Leutnantsbuch
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Leutnantsbuch Leutnantsbuch 79. Offizieranwärterjahrgang des Heeres 1 Leutnantsbuch Herausgegeben im Auftrag des Inspekteurs des Heeres durch Bundesministerium der Verteidigung Führungsstab des Heeres 53123 Bonn Verantwortlich für den Inhalt: Oberst i.G. Ernst-Peter Horn 2 Leutnantsbuch Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 3 Grußwort des Inspekteurs des Heeres 7 Offizieranwärter Frank – Der Alarmposten 11 Offizieranwärter Frank – Die Landstreitkräfte und der Heeresoffizier: Was kommt auf mich zu? 17 Offizieranwärter Frank – Der Bierdeckel 22 Das Zeitspiel Der erste Marsch Der Hinterhalt Der „Grünschnabel“ und der Alte Das Grab Beförderungsappell zum Gefreiten 33 40 43 46 52 58 Offizieranwärter Frank – Im Offizierkasino Nicht nur der erste Eindruck zählt Der neue Leutnant Ein schöner Tag! Die Ehefrau Hochzeit in Hessen Der Lebensabschnitt Der Pizza-Falter Die Feldjägerkontrolle Ein Auftrag zuviel 60 63 65 69 72 74 77 81 83 86 Offizieranwärter Frank – Der Abend 90 Offizieranwärter Frank – Selbstbestimmtheit 92 Offizieranwärter Frank – Im Restaurant 112 3 Leutnantsbuch Der Feuerkampf Das Funkloch Kameradschaft Die Todesnachricht 114 119 123 127 Offizieranwärter Frank – An der Offizierschule 131 Die etwas andere Patrouille! Jointness Der Brief Glauben hilft! Friendly Fire Die Truppenpsychologin Im Moor Blauhelme in Sarajevo Mein Spieß 135 138 141 145 148 152 155 158 161 Offizieranwärter Frank – Erfolgsfaktoren 165 Offizieranwärter Frank – Ausbildungswochenende 176 Einsatz im OMLT in AFG Medien im Einsatz Der kühle Kopf! Führen von irgendwo Haar- und Barterlass, Piercing und Tatoos Die Besprechung Die Lehrprobe Beim Handgranatenwerfen Der letzte Flug Die Grußpflicht Auf der Standortschießanlage Offizieranwärter Frank –Verabschiedung Fremde Kulturen Soldaten muslimischen Glaubens in der Bw 4 179 183 186 191 193 198 203 207 210 212 216 219 224 229 Leutnantsbuch Feuerlöscheinsatz Griechenland Der militärische Gruß Das Offizierkasino Das Einführungsgespräch Der „Robuste Soldat“ Der Suizid Die Gneisenaukaserne … lieber spät als nie! Der Anschlag Team „Hotel“ Der Hochwassereinsatz „Dat hann isch verjess …“ Der Nijmegen-Marsch Auslandsstudium USA „Regen“ Die Veteranen Das Dilemma Der Hindernisparcours Menschenführung im Einsatz Multinationalität bei SFOR Der geeignete Zeitpunkt für Kritik Die Kurzeinweisung Diagnose Krebs Das offene Ohr Die Gruppe in der AGA Soldatenwallfahrt nach Lourdes Als Seelsorger in Afghanistan 231 236 238 242 245 247 250 255 257 259 262 266 269 276 278 283 285 289 291 296 299 301 306 312 315 319 323 Das Selbstverständnis des Heeres 334 Namenspatron 79. Offizieranwärterjahrgang 337 Wo finde ich mehr 340 Glossar 345 5 Leutnantsbuch Eigene Notizen 349 6 Leutnantsbuch Grußwort des Inspekteurs des Heeres, Generalleutnant Hans-Otto Budde S o ist es also schon beinahe ein „Klassiker“ geworden – unser Leutnantsbuch. Das hervorragende Echo auf die 1. Auflage hat mich dazu bewogen, mit dieser 2. Auflage eine „kleine Tradition“ zu begründen: Sie, die jungen Offiziere und Offizieranwärter, an die es sich richtet, aber auch „alte Hasen“ der militärischen Führung haben es für gut befunden. Eine Orientierungshilfe zu unseren Werten, Traditionen und Normen hat demnach auch in unserer schnelllebigen Zeit der virtuellen Netze seine Berechtigung. Ich habe mich über die Anregungen zur 1. Auflage gefreut, und vieles davon hat in diese 2. Auflage Eingang gefunden. Wie im Nachfolgenden der junge Offizieranwärter Frank den Alltag in der Bundeswehr erlebt, ist es sicherlich vielen von uns ergangen, mir auch. Was ist das Besondere an dem von uns gewählten Beruf? Welche Charaktermerkmale und Fähigkeiten sollten insbesondere künftige Offiziere und militärische Führer besitzen? Auf welchen Werten und Tugenden gründen sich letztlich unser Tun und Handeln? Fragen, die mich als junger Soldat bewegten. Wie Frank habe ich gesucht, gefragt, aber auch Antworten gefunden. Dabei haben sich mir viele Facetten des Soldatseins erst im Laufe meiner langen Dienstzeit erschlossen. 7 Leutnantsbuch Erfahrungen aus unterschiedlichen Verwendungen, Gespräche und Diskussionen mit Kameraden, aber auch das Lesen von Büchern haben hierzu beigetragen. Unser Beruf ist ein besonderer, geprägt von zeitlosen Konstanten, Werten und Prinzipien. Werte, Tugenden und Prinzipien wie: Treue zum Vaterland, Stolz auf das eigene militärische Können, Teamgeist und Wir-Gefühl, Toleranz und Offenheit gegenüber Veränderungen und fremden Kulturen, Bescheidenheit und Vorbild im Verhalten sind für jeden von uns unerlässlich, wenn er sich für den Beruf des Soldaten entscheidet. Im „Selbstverständnis des Heeres“ sind diese Leitgedanken niedergeschrieben. Sie bilden das Fundament unseres gemeinsamen Wirkens im einsatzorientierten Heer. Den dort genannten Grundsätzen ist jeder Angehörige des Heeres verpflichtet. Sie sind Richtschnur und geistiges Rüstzeug zugleich. Als militärischer Führer, Erzieher und Ausbilder tragen wir Verantwortung für die uns anvertrauten Soldaten und Soldatinnen. Sie verdienen es, durch unser Vorbild angeleitet zu werden. Daher erwarte ich gerade von Ihnen als zukünftige militärische Führer, dass Sie unser Selbstverständnis vorleben, Ihr Handeln danach ausrichten und es die Ihnen anvertrauten Soldaten erleben lassen. Ich konnte früh erfahren, dass der, der sich vorbildlich verhält und seine Soldaten überzeugt, leicht Gefolgschaft erzielt. Vorbild zu sein heißt dabei nicht, unfehlbar zu sein. Fehler zu machen ist menschlich. Dazu zu stehen und zugleich den Willen zu haben, an sich zu arbeiten und sich weiterzuentwickeln, ist vorbildlich. 8 Leutnantsbuch Um Ihnen unser und Leitsätzen zu und dadurch mit gebeten, einige aufzuschreiben – Nachahmung. Selbstverständnis mit seinen Merkmalen veranschaulichen, verständlich zu machen „Leben zu füllen“, habe ich Kameraden ihrer prägenden Erlebnisse für Sie zum Lesen, zum Nachdenken und zur Sie finden einige dieser authentischen Beiträge, Gedanken und Erfahrungen aus dem alltäglichen Dienstbetrieb, aus Ausbildung und Übung sowie dem gesamten Spektrum der Einsätze in diesem Buch. Sie wurden von Kameraden für Kameraden geschrieben, unabhängig von Dienstgrad, Ausbildungsgang, Laufbahn, Alter und Geschlecht. Das sollten Sie beim Lesen der Geschichten aus der Erlebniswelt der „älteren“ Kameraden berücksichtigen. Daher ist dieses Buch keineswegs nur als Ganzes zu lesen, sondern stellt auch eine Nachschlagemöglichkeit zu Einzelaspekten dar. Es ist keine Vorschrift und soll eine solche keineswegs ersetzen, sondern es ist ein Lesebuch für verschiedene Gelegenheiten und Hilfe, das eigene Leben als Offizier besser zu bewältigen und zu gestalten. Es will Ihnen bewusst keine Rezepte und Musterlösungen anbieten, sondern Sie vielmehr anregen, auf dieser Grundlage Ihre eigene Position zu reflektieren und sie mit neuen Erkenntnissen zu verbinden. Viele Beiträge in diesem Buch bieten gute Anregungen, um im kameradschaftlichen Gespräch Erkenntnisse und Meinungen auszutauschen. Erfolgreiches Führen von Menschen verlangt von Ihnen hohes militärisches Können, menschliche Glaub- und Vertrauenswürdigkeit, Gesprächsbereitschaft sowie Verantwortungsbewusstsein, sich selbst und Ihren Soldaten gegenüber. 9 Leutnantsbuch Das Buch will aber nicht nur Erkenntnisse und Erfahrungen vermitteln, sondern auch Freude am Lesen bereiten. Es will Ihnen in anschaulicher Weise die Aufgabenvielfalt und Breite unseres Berufes mit seinen Herausforderungen näher bringen. Die Kernfrage, auf die das Buch ausgerichtet ist, lautet: „Was kennzeichnet meinen Beruf als Offizier des Heeres, was kann auf mich zukommen?“ Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre Ihres Leutnantsbuches. Begleiten Sie Offizieranwärter Frank und Hauptmann Seidel in das Offizierheim und erfahren Sie etwas über unseren Beruf. Einen Beruf, der Ihnen viel abverlangen, aber noch mehr zurückgeben wird: zum Beispiel Kameradschaft, das füreinander Einstehen oder die Überzeugung, als Heeresoffizier einer guten Sache zu dienen. All das wird Sie begleiten, Sie auch in schwierigen, herausfordernden Zeiten tragen. Ich erlebe dies selbst seit über vierzig Jahren und würde diesen Beruf, vor die Wahl gestellt, immer wieder ergreifen. Im November 2009 Budde Generalleutnant Inspekteur des Heeres 10 Leutnantsbuch Offizieranwärter Frank Der Alarmposten K älte. Meine Füße gehören nicht mehr zu mir, sie scheinen neben mir zu liegen wie Eiswürfel. Das Schwarz der Stiefel ist längst dem Braun des Schlamms gewichen, die Füße schmerzen. Die ersten Blasen hatte ich schon vorgestern, nach dem 30-Kilometer-Marsch in der Nacht. Ich hatte sie aufgestochen und versorgt. Die Blasen, die ich danach bekommen habe, habe ich gar nicht mehr wahrgenommen. Dann haben sie sich mit Blut gefüllt, sind aufgeplatzt und tun inzwischen fast nicht mehr weh. Kälte. Wahrscheinlich spüre ich deshalb kaum noch etwas. Abgefroren. Hoffentlich nicht, denke ich. Durchhalten. Zum Sani soll ich gehen – wegen der Blasen. Noch wenige Stunden, und unsere Übung ist vorbei. Ich werde das schon schaffen. Auch ohne Sani. Jetzt nicht aufgeben. Ich bin Frank, Offizieranwärter in einem OA-Bataillon des Deutschen Heeres, seit fünf Monaten Soldat und liege im Schnee. „Minus fünf Grad“, hat der Gruppenführer gesagt. „Zieht euch warm an“, hat er gesagt, bevor er uns als Alarmposten eingeteilt hat. Es ist 03.45 Uhr und die Nacht nimmt kein Ende. Durchhalten. Was mache ich eigentlich hier? Schon wieder dieser Gedanke! Der lässt mich heute Nacht einfach nicht los. Noch fünfzehn Minuten, dann kommt Peter und löst mich ab. Auf ihn ist Verlass. Er wird schon nicht zu spät kommen. Ich werde dann zu den anderen ins Gruppennest gehen, noch ein paar Minuten ruhen – das brauche ich. Dann der Endspurt. Sachen packen, zurück in die Kaserne, eine heiße Dusche, Schlaf – mindestens 24 Stunden! 11 Leutnantsbuch Offizier werden wollte ich. Menschen führen. Technik beherrschen. Abwechslung im Beruf haben. Maschinenbau studieren. Und jetzt das. Kälte. Endlich kommt meine Ablösung und reißt mich aus meinen Gedanken. Auf dem Weg in das Gruppennest begegne ich noch Hauptmann Meier, unserem Kompaniechef. Ich finde das schon sehr beachtlich, dass er die ganze Übung mit uns draußen verbracht hat. Er ist ohnehin ein feiner Kerl. Ganz offen im Umgang mit uns, mit klaren Vorstellungen von seinem Beruf. Besonders gefällt mir seine Art, uns „Anfänger“ ernst zu nehmen und uns immer wieder aufzubauen. Unser Hauptmann ist seit kurzem Berufssoldat. Er ist Panzergrenadier und hat schon einige Verwendungen hinter sich. Studiert hat er an der Universität der Bundeswehr in München, Maschinenbau glaube ich. Genau weiß ich es eigentlich gar nicht. Bevor ich mich weiter auf den Weg in das Gruppennest mache, erkundigt er sich noch nach meinen Füßen und macht mir Mut, bis morgen früh durchzuhalten. Michael geht es noch schlechter als mir; Annette hält wacker mit und hofft wie alle anderen auf das Ende der Übung. Ich sitze jetzt schon zwei Stunden im Bus auf dem Weg in die Kaserne. Geschafft! Die Übung habe ich fast überstanden, ein wenig stolz bin ich jetzt schon. Ich glaube aber, dass mir erst in ein paar Tagen bewusst wird, was wir alles gemeinsam in dieser Übung überstanden haben. Zuerst einmal heißt es, Ausrüstung und Material wieder auf Vordermann zu bringen, dann uns selbst. Mit Peter und Marcel werde ich heute nach Dienstschluss essen gehen. Das haben wir uns verdient – und danach bekommen wir endlich unseren Schlaf. 12 Leutnantsbuch Vorhin habe ich mit Peter über meine Gedanken der letzten Nacht gesprochen, als ich mich wirklich mehrfach gefragt hatte, was ich eigentlich hier tue. Ihm ginge es manchmal ähnlich, hat er geantwortet. Er denke oft an die Zeit vor der Bundeswehr, an seine Freunde und an seine Familie – und natürlich auch an seine Freundin Denise. Letztes Wochenende habe er sich mit seinen „alten“ Schulkameraden getroffen. Ein paar von ihnen sind auch beim Bund, aber über ganze Republik verteilt. Einige haben schon mit dem Studium begonnen und von ihren ersten Erfahrungen erzählt. Unglaublich, was die so erleben – auf vielen Partys und in langen Nächten. Ganz davon abgesehen, dass auch wir hier lange Nächte haben, kann man schon ein bisschen neidisch werden auf die. Die kämpfen nicht mit Blutblasen bei minus fünf Grad! Peter und ich waren uns aber einig, dass auch das vorbeigehen wird. Spätestens beim Chinesen heute Abend. Trotzdem kann man den Gedanken, dass wir als Offiziere schon etwas Anderes tun, etwas Herausfordernderes als andere in ihren Berufen, nicht ganz wegwischen. Wir haben auch schon häufig im Hörsaal über dieses Thema gesprochen. Kurz vor unserer Übung hatten wir erst einen Unterricht von Hauptmann Meier zu den Besonderheiten von Landstreitkräften. Ich erinnere mich noch, als er davon sprach, dass wir als Heeressoldaten im Einsatz immer „mitten drin“ sind, dass unsere Kampfdistanz der Blickkontakt ist und dass der Heeressoldat auf den sogenannten „letzten 100 Metern“ fast immer auf sich allein gestellt ist. Sicher sind das Besonderheiten, die es nicht in vielen anderen Berufen in dieser Ausprägung gibt. Das Gleiche gilt auch für die Führungsleistung, denke ich. Ein militärischer Führer entscheidet am Ende über Leben und 13 Leutnantsbuch Tod. Und zwar bewusst. Das gibt es bestimmt nur in sehr wenigen anderen Berufen. Gerade fahren wir durch das Kasernentor. Die Scheiben im Bus sind immer noch beschlagen, die Luft zum Schneiden dick. Kein Wunder, wenn 35 Soldaten mit Gepäck nach sechs Tagen Geländeleben „ausdünsten“. Draußen steht unser Kompaniechef Hauptmann Meier und nimmt uns in Empfang. Unser „Spieß“ hatte mal wieder eine gute Idee und für heißen Tee gesorgt. Das tut gut. Während wir noch Tee trinken, unterhalten wir uns in einer kleinen Gruppe über das, was hinter uns liegt. Alle sind ausgelaugt und stolz zugleich. Die Übung war schon ein Höhepunkt in unserer bisherigen Ausbildung. Wir kennen jetzt unsere Leistungsgrenzen und wissen, worauf es ankommt, wenn man durchhalten will. Die Unterhaltung löst sich langsam auf, Ausrüstung und Material müssen jetzt abgeladen werden und wir müssen uns zusammen darum kümmern, dass wieder alles dort hinkommt, wo es hingehört. Nach dem Waffenreinigen stellt sich Hauptmann Meier zu uns. Zuerst wird es ein wenig ruhiger. Das legt sich aber schnell wieder, und wir unterhalten uns weiter über unsere Erlebnisse. Er erzählt auch von sich und seiner Ausbildung, von seinen Erfahrungen und Vorstellungen. Wir hören gespannt zu und stellen schnell fest – viel verändert hat sich nicht. Ich habe den Eindruck, dass unser Hauptmann ein Mann ist, der genau weiß, was er will und was der Offizierberuf von ihm erwartet. Inzwischen sind ein paar Wochen vergangen und ich bin in einem Panzergrenadierbataillon gelandet. Hier mache ich mein Truppenkommando. Ich lerne etwas über die Truppengattung und sammle erste Erfahrungen als 14 Leutnantsbuch Hilfsausbilder. Annette und Peter sind auch dabei, dazu noch Markus, Jonas, Marcel, Michael und Cindy. Seit meiner Zeit im OA-Bataillon habe ich immer wieder an meine Erlebnisse gedacht. Aber ich frage mich immer noch: Was tue ich hier eigentlich? Zugegeben, mein Bild über meinen Beruf hat sich schon etwas gefestigt, ganz klar ist es mir aber immer noch nicht. Jeden Tag kommen neue Eindrücke dazu. Der Bataillonskommandeur hat uns schon am ersten Tag zu sich geholt. Er hat offen mit uns gesprochen und gesagt, was auf uns zukommt. Am Ende hat er uns Hauptmann Seidel vorgestellt. Er ist Kompaniechef der 3. Kompanie und wird uns für die Dauer des Truppenkommandos führen. Er wurde uns als Fähnrichoffizier zugeteilt. Macht einen strengen Eindruck, der Hauptmann. Standortschießanlage. G 36 Schießen. Allgemeine Grundausbildung. Ich bin heute als Hilfsausbilder in der Parallelausbildung eingesetzt und unterstütze Hauptfeldwebel Schmieder. In der Pause vorhin habe ich einen Entschluss gefasst. Ich werde Hauptmann Seidel ansprechen, ob er mir mehr von seinem Berufsverständnis erzählen kann. Es interessiert mich einfach. Vielleicht finde ich Antworten auf meine Frage, die ich mir während der Übung so oft gestellt habe. Ich glaube, Hauptmann Seidel kann man auch danach fragen. Also nehme ich meinen Mut zusammen und melde mich bei unserem Fähnrichoffizier. Ich frage ihn, ob er bereit wäre, mir einmal mehr über sein Verständnis vom Offizierberuf zu erzählen. Ich erkläre ihm, was mich derzeit beschäftigt. 15 Leutnantsbuch Geduldig hört er mir zu, lächelt. Dann überlegt er kurz und schlägt vor, dass wir, die jungen Offizieranwärter, doch einmal im Kasino mit ihm darüber sprechen könnten. Ja, er würde uns gerne erzählen, wie er so denke und welches berufliches Selbstverständnis er entwickelt habe. Ich freue mich darüber und sage den anderen Bescheid. 16 Leutnantsbuch Offizieranwärter Frank Die Landstreitkräfte und der Heeresoffizier: Was kommt auf mich zu? D ienstagabend, Offizierkasino. Wir sind Hauptmann Seidels Einladung gefolgt und noch ein wenig unsicher, ob wir eintreten sollen oder nicht. Was, wenn Hauptmann Seidel schon auf uns wartet? Markus ergreift als erster die Initiative und schlägt vor: „Lasst uns einfach hineingehen – nur dann wissen wir, ob Hauptmann Seidel schon da ist oder nicht!“ Also betreten wir das Kasino und gehen zunächst zielstrebig auf den Barraum zu. Wir grüßen beim Eintreten mit einem Kopfnicken in die Runde und sehen Hauptmann Seidel am Tresen stehen, mit einer Ordonanz in ein Gespräch vertieft. „Ah, da sind Sie ja!“, sagt Hauptmann Seidel und winkt uns zu sich. „Ich habe gerade abgesprochen, dass wir uns in das Kaminzimmer zurückziehen können. Da haben wir etwas mehr Ruhe.“ Hauptmann Seidel begrüßt uns nacheinander und wir gehen gemeinsam in das Kaminzimmer um die Ecke. Es ist ein schön eingerichteter Raum mit vielen alten Büchern, aber ohne eine abgeschlossene Tür. Es gibt nur einen großen Durchgang in den Barraum, sodass man immer sieht, „was sonst noch so los ist“. Nachdem wir alle etwas zu trinken bestellt haben, beginnt Hauptmann Seidel mit einer Frage: „Was ist für Sie eigentlich das Besondere am Heer?“ Wir schauen uns etwas überrascht an, schließlich kennen wir die Unterschiede der Teilstreitkräfte und der anderen Organisationsbereiche! Aber er lässt nicht locker. 17 Leutnantsbuch Cindy bringt unsere Meinung auf den Punkt: „Es ist die besondere Herausforderung, die Heeressoldaten auf den sogenannten letzten einhundert Metern bewältigen müssen.“ Sie erklärt diese besondere Situation so, wie wir sie auch schon im OA-Bataillon einmal besprochen hatten. Wir alle stimmen zu. „Ganz richtig“, sagt Hauptmann Seidel. „Allerdings glaube ich, dass die Sache noch ein bisschen komplexer ist. Ich versuche Ihnen das einmal mit meinen Worten zu erklären.“ Und dann erzählt er uns, dass das Heer ein sehr differenziertes „Unternehmen“ ist. Neben der Führung der Divisionen des Heeres geht es darum, einsatzbereite und motivierte Soldaten für alle Einsatzoptionen verfügbar zu haben. Das ist ein Kernelement im „Unternehmen Heer“. Hier geht es um das Vorbereiten von Menschen auf gefährliche, ja zum Teil lebensgefährliche Aufgaben in ungewohnten, instabilen Regionen unserer Erde. „Natürlich gilt das für alle Soldaten der Bundeswehr. Eigentlich ist der wesentliche Punkt, dass wir Heeressoldaten bodengebunden unseren Auftrag erfüllen. Wir sind es, die in Landoperationen die „boots on the ground“ stellen. Damit ermöglichen wir letztlich erst, dass militärische Operationen langfristig erfolgreich sein können“, sagt Hauptmann Seidel. Er gibt uns zwar recht, dass damit verbunden die letzten 100 Meter, der Blickkontakt etwas Besonderes sind, weil wir am Ende auf uns allein gestellt sind, betont aber, dass auch andere Kräfte in dieser Situation stehen können. Das kann man besonders gut an den laufenden Stabilisierungsoperationen auf dem Balkan und in Afghanistan sehen. Das sind Landoperationen. 18 Leutnantsbuch „Das Heer hat ja nun eine lange Tradition. Mit Landoperationen hat es die meiste Erfahrung – hier ist das Heer der Spezialist“, ergänzt er, „und wird unterstützt durch die Streitkräftebasis und den Zentralen Sanitätsdienst. In beiden Organisationsbereichen werden viele Soldaten des Heeres verwendet. Die Laufbahn eines Heeresoffiziers wird immer wieder geprägt sein durch einen Wechsel zwischen diesen Bereichen.“ Dann erläutert er weiter: „In Landoperationen fehlen meist sichere Planungsgrundlagen, das Umfeld ist komplex und dynamisch, die Lagen wechseln häufig und plötzlich. Das erfordert eine vertrauensvolle Führung, um den Führern Handlungsspielraum und die Möglichkeit zur kreativen Entfaltung zu geben. Führer aller Ebenen müssen daher so ausgebildet und vorbereitet sein, dass sie auch in Situationen, in denen sie auf sich gestellt sind, handlungsfähig bleiben und im Sinne des Ganzen Entscheidungen treffen können. Das setzt das Wissen um die übergeordnete Absicht voraus und die Freiheit, den Weg zur Zielerreichung im vorgegebenen Rahmen selbst zu bestimmen.“ Hauptmann Seidel erklärt uns das an einem Beispiel: Als er im Einsatz bei ISAF war, musste er eine Patrouille zu Fuß in einem sehr belebten Viertel von Kabul führen. Nicht nur, dass er für seine Soldaten und die Erfüllung des Auftrages verantwortlich war, nein – auch der unmittelbare Kontakt zur Bevölkerung hat ihm damals „zu schaffen gemacht“. Da wurde man in der Menge geschoben, Kinder haben ihn angefasst, ältere Menschen angesprochen. Manchmal konnte auch der Übersetzer, der immer in seiner Nähe war, nicht weiterhelfen – einfach weil oft Informationen im Stimmengewirr untergingen. Da war er allein, er war auf 19 Leutnantsbuch sich gestellt. In diesem Moment, so erklärt er uns, wurde ihm klar, wie wichtig es ist, den Auftrag zu kennen und die nötige Handlungsfreiheit zu haben, ihn auch umzusetzen und entsprechende Entscheidungen zu treffen. Hierzu gehören auch die Verfügbarkeit von Material und eine entsprechend fundierte Ausbildung. „Das haben Sie sicher schon gehört“, erklärt er weiter, „dass das Führen mit Auftrag oberstes Führungsprinzip deutscher Streitkräfte ist. Es folgt nicht nur den Erfordernissen des Gefechtes, sondern betont eine Führungsphilosophie, die den ethisch bewussten, mitdenkenden und eigenverantwortlich handelnden Soldaten in den Mittelpunkt stellt. Nur so ist die Qualität, die Flexibilität und die Schnelligkeit in Operationen gewahrt“, sagt Hauptmann Seidel. „Das hört sich jetzt zwar etwas aufgesetzt an, aber denken Sie einmal darüber nach! Ich hatte in der Situation in Kabul die Verantwortung für meine Patrouille. Meine Soldaten haben mir vertraut und ich habe meinen Soldaten vertraut. Führen mit Auftrag beruht auf gegenseitigem Vertrauen. Führen mit Auftrag fordert Vorgesetzte und Untergebene. Führen mit Auftrag verlangt von jedem Soldaten den Willen, Ziele zu erreichen, die Bereitschaft zur Initiative, zur Zusammenarbeit und zu selbstständigem Handeln im Rahmen des Auftrags.“ Es entsteht eine Pause. Wir denken nach. „Aber ich wollte ja nicht über Führen und über Führungsphilosophie reden. Vielleicht kommen wir später hierauf noch einmal zurück. Ich wollte Ihnen ja mein Verständnis vom Besonderen des Heeres erklären“, sagt Hauptmann Seidel und fährt fort: 20 Leutnantsbuch Heeressoldaten werden für die Durchführung von Landoperationen ausgebildet. Diese verlangen eine besondere Expertise, weil sie in ihrem Wesen sehr spezifische Anforderungen an Soldaten stellen, die sich im wesentlichen durch ein unklares, schnell wechselndes Lagebild, die zeitliche und örtliche Gleichzeitigkeit von Kampf, Stabilisierung und humanitärer Hilfe und manchmal auch das Fehlen klarer Abgrenzungen von Gegner und eigener Truppe kennzeichnen lassen. Hinzu kommt für jeden Soldaten des Heeres die erlebbare und unmittelbare Konfrontation mit der Geographie und ihren Menschen, sei es im Kampfeinsatz mit dem zu bekämpfenden Gegner oder im Friedenseinsatz mit der Bevölkerung, deren Vertrauen es zu gewinnen gilt. „Erinnern Sie sich an die Bilder im Kosovo, als unsere Soldaten mit den Panzern mittendrin waren in der Demonstration – oder an die Bilder aus Afghanistan, als die Patrouille zu Fuß auf dem Marktplatz Kunduz Gesprächsaufklärung durchführte“, sagt Hauptmann Seidel. „Und genau deswegen“, ergänzt Hauptmann Seidel, „wenn wir als Heeressoldaten „im Feuer“ stehen, erleben wir die Auswirkungen unseres Handelns unmittelbar. Wir müssen auch Unwägbarkeiten mitberücksichtigen. Diese haben oft maßgeblichen Einfluss auf den Verlauf der Operation. Dem eigenen Willen begegnet der unabhängige Wille von Gegnern, zivilen Akteuren wie internationalen, staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen, der örtlichen Bevölkerung, Flüchtlingen und anderen Kräften.“ Wieder eine Pause. Schwere Kost. Markus, Peter und Annette tauschen fragende Blicke aus. Aber ich glaube, dass wir alle verstanden haben, worum es Hauptmann Seidel geht. 21 Leutnantsbuch Offizieranwärter Frank Der Bierdeckel G ut“, sage ich. „Wie geht es aber jetzt weiter? Meine „ eigentliche Frage war doch, was das Besondere am Offizierberuf ist. Schließlich werden wir ja zu militärischen Führern ausgebildet, und das bedeutet doch eine Menge mehr, als zu wissen, was das Besondere an Landstreitkräften ist.“ „Es muss doch greifbare, verständliche Eigenschaften von Offizieren geben, die das Besondere dieses Berufes ausmachen“, ergänzt Cindy und schaut ein wenig hilfesuchend zu Frank und Jonas hinüber, die zustimmend nicken. Das war das Startzeichen. Hauptmann Seidel schaut in die Runde. Ich glaube, am liebsten hätte er die Ärmel hochgekrempelt und uns einen Vortrag zum Thema gehalten. Stattdessen steht er wortlos auf, holt sich aus dem Barraum ein paar Bierdeckel und setzt sich wieder zu uns. „Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie werden zu militärischen Führern ausgebildet – das vergisst man manchmal im täglichen Betrieb, zwischen Märschen, Lehrgängen und Vorbereitung auf das Studium. Ich habe mir selbst erst ein Bild von dieser Besonderheit unseres Berufes gemacht als ich Zugführer war. Aber denken Sie daran: Ausbildungsgänge verändern sich. Sie werden ständig den neuen Gegebenheiten und Anforderungen an den Soldaten, an den Offizier, angepasst. Mein Ausbildungsgang unterscheidet sich deutlich von 22 Leutnantsbuch Ihrem. Dies gilt allerdings nicht für die Werte, Tugenden und Prinzipien, die Grundlage und Leitgedanke unseres Berufes sind. Diese haben damals wie heute unverändert ihre Gültigkeit behalten. Hauptmann Seidel rückt Bierdeckel und Stift zurecht und fährt fort: „Wenn man führen will, dann muss man ein klares und einfaches Konzept von Führung im Kopf haben, an dem man sich zu Beginn seiner Führungsaufgabe orientieren kann. Ich habe mir so ein Bild – wie gesagt – erst recht spät gemacht. Das war übrigens mit ein Grund dafür, dass ich mich gefreut habe, als Sie mich neulich auf der Standortschießanlage angesprochen haben. Ich will Ihnen einmal meine Idee, meine Vorstellungen erklären. Sie werden sehen: Zu meinen Ideen gibt es bestimmt hunderte von Beispielen aus dem täglichen Leben in unserem Beruf.“ Plötzlich kommt aus der Kaminecke ein wohl etwas zu laut geratener Kommentar: „Das, was Hauptmann Seidel zu sagen hat, unterschreibe ich sofort …!!“ Ruckartig gehen die Köpfe in Richtung Kamin. Dort sitzt ein Major, der uns wohl zugehört hat. „Kommen Sie doch zu uns“, sagt Hauptmann Seidel und winkt den Major heran. Er stellt ihn als Major Setzinger vor, der zum Nachbarbataillon gehört. Major Setzinger sagt: „Entschuldigen Sie meinen Zwischenruf, aber ich habe mit Hauptmann Seidel schon öfter hier gesessen und mit ihm über sein Berufsbild diskutiert. Mit seinen Vorstellungen steht er nicht allein!“ „Also“, fährt Hauptmann Seidel fort, „was bedeutet Führen eigentlich für mich? Welche Erwartungen stelle ich damit an einen jungen Offizier? Vielleicht finde ich ein paar Hilfestellungen, die Sie zum Nachdenken anregen.“ 23 Leutnantsbuch „Ich sehe drei Kernbereiche“, sagt Hauptmann Seidel und beginnt mit dem Bleistift schwungvoll eine Skizze auf einem leeren Bierdeckel. „Die ersten beiden Bereiche nenne ich Selbstbestimmtheit und Erfolgsfaktoren. Keine Angst, ich erkläre noch, was ich damit meine. Der dritte Bereich, nämlich die Kunst, Menschen unter wechselnden Bedingungen erfolgreich führen zu können, baut auf den beiden ersten Bereichen auf. Diese bilden die Grundlage. Führen bedeutet dabei für mich, dass ich sowohl den Menschen als auch den Auftrag in den Mittelpunkt meines Denkens und Handelns stelle. Man könnte auch von einem werte- und auftragsorientierten Führen sprechen.“ Major Setzinger hat es sich inzwischen bequem gemacht. Wir sind alle gespannt, wie das jetzt weitergeht mit dem Seidelschen Konzept, mit seinem „Operationsplan“. „Selbstbestimmtheit und Erfolgsfaktoren sind wichtig, wenn ich mich einer Führungsaufgabe widme. Ich muss doch mein 24 Leutnantsbuch eigenes Potenzial und die zentralen Faktoren des Erfolges im Offizierberuf kennen, muss wissen, was und wie ich es am erfolgreichsten tun kann. Wenn ich nicht weiß, wie ich mein Potenzial einsetzen soll, bleibe ich mit Sicherheit erfolglos. Es sind wenige grundlegende Regeln, die aber wichtig sind“, sagt Hauptmann Seidel und fährt fort: „Die Kunst, Menschen zu führen – ich nenne das einmal generell Führungskunst – kann ich Ihnen mit drei einfachen Handlungslinien, sozusagen Anweisungen, erklären. An diesen drei Linien kann man sich, da bin ich überzeugt, gut orientieren.“ Zustimmendes Nicken von Major Setzinger. Schwungvolle Ergänzungen mit Bleistift folgen von Hauptmann Seidel auf einem weiteren Bierdeckel. 25 Leutnantsbuch So richtig kann ich allerdings noch nicht erkennen, was die Skizze am Ende darstellen soll. Einen Plan für den Angriff oder die Interpretation eines modernen Kunstwerks? Hauptmann Seidel fährt fort: „Die drei Linien sind: „Führe und gestalte!“, „Entscheide und verantworte!“ und „Sei beispielhaft!