In and out Iran. - Weißensee Verlag Berlin

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In and out Iran. - Weißensee Verlag Berlin
Berliner Beiträge
zur Ethnologie
Judith Albrecht
In and Out of Iran
Die transnationale Verhandlung
weiblicher iranischer Identitäten
(Berlin, Teheran, Los Angeles)
Band 33
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abruf‌bar.
Als Dissertation zur Erlangung des Grades Doktor der Ethnologie
(Dr. phil.) im Fachbereich Politik- und Sozial­wissen­schaften
am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin von
Judith Albrecht im Oktober 2011 eingereicht.
Gutachterinnen: Prof. Dr. Ute Luig, Prof. Dr. Dorothea Schulz,
Prof. Dr. Trudi Hüwelmeier, Prof. Dr. Undine Frömming
© 2014 Weißensee Verlag, Berlin
www.weissensee-verlag.de
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Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Weißensee Verlag
Titelfoto: © Harald Geil
Satz: Sascha Krenzin für den Weißensee Verlag
Gesetzt aus der Aptifer Slab LT Pro
Gedruckt auf holz- und säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany
ISSN 1610-6768
ISBN 978-3-89998-221-3
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.1 Methodische Vorgehensweise: „Multi-sited Ethno­graphy“ . . . . . . . . . . 19
2.2 Forschen in Großstädten: Teheran, Los Angeles, Berlin . . . . . . . . . . . . . 36
2.3 Forschen in den eigenen Reihen: Berlin, Teheran, Los Angeles . . . . 53
3 Ursachen der iranischen Diaspora- und Exilbildung . . . . . . . . . . . . . . 58
3.1 Die autoritäre Modernisierungspolitik der Pahlavi-Dynastie
(die Jahre 1941 bis 1978) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
3.1.1 Aufstieg und Fall Mohammad Mossadeghs .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
3.1.2 Von der „Weißen Revolution“ zur „Islamischen ­Revolution“ . 69
3.2 Historische Phasen der „Islamischen Revolution“ im Iran . . . . . . . . . . 72
3.2.1 1978: Beginn der Revolution .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
3.2.2 1979: Rückkehr Khomeinis und Beginn der
Implementierung der Islamischen Republik Iran . . . . . . . . . . . . 75
3.2.3 Gender und Revolution im Iran .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
3.2.4 Die gescheiterte Revolution .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
4. Gender und Migration: Wenn Frauen alleine migrieren .. . . . . . . . 101
4.1 Migration nach Deutschland .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
4.2 Migration in die USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
4.3 „How to be an Iranian woman in the 21st Century?“: Frauen­
bilder in der Revolution als konstituierender Teil weib­licher
iranischer Identitäten in der Diaspora und im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
5. Weibliche Identitäten in Berlin, Los Angeles und Teheran . . . . . 118
5.1 „Die rebellische Generation“: Exilierte Identitäten politischer
Aktivistinnen in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
5.1.2 Lebensentwürfe in einem politisierten Raum . . . . . . . . . . . . . . . . 143
5.1.3 Die Töchter der Revolutionärinnen: ein Generations­
konflikt? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
6
5.2 „Welcome to Teherangeles“: Lebenswelten iranischer Frauen
in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.1 „Heftar“: Fastenbrechen im Kulturzentrum Ebessina –
­Kulturelle Selbstrepräsentation und Positionierung
­iranischer Familien in Los Angeles .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.2 Iranische Künstlerinnen und die Auseinandersetzung
mit dem Bild iranischer Frauen in den USA: Fallstudien
zweier Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.3 Tahmine: „I am not my art!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.4 Asa: „Farsi is not important for my identity!“ . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 „Das Leben ging weiter“: Lebensperspektiven iranischer
Frauen in Teheran .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.1 „Ba-Hijab“ und „Bad-Hihab“: Strategischer Umgang mit
Verboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.2 Die Familie im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.3 Weggehen aus Teheran und Wiederkehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
162
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169
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196
6 Transnationale Räume und ihre Bedeutung im
­Aushandlungsprozess weiblicher Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
6.1 Kommunikation und die Ordnung des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1.1 Die Internationale Iranische Frauenkonferenz
(Berlin und Wien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2 „Blogging Iran“: Das Internet als Kommunikationsforum . . . . . . . . .
6.2.1 „Heiraten übers Internet“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3 „Empty Hands“: Der Versuch einer transnationalen
­Theaterproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4 „Die Frau im roten Kleid“: Ein transnationaler Mythos . . . . . . . . . . . . .
206
209
214
217
222
227
7 Iranische Frauen als transnationale Akteurinnen . . . . . . . . . . . . . . . . 232
8Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
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1Einleitung
Im Februar 1979 fand im Iran eine Revolution statt. Ähnlich wie jüngst
die Bewegungen des arabischen Frühlings weckte dieses Ereignis weltweit
Hoffnung, löste gar Euphorie aus. Akteur/-innen mit unterschiedlichen
Positionen und Ideologien versammelten sich in dieser Protestbewegung
gegen das Schah-Regime, die von einer islamischen Rhetorik dominiert
und geleitet wurde, auf den Straßen Teherans. Das Ausmaß, mit dem sich
Frauen an der iranischen Revolution beteiligten, war in der Geschichte des
Widerstandes des Landes einmalig. Die Revolution, so schien es, bot ihnen
eine Möglichkeit, vorherrschende patriarchale Geschlechterverhältnisse
herauszufordern und zu verändern. Frauen konnten auf einmal durch ihr
politisches Handeln in einer gesellschaftlichen Domäne agieren, die zuvor
fast ausschließlich Männern vorbehalten gewesen war.
Die Demonstrationen gegen das Schah-Regime stellten neben den Protesten gegen den Vietnamkrieg einen der wichtigsten Bezugspunkte der kulturellen Kämpfe der in Europa stattfindenden 68er-Bewegung dar. Ein
Großteil der europäischen Linken hegte zum damaligen Zeitpunkt starke
Sympathien für die iranische Befreiungsbewegung (vgl. Schäfer, Becker
und Bernstorff 2006) und war von der antimonarchistischen und antiimperialistischen Bewegung im Mittleren Osten fasziniert. Michel Foucault
etwa hielt sich auf Einladung der italienischen Tageszeitungen Corriere
della Sera im Herbst 1978 zweimal im Iran auf und berichtete voller Begeisterung über die politischen Ereignisse, die schließlich zum Sturz des
Schahs und zur Rückkehr Khomeinis führen sollten:
„Aus dem Iran zurückgekehrt hat man mir natürlich unablässig die
Frage gestellt: ‚Ist das die Revolution?‘ […] Ich habe nicht geantwortet. Aber ich hatte Lust zu sagen: Das ist keine Revolution im
buchstäblichen Sinne, eine Weise, sich auf die Füße zu stellen und
aufzurichten. Es ist die Erhebung von Menschen mit bloßen Händen, die den ungeheuren Druck auf‌heben wollen, der auf uns allen lastet […]. Es handelt sich vielleicht um die erste große Erhebung gegen die globalen Systeme, die modernste und die verrückteste Form der Revolte.“ (Foucault 1978: 716)1
1 Die deutsche Übersetzung des Zitates ist dem Artikel „Die verrückteste Form der RevolteMichel Foucault und die iranische Revolution“ von Thomas Lemke (2011) entnommen.
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Das mediale Interesse an der Protestbewegung und den Umbrüchen im
Iran war groß. Gleichzeitig nahm das Fernsehen als Nachrichtenmedium
eine wichtigere Funktion in einer zunehmend globalisierten Welt ein, die
medialen Bilder der protestierenden Menschenmassen wurden in die Welt
getragen und zirkulierten in den verschiedenen Fernsehkanälen. Tatsächlich wurden die politischen Umbrüche im Iran auf diese Weise zu der ersten Revolution der Geschichte, die im Fernsehen übertragen wurde, durch
den Fernsehjournalismus erfuhren ihre Bilder eine große visuelle Präsenz.
Der Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini war im Januar 1979
aus dem französischen Exil in den Iran zurückgekehrt. Nach Khomeinis
Rückkehr übernahmen die Islamisten nicht nur die politische Führung
des Landes, sondern die iranische Revolution, die ein Zusammenspiel unterschiedlicher politischer und religiöser Kräfte gewesen war, wurde weltweit als eine „Islamische Revolution“ propagiert und die religiöse Motivation zur wirkmächtigen Größe der Protestbewegung. Die „Islamische Revolution“ stellte die erste Massenprotestbewegung des 20. Jahrhunderts dar,
die in einer Theokratie endete.
Im April 1979 wurde die iranische Monarchie durch ein Referendum abgeschafft und durch die neue Staatsform der „Islamischen Republik“ ersetzt,
die mit der Verfolgung und Exekution vieler an der Revolution beteiligten
Aktivist/-innen einherging. Die Revolution und die darauf folgende Implementierung der islamischen Republik, ebenso wie der Krieg mit dem
Nachbarland Irak von 1980 bis 1988 hatten zur Folge, dass über vier Millionen Menschen ihr Land verließen. Für die Teile der Bevölkerung, die das
Schah-Regime positiv bewertet hatten, war sein Untergang mit dem Verlust eines Systems verbunden, mit dem sie sich identifiziert hatten (vgl.
Agha 1997). Andere Teile der Bevölkerung hatten sich die Befreiung von einem diktatorischen Herrschaftssystem erhofft, sahen sich nun mit einem
anderen totalitären Regime konfrontiert und waren desillusioniert. Die
Mitglieder linker Gruppierungen hatten zwar mit dem Sturz des Schah-Regimes ihr wichtigstes politisches Ziel erreicht. Die nach der Revolution einsetzenden, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen widersprachen jedoch in einem solchen Maße ihren politischen Vorstellungen, zumal das neue Regime mit ihrer systematischen Verfolgung begann, dass
sie schließlich aus dem Iran flüchteten.
