt total in Winzerla. Das wünschen sich auch die Kinder.... da muss jemand da
sein, der Unterstützung gibt. Gerade wenn die was bauen, mit dem Hammer, da muss ein Erwachsener dabei sein. Da müsste es eine Stelle geben. Das muss dann irgendwo auch beaufsichtigt werden.“ (EPG 8)
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass vor allem sportliche Angebote, eine
Verbesserung der Spielflächen für Kinder sowie vielfältige Angebote für Jugendliche
bei den Verbesserungsvorschlägen im Vordergrund standen. Auffällig dabei ist der
häufig geäußerte Wunsch nach betreuten Angeboten. Wichtig wäre es, in der weiteren Planung den Erfordernissen der Jugendlichen nach kleinflächigen Treffpunkten
gerecht zu werden.
„...also wir haben hier nicht die zwei großen Strömungen.... sondern ich erlebe einfach, dass
wir hier viele, viele kleine Gruppen haben, die alle irgendwo ihren Freiraum suchen. ... Aber
die Frage ist halt immer: Wo? Wohin?... Viele kleiner Dinger, wo die sich zurückziehen können
und wo sie ihr Ding machen können....es muss ja nicht irgendwo abseits sein, sondern wo
auch noch ein Stück soziale Kontrolle durch das Wohngebiet läuft.“ (EPG 4)
Die Planer der Ideenwerkstatt Wasserachse haben in ihren Entwürfen zur Neugestaltung des Areals auch Plätze für Jugendliche vorgesehen. So sind z.B. in weniger
lärmempfindlichen Abschnitten wie am Flößerbrunnen oder auf dem Gelände in
Schulnähe „Jugendecken“ eingeplant.19 Ausgehend von den Bedürfnissen nach Eigenwelten, unbeobachteten Treffs oder nach Selbstdarstellung wurden weitere Flächen um den Komplex Schule, Turnhalle und Kindergarten für Jugendliche vorgesehen.20 Dabei berücksichtigte man auch der Wunsch Jugendlicher aus Winzerla nach
einer Skaterbahn. Diese wird von den Experten nicht nur als Freizeitanlage, sondern
auch wegen einer möglichen Stärkung anderer Jugendkulturen im Stadtteil begrüßt.
„will nur das Beispiel aus Lobeda nennen. Seitdem es diese Skaterbahn in Lobeda gibt, ist
mittlerweile die dominante Jugendkultur in Lobeda, die Skaterkultur... und das würde Winzerla gut tun. Einfach mal was entgegenzusetzen zu der Kultur, die momentan hier bestimmend
ist. Das ist nämlich die (.) ...das sind die so genannten körperbetonten Jugendkulturen. Die
Hooligans, die Skinheads und was weiß ich noch.“ (EPG 17)
In der weiteren Gestaltung des Areals sollten aber auch Räume in ihrer Nutzweise
offen gelassen werden, um den jungen Bewohnern die Möglichkeit einer eigenen
lebensweltlichen Gestaltung ihres Wohnumfeldes zu ermöglichen.21 Eine solche
selbständige Aneignungen von Orten als Treffpunkte sind typisch für Jugendkulturen
und verlaufen ungeplant.
„...wenn sich halt Jugendliche an bestimmten Stellen sammeln, dann haben diese Stellen einen bestimmten Reiz für sie. Den kann man nicht abschaffen, indem man für sie Nischen
schafft. Die Nischen... finden sie selbst.“ (EPG 5)
Damit sind allerdings oftmals auch Zweckentfremdungen verbunden. Die Ergebnisse
unserer Befragung verweisen auf eine Verschmutzung von Spielflächen durch Jugendliche, die sich dort in den Abend- und Nachtstunden treffen. Sie hinterlassen
hier Zigarettenstummel oder Glasscherben, über die sich die Mütter am Morgen ärgern.
„Ich kann diesen Frust von beiden verstehen. Also die Kiddies wissen nicht wohin - logisch,
dass die sich dann auch das Recht nehmen, sich auch irgendwelcher Plätze zu bedienen oder
irgendwelche Plätze einzunehmen - also die Mutti, die mit ihrem Kind jeden Tag den Spiel19 Stadt Jena 2001, AG 1: 11
20 ebenda, AG 2: 14
21 vgl. Maier/ Sommerfeld 2001
51
platz nutzt und abends wird der durch Jugendliche (.) vergewaltigt; liegen Scherben `rum, was
weiß ich. Und am nächsten Morgen will die mit ihrem Kind halt wieder da hin und das Ding ist
total verdreckt. Hundekacke drinne und tralala. Und dann gibt`s halt Frust. Und dann hat das
Kind vielleicht noch `ne schlechte Nacht gehabt, weil die Lärm machen vorm Fenster - das
kann man alles schon nachvollziehen.“ (EPG 17)
Die Pflege und Sauberhaltung der Spielflächen liegt in der Verantwortlichkeit der
Wohnungseigentümer bzw. der Stadt. An sie wenden sich die Bewohner mit ihren
Beschwerden. Möglicherweise könnte durch die Einrichtung geeigneter Plätze für
Jugendliche auch die Verschmutzung der Spielflächen reduziert werden. Zusätzlich
könnte darüber nachgedacht werden, die Plätze am Abend abzuschließen, wie es in
vielen größeren Städten Deutschlands oder Amerikas bereits üblich ist.
Neben der Verschmutzung ist für manche auch der Lärm durch Kinder und Jugendliche auf Freizeitflächen ein Problem. Die Wohnschluchten des Stadtteils verstärken
den Schall zusätzlich und werfen ihn vielfach in die offenen Fenster zurück.
„Das ist wie so ein siebenfaches Echo, das immer wieder hin und her schallt...es muss dort
ein Freiraum geschaffen werden, wo der Schall weg kann. Es ist klar, so ein schrilles Kinderlachen, das bricht sich an den Wänden. Es ist unvermeidbar, dass es sich an den Balkonlodgen drin fängt.“ (EPG 20)
Bauliche Veränderungen wie eine bessere Schallisolierung oder die teilweise Entkernung des Stadtteils sind eine Möglichkeit zur Lärmverringerung. Eine andere Möglichkeit wäre die Schaffung von Plätzen am Rand oder außerhalb des Stadtteils.
Ein solcher Platz außerhalb der
Häuserbereiche wurde in Winzerla
oberhalb der Schrödingerstraße
gebaut. Er befindet sich ca. 100 m
von allen Wohnblöcken entfernt
auf einer Anhöhe und ist vom
Stadtteil aus wenig einsehbar.
Durch den Ausbau des Fußballfeldes soll in den kommenden
Jahren die Grundlage für Vereinsfußball im Stadtteil gelegt werden.
Auf dem Platz befinden sich neben
Angeboten für Kinder wie Rutsche und
Spielgeräte, Aufenthaltsplätze für Jugendliche genauso wie Sportflächen
zum Skaten, Fußballspielen u.ä. Eine
direkte räumliche Trennung in einen
Kinder- und Jugendbereich existiert
nicht.
52
Das Areal wird vorrangig durch Jugendliche genutzt, da es besonders für kleinere
Kinder ohne Begleitung von Erwachsenen oder älteren Kindern zu weit entfernt ist.
Hinzu kommt die bereits thematisierte Verschmutzung durch Jugendliche an ihren
Treffpunkten, die laut Experten ein Spielen auf den Flächen unmöglich macht.
„Und da oben ist - in der Schrödingerstrasse der eine Spielplatz, der nur was ist für Größere....Da oben liegen auch immer ganz viel Scherben auf dem Spielplatz. Ist furchtbar.... wir
waren schon mal mit den Kindern da oben, haben gesagt: wir müssen wieder gehen. Waren
eine Viertelstunde da oben. Das war nicht tragbar. Obwohl der eigentlich vom Garten und
Friedhofsamt betreut wird, der Spielplatz. Einmal in der Woche würden sie sich darum kümmern... aber wenn die abends feten im Sommer, sieht es am nächsten Tag wieder so aus...
da lag ein alter Feuerlöscher da oben und die Mülleimer aus den Halterungen gerissen. Die
anderen Mülleimer gab`s schon gar nicht mehr; die waren schon weg“. (EPG 8)
Doch auch eine Nutzung durch viele Jugendgruppen, wie im Gesamtkonzept angedacht, gestaltet sich laut Expertenmeinung eher schwierig. Der Platz wird vor allem in
den Abendstunden und an den Wochenenden von einer sehr dominanten Gruppe
Jugendlicher genutzt.
„ Aber genutzt wird er von einer Chaotentruppe“ (EPG 4)
„...ja und der reicht ja nicht hinten und vorne aus. Wenn da eine Clique drauf ist, an der Ballanlage...Wo auch die Kinder - Jugendliche sagen: da oben sind Rechte. Ja und da wollen
dann wieder andere, zum Glück, nichts damit zu tun haben. Und da, ja, die Mehrheit - Frechheit siegt. Wer da ist, ist da. So ist es. Und die anderen haben dann das Nachsehen.“ (EPG 8)
So verwundert es nicht, dass die Experten für Kinder- und Jugendarbeit das bisherige Nutzungskonzept eines Nebeneinander von verschiedenen Alters- und Stilgruppen ohne Betreuung in Frage stellen.
„Das ist natürlich für mich gegen den Baum gelaufen. Dieser Sportplatz. Der ist schön! Wunderbar angelegt und so.... also ich war nach Ostern dort, das ist ja wirklich erschreckend. Wie
es da oben aussieht.... die Rutsche dort für eine Kindergruppe oder für Kleinere. Diese Skaterbahn für eine Clique für sich. Das Fußballgitter auch wieder für eine ganz andere Clique.
Der Basketballkorb wieder für andere. Die Tischtennisplatten und die Abhängbänke wieder für
andere. Und da sind 5 Gruppen, die ich auf einem Feld von einem Sportplatz haben möchte,
und niemand ist mit dabei, der dann sagt: Leute, so geht`s nicht. Oder ihr müsst auch mal die
anderen irgendwo mit herkommen lassen. Das kann nicht funktionieren! Das ist also von der
Planung her sehr schön gedacht - man hat eine Stelle, wo gleich alles ist: Aber man hat die
Rechnung ohne den Wirt gemacht.“ (EPG 4)
Die bisherige geringe Nutzung durch kleinere Kinder bzw. Kinder überhaupt sollte
Konsequenzen haben, die auf eine stärkere Spezialisierung der Nutzergruppen hinauslaufen. Möglich wäre auf dem Areal zum einen die Errichtung eines vielfach gewünschten, betreuten Abenteuerspielplatzes. Zum anderen wäre die Änderung des
Nutzungskonzepts im Sinne einer ausschließlichen Nutzung durch Jugendliche
denkbar. Der Platz bietet sich aufgrund seiner Lage besonders für Gleichaltrigengruppen an, da eine Lärmbelästigung von Anwohnern weitgehend ausgeschlossen
ist. In die weitere Gestaltung dieser Freizeitfläche sollten neben baulichen Veränderungen wie einer besseren Aufteilung des Platzes in kleinflächige Treffpunkte für Jugendliche (z.B. Abgrenzung durch Anpflanzung von Grün o.ä.) unbedingt Maßnahmen zur Betreuung einfließen, da eine soziale Kontrolle und Einflussnahme von Bewohnern, wie im direkten Wohnbereich des Stadtteils hier nicht möglich ist.