“ Alle drei Linien stehen gleichwertig nebeneinander – also nageln Sie mich bitte nicht auf eine Reihenfolge fest. Ich habe lange überlegt, wie ich diese drei Linien so erkläre, dass man auch etwas damit anfangen kann. Am einfachsten ist es, wenn man zu jeder Linie ein paar Fragen stellt. Das habe ich auch getan. Übrigens hat Major Setzinger mir dabei ein paar gute Anregungen gegeben.“ Jetzt schaltet sich Annette ein: „Herr Hauptmann, sind die Begriffe Selbstbestimmtheit und Erfolgsfaktoren nicht ein bisschen – na ja – sperrig? Ich meine, auf den ersten Blick kann ich damit nur schwer etwas anfangen. Mit dem Begriff Führungskunst, also der Kunst Menschen zu führen, geht es mir da schon besser. Das ist uns allen hier geläufiger – oder etwa nicht?“ Zustimmung von allen Seiten. „Ja, ja“ antwortet Hauptmann Seidel, „ich verstehe, was Sie meinen. Aber ich glaube, Sie werden sehen, wie die drei Bereiche zusammenhängen – das erklärt einiges.“ „Wo war ich stehen geblieben?“, fragt Hauptmann Seidel, spricht aber gleich weiter: „Genau! Die drei Handlungslinien der Führungskunst! Also, in der Linie „Führe und gestalte!“ kann ich mir zum Beispiel folgende Fragen vorstellen: - Kenne ich die Menschen, erkenne ich ihre Motivation und ihre Ziele, nehme ich die Menschen an, so wie sind? 26 Leutnantsbuch - Frage ich aus wirklichem Interesse am Menschen, höre ich ihnen zu, rede ich mit den Menschen, nehme ich mir ausreichend Zeit, entwickle und fördere ich eine offene Gesprächsatmosphäre? - Führe und gestalte ich wirklich aktiv, habe ich einen „Operationsplan“ entwickelt, beteilige ich andere, habe ich die Fähigkeit und die notwendige Handlungsfreiheit, meine Ziele umzusetzen? - Stimmt das Zusammenspiel und die Balance von dem, was ich erreichen will, was andere erreichen wollen, mit dem gemeinsamen Ziel überein, stimmt die Richtung, wo muss nachgesteuert werden? - Ermögliche ich Mitwissen, Mitentscheiden, Mitverantworten – zumindest immer dann, wenn dies möglich ist? - Fördere ich den Zusammenhalt und das Dazugehörigkeitsgefühl meiner Soldaten, besteht eine innere Struktur in der Gruppe, im Zug, in der Kompanie, welche verbindenden „Rituale“ und Symbole gibt es? - Gehe ich verantwortbare Risiken ein, wie treffe ich meine Entscheidungen? Hauptmann Seidel holt tief Luft. Die braucht er auch nach so vielen Fragen! Diesen Moment nutzt Major Setzinger. Er ergänzt: „Ich stelle mir auch immer die Frage, wie ich Führung praktiziere, ob ich loyal bin, ob ich Fürsorge nach unten und oben ausübe, ob ich konstruktiv mitwirke, zielgerichtet informiere und ob ich meine Verantwortung auch deutlich mache.“ Hauptmann Seidel ergänzt seine Skizze und macht ein paar Notizen. Dazu sagt er: „Wenn ich diese Fragen zu27 Leutnantsbuch sammenführe, dann komme ich auf fünf knappe Aufforderungen: - Höre zu! - Kommuniziere! - Bringe zusammen! - Setze Ziele! - Schaffe Ordnung! Das ist doch einfach, oder? Sie sollten sich ruhig die Fragen einmal durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht haben Sie auch noch Ergänzungen oder Anregungen für mich. Nehme ich gerne auf!“ Nachdem wir uns noch etwas zu trinken bestellt haben, sagt Hauptmann Seidel: „Ich weiß natürlich, dass mein Gedankengebäude, das ich Ihnen hier aufmale, ziemlich komplex ist. Merken können Sie sich ohnehin nicht alles, aber darum geht es auch nicht. Sie sollen einfach einmal ein Gefühl dafür bekommen, wie ich so an die Sache herangehe. Ihnen werden sicherlich im Laufe der Dienstzeit noch weitere Fragen einfallen, die Sie noch ergänzen können. Lassen Sie mich noch kurz die anderen beiden Linien skizzieren: In der Linie „Entscheide und verantworte!“ stelle ich mir folgende Fragen: - Gebe ich Antworten und kann ich den Sinn von Maßnahmen und Entscheidungen erklären, was ist sinnstiftend? - Unterscheide ich zwischen den unterschiedlichen Persönlichkeiten und der Art der Durchsetzung meiner Befehle? - Halte ich Maß, verliere ich das Wesentliche nicht aus den Augen, konzentriere ich mich bzw. meine Kräfte? - Erhalte ich mir meine Entscheidungsfreiheit durch Klarheit und Einfachheit? 28 Leutnantsbuch - Übernehme ich immer die volle Verantwortung für getroffene Maßnahmen und Entscheidungen? - Bewahre ich meine Soldaten vor Schäden und Nachteilen?“ Wieder ergänzt Hauptmann Seidel seine Skizze und gibt uns schlagwortartig eine verkürzte Version dieser Fragen. Er sagt: „Entscheiden und verantworten“ ist für mich besonderes wichtig. Wir als Offiziere müssen uns diesen Herausforderungen zu jeder Zeit stellen. Ich verkürze die wesentlichen Aussagen auf weitere fünf Forderungen: - Entscheide! - Unterscheide! - Übernimm Verantwortung! - Gib Antworten! - Halte Maß!“ 29 Leutnantsbuch „Und letztlich ist es wichtig, dass wir beispielhaft sind“, mischt sich Major Setzinger ein. „Genau“, gibt Hauptmann Seidel zurück. „Können Sie sich vorstellen, was damit gemeint ist?“, fragt er in die Runde. Peter sagt: „Ich muss mir die Frage stellen, ob ich mich selbst beispielhaft verhalte, ob ich ein Vorbild bin“, und Annette ergänzt: „Letztlich muss ich mich fragen, ob ich das vorlebe, was ich von meinen Soldaten verlange!“ „Völlig richtig“, sagt Hauptmann Seidel. Wir in der Runde fangen langsam an, uns „warm zu laufen“. Hauptmann Seidel hat uns richtig neugierig gemacht, und dass Major Setzinger noch dabei sitzt, zeigt auch, dass die Ideen kein Hirngespinst eines Hauptmanns sind. Hauptmann Seidel fährt fort: „Ich stelle mir zusätzlich noch folgende Fragen: - Bin ich Vorbild auch in der Erfüllung meiner Pflichten? - Lebe ich die Werte und Tugenden vor? - Gebe ich Orientierung und persönlichen Halt? - Stimme ich mit mir selbst überein?“ „So“, sagt Hauptmann Seidel, „bevor wir uns mal kurz die Beine vertreten, will ich Ihnen auch für die Linie „Sei beispielhaft!“ meine Empfehlungen mitgeben: - Sei stimmig! - Gib Orientierung! - Sei Vorbild!“ „Also ich für meinen Teil brauche jetzt einmal fünf Minuten, um frische Luft zu schnappen. Kommt jemand mit raus in den Garten?“, fragt Hauptmann Seidel. Die Runde erhebt sich, wir gönnen uns zehn Minuten Pause. Um neun Uhr soll 30 Leutnantsbuch es weitergehen, dann will Hauptmann Seidel uns ein paar Erlebnisse erzählen, die uns zurück in die Praxis holen sollen. Major Setzinger hat noch hinzugefügt, dass er auch die eine oder andere Geschichte aus seiner Chefzeit beitragen kann. Beim Aufstehen schaue ich noch einmal auf die Seidelsche Skizze. Doch kein abstraktes Kunstwerk! Also auf geht’s: Pause. Nach der Pause kommen wir alle wieder zusammen und stellen uns im Barraum zusammen. Hauptmann Seidel steht schon dort mit zwei anderen Offizieren und unterhält sich angeregt. Als wir Offizieranwärter hinzukommen, sagt er: „Darf ich Ihnen zwei Kameraden vorstellen. Major Waldmann und Hauptmann Ulrich. Wir sind damals 31 Leutnantsbuch zusammen in die Bundeswehr eingetreten. Ich habe beiden eben erzählt, warum wir uns heute Abend hier getroffen haben. Major Waldmann ist Kompaniechef. Ich habe ihm die Bierdeckel gezeigt und ihn gefragt, ob er Ihnen nicht ein paar Geschichten erzählen kann, die zu den einzelnen Themen passen.“ „Ja“, antwortet Major Waldmann, „ich habe gerade in meiner jetzigen Verwendung oft festgestellt, dass Ordnung das halbe Leben ist. Wenn man sich als Chef nicht optimal organisiert, dann kann einem alles schon mal über den Kopf wachsen. Ich hatte einen Kompanieoffizier, der war so ein Fall. Im Grunde eine ehrliche Haut und richtig fleißig. Ich erinnere mich noch gut an ihn.“ Hauptmann Ulrich mischt sich in die Unterhaltung ein und sagt: „Ich kenne auch einige gute Beispiele aus meiner Zugführerzeit. Wenn’s jemanden interessiert …?“ Cindy und Jonas ermuntern beide, uns ihre Erfahrungen mitzuteilen. „Ich für meinen Teil“, sagt Jonas, „lerne gerne aus den Erfahrungen anderer. Schließlich muss man nicht gleich alle Fehler wiederholen, die andere schon einmal gemacht haben.“ „Herr Major, wie wäre es, wenn Sie uns Ihre Geschichte von Ihrem Kompanieoffizier erzählen?“, fragt Hauptmann Seidel. Major Waldmann nickt und bestellt sich noch eine Fassbrause. „Also, es war im letzten Jahr. Da ging es in meiner Kompanie ganz schön zur Sache – unsere Auftragsbücher waren voll.“ Er beginnt zu erzählen … 32 Leutnantsbuch Das Zeitspiel D a saß er. Mein Kompanieoffizier. Um 07.05 Uhr. Heute war Gefechtsdienst angesetzt. Er aber hatte Ringe unter den Augen. Übermüdet. Unkonzentriert. Nicht, weil wir gerade von einer Übung wiedergekommen waren. Nicht, weil er einen Dienst als Offizier vom Wachdienst hinter sich hatte. Nein. Einfacher Grundbetrieb. Was war los? Diese Frage stellte ich ihm. Er antwortete: „Wir – die Soldaten, die ich vom Fernmeldezug zugeteilt bekam für die Vorbereitung der Kommandeurtagung, und ich – waren gestern noch bis um halb eins im Offizierkasino und haben die Aufträge umgesetzt, die der G 3 letzte Woche erteilt hat. Sieht jetzt super aus! Und den Gefechtsdienst musste ich auch noch vorbereiten – meinen gedachten Verlauf und so. Da war es mal wieder drei Uhr. Ich bin ganz schön ausgepumpt. Chef, kann nicht der Leutnant mit seinem Fernmeldezug das Biwak übernächste Woche vorbereiten? Ich schaff´ es nicht mehr! Ich weiß noch nicht ´mal, wie ich heute den Gefechtsdiensttag überleben soll.“ Offene Worte. Eine Selbstoffenbarung. Die Überlastung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Hatte ich ihn zu sehr `ran genommen? Er hatte in diesem Monat das „Rules of Engagement (ROE)“-Schießen im Rahmen der EAKK-Ausbildung durchzuführen, die Vorbereitung des Tagungssaals im Offizierheim für die Kommandeurtagung als Projektoffizier zu überwachen und zu steuern und für den nächsten Monat das Biwak vorzubereiten. „Vielleicht hast Du das!“, sagte ich mir. Ein schlechtes Gewissen machte sich bei mir breit. Der Gedanke ließ mich nicht mehr los und so ließ ich den Leutnant und Fernmeldezugführer – hier in der Kompanie der Mann für 33 Leutnantsbuch alle Fälle – kommen, und beauftragte ihn, den Kompanieoffizier bei der Vorbereitung des Biwaks zu unterstützen. Er, der lebens- und diensterfahrene Offizier des militärfachlichen Dienstes lächelte – eigentlich wie immer – und sagte: „ Klar, wir machen das schon! Aber eine Frage stelle ich mir bei unserem jungen Kompanieoffizier immer wieder: Hat er eigentlich schon etwas von Zeitmanagement gehört? Das Biwak müsste doch längst in trockenen Tüchern sein. Der Befehl dazu ist doch schon drei Monate alt!“ Er hatte Recht. Der Befehl zur Vorbereitung des ROE-Schießens lag meinem Kompanieoffizier seit drei Monaten vor, die Kommandeurtagung war ihm seit einem halben Jahr bekannt und das Biwak sowie seine Aufgabe als Projektoffizier, für die er sich mit Begeisterung angeboten hatte, um zu zeigen, was er alles drauf hat, war ihm bewusst seit Herausgabe des Jahresausbildungsbefehls. Zeitmanagement. Offensichtlich nicht jedermanns Sache. Aber ein Grundbaustein für den Offizierberuf. Zeitmanagement lässt sich erlernen. Auch ich erinnere mich an meine Schul- und die erste Uni-Zeit, als wir immer „kurz vorm Dicken“ anfingen zu lernen, den Stoff ins Kurzzeitgedächtnis hämmerten und diesen nach der Klausur einfach löschten. Aber schon während der weiteren Semester merkte ich, dass ich mich besser organisieren musste, um die Scheine alle rechtzeitig zu haben, mich zeitgerecht auf Prüfungen vorzubereiten und schließlich auch die Diplomarbeit rechtzeitig erfolgreich zu beenden. 34 Leutnantsbuch Also nahm ich mir die Zeit, um einmal mit meinem Kompanieoffizier über diese Dinge zu sprechen. Bei einer Tasse Kaffee in meinem Büro sprach ich ihn darauf an: „Organisieren. Was heißt das? Und was ist das, Zeitmanagement? Sicherlich gibt es unterschiedliche Definitionen und Auffassungen. Für mich kann ich aber folgendes feststellen: Ebenso wie in der Truppenführung ist eine saubere Auswertung des Auftrags der Schlüssel zum Erfolg. Das Erfassen der Absicht dessen, der einen Auftrag erteilt hat, das Erkennen der wesentlichen eigenen Leistung und natürlich die Berücksichtigung etwaiger Auflagen – das ist nun mal das A und O, im Grundbetrieb nicht anders als im Einsatz. Und jetzt kommt das Zeitmanagement ins Spiel. Es hat zum Ziel, erhaltene Aufträge so über der Zeitachse zu strukturieren, dass eine zeitgerechte Auftragserfüllung überhaupt erst möglich wird. Wenn Sie erkennen, was zur Erfüllung der wesentlichen Leistung alles nötig ist, dann müssen Sie die notwendigen Tätigkeiten aufschlüsseln und auf einem Zeitstrahl fixieren. Der Endpunkt des Zeitstrahls beschreibt dabei einen Zeitpunkt vor dem eigentlichen Termin, um vorneweg einen Zeitpuffer zu haben. Dann zerlegen Sie die notwendigen Tätigkeiten in einzelne Arbeitsschritte und ordnen jedem Schritt ein Zeitpensum zu. Diese Zeiten können Sie berechnen (z.B. Anmarsch mit Kfz) oder Sie legen Ihre oder die Erfahrungswerte von Kameraden zugrunde. Planen Sie dabei Schritt für Schritt und setzen Sie die Tätigkeiten an den Anfang, die entweder mit dem meisten Aufwand verbunden sind oder von denen man weiß, dass sie von anderer Seite oder von anderen 35 Leutnantsbuch mitbearbeitet werden müssen (z.B. Übungsanmeldung). Wenn Sie jeden Schritt in logischer Abhängigkeit zueinander auf dem Zeitstrahl fixiert haben, haben Sie schon einen wesentlichen Schritt getan. Aber: Zeitmanagement verlangt von Ihnen Disziplin. Schieben Sie die Punkte nicht nach hinten. Organisieren Sie die Einzeltätigkeiten so, dass sie gleichmäßig auf der Zeitachse zu tun haben. Sind Ihnen Kameraden zur Seite gestellt oder Soldaten unterstellt, delegieren Sie nach folgendem 5 – W – Schema: - Wer macht Was? Wann? Wie? und Warum? Machen Sie nicht alles selbst. Um die Übersicht nicht zu verlieren, ist es ratsamer, lieber weniger selbst zu erledigen, aber dafür die Fäden in der Hand und den Überblick zu behalten, denn Sie tragen die Verantwortung. Es ist und bleibt gleichwohl Ihr Auftrag! Die Arbeit, die ich Ihnen hier in groben Zügen dargestellt habe, werden Sie in großen Stäben bei Projekten wiederfinden: Den Plan für die Stabsarbeit. Sie mögen sich vielleicht fragen: „Wie soll ich mir denn Freiheit schaffen? Beim Bund ist mir doch alles vorgegeben!“ Grundsätzlich haben Sie mit dieser Aussage recht, wenngleich ich mit gewissen weiteren Prinzipien auch die mir erteilten Vorgaben dazu nutzen kann, mir Freiraum zu schaffen. 36 Leutnantsbuch Denken Sie daran: Als Offizier werden Sie stets vor die Herausforderung gestellt, zu planen und zu organisieren. Sie werden mit anderen zusammenarbeiten und auch delegieren. Arbeiten Sie an sich. Vielleicht befolgen Sie aber noch die weiteren Vorschläge und Tipps, die Sie für sich umsetzen können. 1. Schaffen Sie Schwerpunkte – Das Eisenhower-Prinzip Als Offizier werden Sie zunehmend mit administrativen Dingen zu tun haben. General Eisenhower – der spätere USPräsident – ging dabei folgendermaßen vor: Er sichtete und sortierte die Unterlagen/Aufträge wie folgt: a. Wichtig und dringlich b. Wichtig und nicht dringlich c. Nicht wichtig, aber dringlich d. Nicht wichtig und nicht dringlich. Die wichtigen und dringlichen Aufträge bearbeitete er selber. Die wichtigen und nicht dringlichen sowie die dringlichen aber nicht wichtigen Aufträge delegierte er. Die nicht wichtigen und nicht dringlichen Aufträge vernichtete er. Das soll natürlich nicht heißen, dass Sie jetzt alle Aufträge ignorieren können, die Sie selbst als unwichtig und nicht dringlich einstufen. Das ist stets eine Frage der jeweiligen Führungsebene. Und Eisenhower hatte sicherlich ganz andere Verantwortung und Schwerpunkte als Sie! Voraussetzung für solch eine Vorgehensweise ist vielmehr, dass Sie den Führungsprozess beherrschen und im Rahmen der Auswertung des jeweiligen Auftrages die wesentliche Leistung erkennen und richtig einzuordnen wissen. Hier muss man zunächst Erfahrung gewinnen. 37 Leutnantsbuch 2. Das Kieselprinzip Das Kieselprinzip beschäftigt sich intensiv mit dem Zeitmanagement. Stellen Sie sich Ihre Zeit als eine Flasche vor, die Sie mit einer vorgegebenen Anzahl von Kieselsteinen füllen sollen. Sie haben dazu große und kleine Steine. Alle zusammen füllen die Flasche komplett. Wie gehen Sie vor? Sicherlich werden Sie zuerst die großen, dann die kleinen und zuletzt die kleinsten Steine in die Flasche füllen, weil nur diese zwischen den größeren Steinen hindurchgleiten und so die kleinsten Lücken füllen. Und das ist schon das Geheimnis! Nehmen Sie die Vorgaben Ihrer übergeordneten Führung und füllen Sie sie als Steine in Ihre Flasche. Nehmen Sie sich aber auch für sich und Ihren unterstellten Bereich Zeiten als große Steine heraus. Werden Sie aktiv und warten Sie nicht, bis man Sie mit Aufträgen erdrückt und Sie gezwungen sind, „Ihren“ großen Stein zu zertrümmern, damit er noch in Ihre Flasche passt.“ Mein Kompanieoffizier hatte verstanden. Er wusste, er musste sich verändern, um Erfolg zu haben. Und er tat es auch. Mittlerweile ist er ein sehr erfolgreicher Kompaniechef und vermittelt „seinen“ Offizieranwärtern die Theorie des Zeitmanagements. HI 38 Leutnantsbuch Führe und gestalte! Der Kompaniechef erkennt, dass sein Kompanieoffizier Anleitung und Unterstützung braucht. Er hilft ihm, indem er ihm seine Sicht- und Vorgehensweise erläutert, ohne ihn dabei bloßzustellen. Schaffe Ordnung, setze Ziele und halte die wichtigen Fäden in der Hand! Wer andere führt, muss sich zuallererst auch selbst führen können. Das bedeutet, dass Ziele setzen und Ordnung schaffen nicht nur nach außen wichtig ist, sondern dass jeder zunächst bei sich selbst beginnen muss. 39 Leutnantsbuch Der erste Marsch Z wei Wochen waren wir beim „Bund“, als unser erster Marsch auf dem Dienstplan stand. An einem warmen sonnigen Morgen standen wir Rekruten angetreten vor dem Kompaniegebäude. Mir war bange, ob die Strapazen eines solchen Marsches auszuhalten sind. „Guten Morgen, zwote Gruppe!“ – „Guten Morgen, Herr Fahnenjunker!“ Ich bin überrascht: Unser Fahnenjunker, der als stellvertretender Gruppenführer bei uns in der Allgemeinen Grundausbildung eingesetzt ist, steht vor uns, in der gleichen Ausrüstung, wie er sie uns befohlen hatte: Kampfanzug, Rucksack und Gewehr. Er wird wohl mitmarschieren denke ich, während er darüber spricht, welchen Sinn es hat, körperliche Anstrengungen auszuhalten. „Noch was, Männer“, sagt er, „wer glaubt, dass ihn etwas drückt, oder dass er nicht mehr kann, meldet sich. Wir werden dann schon eine Lösung finden. Noch Fragen?“ Da niemand fragt, marschieren wir los. Ich staune – in der Gruppe herrscht Hochstimmung. Wir marschieren, unser Gruppenführer marschiert mit. Seine markige Stimme ermuntert. Er fragt: „Na, geht’s noch?“ Es geht sogar gut. Nach etwa zehn Kilometern meldet sich ein Kamerad auf die Frage des Gruppenführers, ob jemand Beschwerden habe, und klagt, er könne bald nicht mehr weiter marschieren, denn er habe eine große Blase am Fuß und seine Achillessehne sei schon vor dem Marsch gereizt gewesen. Unser Fahnenjunker lässt die Gruppe anhalten, befiehlt dem fußkranken Soldaten, ihm sein Gepäck und Gewehr zu geben und sagt laut, dass es die ganze Gruppe hören kann: „Wenn es noch schlimmer wird, müssen Sie es sagen. Aber 40 Leutnantsbuch keine Angst: Wir lassen Sie nicht einfach liegen. Wir werden schon einen Weg finden, wie wir Sie mitkriegen.“ Damit ist alles ausgesprochen. Unser Gruppenführer hängt sich den zweiten Rucksack vorne darüber. „Hat sonst noch jemand Beschwerden?“ Nun ist uns klar, wie in solchen Fällen der Marsch weitergeht: Ein Kamerad übernimmt das Gepäck des Fußkranken, notfalls wird dieser auch getragen. Den ersten Fall hat ja der Gruppenführer freiwillig selbst übernommen. Auf dem Rückweg lässt der Gruppenführer kurz vor der Kaserne noch einmal halten. Er fragt den jungen Soldaten, dessen Gepäck und Gewehr er trägt: „Alles klar soweit? Glauben Sie, dass Sie die letzten Meter wieder mit Ihrer Ausrüstung schaffen?“ Nachdem der „Fußkranke“ sein Gepäck wieder aufgenommen hat, spricht der Gruppenführer uns alle an. „Bis zur Kompanie wollen wir uns jetzt alle noch einmal zusammenreißen. Bleiben Sie dran: Wir sind eine Gruppe!“ Als wir dann an der Kompanie ankommen, staune ich wieder, was jetzt geschieht. Der Gruppenführer lobt uns, eine solche Leistung hätte er nicht erwartet, ausgezeichnet wären wir marschiert. Er betont: „Heute haben Sie gelernt, dass eine Gruppe immer nur so stark ist, wie ihr schwächstes Glied. Es kommt also immer darauf an, sich um das schwächste Glied zu kümmern, es aufzubauen und zu stärken. Dann stimmt am Ende auch die Gruppenleistung!“ Nach Jägerart treten wir dann weg: „Horrido – Joho.“ Bis zum Nachmittag haben wir frei. HI Trage Verantwortung! Gebe Beispiel! Führe! 41 Leutnantsbuch Der Fahnenjunker erklärt den Sinn körperlicher Anstrengungen, kann eine Lösung anbieten, falls Probleme auftreten, (Verantwortung tragen) und marschiert mit derselben Ausrüstung wie seine Soldaten. Er erduldet die gleichen Strapazen und verlangt damit von seinen Soldaten das, was er selbst beispielhaft erträgt (Beispiel geben). Seine eigene Person und Leistung stellt er mit dem geschlossenen Marsch in die Kaserne in den Hintergrund. Die Gruppe zählt. Den „Fußkranken“ verletzt er damit nicht in seiner Ehre, sondern erkennt seine Leistung an und hilft ihm, sein Gesicht zu wahren. Er vermittelt ihm das Gefühl, ein vollwertiges Gruppenmitglied zu sein. Er fördert damit den Gruppenzusammenhalt, motiviert zur Kameradschaft und stärkt das Selbstvertrauen sowie das Selbstbewusstsein jedes Einzelnen. Er zeigt auch, wie eine Gruppe funktionieren muss, damit am Ende die Gesamtleistung der Gruppe stimmt, nicht nur die Einzelner. Hier zeigt sich eine gelungene Synthese aus individueller Leistungsfähigkeit und dem Gruppenauftrag (Menschen führen). 42 Leutnantsbuch Der Hinterhalt I m März verlegte der Großteil unseres Panzeraufklärungsbataillons in den Auslandseinsatz nach Afghanistan. Darunter auch die 2. Kompanie unter Führung ihres Kompaniechefs, verstärkt durch Panzergrenadiere eines anderen Standortes, die die Schutzkompanie des Provincial Reconstruction Teams (PRT) stellten. Auftrag der Schutzkompanie ist die Schaffung eines sicheren Umfeldes für die Wiederaufbauarbeit des PRT. Bereits mit der Ankunft der Aufklärer im Einsatzland zeichnete sich eine Verschärfung der Lage ab, da zunehmend Anschlagswarnungen eingingen. Im April gab es den ersten Anschlag mit einer Sprengfalle, bei der drei Kameraden teilweise schwer verwundet wurden. Mit einem Schlag änderte sich auf unserer Ebene der Charakter des Einsatzes! Weitere Anschläge mit improvisierten Sprengfallen, so genannten IED, und ein Selbstmordattentat folgten im Mai und Juni, bei denen es zum Glück nur bei Materialschäden blieb. In dieser Zeit verstärkte die Schutzkompanie die Patrouillen bei Nacht mit Spähwagen FENNEK und DINGO, um das Ausbringen weiterer IED zu verhindern. Während eines solchen Auftrages geriet eine Patrouille in einen Hinterhalt. Dabei wurde ein FENNEK von einer Rakete des Typs RPG-7, einer Panzerfaust, durchschlagen, die Besatzung durch Splitter verletzt. Der getroffene FENNEK konnte noch aus eigener Kraft die Anschlagsstelle durchstoßen, hatte allerdings keine Funkverbindung mehr, und auch die Beobachtungsausstattung war ausgefallen. Die zur Verstärkung herbei gerufene zweite Patrouille geriet ebenfalls unter Beschuss mit RPG-7 und Handwaffen. Zwei RPG-7 explodierten am DINGO dieser Patrouille, der als 43 Leutnantsbuch Zweitwagen dem FENNEK des Patrouillenführers folgte. Leuchtspurgeschosse trafen die linke Flanke des DINGOS. Eine weitere RPG-7 verfehlte den FENNEK des Patrouillenführers nur knapp, als dieser gewendet hatte und unter Einsatz der Bordwaffen auf die Stellung der feindlichen Schützen antrat. Daraufhin wichen die Angreifer aus und die drei verwundeten Kameraden konnten von Verstärkungskräften der Schutzkompanie geborgen werden. Für mich, den Oberleutnant von damals, wird diese Situation immer ein besonderer Augenblick bleiben. Aus Kameraden sind mittlerweile Freunde geworden, die wissen, dass sie sich aufeinander verlassen können, was auch immer kommen mag! HI In dieser Lage haben sich der Gefechtsdienst und die fordernde Ausbildung mit Schwerpunkt auf die Befähigung zum Kampf ausgezahlt. Die kleine Kampfgemeinschaft ist in der Ausbildung zusammengewachsen und hat sich in dieser besonderen Situation unter Gefahr für Leib und Leben bewährt. Der Entschluss zum Gegenstoß entriss dem Feind die Initiative – mit Sicherheit ein Entschluss, der die Patrouille bewusst einer weiteren Gefährdung aussetzte. Doch folgten alle Soldaten ihrem Patrouillenführer, ging es doch schließlich darum, aus dem Hinterhalt herauszukommen, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und die verwundeten Kameraden in Sicherheit zu bringen. Vielleicht waren die Soldaten ja auch schon vorher davon überzeugt, dass sie ihrem Oberleutnant vertrauen konnten und er ihr Leben nicht aus falsch verstandenem Heldentum riskieren würde. 44 Leutnantsbuch Als Vorgesetzter muss man seine Männer und Frauen kennen, ihre Fähigkeiten richtig einschätzen! Aber auch den Untergebenen muss die Gelegenheit gegeben werden, ihre Führer kennen zu lernen. Immer werden Landstreitkräfte eine Truppeneinteilung einnehmen, in diesem Fall wurden Aufklärer durch Panzergrenadiere für ihren Patrouillenauftrag verstärkt. Gerade dann kommt es darauf an, als Führer seine Soldaten schnell zu einer schlagkräftigen Truppe zu formen und ein Vertrauensverhältnis zu schaffen – jeder muss sich auf seine Kameraden verlassen können! Eine gemeinsame Vorausbildung fördert diesen Prozess des Zusammenwachsens. Trage Verantwortung! Gebe Beispiel! Führe entschlossen von vorn mit klaren Befehlen! Gib Orientierung! Schaffe Vertrauen! 45 Leutnantsbuch Der „Grünschnabel“ und der Alte G eschafft! Meine Zeit als Offizieranwärter neigte sich dem Ende entgegen und mein Batteriechef hatte mir soeben eröffnet, dass ich Zugführer eines Geschützzuges in der Nachbarbatterie werden würde. Nachdem ich mich beim Chef abgemeldet hatte, stellte ich – nicht ohne eine gewisse Genugtuung – für mich persönlich fest: 1. Es gab mehr Oberfähnriche als Geschützzüge im Bataillon, also hatte ich mich wohl bisher nicht allzu ungeschickt angestellt. 2. Ich würde meine jetzige Einheit verlassen. Das war gut so, da ich doch relativ stark durch das Unteroffizierkorps der Batterie „vereinnahmt“ worden war und jetzt, kurz vor der Beförderung zum Leutnant, das „Freischwimmen“ dringend geboten erschien. 3. Meine erste Führungsverwendung erwartete mich, die erste „echte“ Herausforderung und damit auch die Chance zur „Bewährung“ im Bataillon. Kurze Zeit später wurde ich Zugführer I der 2. Batterie. Schon bei der Übernahme der Teileinheit erfuhr ich trotz meiner Vorfreude nach kurzer Zeit eine deutliche Ernüchterung. Kein Vorgänger auf dem Dienstposten. Zusammengewürfeltes Personal. Einige wichtige Dienstposten im Zug waren unbesetzt. Die Rüstsätze der Geschütze waren in teilweise erbärmlichem Zustand. Statt sauber eingeräumter Regale existierten erstaunlich viele Fehlteilzettel. Ich fragte mich, wie es mir wohl gelingen würde, mit Fehlteilzetteln statt Taschenlampen Nachtausbildung durchzuführen. Natürlich gab es den einen oder anderen, der nur darauf zu lauern schien, „dass der Neue den ersten Bock schießt.“ Die meisten Unteroffiziere unterstützten mich jedoch nach 46 Leutnantsbuch besten Kräften, konnten aber natürlich nicht das vermitteln, was mir vor allem anderen fehlte: Erfahrung. Darüber hinaus fühlte ich mich nirgends zugehörig. Obwohl Kommandeur und Chefs sich alle Mühe gaben, uns Oberfähnriche in das Offizierkorps zu integrieren, war ich dort noch nicht angekommen. Gleichzeitig versuchte ich, zumindest meine fehlende fachliche Autorität durch forsches Auftreten zu überspielen. Doch am schlimmsten für mich war: Eine Zusammenarbeit mit dem Zugführer des II. Zuges fand quasi nicht statt. Vielleicht lag es an unser beider ausgeprägtem Selbstbewusstsein oder einfach nur an der falschen „Chemie“. Wir konnten einfach nicht miteinander. Er war ein absoluter Fachmann, was den Geschützdienst betraf. Der Mann konnte scheinbar alles besser: Sein Zug meldete grundsätzlich vor meinem die Wirkungsbereitschaft, sein Material wies stets weder Mängel noch Fehlteile auf, er kannte jeden und alles im Bataillon. Ich hatte schon vorher gehört, dass Hauptfeldwebel K. keine einfach zu nehmende Persönlichkeit war. Und so wunderte es mich nicht, dass er mir bei unserer ersten Begegnung folgende Frage stellte: „Na, Herr Oberfähnrich, wann geht’s denn ab zum Studium? Wenn Sie mit ihrem Zug nicht mehr weiterkommen: Sie wissen ja, wo sie mich finden.“ Ich konnte mir genau vorstellen, wo bei ihm das Problem lag: Da kam wieder so ein Grünschnabel in die Batterie, der hier durchgeschleust wurde, den ganzen Laden durcheinander brachte und, nachdem er befördert und ihm vorgesetzt worden war, sich zügig zum Studium absetzen würde. 47 Leutnantsbuch Meine bereits zurecht gelegte Antwort, dass ich beabsichtige, „Feldartillerie“ zu studieren, ließ er zumindest unkommentiert. Das ging ja gut los hier! Den Mann um Rat fragen? Ich? Nie! Mir kam es in der folgenden Zeit so vor, als liefe aber auch alles „suboptimal“. Ich kannte den Geschütztyp nicht, musste abends wieder Vorschriften pauken, wollte mich doch lieber um meine Soldaten kümmern und sollte, so hatte man es uns beigebracht, vor allem durch „persönliche und fachliche Autorität“ überzeugen. Ich konnte mich noch so anstrengen, noch so viel ausbilden, der II. Zug war meistens Erster. Es fiel mir nicht im Traum ein, mich meinem Batteriechef oder sogar meinem Kommandeur anzuvertrauen. Ich wollte es alleine schaffen. Der erste Übungsplatzaufenthalt verlief erwartungsgemäß, ich musste „rödeln“ und lernen, zumeist durch Fehler und natürlich vom II. Zug! Meine Beförderung zum Leutnant nahm mein Chef zum Anlass, mich auf das Thema „Berufssoldat“ anzusprechen. In diesem „Betriebsklima“? Wohl eher nicht. Ich hatte ganz andere Probleme! Beim zweiten Übungsplatzaufenthalt klappte es dann schon besser. Ich hatte mich ordentlich vorbereitet, wusste jetzt, worauf es ankam und konnte zumindest zum II. Zug aufschließen, na bitte, geht doch! Nur: Eine „Einheit“ wurden wir leider nicht. Was die Zusammenarbeit mit dem II. Zug betraf, hatte ich mich innerlich bereits auf „Dauerfrost“ eingestellt, als die ganze Angelegenheit dann doch noch eine unerwartete Wendung nahm. 48 Leutnantsbuch Die Batteriebesichtigung stand heran. Praktische und theoretische Ausbildung waren durch die Batterie vorzubereiten und durchzuführen. Während der Bataillonskommandeur sich dieser widmete, krempelte der Bataillonsstab den Innendienst „auf links“ und überprüfte den Sachstand in allen Führungsgrundgebieten. Da die Besichtigung angekündigt war, wurde sie natürlich gründlich vorbereitet. Am Tag vor eben dieser Besichtigung fiel unser Chef krankheitsbedingt aus. Von zuhause übermittelte er noch telefonisch über den Batteriefeldwebel: „Leutnant, übernehmen! Formalausbildung im Batterierahmen unter Ihrer Leitung, übrige Ausbildungsinhalte wie besprochen, Politische Bildung zugweise durch Zugführer ...