In den Gesprächen und Interviews, die ich mit Iraner/-innen innerhalb
und außerhalb des Irans führte, wurde immer wieder berichtet: „Es gab
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ein Land und ein Leben vor diesem Geschehen und ein Land und ein Leben danach.“ Die iranische Revolution stellt eine historische Zäsur dar. Für
viele waren die Revolution und ihre Auswirkungen ein Grund, ihr Land zu
verlassen. Diejenigen, die blieben, sahen sich durch die Re-Islamisierungspolitik und den ideologischen Neuauf‌bau des Landes mit einer neuen, sich
verändernden Welt in der Heimat konfrontiert. Bibliotheken, Konzertsäle,
Hotels, Restaurants, Bars, Theater und Kinos wurden zunächst geschlossen,
Straßen umbenannt, Denkmäler gestürzt, Häuser und Gärten enteignet,
neue Bekleidungs- und Verhaltensregeln eingeführt. „Langsam ­w ichen
aus Teheran alle Farben“, beschrieb eine meiner Interviewpartnerinnen
die Veränderungen in ihrer Stadt.
Vor allem säkulare Frauen und Frauengruppen, die durch ihre Initiative
und ihr Engagement die Revolution wesentlich mitgetragen hatten, mussten nun erleben, wie sie ihre Rolle als politische Akteurinnen in der Öffentlichkeit wieder verloren.
Die anfängliche Euphorie in der westlichen Welt über die Ereignisse wich
bald einem Entsetzen über die verheerenden Zustände im postrevolutionären Iran. Michel Foucaults Reportagen ernteten nun heftige Kritik. Foucaults Analyse verbleibe auf einer moralischen Ebene und werde den komplexen politischen und historischen Ereignissen im Iran nicht gerecht.
Seine Äußerungen wurden als Ausdruck einer unreflektierten Zustimmung zu einer religiös-doktrinären Herrschaftsordnung verstanden, die
nicht weniger grausam sei als das autokratisch-korrupte Regime, das ihr
vorausging (vgl. Lemke 2011).
Das internationale Interesse wendete sich nach und nach von der iranischen Gesellschaft ab, und lange Zeit blieben iranische Lebensrealitäten
insbesondere von Frauen ein blinder Fleck auf der medialen Landkarte.
Als im Jahre 2003 die iranischen Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Shirin Ebadi der Friedensnobelpreis verliehen wurde, rückte erstmals
wieder eine iranische Frau als politische Akteurin in den Fokus des öffent­
lichen Interesses. Die erste muslimische Nobelpreisträgerin wurde für ihre
„Bemühungen für Demokratie und Menschenrechte“ in ihrem Land geehrt.
Seither sind iranische Frauen wieder vermehrt ins internationale politische und mediale Interesse gerückt, und meist sind es gerade Bilder und
Geschichten iranischer Frauen, die von den Medien aufgegriffen werden.
Es scheine fast so, kommentierte eine junge iranische Studentin in den
USA dieses Phänomen, als ob es im Iran keine Männer mehr gäbe:
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„Media is showing only women from Iran: the women in chador holding
a gun, or on the other side the women is going to vote, and women demonstrating on the street, (as) if man wouldn’t exist. The propaganda in
Iranian television, but also the Western media are creating a distorted
image. This women has become an icon which is not used in a very
honest way. As a woman that comes from that culture, I don’t feel comfortable with the way they are objectifying femininity.“
(Interview Shirin, 26.8.2008)
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen zwei Generationen iranischer
Frauen und ihre Lebenswelten in drei unterschiedlichen Städten: Berlin,
Teheran und Los Angeles. Im vorliegenden Buch zeige ich die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den Geschlechterverhältnissen
und den historischen und politischen Transformationsprozessen im Iran
und der iranischen Diaspora auf.
Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, so das Argument, sind eng
mit den vergangenen und gegenwärtigen politischen Prozessen des Irans
verwoben. Fragen der Geschlechterpolitik sind also keine Randerscheinung politischer Prozesse, sondern zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen und politischen Selbstverständnisses in diesem Land. Umgekehrt
gilt genauso, dass keine Arbeit über iranische Geschlechterverhältnisse
verfasst werden kann, ohne auf die Geschichte der „Islamischen Revolution“ von 1978/79 und die darauf folgende Re-Islamisierung in der islamischen Republik Iran einzugehen.
Die Sozialwissenschaftlerin Minoo Moallem beschreibt die iranische Revolution als einen „transnationalen Schirm“, unter dem sich unterschiedliche
Ideologien und Lebensweisen – säkulare, religiöse, modernistische, traditionelle – versammelten (vgl. Moallem 2005). In diesem Sinne verstehe ich
die Revolution als eine hybride und widersprüchliche Bewegung.
An das Bild der wahlweise entweder verschleierten oder ­unverschleierten
Frau knüpfen sich heute wie damals konkrete politische Vorstellungen.
Anfang der 1980er Jahre war es das Bild der schwarz gewandeten, Tschador
tragenden Frauen, das als Symbol für die Durchsetzung der islamischen
Revolution stand. Im Jahr 2009 waren dies die Bilder von in enge Mäntel
gehüllten und Make-up tragenden jungen Iranerinnen, die auf den Straßen demonstrierten. Diese Bilder, die in den „westlichen“ Medien auf‌tauchten, vermittelten, dass trotz des rigiden islamischen Regimes zunehmend
ein „unislamisches“, „westliches“ Modell iranischer Frauen durch eine isla-
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mische Fassade hindurchscheint. Geht es um einen Blick auf den Zustand
der iranischen Gesellschaft, werden seit den politischen Umbrüchen von
1979 oftmals Bilder von verschleierten Frauen von den internationalen Medien, der Politik oder der Kunst aufgegriffen.
Aber wie setzen sich iranische Frauen selber mit diesen Frauenbildern und
ihrem Status als Ikonen auseinander? Wie gehen sie mit dieser wirkungsmächtigen Symbolik um? Fühlen sie sich „gemeint“ und wahrgenommen
oder erzeugen derlei Zuschreibungen eher Widerstände? Welche Rolle nehmen die Medien in der Rezeption und Reproduktion von Bildern und Symboliken ein? Symbole sind hierbei nicht nur als Medien des kulturellen Gedächtnisses zu begreifen, sondern erfahren ihrerseits eine spezifische mediale Gestaltung, die von bestimmten Erinnerungsinteressen und Erinnerungskonkurrenzen geprägt sind.
Die weit verbreitete Annahme, dass der Islam als monolithische Religion
alle Aspekte der iranischen Gesellschaft kontrolliere, hat zur Folge, dass
im „westlichen“ Diskurs über Iran immer noch eine automatische Verbindung zwischen nationaler Zugehörigkeit und einer religiösen islamischen
Identität vorausgesetzt wird. Insbesondere in der Diskussion über weibliche muslimische Identitäten wird häufig ein stark vereinfachendes Bild
gezeichnet. Dabei steht allzu oft die Diskriminierung „der islamischen
Frau“ im Vordergrund, die allein durch ihre religiöse Zugehörigkeit erschöpfend beschrieben zu sein scheint.
In dieser Arbeit begebe ich mich auf die Suche nach anderen Aspekten
weiblicher iranischer Identitäten. Dabei beziehe ich mich auf einen konstruktivistischen Identitätsbegriff, der Identitäten nicht einfach als gegeben hinnimmt, sondern vor allem danach fragt, aufgrund welcher gesellschaftlicher und politischer Prozesse sie zustande kommen.
Das Buch widmet sich also den Aushandlungsprozessen von Identitäten
und kann als Bestandsaufnahme und Analyse einer Suche iranischer
Frauen verstanden werden, die in ihrer Sprache und in ihrem Handeln
versuchen, den wirkungsmächtigen Zuschreibungen der Islamischen Republik Iran und einer „westlichen“ Welt, die das Religiöse beharrlich in den
Vordergrund stellen, etwas anderes entgegenzusetzen.
In Kapitel 2 „Methoden“ reflektiere ich den Prozess und die Bedingungen
meiner Forschung in Teheran, Berlin und Los Angeles, die ich zwischen den
Jahren 2004 und 2006 zu diesem Thema durchgeführt habe. Desweiteren
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fuhr ich 2007 und 2008 für die Arbeit an einem Dokumentarfilm wieder
in den Iran. Bei diesen Aufenthalten traf ich viele der Frauen, die in diesem Buch zu Wort kommen wieder. Da der Fokus der Arbeit auf den transnationalen Netzwerken der Frauen liegt und der transnationalen Auseinandersetzung mit Frauenbildern und weiblichen Identitäten, erschien es
mir sinnvoll, den Forschungsstil der multi-sited ethnography (Marcus 1995)
zu nutzen. In einer Forschung, die dem Prinzip der multi-sited ethnography
folgt, steht der Ethnologin eine Art „Methodenbaukasten“ zu Verfügung, in
dem unterschiedliche Techniken zusammengeführt werden, die ich vorstellen und deren Anwendung ich diskutieren werde. Anschließend zeige
ich, wie sich das „Aufspüren“ thematischer Zusammenhänge und relevanter Orte in diesem konkreten Forschungsvorhaben gestaltete.