7.3 Störungen durch Kinder und Jugendliche
Die Störungen durch Kinder und Jugendliche sind auf verschiedenen Ebenen bereits
thematisiert worden. Betrachtet man die hohen Zahlen von Kindern und Jugendlichen im Stadtteil und den in unserer Befragung eingeschätzten Mangel an Plätzen
besonders für junge Menschen, so überraschen allerdings die Ergebnisse unserer
Befragung im Hinblick auf eine wahrgenommene Störung durch diese Gruppen. Wie
Abbildung 28 zeigt, fühlen sich drei Fünftel aller Befragten nicht durch Kinder und
Jugendliche im Stadtteil gestört.
Abbildung 28: Störungen durch Kinder und Jugendliche im Stadtteil
Gibt es Situationen, in denen Sie sich von Kindern und Jugendlichen im
Wohngebiet gestört fühlen?
ich weiß nicht
0,9%
ja
39,2%
nein
59,9%
Demgegenüber erleben etwas weniger als zwei Fünftel Situationen, in denen sie sich
von Kindern und Jugendlichen gestört fühlen. Woraus bestand nun diese Störung
und an welchen Orten fand sie statt?
Bei der Frage nach der Art der Störung wird deutlich, welche große Rolle dabei jugendliches (Fehl-)Verhalten bzw. das Treffen in Gruppen spielen. Jugendliche fallen
durch Treffpunkte mit Gleichaltrigen auf. Die Gleichaltrigengruppen oder Cliquen bieten einen Schutzraum zum Ausprobieren von Verhalten, geringen Normüberschreitungen, Grenzverletzungen u.ä., denen eine wichtige sozialisatorische Funktion im
Rahmen des Erwachsenwerdens zukommt. Besonders in Gruppen junger Männer
geht es dabei erfahrungsgemäß eher lautstark zu.
Wie auch Abbildung 29 zeigt, sind es vor allem Lärmbelästigungen, das Verhalten
Jugendlicher in Gruppen sowie deren Benehmen und Unordnung/ Unsauberkeit, die
als Ursachen einer erlebten Störung genannt wurden. Einen nur geringen Stellenwert
spielen Sachbeschädigung und Graffiti, Gewaltandrohung bzw. eine undifferenzierte
Angst vor Gewalt.
Abbildung 29: Ursachen einer Störung durch Kinder und Jugendliche im Stadtteil
(Mehrfachnennungen möglich; nach Anzahl der Nennungen, N=198)
Ruhestörung/ Lärm
40,4%
18,7%
Störung durch Gruppen Jugendlicher
davon alkoholisierte Jugendliche
7,6%
6,6%
davon "rechte" Jugendliche
schlechtes Benehmen/ Anpöbeln
10,1%
Unordnung/ mangelnde Sauberkeit
Sachbeschädigung (auch Graffiti)
8,1%
3,5%
Gewaltandrohung/ Angst vor Gewalt
2,5%
Sonstiges
2,5%
54
Befragt nach den Orten, an denen die Störung stattfand, gaben die Interviewten vor
allem Plätze im direkten Wohnumfeld wie vor der Wohnung, auf den Bänken vor dem
Haus, auf dem Fußballplatz bzw. den Fußballflächen im n
I nenhof, im Nachbarhaus
oder auf dem Wäscheplatz an. Außerdem sind es die Nahbereiche der beiden großen Einkaufszentren Columbus- und Win-Center, der Marktbereich (hier besonders
Rewe und am Brunnen), der Jugendclub „Hugo“ sowie Schulen, Kindergärten und
Spielplätze, auf denen Störungen durch Jugendliche vorkommen. In unserer Befragung konnte allerdings kein zentraler Ort als Störungsquelle festgestellt werden.
Gerade bei kleineren Störungen im direkten Wohnumfeld regten Experten private
Problemlösungsstrategien an. Durch ein ruhiges und sachliches Gespräch zwischen
Mietern und Jugendlichen sei möglicherweise so manches Problem aus der Welt zu
schaffen, bevor Polizei oder Streetworker gerufen werden. Gleichzeitig fördere dies
auch das Verständnis zwischen jungen und älteren Bewohnern des Stadtteils.
„wenn dann eine Gruppe Jugendlicher vor der Tür `rumhängt, die spucken hin, die werfen ihre
Kaugummis hin... und das stört die Leute unheimlich. Also es ist nicht so, dass sie nicht Guten
Tag sagen; aber dass sie eben auch Abfall haben und nicht nur ein bisschen, sondern eine
ganze Menge. Dann lassen sie eben Flaschen stehen und die Lautstärke und das ist das, was
stört.....Aber ich denke mal, da müssen die Leute auch mit den Jugendlichen das Gespräch
suchen. Ich denke mal, zum großen Teil bringt es was. Wenn sie sich unterhalten... und dass
sich dann auch ein Kontakt aufbaut.“ (EPG 8)
Besonders im Umfeld öffentlicher Einrichtungen oder Einkaufszentren wurde der
Aufenthalt von Jugendgruppen problematisiert. Zusätzlich zu einer möglichen Lärmbelästigung kommt noch die Befürchtung hinzu, dass sich der Publikumsverkehr aufgrund von Angst vermindere. Hier wird von den Verantwortlichen schnelles Reagieren gefordert, das meist in einem Hausverbot endet, ohne das Problem damit wirklich
gelöst zu haben. Die Gruppe zieht weiter und sucht sich einen neuen Platz.
„Wir haben Probleme seit ungefähr einem halben Jahr. Die waren erst ... an der ReweKaufhalle, ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, aber sie hat sie irgendwie - die standen
dann hier vorne, bei dem Bäcker, an der Wasserachse. Immer so eine Traube von zwanzig,
dreißig. Ich kenne einige davon. .....so, jetzt war bei mir der Fall, dass sie nach der fünften
Gallone Bier die Kunden belästigt haben, die Mieter natürlich bei mir vor der Tür standen und
gesagt haben: so machen wir das nicht weiter mehr mit; und da musste ich dann auch reagieren. Ich bin jetzt glaube ich bei fünfundzwanzig Hausverboten, die ich ausgesprochen habe.
Ich mache immer so 3 Monate Hausverbot und bei Verstoß zeige ich sie an. Ich weiß mir auch
nicht mehr anders zu helfen. Ich hab` halt den Sicherheitsdienst hochgeschraubt. Wobei ich
das nicht für den richtigen Weg halte.“ (EPG 21)
Insgesamt zeigen die Ergebnisse unserer Befragungen, dass die Situation von Kindern und Jugendlichen im Wohngebiet Winzerla nicht ganz unproblematisch ist. Zum
Teil gibt es Nutzungskonflikte, die wiederum auf eingeschränkte Freizeitflächen vor
allem für die Jugendlichen zurückzuführen sind. Jugendliche eignen sich dann ihrerseits Orte im Stadtteil an, funktionieren sie für ihre Interessen um und lösen damit
neue Konflikte aus. Auch Freiraumplanungen für Kinder und Jugendliche erreichen
nicht immer ihr Ziel. Insgesamt scheint Winzerla besonders für die Gruppe der Jugendlichen nicht immer günstige Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten.
55
8. Nachbarschaft und Haus
In diesem Kapitel geht es vorrangig um die Nachbarschaftsbeziehungen in Winzerla.
Sind sie durch Anonymität gekennzeichnet, wie es oft im Zusammenhang mit großen, baulich verdichteten Siedlungen beschrieben wurde? Oder sind sie trotz aller
eventuellen Probleme ein echter Gewinn für die Lebensqualität?
8.1 Nachbarschaftsbeziehungen: Bekanntheit und grüßen
Gute nachbarschaftliche Beziehungen sind nicht nur wichtig für Kommunikation oder
Selbsthilfe, sondern sie ersetzen zum Teil auch Dienstleistungen, die sonst teuer auf
dem freien Markt bezahlt werden müssten.
Um in einem so hoch verdichteten Stadtgebiet Missverständnisse mit dem Begriff
„Nachbarn“ zu vermeiden, definierten wir diese im Interview folgendermaßen: `als
Nachbarn sind alle Bewohner des Hauseingangs anzusehen`.
Wie die Abbildung 30 zeigt, kennt knapp die Hälfte unserer Befragten alle Nachbarn
im Hauseingang mit Namen und kann die Personen den entsprechenden Haushalten
zuordnen. Nur 8,6% kennen keinen der Nachbarn namentlich. Der Bekanntheitsgrad
ist erwartungsgemäß abhängig von der Wohndauer in der Wohnung: je länger die
Befragten bereits hier wohnen, desto mehr Nachbarn kennen sie auch mit Namen.
56
Abbildung 30: Wie viele Nachbarn aus Ihrem Hauseingang kennen Sie mit Namen? (N=336)
46,7%
19,9%
19,0%
8,6%
5,7%
keinen
einen bis vier
fünf bis zehn
mehr als zehn
alle
Außerdem zeigt Abbildung 31, dass deutlich mehr als vier Fünftel der Befragten alle
Nachbarn im Haus grüßen; also auch diejenigen, die sie nicht eindeutig den
Haushalten zuordnen können.
Abbildung 31: Wie viele Nachbarn aus Ihrem Haus grüßen Sie (N=334)
85,3%
6,6%
4,8%
3,0%
einen bis vier
fünf bis zehn
mehr als zehn, aber
nicht alle
0,3%
keinen
alle
Nur ein Interviewter gab an, niemanden zu grüßen. Er war erst vor einem Monat in
das Haus eingezogen. Doch wie sieht es mit den weitergehenden nachbarschaftlichen Kontakten aus?
57
8.2 Unterhaltungen, Besuche und gegenseitige Hilfe
Wie auch Abbildung 32 verdeutlicht, finden nachbarschaftliche Gespräche bei den
meisten Befragten statt. Etwas mehr als ein Viertel unterhält sich sogar mit allen
Nachbarn.
Abbildung 32: Mit wie vielen Nachbarn unterhalten Sie sich? (N=333)
35,7%
27,9%
18,6%
10,8%
6,9%
mit keinem
mit einem bis vier
mit fünf bis zehn
mit mehr als zehn,
aber nicht allen
mit allen
Bei etwas mehr als jedem Zehnten unserer Befragung finden keine Gespräche zwischen den Nachbarn statt.
Als weitere wichtige Indikatoren nachbarschaftlicher Beziehungen definierten wir gegenseitige Besuche und nachbarschaftliche Hilfspotenziale. Bei der Frage, ob man
selbst schon einmal Nachbarn zu sich eingeladen hat und ob man bereits von Nachbarn in deren Wohnung eingeladen wurde, zeichnet unsere Untersuchung ein eher
homogenes Bild nachbarschaftlicher Besuche und Gegenbesuche.