“ Politische Bildung, keine Hürde, man lebte ja in der Lage und die Formalausbildung im Batterierahmen, genau mein Ding! Mein Mit-Zugführer schien erstmals leicht aus der Ruhe gebracht. Er war sichtlich nervös und bewegte sich auffallend häufig im Bereich „Zuggefechtsstand I. Zug“. Ich wusste, was ihm unter den Nägeln brannte: Politische Bildung, das war nicht seine Stärke ... aber ein Steckenpferd unseres Kommandeurs. Würde er jetzt über seinen Schatten springen? Er rang mit sich selbst, brachte es aber dann doch nicht zu Ende. Die Zeit wurde knapp. Die Brücke musste ich wohl bauen: Lt: „Die Viertelstunde Organisationszeit zwischen Technischem Dienst und Politischer Bildung, reicht Ihnen das für die Vorbereitung des U-Raums?“ HptFw: „Sagen Sie, Herr Leutnant, wollen wir nicht beide Züge zum Technischen Dienst zusammenfassen?“ Lt: „Warum nicht. Soll ich den leiten oder wollen Sie ...?“ 49 Leutnantsbuch HptFw: „Nein, nein! Mache ich schon, ich kann mich ja dann auch mal um Ihre Rüstsätze kümmern. Wenn Sie dann für beide Züge ...“ Lt: „Einverstanden, TD Sie, PolBil ich! Ich melde das dem Chef!“ Was folgte, war ein kurzer, fast freundlicher Blickwechsel, eine gut bestandene Besichtigung und anschließend – in meiner Wahrnehmung – eine fast problemlose Zusammenarbeit mit dem II. Zug. Das Eis war gebrochen. Ich habe letztendlich viel von diesem Mann gelernt. Tricks und Kniffe, die in keiner Vorschrift stehen, aber ich denke, dass er auch etwas mitgenommen haben wird. Inzwischen sind etliche Jahre vergangen, jeder von uns ist seinen weiteren militärischen Weg gegangen. Hin und wieder telefonieren wir miteinander, manchmal auch über damals, den „Grünschnabel“ und den „Alten“. HI Kommuniziere! Höre zu! Nimm den anderen so, wie er ist – mit seinen Stärken und Schwächen. Sehr oft trifft man in den Streitkräften auf Kameraden, deren Werdegang, Bildungsstand, Fähigkeiten und Neigungen, aber auch Eigenheiten sich erheblich von dem unterscheiden, was man selbst einbringt. Es kommt meist nicht darauf an, dass jeder auf allen Feldern das Gleiche weiß und kann. Vielmehr gilt es, die Facetten einer Persönlichkeit zu erkennen und Befähigungen in bestmöglicher Weise zu kombinieren, zum Wohle der Auftragserfüllung und der anvertrauten Menschen. 50 Leutnantsbuch Wer frühzeitig das offene Wort sucht und auf andere zugeht, wird vielfach erfolgreicher sein als der, der dies nicht tut. Er wird in und mit der Gemeinschaft zum Ziel kommen. Das erfordert ein ordentliches Maß an Gelassenheit und Persönlichkeit. Man muss zurückliegende Dinge auch vergessen können – „Nachtreten“ oder nachtragend sein, sind fehl am Platz. 51 Leutnantsbuch Das Grab W o ist denn dieser Typ schon wieder?“ Das waren die „ ersten Worte meines Chefs, an einem sonnigen Montagmorgen. Wir wollten schnell unser Material aus der Waffenkammer holen, die „Böcke“ (unsere Kampfpanzer Leopard 2) aufrüsten und dann noch ein paar Grundlagen vertiefen, bevor wir in wenigen Tagen nach Bergen verlegen wollten. Der „Typ“ war unser Versorgungsdienstfeldwebel. Ein junger, dynamischer Stabsunteroffizier, der aber in letzter Zeit etwas andere Prioritäten in seinem Kopf hatte als den Dienst. Etwa einen Monat zuvor hatte er seinen Motorradführerschein erfolgreich bestanden und fast sein ganzes Erspartes in eine neue, grün lackierte Ninja gesteckt. Da er nun schon über 25 war, durfte er das Ding auch sofort „offen“ fahren. Ich muss ja gestehen, irgendwie war ich ganz schön neidisch. Unser Stabsunteroffizier war sichtlich stolz auf sein neues Spielzeug und hatte schon innerhalb weniger Tage mehrere hundert Kilometer auf dem Tacho. Immer wenn er Zeit hatte, ob in der Mittagspause oder kurz vor Dienstschluss, er war mal „kurz weg!“. Dass unter diesen Bedingungen natürlich auch seine Dienstpflichten litten, war eigentlich nur eine Frage der Zeit. Nun war es an diesem Montagmorgen auch wieder so. Er hatte am Freitag als letzter den Waffenkammerschlüssel genutzt und sollte ihn eigentlich an der Wache abgeben. Jetzt, am Montag war er nicht da, aber sein Gehilfe durfte theoretisch auch den Schlüssel empfangen. Doch es gab nichts zu empfangen. Da der Chef langsam die Geduld verlor und unser Spieß schon mehrfach vergeblich auf dem Handy die Verbindungsaufnahme versucht hatte, wurde die ganze Lage immer angespannter. Gegen neun Uhr wurde es 52 Leutnantsbuch dem Chef zu bunt. Er ließ sich die Nummer der Familie unseres Versorgungsdienstfeldwebels geben und rief dort an. Selten verändern Telefonate ein Leben, aber oft verändern Informationen einen klar geplanten Ablauf. Schlimm wird es nur dann, wenn die Kombination aus beidem passiert. Der Chef ließ sein ganzes Führerkorps in den U-Raum einrücken. Ich habe schon einige Gesichtsregungen dieses Mannes kennengelernt, diese Mimik in Verbindung mit einer blassen Hautfarbe war aber auch für mich völlig neu. „Männer, ich muss Ihnen allen eine traurige Mitteilung machen. Unser Versorgungsdienstfeldwebel hatte am Samstag einen schweren Motorradunfall mit tödlichem Ausgang.“ Allein diese wenigen Worte ließen uns alle nur noch einander fassungslos anschauen. „Ich erwarte die Offiziere und Zugführer in fünf Minuten im Besprechungsraum, es verlässt zunächst keiner den Bereich. Wegtreten.“ Langsam ließ die Lähmung bei uns nach und eine verwirrende Leere entstand. Viele der Unteroffiziere kannten unseren Versorgungsdienstfeldwebel seit seiner Grundausbildung. In den drei Jahren Dienstzeit, die er in der Kompanie verrichtet hatte, vom Panzerschützen bis zum Stabsunteroffizier, war er ein fester Bestandteil des Gefüges geworden. Langsam bildeten sich kleine Gesprächsgruppen. „Weißt du noch damals, als er hier angefangen hat. Mann, den konnte man ja mit nur einem Blick einschüchtern, und was für ein toller Kerl er dann geworden ist. Ich glaub’ es einfach nicht.“ „Irgendwie war das doch klar – keine Erfahrung und dann so eine Maschine.“ Viele Stimmen erklangen in den folgenden Minuten und Stunden, aber das Fazit war: Keiner wollte und konnte es fassen. 53 Leutnantsbuch Der Chef hatte die Zugführer und Offiziere zusammengerufen, um weitere Schritte zu besprechen. „Meine Herren, ich kann es selber kaum glauben. Der Spieß und ich, wir werden heute Mittag zur Familie fahren. Wie Sie ja sicherlich alle wissen, kommt unser Versorgungsdienstfeldwebel – kam er – aus der Nähe. Ich werde die Familie fragen ob es einen militärischen Rahmen geben soll bei der Beerdigung oder ob überhaupt eine Teilnahme von uns erwünscht wird. Dazu machen Sie sich bitte schon mal Gedanken, wer sich bei Bedarf als Ehrengeleit zur Verfügung stellt.“ Da saßen wir nun und wussten nicht wirklich weiter. Einer meiner engeren Kameraden kannte unseren Versorgungsdienstfeldwebel seit der Grundausbildung, er war dort sein Hilfsausbilder gewesen. Seine erste Reaktion auf die Anfrage vom Chef war: „Klar, da gibt es keine zwei Meinungen, ich mach’ das jedenfalls.“ Aber irgendwie wurde mit der Zeit ein Bild in seinem Kopf klarer, was ihm sichtlich Schmerzen bereitete. „Sag’ mal, kannst Du nicht vielleicht. Na ja, ich hab’ zwar gesagt, aber irgendwie ...“ „Ich mach’ das, klar.“ Am Nachmittag nahm uns der Chef nochmals zusammen, um uns etwas genauer zu informieren. „Der Spieß und ich haben heute den wohl schwersten Dienst im Rahmen unserer Aufgaben verrichtet. Wir haben die Familie besucht. Wer es wirklich wissen will, kann gerne nachher mit mir oder dem Spieß über den genaueren Unfallhergang reden, ich will Sie aber nicht damit belasten. Die Familie war sofort einverstanden, als wir ihr einen militärischen Rahmen für die Beerdigung angeboten haben. Vor allem würde sie sich über eine rege Teilnahme der Kameraden freuen und geehrt 54 Leutnantsbuch fühlen. Ich glaube, dass er es sich so gewünscht hätte, waren die genauen Worte seiner Mutter.“ Ich habe mir dann den Unfallhergang schildern lassen. Nur so viel, es war weder unvermeidlich noch schnell vorbei gewesen. Aber er wurde unter anderem auch aus diesem Grund verbrannt und sollte mit einer Urne beigesetzt werden. Das militärische Zeremoniell sieht bei einer Beerdigung im Sarg sechs Soldaten als Ehrengeleit vor. Bei einer Urne ist die Besonderheit, dass das Ehrengeleit nur bei der Trauerfeier zugegen ist. Normalerweise wird jeder formale Akt vorgeübt. Nicht bei diesem Anlass. Die Totenwache wurde einmal eingewiesen und das war es. Keiner von uns fühlte sich auch nur in der Lage, eine Wiederholung mehr zu durchlaufen. Wir einigten uns darauf, dass wir am Tag der Beisetzung nochmals die wichtigsten Punkte, wie Weg und Platz klärten, mehr aber auch nicht. Freitag derselben Woche war dann die Beisetzung. Was ich mir nicht hatte vorstellen können war eingetreten: Fast einhundert Kameraden aus dem Bataillon nahmen in Uniform an der Trauerfeier teil. Als wir dort angekommen waren, erhielten die sechs Kameraden der Totenwache den Formaldiensthelm des Wachbataillons, der deutlich leichter und grau ist. Wir gingen nochmals den Weg ab und stellten uns dann in die kleine Kapelle, in der die Urne bereits aufgestellt war. Ich persönlich behaupte ja von mir, mit vielen Situationen klar zu kommen und eigentlich nur durch Weniges erschüttert zu werden. Die folgenden dreißig Minuten aber machten mich so betroffen, dass ich sie mein Leben lang nicht vergessen kann. 55 Leutnantsbuch Es war zwar Sommer, aber zum Anlass passend, war der Himmel recht wolkenverhangen. Dennoch waren die Seitenflügel der kleinen Kapelle geöffnet, so dass alle Anwesenden zumindest teilweise der Trauerzeremonie beiwohnen konnten. Nun standen wir sechs in Hab-Acht-Stellung um die Urne, ich hinten links, und warteten auf das Eintreffen der Familie und Freunde. Die Großmutter kam als Erste herein und fiel vor der Urne auf die Knie, wo ein Bild unseres Versorgungsdienstfeldwebels aufgestellt worden war. Dort weinte sie haltlos und wurde von ihrer Tochter, der Mutter unseres Kameraden, in den Arm genommen und zum Sitzplatz in der ersten Reihe geleitet. Auch der Vater ließ seiner Trauer freien Lauf. Doch erst die nächste Person, die die Kapelle betrat, riss mich aus meiner stoischen Haltung heraus. Es war der Bruder unseres Kameraden, aber keiner hatte mir gesagt, dass der Zwillingsbruder war. Ich glaube, erst in diesem Moment habe ich realisiert, was ich hier tat und wo ich stand. Ein Gefühl der Trauer und Leere breitete sich in mir aus, etwas was ich noch nie vorher gekannt hatte. Ein Gefühl, das mir mein Leben lang in Erinnerung bleiben wird. Nach der Trauerfeier wurde die Urne zur letzten Ruhestätte getragen, wo sich dann die Familie und die Freunde zuerst verabschiedeten. Dann kam das zweite unbekannte Gefühl in mir hoch, hemmungslose Trauer, wie ich sie vorher schon beim Vater gesehen hatte. Als unser Kommandeur vor dem Grab in Grundstellung ging und mit einem militärischen Gruß unserem verstorbenen Kameraden die letzte Ehre erwies und während ein Trompeter „Ich hatt’ einen Kameraden spielte“, flossen mir nur noch die Tränen die Wangen hinunter. Auch wenn ich in Hab-Acht-Stellung am 56 Leutnantsbuch Grab stand, weinte ich wie ein kleines Kind. Einhundert Soldaten standen auf dem Friedhof und jeder einzelne erwies die letzte Ehre. Der letzte, der dies tat, war ich. Auch heute noch, einige Jahre nachdem ich den Standort verlassen habe, denke ich jeden Jahrestag an meinen Kameraden. Wenn ich dann zu meinen Eltern fahre, komme ich auf dem Heimweg immer an dem Standort vorbei. Entweder auf dem Hinweg, aber meistens auf dem Rückweg, fahre ich dann zu dem Friedhof, auf dem „mein“ Versorgungsdienstfeldwebel begraben liegt und zünde eine Kerze an. Und bis jetzt war immer eine Kerze oder eine Blume am Grab und selbst das kleine Wappen unserer Kompanie ist dort noch erhalten geblieben. Ein guter Kamerad, den wir dort verloren haben, ist unersetzlich, aber die Erinnerung an ihn tragen wir immer im Herzen. HI 57 Leutnantsbuch Beförderungsappell zum Gefreiten A m 30. September war es endlich soweit. Nach all dem Stress, dem harten Geländedienst und dem Sport sowie der umfangreichen Vorbereitung für die Wehrrechtsklausur wurden wir endlich erlöst. Wir im Offizieranwärterbataillon sollten den ersten Teil unserer Offizierausbildung beenden und das Symbol dafür sollte unsere erste Beförderung sein. Die sogenannte „Schulterglatze“ sollte heute verschwinden und wir „Gefreite OA“ werden. Es war natürlich etwas ganz Besonderes, da die Masse von uns noch nie befördert wurde und wir nicht wirklich wussten, was uns erwartete. Auf dem Dienstplan stand Anzugkontrolle um 17.00 Uhr und danach um 17.30 Uhr Beförderungsappell. Und so lief das Ganze dann auch ab. Nachdem unsere Stiefel auf Hochglanz poliert und auch die letzten vergessenen Taschen geschlossen waren, warteten wir alle auf den Befehl zum Heraustreten. Mir war schon ziemlich mulmig zumute, weil ich nicht genau wusste, ob jeder einzeln vor die Front gerufen werden sollte oder ob es eine Gemeinschaftsbeförderung werden sollte. Irgendwer hatte nämlich das Gerücht gestreut, es könne passieren, dass jeder einzeln die Gefreitenklappen verliehen bekommt. Als es dann endlich soweit war und der Befehl zum Heraustreten kam, traten wir vor dem Gebäude, wie üblich, in Linie an. Das für uns schon als normal empfundene Ritual der Anzugkontrolle wurde natürlich auch nicht vergessen. Ganz im Gegenteil war es diesmal unser Zugführer persönlich, der den Anzug eines jeden Soldaten überprüfte. Dieses kleine aber dennoch wichtige Detail machte uns deutlich, dass ein ganz besonderes Ereignis vor uns lag. Dann erst marschierten wir zu dem Platz, an dem der Appell stattfinden sollte. Es regnete in Strömen und der Wind blies 58 Leutnantsbuch ziemlich kalt. Das war uns aber egal. Wir waren stolz, endlich befördert zu werden. Nach einer Ansprache unseres Kompaniechefs, der darüber sprach, was wir alles bereits geleistet hätten und was noch auf uns zukäme, wurden wir dann zugweise zum Gefreiten ernannt. Es war ein Festakt. Trotz des schlechten Wetters hatten wir bisher eine solche Zeremonie nur bei der Vereidigung erlebt. Danach ging unser Zugführer mit den Gruppenführern durch die Reihen und „schlug“ uns die Gefreitenklappen auf die Schultern. Man merkte schon, dass selbst die Ausbilder stolz waren, auf die Taten, die wir bis jetzt vollbracht hatten und das wir uns so gut geschlagen haben. Jeder wurde vom Zugführer und von allen Ausbildern beglückwünscht. Auch der Kompaniechef ging von Soldat zu Soldat und gratulierte persönlich. Er ließ es sich natürlich auch nicht nehmen, den Schlachtruf auszubringen. Ein würdiger Abschluss. HI Pflege Traditionen und militärische Rituale, insbesondere wenn eine Truppe zu einem guten Ausbildungsabschluss gekommen ist oder ein besonderes Ziel erreicht hat. Beförderungen, aber auch einfaches Lob „vor der Front“ oder in Appellform stärken die Motivation und Verbundenheit einer Gemeinschaft. 59 Leutnantsbuch Offizieranwärter Frank Im Offizierkasino D raußen hat es schon vor einiger Zeit begonnen, dunkel zu werden. Major Waldmann und Hauptmann Ulrich haben uns mit ihren Erzählungen gefesselt, von Müdigkeit kann keine Rede sein. „Es tut mir sehr leid“, sagt Major Waldmann, „aber leider muss ich Sie jetzt verlassen. Ich habe meiner Tochter versprochen, noch einmal über ihre Hausaufgaben zu sehen. Wenn ich jetzt nicht loskomme, dann hängt der Familiensegen schief!“ Major Waldmann erhebt sich, wünscht uns allen noch einen schönen Abend und sagt: „Das war eine nette Runde mit Ihnen! Vielleicht sehen wir uns ja noch einmal, und Sie haben bis dahin eigene Erlebnisse zu berichten!“ Hauptmann Ulrich schließt sich sogleich an und verabschiedet sich auch. Beim Hinausgehen sehe ich, wie Hauptmann Ulrich sich noch kurz mit zwei Oberstleutnanten unterhält. Hauptmann Seidel entschuldigt sich kurz und geht zu Hauptmann Ulrich und den zwei Stabsoffizieren. Währenddessen bestellen wir uns noch etwas zu trinken und unterhalten uns. „Sag’ mal Markus, was machst Du am Wochenende? Bleibst Du hier oder fährst du wieder nach Hause?“, fragt Annette. „Geburtstagsfeier“, antwortet er und fährt fort: „Mein Bruder hat Geburtstag. Wenn der feiert, dann ist immer ordentlich was los.“ „Und wie sieht es bei Euch aus?“, fragt Annette in die Runde. Schnell haben sie, Markus, Cindy und ich uns verabredet, am Freitagabend zusammen ins Kino zu gehen. 60 Leutnantsbuch Wir wissen zwar noch nicht, was gezeigt wird, aber wir sind uns sicher, dass wir einen Film finden, der unser aller Geschmack trifft. „Was haltet Ihr eigentlich von den Erzählungen eben?“ fragt Peter. „Ich meine – kommt das wirklich alles so auf uns zu? Da kann einem ja ganz anders werden.“ „Also ich kann mir schon vorstellen, dass wir noch viel in dieser Richtung selbst erleben werden. Ob natürlich immer alles so war, wie es uns erzählt wird …“, sagt Markus und wird von Cindy unterbrochen. „Ich glaube nicht, dass bei den Erzählungen irgendetwas Besonderes dazugedichtet wurde. Für mich hat sich das alles sehr realistisch angehört.“ Gerade als Jonas etwas erwidern will, kommt Hauptmann Seidel wieder aus dem Barraum zurück. Die beiden Oberstleutnante, die sich draußen mit Hauptmann Ulrich unterhalten hatten, folgen ihm. „Kameraden, ich stelle Ihnen Oberstleutnant Stokiwsky und Oberstleutnant Zander vor! Ich habe gerade mit beiden über unsere Runde hier gesprochen. Ich habe Ihnen gesagt, was wir hier tun. Und siehe da, beide haben gefragt, ob sie sich ein wenig zu uns setzen dürften. Als ich ihnen von den Geschichten von Major Waldmann und Hauptmann Ulrich erzählt habe, waren sie gleich begeistert.“ „Stimmt“, sagt Oberstleutnant Zander, „solche Geschichten bleiben bei fünfundzwanzig Dienstjahren nicht aus! Mir sind da spontan welche eingefallen!“ Oberstleutnant Stokiwsky nickt und deutet damit an, dass auch er mit dem einen oder anderen Erlebnis zu einem interessanten Abend beitragen kann. Er merkt noch an: „Auch wenn ich nicht alles selbst 61 Leutnantsbuch erlebt habe, einige Beispiele von Kameraden hätte ich auch noch zu bieten. Die passen auch sehr gut zu Ihrem Thema.“ Und dann folgt ein Erlebnis dem anderen … 62 Leutnantsbuch Nicht nur der erste Eindruck zählt E inem bekannten Sprichwort zufolge gibt es für den ersten Eindruck keine zweite Chance. Dass sich aber gerade der junge Offizier vor einem vorschnellen und pauschalen Urteil in Acht nehmen sollte, beweist folgende Geschichte. Ich war gerade Fähnrich und hatte dann – wie damals üblich – meinen ersten Zug in der Allgemeinen Grundausbildung übernommen. Nach der Einschleusung, der Einkleidung und der ärztlichen Untersuchung stand auch gleich der erste Physical-Fitness-Test (PFT) der Rekruten an. Einer der Rekruten fiel mir durch besonders schlechte Ergebnisse auf. Ich nahm mir vor, auf die vermeintliche „Schwachstelle“ meines Zuges ein besonderes Augenmerk zu richten. Bei den ersten Ausbildungen verhielt er sich sehr passiv, was meinen negativen Eindruck zunächst noch bestärkte. Als ich den Zug zum ersten Mal im Eilmarsch auf die Schießbahn führte und der Soldat immer mehr zurückfiel, ließ ich ihn austreten und an meiner Seite laufen. „Was ist mit Ihnen los?“, fragte ich. „Ich kann nicht mehr!“, lautete die Antwort. Ich beschloss ihn an seiner Ehre zu packen und ihn somit zu motivieren. „Wissen Sie, warum Sie nicht mehr können? Weil Sie selbst gar nicht wissen, was alles in Ihnen steckt! Sie können viel mehr, als Sie selbst von sich denken. Beweisen Sie sich selbst und Ihren Kameraden, dass Sie es können! Laufen Sie nicht für mich, sondern für Ihre Ehre! Und wenn Sie heute Abend fix und fertig ins Bett fallen, dann können Sie stolz auf sich sein, weil Sie alles gegeben haben. Und jetzt laufen Sie weiter.“ Da der Soldat anschließend weitergelaufen ist, schienen meine Worte gewirkt zu haben. Am Abend stellte ich seine Leistung positiv vor dem angetretenen Zug heraus. Seit diesem Ereignis schien der 63 Leutnantsbuch Soldat wie verwandelt und fortan gab er immer sein Bestes. Dadurch stieg auch sein Ansehen innerhalb der Gruppe, die sah, dass hier ein guter und engagierter Soldat heranwuchs. Bei allem plötzlichen Ehrgeiz blieb er jedoch immer ein guter Kamerad und integrierte sich voll in die Gruppe. Nun war er nicht mehr die „Schwachstelle“, sondern eine Stütze seiner Gruppe und seines Zuges. Sein Gruppenführer und ich versuchten, diesen Prozess durch Lob und gutes Zureden weiter zu fördern. Am Ende der Allgemeinen Grundausbildung hatte er sich enorm gesteigert und gehörte beim PFT zu den besten Soldaten des Zuges. Als ich ihn am Abschlussabend der Allgemeinen Grundausbildung nach seinen Schlüsselerlebnissen in der Grundausbildung fragte, sagte er, dass ihn meine Ansprache beim Eilmarsch motiviert und er viel über sich selbst gelernt habe. HI Der Offizier ist gerade in schwierigen Situationen als Führer, Erzieher und Ausbilder gefordert. Daher ist es wichtig, voreilige Festlegungen und Urteile über das Leistungsvermögen der Soldaten zu vermeiden. Für den militärischen Vorgesetzten kommt es darauf an, das jeweilige Leistungsvermögen seiner Soldaten zu erkennen und zu fördern, ohne diese zu überfordern. Wer mit Herz und Verstand führt und die Stärken und Schwächen seiner Soldaten kennt, wird seine Soldaten nicht nur zweckmäßig einsetzen, sondern darüber hinaus das gegenseitige Vertrauen stärken und die sichere Gefolgschaft seiner Männer und Frauen erzielen. Der angemessene Gebrauch von Lob und Tadel zur Würdigung der Leistungen sowie das Erzeugen von Einsicht in die Notwendigkeit des Auftrages fördern die Motivation und die Einsatzbereitschaft der Soldaten. 64 Leutnantsbuch Der neue Leutnant S o ungefähr empfand ich die ersten Monate, als ich … nach erfolgreichem Studium wieder in die Truppe kam. Eigentlich war der Standort, zu dem ich nachts nun auf der Autobahn quer durch die Republik unterwegs war, überhaupt nicht mein „Erstwunsch“ und zudem musste ich auch noch mein Bordeaux-Barett gegen ein vermeintlich minderwertigeres, grünes eintauschen. Kurz, meine Stimmung und die Erwartungshaltung gegenüber meiner neuen Heimat in der Truppe wurden von Kilometer zu Kilometer düsterer. Als ich dann spät nachts todmüde beim UvD meiner Kompanie den Schlüssel für eine karge Stube erhielt, wartete ein Umschlag auf dem Bett, in dem neben einem kurzen, aber herzlichen Willkommensgruß meines zukünftigen Kompaniechefs der Hinweis stand, ich solle gar nicht erst auspacken, denn gleich morgen früh würde man zum Truppenübungsplatz Sennelager verlegen, und da sei ich auch als der neue Zugführer des I. Zuges höchst willkommen und sogleich in der Pflicht. Nach fast vier Wochen Übungsplatz in der „Senne“ hatte ich als Zugführer so ziemlich alles falsch gemacht, was falsch zu machen war. Das aus meiner Sicht höchst komplizierte Schießen der Verbundenen Waffen, verregnete Nachtschießen in der Stellung, Jagdkampf, endloser Technischer Dienst und wenig Schlaf, hatten meine Studienbräune erbleichen lassen und selbst die anstehende Beförderung zum Oberleutnant konnte mich nicht recht erheitern. 65 Leutnantsbuch Für meine zum Teil ohne Studium in der Truppe „gewachsenen“ Zugführerkameraden stand sehr schnell fest: „... den nimmt sich der Kommandeur schon bald zur Brust, denn im Kreise der anderen, erfahreneren Oberleutnante konnte ich abends beim Bier kaum Erfolgserlebnisse des Übungsplatzes beisteuern und auch der Hinweis, dass meine Diplomarbeit sicher noch in einschlägigen Fachkreisen Beachtung finden würde, konnte nicht wirklich beeindrucken. Nachts allein mit mir bilanzierte ich selbstkritisch, dass mein Auftreten im neuen Bataillon mit perfekt sitzender Selbsteinkleiderjacke und einem Bündel guter Vorsätze, in diesem Verband nun zukünftig meine geisteswissenschaftlichen Impulse geben zu können, gründlich in die Hose gegangen war! Es drängten sich mir Gedanken auf, die nun noch vor mir liegenden Jahre der Verpflichtungszeit möglichst „ungeschoren“ herumzubringen, recht bald die Initiative zu ergreifen und die Fühler nach einer zivilberuflichen Zukunft auszustrecken. Meine damalige Freundin hatte mir sowieso erklärt, dass ihr Lebensmittelpunkt sicher nicht mit wechselnden, Provinzstandorten in Einklang zu bringen sei und so fühlte ich mich zunehmend verunsichert über dieses Berufsbild, zu dem ich als ehemaliger Wehrpflichtiger und Offizieranwärter mit glühendem Idealismus gestanden hatte und bei dem ich jetzt das Gefühl hatte, ich sei mir vielleicht zu schade für die nun unweigerlich folgenden Jahre in der „Schlammzone“. Eines Tages klopfte es jedoch an meiner Stubentür und mein Stellvertreter als Zugführer, ein altersgleicher Oberfeldwebel, und der Zugführer des III. Zuges, ein erfahrener, 66 Leutnantsbuch „außendienstgestählter“ Hauptfeldwebel, suchten das Gespräch mit mir. Beiden fühlte ich mich kameradschaftlich verbunden, hatten sie mir doch auf dem Übungsplatz mit Rat und Tat zur Seite gestanden und manchen berechtigten „Anschiss“ seitens meines Kompaniechefs abwenden können. Sie spürten meinen Unmut und kamen gleich zur Sache. Auch sie hätten Erfahrung gebraucht, um als Zugführer fest im Sattel zu sitzen. Ihrer Meinung nach hätte ich alle Voraussetzungen, dies ebenfalls zu schaffen und sie würden mir dabei auch weiterhin stets – und ohne Konkurrenzneid – zur Seite stehen. Ich müsste mich allerdings auch ein bisschen mehr bemühen mit dem „Kopf in die Truppe“ zurückzukehren. Das habe ich dann auch getan. Ich durfte für fast zwei weitere Jahre den I. Zug führen, und auch wenn ich danach tatsächlich kurzzeitig als S2-Offizier eingesetzt wurde, so denke ich heute noch gerne an die damaligen Jahre in der Schlammzone zurück, die auch nicht mit der Funktion des Kompaniechefs oder Bataillonskommandeurs endeten, sondern durch Einsätze und multinationale Übungsverpflichtungen nur ein anderes Gesicht bekamen. Ich habe bis heute mit beiden Zugführer-Kameraden von damals ein über die Jahre ungebrochen freundschaftliches Verhältnis gepflegt. Einer ging als Oberstabsfeldwebel in den Ruhestand und schon ist sein Sohn in der nächsten Generation Feldwebel in „unserer“ Truppe. Der andere hat eine Tochter, die ebenfalls als Feldwebel in die Fußstapfen des Vaters getreten ist. Ich habe diese Erfahrungen nicht vergessen und hätte es mir nie verziehen, wenn ich damals die Flinte ins Korn geworfen hätte. 67 Leutnantsbuch Ich habe später als Kommandeur den „neuen“ Leutnanten immer besondere Aufmerksamkeit geschenkt und bemühte mich bei der Dienstaufsicht, gegenüber ihren Fehlern fair und vielleicht ein bisschen nachsichtiger zu bleiben als es ihre Kompaniechefs waren. Aber meine Leutnantsjahre waren eben durch diese besondere Kameradschaft geprägt, die ich als junger Offizier von meinen Zugführerkameraden erfahren durfte. Wir waren eine echte „Kleine Kampfgemeinschaft“, die ich jedem jungen Offizier von Herzen zu erleben wünsche. Es ist eben noch kein Meister vom Himmel gefallen, auch nicht bei den Fallschirmjägern! HI Führe und Gestalte! Höre zu! Rat kann und muss man auch von jüngeren und berufserfahrenen Feldwebeldienstgraden annehmen. Hierzu muss man gesprächsbereit sein und den Mut haben, aus Erfahrungen anderer zu lernen. Dabei darf man sich nicht entmutigen lassen – man muss mit sich selbst stimmig sein und darf nicht zu früh aufgeben. Akzeptiere Dich selbst, sei selbstbestimmt und beispielhaft! 68 Leutnantsbuch Ein schöner Tag! D as wird ein schöner Tag heute, Herr Leutnant“, sagte „ der Schießbahnwärter zu mir. Das Gleiche dachte ich auch. Es war Mitte Juli und ich war seit gut zwei Wochen Leutnant. Die meisten Soldaten des Bataillons waren in den Sommerferien. So auch mein Chef, und deshalb führte ich in seiner Abwesenheit die Einheit. Wir waren am Anfang der Allgemeinen Grundausbildung. Für den heutigen Tag standen Handwaffenschießen und parallel dazu die Ausbildung auf der Hindernisbahn auf dem Dienstplan. Wir lagen gut in der Zeit, bereits jetzt, um 09.00 Uhr, herrschte strahlender Sonnenschein und die Temperaturen waren hoch. Als der Schießbahnwärter zu mir sagte, es wäre ein Anruf für mich da, war ich gerade dabei, den Fahrer des ShuttleLKW zur Hindernisbahn einzuweisen. Am Telefon war der Vertreter des S3. Er klang ziemlich aufgeregt: „Herr Leutnant, der „Dreisterner“ hat sich ganz überraschend angesagt. Er ist bereits mit dem Hubschrauber unterwegs.“ Der Major wollte wissen, was wir heute auf dem Dienstplan hätten, denn der Bataillonskommandeur wolle mit dem General zur Schießanlage und zur Hindernisbahn. Ich erklärte ihm unsere Planung und er sagte, er würde sich wieder melden, wenn es losginge. Zehn Minuten später war er wieder am Telefon und fragte nach, ob auch alles planmäßig liefe. Wiederum zehn Minuten später war er noch einmal dran, diesmal mit der Frage, ob wir auch ausgeschildert hätten. Ich konnte ihn beruhigen, wir hatten an alles gedacht. Daraufhin verblieben wir dabei, dass er sich wieder meldete, wenn der 69 Leutnantsbuch Kommandeur mit dem General auf dem Weg sei. Dies müsse nach seiner Berechnung noch zirka eine Stunde dauern. Ich wollte eben wieder nach der Ausbildung sehen, als der Schießbahnwärter mich erneut zum Telefon rief. Diesmal war es der Kommandeur persönlich. Bislang hatte ich wenige Berührungspunkte mit ihm gehabt und dachte, dass es ganz schön wichtig sein müsse, wenn er sich persönlich meldete. Er erkundigte sich aber nur nach der Ausschilderung und fragte, ob es einen Pendelverkehr zur Hindernisbahn gäbe. Ich konnte ihm dies bestätigen. „Dann stellen Sie sicher, Herr Leutnant, dass das Shuttle-Fahrzeug vor meinem Wagen herfährt, wenn ich mit dem General von der Schießbahn dorthin verlege!