Da die „Islamische Revolution“ von 1978/79 und ihre Auswirkungen hier
als wichtiger biografischer Einschnitt für die Akteur/-innen zu begreifen
sind, wird Karl Mannheims Generationen-Konzept bei der Beschreibung
und Analyse vorgestellt, in dem er davon ausgeht, dass sich erst im Zusammenhang von radikalen gesellschaftlichen Umbrüchen, wie sie beispielsweise durch soziale Revolutionen ausgelöst werden, Generationseinheiten
auch „zu einer neuen Gestalt gebenden Einheit“ entwickeln können.
Des Weiteren beschreibe ich im Zuge der Methodenvorstellung die unterschiedlichen Facetten einer Forschung in Megastädten wie Teheran und
Los Angeles und der Großstadt Berlin, um anschließend in Kapitel 2.3 „Forschen in den eigenen Reihen“ auf den Umstand einzugehen, dass viele meiner Interviewpartnerinnen selbst Akademikerinnen sind, die über die iranische Gesellschaft schreiben, forschen und akademische Diskurse mitgestalten.
Kapitel 3 „Ursachen der Diaspora- und Exilbildung“ beginnt mit einen Überblick über die politischen und gesellschaftlichen Prozesse von 1941 bis 1978
und fährt dann mit der Beschreibung der gesellschaftspolitischen und ökonomischen Umstände fort, die zur „Islamischen Revolution“ von 1978/79
führten. Die „Islamische Revolution“ kann als historische Zäsur gesehen
werden, die zu einer Exil- und Diasporabildung von über vier Millionen
Iraner/-innen führte. Sie stellt einen zentralen Teil des kollektiven Gedächtnisses von Iraner/-innen in- und außerhalb des Irans dar. Des Weiteren diskutiere ich die emischen Bezeichnungen der transnationalen iranischen
Community und inwiefern die Begriffe Diaspora und Exil in den jeweiligen Kontexten (USA, Deutschland) von Iraner/-innen verwendet werden.
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In Kapitel 3.1.2 „Gender und Revolution“ wird anhand der Auseinandersetzung mit Genderrollen in der Revolution hergeleitet, dass Geschlechterbeziehungen und die politische Regulierung von Körpern eng mit historischen und politischen Prozessen im Iran verbunden sind und keine Randerscheinung politischer Prozesse, sondern zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen und politischen Selbstverständnisses waren und sind.
Der Abschluss des Kapitels 3.1.3 „Die gescheiterte Revolution“ ist dem Phänomen des Scheiterns der Akteurinnen und ihrer Ideologien gewidmet,
die zu einem Bruch mit dem Islam und mit linkspolitischen Ideologien geführt haben. Die Konsequenz der Re-Islamisierung und die damit einhergehende Verfolgung von Seiten der islamistischen Regierungen zwangen
Frauen zu einer Neuorientierung in der Diaspora, im Exil ebenso wie im
Iran.
In Kapitel 4 „Gender und Migration“ steht der Aspekt der genderspezifischen Migrationsforschung im Vordergrund. Diese wird zu dem konkreten Fall iranischer Frauen in Verbindung gesetzt, die aufgrund der speziellen soziopolitischen Umstände in großer Zahl alleine migrierten. In den
Kapiteln „Migration nach Deutschland“ und „Migration in die USA“ gebe
ich einen Überblick über die Geschichte iranischer Migration in die jeweiligen Länder.
Im letzten Teil von Kapitel 4 „How to be an Iranian women in 21st Century?
Frauenbilder in der Revolution als konstituierender Teil weiblicher Identitäten“
wird die Frage der Ikonisierung von Frauen während der Revolution aufgegriffen und der Frage nachgegangen, welche Rolle die Medien in der Verbreitung von Bildern und Symboliken einnehmen. Des Weiteren wird die
Frage aufgeworfen, wie sich Frauen heutzutage zu ihrer Rolle als nationale
Ikonen und Symbole in Beziehung setzen und sich Zuschreibungen und
Symboliken verändern und umgedeutet werden.
Somit leitet der Abschluss des Kapitels 4 gleich das ethnographische Kapitel 5 „Lebenswelten iranischer Frauen in Berlin, Teheran und Los Angeles“ ein. Der ethnographische Teil stellt das Kernstück des Buches dar. Hier
werden die unterschiedlichen Lebenswelten der Frauen beschrieben, die
lokalen Kontexte genauer untersucht und die konstituierenden Strukturen wie soziale Herkunft, aber auch politische und kulturelle Strukturen
des Landes diskutiert, die Einfluss auf Genderrollen und Identitäten haben.
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In Kapitel 6 „Transnationale Räume und ihre Bedeutung im Aushandlungsprozess weiblicher Identitäten“ wende ich mich speziellen transnationalen
Räume zu, in denen die Akteure/‑innen aus Berlin, Los Angeles und Teheran reell oder virtuell aufeinander treffen. Hierbei habe ich die Internationale Iranische Frauenkonferenz, das Internet und das transnationale Projekt einer Theaterproduktion als repräsentative Beispiele transnationaler
Räume und Kommunikation ausgewählt und beschrieben. Da transnationale Räume machtbesetzte Orte sind, ist es wichtig, sie einer Machtanalyse zu unterziehen und zu beschreiben, welche konstituierenden Strukturen, welche Mächte und Gesetzlichkeiten wirken. Dafür beziehe ich Michel Foucaults Essay „Die Ordnung des Diskurses“ und seinen diskursanalytischen Ansatz ein und diskutiere dies in dem Kapitel „Kommunikation
und die Ordnung des Diskurses“. Das Kapitel endet mit der Fallstudie des „Mythos der Frau im roten Kleid“, der mit der Emigration von über vier Millionen
Iraner/-innen in die Welt getragen wurde.
Der Abschluss der Arbeit rückt die iranischen Frauen und deren Rolle als
transnationale Akteurinnen in den Mittelpunkt. Ihre Haltung und soziale
Praxis kann als vielschichtig gesehen werden und ist auf mehr Ebenen als
nur in der Grauzone zwischen passiver Anpassung und aktiver Subversion
angesiedelt. In einem Ausblick wage ich die These, dass eine enge Verbindung von Politik und Geschlechterrollen bzw. die politische Auf‌ladung bestimmter Körperbilder auch in der Rezeption der neueren gesellschaftspolitischen Entwicklungen im Iran zu finden ist.
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2Methode
Ausgangspunkt meiner Forschung war Berlin, die Stadt, in der ich lebe
und arbeite. Ich hatte aufgrund meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als
Deutschlehrerin in einem Asylbewerberheim im Jahr 2000 viele iranische
Sprachschüler/-innen in meiner Klasse unterrichtet. Nach den Studentendemonstrationen von 1999/2000 waren erneut viele Iraner/-innen nach
Deutschland gekommen und hatten einen Asylantrag gestellt.
Mit der Zeit entwickelte sich ein intensiver Kontakt zu einigen der Kurs­
teilnehmer/-innen. Gemeinsame Nachmittage und Abende, an denen ich
Fragen stellte und sie mir viel aus dem Iran und über die Gründe ihres
Weggehens erzählten, führten im Sommer 2001 zu meiner ersten Reise in
den Iran.
Bei diesem Aufenthalt besuchte ich die Familien meiner Bekannten. Da sie
aufgrund des laufenden Asylverfahrens nicht zurückgehen konnten, war
ich Überbringerin von Fotos und Berichten aus Berlin und kehrte mit vielen Geschichten und Geschenken der Familien an ihre Verwandten zurück.
2002 drehte ich den Dokumentarfilm „Salam Berlin“ über drei iranische
Asylbewerber und ihr Leben in der Grauzone von Anerkennung und Abschiebung im Asylverfahren. Während des Drehens lernte ich über die
drei Protagonisten meines Films einige Iraner/-innen kennen, die schon
seit Anfang der 1980er-Jahre in Berlin lebten. Somit entstand über mehrere Jahre ein intensiver Kontakt zu vielen Iraner/-innen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen in Berlin.
Nach längerer Beschäftigung mit der Geschichte und Politik des Irans und
durch meine eigenen Erfahrungen im Iran sowie in der iranischen Community in Deutschland kristallisierten sich die Rolle der iranischen Frauen
und die Diskurse über iranische Frauen als besonders politisch und ideologisch aufgeladen heraus. Die öffentlichen Diskurse über iranische Frauen
sowie das islamische Frauenbild und die tatsächlichen Lebenswelten der
Frauen, die ich sowohl in Berlin als auch in Teheran kennen gelernt hatte,
befanden und befinden sich in einem dynamischen Spannungsverhältnis
zueinander. So hat die weit verbreitete Annahme, dass der Islam als monolithische Religion alle Aspekte der iranischen Gesellschaft kontrolliere,
zur Folge, dass in westlichen Diskursen (z. B. medialen, politischen) über
Iran häufig eine automatische Verbindung zwischen nationaler Zugehörig-
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keit und einer religiösen islamischen Identität vorausgesetzt wird. Insbesondere in der Diskussion über eine weibliche muslimische Identität wird
häufig ein sehr einheitliches Bild der islamischen Frauen gezeichnet, bei
dem die weibliche Rolle, ihre Legitimation durch die Religion und ihre Diskriminierung im Vordergrund stehen. Diese Zuschreibungen erschöpfen
sich des Öfteren in einer dichotomen Einteilung, die entweder die klassische Opferrolle oder den Typus der Widerständlerin hervorhebt. Aus diesem Grund sehen sich die Iranerinnen im Exil und der Diaspora mit der Zuordnung zu einem islamischen Frauenbild konfrontiert, dem sie eigentlich
entkommen wollten. In der Selbstzuschreibung dieser Frauen spielt Religion häufig nur insofern eine Rolle, als sie diese als Fremdzuschreibung
im Iran und in der Diaspora erfahren, die ihrerseits den religiösen Aspekt
beharrlich hervorhebt.