Abbildung 33: Nachbarschaftliche Besuche
Nachbarschaftliche Besuche
48,4%
47,2%
51,6%
52,8%
Haben Sie selbst Nachbarn zu sich
eingeladen?
Wurden Sie von Nachbarn in deren Wohnung
eingeladen?
ja
nein
58
Wie Abbildung 33 zu entnehmen ist, sind mehr als die Hälfte aller Befragten bereits
in eine nachbarschaftliche Wohnung eingeladen worden und fast genauso viele haben selbst Nachbarn zu sich nach Hause eingeladen. Auch hier lässt sich wieder eine deutliche Abhängigkeit von der Wohndauer in der Wohnung feststellen. Je länger
die Befragten bereits in ihrer Wohnung wohnen, desto häufiger wurden nachbarschaftliche Besuche und Gegenbesuche angegeben.
Mit Blick auf die gegenseitigen Besuche konnten deutliche Unterschiede zwischen
den eingeteilten Zonen des Wohngebiets festgestellt werden. Abbildung 34 zeigt,
dass im so genannten Altneubaugebiet mit über 90% gelegentliche nachbarschaftliche Besuche am häufigsten sind. Am seltensten fanden sie bei Befragten im nördlichen Randquartier, im Wohngebiet an der Wasserachse und im städtebaulich monotonsten Gebiet statt.
Abbildung 34: Zonenspezifisch: Wurden Sie von Nachbarn in deren Wohnung eingeladen?
städtebaulich monotonstes
Gebiet
Wohngebiet an der
Wasserachse
Quartiere an der
Siemsenstraße
nördliches Randquartier
48,5%
51,5%
40,0%
60,0%
52,3%
47,7%
37,0%
Privatisierungsobjekte der
SWVG
63,0%
62,0%
direkter Bezug zum
Landschaftsraum
38,0%
59,3%
Altneubaugebiet
40,7%
90,9%
9,1%
Um die Kontakte zwischen den Nachbarn noch etwas differenzierter zu betrachten,
wurden Befragten, bei denen gegenseitige Besuche und Gegenbesuche stattfanden,
um eine Einschätzung der Besuchshäufigkeit gebeten. Wie Abbildung 35 zeigt, wird
die Häufigkeit gegenseitiger nachbarschaftlicher Besuche von mehr als drei Fünftel
der Befragten als eher selten eingeschätzt. Mehr als ein Fünftel besucht seine Nachbarn häufig.
Abbildung 35: Häufigkeit gegenseitiger Besuche
kann ich nicht einschätzen
häufig
eher selten
15,4%
22,9%
61,7%
59
Neben Unterhaltungen und Besuchen bestimmt sich die Qualität von Nachbarschaftsbeziehungen vor allem auch über gegenseitige Hilfe und Unterstützung. Hilfen
unter Nachbarn können dabei echte ökonomische Vorteile bringen, wenn die entsprechenden Tätigkeiten sonst am Markt teuer bezahlt werden müssten. Dies gilt
beispielsweise für Reparatur- und Sanierungsarbeiten in der Wohnung oder Einkaufsdienste für ältere oder behinderte Mitbewohner.
Die Ergebnisse unserer Befragung verweisen auf ein großes Hilfspotenzial im nachbarschaftlichen Gefüge Winzerlas. Wie Abbildung 36 zeigt, unterstützen sich mehr
als vier Fünftel aller Befragten gegenseitig mit kleineren nachbarschaftlichen Hilfeleistungen.
Abbildung 36: Helfen Sie sich manchmal gegenseitig?
nein
17,3%
ja
82,7%
Befragt nach der Form der Hilfen wurden vor allem folgende genannt (vgl. auch
Abbildung 37):
•
kleine alltägliche Unterstützungen wie das Ausborgen von Sachen oder
das Annehmen von Post und Paketen,
•
das Ausleeren des Briefkastens und die Pflege der Blumen während Urlaubs- oder Krankenhausaufenthalts,
•
Hilfe für Ältere oder Schwächere wie die Übernahme der Hausordnung,
das Hochtragen schwerer Taschen u.ä.,
•
handwerkliche Hilfeleistungen wie Tapezieren oder Hilfe beim Teppichverlegen sowie Ein- und Auszug,
•
gegenseitige Hilfe bei der Kinderbetreuung
60
Abbildung 37: Helfen Sie sich manchmal unter Nachbarn? Wenn ja: wie?
(Mehrfachnennungen möglich; nach Anzahl der Nennungen, N=337)
kleine alltägliche
Hilfeleistungen
45,8%
Hilfe als
Urlaubsvertretung
Hilfe für Ältere/
Schwächere
handwerkliche
Hilfeleistungen
28,1%
13,4%
9,8%
Hilfe bei
3,0%
Kinderbetreuung
Insgesamt zeigt sich für Winzerla mit Blick auf relativ oberflächliche aber auch persönlichere Nachbarschaftsbeziehungen ein positives Bild. Zu berücksichtigen ist,
dass sich gerade Nachbarschaft oftmals auch durch den Wunsch nach einer gewissen Distanz auszeichnet. Wie bewerten die Befragten selbst die Beziehungen zu ihren Nachbarn?
8.3 Subjektive Zufriedenheit mit nachbarschaftlichen Kontakten
Vier Fünftel der Befragten äußerten sich zufrieden über den Umfang nachbarschaftlicher Kontakte, nur 14% wünschten sich mehr Kontakte im nachbarschaftlichen Nahbereich (vgl. auch Abbildung 38).
Der Grad der Zufriedenheit ist auch hier abhängig von der Wohndauer in der Wohnung sowie vom Familienstatus. Je länger die Befragten bereits in ihrer Wohnung
wohnen, desto zufriedener sind sie mit den Kontakten und desto seltener beurteilen
sie diese Form nachbarschaftlicher Beziehungen als „egal“. Singles wünschen sich
überproportional oft mehr Kontakt im Haus als Familien mit Kindern und in Ehe oder
Lebensgemeinschaft lebende Personen. Befragten in Wohngemeinschaften war der
nachbarschaftliche Kontakt überproportional oft gleichgültig, was wahrscheinlich mit
der begrenzten Wohndauer im Stadtteil zusammenhängt.
61
Abbildung 38: Wünschen Sie sich mehr Kontakte zu Ihren Nachbarn oder sind Sie zufrieden
damit, wie es ist?
ist mir egal
5,6%
wünsche mir mehr
Kontakte
14,3%
bin zufrieden
80,1%
Die Lebensqualität und Zufriedenheit in einem Haus kann neben der Intensität sozialer Kontakte auch durch äußere Faktoren wie Sauberkeit beeinflusst werden. Gerade
Streitigkeiten um die Sauberhaltung von Gemeinschaftsräumen wie Treppen oder
Keller lassen manchmal ein großes nachbarschaftliches Konfliktpotenzial vermuten.
8.4 Sauberkeit im Haus
Betrachtet man die Einschätzung der Sauberkeit im Haus als einen weiteren Aspekt
der Zufriedenheit und Lebensqualität, so zeigt Abbildung 39 folgendes Bild: fast zwei
Drittel aller Interviewten äußerten sich sehr zufrieden bzw. zufrieden mit der Haussauberkeit; etwas mehr als ein Drittel ist damit weniger oder gar nicht zufrieden.
Abbildung 39: Wie zufrieden sind Sie mit der Sauberkeit im Haus?
44,3%
20,5%
19,6%
14,9%
sehr zufrieden
zufrieden
weniger zufrieden
gar nicht zufrieden
62
Betrachtet man diejenigen, die weniger oder gar nicht mit der Sauberkeit im Haus
zufrieden sind, so zeigt Abbildung 40 die Gründe dafür. Vor allem die Unzufriedenheit über verschmutzte Wände bzw. insgesamt einen Mangel an Sauberkeit, die Vernachlässigung der Hausordnung durch die Nachbarn, die Notwendigkeit von Sanierung/ Renovierung des Flurbereichs sowie eine mangelnde Pflege durch externe
Dienstleister wie Reinigungsfirmen oder Hausmeister wurden als Begründungen genannt.
Abbildung 40: Falls weniger oder gar nicht zufrieden: Was stört Sie?
(Mehrfachnennungen möglich; nach Anzahl der Nennungen, N=154)
mangeldnde Pflege durch
externe Dienstleister
11,0%
Sanierung/ Renovierung
Flurbereich notwendig
20,8%
Hausordnung nicht gemacht
33,8%
Mangel an Sauberkeit/
verschmutzte Wände
34,4%
Diese Ergebnisse deuten auch Konfliktpotenziale unter Nachbarn an, die entweder
selbst Verursacher von Verschmutzungen im Haus sein können, oder ihren Pflichten
zur Sauberhaltung nicht nachkommen.
8.5 Konflikte unter Nachbarn
Abbildung 41 zeigt die Ergebnisse auf die Frage `Gibt es im Haus manchmal Konflikte oder Probleme unter den Nachbarn?`. Fast die Hälfte aller Befragten verneint diese Frage. Ein Fünftel kümmert sich nicht darum und ein gutes Drittel berichtet über
entsprechende Konflikte.
Abbildung 41: Gibt es im Haus manchmal Konflikte oder Probleme unter Nachbarn?
ist mir egal
19,4%
ja
36,0%
nein
44,6%
63
Wie auch Abbildung 42 zeigt, wurde als häufigster Grund für solche Konflikte unter
Nachbarn eine Ruhestörung durch Lärm im Haus genannt. Darunter fielen folgende
Einzelangaben:
•
•
•
•
•
•
•
•
Ruhestörung durch Bohrlärm
Lärm von Angetrunkenen/ Betrunkenen
Besucher sind zu laut
Lärm durch Jugendliche im Treppenhaus verursacht
Zu laute Jugendliche allgemein
Zu laute Musik
Lautstarkes Streiten in der Wohnung darüber
Häufiges Schreien vom Balkon.
Abbildung 42: Welche Anlässe gibt es für Konflikte?
(Mehrfachnennungen möglich; nach Anzahl der Nennungen, N=186)
50,5%
Lärm im Haus
22,6%
Hausordnung
12,9%
unfreundliches Verhalten
9,1%
Streit unter Nachbarn
4,8%
Sonstiges
Durch die zum Teil geringe Schallisolierung der Häuser wird die Übertragung von
Lärm gefördert. Bauliche Maßnahmen könnten ganz entscheidend zur Minimierung
dieses Konfliktpotenzials beitragen.
Weitere Anlässe für Konflikte waren die Vernachlässigung der Hausordnung, unfreundliches Verhalten und Streit unter Nachbarn sowie einige andere Detailprobleme (z.B. Haustür nicht abgeschlossen, Ärger wegen Haustieren, Zerstörung des Eigentums anderer).
Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse zu den Nachbarschaftsbeziehungen in
Winzerla einige Unterschiede im Hinblick auf die Intensität der Kontakte und Kommunikationsformen. Grüßen, gelegentliche Unterhaltungen und kleinere Hilfeleistungen unter Nachbarn sind aber durchaus weit verbreitete Formen der Kontaktaufnahme und -pflege im sozialen Gefüge des Stadtteils. Keineswegs deuten unsere Befragungsergebnisse auf weitreichende Isolationstendenzen hin. Dementsprechend ist
deutlich der Großteil der Interviewten mit seinen nachbarschaftlichen Kontakten zufrieden. Die Intensität sowie die subjektive Zufriedenheit sind dabei sehr stark von
der Wohndauer in der Wohnung abhängig. In stabilen langjährigen Mietergemeinschaften können sich nachbarschaftliche Kontakte entwickeln und Konfliktpotenziale
eher durch Gespräche entschärft werden. Eine zunehmende Fluktuation verhindert
allerdings langfristig die Herausbildung solcher stabilen Gemeinschaften. Vor allem
64
allein lebende Befragten wünschen sich relativ häufig gern mehr Kontakte zu Nachbarn. Wie bereits in Kapitel 4 beschrieben, kann die Schaffung von attraktiven Aufenthaltsmöglichkeiten mit Bänken im direkten Nahbereich der Wohnhäuser Begegnungen auch außerhalb der Wohnungen fördern.
Bau- und Sanierungsmaßnahmen können insgesamt ganz entscheidend zur Steigerung der Zufriedenheit der Bewohner beitragen. Dabei ist besonderes Augenmerk
auf die Renovierung und Sauberhaltung der Flur- und Treppenbereiche und eine
bessere Schallisolierung der Wohnungen zur Vermeidung von Konflikten durch Ruhestörung zu legen.
Bei Gesprächen im Rahmen unserer Ausstellung im Stadtteilbüro Winzerla wurde
mehrfach Verunsicherung wegen einer ungenügenden Informationspolitik der Wohnungsinhaber zu geplanten Bau- und Sanierungsvorhaben geäußert. Dabei stand
angesichts des zunehmenden Alters der Mieter auch immer wieder die Frage des
nachträglichen Einbaus eines Fahrstuhls im Vordergrund. Sollte es den Wohnungseigentümern in nächster Zeit nicht gelingen, diese Fragen der Mieter zufriedenstellend zu beantworten, werden neben den Familien auch ältere Bewohner den Stadtteil
auf der Suche nach altersgerechterem Wohnraum verlassen.
65
9. Selbsthilfepotenziale im Wohngebiet
Im vorangegangenen Kapitel ist bereits deutlich geworden, dass die gegenseitige
Hilfe unter Nachbarn in Winzerla eine recht hohe Bedeutung hat. So zeigten die Ergebnisse unserer Befragung ein hohes Maß an Engagement für sich und andere im
direkten Wohnumfeld. In den alten Bundesländern haben sich aus dieser Tradition
oftmals Nachbarschaftsinitiativen und –häuser, Müttertreffs und Stadtteilläden gebildet. In den neuen Bundesländern steht diese Entwicklung erst am Anfang. Das Setzen von Impulsen und der Erfolg bei der Motivierung der Bewohner wird in den
nächsten Jahren über Erfolg oder Misserfolg solcher Projekte auch in den ostdeutschen Plattenbauquartieren entscheiden. Dabei lassen sich nicht nur in den neuen
Bundesländern und Thüringen generell, sondern auch in unserem Untersuchungsstadtteil Winzerla einige Potenziale feststellen22.
Die Ergebnisse unserer Befragung verdeutlichen anhand von Abbildung 43 folgendes Potenzial eines bürgerschaftlichen Engagements: Mehr als jeder vierte Befragte
unserer Stichprobe zeigte Interesse, sich mit anderen Bewohnern Winzerlas zusammen zu tun, um gemeinsam für Verbesserungen im Stadtteil einzutreten.
Abbildung 43: Haben Sie Interesse, sich mit einigen anderen Bewohnern hier aus Winzerla zusammen zu tun, um gemeinsam etwas in Winzerla zu verbessern?
ja
27,3%
nein
72,7%
Insgesamt verweisen die Ergebnisse unserer Befragung auf ein großes Potenzial an
Bürgern, die sich für ihren Stadtteil engagieren möchten. Überproportional oft dazu
bereit waren Befragte, die:
o
o
o
o
o
sich mehr nachbarschaftliche Kontakte wünschten,
zum Zeitpunkt der Befragung arbeitslos waren,
im so genannten Altneubaugebiet in Dorfnähe wohnten,
ihre Kinder allein erziehen sowie
Befragte, die sich bereits bei Nachbarschaftshilfen aktiv zeigten.
22 Lakemann/ Liebigt/ Beer 2001
66
Die Bereitschaft war hingegen geringer bei älteren Menschen über 65 Jahre und Befragten aus den Mietwohnungen mit direktem Bezug zum Landschaftsraum.
Nicht immer mündet die Absicht zu einem Engagement auch in reales Verhalten. Es
stellt sich auch für Winzerla somit die Frage, wie und womit sich das ganz beachtliche Potenzial auch wirklich aktivieren lässt.
9.1 Aktivierung des Selbsthilfepotenzials durch soziale Arbeit
Wie schwierig es ist, Bewohner für ihren Stadtteil zu interessieren und an einen Tisch
zu bringen, wurde bei der Veröffentlichung unserer Forschungsergebnisse im Stadtteilbüro Winzerla deutlich. Im Anschluss an eine 2-wöchige Ausstellung hatten wir
sowohl die Winzerlaer Bevölkerung wie auch Experten zur Diskussion der Ergebnisse, möglicher Umsetzungsperspektiven und Anregungen eingeladen. Die Veranstaltung war im Vorfeld über die Stadtteilzeitung, die Tagespresse, eine umfangreiche
Plakatierung im Stadtteil und Handzettel angekündigt worden. Alle diese Bemühungen und ein unserer Meinung nach interessantes Thema, lockten außer den Experten nur zwei Winzerlaer ins Stadtteilbüro.
Vielen Bewohnern scheint nach wie vor eine Vorstellung davon zu fehlen, dass ihr
Wohngebiet oftmals der Ort ist, an dem zum einen auch überregionale Probleme direkt sichtbar werden, an dem man aber zum anderen auch trotz aller struktureller
Restriktionen eine Menge dagegen machen kann.23 Soziale Arbeit im Stadtteil hätte
hier die Aufgabe, zwischen den unterschiedlichen Akteuren (z.B. Bürger; Stadtverwaltung) zu vermitteln und neue Formen der Integration zu ermöglichen. Wichtig dabei ist es, Spielräume für Planungen offen zu lassen, die Bewohner in eine Planung
mit einzubeziehen und so das Interesse an einer aktiven Mitarbeit für eine lebensweltliche Gestaltung des Wohnumfelds langfristig zu wecken.
Soziale Arbeit im Stadtteil hat vor diesem Hintergrund die Aufgabe, Kommunikation,
gegenseitige Hilfe im Alltag, Konfliktreglungen, Mitbestimmung beim Ausbau des
Stadtteils, soziokulturelle Aktivitäten, Aktionen zur Identifikation mit dem Stadtteil u.ä.
zu initiieren und sie dann nach und nach in die Hände ehrenamtlicher Mitstreiter zu
übergeben. Dabei muss sich Soziale Arbeit im Stadtteil immer der Gefahr bewusst
sein, dass die Angebote möglicherweise nur konsumiert werden und nicht zur Aktivierung beitragen können.24 Erst wenn eigene, ganz individuelle Motive zum Engagement, verbunden mit einer hohen Stadtteilidentifikation in Engagement münden
und dieses greifbare Erfolge nach sich zieht, ist die Basis für eine längerfristige
Selbsthilfestruktur im Wohngebiet geschaffen.
9.2 Aktivierung auch älterer Menschen
Die Ergebnisse unserer Befragung zeigen, dass sich auch ältere Menschen für ihren
Stadtteil einsetzen wollen. Angesichts der Bevölkerungsentwicklung mit einem ständig steigenden Anteil an älteren Menschen auch im Stadtteil Winzerla 25, einer steigenden Lebenserwartung sowie abnehmender Erwerbszeiten rückt gerade diese
Gruppe verstärkt ins Blickfeld. Viele „neue Alten“ sind durchaus in der Lage, sich aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Für sie kann eine ehrenamtliche Tätigkeit in der Nacherwerbs- und Nachfamilienphase folgende vielfältige Möglichkeit bieten:
23 Gessenharter 1996
24 Maier/ Sommerfeld 2001
25 vgl. Kapitel 3
67
o
o
o
o
Beteiligung an der weiteren aktiven Gestaltung des Stadtteils,
Möglichkeit für Austausch und Treffen,
Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft,
sinngebende Tätigkeit und Anerkennung
Solche und ähnliche Aktivitäten würden ganz entscheidend dazu beitragen, eine
Vereinsamung älterer Menschen zu vermeiden.
Bereits existierende Programme auf Bundes- oder Landesebene wie „55 Plus“ oder
das „Seniorenbüro“ arbeiten erfolgreich mit dieser Zielgruppe. Ein stadtteilgebundenes Engagement hätte zusätzlich noch den Vorteil, dass verstärkt altersgemischte
Projekte initiiert werden können, die Vorurteile und Ängste zwischen den Generationen abzubauen helfen.
„Man könnte ja mal auch so Projekte jung und alt initiieren. Gerade solche Jugendlichen, die
Erfahrung habe ich gemacht, wenn da irgendwelche Aufgaben dahinter stehen, da kann man
die schon kriegen. Die sind gar nicht so... pöbelnd. Die werden ja meistens in so eine Ecke
gedrängt. Und dann kommt jemand vorbei und beschimpft die noch mal und dann - ich meine,
es müsste ein gegenseitiges Aufeinander - Zugehen sein. Denn wenn die dann wieder Verantwortung kriegen, für irgendwas da sind, benehmen die sich auch ganz anders. Also ich habe z.B. solche Leute mal - gerade wenn ich so Messen gemacht habe für ältere Bürger, die
habe ich einfach mal so angesprochen und die haben mit mir solche Sachen aufgebaut. Hab´
ein kleines Honorar zahlen können. Bin gut mit denen ausgekommen.“ (EPG1)
Insgesamt sind einige Selbsthilfepotenziale in Winzerla deutlich geworden. Diese gilt
es zukünftig in der angedeuteten Richtung zu pflegen, auszubauen und in reales
Verhalten zu überführen. Stets werden solche Potenziale von regionalen und überregionalen sozio-ökonomische Rahmenbedingungen beeinflusst. Günstige Bedingungen in ökonomischer, sozialer, zeitlicher und regionaler Hinsicht fördern die Motivation und die Bereitschaft zu entsprechendem Handeln. Dabei ist immer auch die flankierende Unterstützung durch politische Gremien wichtig.
68
10. Politik und Ortschaftsrat
Die subjektive Lebensqualität eines Wohngebiets drückt sich auch aus in der Einschätzung der Bewohner zur Politik im Stadtteil. Zunächst wollten wir dazu wissen,
ob die Befragten meinen, „...dass sich die Leute im Rathaus um Winzerla kümmern“.
Wie Abbildung 44 zeigt, konnte der größte Teil der Interviewten (41,1%) konnte auf
diese Frage keine Antwort geben. Ein knappes Drittel (32,7%) ist der Ansicht, dass
sich die Leute im Rathaus um den Stadtteil kümmern und etwas mehr als ein Viertel
(26,2%) ist nicht dieser Meinung.