“ Ich war zwar verwundert über diesen Befehl, machte mich aber auf den Weg zum Fahrer des Shuttle-LKW, um ihn erneut einzuweisen. Ich wartete ziemlich lange auf den Anruf vom S3, doch dann ging alles ganz schnell: Der Kommandeur kam mit dem General. Ich meldete. Der General beglückwünschte mich zur Beförderung und lobte nach seinem Gespräch mit den Ausbildern und Rekruten die Einheit – der Kommandeur schwitzte. Ich gab, als der Kommandeur mit dem General ins Auto stieg, dem Shuttle ein Zeichen und wurde nervös, als dieser nicht losfuhr. Dann ruckelte der LKW plötzlich los, und schoss direkt vor den Wagen des Kommandeurs. Weg waren sie! Nach Beendigung der Ausbildung verlegten wir zurück in die Kaserne, wo der Spieß mir mitteilte, ich solle mich sofort 70 Leutnantsbuch beim Kommandeur melden. Ärgerlich, dachte ich, warum ist der Shuttle auch so knapp vor sein Auto gefahren! Im Stab angekommen, schwitzte ich jedenfalls mehr als morgens der Kommandeur. Was soll’s, dachte ich mir, ’rein und melden. Der Kommandeur kam auf mich zu, schüttelte mir strahlend die Hand und sagte: „Das war großartig, dass es der Shuttle-LKW noch vor mein Auto geschafft hat.“ Ich war verwundert. „Herr Leutnant, ich muss Ihnen nämlich gestehen, ich wusste nicht, wo die Hindernisbahn liegt, und ohne den LKW wäre das ziemlich peinlich für mich geworden – mit dem General im Auto. Sie haben das mit Ihrem LKW gerade noch gerettet. Vielen Dank!“ Beim Zurückgehen in die Einheit dachte ich daran, was der Schießbahnwärter am Morgen gesagt hatte: „Das wird ein schöner Tag!“ HI Für mich wurde an diesem Tag klar, dass ein Vorgesetzter auch Fehler bzw. Unkenntnis zugeben darf und sollte. Er gewinnt so das Vertrauen seiner Untergebenen und verliert es nicht. 71 Leutnantsbuch Die Ehefrau I m Sommer 2004 verlegten mein binational gemischter Stab und die Stabskompanie als Kern des Einsatz-Stabs und Stabskompanie „Kabul Multinational Brigade“ nach Afghanistan. Der Einsatz sollte sechs Monate dauern. Für uns S6er und Fernmelder galt es, innerhalb sehr kurzer Zeit einen Teil der vorher von den Kanadiern aufgebauten Systeme zu übernehmen und eigene aufzubauen. Bereits in der Vorbereitungsphase war ich verantwortlich für die Planung des Gesamtsystems und der multinationalen Abstimmung. Über dieser unübersichtlichen und fordernden Aufgabe ging mir der „innere Draht“ zu meiner Frau daheim zeitweise verloren. In Kabul versank ich noch mehr in Bits und Bytes als zuhause und so hatten wir uns am Telefon bald nichts mehr zu sagen, bis ich von ihr die Rote Karte bekam („Entweder kommst Du heim und wir reden Klartext oder ich verschwinde!“). Nur mit großen Skrupeln rang ich mich dazu durch, hier und jetzt im denkbar unpassenden Moment meine privaten Belange nach vorne zu stellen. Ich legte dem Dienstältesten Deutschen Offizier (DDO) und dem zufällig hereinkommenden Brigadekommandeur meine Lage dar und wir einigten uns darauf, dass ich die Aufbauphase abschließen würde (noch einmal drei Wochen) und dann nach Hause flog. Im Gegensatz zu meinen Befürchtungen, als Schönwetterkamerad verspottet zu werden, zeigten französische wie deutsche Vorgesetzte und Kameraden viel Verständnis für meine Situation und meine Entscheidung. Die S6-Abteilung bereitete mir eine Abschiedsfeier, in der auch nicht der Ansatz von Vorwürfen des Davonlaufens zu spüren war. Vielmehr war das Gefühl, ein zusammengeschweißter Haufen geworden zu sein, so übermächtig, dass es mich noch einmal große Überwindung kostete, diese 72 Leutnantsbuch Gemeinschaft zu verlassen und mich in Deutschland den verpassten und vernachlässigten Bereichen meiner Ehe zu stellen. Im Rückblick meine ich, folgendes herauslesen zu können: - Diensteid und Eheversprechen stehen manches Mal in Konkurrenz zueinander. Wer immer nur den ersteren gewinnen lässt, muss sich nicht wundern, dass ihm im unpassenden Moment die „Brocken um die Ohren fliegen“. Aufmerksamkeit und Verantwortung gegenüber der eigenen Familie – auch zuungunsten der nächsten Stabsvorlage oder Übung haben ebenso ihre Berechtigung und kommen indirekt auch dem Dienstherrn zugute. Die Vereinbarkeit von Familie und Dienst wurde nicht ohne Grund als neues Gestaltungsfeld der Inneren Führung aufgenommen. - Kameradschaft ist für eine Armee durch nichts zu ersetzen. Für den einzelnen ist sie aber eine zeitlich begrenzte „Großfamilie“ und durch Versetzungen und Dienstzeitende einem steten Wechsel unterworfen. Sie kann daher niemals ein tragfähiger Ersatz für Ehe und Familie sein. Diese Einsicht muss sich in unserem eigenen Leben, in der Fürsorge und im Beurteilungsverhalten gegenüber unseren Soldaten niederschlagen, sonst werden wir unglaubwürdig. - Die weitaus meisten Zeit- und Berufssoldaten, insbesondere mit Einsatzerfahrung, verstehen und akzeptieren dies aufgrund eigener Erfahrungen. Echte Kameradschaft beginnt bei jedem selbst. Wer seine eigenen Verhältnisse in Ordnung hält, kann anderen helfen. Eine starke Gemeinschaft hilft, Belastungen gemeinsam zu tragen, ohne davon groß zu reden. 73 Leutnantsbuch Hochzeit in Hessen W ie viele andere Offiziere habe auch ich meine zukünftige Ehefrau während des Studiums kennen gelernt. Und wie fast alle anderen Offiziere wurde ich nach dem Studium in München in einen kleinen Standort versetzt, dessen Namen ich bis zu diesem Zeitpunkt bestenfalls aus dem Verkehrsfunk kannte. Der avisierte Zugführerdienstposten und die Gewissheit, dass meine Freundin bald ebenfalls an den Standort ziehen würde, ließen mich meinen Dienst in Nordhessen aber sehr zuversichtlich antreten. Da ich mich im Bataillon schnell sehr wohl gefühlt habe und meine Freundin als Anwältin in der nahen Großstadt Fuß gefasst hatte, wollten wir nach einem Jahr unser bisher größtes Privatprojekt „die Hochzeit“ angehen. Zunächst galt es zu klären, wann, wo und in welchem Rahmen die kirchliche und die standesamtliche Trauung stattfinden sollten. Gar nicht so einfach, wenn die Heimatorte beider zukünftigen Ehepartner mindestens 300 km vom aktuellen Wohnort entfernt liegen. Nach gründlichem Abwägen der Möglichkeiten haben wir uns entschieden, die standesamtliche Hochzeit in der Garnisonsstadt und die kirchliche Trauung in München zu feiern. Nach einem größeren Polterabend, an dem u.a. auch Kameraden des Offizier- und Unteroffizierkorps des Bataillons/der Batterie teilgenommen haben, erwarteten wir eigentlich keine große Abordnung von Soldaten am Standesamt, zumal die Trauung an einem Freitag um zwölf Uhr stattfinden sollte und der Anteil der Wochenendpendler im Bataillon sehr hoch war. Um auf alle „Eventualitäten“ vorbereitet zu sein, beschlossen wir aber zur Vorsicht „eine Extraflasche Sekt“ mit zum Standesamt zu nehmen, um im 74 Leutnantsbuch Bedarfsfall mit einer möglichen „Minidelegation“ anstoßen zu können. Die Flasche schien aber überflüssig zu sein, da auf dem Weg zum Standesamt auf dem historischen, übersichtlichen Markplatz weit und breit kein Soldat zu sehen war. Ein bisschen enttäuscht war ich schon, aber die bevorstehende Zeremonie ließ keine Zeit zum Sinnieren. Als wir nach (erfolgreicher) Trauung das Rathaus verließen, hatte sich die Szenerie jedoch gänzlich verändert. Wie aus dem Nichts erschienen, bildeten die Unteroffiziere der Batterie in voller Tagesdienststärke ein Spalier, in dem so ziemlich alles in die Luft gehalten wurde, was die Zugkeller einer Artilleriebatterie so hergeben. Vom „Geschossansetzer bis zur Richtlatte“. Die „Formation“ wurde vom Chef kommandiert, der Spieß war der Zeremonienmeister und das Offizierkorps des Bataillons die „Feiermasse“. Unglaublich und mir bis heute rätselhaft, in welcher „gedeckten Aufstellung“ diese große Gruppe vorher „untergezogen“ war. Nach dem Absolvieren eines Minihochzeitsparcours und mehreren Böllerschüssen aus einem kleinen mitgeführten Geschütz (von einem zivilen Verein) wurde auf das bedeutende Ereignis angestoßen. Auch hier hatte der Spieß vorgesorgt, denn mit unserer „Reserveflasche“ wäre es ein bescheidenes Vergnügen geworden. Meine Frau, unsere Familien, die zivilen Trauzeugen und ich waren zutiefst beeindruckt von der umfangreichen, perfekten und streng geheimen Vorbereitung durch die Kameraden und insbesondere durch deren Bereitschaft, an einem Freitag auch deutlich nach dem Dienstschluss noch mit uns zu feiern, da der Standort wie bereits erwähnt, insbesondere aus dem Verkehrsfunk bekannt ist. Als frischgebackener Ehemann konnte ich dann in den Folgejahren als Zugführer und Chef noch mehrmals an diesem Ritual der Ehrerweisung für ein Brautpaar teil75 Leutnantsbuch nehmen. Es war jedes Mal ein großes Vergnügen. Doch am schönsten war die Überraschung bei der eigenen Hochzeit. HI 76 Leutnantsbuch Der Lebensabschnitt J etzt ist es genau 12 Monate her, seitdem mein neues Leben begann. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie ich mich fühlte, als ich im Zug nach IdarOberstein saß. Mir war ganz schön mulmig zumute. Zwei Wochen zuvor hatte ich noch mein Abikleid an und jetzt sollte ich in ein paar Tagen Flecktarn tragen und die härtesten Monate meines bisherigen Lebens erfahren. Zum Glück saß Robin mit mir im Zug, ich habe ihn bei einem Truppenbesuch kennengelernt. Es tat gut, dass man zumindest einen kannte! Kaum im OA-Btl angekommen, ging der Stress schon los. Wie der Zufall es wollte, war Robin in meiner Gruppe. Wir lernten schnell die Bürokratie der Bundeswehr kennen. In nur wenigen Stunden hatten wir einen Haufen Zettel in die Hand gedrückt bekommen und unterschrieben. Natürlich lernten wir auch unsere Stubenund Gruppenkameraden kennen. Wir waren zwei Mädels in unserer Gruppe: Anita und ich. Wir sind in den folgenden Wochen unzertrennlich geworden, ein perfektes BuddyTeam. Schon am nächsten Morgen um 0500 ging es los. Ich hatte kaum geschlafen und war furchtbar aufgeregt. In den nächsten zwei Tagen lernten wir in jeder freien Minute marschieren, erst in Zivil, dann im Sportanzug und schließlich in Uniform. Haben wir uns gefreut, als wir endlich „richtige“ Soldaten waren. Schon nach drei Tagen war unsere Vereidigung. Meine Eltern und meine Freunde waren eigens 400 km angereist um mich bei diesem denkwürdigen Augenblick zu begleiten! Mein Vater war richtig geschockt, als er mich das erste Mal nach vier Tagen Bundeswehr sah. Der wenige Schlaf und der ganze Stress (zu diesem Zeitpunkt dachte ich doch ernsthaft, dass das schon Stress sei…) hatten mir ganz schön zugesetzt. Aber 77 Leutnantsbuch dennoch sind wir alle voller Stolz mit unseren blauen Baretten ins Sportstadion einmarschiert. Und dann, am nächsten Tag, ging es erst richtig los: Berge kannte ich bisher nur aus dem Skiurlaub. Dort wurde ich mit dem Lift hoch transportiert und konnte ganz entspannt auf Skiern den Berg hinunter fahren. Bei der Bundeswehr läuft das anders … Am Anfang habe ich bereits die Koppeltragehilfe alleine für verdammt schwer gehalten … Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich mit voller Ausrüstung 15 km in diesen Bergen marschieren sollte – das war einfach undenkbar für mich. Aber alles lief von Woche zu Woche besser und unsere Gruppe wuchs von Tag zu Tag enger zusammen. Wir erkannten schnell, dass wir diese Strapazen nur im Team überstehen konnten: Bei Anstiegen wurde ich unauffällig mit der Schulterstütze von hinten geschoben, dafür habe ich mich dann revanchiert, indem ich Knöpfe annähte, am Wochenende Kuchen backte und für alle stets ein offenes Ohr und einen guten Ratschlag hatte. Das war so in Ordnung, weder ich noch die Jungs hatten damit ein Problem. Nach ein paar Wochen brauchte ich diese kleinen Hilfen dann auch nicht mehr, der ständige Sport machte sich positiv bemerkbar. Mittlerweile sind Märsche von 20 km Länge mit Ausrüstung kein Ding der Unmöglichkeit mehr! Nach einem Monat stand dann das erste Biwak an. Anita und ich teilten uns natürlich ein „Zelt“ und wir hatten unseren eigenen Frauenwaschplatz … Das konnten wir gar nicht verstehen. Wir wollten keine besondere Behandlung! Aber es wurde so befohlen, also haben wir es so umgesetzt. Es war trotzdem eine dumme Situation, wenn sich die sechs Frauen unseres Zuges morgens an ihren separaten Waschplatz verzogen haben. Wir fühlten uns in diesen Momenten ausgeschlossen. 78 Leutnantsbuch Aber einen entscheidenden Vorteil hatten wir Frauen: Wir waren kleiner und mussten dementsprechend nicht so tiefe Kampfstände graben. Es ist ein großer Unterschied, ob die Stellung 1,80 m oder 1,60 m tief sein muss! Während dieser sechs Monate bin ich fast wöchentlich an meine Grenzen gestoßen, habe feststellen müssen, was der Körper macht, wenn man völlig übermüdet ist, habe das Gefühl kennengelernt, wenn man im Stehen einschläft und dass ein Stuhl doch etwas ganz Besonderes sein kann. Selbst Kleinigkeiten erhielten da eine besondere Bedeutung: Zum Beispiel in Ruhe eine Mahlzeit zu sich zu nehmen oder einmal bis acht Uhr ausschlafen zu können. Zwischendurch habe ich mich oft gefragt, ob ich das körperlich durchhalte, aber ich habe gekämpft und ich habe durchgehalten! Im Nachhinein war es gar nicht so schlimm, in manchen Momenten vermisst man diese Zeit sogar (wenn man beispielsweise an der OSH in der 10. Unterrichtsstunde sitzt). Ich habe in diesen sechs Monaten eine unglaubliche Kameradschaft kennengelernt und möchte nicht einen Tag aus dieser Zeit missen. Nach dem OAL 1 folgten für mich die Sprachenschule und dann das Truppenkommando. Uns wurde im OAL immer nur gesagt, dass die Kombination „Obergefreiter, OA und weiblich“ in der Truppe ganz fatal sein kann … Na super! Aber auch diese drei Monate verliefen prima. Man sollte nicht immer alles glauben, was die Ausbilder sagen: Vieles ist einfach nur „Psycho-Stress“! Die Rekruten haben mich als ihre Ausbilderin voll und ganz akzeptiert und auch die Zugsoldaten haben nach einer Woche festgestellt, dass viele Dinge eben einfach nur Klischees sind! Zurzeit befinde ich mich an der OSH und bewältige neue Herausforderungen. Aber auch die haben es in sich! Wenn alles gut läuft, geht es im Oktober an die Uni nach Hamburg. Das wird bestimmt auch noch einmal eine tolle Zeit! 79 Leutnantsbuch Ich habe meine Entscheidung, zur Bundeswehr zu gehen, bisher keinen Tag bereut. Ich stehe jeden Morgen auf und freue mich auf den kommenden Tag! Ich genieße die Zeit. Einfach ist diese Ausbildung nicht, aber sie bereitet mir Freude und macht mich auch stolz, dass ich durchgehalten und gekämpft habe. HI 80 Leutnantsbuch Der Pizza-Falter E s ist Anreisetag an der OSH. Drei Monate lang werden wir Offizieranwärter fast ausschließlich nur den Dienstanzug tragen. Jeden Morgen Krawatte binden und unbequeme Hemden tragen. Das ist eine ganz schöne Umstellung, verglichen mit dem OAL, aber es gehört dazu! Wir wollen schließlich Offizier werden (wer kennt diesen Spruch nicht!?). In dieser Uniform bewegt man sich ganz anders, man stampft nicht so wie in den Kampfstiefeln und in dieser Uniform muss man sich auch einfach anders verhalten. Jetzt tragen wir keinen Flecktarn-Anzug, den man „ersatzweise als Serviette“ verwenden kann. Auf dem Dienstanzug sieht man jeden Flecken! Ich trage gerne den Dienstanzug, er repräsentiert die Bundeswehr in einer anderen Art und Weise als der Kampfanzug. Die Dienstjacke sieht schon fast edel aus, dazu gehört dann auch das richtige Verhalten! Aber das haben einige wohl in den letzten Monaten in Flecktarn verlernt: Es war unser erster Abend, wir wollten alle gemeinsam im großen Speisesaal essen und standen nun hungrig in der Schlange an. Wir trugen alle den Dienstanzug, und es gab Pizza. Eigentlich kein Problem! Als ich dann mit meinem Tablett am Tisch saß, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Mein Gegenüber – Offizieranwärter wie ich auch – begann vor uns allen seine Pizza zu falten und sich diese genussvoll mit den Händen in den Mund zu stopfen …!! Das konnte ich nicht verstehen! Man muss doch eine gewisse Vorstellung von Stil und Form haben!!! Ich erwartete nur noch, dass ihm die Tomatensoße auf’s Hemd tropft! Aber er hatte mehr Glück als Sinn für angebrachtes Verhalten – sein Anzug blieb fleckenfrei! 81 Leutnantsbuch Zeitsprung: Seit August tragen wir an der OSH wieder meistens den Flecktarn-Anzug. Schade eigentlich, im Dienstanzug kann man einfach besser Stil und Form praktizieren. Ich hätte an der OSH den Dienstanzug gerne ständig getragen. Außerdem sieht man dann, wer in Stil und Form noch eindeutigen Nachholbedarf hat – so wie mein Kamerad „Pizza-Falter“. HI Stil und Form sind Bestandteil des gesellschaftlichen wie auch kameradschaftlichen Miteinanders und Ausdruck kultureller Bildung. Dies gilt unabhängig davon, welchen Anzug wir tragen, ob wir bei Tisch sitzen oder etwas anderes in Gemeinschaft verrichten. Stil und Form wahrt man letztlich auch, wenn man alleine ist. Das Themenfeld „Stil und Form“ ist Bestandteil der Offizierausbildung. Hilfreiche Hinweise und Empfehlungen, auch für das Verhalten im internationalen Umfeld, enthält die gleichnamige Broschüre der OSH. Diese gilt es zu lesen und vor allem: zu leben. Diese sollte nicht nur aufmerksam gelesen, sondern auch beherzigt und anderen vorgelebt werden. 82 Leutnantsbuch Die Feldjägerkontrolle V or einigen Wochen trat ich meinen Dienst im Feldjägerdienstkommando an. Bis in die Haarspitzen motiviert und bereit für große Taten. Schnell merkte ich jedoch, dass die großen Taten erstmal warten mussten. Zunächst einmal hieß es, den Zug zu übernehmen und in der neuen Umgebung klar zu kommen. Klar zu kommen hieß für mich, in der komplexen Welt der Feldjägerei mit all ihren Facetten zu jeder Zeit an jedem Ort „aus der Hüfte heraus“ auf jede noch so ins Detail gehende Fachfrage richtig und umfassend Auskunft geben zu können. Der Offizier, der sich hier „nur“ als Führer ohne eigenes handwerkliches Können versteht, würde früher oder später untergehen. Also machte ich mir selbst zur Auflage, mir den Respekt des unterstellten Bereiches nicht über meine „Sterne“, sondern über meine Kompetenz zu erarbeiten – ohne mich dabei anzubiedern. Eines Tages führte mich meine Dienstaufsicht zu meiner Schichtgruppe D, die eine Kraftfahrzeugkontrolle vorbereitet hatte. Als ich an der Kontrollstelle eintraf, wurde mir ordnungsgemäß gemeldet, anschließend wurde ich eingewiesen. Kaum war die Einweisung abgeschlossen, fuhr ein Soldat aus Richtung der angrenzenden Kaserne mit einem Dienstkraftfahrzeug unaufgefordert in die Kontrollstelle ein. Sofort war klar: Der Mann hat ein Problem. Wild gestikulierend stieg er aus und fing sofort an zu schimpfen: „Wer hat Euch erlaubt, meine Fahrzeuge zu kontrollieren?“ Der Mann war Oberstleutnant. Blitzartig schoss mir die in der Ausbildung vermittelte „V.I.R.-Regel“ (Verständnis, Interesse, Regelung) in den Kopf. Der Soldat war im Rang deutlich über mir und doch war ich ihm fachlich vorgesetzt. Die Blicke meiner Feldjäger 83 Leutnantsbuch sprachen Bände: „Herr Leutnant, Sie sind dran!“ Nicht weil meine Feldjäger nicht in der Lage gewesen wären, die Lage zu bereinigen, sondern weil sie mir sonst meine Autorität untergraben und die Gelegenheit genommen hätten, die Situation selbst zu bereinigen. Die Lage war klar: Ich war gefordert. Wen hatte ich da überhaupt vor mir? Worin war sein Verhalten begründet? Hat er bewusst oder unbewusst ausgeblendet, dass wir in diesem Aufgabenbereich seine Vorgesetzten waren? Wie konnte ich die Lage klären, ohne dass dabei jemand sein Gesicht verlor? Der Oberstleutnant hatte mich gar nicht als ranghöchsten Feldjäger erkannt. Für ihn waren wir alle Feldjäger und er wandte sich an den nächsten Feldwebeldienstgrad. „Herr Oberstleutnant!“, sagte ich, „ich habe zwar noch keine Ahnung, was Sie so auf die Palme bringt, aber ich verspreche Ihnen, wir werden das Problem gemeinsam lösen.“ Ich bat ihn höflich zur Seite, um alleine mit ihm zu sprechen. Der Oberstleutnant ging, wenn auch widerwillig, darauf ein: „Is´ doch Unsinn, was Ihr hier veranstaltet, meine Fahrzeuge hier vor der Kaserne abzufischen!“ „Herr Oberstleutnant! Ich bin Leutnant G. vom Feldjägerdienstkommando. Darf ich fragen, wer Sie sind?“ „Ich bin der Technische Stabsoffizier des Bataillons, dessen Fahrzeuge Sie hier die ganze Zeit `rausziehen … und wir kommen zu nichts mehr.“ Jetzt wurde mir natürlich einiges klar. Ich zeigte ihm trotz seiner Einwände mein Verständnis, um ihn zu besänftigen. Als ich ihm schließlich mitteilte, dass die Kontrolle gar auf ausdrücklichen Wunsch und in Absprache mit dem 84 Leutnantsbuch Kasernenkommandanten stattfand, war die Gesprächsbasis sogleich eine andere. Es war dem gestandenen Stabsoffizier offensichtlich unangenehm, denn er hatte nun begriffen, dass sein Verhalten unangemessen war. Hinzu kam die Tatsache, dass er keine Kenntnis von der Anforderung des Kasernenkommandanten hatte. Das Gespräch nahm eine versöhnliche Wendung. „Von welchem Kommando kommen Sie noch mal? Oh, da müssen Sie aber weit anreisen, um die Kontrolle zu machen.“ Wir bewegten uns langsam auf meine Kameraden zu, die bereits voller Erwartung waren, wie sich die Lage weiterentwickeln würde. Plötzlich zog der Technische Offizier seine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche und bot allen eine „Kippe“ an. Deutlicher konnte ein unausgesprochenes Friedensangebot nicht sein. Nach einer gemeinsamen Zigarette verabschiedete sich der Oberstleutnant mit einem freundlichen „Nix für ungut!“ und fuhr in die Kaserne zurück; und zwar ohne sein Gesicht zu verlieren. Als er außer Sichtweite war, erntete ich von „meinen“ Feldjägern anerkennende Blicke. Gesprochen wurde über den Vorfall nicht mehr. HI Zeige Zivilcourage gegenüber Vorgesetzten und finde dabei den richtigen Ton! Auch Vorgesetzte können Fehler begehen oder in einer Sache irren. Kameradschaft und Verantwortungsbewusstsein erfordern dann, Sie auf Ihr Fehlverhalten oder auf Ihren Irrtum in der gebotenen Form hinzuweisen. Gute Vorgesetzte werden dafür dankbar sein. 85 Leutnantsbuch Ein Auftrag zu viel W ir machen das, Herr Oberst!“, sagte Hauptmann S., „ seit einem halben Jahr Chef der Stabsstaffel. Seine Einheit hatte schon viele Vorhaben für den Verband umgesetzt. Ob Übungsplatz, Einsatzvorbereitung, Sportfest oder Abstellungen für andere Verbände, stets war es die Stabsstaffel, die die Verantwortung übernahm. Hauptmann S. wollte seine Staffel zur wichtigsten Stütze des Regiments machen. Doch er ahnte schon, was die anderen Chefs denken würden: Dass er sich beweisen müsse, dass er unbedingt Berufssoldat werden wolle und alles dafür unternehmen würde, um dieses Ziel zu erreichen, oder dass er einfach nicht nein sagen konnte. Darauf gab er nichts. Er wusste, dass ihm sein Kommandeur dankbar war für das, was seine Soldaten und er leisteten. Jeder neue Auftrag war auch eine neue Chance zu zeigen, wie leistungsfähig die Stabsstaffel war. Auf dem Weg zur Staffel überkamen den Chef dann die ersten Zweifel. Was werden meine Zugführer sagen? Können wir das überhaupt noch leisten? Wie lange stehen die Frauen und Männer noch hinter mir? Er wusste, dass seine Zweifel nicht unberechtigt waren. Häufig kamen die Zugführer in der letzten Zeit auf ihn zu, sprach der Kompaniefeldwebel mit ihm und zeigte auf, dass die Belastung schon jetzt fast zu hoch war. Er betonte, dass die Stabsstaffel nicht jeden Auftrag übernehmen könne und auch nicht übernehmen bräuchte. Was würden die Vertrauenspersonen sagen, wenn er wieder über eine Urlaubssperre nachdenken müsste. Wie würden seine Soldaten reagieren, wenn er den neuen Auftrag das erste Mal erwähnen würde, der wieder einmal alle Kräfte 86 Leutnantsbuch seiner Einheit binden würde? Langsam wurde er skeptisch, aber gespannt zugleich. Noch zehn Minuten bis zur Besprechung. Die Zugführer und der Kompaniefeldwebel waren schon da. „Mal sehen, was wir diesmal wieder für Aufträge erhalten.“ „Ich bin auch gespannt, um was sich der Chef schon wieder gerissen hat?“ „Lange können wir das nicht mehr durchhalten.“ Hauptmann S. betrat den Raum. Kurze Meldung. Alle nahmen Platz. Seit einiger Zeit spürte er, dass die Stimmung anders war als bei den ersten Besprechungen, die er nach seiner Übernahme durchgeführt hatte. Er ahnte, dass sich die Zugführer in der gleichen Situation befanden wie er gegenüber dem Regimentskommandeur. Auch sie würden nachher in ihre Bereiche gehen und mit großen Erwartungen konfrontiert. Nur, dass sie nicht hatten „nein“ sagen können. „Die Unterstützung für die Brigadeübung wird im Wesentlichen von uns zu erbringen sein. Unsere Staffel wird im nächsten Monat mit rund sechzig Soldaten für drei Wochen an der Übung teilnehmen und diese unterstützen“, sagte Hauptmann S. Stille füllte den Raum. Die ersten Augen rollten. Es war zu spüren, wie alle in sich gekehrt waren und keiner die Frage aussprechen wollte, wie das noch zu leisten sein sollte. In der folgenden Nacht fand Hauptmann S. keine Ruhe. Zu viele Gedanken beschäftigten ihn. Er sah die Besprechung wieder vor seinen Augen auftauchen. Die Einwände seiner Zugführer klangen durch den Raum. Er hörte sie erneut und ging ihnen nach. Hatten seine Soldaten doch Recht? Waren ihre Einwände nicht doch berechtigt? Der nächste Morgen. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Sein Weg führte diesmal nicht zuerst zur Staffel, sondern 87 Leutnantsbuch zum Stabsgebäude. Der Kommandeur war schon da. Hauptmann S. spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann, wie sein Atmen schwerer wurde. Der Treppenaufstieg kam ihm beschwerlich vor. Er hatte sich die Worte zurecht gelegt. Kurze Meldung beim Kommandeur. Die Tür schlug sanft ins Schloss. Es ist nichts falsch daran, wenn ein Soldat seinem Vorgesetzen meldet, dass er einen Auftrag nicht ausführen könne. Falsch wäre es vielmehr, einen Auftrag anzunehmen, obwohl aufgrund der eigenen Lagebeurteilung bekannt ist, dass der Auftrag nicht ausgeführt werden kann. Der Gesamtauftrag erfordert eine richtige Lagefeststellung und die anschließende Bewertung, ob die eigenen Kräfte und Mittel auch ausreichen. Falscher Stolz, die Fehleinschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit und eine Überforderung der eigenen Soldaten schaden mehr als sie nützen. Seinem Kommandeur meldete Hauptmann S. am nächsten Morgen daher zutreffend: „Wir können das nicht leisten!“ Dafür erntete er kein Lob, aber sein Kommandeur verlor auch nicht die Fassung. Jeder wusste, dass kein Unwille dahinter stand, sondern dass die gesamte Auftragserfüllung gefährdet war, hätte die Stabsstaffel diesen Auftrag auch noch übernommen. In dieser Situation hatte der Chef mehr Stärke bewiesen als er dachte. Seine Frauen und Männer haben es ihm gedankt und werden beim nächsten Mal umso begeisterter sein, wenn die Stabsstaffel die Flagge des Regiments wieder hoch halten kann. HI 88 Leutnantsbuch Zeige Persönlichkeit! Stehe für das ein, wovon Du überzeugt bist. Erkenne die Belastungen der Truppe, behalte sie im Auge und überfordere nicht! Höre auf Deine Soldaten, erkenne auch „Zwischentöne“ und handle rechtzeitig! 89 Leutnantsbuch Offizieranwärter Frank Der Abend D ie Ordonanz betritt den Raum und plötzlich ist es ganz ruhig. In den letzten Stunden haben wir angeregt den Erzählungen zugehört, über sie diskutiert oder einfach auch nur geschmunzelt. Jetzt sagt die Ordonanz: „Meine Herren, darf ich Ihnen noch etwas zu trinken bringen? Normalerweise schließen wir in 30 Minuten – aber wenn Sie noch länger bleiben möchten – kein Problem.“ Hauptmann Seidel blickt in die Runde. Wir schauen uns alle etwas ratlos an. „Also, wenn Sie mich fragen“, sagt Oberstleutnant Stokiwsky, „wird es Zeit, zu Bett zu gehen.“ Wieder verstohlene Blicke zwischen uns und fragende Blicke zwischen uns und Hauptmann Seidel, der dann sagt: „Ich glaube, wir haben alle ein paar Stunden Schlaf verdient! Ich nehme an, Sie sind einverstanden, wenn wir für heute Schluss machen. Wir können uns ja jederzeit noch einmal zusammensetzen.“ Wir sind einverstanden. „Aber eines möchte ich noch anfügen“, sagt Hauptmann Seidel. „Morgen Vormittag vor der Formalausbildung sind noch zwei Stunden Verfügungszeit für mich als Fähnrichoffizier angesetzt. Ich biete Ihnen an, das vorhin auf den Bierdeckeln Erläuterte noch ein wenig zu vertiefen. Ein paar Details hätte ich da noch – ohne Sie langweilen zu wollen.“ Ich antworte sofort: „Ja, ich würde da schon gerne noch ein paar Zusatzinformationen bekommen. Und keine Angst Herr 90 Leutnantsbuch Hauptmann, Sie langweilen uns bestimmt nicht! Oder seht Ihr das anders?“ Nachdem kein Widerspruch von den anderen kommt, sagt Hauptmann Seidel: „Gut, dann sehen wir uns morgen früh im Kompaniebesprechungsraum zu einer kurzen Runde.“ Wir stehen auf, verabschieden uns, zahlen unsere Rechnung und gehen gemeinsam zu unseren Unterkünften. Wir sind nachdenklich geworden. 91 Leutnantsbuch Offizieranwärter Frank Selbstbestimmtheit G uten Morgen, Kameraden!“, sagte Hauptmann Seidel. „ „Guten Morgen, Herr Hauptmann!“, antworteten wir. Wir sitzen im Kompaniegebäude der 3. Kompanie im Kompaniebesprechungsraum. Eine völlig andere Atmosphäre als gestern Abend im Offizierheim. Es war ein schöner und interessanter Abend. Ich hatte mich gestern noch kurz mit Annette, Peter, Markus, Jonas, Marcel und Cindy unterhalten. Wir waren einer Meinung. Die verschiedenen Ausführungen und Erzählungen haben uns gefesselt. Manches war zwar „schwere Kost“, aber es hat sich gelohnt, mit den „Alten“ über das Berufsbild des Offiziers zu sprechen. Heute will Hauptmann Seidel uns noch ein paar Hintergrundinformationen zu den Begriffen Selbstbestimmtheit und Erfolgsfaktoren mitgeben. Wir sind gespannt. „Ich hatte Ihnen gestern ja schon „angedroht“, dass ich Ihnen heute noch einige meiner Überlegungen zu unserem Berufsbild mit auf den Weg geben möchte. Die Begriffe Selbstbestimmtheit und Erfolgsfaktoren kennen Sie ja schon. Ich reiche unseren Bierdeckel noch einmal herum – Sie erinnern sich. Beide Bereiche sind von zentraler Bedeutung für die Führungskunst.