In den vergangenen Jahren hat man nun in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen begonnen, die Rolle der Frauen in islamischen Gesellschaften differenzierter zu beurteilen. Die meisten dieser Arbeiten versuchen, die
Vielschichtigkeit der weiblichen Muslimischen Identität hervorzuheben.
Man stellt zum Beispiel die Frage nach einer spezifisch weiblichen Muslimischen Identität, die nicht durch die klassische Opferrolle oder den Typus
der Widerständlerin gekennzeichnet ist. (Ask 1998; Fawzi & Marbrow 1995)
Im Falle des Irans sind es hauptsächlich iranische Akademikerinnen, die
in den Sozial-, Geschichts- und Literaturwissenschaften über die Frauen
ihres Landes schreiben. Autorinnen wie die in Washington lebende Literaturprofessorin Azar Nafisi mit ihren Roman „Reading Lolita in Teheran“,
die in Los Angeles beheimatete Sozialarbeiterin Satare Farman Farmaian
oder die im Iran arbeitende Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi veröffentlichten autobiografische Romane und zeichneten ein facettenreiches
Bild ihrer Leben im Iran. Anhand der vielfältigen literarischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Äußerungen von Iranerinnen zu ihrer gesellschaftlichen Rolle wird einmal mehr deutlich, dass Identitäten multiple Konstrukte sind, vielschichtig und divers. Ihre Verhandlung ist ein
komplexer, häufig konfliktiver vielschichtiger Prozess, den ich in dieser
Arbeit analysieren und diskutieren möchte.
In den Sozialwissenschaften wird meist davon ausgegangen, dass Identitäten als gesellschaftliche Produkte in einem Prozess entstehen, dessen
Herzstück die Spiegelung des Eigenen im Anderen ist. So gesehen ist eine
Identität niemals nur eine positive Formulierung dessen, was man ist, son-
18
dern auch eine Negation dessen, was man nicht ist. Anhand dieser Negation des Anderen wird das Eigene erkannt und wiedererkannt. Jede Verfestigung oder Reproduktion dieses Erkennens und Wiedererkennens ist ihrerseits ein Ausschluss all dessen, was nicht erwähnt, gezeigt, ausgedrückt,
konserviert oder entwickelt wird. Die Formulierung der eigenen – und
auch der anderen – Identität ist ein fortdauernder kommunikativer Prozess, in dessen Verlauf ständig neue Grenzziehungen oder Grenzöffnungen
verhandelt werden und das kulturelle Repertoire sich verändert und differenziert. Die verschiedenen Sichten auf das Eigene und das Andere arbeiten sich somit aneinander ab, und unterschiedliche Perspektiven verschränken sich miteinander.
2.1
Methodische Vorgehensweise: „Multi-sited Ethno­graphy“
Ich beschäftigte mich insbesondere mit den transnationalen Netzwerken
der Frauen und deren Auseinandersetzung mit Frauenbildern und weiblichen Identitäten.
„Im Gegensatz zu den Konnotationen von ‚international‘ steht hier
der Aspekt zeitlich andauernder, grenzüberschreitender Beziehungen im Vordergrund, in denen nicht Staaten, sondern individuelle Akteure oder Organisationen die Handelnden sind. Transnationale Beziehungen sind zwar, wie Foner (1997) für Migranten in
New York City des 19. Jahrhunderts nachweist, kein absolut neues
Phänomen, die Dimensionen der Prozesse und Beziehungen sind
heute jedoch ohne historisches Vorbild.“ (Kokot 2002: 99)
In meiner methodischen Vorgehensweise nutzte ich den von dem amerikanischen Kulturanthropologen George Marcus entworfenen Forschungsstil der „multi-sited ethnography“.
„Im Deutschen spricht man vom multi-lokalen oder mobilen Forschen (Schlee 1985: 203, Werthmann/Grätz/Hahn 2004: 327), ­womit
zunächst betont wird, dass man sich nicht mehr auf einen Ort
oder eine Region bei der Erforschung menschlicher ­Gesellschaften
oder Gruppierungen konzentriert, sondern die Methoden der stationären Feldforschung (Malinowski 2001, vgl. Spittler 2001) auf
verschiedene Orte und Schauplätze kulturellen Geschehens (Fog
O­lwig/Hastruo 1997, Gupra/Ferguson 1997) ausweitet.“
(Weißköppel 2005: 1)
19
3
Ursachen der iranischen Diaspora- und
Exilbildung
„Die iranische Emigration nach Europa und Nordamerika im 20.
Jahrhundert ist eng mit den politischen und gesellschaftlichen
Veränderungen in der jüngeren iranischen Geschichte verbunden.“
(Agha 1997: 36)
Die Verfassungsbewegung von 1890–1920, der Militärputsch von Reza Khan
mit folgendem Beginn der Pahlavi-Herrschaft (1924) und der Militärputsch
gegen den Premierminister Mossadegh (1953) können als historische politische Ereignisse genannt werden, die vor allem Teilen der iranischen
Ober- und Mittelschicht Gründe lieferten, ihr Land zu verlassen. Die „Islamische Revolution“ von 1978/79, die darauf folgende Implementierung
der Islamischen Republik, die mit der Verfolgung, Verhaftung und Exekution politisch Andersdenkender einherging17, und der gleichzeitig stattfindende achtjährige Krieg mit Irak können jedoch als wichtigste Ursachen
für die iranische Diaspora- und Exilbildung gesehen werden. Kollektive
und individuelle Erinnerungen an diese soziopolitischen Umbrüche stellen hier einen wichtigen konstituierenden Teil der diasporischen und exilierten Identitäten dar, über die ich schreibe.
Sozialwissenschaftler/-innen haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten
vielseitig mit dem Begriff der Diaspora auseinandergesetzt, der mit einem
vermehrten Interesse der Wissenschaften zu Fragen der Migration und
Globalisierung einherging.
„The veteran anthropologist, Clifford Geertz (1986: 118–119), argued
that so long as the worlds they were studying really were ‚there‘
(as Malinowski found them and as Lévi-Strauss remembered them)
the task of fieldwork was a practical problem, not a theoretical one.
The perception that there were seminal changes in cultural interactions arising from migration was first adequately theorized
17 Während Khomeinis Herrschaft wurde die Bilanz an Toten und politisch Verfolgten in der
neuen Islamischen Republik Iran noch beklemmender. „So war 1989 in einem Flugblatt, das
Anhänger der Volksmudschaheddin in Deutschland und Österreich verteilten, zu lesen, von
1979 bis 1989 habe es im Iran 90.000 Hinrichtungen und 150.000 Inhaftierungen politisch Verfolgter gegeben.“ (Agha 1997: 322)
58
by anthropologists. The subjects of their studies were no longer
‚there‘: they had by means of migration escaped the cages of their
anthropological zoos“. (Cohen 1997: 134)
Während der Begriff „Exil“ einer recht genauen Definition18 unterliegt,
ist der Begriff der Diaspora vielfach theoretisiert und in ethnografischen
Beschreibungen von Migrationsprozessen und Migrant/-innengruppen
als Kategorisierung und Klassifizierung genutzt worden. Seit Beginn der
1990er Jahre haben akademische Debatten die Vielfalt gezeigt und diskutiert, die sich hinter dem Konzept „Diaspora“ verbirgt: von der traumatischen Geschichte der jüdischen, armenischen Gemeinschaft und der black
community bis hin zu unterschiedlichen migrantischen Gruppen, die sich
selber als Diaspora bezeichnen und „neue Diasporen“ bilden (vgl. Cohen
1997). Die Diasporaforschung hat sich derart ausgeweitet, dass es hinsichtlich der Problematik der Terminologie und unterschiedlicher Sichtweisen
schwierig wird, allen Erkenntnissen gerecht zur werden. Dennoch ist es
wichtig, die Frage, wie sich diasporische Identitäten konstituieren und verorten, anhand vorhandener empirischer Kenntnisse zu durchdenken und
neue eigene Vermutungen anzustellen, so vorläufig und unvollständig sie
auch sein mögen. Denn ethnographische Arbeiten zu Di­asporen (vgl. Greiner und Kokot 2009) wie auch mein eigener empirischer Zugang machen
deutlich, dass sich Lebenswelten und Realitäten von transnationalen Communities19 nicht in ein einziges klassifikatorisches Modell einordnen lassen und man stattdessen eher von vielen verschiedenen Diasporen sprechen muss. Im Gegensatz zu dominanten eher essentialistischen Diskursen von diasporischen Eliten zeigen ethnographische Arbeiten, dass dias-
18 Exil ist das sichere Land, in das jemand flieht, der aus politischen Gründen nicht mehr in
seinem Land leben kann oder darf. „Der Begriff Exil (lat. exilium, exsul) bezeichnet die Abwesenheit eines Menschen oder einer Volksgruppe aus der eigenen Heimat aufgrund dortiger Verbannung, Vertreibung, Ausbürgerung, religiöser oder politischer Verfolgung. Im Unterschied zur Emigration, die den Tatbestand jeglicher Auswanderung umfasst, geht die Erfahrung des Exils stets mit Einschränkungen und Beschneidungen des Individuums einher.