Abbildung 44: Glauben Sie, dass sich die Leute aus dem Rathaus um Winzerla kümmern?
41,1
45
40
32,7
35
26,2
30
25
20
15
10
5
0
ja
nein
weiß nicht
Diese Ergebnisse lassen die Schlussfolgerung zu, dass die kommunale Politik für
viele Bewohner Winzerlas relativ weit entfernt ist, so dass sie sich deren Einschätzung nicht zutrauen. Wahrscheinlich wird von vielen auch der unmittelbare
Zusammenhang zum eigenen Stadtteil gar nicht gesehen. Dies müsste anders sein,
wenn man den Ortschaftsrat betrachtet. Wie Abbildung 45 zeigt, kann auch der
größte Teil der Befragten die Politik direkt vor Ort nicht einschätzen. Knapp die Hälfte
(48%) weiß nicht, ob durch die Arbeit des Ortschaftsrates Veränderungen im Stadtteil
zu erwarten sind. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der Ortschaftsrat zum Zeitpunkt
unserer Befragung erst kurze Zeit aktiv war. Grundsätzlich sind die Bewohner aber
gegenüber der Arbeit des Ortschaftsrates optimistisch eingestellt. Mehr als zwei
Fünftel erwarten dadurch Veränderungen für Winzerla; nur 10% verneinen diese
Frage.
69
Abbildung 45: Seit einem Jahr gibt es in Winzerla einen Ortschaftsrat. Wird sich dadurch für
Winzerla etwas verändern?
nein
10%
weiß nicht
48%
ja
42%
Wie Abbildung 46 zeigt, beziehen sich die meisten Befragten, die vom Ortschaftsrat
Veränderungen erwarten, auf dessen Mitwirkung bei der Gestaltung der Wasserachse und des Fußgängerbereichs zwischen Win-Center und Rewe. Häufig genannt
wurde auch eine allgemeine Interessenvertretung; mehr Angebote für Jugendliche;
die Gestaltung der Grünanlagen bzw. die Verbesserung der Parkplatzsituation. Damit
werden einerseits die bisherigen positiven Mitwirkungsaspekte des Ortschaftsrates
hervorgehoben und zum anderen die auch in unserer Befragung deutlich gewordenen dringlichen Problemlagen wie Jugendfreizeit und Parkplatzsituation zur Lösung
an den Ortschaftsrat verwiesen.
Abbildung 46: Wird sich durch den Ortschaftsrat etwas verändern; wenn ja, was?
(Mehrfachnennungen möglich; in % nach Anzahl der Nennungen; N= 146)
Angebote für Senioren
1%
mehr Sicherheit
1%
mehr kulturelle Veranstaltungen
6%
allgemeine Gestaltung
8%
Verbesserung der Parkplatzsituation
10%
Grünanlagengestaltung
16%
Angebote für Jugendliche
16%
allg. Interessenvertretung
21%
bereits gezeigt bei Marktgestaltung/ Wasserachse
0%
21%
5%
10%
15%
20%
25%
70
11. Kriminalitätsfurcht im Wohngebiet
Im Zusammenhang mit den Lebensbedingungen in hoch verdichteten Neubausiedlungen wird auch immer wieder über das Ausmaß an Kriminalität diskutiert. Vor allem
die baulichen und sozialen Strukturen der Stadtteile werden dabei als förderlich für
die Entstehung krimineller Handlungen angesehen.
Uns interessiert an dieser Stelle vor allem die subjektive stadtteilbezogene Kriminalitätswahrnehmung der Bewohner Winzerlas. Wie Abbildung 47 zeigt, ist der größte
Teil der Befragten keineswegs der Auffassung, dass die Kriminalität in Winzerla überdurchschnittlich verbreitet ist. Mehr als ein Drittel aller Befragten meint, die Kriminalität sei in Winzerla genauso hoch wie im Rest der Stadt. Fast 20% betrachtet sie
sogar als niedriger. Nur 14,4% sind der Meinung, dass kriminelle Handlungen in
Winzerla deutlich häufiger bzw. häufiger vorkämen als in anderen Stadtteilen Jenas.
Abbildung 47: Einschätzung der Kriminalität Winzerlas im Vergleich zum Rest der Stadt
deutlich höher
2,4%
höher
12,2%
weiß nicht
31,5%
genauso hoch
34,2%
niedriger
19,6%
Wie sicher fühlen sich die Bewohner vor diesem Hintergrund tagsüber und nachts in
ihrem Stadtteil?
Abbildung 48 zeigt dazu signifikante tageszeitabhängige Unterschiede. Tagsüber
fühlen sich mehr als neun Zehntel aller Interviewten im Stadtteil sicher. Nur 1,5% fühlen sich unsicher und 7,1% teilweise sicher. Ganz anders während der Nachtstunden: hier äußerten insgesamt 45,2% aller Befragten ein Gefühl von teilweiser oder
völliger Unsicherheit.26 Etwas mehr als die Hälfte aller Befragten sieht auch in der
Nacht keinen Grund für ein unsicheres Gefühl im Stadtteil.
26 teilweise: 29%; völlig unsicher: 16,2%
71
Abbildung 48: Vergleich des subjektiven Sicherheitsgefühls im Stadtteil tagsüber und nachts
Fühlen Sie sich in Winzerla sicher?
a) tagsüber b) nachts
tagsüber
nachts
100%
80%
60%
40%
20%
0%
ja
nein
teilweise
Unsicherheitsgefühle sind ein wichtiger Faktor zur Messung von Kriminalitätsfurcht.
Empirische Untersuchungen zeigen, dass diese vielfach höher ist als die amtlich registrierte und durch Dunkelfeldanalysen ergänzte Kriminalitätswirklichkeit.27 Die
Mehrheit der Bevölkerung erfährt Kriminalität nicht als Opfer, sondern durch Aussagen und Informationen Dritter. Dabei spielt auch ein durch Massenmedien vermitteltes Kriminalitätsbild aufgrund einer medialen Überrepräsentation von Gewaltverbrechen eine entscheidende Rolle. Dieses verzerrte Bild von Kriminalität hat einen direkten Einfluss auf die subjektive Furcht, selbst Opfer von kriminellen Handlungen zu
werden. In der Konsequenz von Kriminalitätsfurcht ergibt sich ein Vermeidungsverhalten, das in einem bestimmten Umfang das Risiko, selbst Opfer einer Straftat zu
werden, verringert. Gleichzeitig führt es aber auch zu einer Einschränkung der persönlichen Freiheit und kann als soziale Störung empfunden werden. So wurde zum
Beispiel von mehreren besonders älteren weiblichen Befragten unserer Stichprobe
geäußert, dass sie aus Angst vor Kriminalität nach Einbruch der Dunkelheit ihre
Wohnungen nicht mehr verlassen. Wahrscheinlich ist außerdem eine Vermeidung
von Kontakten auf der Straße oder an der Haustür, die eine grundsätzliche Störung
informeller sozialer Kommunikation nach sich zieht. Eine sehr hohe Kriminalitätsfurcht kann außerdem sowohl im privaten Bereich durch Einbau von Sicherungsgeräten wie im öffentlichen Rahmen durch Forderung nach verstärkten Präventionsmaßnahmen hohe Kosten nach sich ziehen.28
11.1 Unsicherheitsgefühl nach Geschlecht, Alter und Region
Obwohl sie seltener Opfer von kriminellen Handlungen werden, ist die Angst vor Kriminalität bei Frauen und älteren Menschen deutlich höher als bei Männern und jüngeren. Auch die Ergebnisse unserer Befragung bestätigen dies.
27 vgl. Kräupl / Ludwig 1993 und Nachfolgeuntersuchungen
28 vgl. Kaiser 1996
72
Wie Abbildung 49 zeigt, fühlt sich mehr als die Hälfte der weiblichen Befragten im
nächtlichen Stadtteil nur teilweise oder gar nicht sicher. Dies gilt nur für etwa ein Drittel der Männer.
Abbildung 49: Subjektives Sicherheitsgefühl in Winzerla bei Nacht: Männer und Frauen
31,7%
unsicher
24,6%
20,3%
teilweise sicher
9,5%
48,0%
sicher
65,9%
0%
10%
20%
30%
40%
männlich
50%
60%
70%
weiblich
Weiterhin verdeutlicht Abbildung 50 auch für unsere Untersuchung die typische größere Unsicherheit älterer Befragter. Eine deutliche Abweichung zu anderen Studien
zeigt sich aber bei den Jüngeren unter 27 Jahren. Etwas mehr als ein Drittel dieser
Altersgruppe gab ein starkes Unsicherheitsgefühl im Stadtteil an. Das sind mehr als
bei den über 60-jährigen.
Abbildung 50: Subjektives Sicherheitsgefühl in Winzerla bei Nacht nach Alter
Sicherheitsgefühl nachts nach Alter
70%
60%
61,0% 60,4%
50%
50,0%
49,5%
40%
36,4%
30%
27,4%
20%
28,0% 26,4%
22,6%
14,1%
10%
11,0%
13,2%
0%
sicher
12 bis unter 27 Jahren
teilweise sicher
27 bis unter 45 Jahren
45 bis unter 60 Jahren
unsicher
60 Jahre und älter
Diese Angst unter jüngeren Bewohnern war auch ein Ergebnis einer „Planing for real“- Methode zur Erarbeitung des Jugendhilfeplanes der Stadt Jena in Winzerla. Dabei wurde eine „sehr deutlich ... wachsende Angst vor Gewalt und Rechtsradikalismus im Planungsraum hervorgebracht. Diese Tendenzen wurden auch bei den Befragungen von Kindern und Jugendlichen im Planungsraum durch Student/innen der
73
Friedrich-Schiller-Universität ... deutlich.“29 „Bereits im vergangenen Jahr (2001) haben Erhebungen in Winzerla gezeigt, dass die befragten Kinder und Jugendlichen
Angst vor Gewalt auf Straßen und Plätzen äußern, sich abends nicht gern auf die
Straße trauen und meinen, dass es in Winzerla zu viel Gewalt gibt. In Beobachtungen vor Ort ... wurde deutlich, dass es im Stadtteil viele Jugendgruppen gibt, die
durch Aussehen und Auftreten dominant wirken. Besonders häufig ist in dieser Gruppe Alkoholkonsum bzw. –missbrauch anzutreffen.30
Diese Aussage von überdurchschnittlich vielen dominanten Jugendgruppen im Stadtteil bestätigten die befragten Experten allerdings nicht. Im Gegenteil betonten sie
sehr deutlich, dass es sich nur um wenige Gruppen handelt, die durch ihr Auftreten
und ihre Treffpunkte im öffentlichen Raum aber von der Bevölkerung des Stadtteils
sehr stark wahrgenommen werden.