“ Der Bierdeckel macht seine Runde. Wir erinnern uns. Cindy flüstert: „Wir sollten uns das Modell abmalen. Können wir sicher noch einmal gut gebrauchen.“ 92 Leutnantsbuch „In zwei Stunden haben Sie Formalausbildung. Ich denke, Sie werden noch ein bisschen Zeit brauchen, um sich auf Ihre Funktion als Hilfsausbilder vorzubereiten. Deshalb fange ich gleich mit dem Begriff Selbstbestimmtheit an. Ich habe sechs Aufforderungen zusammengestellt, die den Begriff der Selbstbestimmtheit beschreiben. Sie ist einer der beiden Schlüssel zur Führungskunst. Gleichzeitig eröffnen die Anforderungen auch eine Möglichkeit zur Selbstreflexion und eigenen Positionsbestimmung. Für mich persönlich ist es sehr wichtig, über mich selbst nachzudenken, an mir zu arbeiten, um mich weiterzuentwickeln. Hier heißt meine Devise: Wer sich nicht verändert, wird stehen bleiben, steht in der Gefahr zu scheitern und wird letztendlich auch keine Zufriedenheit im Leben finden. Aber genau darum geht es im Leben. Doch dazu später mehr. 1. Gehöre Dir selbst! In der ersten Aufforderung geht es darum, sich bewusst zu werden, dass Sie selbst die Verantwortung für Ihr Leben tragen. Das bedeutet, nur derjenige, der sich selbst gehört und über sein Leben entscheidet, ist fähig andere zu führen. Für mich bringe ich das so auf den Punkt: Ich versuche, eine eigenständige, eigenverantwortliche und selbstbestimmte Persönlichkeit zu sein und nehme auf Inhalt, Form und Richtung meines Lebens Einfluss. Es wird aber auch deutlich, dass die Gestaltung des eigenen Lebens ein aktiver Prozess ist. Das ist nicht jedem Menschen bewusst und die meisten planen ihren Jahresurlaub besser als ihr eigenes Leben. Ich jedenfalls freue mich, wenn ich wieder eine Entscheidung für mein Leben bewusst gefällt oder ein Ziel erreicht habe. Dann spüre ich, dass ich wirklich lebe, mein Leben nutze und mir selbst gehöre. 93 Leutnantsbuch 2. Nimm Dich wahr! Nimm Dich so wahr, wie du wirklich bist. Wer dieser Aufforderung folgen will, braucht Mut, Ehrlichkeit, selbstkritische Distanz und den Willen zur Objektivität sich selbst gegenüber. Einzugestehen, dass man eine bestimmte Fähigkeit nicht hat oder in nicht ausreichendem Maße, fällt uns oft sehr schwer. Aber ich bin mir sicher, dass man an dieser Aufgabe wächst und ein Profil gewinnt. Gute Menschenführer sind authentisch, haben ein ausgeprägtes Profil, geben auch Schwächen und Fehler zu. Schwächen darf man haben, sie sollten nur das eigene Leben nicht bestimmen. Erfolgreiche Menschenführer haben aber auch klare Vorstellungen von den Dingen, die ihnen wichtig sind, setzen somit Schwerpunkte und besitzen ein Gespür für das, was richtig oder falsch ist. 3. Zeige Persönlichkeit! Ihre besondere Aufgabe als Vorgesetzter besteht darin, Führer, Erzieher und Ausbilder Ihrer Soldaten zu sein. Die Motivation des Soldaten, sich für eine Sache einzusetzen und zu begeistern, ja zu kämpfen und unter allen denkbaren Bedingungen des Einsatzes optimale Leistungen zu erbringen, hängt entscheidend davon ab, wie er behandelt wird, wie er sich selbst in der Gruppe erlebt, wie seine persönlichen Bindungen sind. Wichtig ist für ihn, in welchem Maße er den Vorgesetzten als Mensch und Vorbild erlebt und wie seine emotionalen und sozialen Bedürfnisse befriedigt werden. Wie er geachtet und respektiert wird. Die meisten Soldaten kämpfen im Krieg nicht in erster Linie für hehre Ideale, sondern für die kleine Kampfgemeinschaft und ihren nächsten Vorgesetzten! 94 Leutnantsbuch Es ist ganz offensichtlich, dass nicht jeder zum Vorgesetzten und militärischen Führer geeignet ist. Wodurch zeichnet sich ein vorbildlicher Vorgesetzter aus? Der Schlüssel zum Erfolg als Vorgesetzter und Führer liegt in Ihrer gereiften und gefestigten Persönlichkeit, in Ihrer menschlichen Stabilität und Unbescholtenheit. Beispielhafte Führerpersönlichkeiten schaffen ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens zu ihren Soldaten, indem sie das Gespräch mit ihnen pflegen, ihre Ideen und Auffassungen anerkennen und sie – wo möglich – in den militärischen Alltag mit einbeziehen. Sie berücksichtigen die Bedürfnisse und Gefühle ihrer Soldaten und fördern ihre Fähigkeit zur Selbstständigkeit, Mitwirkung und Mitverantwortung. Die besondere Ausstrahlung, das so genannte Charisma des militärischen Führers, das unmittelbar mit dem Kern seiner Persönlichkeit verknüpft ist, beruht stets auf überzeugendem fachlichen Können, Selbstbewusstsein, Charakterstärke, Intuition, Einstellungsfähigkeit auf schnell wechselnde Situationen, persönlicher Unabhängigkeit sowie auf Einfühlungsvermögen und einem ausgeprägten Normen- und Wertebewusstsein. Mit solchen Vorgesetzten identifizieren sich Untergebene bereitwillig, ihnen vertrauen sie, ihnen leisten sie Gefolgschaft. Für solche Vorgesetzten sind sie letztlich auch bereit zu kämpfen und ihr Leben einzusetzen. Übrigens ist mein Kommandeur nach meiner Meinung ein solcher Führer. Mit ihm würde ich jederzeit an jedem Ort in den Einsatz gehen. Weil von meiner Persönlichkeit viel abhängt, muss ich wissen, wer ich bin, welche Stärken und Schwächen ich habe und wie ich damit umgehe. Nichts gefährdet die 95 Leutnantsbuch Führung von Soldaten mehr als persönliche Unsicherheit, Entscheidungsschwäche oder Forderungen, die ich an andere stelle und selbst nicht erfüllen will oder kann. Lassen Sie mich die vier Persönlichkeitstypen kurz beschreiben, die mir bisher begegnet sind: - Entscheider haben ihre Ziele klar vor Augen und wissen genau, wie sie diese erreichen. Unentschlossen zu wirken, halten sie für eine Schwäche, gleiches gilt bei Zögern oder Zaudern. Sie entscheiden lieber falsch, als zu lange zu warten. Sie gehen mit anderen Menschen nicht gerade zimperlich um und nehmen auf Empfindlichkeiten wenig Rücksicht. Macher lieben Herausforderungen und setzen sich und anderen strenge Maßstäbe. Niemand sollte ihren Führungsanspruch in Frage stellen. - Stimmungsmacher sind eloquent und lieben es, unter vielen Menschen zu sein. Ein großer Bekanntenkreis ist ihnen wichtig, und sie kommen mit Fremden schnell ins Gespräch. Oftmals sind sie auch kreativ, lassen sich gerne von neuen Dingen anregen und haben selbst viele Ideen, setzen aber die wenigsten um. - Beständige sind Menschen, auf die man sich absolut verlassen kann. Sie sind vorsichtig, mit wem sie Freundschaft schließen. Nur wenn andere auch an echter Freundschaft interessiert sind, kommen sie zusammen. Daher haben sie einen kleinen Bekanntenkreis mit engen Freunden. Das Familienleben lieben sie. Sie sind die geborenen Teamplayer und können sich hervorragend auf andere einstellen, nehmen Rücksicht und sind bereit 96 Leutnantsbuch ihre eigenen Interessen unterzuordnen. Für alles, was sie tun, brauchen sie Zeit und Ruhe. - Analytiker nehmen sich viel Zeit. Sie durchdenken ein Problem bis ins letzte Detail und suchen die perfekte Lösung. An Kontakten mit anderen sind sie nicht sonderlich interessiert. Sie wirken sehr distanziert. Freundschaften halten aber bei ihnen ein Leben lang. Sie brauchen für alles einen Plan, eine Struktur und genügend Zeit. Spontaneität ist nicht ihre Sache. Grundsätzlich glaube ich, dass kein Persönlichkeitstyp in „Reinkultur“ vorkommt, sondern immer auch Eigenschaften anderer Typen in sich vereinigt. Wichtig ist es, diese unterschiedlichen Faktoren der Persönlichkeit in sich selbst und in den verschiedenen Lebenslagen zu erkennen sowie zu lernen, damit umzugehen. Nur dann kann man sein Potenzial angemessen entwickeln und wirkungsvoll nutzen. Jeder Mensch wird durch einen Persönlichkeitstyp besonders geprägt. Aber erst das Vorhandensein anderer Eigenschaften und deren bewusste und situationsgerechte Nutzung führen zu einer ausgeglichenen Persönlichkeit, der man gerne folgt. Ich habe lange über Werte nachgedacht. Gar nicht so einfach. Aber ein paar grundlegende Ideen habe ich schon entwickelt. Genauso wichtig wie das Erkennen der eigenen Persönlichkeit ist ein gemeinsames oder ähnliches Grundverständnis vom Zusammenleben und menschlichem Miteinander. In diesem Zusammenhang kommt den Werten, die man verinnerlicht hat und für die man „einsteht“, eine besondere Bedeutung zu. Hier liegt die Grundlage für ein – ich nenne es – werteorientiertes Führen. 97 Leutnantsbuch Was sind denn jetzt eigentlich Werte? Werte sind für mich Vorstellungen und Überzeugungen, die ein menschliches und zivilisiertes Zusammenleben beschreiben und allgemein oder zumindest von vielen in einer Gesellschaft als wertvoll und wünschenswert anerkannt sind. Ziel ist, dass ein menschliches Leben in Gemeinschaft glücken und gelingen kann. Werte sind somit Zielvorgaben, die es wert sind, verfolgt zu werden und für sie auch Risiken in Kauf zunehmen. Neben allgemein gültigen Werten gibt es noch individuelle Werte, die je nach Persönlichkeitstyp und Lebensalter unterschiedlich sind oder unterschiedliche Bedeutung oder Gewichtung haben. Es ist für mich als Offizier sehr wichtig, mich mit Werten auseinander zu setzen. Sie liefern mir Motivation und Fundament für meine Tätigkeit als Führer, Ausbilder und Erzieher meiner Soldaten und können mir helfen, schwierige Lagen im Einsatz besser zu bewältigen und in Extremsituationen oder Grenzfällen zu bestehen. Werte spielen im Selbstverständnis und Handeln des Soldaten eine herausgehobene Rolle. Auf der Grundlage von Werten, wie sie in der christlich abendländischen und humanistischen Kultur entwickelt wurden, rechtfertigt sich mein Einsatz als Soldat. Wir sind ihnen verpflichtet, wir treten für sie ein und richten unser Handeln nach ihnen aus. Das haben Sie sicher in dieser oder in einer ähnlichen Form schon einmal gehört. Ich will Sie auch nicht langweilen, denke aber, dass man sich immer wieder einmal bewusst machen muss, aus welchem Kulturkreis man kommt und wie sich dieser entwickelt hat. War von Ihnen schon einmal jemand im Museum der Deutschen Geschichte in Berlin?“, fragt Hauptmann Seidel. 98 Leutnantsbuch Aus unserem geistigen Höhenflug herausgerissen, schauen wir uns an. Offensichtlich war ich der einzige, der schon einmal dort war. „Ja, ich, Herr Hauptmann“, sage ich und ergänze: „Ein sehr interessantes Museum über die Deutsche Geschichte, aber man braucht viel Zeit. Wenn man erst `mal „durch“ ist, bekommt man schon eine ganz gute Vorstellung von unserer Kultur – und wie wir hier in Europa in eine Jahrtausende alte Zivilisation eingebettet sind.“ Hauptmann Seidel pflichtet mir bei: „Sie sagen es! Ich kann nur empfehlen, dieses Museum zu besuchen, wenn Sie ’mal in Berlin sind. Aber noch einmal zurück zu den Werten. Ich habe für mich ganz persönlich einmal meine Werte zusammengefasst. Also wertvolle Dinge in meinem Leben, die erstrebenswerte Vorstellungen von einem friedlichen Zusammenleben und einem eigenen zufriedenen und erfüllten Leben beschreiben. Sie sind einerseits allgemeingültige, andererseits individuelle Werte. Die allgemeingültigen Werte Recht, Freiheit und Sicherheit bilden damit eine gesellschaftliche Norm. Die individuellen Werte werden von vielen Offizieren mitgetragen. Recht beinhaltet die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Recht und Gesetz, Gewaltenteilung, Garantie der Grundrechte, den Rechtsschutz und die Unabhängigkeit der Gerichte. Freiheit umfasst die Grundrechte in einer Demokratie wie freie Entfaltung der Persönlichkeit, Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Solidarität, 99 Leutnantsbuch Freizügigkeit, Freiheit der Berufswahl, um nur einige zu nennen. Sicherheit steht für Frieden und Schutz der physischen und psychischen Unversehrtheit des Menschen. Also auch für die unantastbare Würde eines jeden Menschen sowie die Summe der Grund- und Menschenrechte, auf die man selbst nicht verzichten kann. Dies bedeutet, nicht gewalttätig gegenüber sich selbst und anderen zu sein, keinem anderen Schaden zuzufügen, niemanden zur Gewalt zu verleiten und keine Gewalt zu verherrlichen. Balance im Leben zu halten, bedeutet, ein ausgewogenes Leben zwischen den beruflichen und privaten Tätigkeiten zu führen und auf die Bedürfnisse der Familie, das eigene Wohlbefinden und sein Selbst zu achten. Eine Balance besteht auch in einem regelmäßigen Wechsel zwischen Aktivität und Ruhe sowie zwischen Alleinsein und Gesellschaft. Familie und soziale Kontakte innerhalb einer Gemeinschaft sind Keimzelle und Kernpunkte menschlichen und staatlichen Zusammenlebens. Nächstenliebe, soziales und kulturelles Engagement und ehrenamtliche Tätigkeiten halten eine Gesellschaft zusammen, machen sie lebenswert, stiften Sinn und festigen ein gemeinsames Wertgefüge. Wohlbefinden ist als Grundlage zur Bewältigung psychischer und physischer Belastungen erforderlich und macht das Leben lebenswert. 100 Leutnantsbuch Persönlichen Raum zu haben, bietet die Möglichkeit, frei zu atmen und sich wohl fühlen zu können. Genügend Zeit für sich selber zu finden ist lebensnotwendig. Stille, in die man sich zurückziehen kann, um die notwendige Distanz und Gelassenheit zu erhalten oder zurückgewinnen zu können. Naturverständnis und Umweltbewusstsein meint, die Schöpfung mit allen Sinnen zu erfahren und als Geschenk zu begreifen, das auch den künftigen Generationen als Lebensgrundlage erhalten bleiben muss. Geistiges Wachstum hilft schließlich, Sinnzusammenhänge zu erkennen, zu verdichten und auch anderen vermitteln zu können. Wenn wir über Werte sprechen, dann müssen wir auch über Tugenden sprechen. Tugenden helfen, die den Werten zugrunde liegenden Zielvorstellungen, zu verwirklichen. Sie sind so etwas wie eine ethische Wegbeschreibung und dienen gleichsam als „Handwerkszeug“, um der eigenen Verantwortung in den unterschiedlichen Anforderungen und Lebenssituationen gerecht werden zu können. Sie sind also charakterliche Fähigkeiten und innere Einstellungen, um sich gemäß den Werten richtig und gut zu verhalten. Tugenden geben damit dem menschlichen Miteinander eine Ordnung. Sie berücksichtigen dabei die universell geltende „Goldene Regel“: „Keinem anderen antun, was man selbst nicht erleiden möchte“. Dabei müssen Tugenden im Laufe des Lebens eingeübt und weiterentwickelt werden. Dies kann nur im Kontext von Erfahrungen und Erlebnissen geschehen. 101 Leutnantsbuch Es gibt eine Vielzahl von Tugenden und deren Kategorisierungen. Ich orientiere mich an den vier klassischen Kardinaltugenden, die für Menschen, denen Macht und Verantwortung anvertraut wurden, besonders wichtig sind, und an den soldatischen Tugenden der Bundeswehr. Zur weiteren Orientierung habe ich noch andere Tugenden ergänzt, die jeder nach seinem eigenen Bedürfnis verinnerlichen kann. Lassen Sie mich ein paar Worte zu den sogenannten klassischen Kardinaltugenden sagen, die uns bereits aus der Antike überliefert sind. Sie haben davon sicher schon einmal gehört. Diese vier Tugenden haben ihren Namen von dem lateinischen Wort ‘cardo’ erhalten. ‘Cardo’ bedeutet ‘Türangel’. Kardinaltugenden sind also gleichsam die Dreh- und Angelpunkte in einem Wertesystem. Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Mäßigung sind die Kardinaltugenden, an die sich weitere Tugenden anschließen. Die Gerechtigkeit steht an erster Stelle und bildet wiederum die Grundlage für die übrigen Kardinaltugenden. Sie meint einen nach moralischen Maßstäben angemessenen Ausgleich von Interessen und ist die anerkannte Norm menschlichen Zusammenlebens unter Verzicht auf Privilegien. Durch Fairness und verlässliche Partnerschaft gilt es, dem anderen, aber auch sich selbst, gerecht zu werden. Nach der realistischen Sicht der Dinge – damit ist eben die Klugheit gemeint – gilt es, die Situation gerecht zu interpretieren. - Der Gerechte fordert das Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten. - Der Gerechte benachteiligt niemanden. - Der Gerechte richtet auf und ordnet. - Der Gerechte will es zum Guten richten. 102 Leutnantsbuch - Der Gerechte wurzelt in der Menschenwürde und den Menschenrechten. Der Gerechte fordert Chancengleichheit. Der Gerechte handelt fair und ist berechenbar. Der Gerechte scheut keine Rechenschaft. Der Gerechte fordert den Ausgleich zwischen Individualismus und Kollektivismus. Der Gerechte ist barmherzig. Die Klugheit ist die Fähigkeit zu angemessenem Handeln in einem konkreten Einzelfall, unter Berücksichtigung aller für die Situation relevanten Faktoren, individuellen Handlungsziele und sittlichen Einstellungen. Es gilt der Grundsatz: Zuerst denken, dann handeln. Durch Selbstreflexion werden das Urteilsvermögen und die Entscheidungskompetenz gestärkt, um so vernünftig und nicht zufällig zu handeln. Im Zusammenhang mit Klugheit wird seit Platon die Weisheit synonym genannt. Weisheit befähigt als „Frucht“ der Klugheit zum rechten Urteil und befähigt weiter, die Konsequenzen des Handelns zu erkennen und zu übernehmen. - Der Kluge entwickelt einen Sinn für die Realität. - Der Kluge ist scharfsinnig und stellt Fragen. - Der Kluge reflektiert und durchschaut Zusammenhänge. - Der Kluge bleibt bodenständig. - Der Kluge lernt aus Fehlern. - Der Kluge ist vorausschauend. - Der Klügere gibt nach, wenn es nicht wirklich um substantielle Dinge geht. Die Tapferkeit ist die menschliche Fähigkeit, einer schwierigen Situation mit der Überzeugung entgegen zu 103 Leutnantsbuch treten, etwas Gutes und Richtiges zu tun, ohne eine Garantie auf die eigene Unversehrtheit zu erhalten. Tapferkeit wird daher verstanden als Mut zum sittlich begründeten Standpunkt und zum höchsten persönlichen Einsatz unter Inkaufnahme von Risiken bis zur Hingabe des eigenen Lebens. Tapferkeit stellt nach Aristoteles die ausgewogene Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit dar. Sie ist damit die konkrete und energische Umsetzung von Klugheit und Gerechtigkeit in die Tat. - Der Tapfere verteidigt das sittliche Gute. - Der Tapfere ist bereit, dafür Verwundung und sogar den eigenen Tod hinzunehmen. - Der Tapfere hält mehr stand, als dass er angreift. - Der Tapfere ist verlässlich und gibt seine Hoffnung nicht auf. Die Mäßigung, oft auch Besonnenheit genannt, als ein bewusstes Maßhalten zwischen einem ungesunden Übermaß und vollständigem Verzicht, wirkt jedem Extrem entgegen und lässt Spannungen gar nicht erst entstehen. Das Maß zwischen Müßiggang und Arbeitssucht ist Disziplin und Fleiß, das Maß zwischen Geiz und Verschwendung ist Großzügigkeit und zwischen blinder Gefolgschaft und Willkür ist es Loyalität. - Der Maßvolle sucht das richtige und „angemessene“ Mischungsverhältnis zwischen Zuviel und Zuwenig. - Der Maßvolle bestimmt stets das rechte Maß neu. - Der Maßvolle meidet jegliches Extrem. - Der Maßvolle kennt seine Grenzen. Weil der Philosoph Platon für diese hier dargestellten Zusammenhänge einmal das sehr treffende Bild von einem Wagenlenker und einem Pferdegespann verwendet hat, 104 Leutnantsbuch spricht man bei den Kardinaltugenden manchmal auch von dem 'Viergespann'. Das Christentum kennt aber auch die sogenannten drei christlichen Kardinaltugenden, die im 13. Kapitel des Ersten Korintherbriefes dargestellt werden, nämlich Glaube, Hoffnung und Liebe. Und an erster Stelle steht dabei die Liebe. Diese Tugenden werden oft als Kreuz, Anker und Herz dargestellt. Vielleicht lesen sie diesen schönen Text im Neuen Testament einmal nach – ich versichere Ihnen, es lohnt sich. Soviel zunächst einmal zu den sogenannten Kardinaltugenden.“ „Herr Hauptmann“, schaltet sich Annette aufgeregt ein, „jetzt weiß ich endlich auch, was Kreuz, Anker und Herz in diesem Zusammenhang bedeuten. Meine Oma hat mir nämlich ein goldenes Halskettchen vererbt, an denen diese drei Symbole als Anhänger aufgereiht sind. Meine Oma hat sich also sicher etwas dabei gedacht und ich habe das bis eben gar nicht gewusst! Aber ich hätte da gleich noch eine Frage. Sind diese Tugenden nicht, na ja, ein bisschen wenig? Mir fallen auch noch ganz andere Tugenden ein, die mir hier einfach fehlen. Ganz besonders natürlich typische Tugenden unseres Berufes. Ich meine aber auch, dass es noch viel mehr Tugenden gibt, die wohl auch in unterschiedlichen Berufen unterschiedlich „bewertet“ werden.“ „Ja, was ist zum Beispiel mit Respekt oder Pünktlichkeit?“, fragt Peter. 105 Leutnantsbuch „Recht haben Sie! Ich war ja auch noch nicht ganz fertig! Soldatische Tugenden sind für mich Kameradschaft, Treue und wiederum Tapferkeit. Kameradschaft ist die Pflicht jedes Soldaten, seinem Kameraden unter allen Umständen – auch unter Lebensgefahr – beizustehen. Das Besondere an der soldatischen Kameradschaft ist, dass sie nicht an persönliche Verbundenheit im Sinne von Freundschaft oder bloßer Kumpanei gebunden ist, sondern von jedem Soldaten als Dienstpflicht gefordert wird. Die Kameradschaft verpflichtet alle Soldaten, die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten und ihm in Not und Gefahr beizustehen. Die Pflicht zur Kameradschaft schließt gegenseitige Anerkennung, Rücksicht, Fürsorge und Achtung fremder Anschauungen ein. Treue gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und damit Treue gegenüber unserer Werteordnung sowie dem Primat der Politik meint die Anerkennung und gewissenhafte Umsetzung von verbindlichen Weisungen der demokratisch legitimierten Bundesregierung. Neben der Umsetzung gehört zur Treue auch, alles, was die Auftragserfüllung beeinträchtigen würde, zu unterlassen. Treue zeigt sich in bestimmten Verhaltensweisen wie Einsatzbereitschaft, Zuverlässigkeit, Gehorsam und der gewissenhaften Erfüllung der soldatischen Pflichten. Die besondere Treuepflicht für Soldaten beinhaltet auch die Hinnahme von erhöhten Gefahren. Treue basiert auf Vertrauen und Loyalität. Tapferkeit habe ich ja bereits als Kardinaltugend dargestellt. Weil diese Tugend aber die klassische Soldatentugend darstellt, will ich sie noch etwas genauer ausführen. Sie gilt als fester Bestandteil der soldatischen 106 Leutnantsbuch Treuepflicht. Hier wird dem Soldaten verdeutlicht, dass er in Überwindung persönlicher Angst handeln soll und im äußersten Fall auch sein Leben für die durch ihn zu verteidigenden Güter einsetzen muss. Tapferkeit ist damit ein Ziel der Erziehung und Selbsterziehung des Soldaten, dessen Wille zur treuen Pflichterfüllung stärker als die Furcht ist. Die Verteidigung von Recht und Freiheit macht somit den Einsatz des ganzen Menschen notwendig. Die soldatischen Tugenden ergeben damit eine Norm für den Soldatenberuf mit Gesetzescharakter. Und es gibt selbstverständlich – wie Sie schon festgestellt haben – eine Menge weiterer Tugenden. Ich habe mir einmal ein paar aufgeschrieben, was mir dabei noch so in den Sinn gekommen ist. Und weil mir dazu eine Systematik schwer fällt, habe ich sie einfach alphabetisch geordnet.“ Hauptmann Seidel kramt in seiner Tasche, zieht einen Zettel heraus und liest vor: „Achtsamkeit, Anständigkeit, Aufgeschlossenheit, Aufmerksamkeit, Aufrichtigkeit, Ausdauer, Ausgeglichenheit, Barmherzigkeit, Beharrlichkeit, Bescheidenheit, Besonnenheit, Beständigkeit, Dankbarkeit, Demut, Disziplin, Durchsetzungswille, Echtheit, Ehrlichkeit, Entschlossenheit, Fairness, Flexibilität, Geradlinigkeit, Gelassenheit, Großmut, Güte, Hingabe, Höflichkeit, Kritikfähigkeit, Lernfähigkeit, Menschlichkeit, Mitgefühl, Mitleid, Mut, Objektivität, Offenheit, Opferbereitschaft, Ordnungssinn, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Rechtschaffenheit, Respekt, Sachlichkeit, Sauberkeit, Selbstbeherrschung, Selbstlosigkeit, Sparsamkeit, Solidarität, Taktgefühl, Tatkraft, Toleranz, Unbestechlichkeit, Unparteilichkeit, 107 Leutnantsbuch Verantwortungsbewusstsein, Vernunft, Verschwiegenheit, Vertrauen, Wahrhaftigkeit, Zurückhaltung. Die Liste ist sicher nicht vollständig und Sie können sich ja selbst überlegen, welche Tugenden Ihnen noch fehlen. Wichtig ist: Mit der Beschreibung der eigenen Persönlichkeit, den Werten und Tugenden ist die eigene Wahrnehmung abgeschlossen. Lassen Sie mich noch einmal zu den Aufforderungen zurückkommen, die ich in Bezug auf die Selbstbestimmtheit genannt hatte. Ich habe da noch ein paar mehr. 4. Akzeptiere Dich! Nimm Dich so an, wie Du wirklich bist! Die Selbstwahrnehmung ist die eine Seite der Medaille, die aber nichts ist ohne die andere Seite, das Annehmen der eigenen Persönlichkeit mit ihren verinnerlichten Werten, Überzeugungen und Tugenden. Sich zu akzeptieren, wie man wirklich ist, bedeutet nicht, vor weniger ausgebauten Fähigkeiten oder gar Schwächen zu resignieren. Die Aufforderung zur Selbstakzeptanz meint, Stärken und Schwächen richtig einzuschätzen, das Entwicklungspotenzial der eigenen Persönlichkeit zu erkennen und auf angemessene und sinnvolle Weise damit umzugehen. Nur wenn ich mich selbst annehme, gewinne ich an Selbstvertrauen und kann auch andere mit ihren Stärken und Schwächen annehmen. Tue ich dies nicht, besteht in hohem Maße die Gefahr, an der Erfüllung meiner Aufträge zu scheitern. 108 Leutnantsbuch Oftmals stelle ich fest, dass man sich mit anderen Soldaten vergleicht. Der ist besser oder schlechter als ich. Mein Selbstwert oder auch meine innere Freiheit sollten aber nicht aus dem Vergleich mit anderen entstehen, sondern aus eigener realistischer Einschätzung dessen, was ich tatsächlich will und kann. Diese Art der Selbstbeurteilung ist schwer und erfordert intensives Nachdenken über die eigene Person und ihr Verhalten. Eine Portion Humor oder etwas Selbstironie können dabei hilfreich sein. Daher gilt: Sei echt und glaubwürdig, verstelle Dich nicht, sonst wirst Du unter Belastung und extremen Bedingungen scheitern, möglicherweise sogar Dein Leben und das anderer Menschen gefährden. 5. Genüge Dir selbst! Mit dieser Aufforderung will ich die Kardinaltugend der Mäßigung nochmals aufgreifen, da ich sie gerade in der heutigen Zeit, in der die Möglichkeiten scheinbar grenzenlos sind, für sehr gefährdet halte. Ich möchte deutlich machen, dass wir eine eigene ausbalancierte und gefestigte Position entwickeln müssen. Dies bedeutet immer auch, die Extreme zu meiden, sich zu mäßigen und nicht jedem Trend ungeprüft zu folgen. Maß halten ist dabei die Tugend, die alles in eine verantwortungsvolle Richtung lenkt. Für mich bedeutet „Genüge Dir selbst“ konkret Folgendes: - Die eigenen Bedürfnisse und Wünsche gut kennen, sie steuern und kontrollieren können. Ich muss nicht alles haben, nicht alles sofort haben, nicht jedem Trend oder jeder „Modetorheit“ folgen. - Entspannungsmomente bewusst nutzen, Zeit mit mir allein verbringen und so Abstand zu meinen Aufgaben gewinnen. Gelassenheit den Dingen gegenüber entwickeln, die nicht in meiner Hand sind. 109 Leutnantsbuch - Die eigene Leistungsfähigkeit und ihre Grenzen gut kennen, realistische Erwartungen haben und keine überzogenen Ansprüche stellen. 6. Behalte die Kontrolle! Ich habe bereits mehrfach gesagt, dass das Nachdenken und die Kontrolle des eigenen Verhaltens für uns als Offiziere besonders wichtig sind. Damit meine ich, dass ich mein Verhalten ständig beobachten, Beweggründe erkennen und mein konkretes Handeln im Umgang mit Menschen analysieren muss. Nur auf diese Weise kann ich mich weiterentwickeln und den anvertrauten Soldaten gerecht werden. Dies bedeutet manchmal auch, Distanz gegenüber den Dingen zu besitzen und vorschnelle Reaktionen zu vermeiden. Zusammenfassend auf den Punkt gebracht kann man sagen: „Sei wie Du bist!“ – eine selbstbestimmte Persönlichkeit. Das ist der erste Schlüssel zur Führungskunst, ein steiniger lebenslanger Weg mit vielen Höhen und Tiefen, den man aber als Offizier mit Führungsverantwortung frühzeitig antreten muss. Nur wer sich selbst führen kann, kann auch andere Menschen führen. Und im Sinne der Inneren Führung möchte ich dazu noch ergänzen: Wer Menschen führen will, muss Menschen mögen.“ Hauptmann Seidel blickt uns nach diesen Ausführungen der Reihe nach an. Es herrscht eine fast feierliche Stille. Wir hören nur das Gekritzel von Cindy, die angefangen hat, sich einige Notizen zu machen. „Sie brauchen sich das nicht aufzuschreiben“, sagt Hauptmann Seidel. „Ich habe vor einigen Monaten ein paar Notizen dazu gemacht. Kein Vortrag oder so, einfach nur ein 110 Leutnantsbuch paar Stichworte. Das gebe ich Ihnen gerne mit, vielleicht können Sie ja mal einen kleinen Vortrag daraus entwickeln. So etwas kann man immer gut gebrauchen – besonders im Kameradenkreis. Schließlich sind Sie nicht alleine als Offizieranwärter!“ Nach einer kurzen Pause kommen wir „geplättet“ in den Kompaniebesprechungsraum zurück. Hauptmann Seidel lächelt uns an und sagt: „Lassen Sie sich nicht entmutigen durch meinen theoretischen Vortrag! Denken Sie an die vielen Geschichten, die wir gestern ausgetauscht haben. Daran können Sie all das messen, was ich Ihnen eben zu erklären versucht habe. Außerdem geht das Leben weiter! In vierzig Minuten stehen Sie vor der Front auf dem Formalausbildungsplatz! Da müssen Sie konzentriert sein. Auf geht’s!“ Annette, Peter, Markus, Jonas, Marcel, Cindy und ich bedanken uns bei Hauptmann Seidel, auch wenn wir noch nicht alles verarbeitet haben. „Herr Hauptmann, Sie hatten angeboten, uns Ihre Notizen verfügbar zu machen. Wir sind ja nur noch kurze Zeit hier. Wäre es möglich, dass wir die Unterlagen noch in dieser Woche bekommen?“ „Kein Problem“, antwortet Hauptmann Seidel mit einem Blick auf seine Uhr. „Sie müssen los, sonst wird es eng für die Formalausbildung!“ Dann scheucht er uns aus dem Besprechungsraum. 111 Leutnantsbuch Offizieranwärter Frank Im Restaurant H eute ist Donnerstag und Offizierweiterbildung stand auf dem Ausbildungsprogramm. Wir haben das Blüchermuseum in Kaub am Rhein besucht und bei einer Geländebesprechung den Blücherschen Rheinübergang in der Neujahrsnacht 1814 nachvollzogen. Uns war gar nicht bewusst, dass die Befreiungskriege (1813–1815) eine der Traditionslinien der Bundeswehr sind. Annette, Peter, Markus, Jonas, Michael, Cindy und ich sitzen am Abend mit den Teilnehmern der Weiterbildung in der „Bachforelle“, einem kleinen und netten Restaurant in Kaub und lassen den Ausbildungstag ausklingen. Heute war viel von Tapferkeit die Rede gewesen und wir erinnern uns an den Vortrag von Hauptmann Seidel vor wenigen Tagen im Besprechungsraum der 3. Kompanie, als er von der Kardinaltugend „Tapferkeit“ sprach. „Ja, das stimmt“, ergänzt an dieser Stelle der Kommandeur, der sich zu uns an den Tisch gesetzt hat, „auch in unserer Bundeswehr haben wir genügend Beispiele, von denen wir etwas über Tapferkeit lernen können“. Dann fragt ein Hauptmann, der neu an den Tisch gekommen ist: „Wie kommen Sie denn auf den Begriff der Tapferkeit? Ich habe vorhin schon das ein oder andere Gespräch aufgenommen, das unsere jungen Offizieranwärter hier geführt haben.