Exil ist der unfreiwillige Verlust sprachlicher, sozialer und kultureller Wurzeln.“
19 Ich verwende den Begriff „transnational community“ im Sinne von Thomas Faist: „Transnational communities can also be of a larger kind, primarily held together by symbolic ties
of common ethnicity or even nationhood. For example, refugees who have pursued nationbuilding or political opposition projects in their home countries typically try to develop and
entertain dense transnational ties. Transnational communities are characterized by a continuous involvement in a pentagonic relationship with state and non-state entities in the countries of emigration and immigration.“ (Faist 2000: 208)
59
porische Identitäten konstruiert werden und somit stetigen Veränderungen unterliegen und im Laufe der Zeit auch umdefiniert werden. Diese Veränderungen stehen in engem Zusammenhang mit den jeweiligen konstituierenden Kontexten und Machtstrukturen, in denen sich die Personen
der Community befinden.
„The word derives from the Greek dia, ‚through‘, and speirein, ‚to
scatter‘. According to Webster’s Dictionary in the United States, diaspora refers to a ‚dispersion home‘. Hence the word embodies a notion of a centre, a locus, a ‚home‘ from where the dispersion occurs.
It invokes images of multiple journeys. The dictionary also highlights the world’s association with dispersion of the Jew after the
Babylonian exile. Here, then, is an evocation of a diaspora with a
particular resonance within European cartographies of displacement: one that occupies particular space in the European psyche,
and is emblematically situated within Western iconography as the
diaspora par excellence. Yet to speak of late twentieth-century diasporas is to take such ancient diasporas as a point of departure
rather than necessarily as ‚models‘ or what Safran (1991) describes
as the ‚ideal type‘“. (Brah 1996: 181)
Im Sinne der poststrukturalistischen Soziologin Avtar Brah verstehe ich
den Begriff der Diaspora als einen interpretativen Rahmen für eine Analyse von Modalitäten in Migrationsprozessen.
„The concept began to suggest fruitful ways of examining the relationality of these migrancies across fields of social relations, subjectivity and identity“. (Brah 1996: 16).
Robin Cohen schreibt hierzu in seinem Buch „Global Diasporas“ (1997: 9), es
könne nicht darum gehen, lediglich die Theorie mit empirischen Beispielen zu illustrieren, sondern vielmehr die Frage zähle, inwieweit theoretische Überlegungen zu Diasporen einen analytischen Raum schaffen, der
mit den empirischen Erkenntnissen korrespondiert. Avtar Brah hebt hervor, dass es daher für eine Analyse und Beschreibung von Diasporen von
zentraler Wichtigkeit ist, die spezifischen soziopolitischen und kulturellen
Bedingungen, unter denen die Reisen, die „diasporic journeys“, stattgefunden haben, zu untersuchen:
„In other words, it is necessary to analyse what makes one diasporic
formation similar to or different from another: whether, for in-
60
4. Gender und Migration: Wenn Frauen
alleine migrieren
Lange Zeit standen weibliche Lebenswelten und Erfahrungen im Kontext
von Migration nur marginal im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Obwohl Frauen mindestens so häufig wie Männer migrieren, wurden sie in der Migrationsforschung bis vor kurzem überhaupt nicht oder
nur als „Anhängsel“ männlicher Migranten wahrgenommen (vgl. Hahn
2000). Die sozialen Rollen, die Frauen in Fragen der Migration somit zugeschrieben wurden, beschränkten sich auf private Räume, das Hausfrauendasein und die Erziehung der Kinder. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf
der weiblichen Arbeitsmigration und hierbei auf Arbeiten im Niedriglohnsektor (beispielsweise Putz- und Pflegearbeiten) und der Prostitution und
dem damit im Zusammenhang stehenden internationalen „Frauenhandel“.
Weibliche Migration stellt jedoch ein sehr viel komplexeres Feld an sozialen Rollen und weiblichen Identitäten dar. Frauen migrieren oftmals aus
den gleichen Gründen wie Männer, flüchten vor Kriegen oder politischer
Verfolgung, wollen studieren oder arbeiten und folgen nicht nur ihrer Familie oder ihrem Ehemann in ein neues Leben.
In der Beschäftigung mit der iranischen Migration seit 1979 fällt eine besonders große Anzahl an Frauen, die alleine migriert sind, ins Auge. Die
Frauen verließen Iran meist aufgrund der politischen Situation des Landes.
Das bedeutet, dass die vielfache Begründung einer wirtschaftlichen Not
für weibliche Migration hier nicht zutrifft. Die meisten der Frauen haben
ein akademisches Studium oder eine Berufsausbildung durchlaufen. Mit
ihnen verließ ein Teil der iranischen Intelligenzia das Land. Viele dieser
Frauen waren Teil der iranischen Bildungs- und/oder ökonomischen Elite
des Landes. Andere lassen sich der iranischen städtischen Mittelschicht zuordnen. Sie sind vor allem als politische Akteurinnen zu sehen, als Frauen,
die den auf Gender-Unterschieden basierenden Repressalien und der frauenspezifischen Verfolgung der islamischen Republik Iran entfliehen wollten.
„When migration is massive and motivated by political convulsions
at home, it is likely that immigrants remain morally tied to kin
and communities left behind and, hence, are more likely engage
in a variety of activities to bridge the gap and sustain a common
bond.“ (Portes 1999: 464)
101
Ein weiteres Motiv für Migration von Iranerinnen besteht im Studium oder
einer Weiterbildung. Mit der Ausbildung im Ausland ist oftmals Hoffnung
verbunden, die Chance zu vergrößern, an dem internationalen Arbeitsmarkt partizipieren zu können. Im Prozess der Immigration und Neuorientierung in einem fremden Land, sind Frauen oftmals mit anderen Problemen als Männer konfrontiert.30
„Genderspezifische Migrationsforschung betont […], dass geschlechtsspezifische Asymmetrien auf ökonomischer, soziokultureller und
politischer Ebene für Frauen andere Bedingungen und Möglichkeiten von Mobilität schaffen als für Männer. Ohne diese geschlechtsspezifischen Asymmetrien zu untersuchen, können Muster weiblicher Migration nicht verstanden werden.“ (Parnreiter 2005: 43)
Hinterfragt werden sollte dabei, warum Frauen in bestimmten Fällen wandern oder warum sie eben nicht in der Migration mobilisiert werden.
In den neuen gesellschaftlichen Zusammenhängen müssen sich Frauen oftmals mit anderen Zuschreibungen auseinandersetzen als Männer, beispielsweise mit der Rolle des Opfers. Im spezifischen Falle iranischer Frauen ist
es die Rolle der „unterdrückten Muslimischen Frau“, die ihnen von gesetzlicher, bürokratischer Seite, aber auch in gesellschaftlich informellen Bereichen entgegengebracht wird.
Es geht also in der Beschäftigung mit weiblicher Migration darum, Frauen
als eigenständige soziale Akteurinnen wahrzunehmen und zu beschreiben,
die Prozesse der Migration und der transnationalen Vernetzung aktiv gestalten. Die seit den späten 70er-Jahren zunehmende Präsenz und Wahrnehmung von Frauen im internationalen Migrationsgeschehen hat auch die
theoretischen Auseinandersetzungen zu Fragen des Transnationalismus beeinflusst und führte dazu, dass viele Forscher/-innen mittlerweile von einer „Feminisierung der Migration“ sprechen (vgl. Kofman, 2000, Mahler und
Pessar 2001). Vor diesem Hintergrund fordern sie, „die Einführung der Kategorie gender in die Analyse transnationaler Migrationsphänomene.“ (Söke­
feld 2007: 1)
30 Tahere Agha schreibt über die Frauenspezifischen Probleme auf der Flucht aus dem Iran:
„Mädchen und Frauen waren auf diesen Fluchtrouten nicht nur starken körperlichen Strapazen
ausgesetzt, sondern teilweise auch mit sexuellen Übergriffen durch männliche Fluchthelfer konfrontiert.“ (Agha 1997: 57) Siehe hierzu Kapitel 4.1. meiner Arbeit „Die rebellische Generation“.
102
Die Genderkategorie stellt ein signifikantes organisatorisches Prinzip des
sozialen Lebens dar. Hierbei werden genderspezifische Positionen entwickelt und Perspektiven eingenommen.
Prozesse der Migration und transnationaler Vernetzungen sind von diesen genderspezifischen Kriterien geprägt und Gender stellt nicht nur eine
messbare Variable, sondern eine relationale Kategorie dar, die sich auf
beide Geschlechter bezieht. Hierbei darf Geschlecht nicht isoliert von anderen Identitäten wie beispielsweise race und ethnicity gesehen und beschrieben werden. Die transnationale Orientierung von Migrant/-innen
zwingt die Wissenschaft bestehende theoretische Konzepte von Ethnizität und Nationalität zu hinterfragen und neu zu konzeptualisieren.
„However, transnational practices cannot be construed as if they
were free from the constraints and opportunities that contextuality
imposes. Transnational practices, while connecting collectivities located in more than one national territory, are embodied in specific
social relations established between specific people, situated in unequivocal localities, at historically determined times. The ‘locality’ thus
needs to be further conceptualized.“ (Guarnizo and Smith 1998: 11)
In transnationalen Kontexten wie im Falle dieser Forschung galt es nun, zu
untersuchen wie sich die Beziehung von Gender, Nationalität und Religion
und die Verhandlung von Geschlechterrollen über Grenzen hinweg gestaltet
und verändert haben. Entscheidend war hier bei der Beschreibung dieser
Prozesse, dass Frauen als Akteurinnen in den Mittelpunkt gerückt wurden.