„An den fünf Plätzen, die es hier in Winzerla gibt, die günstig liegen, wo also viele Leute vorbeikommen, wo man viele sieht und also auch schnell gesehen wird, da halten sich durchaus
an den Nachmittagsstunden Jugendliche auf. Meist mit `ner Kiste Bier. Und die prägen natürlich dieses Bild von Winzerla. Das heißt also, an den Eingangspforten von Winzerla stehen
dann diese Jugendlichen....und dadurch kommt also keiner an den Jugendlichen vorbei; ri gendwie. Und deswegen ist das nachvollziehbar, dass die sagen, wir haben Angst vor diesen
Bier trinkenden Massen von Jugendlichen.“ EPG 17)
Betrachtet man dieses Ergebnis und das bereits in Abschnitt 7.3 festgestellte geringe
Ausmaß an Störungen durch Kinder und Jugendliche im Stadtteil kann davon ausgegangen werden, dass die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen von den Bewohnern
Winzerlas als „normal“ erlebt wird. Einzelne Gruppen von auffälligen Jugendlichen im
öffentlichen Raum lösen dennoch Ängste bei Bewohnern aus (vgl. dazu näher Abschnitt 11.3). Nicht nur mit Blick auf Geschlecht und Alter, sondern auch in en verschiedenen von uns eingeteilten Zonen des Stadtteils zeigen die Ergebnisse unserer
Befragung anhand von Abbildung 51 signifikante Unterschiede des nächtlichen Sicherheitsgefühls. Am sichersten fühlen sich die Befragten im Altneubaugebiet, am
nördlichen Randquartier und in den Wohnungen an der Siemsenstraße. Hier sind es
jeweils ungefähr zwei Drittel aller Interviewten, die auch nachts keine Angst im Stadtteil haben. Am wenigsten sicher fühlen sich die Bewohner des städtebaulich monotonsten Gebietes. Hier war es nur etwas mehr als jeder Fünfte, der ein subjektives
Sicherheitsgefühl äußerte. Auffällig ist außerdem, dass mehr als zwei Fünftel aller
Befragten in der Zone mit direktem Bezug zum Landschaftsraum angaben, sich
„nicht sicher“ zu fühlen.
29 Jugendamt der Stadt Jena; Jena 2002:89
30 Morgenstern 2001
74
Abbildung 51: Subjektives Sicherheitsgefühl in Winzerla bei Nacht nach Zonen
80%
70%
60%
50%
40%
30%
20%
10%
0%
sicher
teilweise sicher
nicht sicher
Altneubaugebiet
68,2%
9,1%
22,7%
direkter Bezug zum
Landschaftsraum
39,3%
17,9%
42,9%
Privatisierungsobjekte der SWVG
36,0%
32,0%
32,0%
nördliches Randquartier
66,7%
37,0%
29,6%
Quartiere an der Siemsenstr.
60,2%
13,6%
26,1%
Wohngebiet an der Wasserachse
51,9%
18,5%
29,6%
städtebaulich monotonstes Gebiet
22,3%
21,0%
25,8%
Neben diesen Zonen gibt es in Winzerla auch konkrete Bereiche, die für die Bewohner vor allem nachts mit einem erhöhten Unsicherheitsgefühl verbunden sind. Sowohl im Rahmen der Ausstellung unserer Forschungsergebnisse wie auch als Ergebnis der Ideenwerkstatt „Wasserachse“ wird die Fußgängerunterführung an der
Rudolstädter Straße als ein solcher Bereich beschrieben. Dieser Tunnel ist schwer
einsehbar, verschmutzt und schlecht beleuchtet.
Beobachtet werden konnte, dass die meisten Bewohner den Tunnel nicht wie vorgesehen als Unterführung zur Straßen- bzw. Bushaltestelle nutzen, sondern direkt über
75
die Gleise gehen. Da das Gleisbett aber tiefer als der eigentliche Fußweg ist, ist es
einmal abgesehen von den grundsätzlichen damit verbundenen Gefahren besonders
für ältere Menschen oder Eltern mit Kinderwagen nicht zu benutzen. Sie sind auf den
Tunnel angewiesen. Dieser würde seinen beängstigenden Charakter nur durch entsprechende Umgestaltungsmaßnahmen, wie z.B. Renovierung, ausreichende Beleuchtung und den Einbau von Videokameras verlieren.
Als ein weiterer, Unsicherheitsgefühle verursachender Bereich wurde von den Bewohnern das Areal um den Flößerbrunnen bzw. Markt genannt. Der leere Platz,
besonders gern von Jugendlichen als Treffpunkt genutzt, ist der Verbindungsweg
von den Bus- und Bahnhaltestellen in das Wohngebiet. Angeregt wurde ein
„Alternativweg“ als Umgehung dieses Platzes mit genügend Beleuchtung durch die
Wohnhäuser.
In diesem Zusammenhang scheint ein Projekt der Stadt Ludwigshafen im Rahmen
des Bund- Länder- Programms „Soziale Stadt“ zur Erstellung eines Sicherheitskonzepts im Stadtteil Erfolg versprechend. Das Ergebnis ist eine Lokalisierung von
Angsträumen durch Bewohnergruppen und einen Sicherheitsexperten im Stadtteil
sowie eine daraus abgeleitete Vorschlagsliste mit Lösungsansätzen. 31
11.2 Gründe für Angst
Doch wovor fürchten sich die Winzerlaer eigentlich? Abbildung 52 zeigt als meistgenannte Gründe für ein Unsicherheitsgefühl im Wohngebiet die Angst vor Überfällen
und vor Gruppen von Jugendlichen, wobei insbesondere Gruppen „rechter“ und angetrunkener Jugendlicher hervorzuheben sind. Weiter wurde ein allgemeines Unsicherheitsgefühl auch vor Gewalt genannt. Seltener sind z.B. die Angst vor Diebstählen und Einbrüchen, „älteren“ angetrunkenen Leuten oder sexuellen Belästigungen
sowie vor Raub und Sachbeschädigung.
Abbildung 52: Gründe für subjektives Unsicherheitsgefühl im Stadtteil
Wovor haben Sie Angst?
Nach Anzahl der Nennungen/ Mehrfachantworten waren möglich (N=187)
vor Überfällen
25,1%
allgemeines Unsicherheitsgefühl (auch Gewalt)
19,8%
vor Jugendlichen (undefinierte Gruppen)
16,6%
vor "Rechten"
14,5%
vor angetrunkenen Jugendlichen
7,5%
vor Diebstahl
4,3%
vor älteren angetrunkenen Leuten
4,3%
vor Einbrüchen
vor sexuellen Belästigungen/ Übergriffen
vor Hunden/ Kampfhunden
3,2%
2,1%
1,6%
vor Raub
0,5%
vor Sachbeschädigung
0,5%
31 www.sozialestadt.de/praxis Ludwigshafen Westend. Städtebauliche Sicherheitskonzeption
76
Ein Teil der Ängste ist konkret, wenn es z.B. um Überfälle und andere Formen der
Gewalt geht. Ein anderer Teil ist eher undifferenziert, wie z.B. ein allgemeines Unsicherheitsgefühl und ein dritter Teil ist auf Jugendgruppen ausgerichtet. Dabei ist es
sehr wahrscheinlich, dass nicht strafrechtlich bedeutsames Verhalten der Jugendlichen, sondern eher deren abweichende Nutzung des öffentlichen Raumes das
Angstgefühl verursacht. Öffentlicher Raum wird in der Regel zum Durchqueren genutzt. Umso skeptischer betrachtet man dann meist männliche Jugendliche, die sich
ohne ersichtlichen Grund oft noch mit alkoholischen Getränken in der Öffentlichkeit
aufhalten.32 Dieses Unverständnis und damit einhergehendes erwartetes Verhalten
wie Anpöbeln, Rempeln oder starke Verunreinigung wurden auch in einem Experteninterview thematisiert.
„...Woche für Woche, Monat für Monat stehen diese Jugendlichen bei Winter und Wetter und
Sonne und Regen stundenlang. Also es ist mir... unbegreiflich, wie man immer und immer
wieder stundenlang da auf der Straße stehen kann; andere anpöbelt und mal ein bisschen
rumrempelt. Die (Pärchen) und was da läuft. Das ist etwas, was ich absolut nicht nachvollziehen kann. Meine Jugend ist eben anders verlaufen.... und wo Jugendliche sind, da ist `ne
Müllhalde und wenn es ihnen zu viel wird, dann suchen sie sich was anderes.“ (EPG 9)
Besonders ältere Bewohner fühlen sich durch diese Umnutzung des öffentlichen
Raums an den Rand gedrängt, in ihrer Mobilität stark eingeschränkt oder müssen
nach Umwegen suchen, um eine befürchtete Konfrontationen auf solchen Plätzen zu
vermeiden.
„.... und alte Leute haben dann einfach Angst. Sie sind dem dann einfach nicht gewachsen.
Das ist klar. Sie sind als älterer Mensch dann nicht mehr so beweglich und haben einfach
Angst, wenn sie dort vorbeigehen, dass die ihnen ein Bein stellen und sie fliegen drüber.“
Der Aufenthalt von Jugendlichen auf öffentlichen Plätzen muss auch als Reaktion auf
die festgestellten Mängel im Freizeitangebot Winzerlas gewertet werden.
„für die Jugend müsste mehr gemacht werden. Wo man sagen kann: die Jugend weg von der
Straße....“ (EPG 10)
Obwohl aus der Sicht der Befragten keine grundsätzliche Störung von Jugendlichen
im Stadtteil ausgeht, lenken die Ergebnisse zum Ausmaß und den Gründen für Unsicherheitsgefühle und Kriminalitätsfurcht häufiger den Blick auf bestimmte Jugendgruppen, die abschließend näher betrachtet werden sollen.
11.3 Dominante Jugendgruppen im Stadtteil
Die Ergebnisse unserer Bewohnerbefragung, die Untersuchungen zum Jugendhilfeplan und viele von uns durchgeführte Experteninterviews verweisen auf die Problematik einer Anzahl auffälliger Jugendlicher mit scheinbar „rechter“ Orientierung.
„Also wir haben zweifellos rechtsorientierte Jugendliche in Winzerla. Wir haben auch rechte
Strukturen...Es gibt also durchaus den organisierten Teil der Jugendlichen, die auch politisch
aktiv sind.“ (EPG 11)
32 ISIP 2002
77
Während Winzerlaer Jugendliche grundsätzlich nicht überdurchschnittlich rechts orientiert sind, gibt es Gruppierungen, die durch ihr dominantes Auftreten und ihre auch
über Medien immer wieder verbreiteten Forderungen nach einem eigenen „rechten“
Jugendzentrum auffallen.