“ Hauptmann Seidel ergreift das Wort. „Wenn Sie erlauben, Herr Oberstleutnant“, wendet er sich an den Kommandeur und fährt fort: „Wir, das heißt diese Offizieranwärter hier 112 Leutnantsbuch und ich, haben schon einige Male zusammen gesessen und uns über das Besondere unseres Berufes unterhalten. Eigentlich fing alles ganz harmlos an, als sie mich fragten, was mein berufliches Selbstverständnis sei. Seitdem haben wir während verschiedener Gespräche mit anderen Offizieren immer wieder Erlebnisse ausgetauscht, die das Besondere am Offizierberuf ein wenig verdeutlichen. Und gerade heute, als Herr Schmidt, der Museumsführer, uns sehr bewegend von den Ereignissen während der Befreiungskriege erzählte, kamen wir auf den Begriff Tapferkeit zu sprechen.“ „Ach so“, antwortet der Hauptmann und legt seine Stirn ein wenig in Falten. „Aber Recht gebe ich Ihnen, Herr Oberstleutnant! Tapferkeit als soldatische Tugend erleben wir auch in unserer Bundeswehr – und das nicht nur in den Einsätzen!“ Der Kommandeur, der gerade sein Essen bestellt hat, ermuntert alle am Tisch, ein Erlebnis oder eine kleine selbst erlebte Geschichte zu erzählen. Er meint, das sei eine gute Gelegenheit, einmal über Tapferkeit nachzudenken. Fast hört sich das wie ein Auftrag an, entsprechend ruhig bleibt der Tisch. Der Kommandeur schaut in die Runde. Endlich meldet sich ein Oberleutnant zu Wort. „Ich weiß zwar nicht einhundertprozentig, ob der Begriff Tapferkeit passt, aber ein Erlebnis hatte ich, das ich gerne erzählen möchte.“ Und so beginnt erneut der Austausch eigener Erfahrungen. Erlebnisse werden erzählt, dazwischen wird kurz diskutiert. Meistens aber bleiben die kleinen Geschichten für sich im Raum stehen und wirken aus sich heraus. Dann folgt der erste Bericht … 113 Leutnantsbuch Der Feuerkampf J eder Einsatz ist anders, aber seit vielen Monaten ist die Bedrohung für deutsche Soldaten im Einsatz für ganze Kontingente, für alle Soldaten mit ihren unterschiedlichen Funktionen und Aufgabenbereichen, unmittelbar, ja fast schon hautnah geworden. „Rocket attack, rocket attack” schallt es auch immer wieder durch die Unterkünfte der Soldaten des PRT Kunduz, wenn, zumeist nachts, Aufständische Raketen oder Mörser auf Soldaten des internationalen Wiederaufbauteams abfeuern. Insbesondere die Raketen mit ihrem teilweise unheimlichen Heulen sorgen für Unruhe, klingen sie doch wie das tödliche „Konzert“ der Stalinorgeln, das wir nur aus alten Kriegsfilmen kennen. Das Gefühl der Ohnmacht, überrascht zu werden, nur eingeschränkt aktiv der Bedrohung entgegentreten zu können und nicht zuletzt die Feigheit der Terroristen lässt gelegentlich fast verzweifeln. Tod und Verwundung rücken in realistische Nähe. In dieser Lage waren besonders die Späher mit ihren Spähtrupps gefordert, Aufklärungsergebnisse zu gewinnen und das Lagebild zu verdichten, um so den Gegner stellen zu können. In einer Nacht verlässt ein verstärkter Spähtrupp wieder einmal das PRT Kunduz, um mögliche Raketenabschussstellungen aufzuklären. Nach über zwei Stunden klärt ein FENNEK etwa zehn Personen auf. Sind das die vermuteten Aufständischen oder doch einfach nur harmlose Bauern? Teilweise arbeiten die Bauern in Afghanistan aufgrund der Temperaturen bis tief in die Nacht hinein. Traktoren rumpeln über die Felder bis weit nach Mitternacht – aber zehn Personen? 114 Leutnantsbuch Vielleicht verabschieden sich die Männer nur nach beendeter Arbeit voneinander und verabreden sich für den morgigen Tag. Und in der Tat, die Gruppe trennt sich. Einige gehen in ein nahegelegenes Gehöft, andere bewegen sich in Richtung der Spähtruppstellung. Der satte Vollmond erleuchtet das durchschnittene Gelände. Schatten huschen über die trockenen Felder, die für den Winter vorbereitet werden. Viele tausend Meter entfernt sieht man durch die Restlichtverstärker die Scheinwerfer der Traktoren, die monoton hin und her fahren. Schließlich bewegt sich eine Gruppe von etwa vier Personen 800 Meter ostwärts der FENNEK. „Hoffentlich werden wir nicht gleich doch noch aufgeklärt“, denkt sich der Spähtruppführer. Zum Glück verschwinden die Personen in einem Hohlweg und in der nächsten Stunde bewegen sich nur noch kleine Punkte im Wärmebildgerät: wahrscheinlich die Köpfe, die sich im Hohlweg immer hin und her bewegen. Die Bediener der FENNEK nutzen professionell die Fähigkeiten ihrer Beobachtungsausstattung aus. Zwei Personen im Hohlweg graben, zwei Personen gehen ständig hin und her. Der Spähtruppführer beurteilt die Lage: Dort wird entweder ein Wassergraben ausgebessert oder doch ein Angriff vorbereitet. Die übergeordnete Führung wird jetzt in kurzen Abständen über die Lageentwicklung informiert. Vorerst werden keine weiteren Kräfte an die aufgeklärten Personen herangeführt. Eine Reserve steht westlich rund 40 Minuten Geländefahrt entfernt bereit, um gegebenenfalls zu unterstützen. Die Personen weichen auf einmal aus, sie rennen förmlich auseinander. „Jetzt sind wir doch aufgeklärt worden“, ruft jemand. Aber bereits nach einigen Minuten tauchen sie an anderer Stelle, jetzt 600 Meter ostwärts des Spähtrupps wieder auf. Und wieder können nur die vermuteten Köpfe in einem Hohlweg aufgeklärt werden. Der 115 Leutnantsbuch Spähtruppführer lässt jetzt einen Zweimanntrupp absitzen. Dieser nähert sich bis auf 400 Meter an. Zwei quer verlaufende Hohlwege trennen den abgesessenen Spähtrupp und die Personen. Gespräche werden aufgeklärt, immer wieder leuchtet kurz der Schein von Taschenlampen auf. Es sind wohl doch Bauern. Aber wenn es keine Bauern sind, was passiert im Feuerkampf mit den beiden abgesessenen Soldaten. Also Aufnahme der Soldaten durch den DINGO, der Spähtrupp bleibt mit Wärmebildgerät am Feind, oder Bauern, oder Feind ... In einem ist sich der Spähtruppführer sicher: Er ist noch nicht aufgeklärt worden, jede eigene Bewegung muss vermieden werden. Und der Spähtrupp wird bestehen – so oder so. Alle Waffen sind bereits auf den Hohlweg gebracht – für den Fall, dass die Bauern doch „nebenberuflich“ Aufständische sind. Der Spähtruppführer ist auf sich allein gestellt. Er trifft die Entscheidungen vor Ort, er führt seine Männer im Gefecht, er trägt für seinen Entschluss, für sein Handeln und das Handeln seiner Männer die Verantwortung. Auf einmal schlagen grelle Flammen aus dem Hohlweg. Der Spähtruppführer befiehlt allen verfügbaren Kräften eine Feuerzusammenfassung auf den Hohlweg. Die Granatmaschinenwaffe, über die der Spähtruppführer bei seinem eigenen FENNEK verfügt, speit ihre Granaten aus; kurze Flugzeit und überall im Hohlweg detonieren die Flugkörper, die überall Staubwolken aufwirbeln. Absicht des Spähtruppführers ist es, mit der Granatmaschinenwaffe die Raketen, die jetzt gestartet werden sollen, aus ihrer Abschussposition zu bringen. Gleichzeitig sollen die MG des Alpha-Wagens und des DINGOs die feindliche Sicherung niederhalten oder vernichten. Die erste Rakete rauscht heulend los! Sie ist wie die anderen auch bereits aus der Position gebracht worden und geht scharf tief nach Süden ab. Plötzlich saust ein Feuerball ein, zwei Meter 116 Leutnantsbuch oberhalb der FENNEK über die Stellung. „RPG-Beschuss“, dröhnt es auf dem Funkkreis. Der Spähtruppführer selbst leitet den Feuerkampf über Luke. Der Feind hat sich im Zuge des Hohlweges in die Flanke des Spähtrupps verschoben. Die Raketen wurden mit Brennpapier gezündet, wie die Untersuchungen am Folgetag ergaben – die Aufständischen hatten also Zeit gehabt, auszuweichen. Durch die überraschenden Granaten sind sie zum Feuerkampf gezwungen worden. Das MG-Feuer wird auf die Stelle des RPG-Abschusses gelenkt. Kraftfahrer klären Dreckspritzer vor dem FENNEK auf. Der Spähtruppführer hört Geräusche, die ihm vertraut vorkommen: „Das klingt hier oben wie im Schusskanal auf der Schießbahn. Ich glaub’, die schießen mit Kalashnikoff (AK)!“ Immer wieder sausen die Raketen über den Stellungsbereich. Jetzt kommt es auf die kleine Kampfgemeinschaft an. Auch wenn es am Funk gelegentlich laut wird – professionell beziehen die Besatzungen mit ihren Fahrzeugen Wechselstellung. Der Feuerkampf wird weiter geführt. Der Feind wird zum Ausweichen gezwungen. Der Spähtrupp löst sich in einem Zuge und nimmt Verbindung mit der Reserve auf. Erneut tritt er der Reserve voraus auf die Abschussstelle an. Der Feind war geflüchtet, der Spähtrupp aber verblieb zur Überwachung bis zum Morgen in der Stellung. Mit Entschlossenheit und Initiative sind Raketen in dieser Nacht vom PRT Kunduz abgelenkt worden. Umsicht und Selbstvertrauen, verbunden mit soldatischer Professionalität, haben den Feind geworfen. HI 117 Leutnantsbuch Die Bedrohung hat sich seit dem Ende des „Kalten Krieges“ erheblich gewandelt. Sie ist asymmetrisch geworden. Die eigene Truppe kämpft nicht mehr am Vorderen Rand der Verteidigung (VRV), sondern wird von Terroristen und feindlichen Kräften bedroht, die sich in ihrer jeweiligen Umgebung bewegen wie „Fische im Wasser“. Umso mehr ist die Urteilsfähigkeit, zugleich aber auch die Entschlossenheit und Initiative jedes einzelnen Führers, in einem schwierigen Umfeld zu entscheiden, genauso gefragt wie die Professionalität und Befähigung zum Kampf jedes einzelnen Soldaten. Insofern haben sich Rahmenbedingungen und Umfeld verändert. Die Grundtugend, mit der die unterschiedlichen soldatischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammengeführt werden, ist aber geblieben, wie bei diesem verstärkten Spähtrupp in vielen Nächten im Raum Kunduz: Die „kleine Kampfgemeinschaft“ lebt von Kameradschaft, Zusammenhalt und gegenseitigem Vertrauen. 118 Leutnantsbuch Das Funkloch I ch war als junger Leutnant mit der Schutzkompanie im Raum Kunduz eingesetzt. Es war mein erster Auslandseinsatz. Es war ein sonniger und recht warmer Tag, nicht wie die anderen Tage zuvor, an denen es regnete und der Winter noch in den letzten Zügen steckte. Unser Kontingent näherte sich langsam dem Ende und es war verlockend den einen oder anderen Gedanken an die Heimat zu verlieren und wie es sein würde endlich wieder daheim zu sein. Ich hatte bereits am Vorabend von meinem Auftrag erfahren und war in guter und gespannter Erwartung, weil mir das Gebiet, in das uns die Patrouille führen sollte, gänzlich unbekannt war. Nie zuvor hatte ich mich mit den mir unterstellten Soldaten so weit ostwärts von Kunduz bewegt. Es sollte eine zweitägige Patrouillenfahrt werden, bei der wir zwei Kameraden der J2-Abteilung mit zwei Fahrzeugen der Schutzkompanie begleiten sollten. Im Anschluss an das Frühstück machten wir uns auf den Weg zu unseren bereits vorbereiteten Fahrzeugen. Die Kraftfahrer prüften nochmals, ob alles an den WÖLFEN in Ordnung war, während ich mich mit dem Rest bereits auf die von mir durchgeführte Befehlsausgabe vorbereitete. Ich ging wie immer alle Punkte systematisch durch, bis dann der Oberstabsfeldwebel der J2Abteilung zu Wort kam. Es ging ihm hier um ein Profil einer Ortschaft und das Pflegen von Kontakten zur Bevölkerung. Ein wesentlicher Punkt der Befehlsausgabe war die Verbindung der Patrouille zum Gefechtsstand, die über das örtliche Handynetz gehalten werden sollte. Es wurde mir auf Nachfrage versichert, dass in dem Bereich, in dem wir 119 Leutnantsbuch unterwegs sein würden, eine Netzabdeckung vorhanden sei. Sollte die Verbindung abbrechen, sei die Patrouille abzubrechen und ins Feldlager zurückzukehren, so die Auflage. Nachdem ich mich abgemeldet hatte, fuhren wir aus dem Feldlager und verließen die Stadt über die Hauptverbindungsstraße Richtung Osten. Es sollte eine lange und beschwerliche Fahrt werden. Ich setzte wie üblich stündlich eine Meldung an den Gefechtsstand ab und wir legten Kilometer für Kilometer ohne Zwischenfälle zurück. Als wir die gut ausgebaute Straße verließen, kamen wir langsamer, aber dennoch stetig voran. Bald danach aber bemerkte ich, dass über das Handy kein Empfang mehr möglich war. Dies war Anlass für mich, den Rest der Patrouille bei einem von mir befohlenen technischen Halt darüber zu informieren. Der Oberstabsfeldwebel meldete, dass sich nach seiner Kenntnis im Ort etwa drei Kilometer vor uns eine Polizeistation befinde und schlug vor, dort eine Verbindungsaufnahme zu versuchen. Dies erschien mir zweckmäßig, da sich die Ortschaft auf einem Höhenrücken erstreckte und ich die Möglichkeit sah, dort auch mit dem Handy Empfang zu haben. Ich machte aber deutlich, dass die Patrouille abzubrechen sei, sollte die Wiederherstellung der Verbindung nicht gelingen. Diese Aussicht erregte merkbar das Missfallen des Kameraden. Wir fuhren zügig in die Ortschaft ein. Als wir die Polizeistation erreichten, saß wie gewohnt die Sicherung ab und mein Stellvertreter nahm Verbindung mit mir auf. Die Station war wie ein Gehöft aufgebaut, um die sich eine mannshohe Lehmwand zog. Wir waren uns einig. Mehr als zehn Minuten gaben wir dem Oberstabsfeldwebel und seinem Sprachmittler nicht, eine Möglichkeit zur Verbindungsaufnahme zu finden. Immer wieder machte ich mir Gedanken, was passieren würde, 120 Leutnantsbuch wenn jemand aus unserer Patrouille verwundet werden würde, oder noch Schlimmeres eintreten sollte. Diese Szenarien spielten sich wohl in all unseren Köpfen ab. Außerdem würden auch die Kameraden im Gefechtsstand unruhig werden und es würden eventuell zusätzliche Kräfte der Schutzkompanie in Marsch gesetzt. Der Oberstabsfeldwebel führte einige Gespräche und hantierte mit einem Funkgerät eines mir nicht bekannten Typs herum. Nachdem die von mir gesetzte Frist verstrichen war, befahl ich aufzusitzen und zügig Richtung Feldlager zu marschieren. Dies wollten der Oberstabsfeldwebel und sein Sprachmittler nicht akzeptieren, aber ich machte ihnen deutlich, dass unser Auftrag unter der klaren Auflage „bestehende Verbindung zum Gefechtsstand“ erteilt wurde. So fuhren wir zügig den gleichen Weg, den wir gekommen waren, zurück. Obwohl wir die Strecke schon einmal zurückgelegt hatten, schien sie in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit kein Ende zu nehmen. Als das Handy dann endlich wieder Empfang andeutete, meldete ich mich im Feldlager. Es meldete sich dann eine mir vertraute Stimme. Sowohl die Kameraden im Gefechtsstand wie auch ich waren sehr erleichtert, denn wir hatten mit der Meldung fast eine Stunde Verzug. HI 121 Leutnantsbuch Ein Abweichen vom erhaltenen Auftrag ist an bestimmte Kriterien geknüpft. Diese waren in diesem Beispiel nicht erfüllt. Damit blieb für den Führer der Patrouille kein Raum für einen anderen Entschluss als den von ihm gefassten. Dieser war nachfolgend auch gegen Widerstände, durchzusetzen. Verdeutliche Deinen Führungsanspruch und lass’ Dich beraten, aber nicht beirren. Du entscheidest, Du verantwortest, Du führst! Beurteile genau das Risiko, das Du eingehst, bevor Du Deine Entscheidung triffst: erst wägen, dann wagen! Behalte dabei, wie hier richtigerweise geschehen, das Ganze stets vor seinen Teilen im Blick. 122 Leutnantsbuch Kameradschaft R ückblende: Kosovo – Feldlager Prizren – Sommer. Die Lage im Kosovo stellte sich uns damals als überwiegend ruhig und übersichtlich dar, die Menschen waren zumeist freundlich und entgegenkommend. Auch wenn überall das aufrichtige Bemühen um Frieden und Normalität förmlich greifbar war, sollte das Land in diesem Sommer noch nicht zur Ruhe kommen, denn in Mazedonien eskalierte die Lage, Auswirkungen vielfältiger Art beeinflussten auch das Kosovo. Die Lage war „ruhig, aber nicht stabil“. Wir verfolgten die Ereignisse in Mazedonien mit großer Sorge, denn ein Überschwappen der Gewalt war aufgrund der vielfältigen Verbindungen nicht auszuschließen wenn nicht sogar wahrscheinlich. So kam die zuweilen absurd anmutende Stimmung zustande, einerseits im Feldlager in relativem Frieden den Auftrag zu erfüllen, andererseits mit großer Sorge nach Süden zu blicken. Häufig war gerade diese widersprüchliche Situation Gegenstand von Gesprächen auch abends im Kameradenkreis. Den berühmten „freien Kopf“ sowie Ablenkung verschaffte mir der Sport und so lief ich nahezu jeden Morgen mit einem Kameraden, der ebenfalls aktiver Läufer war, noch vor dem Frühstück meine Runden im Feldlager, auch wenn dies sehr frühes Aufstehen von uns verlangte. Dafür hatten wir dann aber die Laufstrecke fast für uns alleine. An jenem Morgen regnete es in Strömen, die Sicht war schlecht und das Lager wirkte wie ausgestorben. Auf Höhe des geschotterten Kfz-Abstellplatzes, wo ein Teil der Strecke über einen flachen Wall führte, hörten wir einen Schuss brechen, aus dem Augenwinkel nahm ich eine Gestalt, offensichtlich einen unserer Soldaten wahr, der in 123 Leutnantsbuch Deckung ging, ca. 40–50 m entfernt. Auch wir gingen in Deckung, der Regen hatte einen Teil der Straße in einen kleinen Bach verwandelt. Beobachten war angesagt, aber wir konnten nichts Verdächtiges erkennen. Der Soldat lag noch immer vor uns, jedoch seltsam still und wie eingefroren. „Da stimmt was nicht“, sagte ich in der Annahme zu meinem Kameraden, der Soldat sei beschossen worden. Kurz blickten wir uns an und spurteten ohne vorherige Absprache gleichzeitig zu dem Soldaten. Sofort war klar, was hier geschehen war – er hatte sich selbst mit dem Gewehr in den Mund geschossen. Das war ein schrecklicher Anblick, wie er im strömenden Regen so vor uns lag. „Ich hole Hilfe“, sagte mein Kamerad. Ich selbst kümmerte mich um den Soldaten: Puls und Atmung überprüfen, danach stabile Seitenlage und ständiges Ansprechen. Schnell war jedoch klar, dass die Verletzungen wohl zu schwer waren. Da die Frühstückszeit näher kam, nahm auch der Personenverkehr zu, jedoch war die Masse ganz offensichtlich froh, dass sich schon jemand um den Soldaten kümmerte. Sein Atem wurde immer schwächer und unregelmäßiger, setzte schließlich ganz aus. Genau in diesem Moment kam der Rettungsarzt und übernahm sofort. Er konnte den Soldaten zwar wieder reanimieren, aber dennoch verstarb dieser dann einige Tage später in Deutschland. Insgesamt war ich wohl zehn Minuten alleine mit dem Kameraden, zehn Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen. Voller Blut wie ich war, ging ich in meine Unterkunft. Jeder, der mir begegnete, machte einen großen Bogen um mich. Doch in der Unterkunft warteten meine Kameraden auf mich, ich wurde nicht bedrängt, aber sie waren da. Nachmittags dann „der offizielle Part“, Vernehmungen, Zeugenaussagen, Skizze erstellen und vieles mehr. Dann folgten Gespräche mit dem Psychologen, dem Pfarrer und 124 Leutnantsbuch dem Kommandeur. Sie bemühten sich aufrichtig um mich, im Grunde genommen kannte ich sie aber kaum. Den Abend verbrachte ich dann wieder im engsten Kameradenkreis und ihnen konnte ich mich dann auch richtig öffnen. Schließlich kannte ich sie schon aus meinem Heimatverband. Bis in die Nacht sprachen wir die Ereignisse immer wieder durch, spät ging es zu Bett. Ich habe in dieser Nacht tief und fest geschlafen, auch in der Folge erlebte ich keine „Flashbacks“ oder andere Auffälligkeiten an mir. Rückblickend kann ich feststellen, dass mir das Verarbeiten der Geschehnisse im Kameradenkreis mehr gebracht hat als das Aufarbeiten durch Fachpersonal, so wichtig und zwingend erforderlich das ebenfalls ist. Der Zusammenhalt in der Gruppe, das persönliche Kennen, letztlich die Kameradschaft waren es, die mir Halt gaben. Daher kann ich feststellen: Kameradschaft gibt es auch heute noch und sie hat nichts von ihrer Bedeutung verloren. Der Führer, der angesichts der fortschreitenden Technisierung in allen Bereichen diese Erkenntnis nicht frühzeitig verinnerlicht und lebt, wird sich nach meiner festen Überzeugung im Extremfall schwer tun. HI Betreuung und Fürsorge, wie sie durch Vorgesetzte, Experten und Einrichtungen der Bundeswehr geleistet werden, sind wertvolle Beiträge, um vor allem im Einsatz Betroffenen Hilfe und Beistand zu leisten. Unabhängig davon ist es aber vor allem eine gelebte Kameradschaft, die in solchen Situationen verbindet und trägt. Den Zugang zu Menschen, die Extremes erlebt haben und dadurch starken Belastungen ausgesetzt wurden, findet jedoch meist nur, 125 Leutnantsbuch wer über Menschenkenntnis, Einfühlungsvermögen und Vertrauen verfügt. Der persönliche Kontakt und das vertrauensvolle Gespräch mit den Kameraden vermitteln Hilfe und Stärke. Sie sind durch nichts zu ersetzen. 126 Leutnantsbuch Die Todesnachricht E ines Morgens holte mich mein Kompaniechef in sein Büro und teilte mir mit, dass er demnächst für drei Monate auf Lehrgang ginge und ich als dienstältester Zugführer in diesem Zeitraum die Kompanie führen solle. Ich freute mich auf diese Tätigkeit, war aber auch ein wenig in Sorge, ob ich der Verantwortung gewachsen sein würde, die ich nun übernehmen sollte. Im Nachhinein betrachtet war das nicht unbegründet, wie sich recht bald herausstellen sollte. An einem Montag, einige Wochen nach der Übergabe, erreichte mich der Anruf des Vaters eines Grundwehrdienstleistenden in „meiner Kompanie“. Als der Name fiel, dachte ich, dass er seinen Sohn entschuldigen wollte, da sich dieser noch nicht zum Dienst gemeldet hatte. Er teilte mir mit, dass sein Sohn eine Panne mit seinem Fahrzeug hätte und deswegen etwas später zum Dienst erscheinen würde. Dieses sei jedoch nicht der eigentliche Grund seines Anrufs. Dann sagte er mir, dass kurz nach der Abfahrt des Sohnes die Familie erfahren habe, dass ihr zweiter Sohn bei einem Autounfall tödlich verunglückt sei. Da er nicht riskieren wolle, dass auch ihm etwas passiere, wenn er diese furchtbare Nachricht während der Fahrt zur Kaserne erführe, bat er mich, seinem Sohn die Nachricht vom Tod des Bruders erst nach Eintreffen in der Kaserne zu überbringen. Zusätzlich informierte er mich, dass auch der Großvater im Sterben läge und sein Sohn bereits deswegen in einem sehr labilen Zustand sei. Nach diesem Telefonat saß ich selber erst einmal geschockt im Büro und musste das Gehörte für mich verarbeiten, war ich doch nie in meiner Ausbildung auf 127 Leutnantsbuch eine derartige Situation vorbereitet worden. Zu meiner Ausbildung gehörte zwar die Beschäftigung mit dem Thema „Umgang mit Tod und Verwundung“, jedoch betraf das eher die eigene Person oder die Kameraden. Nie wurde ich darauf vorbereitet selber einmal eine Todesnachricht zu überbringen. Zudem war ich erstaunt und verwundert über das Vertrauen des Vaters, das er in mich setzte, indem er mich bat, diese Nachricht zu überbringen. Ungefähr 20 Minuten nach dem Telefonat meldete sich der betroffene Soldat bei mir im Dienstzimmer. Ich bat ihn herein und sagte ihm, er solle Platz nehmen. Seine Reaktion bestand aus einer hastig hervorgebrachten Entschuldigung und einer Erklärung, warum er zu spät zum Dienst erschienen sei. Ich beruhigte ihn, nahm direkt gegenüber von ihm Platz und erklärte ihm, dass ich aus einem anderen Grund mit ihm sprechen müsste. Denn vor einer halben Stunde habe sein Vater bei mir angerufen. Als er diese Worte hörte, brach er vor mir in Tränen aus und dachte, es ginge um seinen Großvater. Mir war es schwer gefallen, ihm zu sagen, dass sein Vater angerufen hatte, da ich nicht wusste, wie er reagieren würde. Als ich dann aber seine Reaktion sah, wurde es für mich fast unerträglich ihm das ganze Telefonat wiederzugeben. Ich rückte meinen Stuhl noch näher an ihn heran und begann, selber um Fassung ringend, ihm die Todesnachricht von seinem Bruder zu überbringen. Noch während ich ihm das erzählte, brach er in meinen Armen unter Tränen und Trauer zusammen. In diesem Moment selber die Ruhe zu bewahren um ihn trösten zu können, war eine der schwersten Situationen, mit denen ich mich während meiner Dienstzeit konfrontiert sah, aber auch eine der Wichtigsten. Worte können in so einem Moment fast nichts mehr bewirken, viel wichtiger war, dass der Soldat sah und spürte, dass jemand 128 Leutnantsbuch für ihn da war, der Anteil an dem nahm, was geschehen war und ihm dadurch etwas Halt geben konnte. Im Vorfeld hatte ich schon meinen Spieß eingeweiht, damit er ein Dienstfahrzeug bereitstellen konnte, in dem zwei gute Kameraden des betroffenen Soldaten saßen, die sich während der Fahrt nach Hause um ihn kümmern sollten. Nachdem er sich etwas gefangen hatte, begleitete ich ihn mit diesen zum Fahrzeug, mit dem er dann umgehend zu seinen Eltern gefahren wurde. Zurückblickend kann ich nur sagen, dass es für das Überbringen einer Todesnachricht keinen einfachen und einheitlichen Weg gibt. Es ist eine Situation, in der man versuchen muss, selbst Ruhe zu bewahren und das Geschehen nicht zu nahe an sich heran zu lassen, auch wenn beides sehr schwer fällt. Ich wünsche keinem Kameraden, einmal in eine solche Situation zu kommen. Wenn es dennoch passiert, so kann ich nur den Rat geben, sich einem guten Kameraden oder dem Militärgeistlichen anzuvertrauen, damit man beim Überbringen der Todesnachricht nicht alleine vor dem Betroffenen steht. Am Abend suchte ich dann selbst noch das Gespräch mit einem guten Freund und Kameraden und erzählte ihm, was vorgefallen war. Ich empfand es als sehr erleichternd, das Erlebte jemand anderem erzählen zu können. Er hörte mir dabei einfach nur in Ruhe zu. Nachdem ich geendet hatte, wurde mir bewusst, dass es mir sehr gut getan hatte, dieses Erlebnis noch mal wiederzugeben und so für mich zu verarbeiten. HI 129 Leutnantsbuch Sterben und Tod sind gerade durch die Einsatzrealität der Bundeswehr stärker in den Blick der Soldaten gerückt, als das noch vor wenigen Jahren der Fall war. Das Überbringen einer Todesnachricht gehört zu den schwierigsten Aufgaben, die auf einen Disziplinarvorgesetzten zukommen können. Dienstvorschriften wie die ZDv 10/8 „Militärische Formen und Feiern der Bundeswehr“ und die ZDv 10/13 „Besondere Vorkommnisse“ liefern hierfür lediglich formale und administrative Aspekte. Das Arbeitspapier des Zentrums Innere Führung „Umgang mit Verwundung und Tod im Einsatz“ bietet eine wertvolle Hilfestellung bei der Auseinandersetzung mit diesem schwierigen, aber notwendigen Thema. Als besonders hilfreich für derartige Situationen kann das Buch der Evangelischen Militärseelsorge: „Besonderes Vorkommnis: Der Tod – Überbringen einer Todesnachricht – eine Handreichung für den Überbringer einer Todesnachricht mit praktischen Hinweisen und Beispielen aus der Bundeswehr“ uneingeschränkt empfohlen werden. Insbesondere Checkliste und Schnellkurs lassen sich auch kurzfristig sowohl für die Ausbildung, als auch zum schnellen Nachschlagen sehr gut nutzen. Die Checkliste ist auch als Taschenkarte einsetzbar! Vor allem kommt es aber darauf an, auch in einer solchen außergewöhnlichen Situation, Ruhe zu bewahren, sich ein möglichst umfassendes Bild zu verschaffen und mit größtem Einfühlungsvermögen auf die Betroffenen einzugehen. Und jeder hat dafür Verständnis, wenn man dabei selbst um professionellen Beistand wie den Militärseelsorger oder den Truppenpsychologen nachsucht. 130 Leutnantsbuch Offizieranwärter Frank An der Offizierschule I nzwischen sind wir – die OA Mannschaft – schon fast alte Hasen. Wir sind an der Offizierschule des Heeres in Dresden, dem letzten Ausbildungsabschnitt vor Beginn unseres Studiums. Hauptmann Seidel haben wir seit unserem Truppenkommando nicht mehr gehört oder gesehen. Wahrscheinlich hat er genauso viel zu tun wie wir. Nur einmal, da haben wir über verschiedene Ecken erfahren, dass er wohl versetzt werden soll. Nach unserem Truppenkommando gingen wir gemeinsam in die Sprachausbildung nach Idar-Oberstein. Das war eine schöne Zeit – endlich einmal wieder mit Englisch beschäftigen. Nicht, dass ich kein Englisch könnte, aber die Praxis fehlt einfach. Und im Laufe der Zeit vergisst man natürlich auch das ein oder andere. Außerdem ist es ja wichtig für unser Studium, dass wir unsere Punkte für die neuen Bachelor- und Master-Studiengänge zusammenbekommen – und da ist die Sprachausbildung ein wichtiger Bestandteil. Heute ist Donnerstag, wir sitzen im Hörsaal und warten auf unseren Hörsaalleiter. Er hat sehr kurzfristig erfahren, dass er versetzt wird – leider, wie wir meinen. Das „Pferd“ im laufenden Rennen zu wechseln, geht meistens nicht gut! Aber egal. Mit dem Neuen – da sind wir uns einig – werden wir uns schon arrangieren. Noch wissen wir nicht, wer es ist. „Aachtung“, ruft der Hörsaalsprecher, als unser Hörsaalleiter den Raum betritt. Dann meldet er. Wir werden begrüßt, 131 Leutnantsbuch grüßen zurück. Der Hörsaalleiter erklärt, dass der „Neue“ gleich komme, er sei noch beim Inspektionschef. Plötzlich geht die Tür auf. Im Türrahmen – wir können es erst gar nicht glauben – steht Hauptmann Seidel. Getuschel unter unserer OA-Mannschaft. „Das kann doch nicht sein!“, flüstert mir Cindy in das linke Ohr. „Das ist doch nicht der Hauptmann!?“, ergänzt Markus, ebenfalls mit gedämpfter Stimme in das andere Ohr. „Doch, doch – das ist er, wie er leibt und lebt“, sage ich leise zu beiden, „aber mit einem Unterschied: Er ist Major!“ Na herzlichen Glückwunsch, denke ich, besser hätten wir es kaum treffen können. Mit Hauptmann, bzw. jetzt Major Seidel haben wir uns immer gut verstanden. Schnell legen sich meine Befürchtungen wegen des „Neuen“ und unser Hörsaalleiter stellt ihn uns vor. Major Seidel grinst uns ein wenig an. Ich denke, er wusste schon, dass wir in seinem Hörsaal sind. Bestimmt hat er die Liste der Lehrgangsteilnehmer gründlich studiert. Wenn ich so an die Zeit des Truppenkommandos zurückdenke, kommt es mir vor, als wären Jahre vergangen. Ich kann es kaum glauben, dass jetzt Major Seidel wieder vor uns steht. Das trifft sich gut, denke ich, denn im Truppenkommando hatte er uns versprochen, seine „Theorie“ weiter zu erläutern und uns seine „Schriften“ mitzugeben. Zu beidem ist es aber damals nicht gekommen, es war einfach zu viel los im Bataillon. Er hatte sich auch dafür entschuldigt und gesagt: Man sieht sich immer zweimal im Leben! 