Georges Fouron und Nina Glick Schiller schreiben in „All in the family:
Gender, Transnational Migration, and the Nation-State“:
„Much less has been said about the social reproduction of gender
in transnational spaces. Theses spaces are created as people emigrate, settle far from their homelands, and yet develop networks
of connection that maintain familial, economic, religious, and political ties to those homelands“. (Glick Schiller & Fouron 2001: 539)
In der speziellen Beschäftigung mit iranischen Transmigrantinnen31 und
bei Fragen nach individuellen und kollektiven Identitäten spielt das Zu-
31 Ich beziehe mich hier auf Nina Glick-Schillers Definition von Transmigrant/-innen:
„‚transmigrants“ sind gezwungen sich mit verschiedenen hegemonialen Konzepten und Iden-
103
sammenwirken von Gender, Religion und Nationalität eine herausragende
Rolle. Darüber hinaus ist die Frage nach Veränderungen und Kontinuitäten im soziopolitischen Selbstbild der iranischen Transmigrantinnen entscheidend, beispielsweise in Verbindung mit feministischen Diskursen.
4.1
Migration nach Deutschland
Migrationsprozesse finden niemals losgelöst von den Beziehungen zwischen den Nationalstaaten, von denen Menschen auf‌brechen, und den Aufnahmeländern, in denen sie sich ansiedeln, statt. Iranische Migration ist
somit vor dem Hintergrund der historischen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen von Deutschland und Iran angesiedelt.
„1873 besuchte mit Naser al-Din Schah erstmals ein persischer
Kaiser Berlin. Noch im selben Jahr unterzeichnete man auf persisches Drängen einen deutsch-persischen Freundschaftsvertrag.
1885 wurde die erste persische Vertretung in Berlin eröffnet. […]
1888 gelangte Kaiser Wilhelm II. an die Macht. Mit ihm begann die
Phase einer machtpolitisch orientierten deutschen Orientpolitik.“
(Küntzel 2009: 25)
Kaiser Wilhelm II. ließ sich im ersten Weltkrieg als „Haj Wilhelm Mohammed“ bezeichnen und als Held im Kampf gegen Persiens Gegner Russland
und Großbritannien feiern. Reza Schah, der am 15. Dezember 1925 die iranische Regentschaft übernahm, intensivierte den Handel mit Deutschland
zu Lasten Großbritanniens und der Sowjetunion. Das größte Projekt, das
mit deutscher Unterstützung in Angriff genommen wurde, war der Bau
der transiranischen Eisenbahn, deren Strecke vom Kaspischen Meer im
Nordosten bis zum Persischen Golf im Südwesten des Irans reichte. Darüber hinaus hatte der iranische Monarch viele Bauprojekte zusammen mit
Deutschland geplant und realisiert wie beispielsweise die Hörsäle und Gebäude der Universität Teheran, den Teheraner Hauptbahnhof oder ministeriale Gebäude. Es waren somit deutsche Firmen, die die persische Industrie in den 1920er Jahren mitbegründeten.32 Aufgrund dieser Verbindungen
titätskonstruktionen auseinanderzusetzen. Ihre alltäglichen Beziehungen und sozialen Interaktionen sind transnational ausgerichtet.“ (Glick-Schiller 1992: 5)
32 Einrichtungen von Krankenhäusern und Laboratorien wurden in Deutschland ebenso
produziert wie Waffen- und Chemiefabriken. Die Firma Siemens lieferte Elektromotoren und
104
5. Weibliche Identitäten in Berlin,
Los Angeles und Teheran
Um sich den unterschiedlichen Positionen iranischer Frauen in einem
transnationalen Kontext anzunähern, diese zu verstehen und miteinander in Beziehung zu setzen, ist es wichtig, die lokalen Kontexte, in denen
sich die Frauen verorten, näher zu beleuchten. Daher stehen in diesem Kapitel die unterschiedlichen Gruppen von Frauen und ihre Lebenswelten in
Deutschland, den USA und Iran im Zentrum. Die soziale Herkunft und die
Sozialisation in dem speziellen politischen Kontext Iran nehmen ebenso
Einfluss auf die Biographien wie auch die konstituierenden Strukturen wie
Gesetzgebung, Politik, Medien und Kultur des Landes, in das die Frauen migriert sind. Das bedeutet, dass die Frauen sich in ihren Identitäten unterschiedlich verorten und ihre soziale Praxis variiert. Dies gilt besonders für
die Tochtergeneration der Frauen, die nach der Revolution das Land verließen. Diese neue Generation von Iraner/-innen wurde in Deutschland, USA
oder Iran geboren und sozialisiert und kann auf keine gemeinsame identitätsstiftende Sozialisation im iranischen Kontext und auf keine kollektive Erinnerung zurückgreifen. In der Äußerung einer jungen iranischen
Studentin, die von Iran nach Boston und dann nach New York gezogen war,
wird dies besonders deutlich:
„On a social very personal level, it is not easy to relate to them (IranianAmericans), because we are just completely different. We look like each
other, we might have both an Iranian name, but usually the AmericanIranian person in my age is just like a foreign person to me. So if I make
friendship with them it is like making a friendship with a canadian or
european person, I don’t feel right away familiar only we have both an
Iranian background.“ (Interview Shirin, 26.8.2008)
Beide Generationen von Frauen setzen sich miteinander über die eigene
weibliche Identität auseinander, indem sie ihre spezifische Perspektive auf
die Frauenbilder, die in der Revolution entstanden sind, kommunizieren
und sich zu ihnen positionieren, sie beurteilen oder sich gegebenenfalls
gegen bestimmte Zuschreibungen wehren. Diese historische Zäsur der Revolution, so argumentiere ich, wirkt in die zweite Generation hinein und
wird als Maßstab in der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart genutzt und in der Rechtfertigung von Positionen und Meinungen
umgesetzt. Oftmals stehen diese Diskurse, die innerhalb der Diaspora- und
118
Exilgemeinde und im Iran stattfinden, in einem konfliktiven Verhältnis
zu dominanten Diskursen über Iran und islamische Frauen in der Politik
oder in den Medien. Ich beschreibe im Folgenden, wie in den unterschiedlichen Kontexten sowohl Erinnerungen an die Revolution, als auch deren gesellschaftliche Auswirkung diskutiert, benutzt und transformiert werden
als wichtiger und konstituierender Teil weiblicher iranischer Identitäten.
5.1 „Die rebellische Generation“: Exilierte Identitäten politischer Aktivistinnen in Berlin
Exile is a crooked memory sitting on a bus
with the slogan: „There is a way and I have gone it several times.“
The bus is longing for the driver to sleep
and the driver longing for the bus to stop climbing
and the exiled longing for „where they are not.“
Rumi, Darwish, Conrad and Said „They have a country of words.“
I have not.
Siah Armajani
Zu Beginn meines ethnographischen Kapitels über die konkreten Verortungen und Lebenswelten iranischer Frauen soll hier zunächst der Kontext des Exils und des politischen Aktivismus in den Vordergrund gestellt
werden.
Die Frauen, die in diesem Kapitel vorgestellt werden, waren Protestlerinnen, Revolutionärinnen und Zeitzeuginnen. Sie partizipierten am gewaltsamen politischen Umbruch ihres Landes, danach waren sie oft selber verfolgt und inhaftiert oder mussten im Untergrund leben, bevor sie
Iran verlassen konnten. Sie zeichnen sich durch eine atheistische Haltung aus, lehnen die Fremdzuschreibung einer religiösen Muslimischen
Identität ab und empfinden es als problematisch, dass dieser Aspekt ihnen von der deutschen Gesellschaft immer wieder beharrlich als wichtiger Teil ihrer Identität entgegengehalten wird. Hierbei wird ein konstanter Widerspruch erzeugt, der den sozialen Spielraum der Frauen prägt. Die
Erfahrungen mit dem gewalttätigen islamistischen Regime im Iran führten hierzulande zu einer Ablehnung des Islam seitens dieser Frauen. Die
Bezeichnung „Muslimin“ und die Zuschreibung einer religiösen Identität,
ebenso wie die mit diesen Zuschreibungen einhergehenden Stereotype,
die ihnen in Deutschland entgegengehalten werden, tragen zu einer noch
119
größeren nach außen getragenen ablehnenden Haltung gegenüber dem Islam bei. Eine Situation am Institut für Iranistik in Berlin veranschaulicht
diese Dynamik. Ich war eingeladen worden, meine Forschungsergebnisse
in Berlin vorzustellen. Im Publikum saßen einige der iranischen Frauen,
über die ich während meines Vortrages sprach, und ich beschrieb sie als
atheistisch. Nach dem Vortrag kam eine mir unbekannte Dame auf mich
zu, bedankte sich und sagte, dass sie sich in meinen Beschreibungen sehr
gut wiederfinden könne: „Sie haben recht mit der atheistischen Haltung, aber
ganz im Vertrauen, es gibt in mir versteckt auch einen religiösen Teil, aber das
ist zu kompliziert. Nicht wahr?“, sagte sie lachend und verließ den Vortragsraum. Eine andere meiner Interviewpartnerinnen formulierte die von ihr
empfundene Problematik der essentialistischen Zuschreibungen einer religiösen Muslimischen Identität folgendermaßen:
„Du kannst doch auch sagen: Ich bin in Berlin geboren, bin getauft, gehe
aber nicht in die Kirche, glaube an etwas Höheres, würde das aber nicht
Gott nennen, mache ein bisschen Yoga etc … Ich, als iranische Frau,
möchte das auch so sagen können: Ich bin ein bisschen das und ein
bisschen das.“ (Interview Farifteh 5.5.2005)
Viele der politischen Mitstreiter/-innen aus dieser Generation gingen aufgrund familiärer Verbindungen, kultureller Präferenzen oder legaler Rahmenbedingungen (Visa, Aufenthaltsgenehmigungen etc.) auch in andere
Länder wie zum Beispiel Frankreich, England, Kanada und die USA oder in
andere Städte Deutschlands und sind Teil des transnationalen Netzwerks
der hier vorgestellten Akteurinnen. Im Folgenden beschreibe ich beispielhaft deren Wege ausgehend von repressiven Erfahrungen im Iran bis zu
den Erfahrungen und Zuschreibungen im Berliner Exil.