„Also ich denke erstens gibt es eine große Gruppe, die nirgendwo auffällt, weil sie nicht da
sind. Das heißt, das sind die, die in einem verhältnismäßig abgesicherten Elternhaus leben
und die in ihrer Freizeit wissen was sie machen. Sei es, dass sie sich in der Schule zusätzlich
engagieren, sei es, dass sie „daheeme“ am Rechner sitzen, sei es, dass sie die Zeit bei den
Eltern auf der Datsche verbringen, oder wie auch immer- oder einen Freundeskreis haben,
der sich in der Wohnung trifft. Die also für`s Wohngebiet eigentlich nicht auffallen, eigentlich
nicht relevant sind....Du hast dann allerdings auch Gruppen, die aber Gott sei Dank immer
noch zur Minderheit gehören, die das meiste Aufsehen erregen. Die einfach von ihrer Art und
Weise her auffallen. Sei es durch das Aussehen; sei es durch die Sprache oder durch Aktionen, wo sie mit kriminellen Geschichten auf sich aufmerksam machen. Das geht also los bei
dem Klauen der täglichen Schnapsration in der Kaufhalle; beim Erpressen von irgendwelchen
Vorbeikommenden, wenn man mal `ne Mark abzocken will; durch das Verprügeln von anders
aussehenden Leuten.... Ja, das Problem ist, dass sie von sich auch noch sagen, wir sind
rechts, auch wenn sie das nicht sind. Jedenfalls nicht in dem Alter von zwölf, dreizehn, vierzehn.“ (EPG 5)
Das Augenmerk der Experten für Kinder- und Jugendarbeit ist vor diesem Hintergrund auch auf die Anziehungskraft gerichtet, die solche Gruppen für manche Kinder
und Jugendliche, ausüben.
„Und die sind da schon irgendwo in ihrer Clique und tendieren wirklich mehr zu diesen Randgruppen. Also auch so Gestalten, wo ich sage, da könnte es einem schon Angst werden: die
schwarzen Ledermäntel... also sind Rechte. Und da sind sie auch sehr empfänglich dafür. Also die finden in den Strukturen natürlich auch was, was sie bei uns auf einer anderen Ebene
kriegen, und wo wir dann auch mit ihnen im Gespräch sind und das irgendwo aufweichen wollen, aber im ganz normalen Freizeitverhalten sind das natürlich dann auch die Leute, die für
sie sagen, wo es lang geht und was wir jetzt machen. Und die Tendenzen sind, wo ich sage,
die sind schon gefährlich. ... sie kommen aus Familien, wo sie die Stärke nicht kriegen; das
kann man fast durch die Bank weg sagen, also so Selbstbewusstsein, wirklich zu sagen:
Mensch, wir sind was und wir ziehen das jetzt hier durch und du kannst was und du schaffst
das- sondern es kommen mehr aus den Familien, wo es über Jahre hinweg egal ist und es ist
dann erst ein Einsehen da, wenn es schon fast zu spät ist.“ (EPG 4)
Soziale Arbeit im Stadtteil soll gerade diesen Kindern und Jugendlichen andere Wege und Problemlösungsstrategien bieten, als sich den rechten Gruppierungen anzu78
schließen. Wenn sie erst in feste Cliquen- oder rechte Parteistrukturen eingebunden
sind, wird man diese Jugendlichen kaum noch erreichen.
„Das ändert sich meistens dann, wenn sie fest in eine Gruppe ´rein gekommen sind, die an
einer rechten Struktur angebunden ist. Ich erlebe hier öfters Jugendliche, die die große Klappe haben: wir sind rechts! Wenn du da nachfragst, kommt eigentlich nichts mehr. Erst wenn
die Leute kennen lernen, die seit Jahren schon in irgendwelchen Strukturen hängen und diese
ausbauen und natürlich das Ziel haben, jüngere zu rekrutieren. Das ist für mich der Heimatschutz, die NPD und das gesamte Umfeld da herum.“ (EPG 7)
Versuche, solche älteren Jugendlichen in Einrichtungen wie Jugendclubs oder ähnliches zu integrieren, wurden von den Experten als gescheitert beschrieben.
„Der, der da so ein bisschen den Hut aufhat, mit dem habe ich auch schon zusammen gesessen und hab gesagt: ihr braucht `nen Plan. Wenn ihr `nen Plan habt, dann habt ihr auch `ne
Chance auf `nen Raum. Einen Raum zum Saufen kriegt ihr nicht. Ihr müsst irgendwas machen, was auch noch anderen die Möglichkeit gibt, dran teilzunehmen. Ansonsten gibt’s den
Hugo, da gibt`s was weiß ich für Clubs, wo ihr hingehen könnt. Bloß da haben sie überall
Hausverbot. Dann haben sie Hausverbot an der Shell, dann haben sie Hausverbot im Columbus- die haben überall schon Hausverbot.“ (EPG 21)
Bevölkerungsstrukturelle Veränderungen im Stadtteil wie die Konzentration von so
genannten „Problemfamilien“ bzw. sozialen Randgruppen durch Belegungsbindung
verschärfen die Problematik zusätzlich. Dabei wurde in den Experteninterviews besonders der Anstieg von Alkoholkonsum in der Winzerlaer Bevölkerung genannt.
„Gerade Alkohol ist ein ganz großes Problem, ... was wir auch selber mitbekommen. Gerade
von den Patienten oder Nachbarn. Damit verbunden die Aggressivität die entsteht, Geruchsbelästigung, Lärmbelästigung. Ist natürlich auch kein schönes Bild. Ältere Menschen, gerade
hier aus unserem Hause, die haben dann Angst, wenn`s dunkel wird, auf die Straße zu gehen, was auch schon bei jungen Leuten... anfängt.“ (EPG 2)
Die Anziehungskraft von Alkohol als Einstieg in die Erwachsenenwelt wird durch die
Vorbildwirkung im Elternhaus noch verstärkt.
„Na mein Alter säuft auch zu Hause, wenn er nachhause kommt von der Arbeit. Warum soll
ich das nicht auch machen?“ (EPG 11)
Verstärkend hinzu kommen die schlechten Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, die gerade für Jugendliche mit relativ niedrigen Schulabschlüssen oftmals
Resignation nach sich ziehen.
„Und natürlich damit einhergehend die Resignation. Dass sie also, die Erfahrungen, die sie bei
ihren Eltern gemacht haben, wegen Arbeitslosigkeit und... dass - dass sich solche Sachen
dann auf den Jugendlichen ... auch umlegen. Das ist klar, wenn ich keine Ausbildung habe,
keinen ordentlichen Schulabschluss - mich da mehr oder weniger durchgequält habe, ist es
natürlich dann schwer, eine entsprechende Lehrausbildung anzufangen. Aber selbst die, die
einen einigermaßen vernünftigen Schulabschluss haben, bekommen zum einen nicht den
Job, den sie gern hätten, das ist also ´ne Illusion - oder ´ne Seifenblase die relativ schnell
platzt bei achtzig oder neunzig Prozent der Leute, und teilweise auch keine Ausbildung bekommen. Wo dann auch irgendwann die Motivation nachlässt, wenn man zwanzig, dreißig,
vierzig Bewerbungen losgeschickt hat und es hat sich nichts getan, dann fragen sich teilweise
schon die Jugendlichen, ob das überhaupt noch einen Sinn hat, also ob ich dann noch eine
einundvierzigste Bewerbung losschicken muss ... in der Hoffnung, dass es dann noch klappt.“
(EPG11)
Eine Besserung der Situation wird also auch und gerade von ausreichenden Angeboten an Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für Jugendliche abhängig
sein. Dabei sollten Möglichkeiten der Beschäftigung im direkten Wohnumfeld, also im
Stadtteil, besonders zu prüfen sein.
79
Insgesamt zeigen die Ergebnisse zur Kriminalitätsfurcht in Winzerla ein deutliches
Bild. Frauen und ältere Menschen haben relativ häufig Angst, aber überraschenderweise auch Jugendliche. Die Winzerlaer besitzen ein differenziertes Bild von den Gefahrenquellen. Sie liegen in bestimmten Zonen und kleinräumigen Bereichen des
Wohngebietes und betreffen bestimmte Jugendcliquen. Keineswegs werden Jugendliche im Stadtteil generell als problematisch betrachtet. Sehr wahrscheinlich wird aber
ein weiterer Trend zu sozialstrukturellen und sozio-ökonomischen Problemen auch
die Kriminalitätsfurcht erhöhen und mit einer weiteren Abwanderung aus Winzerla
verbunden sein. Diesem Thema wenden wir uns im folgenden, letzten Kapitel unserer Untersuchung zu.
12. Identifikation mit Winzerla
Abschließend geht es um die Frage, wie stark sich die Bewohner mit Winzerla identifizieren. Zunächst wollten wir dazu aus der Sicht der Befragten wissen, wie Jenaer
aus anderen Stadtteilen Winzerla beurteilen. Abbildung 53 zeigt dabei folgendes: Die
meisten Interviewten (43%) schätzen, dass Winzerla von Bewohnern anderer Stadtgebiete weder attraktiv noch unattraktiv beurteilt wird. Für eine positive Beurteilung
des Stadtteils durch Andere entschied sich ein knappes Fünftel; insgesamt mehr als
ein Viertel glaubt demgegenüber, dass das Wohngebiet negativ von anderen eingeschätzt wird.
Abbildung 53: Was glauben Sie, wie Einwohner anderer Stadtgebiete Winzerla finden?
43,0
45,0
40,0
35,0
30,0
25,0
22,0
20,0
17,2
15,0
11,3
10,0
4,7
5,0
1,8
0,0
sehr attraktiv
attraktiv
weder noch
unattraktiv
sehr unattraktiv
weiß nicht
Mehr als vier Fünftel unserer Befragten kennen Bewohner anderer Stadtteile, die
Winzerla gelegentlich aufsuchen. Wenn solche Besuche stattfinden, so sind sie allerdings selten auf die Angebote des Stadtteils ausgerichtet, sondern dienen in erster
Linie dazu, Freunde und Angehörige in Winzerla zu besuchen. Wie Abbildung 54
zeigt, ist dies mit Abstand der dominierende Grund. Deutlich weniger Befragte kennen andere, die zum Einkaufen nach Winzerla kommen (18,8%); noch viel weniger
80
kommen zum Besuch von Gaststätten und Restaurants oder zu kulturellen Angeboten.
Abbildung 54: Gründe für Besuche Winzerlas durch Bewohner anderer Stadtteile
(nach Anzahl der Nennungen in %; N=389)
Kulturelle Angebote
nutzen
Sonstiges
Essen gehen
Einkaufen
Freunde/ Angehörige
1,0%
8,2%
7,5%
18,8%
64,5%
Aus der Perspektive der von uns befragten Winzerlaer wird das Wohngebiet von außen insgesamt also eher neutral bewertet. Es übt mit wenigen Ausnahmen vor allem
hinsichtlich der Freizeitaktivitäten keine besondere Anziehungskraft aus; viele werden es nur dann aufsuchen, wenn sie dort Freunde und Angehörige besuchen möchten. Aber wie sehen die Bewohner Winzerlas selbst ihren Stadtteil in der Gesamtperspektive? Hat er für ihre Zukunft eine Bedeutung oder wollen sie lieber woanders
wohnen?
Um eine Identifikation mit dem Stadtteil zu messen, wurden den Befragten fünf alternative Meinungen zu einem möglichen Umzugswunsch vorgelegt. Abbildung 55 zeigt
dazu die folgenden Ergebnisse: Deutlich mehr als die Hälfte aller Befragten (58,5%)
will in Winzerla wohnen bleiben; 18,1% ist es egal, ob sie hier oder in einem anderen
Stadtteil wohnen und nur knapp ein Viertel (23,2%) will wegziehen.