132 Leutnantsbuch Jetzt werden wir ihn festnageln, denke ich, und nicht locker lassen, bis wir alles wissen. Während der Sprachausbildung hatten wir noch ein paar Mal darüber gesprochen, dass es schön gewesen wäre, wenn unser Fähnrichoffizier die „Sache zum Abschluss“ gebracht hätte. Jetzt ist es soweit! In der Pause begrüßt uns Major Seidel herzlich, unsere Namen hat er jedenfalls nicht vergessen. Und er hat auch nicht vergessen, dass er uns noch „etwas schuldet“, spricht uns gleich darauf an. „Wenn Sie Lust haben, dann setzen wir uns am Montagabend wieder nett im Kasino zusammen“, sagt Major Seidel kurz vor Ende der Pause. „Ich habe zwei Freunde hier getroffen, mit denen ich mich verabredet habe. Die kennen unsere berühmten „Erlebnisabende“, habe ihnen davon erzählt. Ich wette, da kommt noch mehr zusammen.“ Wir sind begeistert, sagen zu und verabreden uns für neunzehn Uhr am kommenden Montag im Kasino. Dabei vergessen wir nicht, ihm zur Beförderung zu gratulieren. Später dann: „Major Steegemann“, stellt sich der Herr Major vor. Er ist einer von den beiden Freunden, die Major Seidel angekündigt hatte. Der andere heißt Major Krause. Wir sind im Kasino und freuen uns auf den Abend. Major Steegemann scheint erst kürzlich aus einem Einsatz zurückgekommen zu sein. Er hat schon angedeutet, dass er hiervon eine Menge zu berichten hat. Major Krause ist nur zufällig in Dresden. Er hat sich mit seiner Frau ein 133 Leutnantsbuch „kinderloses“ langes Wochenende gegönnt, und fährt erst morgen an seinen Standort zurück. „Major Seidel hat mir schon viel von Ihnen erzählt“, sagt Major Krause. „Ich kann Ihnen sagen, dass ich mir auch schon das ein oder andere Mal die Frage gestellt habe, was das Besondere an unserem Beruf ist. Am Anfang meiner Dienstzeit sogar ziemlich oft. Ich hätte damals gerne einen Ansprechpartner gehabt, mit dem ich einmal unser berufliches Selbstverständnis hätte besprechen können. Das war aber leider nicht so.“ Nach einer Weile, in der wir unsere Erlebnisse der zurückliegenden Wochen und Monate ausgetauscht haben, sagt Major Seidel: „Wie sieht es denn aus bei Ihnen, haben Sie noch ein offenes Ohr für ein paar Erlebnisse. Ich würde da gerne noch von einer Erfahrung berichten, die ich selbst gemacht habe und die gut in unsere Linie passt. Und Major Steegemann und Major Krause sicher auch.“ Peter sagt: „Natürlich Herr Major! Deswegen sitzen wir doch wieder zusammen! Allerdings muss ich gestehen, dass ich schon bald die vielen Erlebnisse nicht mehr auseinander halten kann. Wir haben schon soviel gehört …“ „Ja, das kann ich mir vorstellen“ sagt Major Seidel und ergänzt: „Ich habe sogar vor kurzem angefangen, einige meiner Erlebnisse aufzuschreiben – sozusagen ein persönliches Erlebnistagebuch. Mal sehen, was ich daraus noch mache.“ Dann beginnen die Anwesenden zu erzählen … 134 Leutnantsbuch Die etwas andere Patrouille! 6. November, 06.45 Uhr, ein Wintermorgen, irgendwo in Afrika. „Wo bin ich? Was mache ich hier?“ Das waren die ersten Gedanken, die mir nach dem Aufwachen durch den Kopf schossen. Langsam fiel es mir wieder ein: Ich befand mich in Kadugli, Südsudan, und war eingesetzt als Militärbeobachter im Auftrag der UN. Freitag, der „islamische Sonntag“, das heißt für uns normalerweise technischer Dienst an unseren Fahrzeugen und keine Patrouillen. Aber dieser Freitag war eine Ausnahme. Da sich unser Fahrzeug in der Instandsetzung befand, hatten wir uns etwas Besonderes überlegt: Eine Kamelpatrouille durch das Umland von Kadugli, um „Flagge“ zu zeigen. Alle Absprachen waren getroffen und so konnte es direkt nach der Morgentoilette und dem Frühstück losgehen. Pünktlich trafen wir, vier Militärbeobachter aus drei verschiedenen Nationen (Jemen, Norwegen, Deutschland), am vereinbarten Ort zur Übergabe der Kamele ein. Doch trotz aller Absprachen war unser Ansprechpartner nicht auffindbar. Pünktlichkeit ist eben nicht gerade eine sudanesische Tugend. Denn wir Europäer haben zwar die Uhr, die Afrikaner aber haben die Zeit! Nach zähen Verhandlungen gelang es unserem jemenitischen Kameraden aber trotzdem noch, zwei Kamele zu besorgen. Er teilte uns auf Grund unseres Gewichtes ein: Er und der Norweger auf einem Kamel und wir zwei Deutschen auf dem anderen. Gut gelaunt machten wir uns nun auf den Weg. Nach kurzer Zeit bemerkten wir, dass sich das andere Kamel außer Sichtweite befand. Kein Problem, dachten wir, denn wir kannten ja die Patrouillenroute und den nächsten Sammelpunkt. Zudem war das Gelände minenfrei und die 135 Leutnantsbuch Sicherheitslage ruhig und stabil. Allerdings mussten wir schnell feststellen, dass unsere Pläne so nicht realisierbar waren. Wir hatten nämlich vergessen, uns in die Führung eines Kamels einweisen zu lassen. Dies hatte zur Folge, dass das Kamel uns an der Nase herum führte, anstatt anders herum. Wir konnten weder bremsen noch lenken. Weder ein laut gerufenes „Brrrrrrr“ noch Ziehen an den Zügeln brachte den gewünschten Erfolg. Verbindungsaufnahme über Funk war auch nicht möglich, da wir uns krampfhaft mit beiden Händen festhalten mussten, um auf dem Kamel zu bleiben. Rufe, um die einheimische Bevölkerung auf unseren Missstand aufmerksam zu machen, waren ebenfalls nicht erfolgreich, im Gegenteil sogar kontraproduktiv, da die lauten Geräusche das Kamel immer mehr antrieben. Unsere einzige Hoffnung war, das Kamel würde irgendwann einmal vor Erschöpfung stehen bleiben. So trabten wir durch die Landschaft. Langsam verkrampften unsere Muskeln und innerlich „schloss ich mit meinen Leben ab“. Doch völlig unerwartet wendete sich die Situation zu unseren Gunsten. Abrupt hielt das Kamel an und begann an einem vertrockneten Busch zu knabbern. Diesen Augenblick nutzten wir, um waghalsig vom Rücken unseres Tragtieres abzuspringen. Endlich standen wir wieder auf festem Boden. Wir waren gerettet. Fast zeitgleich trafen auch unsere Begleiter ein. Gekonnt, mit einem gurgelnden Geräusch, brachte unser jemenitischer Freund sein Kamel zum Stehen. Nach einem weiteren kehligen Ton setzte sich das Tier sogar hin, sodass die Reiter keine Probleme hatten abzusteigen. Erstaunt über die Darbietung fragten wir unseren Kameraden nach den Kommandos für das Kamel, die dieser uns dann auch ausführlich erklärte. Aber selbst nach dieser Lehrstunde in menschlichen und tierischen Fremdsprachen war es für uns unmöglich, diese Kommandos wiederzu136 Leutnantsbuch geben. Während sich alle Anwesenden köstlich über unsere sprachlichen Unzulänglichkeiten amüsierten, begaben wir uns schließlich zu Fuß und frustriert mit dem Kamel an der Leine auf den Rückweg. Unser Kamelvermieter war sehr überrascht, als wir unsere Kamele bereits nach dreißig Minuten wieder zurückbrachten. Die Patrouille war zwar nur von kurzer Dauer gewesen, aber noch Wochen später wurden wir gefragt, ob wir die zwei verrückten Deutschen wären, die auf einem Kamel auf Patrouille waren. Wir hatten Flagge gezeigt und wurden dadurch zum lokalen Gesprächsthema Nummer eins. Mir machte unser Erlebnis klar, wie wichtig Fremdsprachenkenntnisse sind und dass immer eine gründliche Einweisung ins Transportmittel erfolgen sollte, vor allem wenn es sich dabei um ein Kamel handelt. HI Die hier dargestellte, etwas ungewöhnliche Art der Auftragsausführung soll und darf nicht über die tatsächlichen Rahmenbedingungen eines Einsatzes hinwegtäuschen. Einsätze sind so komplex wie das Einsatzland und die dortigen Zustände selbst. Aus einer vermeintlichen Idylle kann im nächsten Augenblick auch eine Katastrophe entstehen. Bei aller Neugier und Aufgeschlossenheit für die Besonderheiten eines Landes sollte dies niemals vergessen werden. Interkulturelle Kompetenz ist daher wie eine Lebensversicherung und hilft, einen Einsatz zu bestehen. 137 Leutnantsbuch Jointness W ie wäre es denn mit Diez an der Lahn? Da finde ich „ auf jeden Fall einen Dienstposten für Sie“, so mein Personalführer während des Einplanungsgesprächs an der Universität der Bundeswehr München. Auf mein fragendes Gesicht hin zückte er schnell seine Deutschlandkarte. „Zwischen Frankfurt am Main und Köln, direkt an der A3 und auch nicht weit weg von Ihrer Heimat.“ „Das hört sich doch gut an“, schoss es mir durch den Kopf, also willigte ich in die aufgezeigte Verwendungsplanung ein. Wenige Monate später meldete ich mich beim Personaloffizier des Regiments, ein sogenannter Heeresuniformträger mit schwarzer Litze. Ein Pionier also, daneben gab es noch zahlreiche Logistiker, doch etwa die Hälfte des Offizierkorps war, wie ich, in der Luftwaffe groß geworden. Meinen Platz fand ich erst einmal im S3-Bereich. Anhand einiger Präsentationen lernte ich das Regiment kennen. Neben Auftrag und Gliederung des Stabes gaben mir vor allem die unterstellten Verbände Rätsel auf: ein Versorgungs- und Ausbildungszentrum, ein Spezialpionierbataillon und zwei Logistikbataillone. Der S3-Offizier erklärte mir den Auftrag der Bataillone, er war ausgebildeter Nachschuboffizier und hatte somit fundierte Kenntnisse über das Regiment, das zur Streitkräftebasis gehört. Am Nachmittag des zweiten Tages gab es die erste Besprechung. Anlass war die Zusage der Bundesregierung, die Bundeswehr im Rahmen der Humanitären Hilfe in Südostasien einzusetzen. Dort hatte wenige Tage zuvor ein verheerender Tsunami gewütet, dem insgesamt mindestens 180.000 Menschen zum Opfer gefallen waren. 138 Leutnantsbuch Während der Besprechung hieß es dann: „Zur Koordination der Unterstützungsleistungen wird ein Lagezentrum eingerichtet. Leutnant M., der in dieser Minute davon erfährt, wird mit unserem wehrübenden Major dort eingesetzt.“ Da musste ich erst mal schlucken. Am nächsten Morgen ging es gleich los, zunächst das Büro einrichten, Computer besorgen und anschließen, Dokumente lesen und Verbindungen zu den Verantwortlichen im Einsatzführungskommando der Bundeswehr, dem Kommando Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst, der Flugbereitschaft in Köln-Wahn und den unterstellten Bataillonen knüpfen. Das Telefon klingelte. „Hier Oberstleutnant S. aus Banda Aceh. Schicken Sie mir mal die IATA per E-Mail.“ „Ja, ...“, dann riss die eh’ schon schlechte Verbindung ab. Der Rückruf hatte keinen Erfolg. Das Mobilfunknetz der indonesischen Insel war aufgrund der vielen Helfer überlastet. Ich hatte keine Ahnung, was IATA bedeutet und wo ich danach suchen sollte. Also begab ich mich auf die Suche nach jemandem, der mir weiterhelfen konnte. Im Bereich Materialbewirtschaftung traf ich auf einen Hauptmann, den ich danach fragte. „IATA ist die „International Air Transport Association“. Deren Bestimmungen sind für den weltweiten Flugverkehr verbindlich. Fragen Sie mal bei Verkehr und Transport nach“, so seine Antwort. Zwei Büros weiter der nächste Versuch: „Oberstleutnant S. hat mich gerade angerufen, er benötigt die Transportbestimmungen der IATA. Können Sie mir da weiterhelfen?“ „Klar hab ich die Bestimmungen, ich sende sie gleich an den Oberstleutnant.“ Nach nur zwanzig Minuten war die Vorschrift via Internet auf dem Weg um die halbe Welt nach Indonesien. 139 Leutnantsbuch Jeder Soldat hat sich bewusst für eine Teilstreitkraft oder eine Truppengattung entschieden, entweder weil er dort seiner Traumverwendung nachgehen kann oder von den Fahrzeugen, Schiffen oder Flugzeugen fasziniert ist. Jeder hat einen gewissen „Waffenstolz“ entwickelt und macht Witze über andere Bereiche. Jointness steht im Allgemeinen militärischen Sprachgebrauch für das Zusammenwirken der Teilstreitkräfte und militärischen Organisationsbereiche in einer Operation. Für die Streitkräftebasis bedeutet Jointness die Zusammenarbeit aller in der Streitkräftebasis eingesetzten Soldaten, gleichgültig ob Sie ursprünglich aus dem Heer, der Luftwaffe oder der Marine kommen. Es geht nicht darum, seine militärische Identität zu verlieren oder zu verleugnen, sondern sein Wissen an der richtigen Stelle einzubringen, alle davon profitieren zu lassen und gemeinsam Herausforderungen zu bewältigen. Nur so ist ein derart vielfältiges und facettenreiches Arbeitsfeld, wie die Logistik, zu bewältigen. HI Die Streitkräftebasis ist der zentrale militärische Organisationsbereich zur Unterstützung der Bundeswehr im Einsatz und im Grundbetrieb. Sie unterstützt die Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine sowie den Zentralen Sanitätsdienst der Bundeswehr durch die Wahrnehmung von Aufgaben, die streitkräftegemeinsam effektiver und effizienter erbracht werden können. Durch diese Konzentration werden die Teilstreitkräfte entlastet, Synergieeffekte genutzt und das Leistungsvermögen der Streitkräfte insgesamt gesteigert. Die Erfahrung, einer gemeinsamen Sache zu dienen und mit anderen zusammenzuarbeiten, stärken das Gemeinschaftsgefühl und die soldatische Identität. 140 Leutnantsbuch Der Brief D ie Telefonzellen waren wieder einmal alle belegt – bis auf die zwei, die schon seit einiger Zeit defekt waren. Niemand schien sich darum zu kümmern. Im Einsatz ist das besonders ärgerlich, weil die Verbindung nach Hause eine Bedeutung bekommt, die nur versteht, wer selber schon einmal für ein paar Monate im Einsatz war. Aus einer der Zellen kam Oberfeldwebel M. heraus und stapfte mit verdrießlicher Miene an mir vorbei. „Na, junger Kamerad“, sprach ich ihn an, „wie geht’s?“ Er schaute mich unsicher an und antwortete: „Wenn Sie’s wirklich wissen wollen – mir geht’s heute total beschissen. Und Sie können mir auch nicht helfen. Das ist was Privates.“ Es war bereits „Rec-time“, wie man heute im Einsatz zum Dienstschluss sagt. Daher lud ich Oberfeldwebel M., mit dem ich bereits in der Transall auf dem Herflug ins Gespräch gekommen war, zu einem Getränk in die OASE ein. Er willigte nach kurzem Zögern ein – sein Abend war offensichtlich eh’ schon verdorben und konnte nicht mehr schlechter werden. Auf dem Weg zur OASE kamen wir langsam ins Gespräch. Sein Anruf zu Hause war voll in die Binsen gegangen. Er hatte sich so auf die Unterhaltung mit seiner Frau gefreut und auf die Stimme seines kleinen Sohnes, der am Ende immer noch etwas ins Telefon plappern durfte. Stattdessen hatte sich der Junge eine schwere Erkältung zugezogen und hustete erbärmlich. Und die Frau war von Anfang an gereizt gewesen. Sie hatte wegen der Erkrankung des Kindes die ganze Nacht nicht geschlafen und schließlich am Telefon geweint, weil sie sich überfordert und alleingelassen fühlte. Sie war wohl mit ihren Nerven ziemlich am Ende und dann hatte irgendwie ein Wort das 141 Leutnantsbuch andere gegeben. Nach wechselseitigen Vorwürfen hatte sie einfach aufgelegt – ohne ein Abschiedswort. Kein Wunder, dass Oberfeldwebel M. jetzt so griesgrämig war. Als wir in der OASE vor unserem Getränk saßen, fragte ich vorsichtig: „Haben Sie Ihrer Frau eigentlich schon mal einen Brief geschrieben?“ – „Ja, damals, ganz am Anfang, als wir uns kennen lernten. Es war sogar ein Liebesbrief. Ich glaube, sie hat ihn heute noch in ihrer Schmuckkassette versteckt.“ – „Und seitdem haben Sie ihr nie wieder etwas geschrieben?“ – „Nein, wozu auch – es gibt doch Handys und Telefon. Schreiben ist so umständlich und hier im Einsatz dauert die Post doch ewig.“ Ich prostete dem Schreibmuffel zu und erzählte ihm, wie ich das mit meiner Verbindung nach Hause hielt. Dabei hielt ich ihm ganz bewusst einen kleinen Vortrag und er hörte mir geduldig zu: „Selbstverständlich rufe ich auch so oft wie möglich an. Aber ich schreibe meiner Frau auch jede Woche einen Brief, meistens am Samstag, wenn ich dafür mehr Zeit habe. Das Briefeschreiben ist natürlich gerade anfangs etwas ungewohnt und anstrengend. Aber Sie werden sehen – bald macht es Ihnen keine Mühe mehr. Und Ihrer Frau machen Sie damit eine richtige Freude. Denn jedes Telefongespräch hier ist schneller zu Ende als einem lieb ist. Ihren Brief aber kann sich Ihre Frau auf das Nachtkästchen legen. Da liegt dann sozusagen ein Stück von Ihnen neben ihr. Das ist vielleicht sogar besser als ein Bild, weil so ein Brief Ihre Gedanken ausdrückt, Ihre Gefühle, Ihre Wünsche und Ihre Hoffnungen, aber auch Ihre Sorgen und Ihre Befürchtungen. Das liegt ganz an Ihnen und wie gut Sie das formulieren können. Aber Übung macht den Meister. Dann ist so ein Brief nicht nur ein beschriebenes Stück Papier, sondern ein 142 Leutnantsbuch Ausdruck meiner Persönlichkeit und vielleicht sogar ein Stück meiner eigenen Geschichte, die ich damit nicht nur weitergebe, sondern auch bewahre.“ Oberfeldwebel M. schaute mich mit großen Augen an: „So habe ich das noch gar nicht gesehen. Eigentlich haben Sie ja recht. Vielleicht sollte ich meiner Frau einfach ’mal wieder einen Brief schreiben.“ „Ja“, bestärkte ich ihn, „tun Sie das am besten noch heute Abend. Dann können Sie gleich Ihren missglückten Anruf aufarbeiten. Oder glauben Sie, dass Sie in Ihrem Brief alle diese Vorwürfe noch einmal aufwärmen werden, die Sie sich heute gegenseitig an den Kopf geworfen haben?“ – „Nein, natürlich nicht. Mir tut es doch jetzt schon leid, was ich da wieder alles von mir gegeben habe!“ „Sehen Sie“, sagte ich, „genau das ist der große Vorteil beim Briefeschreiben. Man kann in aller Ruhe überlegen, was man wirklich loswerden will. Was einmal ausgesprochen ist, bleibt ausgesprochen. Und wenn es der größte Unsinn war. Einen missglückten Brief kann ich in den Papierkorb werfen und noch mal anfangen. Dann muss mir hinterher auch nichts leid tun. Und wenn’s am Anfang wirklich schwer fällt, dann setzen Sie doch einfach einen Entwurf auf und schreiben ihn dann ins Reine. Ich sage Ihnen jetzt schon, Ihre Frau wird den Brief gar nicht mehr aus der Hand geben. Vielleicht schreibt Sie Ihnen dann auch zurück. Wäre doch schön, wenn man ab und zu ’mal so ein leicht parfümiertes, buntes Kuvert öffnen könnte. Und jetzt sage ich Ihnen noch ein Letztes. Wenn Sie sich beide regelmäßig schreiben, haben Sie am Ende ein kleines gemeinsames Einsatztagebuch in Briefform. So eine gemeinsame Erinnerung ist dann schöner und wertvoller als jedes Kontingentbuch. Und übrigens: unsere Feldpost ist ganz schön fix!“ 143 Leutnantsbuch Als ich Oberfeldwebel M. einige Tage später wieder an den Telefonzellen traf, strahlte er über das ganze Gesicht: „Meine Frau hat gestern meinen Brief bekommen. Und meinem Junior geht es auch wieder besser. Ich glaube, sie hat sich über meinen Brief mehr gefreut als über meinen Liebesbrief damals. Er war aber auch mindestens doppelt so lang, wenn nicht sogar länger! Ich habe schon wieder geschrieben. – Aber Telefonieren finde ich trotzdem schöner!“ HI Im Einsatz gewinnen Betreuungsleistungen wie zum Beispiel private Fernmeldeverbindungen ins Heimatland eine besondere Bedeutung. Die gewohnten Heimatstandards können aber nicht immer gewährleistet werden. Dann kommt es darauf an, sich auf eine alte Tugend zurückzubesinnen – das Briefeschreiben. Die Feldpostämter in den Einsatzländern sind sehr leistungsfähig und zuhause freuen sich alle auf einen Feldpostbrief. Früher war das oft monatelang das einzige Lebenszeichen. Heute ist der persönliche Brief eine Möglichkeit, einen Einsatz für die Angehörigen im wörtlichen Sinn „begreifbarer“ und damit transparenter zu machen. Auch das schafft Verständnis und Vertrauen. 144 Leutnantsbuch Glauben hilft! M eine Mutter war streng katholisch und so wurde ich auch erzogen. Als kleiner Bub schon war ich in kirchlichen Jugendgruppen und Ministrant. Mit der Pubertät kam dann der Bruch. Ich ging auf Tauchstation und hatte mit Kirche nicht mehr viel am Hut. Ich wurde sozusagen „U-Boot-Christ“ und tauchte nur noch gelegentlich in der Kirche auf. Doch dann kam mein erster Auslandseinsatz. Die Monotonie der 7-Tage-Woche, unterbrochen nur durch den freien Sonntag-Vormittag, der gewöhnlich zum Containerputzen oder zum Kirchgang genutzt wurde. Wir hatten zwei Militärseelsorger, die sich mit dem Sonntagsgottesdienst abwechselten. Ich hatte mir vorgenommen, sowohl den katholischen als auch den evangelischen Militärpfarrer zumindest einmal in ihrem Kirchenzelt zum Gottesdienst zu besuchen. Ich war von beiden angenehm überrascht. Ihre Predigten hatten ganz realen Bezug zu unserem Einsatz, zu Dingen die uns beschäftigten. So ging ich über Monate wieder regelmäßig in die Kirche und kam beim Kirchenkaffee, dem anschließenden Kaffeetrinken, mit anderen Gottesdienstbesuchern ins Gespräch. Das Wort Gespräch wähle ich bewusst; denn es war mehr als Diskussion, Debatte oder Meinungsaustausch. Es waren persönliche Gespräche, in denen man ein Stück seiner Gefühle, seines Glaubens und seiner Zweifel preis gab und sich ein gutes Stück weit offenbarte, wie ich es außerhalb der Familie oder dem engsten Freundeskreis nicht für möglich gehalten hätte. Nach dem Einsatz suchte ich dann den Kontakt zu meinem Standortpfarrer, und siehe da, auch er ist ein ganz vernünftiger Mensch. 145 Leutnantsbuch Er brachte mich mit anderen Soldaten zusammen, die sich mit ähnlichen Fragen der vermeintlichen Widersprüche zwischen Soldat- und Christ-Sein beschäftigten und gab mir Schriften der GKS zu lesen. Diese Gemeinschaft Katholischer Soldaten ist mir mittlerweile zur geistigen Heimat geworden. Das christliche Menschenbild und die abendländischen Werte, die im Kern ja christliche sind, habe ich als das Fundament meines soldatischen Dienens erkannt. Im SFOR-Einsatz, wo wir einer geschundenen Bevölkerung die Chance auf ein Leben ohne Willkür und Gewalt, auf einen friedlichen Wiederaufbau und eine Aussöhnung der Ethnien ermöglicht haben, war alles ganz einfach. Als Offizier, der noch in Zeiten des Kalten Krieges zur Bundeswehr gekommen war, war ich stolz: Ich war vom „Kriegsverhinderer“ zum Friedensgestalter geworden. Doch später im ISAF-Einsatz, als es um Schusswechsel mit Aufständischen, um getötete Kameraden und Taliban ging, die Raketen auf unser Lager schossen und mit Sprengfallen und „Suicide-Bombern“ unsere Konvois angriffen, wurde es schwieriger. Doch genau hier bewahrt mich mein christliches Menschenbild vor Rache und Überheblichkeit. Ich erkenne in der afghanischen Bevölkerung ebenso das Ebenbild Gottes wie in den Europäern. Ich begegne ihr mit Respekt und bin in ihrem Land, um ihr zu helfen. Dennoch kann ich den Feind aber genauso konsequent bekämpfen, ja notfalls sogar töten, wenn dies die einzige Möglichkeit ist, ihn von seinen Kampfhandlungen abzubringen. Natürlich braucht man nicht zwingend ein christliches Wertefundament, um die Regeln des Kriegsvölkerrechtes einzuhalten. Aber die Erfahrungen anderer Streitkräfte zeigen, dass dort, wo die Angst vor Strafverfolgung und ein prägendes Wertefundament fehlen, die Hemmschwellen sinken. 146 Leutnantsbuch Als Offizier, der einen so unmittelbaren Bezug zu Verwundung und Tod, zum Töten und getötet werden hat, und dies nicht nur für sich selbst, sondern auch die Verantwortung trägt, ist mir eines klar: Der christliche Glaube gibt mir einen inneren Wertekanon, der auch dann noch wirkt, wenn in einer Ausnahmesituation jede äußere Aufsicht fehlt. Dann meldet sich die innere Stimme mit ihrem klaren: „Das tut man nicht!“ HI Kritische Entscheidungs- und Gefechtssituationen erfordern ein reflektiertes ethisches Wertefundament. Daher müssen die ethischen Dimensionen des Dienens im Frieden und Einsatz notwendiger Bestandteil soldatischer Ausbildung sein. Der christliche Glaube und das christliche Wertefundament können hier, im Sinne eines Kompasses, Wegweiser und Handlungsmaxime sein. Andere Religionen können das auch. 147 Leutnantsbuch Friendly Fire A pril, der „gepanzerte Einsatzverband“ der Brigade bereitet sich auf dem Truppenübungsplatz auf den bevorstehenden Auftrag der Friedenssicherung im Großraum Sarajevo vor. Es ist ein Novum für die Brigade, ja für das deutsche Heer insgesamt. SFOR ist nicht nur die erste Mission, in der ein Kampftruppenverband eingesetzt wird, auch die Gliederung des Verbandes selbst ist ungewöhnlich. 600 Soldaten, gebildet zu je 50% aus Jägern und Panzeraufklärern. Die Einheiten sind daher sowohl mit dem Transportpanzer FUCHS als auch mit dem Spähpanzer LUCHS ausgerüstet und bis in die Zugebene hinein gemischt. Kohäsion ist oberstes Gebot, in nur zwei Monaten müssen Jäger und Aufklärer zu einem einsatzbereiten Bataillon zusammenfinden. Der gemeinsame Auftrag und die intensive Ausbildung schweißen zusammen, Mannschaft und Führer fassen Vertrauen zueinander. Vier Wochen später ist das Bataillon in Rajlovac eingetroffen und hat den Einsatzraum übernommen. Doch bereits nach wenigen Wochen tritt der Verband zu einem traurigen Anlass bei einem Appell an. Ein Soldat wurde tot in seinem Unterkunftscontainer aufgefunden, er starb eines natürlichen Todes. Trauer und Nachdenklichkeit beherrschen die nächsten Tage. Der Gedanke an das eigene Schicksal ist plötzlich aufgetaucht. Für eine Atempause ist jedoch keine Zeit. Die Tage sind lang, das Medieninteresse an dem ersten „deutschen Kampfeinsatz“, wie die Zeitungen schreiben, ist riesengroß. Kaum ein Tag vergeht ohne Pressebegleitung. Der 21. Juni ist ein strahlender Sommertag. Auf dem Kettenabstellplatz macht sich eine gemischte Patrouille aus 148 Leutnantsbuch LUCHS und FUCHS zum Abmarsch bereit. Mehrere Vertreter der Presse sollen die Soldaten begleiten, die nun ihre Bord- und Handwaffen laden und überprüfen. Plötzlich zerreißt ein Feuerstoß aus der 20mm Maschinenkanone des LUCHS die Stille. Splitter pfeifen durch die Luft, Schreie ertönen. Mehrere Schüsse aus der Kanone haben den unmittelbar dahinter aufgefahrenen FUCHS getroffen. Leutnant J., der Zugführer handelt rasch. Überblick über die Lage verschaffen, Verwundete bergen und versorgen. Richtschütze und Kommandant des LUCHS stehen unter psychischem Schock. Sie werden durch Kameraden vom Unglücksort abgeschirmt und betreut. Vom unmittelbar benachbarten Feldlazarett ist ärztliche Hilfe in Minuten zur Stelle. Alle Bemühungen können indes nicht verhindern, dass zwei Soldaten wenig später sterben. Ein weiterer Kamerad hat Splitterverletzungen erlitten, er wird später wieder voll genesen. Doch es gibt auch Verwundungen, die nicht so augenscheinlich sind. Den Angehörigen der Patrouille, wie auch den Pressevertretern ist der fassungslose Schrecken anzusehen. Während Kommandant und Richtschütze des LUCHS mit schwerem psychischem Schock stationär in das Feldlazarett aufgenommen werden, findet wenige Stunden später unter fachkundiger Moderation des Truppenpsychologen ein erstes Trauma-Debriefing für die Zeugen statt. Es geht zunächst darum, sich das eigene Erleben buchstäblich von der Seele zu reden. Presse, Zugführer und Mannschaft sind hier einfach nur Hilfesuchende. Mehrere Sitzungen dieser Art werden in den nächsten Tagen folgen. Die Schockwelle reicht indes weit über die Zeugen hinaus, sie hat naturgemäß den ganzen Verband getroffen. Die mühsam gewachsene Kohäsion droht zu zerbröckeln. 149 Leutnantsbuch Unausgesprochen steht der hilflose Vorwurf im Raum: „Die Aufklärer haben die Jäger getötet“. Unbewusst rückt man voneinander ab, für einen so eng zusammenlebenden und gemischten Verband eine schwere Krise. Kommandeur und Kompaniechefs sind sich einig: Das Thema muss offen angesprochen werden. Auf allen Ebenen und in zahllosen Runden wird um eine gemeinsame Haltung gerungen. Eigene Emotionen schwingen mit, die Situation verlangt Menschenführung im besten Sinne. Das Bataillon versammelt sich zum zweiten Mal zu einem Trauerappell, doch ohne die Soldaten der Patrouille. Diese besprechen unter Leitung von Leutnant J. in einem abgeschiedenen Betreuungsraum eine zentrale Frage: Morgen sollen Kommandant und Richtschütze aus dem Lazarett entlassen werden. Können wir sie je wieder in die Gemeinschaft unseres Zuges aufnehmen? Sollte der Kommandeur sie nicht besser „repatriieren“? Er hat deutlich gemacht, dass diese Maßnahme den beiden die Möglichkeit nehmen würde, sich dem Geschehen zu stellen und darüber hinweg zu kommen. Auch strafrechtliche Gründe verlangen dies nicht, alles deutet zunächst auf einen technischen Fehler an der Waffenanlage hin. Lange wird an diesem Abend um eine gemeinsame Entscheidung gerungen, jeder hat eine gleichberechtigte Stimme. Leutnant J. weiß: Hier hilft kein Befehl, jeder Einzelne muss menschlich überzeugt sein, wenn sein Zug noch eine Zukunft haben soll. Am nächsten Morgen stehen alle fünfzehn Soldaten vor dem Eingang des Lazaretts. Leutnant J. holt die beiden von ihrem Zimmer ab. Zögernd treten sie aus dem Gebäude heraus. Trotz intensiver Betreuung durch Psychologen und Vorgesetzte haben sie tiefe Schuldgefühle. J.’s Empfangskommando spürt dies genau. Eine erste Hand wird zögernd ausgestreckt, aufgestaute Emotionen entladen sich. 150 Leutnantsbuch Dann liegen die Soldaten sich weinend in den Armen, ziehen gemeinsam vom Lazarett zum Unterkunftsbereich. Die Blicke der zufällig anwesenden Jäger und Panzeraufklärer folgen ihnen, schnell verbreitet sich die Nachricht in der Truppe. Auch die nächsten Tage und Wochen sind noch eine menschliche Herausforderung. Schuldgefühle, Trauer und Ängste wollen zugelassen und bewältigt werden. Eine Abordnung des Bataillons fliegt zur Gedenkveranstaltung und den anschließenden Begräbnissen nach Deutschland. Doch der Bann ist gebrochen. Leutnant J. hat durch sein Handeln beigetragen, eine tiefe Krise des gesamten Verbandes zu überwinden. HI Menschliches und technisches Versagen sind auch heute trotz guter Ausbildung sowie moderner und solider Technik als Fehlerquellen nicht gänzlich zu vermeiden. Die Folgen sind oft schwer absehbar, treten überraschend ein und treffen die Menschen meist völlig unvorbereitet. Wenn sie so tragisch sind, wie hier dargestellt, darf niemand mit seiner Belastung alleine gelassen werden. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Je nach Tragweite sind Einheit oder Verband aufgefordert, das gesamte zur Verfügung stehende soziale Netzwerk einzusetzen und im jeweiligen Verantwortungsbereich, zu helfen. In gewachsenen und in sich gefestigten Verbänden, die nach den Grundsätzen moderner Menschenführung und der „Inneren Führung“ geführt und ausgebildet worden sind, gelingt dies meist besonders gut. 151 Leutnantsbuch Die Truppenpsychologin II. Zug stillgestanden! – Zur Meldung – Augen rechts!