Das Studium und der Wunsch nach Selbstbestimmung
Die Frauen, die ich in diesem Kapitel vorstelle, zählen heute zur älteren Generation im Berliner Exil. Sie waren damals im Iran meist junge Studentinnen gewesen, als sie sich entschlossen, Teil der linkspolitischen Gruppen zu werden, oder konnten sich mit den Ideologien dieser Gruppen identifizieren.
Forough beschreibt ihre Faszination als Schülerin in dieser Zeit:
„Ich war eigentlich noch zu jung, Mit 15 oder 16 hat man andere Dinge im
Kopf als die Frauenbewegung. Aber ich war rebellisch so wie die ande-
120
ren auch. Meine Verwandten haben gesagt: ‘Forough, sei vorsichtig. Du
bist noch so jung. Wenn die Islamisten an die Macht kommen, dann werden sie euch zwingen, euch zu verschleiern.’ Ich habe das damals nicht
glauben können. Wie sollte uns jemand zwingen können, das zu tun.
Für mich war die Vorstellung absurd.“ (Interview Forough, 5.5.2005)
Ähnlich wie bei der Protestgeneration der deutschen 1968er-Bewegung
ging es den jungen Iraner/-innen damals um das Hinterfragen alter Strukturen, um die Entwicklung neuer Lebensentwürfe und um den Wunsch
nach Selbstbestimmung. Diese Frauen, die in der Revolution aktiv wurden,
beschrieben alle ihr ausgeprägtes Bedürfnis nach einem universitären
Studium oder einer Berufsausbildung. Die meisten meiner Interviewpartnerinnen waren in ihrer Familie die ersten Frauen, die studieren durften,
und eigneten sich somit kulturelles und soziales Kapital an, das ihnen in
der späteren Neuorientierung im Exil, beispielsweise beim Spracherwerb
oder der Berufswahl, beim wissenschaftlichen oder künstlerischen Arbeiten, aber auch in der transnationalen Vernetzung untereinander weiterhalf. Die Soziologin Tahere Agha bezeichnet diese Frauen als „Töchter der
Modernisierung“. Sie nutzten die Möglichkeit des Studiums und des politischen Aktivismus häufig, um sich aus der familiären Enge zu befreien und
sich für ihre persönliche und gesellschaftliche Freiheit einzusetzen (vgl.
Agha 1997). Die Familie spielt in allen Erzählungen der befragten Frauen
eine zentrale Rolle und viele Geschichten und Erinnerungen ranken sich
um die Familie. Der Familienverbund repräsentierte für einige Frauen in
ihrer Erinnerung den sicheren Ort, an dem man offen reden konnte, wo
man in seinen Ideen und Wünschen unterstützt und aufgefangen wurde.
Andere Frauen wiederum beschrieben die Enge und Strenge in der eigenen Familie. Innerhalb der Familie konnte es durchaus zu sehr verschiedenen religiösen und politischen Positionierungen unter Geschwistern und
Eltern kommen, was zu Konflikten führte. Oftmals nannten Frauen ihre
Großmutter oder den Großvater als wichtige Vorbilder und Bezugspersonen in ihrem Leben. Die iranische Comiczeichnerin Marjane Satrapi beispielsweise beschreibt ihre Großmutter in dem international bekannten
Comicbuch „Persepolis“ als die zentrale Figur in ihrem Leben und setzte
ihr damit ein Denkmal.
Diese Töchter der Modernisierung bekämpften das ihnen verhasste politische System der Schah-Regierung, das sie in gewisser Weise auch für ihre
persönliche Situation verantwortlich machten, und hinterfragten gleich-
121
6
Transnationale Räume und ihre
Bedeutung im Aushand­lungsprozess
weiblicher Identitäten
Die Beschäftigung mit transnationalen Räumen und ihrer Bedeutung in
der Verhandlung weiblicher Identitäten führt zu der Frage nach den konstituierenden Machtstrukturen und Machtbeziehungen, die hier auf die
handelnden Akteur/-innen einwirken. Die Forschungsperspektive beim
Konzept der transnationalen sozialen Räume ist bewusst auf soziale Beziehungen gerichtet, die Menschen und Organisationen in ganz bestimmten Regionen über zwei oder mehrere Nationalstaaten verbinden.
Hierbei verstehe ich im Sinne von Ludger Pries transnationale soziale
Räume als „[…]‚soziale Verflechtungszusammenhänge‘, die geografisch-räumlich diffus bzw. ‚de-lokalisiert‘ und nicht nur transitorischer Natur sind. Sie stellen eine wichtige Referenzstruktur sozialer Positionen und Lebensstile dar und
weisen über den Sozialzusammenhang von Nationalgesellschaften hinaus.“
(1996: 256). Das theoretische Modell des transnationalen Raumes erlaubt
es, flächenmäßige und sozialräumliche Dimensionen theoretisch zu entflechten, mit dem Ziel, Zugänge zu sozialen und kulturellen Zusammenhängen zu eröffnen, die nationale Grenzen überschreiten. Obwohl das Modell transnationaler sozialer Räume somit einen analytischen Rahmen
schafft, um soziokulturelle Interaktionen und Lebenswelten zu beschreiben, die jenseits nationalstaatlicher Kategorien angesiedelt sind, soll hier
noch einmal hervorgehoben werden, dass diese transnationalen Räume
immer in Beziehung zu nationalstaatlichen Kontexten stehen und gesehen werden müssen. Ayse Caglar schreibt hierzu:
„The relationship between nation states and transnationalism lies
at the core of transnationalism studies and the arguments for the
contemporary transnationalism’s difference from the older migrant transnationalism. Two areas of research dominate the discussions on the relationship between transnationalism and the nation state. The first one is concerned with the impact of globalisation and transnationalism on the nation state. The second area focused on the way nation state, as an institutional actor, mediates
transnational activities“. (Caglar 2002: 11–12)
203
Im Fall der transnationalen Aktivitäten iranischer Frauen lässt sich feststellen, dass die Machtbeziehungen der Akteur/-innen untereinander und
innerhalb der jeweiligen nationalstaatlichen Kontexte, in denen sie verortet sind und auf die sie sich beziehen, diese transnationalen Räume konstituieren. Hierbei liegt der Fokus auf den sozialen Vermittlungsprozessen
und Netzwerkstrukturen der Frauen. Für die Frauen in der Diaspora und
im Exil bleibt das zurückgelassene Land Iran weiterhin der primäre Orientierungspunkt des Handelns. Es geht also innerhalb dieser transnationalen Räume um die Fragen: Wo leben die Frauen, die in transnationalen
Foren aufeinandertreffen – in- oder außerhalb des Irans? Welchen politischen Status haben sie – exiliert oder nicht? Und: Wollen Frauen, die nicht
mehr im Iran leben, weiterhin den Iran besuchen können oder nicht? Man
kann davon ausgehen, dass diese Fragen der transnationalen Verhandlung weiblicher Identitäten zugrunde liegen.
„Over the years, feminist scholarship has illuminated the ways in
which genders are differentiated and gender hierarchies are constituted as part of the way women and men learn identify with nation-state. […] Research in post-colonial contexts has demonstrated
that women may not only claim to embody their nation, but may
have participated actively in nationalist struggles, especially struggles for national liberation“. (Glick Schiller & Fouron 2001: 539, 541)
Hierbei gehe ich davon aus, dass sich soziale Interaktionen von Iraner/-innen, die Performativität von Weiblichkeit und der nationalstaatliche Bezugsrahmen je nach Konstitution der transnationalen Räume (beispielsweise hinsichtlich der Relationalität von Mehrheit und Minderheit oder
der Einteilung von öffentlich und privat) variieren und verändern können.
Eine Geschichte, die das Tragen und das Nichttragen des Kopftuches in unterschiedlichen Kontexten beschreibt, soll hier als veranschaulichendes
Beispiel herangezogen werden:
Eine iranische Regisseurin wird mit ihrem Film zu einem deutschen
Filmfestival eingeladen. Sie trägt ihr Kopftuch im Iran nicht aus religiöser Überzeugung, sondern weil es ihr gesetzlich vorgeschrieben
ist. Bereits im Flugzeug, das sie von Iran nach Deutschland bringen
soll, wird sie ihr Kopftuch abnehmen. Hierbei kommt es allerdings
auf die Maschine an, mit der sie fliegt. Besteigt sie ein Flugzeug der
iranischen Fluggesellschaft Iran Air, befindet sie sich noch im direkten iranischen Kontext, besteigt sie eine Maschine der Lufthansa, be-
204
findet sie sich schon in einem deutschen Kontext. Sie wird das Kopftuch auch nicht bei ihren Erkundungen in der deutschen Stadt tragen oder beim Besuch iranischer Freunde dort. Im Kontext des Filmfestivals wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit das Kopftuch tragen. Sie geht im Wissen um eine mediale Öffentlichkeit zu der Veranstaltung. Hier erzeugen die Medien Bilder von ihr, die wiederum
im Iran ausgestrahlt werden. Da das Nichttragen eines Kopftuchs im
Iran ein straf‌barer Akt ist, trägt die Regisseurin somit das Kopftuch
aus Angst vor den Konsequenzen nach ihrer Rückkehr. Auf dem Festival präsentiert sie nun durch das Tragen des Kopftuches ein Bild
von sich selbst als verschleierte Frau, das sich in erster Linie auf iranische Gesetzgebungen und Kodierungen bezieht. Das Tragen des
Kopftuchs wird allerdings im Kontext des Festivals von deutscher
Seite anders wahrgenommen, und der Verschleierung wird beispielsweise eine religiöse Motivation zugrunde gelegt. Diese Zuschreibungen werden wiederum in den deutschen Medien reproduziert.47
Das Kopftuch wird in der Beschreibung der deutschen Zeitung als wichtiges Merkmal der iranischen Regisseurin betont. In Deutschland lebende
Iraner/-innen, die auf diese Regisseurin während des Filmfestivals treffen, werden anhand anderer Parameter erkennen, warum sie das Kopftuch trägt oder nicht – beispielsweise an der Art, wie sie das Kopftuch trägt
oder der Art, wie sie spricht und sich verhält – und dies anders beurteilen. Eine iranische Filmstudentin, die die Besucherin desselben Filmfestivals ist, aber aufgrund ihres Studiums gerade für einige Jahre in Deutschland lebt, wird zu derselben Veranstaltung ohne Kopf‌bedeckung erscheinen, obwohl sie in ein paar Jahren in den Iran zurückkehren wird.