81
Abbildung 55: Welche der folgenden Aussagen über Winzerla trifft auf Sie zu?
Ich möchte lieber in
einem anderen Stadtteil
wohnen
16,6%
ich will so schnell wie
möglich weg von hier
6,8%
ich möchte immer in
Winzerla bleiben
23,2%
es ist egal, ob ich hier
oder in einem anderen
Stadtteil wohne
18,1%
Ich ginge eigentlich
ungern aus Winzerla
weg
35,3%
Vergleicht man diese Ergebnisse mit den Studien über die beiden anderen Jenaer
Neubaugebiete Lobeda West (1995) und Lobeda Ost (1996)33 so deutet sich eine
höhere Attraktivitätseinschätzung des Stadtteils Winzerla durch seine Bewohner an.
Nur etwa halb so viele Befragte Winzerlas äußern einen Umzugswunsch. Die Alternative „Ich will so schnell wie möglich weg von hier“ wurde in Winzerla sogar nur von
6,8% der Befragten gewählt, in Lobeda Ost waren es 15% und in Lobeda West sogar
20%.
Gerade bei den älteren Menschen ist die Bindung an das Wohngebiet stärker ausgeprägt als bei den jüngeren. Mehr als die Hälfte der über 65jährigen möchte `immer in
Winzerla wohnen bleiben`; bei allen jüngeren Altersgruppierungen sind es maximal
ein Viertel, bei den 18- 25jährigen nur Einer und bei den 25- 27jährigen niemand. `So
schnell wie möglich weg von hier` wollen vor allem junge Menschen zwischen 16 und
25 Jahren.
Darüber hinaus zeigt sich, dass Befragte in Ehe bzw. Lebensgemeinschaft ohne im
Haushalt lebende Kinder überproportional oft immer hier wohnen bleiben möchten.
Für eine der beiden Wegzugsvarianten entscheiden sich vor allem Familien mit Kindern (30,5% davon wollen weg) und Befragte in Wohngemeinschaften.
Obwohl die Identifikation mit dem Wohngebiet Winzerla deutlich höher ist, ergeben
sich in der Tendenz ähnliche bevölkerungsstrukturelle Zusammenhänge wie in Lobeda. Es sind vor allem die Jüngeren und die Familien, die den Stadtteil am ehesten
33 Lakemann, 1995; 1996
82
verlassen werden, wenn sich ihre Umzugswünsche realisieren lassen. Gründe dafür
und für das Wohnen im Stadtteil liefern die beiden folgenden Abbildungen.
Abbildung 56: Warum wollen Sie in Winzerla bleiben?
(in % nach Anzahl der Nennungen; N=293)
Gewohnheit/ Zufriedenheit/
Altersgründe
31,1%
gutes Wohnumfeld (auch:
viel Grün)
27,0%
8,9%
gute Infrastruktur
schöne
Wohnung/Aussicht/Balkon
8,5%
Beziehungen zu Freunde/
Familie
8,2%
6,8%
niedriger Mietpreis
besser als in Lobeda (noch
kein Ghetto)
3,8%
gute Nachbarschaft
3,8%
Arbeitsplatz
2,0%
Abbildung 56 zeigt Gründe dafür, warum die entsprechenden Befragten beabsichtigen, in Winzerla wohnen zu bleiben. Am häufigsten wurden Gewohnheit/ Zufriedenheit und Altersgründe genannt; am zweithäufigsten das gute Wohnumfeld. Beide
Gründe gelten vorrangig für ältere Menschen und erklären, warum gerade diese Bewohnergruppe am häufigsten von allen in Winzerla wohnen bleiben möchte. Vorteile
sind auch die gute Infrastruktur, die schöne Wohnung und soziale Beziehungen im
Stadtteil.
Betrachtet man demgegenüber die Gründe für einen Umzugswunsch, so zeigt
Abbildung 57 die folgenden Ergebnisse:
83
Abbildung 57: Warum würden/wollen Sie aus Winzerla wegziehen?
(in % nach Anzahl der Nennungen; N=93)
37,6%
enge Bebauung/hohe Bevölkerungsdichte/ Plattenbauweise
20,4%
Verschlechterung des sozialen Gefüges
14,0%
Wohnung (zu groß/zu klein/ kein Fahrstuhl)
6,5%
zu laut
5,4%
Umzug in Eigenheim
Mangel an sozialen und kulturellen Einrichtg./Angeboten
4,3%
mangelnde Arbeit
4,3%
keine Kommunikation
2,2%
bessere Möglichkeiten für Kinder
2,2%
möchte auf dem Land leben
2,2%
Rechtsextremismus
1,1%
Entscheidende Gründe für einen Umzug sind bei den entsprechenden Befragten vor
allem die enge Bebauung mit hoher Menschendichte in Plattenbauweise oder die
wahrgenommene Verschlechterung des sozialen Umfelds. Auch Mängel an der
Wohnung veranlassen schließlich zu einem Wegzug aus dem Stadtteil.
Die Ergebnisse unserer Befragung verdeutlichen die Stärken und Schwächen des
Wohngebiets aus der Sicht seiner Bewohner. Diese hängen immer auch von soziodemografischen Faktoren ab. Für ältere Menschen ist ein Umzug in der Regel eine
Belastung. Sie sind eher bereit, ein paar Nachteile in Kauf zu nehmen und möchten
bei ihren Gewohnheiten bleiben. Jüngere und Familien streben hingegen oftmals
nach materiellen Verbesserungen, die sich z.B. im Wunsch nach einem Eigenheim
oder einer größeren Eigentumswohnung ausdrücken und sehen hier in Winzerla
deutliche Grenzen. Ein Wegzug der jüngeren und ökonomisch relativ starken Bevölkerungsgruppen wird sich allerdings in jedem Fall nachteilig auf den Stadtteil auswirken und die skizzierten Probleme mittel- bis langfristig verstärken.
84
13. Zusammenfassung
Unsere Untersuchung des Stadtteils Winzerla zeigt zahlreiche empirische Ergebnisse, die an dieser Stelle noch einmal zusammengefasst werden sollen. Die Analyse
basiert auf einer flächendeckenden, in Alter und Geschlecht mit geringen Einschränkungen repräsentativen Befragung von insgesamt 337 Bewohnern Winzerlas. Diese
quantitativen Daten werden ergänzt durch 21 qualitative Expertengespräche.
Trotz aller auch zukünftig sicherlich stattfindender sozialstruktureller Veränderungen
ist für Winzerla ein großer Vorteil, dass mehr als die Hälfte der Befragten seit mindestens zehn Jahren dort lebt. Die durchschnittliche Wohndauer in der Wohnung beträgt acht Jahre. Solche Kontinuitäten sind eine wichtige Basis z.B. für die Entwicklung von Nachbarschaftskontakten. In Winzerla gibt es kaum Hinweise auf eine Anonymisierung sozialer Beziehungen. Zahlreiche Kontakte in unterschiedlichem Ausmaß von gegenseitigem Grüßen bis vielfältigen Unterstützungen konnten zwischen
Nachbarn festgestellt werden. Vor allem im „Altneubaugebiet“ sind diese stark ausgeprägt. Vereinzelte Konflikte liegen im Bereich des Normalen und der weitaus größte Teil unserer Befragten ist mit seinen Nachbarschaftsbeziehungen zufrieden. In
dieser Hinsicht zeigt sich eine wichtige Stärke. Eine weitere Stärke wird deutlich im
Selbsthilfepotenzial. Immerhin mehr als ein Viertel kann sich vorstellen, gemeinsam
mit anderen etwas für Winzerla zu tun. Für die Zukunft gilt es, mittels geeigneter Methoden diese Selbsthilfeabsichten in reale Selbsthilfeaktivitäten zu überführen. Eine
dritte grundsätzliche Stärke des Wohngebiets ist die insgesamt hohe Identifikation
mit Winzerla. Nur wenige möchten nicht dort leben und wollen umziehen. Im Vergleich zu Lobeda zeigt sich für Winzerla in dieser Hinsicht ein deutlich positiveres
Bild. Ein Umzugswunsch ist allerdings schwerpunktmäßig bei jüngeren Bewohnern
und Familien festzustellen. Sollten diese ihre Wünsche realisieren, zeichnen sich
problematische Tendenzen zu einer bevölkerungsstrukturellen Entmischung ab. Eine
vierte Stärke des Wohngebiets liegt in den Potenzialen seiner Freiflächen. Der größte
Teil der Bewohner ist der Ansicht, dass Winzerla über genügend Grünflächen verfügt. Auch die „Wasserachse“ wird vom allergrößten Teil der Bevölkerung grundsätzlich angenommen. Probleme bestehen allenfalls in der Nutzung. Verschmutzung und
Zweckentfremdung der öffentlichen Anlagen, Spielplätze und Grünflächen wurden in
verschiedensten Facetten immer wieder beklagt. Klar geworden ist auch das immense Defizit an Parkplätzen im Stadtteil, wobei echte Lösungen nicht erkennbar sind.
Auch mit Blick auf die Freizeitsituation im Stadtteil zeigen unsere Daten eher Schwächen des Wohngebiets, die allerdings von den Bewohnern aufgrund der verkehrstechnisch vorteilhaften Anbindung an das Stadtzentrum nicht grundsätzlich problematisch gesehen werden. Mit Blick auf die Situation von Kindern und Jugendlichen
im Stadtteil nennen Bewohner und Experten allerdings klare Probleme. Die Zahl und
Qualität von Freizeitflächen für Kinder und Jugendliche reichen nicht aus. Hierzu
wurden detaillierte Verbesserungswünsche formuliert. Die Winzerlaer zeigen sich
grundsätzlich gegenüber den Kindern und Jugendlichen des Stadtteils aufgeschlossen. Nur wenige Jugendgruppen verursachen Angst. Unsere Untersuchung konnte in
diesem Zusammenhang auch die Dimensionen der Furcht vor Kriminalität in Relation
zu einzelnen Teilregionen des Stadtteils aufzeigen. Sicherlich sind nicht nur in dieser
Hinsicht flankierende politische Entscheidungen erforderlich. Grundsätzlich zeigte
sich eine gewisse Unsicherheit in der Einschätzung von Kommunalpolitik und Ortschaftsrat, wobei dem Ortschaftsrat mit der Perspektive auf Winzerla vergleichsweise
mehr zugetraut wurde.
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Insgesamt zeigt unsere Untersuchung Winzerla als einen Stadtteil mit vielen Stärken
aber auch Schwächen. Es wird in Zukunft wesentlich von grundsätzlichen kommunalen und gesellschaftlichen Entwicklungen abhängen, ob sich eher die Stärken oder
die Schwächen durchsetzen werden. Angesichts der vielen Potenziale, die der Stadtteil hat, können heute noch viele drohende Fehlentwicklungen aufgefangen werden.
Hier bewusst gegenzusteuern und mit den Stärken Winzerlas zu arbeiten ist eine
wichtige Zukunftsaufgabe.
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