Das Kopftuch wird hier also aus unterschiedlichen Gründen getragen oder
nicht getragen und verschieden interpretiert. Dabei spielt nicht die geografische Verortung des Raumes eine Rolle, sondern der von den Akteurin47 Der Interviewausschnitt zum Auf‌tritt der iranischen Regisseurin Samira Makhmalbaf verdeutlicht diese Dynamik: Während der Filmfestspiele von Cannes stand sie auf dem roten Teppich einmal zufällig neben Sharon Stone. Die Blitzlichtsalven explodierten geradezu angesichts
der extremen Ikonografie des Augenblicks: Hier die Hollywoodschauspielerin im tief dekolletierten Leopardenkleid, da die junge iranische Regisseurin mit Ledersandalen und schwarzem
Kopftuch. Während ein paar rüpelige Fotografen brüllten, Samira möge endlich den Schleier
ausziehen, legte Stone einfach schützend ihren Arm um die Jüngere. „Die Geste habe ich ihr nie
vergessen“, sagt die Iranerin, „die Erinnerung daran wird im Rückblick noch kostbarer, gerade
weil die Kulturen, in denen wir leben, sich jetzt mit äußerstem Misstrauen beäugen.“
205
7
Iranische Frauen als transnationale
Akteurinnen
Der Begriff der „transnationalen“ Migration oder der „transnationalen“
Akteur/-innen referiert auf eine abnehmende Bedeutung von Nationalstaaten und nationalen Identitäten in Migrationsprozessen (vgl. Appadurai 1996, Sassen 1996). Ein Resultat meiner Untersuchung ist jedoch, dass
Natio­nalstaaten in ihrer restriktiven Funktion als Kontrollinstanz im
Kontext iranischer Migration nicht an Bedeutung verloren haben. Im speziellen Falle transnationaler weiblicher iranischer Identitäten bleibt der
Nationalstaat weiterhin ein zentraler Bezugspunkt. Ebenso erscheint es
wichtig, bei der Beschreibung transnationaler Prozesse nicht in eine Romantisierung der Realitäten transnationaler Migrant/-innen zu verfallen.
Die Philosophin Braidotti kreiert mit ihrem Begriff „nomadisch“ Bilder
von Existenzen und Denkweisen eines endlos fragmentierten weiblichen
Subjekts, das durch Mobilität zur eigenen Identität findet (vgl. Braidotti
1994). In dieser Zuschreibung ist der Versuch erkennbar, Migrant/-innen
als Akteur/-innen ins Zentrum zu stellen und sie als ewig Reisende zu beschreiben, die ihre Identität frei von Zugehörigkeiten kreieren. Die damit
verknüpften transnationalen Biografien und Leben in „in-between spaces“,
wie Homi Bhabha sie definiert, können jedoch auch nur Teile von Identitäten fassen, und die theoretischen Modelle werden hierbei den Lebensrealitäten der Akteur/-innen, die im Zentrum dieser Arbeit stehen, nur ansatzweise gerecht (vgl. Bhabha 1994). Es geht in der Frage nach Identitäten und
Verortungen nicht nur um ein „in-between“ – ebenso geht es um das „settling down“ und „belonging“. „Paradoxically, diasporic journeys are essentially about settling down, about putting roots ‚Elsewhere‘“. (Brah 1996: 25)
Die transnationalen Beziehungen sind hierbei vom ökonomischen Kapital
und legalen Status der migrierenden Menschen abhängig. Auf politischer
Ebene spielt hierbei die Frage der „multiple citizenship“ eine wichtige Rolle.
Die globale Vernetzung der Welt fördert zwar die internationale Mobilität,
aber diese stellt meist noch immer ein Privileg dar. Bedingt sind transnationale Beziehungen heute durch die sich rapide entwickelnden Reise- und
Kommunikationstechnologien.
„Ebenso haben transnationale Beziehungen sichtbare ökonomische,
politische und sozio-kulturelle Auswirkungen auf die Migrant/-innen, deren Familien oder Kollektivitäten: Dazu gehören beispiels-
232
weise die Auswirkung von Geldüberweisungen oder nicht monetären Gütern auf die lokalen Ökonomien und Arbeitsmärkte, ebenso
wie die sozio-kulturellen Einflüsse auf die Verhandlung von Identitäten durch transkulturelle Ehen, religiöse Aktivitäten oder Medien.“
(Lüthi 2005)
Iranische Frauen können in diesem Sinne aufgrund ihres ökonomischen
und kulturellen Kapitals als privilegierte transnationale Akteurinnen verstanden werden, die in den beschriebenen Verhandlungsprozessen eine
Sprache suchen, welche eine Beschreibung ihrer weiblichen Identitäten ermöglicht, ohne sich immer wieder der definitionsmächtigen dichotomen
Bilder (muslimisch versus westlich) bedienen oder sich gegen diese erwehren zu müssen. Die Ikonisierung von Frauen in den soziopolitischen Prozessen im Iran hat hierbei einerseits die Frauen in ihren Identitäten als politische und gesellschaftliche Akteurinnen gestärkt, andererseits auf eine
religiöse Rolle festgelegt. In ihrer Selbstzuschreibung formulieren Frauen
im transnationalen Kontext daher Fragen nach anderen Identitäten, die
sich nicht auf den Islam beziehen, oder sie versuchen eine eigene Form der
religiösen Identität herzustellen und zu etablieren, die sich von der staatlichen islamistischen Rhetorik der iranischen Regierung distanziert.
Soziale Herkunft, Bildung, Alter, Beruf, kollektive Erfahrungen, insbesondere das Miterleben der Revolution, die politische Positionierung und das
Leben im Iran, im Exil und der Diaspora sind hierbei wichtige Faktoren,
die die soziale Praxis der Frauen beeinflussen und sie voneinander unterscheiden sowie ihre Perspektiven auf Genderrollen und Identitäten prägen.
Die Formulierung der eigenen und auch der anderen Identität ist ein fortdauernder kommunikativer Prozess, in dessen Verlauf ständig neue Grenzziehungen oder Grenzöffnungen verhandelt werden und das kulturelle Repertoire sich verändert und differenziert.
Die Haltung dieser Frauen ist vielschichtiger und auf vielschichtigeren
Ebenen als nur in der Grauzone zwischen passiver Anpassung und aktiver Subversion angesiedelt.
Die von Afsaneh Najmabadi hervorgehobene enge Verbindung von Politik
und Gender bzw. die politische Auf‌ladung bestimmter Körperbilder findet
sich auch in der Rezeption der neueren gesellschaftspolitischen Entwicklungen im Iran wieder. Der Blick der westlichen Medien richtet sich – wie
schon zuvor – auf die Frauen als Ikonen des Widerstandes. Die Bilder der
Frauen, die aktuell in den Medien auf‌tauchen, vermitteln nun, dass trotz
233
des rigiden islamischen Regimes zunehmend ein „unislamisches”, westliches Selbstverständnis von Frauen durchscheint. Oft werden solche Berichte mit „Hinter dem Schleier” oder „Unter dem Tschador” betitelt. Dass
diese Beschreibung das propagierte Gegensatzpaar zwischen dem Bild einer „islamischen“ und einer „unislamischen“ Frau fort- und dadurch weiter festschreibt, bleibt dabei zumeist unreflektiert. Hier wird das Bild der
Frau symbolisch aufgeladen, indem die Verschleierung schlicht mit „dem
Islam“ gleichgesetzt wird: Eine Frau, die sich von ihrem Schleier befreit, ist
eine Frau, die sich vom Islam befreit. Entscheidend ist dabei, dass der Islam in dieser Rezeption eben als der Islam erscheint, als homogene Geisteshaltung, die per se mit Autoritätsgläubigkeit und der Absage an Emanzipation verbunden ist. Hierbei wird außer Acht gelassen, dass es im iranischen Kontext vielmehr um die Befreiung von einem totalitären Regime
geht, dessen Milizen die Bevölkerung kontrollieren. Religion und eine islamistische Rhetorik wird von der Regierung hier oftmals als politisches
Unterdrückungsinstrument der Gesellschaft genutzt. An das Idealbild der
wahlweise verschleierten oder unverschleierten Frau knüpfen sich konkrete politische Vorstellungen, die in der Propagierung der Bilder unausgesprochen bleiben. Nicht zuletzt gerät durch diese einseitige Sicht auf
weibliche Identitäten der Emanzipationsprozess der Frauen in der iranischen Gesellschaft aus dem Blickfeld, und die Zuschreibung weiblicher iranischer Identitäten in einem internationalen Kontext verläuft weiterhin
entlang religiöser Definitionen.
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