“. „ Oberleutnant H. freut sich an diesem Morgen besonders auf seine Männer und Frauen, da er in dieser Woche die erste „scharfe“ Patrouille führen wird. Für das zweite Fahrzeug hat er Feldwebel F. ausgewählt, der bereits seinen zweiten Auslandseinsatz absolviert und seinem Zugführer durch ruhige und verlässliche Auftragserfüllung und kameradschaftliche Fürsorge seiner Gruppe gegenüber aufgefallen war. Auch der Kompaniechef hat Feldwebel F. als „sichere Bank“ für diffizile Aufträge beurteilt. Am nächsten Morgen bemerkt Oberleutnant H. bei der Befehlsausgabe ein leichtes Zucken im Gesicht unter der Helmkante bei Feldwebel F., das sich auf dem Weg zu den Fahrzeugen verstärkt und beim Öffnen der Fahrertür zu einem hektischen Zittern wird. Die Beruhigungsversuche durch gutes Zureden und einen freundschaftlichen Armdruck bringen kaum Besserung, vielmehr wirkt Feldwebel F. zunehmend gestresst. Der Zugführer entschließt sich kurzfristig Oberfeldwebel M. mitzunehmen und beantragt beim Spieß für Feldwebel F. eine Belegart 90/5 zur ärztlichen Begutachtung erstellen zu lassen. Die truppenärztliche Untersuchung bescheinigt ihm eine gute körperliche Fitness und keinerlei medizinische Einschränkung, sodass alle und allen voran Feldwebel F. das „Ereignis“ für eine kurzzeitige Schwäche halten. (Kameraden vermuten Ärger zu Hause, zu wenig Schlaf und etwas zuviel Alkohol). Feldwebel F. versichert seinem Zugführer, dass er sich nunmehr im Griff habe und voll einsatzfähig sei. 152 Leutnantsbuch Der II. Zug rückt am nächsten Morgen mit Feldwebel F. zu den Fahrzeugen ab und sitzt auf. Oberleutnant H. kontrolliert seine Teams persönlich und bemerkt bei Feldwebel F. nun eine Blässe im Gesicht, durchsetzt von kleinen und großen roten Flecken. Oberleutnant H. nimmt Feldwebel F. vom Fahrzeug und gibt ihm den Auftrag, mit dem S 6-Feldwebel des Bataillons Fernmelde-Gerät auf Vollzähligkeit und Funktionalität zu überprüfen. Am Abend nimmt er ihn beiseite und führt ein persönliches Gespräch mit ihm, um dessen Situation besser einschätzen zu können. Neben privaten Sorgen mit der Verlobten erfährt er dabei auch von der unmittelbaren Nähe seines Gruppenführers zu einem Anschlag während seines ersten Auslandseinsatzes. Bei der weiteren, genauen Abklärung dazu verhält sich F. reserviert und wird zunehmend einsilbig. Er scheint auch weniger ansprechbar zu sein. Oberleutnant H. erinnert sich an einen Unterricht zur psychologischen Einsatzvorbereitung in Hammelburg und regt an, dass sein Feldwebel mal bei der Truppenpsychologin, Oberstlt S., vorbeischauen könnte. Feldwebel F. ist entsetzt und verteidigt sich spontan: „Ich bin doch nicht meschugge und lasse mir vom Seelenklempner die Karriere versauen!" Andererseits bemerkt er wohl, dass sich sein Verhalten in einer Weise verändert hat, die er sich nicht mehr selbst erklären kann, und ganz besonders sein nervöses Zittern und das Herzpochen, wenn er zur Patrouille aufsitzen soll, lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Durch seine Feldwebelkameraden, von denen einer ähnliche Stressfolgen nach einen schweren Verkehrsunfall schildert, lässt er sich doch zu einem Besuch bei der Truppenpsychologin bewegen und vereinbart gleich am nächsten Tag einen Termin. Im Gespräch mit Frau Oberstleutnant S. ist ihm dann aber zunächst einmal mulmig und er stottert anfänglich unsicher, was ihm aber durch die 153 Leutnantsbuch freundliche Akzeptanz und sichere Gesprächsführung schnell genommen wird. Es wird ihm bewusst, dass es Situationen, auch im Soldatenleben Situationen gibt, die einen unvermittelt mit aller Wucht treffen können und damit unsere sonst auf Konsequenz getrimmten Sinne in der Schreckenslage auseinander driften und ganz erhebliche „Speicherfehler“ im Gehirn produzieren. Erinnern ist danach nur teilweise, zum Beispiel an ein unbestimmtes Gefühl des Unbehagens und der Angst, möglich, ohne zu wissen, wozu dieses in der eigenen Erfahrung gehört! Stück für Stück kann so in diesem ersten Gespräch mit der Truppenpsychologin eine Verbindung zwischen einem rotgrünen Aufkleber am Handschuhfach seines Fahrzeugs (als „Auslöser“ seiner Erregung) und irgendwie, wenn auch sehr diffus, mit dem Anschlag aus dem ersten Auslandseinsatz aufgezeigt werden. Auf diese Weise findet Feldwebel F. nach und nach die Versatzstücke seiner Erinnerung und kann diese so zusammenbauen, dass das problematische Geschehen geortet werden kann (eine kleine afghanische Flagge, die er kurz vor der Detonation der Bombe in einem vorbeifahrenden Fahrzeug gesehen hatte und die entsetzlichen Schreie der Kameraden aus dem Fahrzeug vor ihm, denen er nicht helfen konnte). Im weiteren Verlauf der Gespräche merkt Feldwebel F., wie beim Aufarbeiten dieser Erkenntnis eine große Last von seiner Seele fällt, er sein altes Selbstvertrauen wiederfinden und mit Zuversicht seine weitere Karriere planen kann. Oberleutnant H. ist froh, seinen leistungsfähigen Feldwebel wieder einsetzten zu können. Wie gut es doch war, sich an diesen Unterricht aus der Einsatzvorbereitung im richtigen Moment erinnert zu haben. HI 154 Leutnantsbuch Im Moor D as Bataillon befand sich seit zwei Wochen auf dem Truppenübungsplatz BERGEN. Den Kommandanten und Fahrern war das Gelände inzwischen vertraut. Und dennoch ... Die ganze Nacht hatten Teile des I. Panzerzuges der vorn links eingesetzten Kompanie im Feldposten gestanden. Immer wieder hatte der Gegner versucht, mit Gefechtsaufklärung die Stellungen des Verbandes in der zeitlich begrenzten Verteidigung aufzuklären. Diese Aktivitäten erforderten die volle Aufmerksamkeit der Besatzungen. Endlich, im Morgengrauen, wurde der Zug herausgelöst und war auf dem Marsch in den Raum der Reserve. Die Männer freuten sich auf ein bisschen Ruhe, bis die Folgeaufträge zu erwarten waren. Doch plötzlich kam der unerwartete Auftrag an den Leutnant und Zugführer des I. Panzerzuges: „Alpha hier Nachtigall, Feind tritt im linken Bereich mit starken Kräften an. Linker Nachbar kann Stellungen nicht mehr halten. Minenwerfer ausgefallen. Sie, Auffangen aus Stellung 4 in 15!“ 15 Minuten waren knapp bemessen, der Zug befand sich noch auf dem Marsch in den Raum der Reserve. Aus der Bewegung befahl der Zugführer, trotz der Einwände seiner erfahrenen Feldwebel, die Stellung 4 auf einem bisher nicht erkundeten Weg – am berüchtigten „Meier-Moor“ entlang – zu erreichen. Nur so war das rechtzeitige Erreichen der Stellung 4 zu schaffen und der Auftrag „Auffangen in 15!“ zu erfüllen. Aufgrund des nicht bekannten Weges und der zu erwartenden, eingeschränkten Gangbarkeit des Geländes entschloss sich der junge Offizier, mit seinem Gefechtsfahrzeug voran zu fahren. 155 Leutnantsbuch Kurz nach Erreichen der ersten Ausläufer des Moores, nach einer engen Kurve passierte es ... „Alpha HALT, Alpha HALT, Alpha HALT!“ Der Kampfpanzer des Zugführers war durch die hohe Geschwindigkeit vom halbwegs festen Weg abgekommen, steckte im Moor fest und begann bereits einzusinken. Umgehend befahl er über Funk seinem Stellvertreter zu übernehmen und mit den restlichen drei Gefechtsfahrzeugen den Auftrag weiter fortzusetzen. Anschließend erkundigte er sich über die Bordsprechanlage nach dem Befinden seiner Besatzung, ließ das Rohr in die höchste Erhöhung bringen und den Verschluss schließen. Sein Fahrer antwortete nicht. Der Richtschütze konnte erkennen, dass die Sprechhaube des Fahrers heruntergerutscht war und dieser sich an den Kopf fasste. Sofort befahl der Leutnant der Besatzung das Ausbooten auf das Heck des Panzers. Der Ladeschütze sollte dabei gemeinsam mit dem Richtschützen die Bergung des augenscheinlich verletzten Fahrers übernehmen und Erste-Hilfe Maßnahmen leisten. Der Zugführer versuchte in der Zwischenzeit festzustellen, inwieweit die Strecke zurück auf den befestigten Weg gangbar war. Nachdem klar geworden war, dass die Verwundung des Fahrers behelfsmäßig versorgt war und der Panzer nicht weiter einsank, meldete er den Realausfall des Panzers und forderte Sanitäter an. Zeitgleich hatte der Stellvertreter mit den anderen drei Kampfpanzern Stellung 4 zeitgerecht erreicht und konnte so die Flankenstellung solange halten, bis auch die anderen Züge der Kompanie ausgewichen waren. HI 156 Leutnantsbuch Der Offizier hat in einer unvorhergesehenen Situation entschlossen und ins Ungewisse hinein gehandelt, seine trotz Realausfall letztlich richtige Entscheidung auch gegen Bedenken seiner Untergebenen durchgesetzt und den Auftrag seines Zuges damit erfüllt. Er fährt in einer unbekannten, potenziell auch gefährlichen Situation voraus und führt mit gutem Beispiel. Diesen Anspruch kennen wir aus der Forderung „Sei Vorbild!“. Durch das abermalige schnelle Erkennen der Lage nach dem Einsinken im Moor und das umsichtige Handeln des jungen Offiziers sowie die Übertragung der Führung auf seinen Stellvertreter zeigt er abermals Entscheidungsfreude. Nicht selten muss im Gefecht gerade in unpassenden Situationen ein Ausfall kompensiert werden. Entscheidungsfreunde, Geistesgegenwart und selbstständiges Handeln im Sinne der übergeordneten Führung können den Auftrag trotzdem retten. In Gefechtsituationen geht es darüber hinaus nie um die Ideallösung. Die Lösung muss brauchbar und damit einfach und vernünftig sein. Nicht zuletzt aber geht es um das Wohlergehen der Besatzung. Sich kümmern – auch und insbesondere, wenn die Situation verfahren ist – ist der Schlüssel zur Sicherstellung der Gefolgschaft der Untergebenen. Und dies ist schließlich die Basis für die erfolgreiche Auftragserfüllung. 157 Leutnantsbuch Blauhelme in Sarajevo M itte der neunziger Jahre stellte für mich der Balkankrieg die Weichen für ein neues, erweitertes Selbstverständnis als Soldat der Bundeswehr im Einsatz. Ich war in einer integrierten Verwendung eingesetzt und unser Stab stellte sich darauf ein, der laufenden UNBlauhelmmission im früheren Jugoslawien, dann unter einem NATO-Mandat, in den Einsatz zu folgen. So war es nur folgerichtig, dass mit langem Vorlauf Verbindungsoffiziere aus unserem Stab unter dem noch laufenden UN-Mandat auf den Balkan verlegten, um von dort Informationen zur Lagefeststellung in unseren Stab zu übermitteln. In meiner Abteilung fiel die Wahl auch auf mich. Ich sollte für einen mehrwöchigen Zeitraum in den damals für Soldaten der Bundeswehr noch ungewohnten Auslandseinsatz verlegen. Für meine britischen Kameraden war das überhaupt nichts Ungewöhnliches, hatten die meisten in Nordirland, auf den Falklands und auch an anderen Orten dieser Welt bereits Einsatzerfahrungen gesammelt. Manche hatten im Feuerkampf gestanden, Kameraden verloren oder Schwerverletzte versorgt und gingen mit Fragen über Tod und Verwundung sehr respektvoll, aber auch sachlich um. Für mich war es „Neuland“ und ich hatte eine vergleichbare Herausforderung in den bisherigen Verwendungen meiner „Kampftruppenkarriere“ noch nicht erlebt. Mit blauem Barett und einer Browning-Pistole bewaffnet fand ich mich in einem britischen Transportflugzeug in Richtung Sarajevo wieder. Unsere britischen Ausbilder hatten uns gut auf unsere Aufgaben und die damit einhergehenden Risiken vorbereitet. Nach meiner Ankunft in der immer noch durch Bürgerkriegswirren gezeichneten und keineswegs sicheren bosnischen 158 Leutnantsbuch Hauptstadt sollte ich mich zunächst im dortigen UN-HQ melden, um dann als Verbindungsoffizier zu meinem endgültigen Einsatzort in eine kroatische Enklave nördlich von Sarajevo zu verlegen. Bereits kurz nach meiner Ankunft und auf dem Transport vom Flugplatz in die Innenstadt in einem weißen, gepanzerten, französischen Armoured Personnel Carrier (APC) sollte ich die Realität des Einsatzes hautnah zu spüren bekommen. Zusammen mit einem Journalisten waren wir die einzigen „Fahrgäste“. Eine Gruppe französischer Soldaten unter Führung eines weiblichen Oberleutnants stellte die Sicherung. Auf der Zufahrtsstraße in die Innenstadt, der berüchtigten „Sniper’s Alley“, wurden wir mit Handwaffen beschossen. Zwar prallten die Geschosse wirkungslos an unserem Fahrzeug ab, aber mir wurde schlagartig bewusst, dass erstmalig in meinem Leben jemand auf mich geschossen hatte. Kurz zuvor besuchte ich noch mit der Familie einen Weihnachtsmarkt im „tiefsten Frieden“ und nun war ich plötzlich mittendrin in einem Feuerkampf, dem ich als Passagier im Bauch des gepanzerten Fahrzeugs, zudem „blind“ und ohne Möglichkeit zu eigenem Handeln, gegenüberstand. Während ich noch damit beschäftigt war, über diese Extremsituation nachzudenken, hatte die Führerin unserer Sicherungskräfte die Situation bereits voll im Griff: Kurze Befehle an die Gruppe, Funkverkehr ohne zu Schreien und das MG auf unserem Fahrzeug „hämmerte“ los. Von unten konnte ich den MG-Schützen aus der Luke heraus hinter der Waffe beobachten. Er war sicher einer größeren Gefährdung als ich ausgesetzt, wirkte aber ruhig und ohne Angst, im Gegensatz zu mir! Auch nachdem wir das gut gesicherte UN-HQ in der Stadt erreicht hatten, war ich noch völlig aufgewühlt, obwohl es 159 Leutnantsbuch glücklicherweise keine Verwundeten oder Gefallene gegeben hatte. Frau Oberleutnant hingegen blieb die Ruhe selbst. Mit Sicherheit hatte sie eine solche oder ähnliche Situation bereits zuvor erlebt. Schadensaufnahme an den Kfz, dann über Funk detaillierte Meldung an die Vorgesetzten, ein paar Worte zu ihren Soldaten und dann eine Zigarette. Alle waren offensichtlich erleichtert. Das Zusammenwirken in der Gruppe hatte funktioniert, jeder hatte richtig reagiert. Ich war beeindruckt von ihrer Professionalität als militärische Führerin in dieser damals für mich noch ungewohnten Situation. Der Rest meines Einsatzes verlief für mich im Vergleich dazu ruhig, auch wenn immer noch vor allem französische Blauhelm-Soldaten in Sarajevo durch Heckenschützen ums Leben kamen. Der weibliche französische Oberleutnant hatte zu diesem Zeitpunkt noch mehrere Monate Einsatz vor sich und auch wenn ich sie nie wieder gesehen habe, so hat sie doch einen prägenden Eindruck bei mir hinterlassen. 160 Leutnantsbuch Mein Spieß K osovo. Wir hatten mit dem Einsatz unserer Kompanie an der Grenze zu Albanien wirklich Glück gehabt. Eigenes Lager, interessanter Auftrag, weit weg vom Bataillon eingesetzt und eine ausgesprochen gute Kameradschaft untereinander. Damit beste Voraussetzungen, um den sechsmonatigen Einsatz gut zu bestehen. Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt frischgebackener Kompaniechef und sah den Herausforderungen dieses Einsatzes optimistisch entgegen, da ich meine Soldaten gut kannte, ihnen sehr viel zutraute und ihnen vor allem vertraute. Es war ein Tag wie jeder andere. Die Soldaten der Züge gingen ihren Aufträgen nach, das Instandsetzungspersonal reparierte unsere defekten Fahrzeuge und mein Kompanieeinsatzoffizier musste sich, wie an vielen anderen Tagen auch, um Besuchergruppen kümmern, die sich ein Bild von der Grenze und den durchgeführten Absicherungsmaßnahmen machen wollten. Bei mir klingelte währenddessen das Telefon und ich erhielt erste Informationen bezüglich eines zusätzlichen Auftrags vom Kommandeur persönlich. Wir sollten in Kürze gemeinsam mit einem österreichischen Zug einen bestimmten Grenzabschnitt über einen klar definierten Zeitraum überwachen, da wir Informationen über geplante Schmuggelaktivitäten erhalten hatten. Diese sollten wir unterbinden. Der Kommandeur wies mich im Rahmen seines fernmündlichen Vorbefehls nochmals ausdrücklich darauf hin, wirklich nur das unbedingt erforderliche Personal in diesen Auftrag einzuweisen, um die Möglichkeit eines Durchsickerns von Informationen möglichst gering zu 161 Leutnantsbuch halten. Die Befehlsausgabe sollte dann am darauf folgenden Tag im Gefechtstand unserer Task Force erfolgen. Ich war sofort Feuer und Flamme und begann sogleich damit, mir Gedanken zu machen, was jetzt als nächstes zu tun wäre und wen ich ins Boot holen sollte. Schnell stand für mich fest, welchen Zug ich einsetzen wollte und umgehend holte ich mir den Zugführer heran, um mit ihm zusammen erste Absprachen zu treffen. Zwischenzeitlich hatte ich auch den österreichischen Zugkommandanten telefonisch erreichen können und mit ihm ein Treffen für den folgenden Tag noch vor der Befehlsausgabe durch den Kommandeur vereinbart. Darüber hinaus bekam mein Feldwebel Aufträge zur Materialbeschaffung und -vorbereitung und stürzte sich gleich darauf ebenfalls in die Vorbereitung. Als am nächsten Tag der Zugkommandant mit einer kleinen Abordnung bei uns im Lager zu den vereinbarten Absprachen eintraf, begannen wir umgehend auf Grundlage der uns bis dahin bekannten Fakten weiter an der Umsetzung des Auftrages zu arbeiten. Der Versorgungsdienstfeldwebel meldete mir während der Besprechung, dass die Vorbereitungen abgeschlossen seien und das zusätzliche Material bereits in seinem Materialkeller eingelagert und zur Ausgabe vorbereitet sei. Alles lief nach Plan! Gemeinsam machten wir uns später auf den Weg zum Gefechtsstand der Task Force, wo uns der Kommandeur in den anstehenden Auftrag einwies. Unsere bisherigen Planungen konnten nahezu zu 100% übernommen werden und es sollte bereits in den frühen Morgenstunden des Folgetages losgehen. Nach Rückkehr in unser Lager machten wir uns alle an die abschließende Umsetzung und bereiteten uns auf den Auftrag vor. Im Eifer des Gefechts lief ich plötzlich meinem 162 Leutnantsbuch Spieß „in die Arme“, der mich – so empfand ich das in diesem Moment – sehr eigenartig ansah und mich fragte, was hier eigentlich los sei. Ihm war natürlich nicht verborgen geblieben, dass hier irgendetwas lief, von dem er aber noch nichts Konkretes wusste. In diesem Augenblick fiel es mir wie Schuppen von den Augen ... der Spieß! Ich hatte den Stabsfeldwebel völlig außer Acht gelassen und nicht daran gedacht, dass natürlich auch er mit ins Boot hätte geholt werden müssen. Nun stand er vor mir, sichtlich verärgert und erwartete eine Antwort. Um die Sache zu klären, gingen wir in sein Büro und ich informierte ihn ausführlich über das geplante Vorhaben, woraufhin er mich auf mehrere Dinge aufmerksam machte, an die ich bislang noch nicht gedacht hatte und die zweifelsohne in seinen Aufgabenbereich fielen. In diesem Moment musste ich mir eingestehen, dass es ein Fehler war, mein Fehler, den Spieß nicht gleich mit einzubeziehen. Ich bedankte mich für die zusätzlichen Hinweise, die er mir gegeben hatte. Ich war froh, dass er die ganze Sache sehr professionell anging und sie nicht persönlich nahm. Er hatte sicherlich schon mehrmals in seiner Zeit als Kompaniefeldwebel mit jungen Offizieren zu tun, die ab und an etwas übereifrig an Dinge herangegangen waren, und so machte er auch mir auf kameradschaftliche Weise deutlich, woran bei der Planung und Umsetzung solcher Aufträge zusätzlich noch so gedacht werden muss! Dies war mir eine ausgesprochene Lehre, die ich während meiner gesamten Zeit als Kompaniechef nicht wieder vergaß. Die Zusammenarbeit mit meinem Spieß lief von diesem Zeitpunkt an noch viel, viel besser und intensiver. Nicht zuletzt lag das zweifelsohne auch daran, dass der Spieß in angebrachter Weise reagierte. Wir jungen Offiziere 163 Leutnantsbuch sollten uns solcher Ratschläge auf keiner Ebene entziehen und diese dankbar annehmen. Gerade die Erfahrungen lebensälterer Kameraden, ganz unabhängig von Dienstgrad und Laufbahngruppe, geben uns jungen Offizieren die Möglichkeit, reicher an Wissen und Erfahrung zu werden, die es uns zu einem späteren Zeitpunkt ermöglichen, zweckmäßig, zielgerichtet und vor allem richtig zu handeln! HI Bei aller Notwendigkeit, schnell zu handeln und Befehle zu erteilen, sollte zunächst gelten: Ruhe bewahren, Überblick verschaffen, klare Lagebeurteilung anstellen! Dabei ist es kein Zeichen von Schwäche, Ratschlag bei erfahrenen Kameraden zu suchen. Der Führer bezieht die Fähigkeiten und Kenntnisse seiner Soldaten immer mit ein, versteckte Talente erkennt er im Gespräch. Beteilige Deine Untergebenen und binde sie in der Phase der Beurteilung der Lage und der Entscheidungsfindung aktiv ein. So erreicht man Einsicht in die Notwendigkeiten des Auftrags und Gefolgschaft! Ausklammern demotiviert, Beteiligung motiviert! Und wenn einmal ein Fehler geschehen ist und wie in diesem Fall der Spieß „vergessen“ wurde: Gestehe Fehler in aller Offenheit ein, suche das Gespräch! Auch so entsteht Vertrauen! 164 Leutnantsbuch Offizieranwärter Frank Erfolgsfaktoren N eben der Auseinandersetzung mit der eigenen „ Persönlichkeit ist die Auseinandersetzung mit dem Beruf von grundlegender Bedeutung. Wer nicht aus tiefster Überzeugung hinter dem Beruf des Offiziers steht, wird keinen Erfolg haben, gefährdet letztendlich sich selbst und seine ihm anvertrauten Soldaten“, sagt Major Seidel. Wir sitzen im Biergarten des Kasinos der Offizierschule des Heeres in Dresden, die Sonne scheint und es geht uns gut. Major Seidel hatte sich richtig gefreut, uns wieder zu sehen. Deshalb sind wir seinem Angebot sofort gefolgt, uns noch einmal zusammenzusetzen. Obwohl wir im Moment ein wenig „unter Druck“ stehen, kommt uns eine Abwechslung gerade recht. „Erinnern Sie sich noch an Ihr Truppenkommando? Damals im Hörsaal – kurz vor der Formalausbildung – als ich Ihnen meine Gedanken zur Selbstbestimmtheit erklärt habe?“, fragt Major Seidel. Natürlich erinnern wir uns noch, wenn inzwischen auch etwas Zeit vergangen ist! „Und an die Bierdeckel, die ich während unseres ersten Treffens künstlerisch gestaltet hatte?“, ergänzt Major Seidel. „Ich habe sie sogar noch“, erwähnt er fast beiläufig, kramt in seiner Aktentasche und zieht sie mit einem Lächeln heraus. Triumphierend hält er die Bierdeckel hoch, legt sie dann auf den Tisch und sagt: „Ich hatte neben dem Begriff Selbstbestimmtheit auch den Begriff Erfolgsfaktoren erwähnt. Um die Sache für Sie „rund“ zu machen, möchte ich Ihnen auch hierzu noch ein paar Erläuterungen geben. Allerdings bin ich heute ein wenig unter Zeitdruck, weil heute Abend noch eine Vortragsveranstaltung im 165 Leutnantsbuch Militärhistorischen Museum ist, gleich hier um die Ecke. Ich nehme an, das kennen Sie.“ Ich nutze die Zeit, die Major Seidel braucht um die Bierdeckel auf dem Tisch zu sortieren und bestelle einen Latte Macchiato. Nachdem auch die anderen bestellt haben, fährt Major Seidel fort: „Betrachten wir zunächst noch kurz die Unterschiedlichkeit der Menschen. Dabei stellt man fest, dass die Menschen bei gleichen Startbedingungen, z.B. bei einem Lehrgang, mit gleichen Ressourcen auskommen müssen, die gleichen Hindernisse nehmen müssen, trotzdem unterschiedlich erfolgreich sind und die Ergebnisse teilweise erheblich voneinander abweichen. Aber nicht nur das, erfolgreiche Menschen kommen nicht nur schneller am Ziel an und stehen vorne, sondern sie kommen zu diesem Ergebnis auch noch auf andere Art und Weise. Oftmals mit einer gewissen Leichtigkeit. Woran liegt das? Es liegt vor allem am unterschiedlichen Begabungs- und Fähigkeitspotenzial der Menschen, ihrer jeweiligen lebensgeschichtlichen Entwicklung und ihrer Fähigkeit zu lernen. Aber das ist nicht alles. Sie kennen, bewusst oder unbewusst, die grundlegend notwendigen Faktoren, der zweite Schlüssel zur Führungskunst, die einen im Beruf erfolgreich werden lassen. Ohne diese ist eine erfolgreiche Führung von Menschen ebenfalls nicht möglich. Schnell wird man die freiwillige Gefolgschaft verlieren. Für den Begriff Erfolgsfaktoren habe ich mir auch ein paar Merksätze zurechtgelegt. 166 Leutnantsbuch Finde Deine Motivation! Allgemein ist eine Handlung nur sinnvoll, wenn es einen Zusammenhang zwischen Weg und Ziel gibt. Zusammenhänge müssen also erkennbar sein, Zusammenhanglosigkeit ist demzufolge Sinnlosigkeit. Dieser Sinnzusammenhang ist die Grundlage der eigenen Lebens- bzw. Berufsmotivation. Er definiert, worum es im eigenen Leben und im Beruf überhaupt geht. Die schlüssige und überzeugende Beantwortung der Frage, warum man den Beruf des Offiziers gewählt hat, vermittelt Sinn und stellt damit die eigentliche Motivationsquelle dar. Wie kann man sonst die physischen und psychischen Entbehrungen, mit denen man als Offizier und Heeressoldat konfrontiert wird, ertragen? Um sich der Beantwortung zu nähern, erscheinen in einem ersten Schritt folgende Lebensfragen nachdenkenswert: - Wofür möchte ich mein Leben nutzen? - Welche Lebenswünsche, z.B. berufliche, finanzielle, private, will ich mir erfüllen? - Welche Lebensweise, z.B. Gestaltung, Ablauf, Rhythmus, Themen, Einsatz der Ressourcen, familiäre Situation, räumliches Umfeld, Gesundheit, möchte ich verwirklichen? - Welche Leistungen, z.B. Ergebnisse, „Werke“, Anerkennung, Befähigung, möchte ich erreichen? - Welche meiner Anlagen, Begabungen und Stärken möchte ich weiterentwickeln und ausschöpfen? - Welchen zentralen Verantwortungen möchte und soll ich in meinem Leben gerecht werden? - Worauf kommt es an, damit ich meine Lebensfreude und Lebenszufriedenheit auf Dauer erhalten kann? Durch die Beantwortung erkennt man seine eigenen Zielvorstellungen. Damit kann ein Teil der Sinnzusammenhänge beantwortet werden. Das ist etwas sehr Wertvolles, 167 Leutnantsbuch denn ohne Ziel stimmen jede Richtung und jeder Weg. Der Beruf ist einer der Lebensbereiche, um diesen Vorstellungen näher kommen zu können. Ob und wie weit man den Weg des Heeresoffiziers gehen will, hängt meiner Meinung nach auch von der Beantwortung folgender Fragen ab: - Kann ich mich mit den aufgezeigten allgemeingültigen Werten und Normen unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung und den besonderen soldatischen Tugenden, die teilweise sogar gesetzliche Pflichten darstellen, identifizieren? - Kann ich mit den Einschränkungen meiner Grundrechte durch die militärischen Erfordernisse leben? - Kann ich mich mit den aufgezeigten Besonderheiten von Landstreitkräften identifizieren? - Kann ich mit den physischen und psychischen Herausforderungen des Soldatenberufes zurechtkommen? Die Sicherung und Förderung der eigenen positiven Stimmung ist von besonderer Bedeutung im Leben insgesamt. Dabei spielen Glück und Zufriedenheit eine wesentliche Rolle. Ich habe mich immer wieder gefragt, was Glück und Zufriedenheit eigentlich bedeuten. Ich habe darauf ein paar Antworten gefunden. Dabei bedeutet Glück für mich: - eine positive Situation zu erleben, in der mir etwas Unerwartetes und auch Unverdientes gleichsam in den Schoß fällt, 168 Leutnantsbuch - einen Augenblick zu erleben, in dem ich mich auf eine positive und angenehme Erfahrung freuen kann oder diese Erfahrung machen darf. Somit ist Glück eine Sache der Gegenwart und der eigenen Wahrnehmung. Daher ist es sinnvoll, sich im Beruf solche glücklichen Momente bewusst zu vergegenwärtigen. Ebenso wichtig ist es jedoch, sich seine negativen Gedanken bewusst zu machen, da diese das Glücksempfinden massiv beeinträchtigen. Nur wer Macht über seine Gedanken besitzt, kann verhindern, dass sie zur schlechten Gewohnheit werden. Zufriedenheit hingegen entsteht für mich in der Rückschau und der Gesamtbetrachtung aller Erfahrungen, die sich zwischen den Gegensätzen z.B. Gelingen und Misslingen, Gesundheit und Krankheit, Fröhlichsein und Traurigsein abgespielt haben. Ich bin zufrieden, wenn ich insgesamt eine positive Bilanz aus meinen Erfahrungen gezogen habe und meine „wertvollen Zustände“ – meine Werte – erreichen, erfahren und vermitteln konnte. Dabei helfen mir negative Erfahrungen, die positiven zu erkennen und wertzuschätzen. Glückliche Momente dienen dabei mit zum Ausbalancieren der Gegensätze. Somit gehören Glück und Zufriedenheit zusammen. Es gilt noch zwei entscheidende Fragen zur Berufsmotivation zu beantworten: - Wann erfahre ich glückliche Momente, auch wenn sie noch so klein sind, im täglichen beruflichen Leben als Soldat? - Zeigt sich im täglichen Rückblick, ob ich meine mir wertvollen Dinge, auch wenn diese noch so klein sind, 169 Leutnantsbuch erreichen, erfahren oder vermitteln konnte und somit Zufriedenheit erlange? Wertvolle Dinge sind dabei für mich erstrebenswerte Zustände. Mit der Beantwortung dieser Fragen wird der eigene Weg zum Ziel ständig reflektiert. Entsteht kein Sinnzusammenhang mehr, ist das Ziel also nicht erreichbar, muss ich die Konsequenzen ziehen. Unmotivierte Menschenführer sind nicht verantwortbar. Wenn man seine berufsspezifischen Motive kennt und verinnerlicht, dann hat man eine gute Startgrundlage. Jetzt kommt es noch darauf an, die Motivation in die richtigen Bahnen zu lenken. Um diese Bahnen herauszufinden, ist ein Denken in größeren Zusammenhängen notwendig, bevor man konkrete Ziele formuliert und dann entsprechend handelt. Denke in größeren Zusammenhängen! Es ist notwendig, Ziele zu formulieren, die sich aus den Gegebenheiten und Vorstellungen der über oder unter einem stehenden Ebene logisch ableiten bzw. in den Gesamtzusammenhang stellen lassen. Das hat Aussicht auf Erfolg. Daher ist die Absicht der übergeordneten Führung Ausgangspunkt aller Überlegungen. Dieser Ansatz verhindert nicht ein kreatives Denken und Handeln. Um dieses Denken in Zusammenhängen zu fördern, sind Verwendungen auf unterschiedlichen Führungsebenen und Ausbildungen auf der jeweils nächsthöheren Ebene bestimmendes Merkmal des Offizierberufs. Damit aber nicht genug. Von einem Offizier wird erwartet, dass er sich selbst um Informationen bemüht, um Zusammenhänge zu erkennen, diese zu vermitteln, also 170 Leutnantsbuch sinnstiftend wirkt. Sei es durch die aufmerksame Verfolgung der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, die Beobachtung gesellschaftlicher, geistiger und kultureller Strömungen, das Studium der Militärgeschichte oder die Auseinandersetzung mit neuen Technologien. All das hat Auswirkungen auf den täglichen Dienst und ist in eigenen Entscheidungsprozessen mit zu berücksichtigen. Setze Dir Ziele! Ziele sind notwendige Bezugspunkte für menschliche Aktivitäten. Sie dienen uns als wesentliches Mittel, das eigene Handeln zu strukturieren und in definierten Bahnen zielgerichtet zu leiten. Ziele sollten immer sowohl lang- als auch mittel- sowie kurzfristig angelegt und erreichbar sein. Dabei muss man ein paar wenige Grundregeln beachten: - Ein Ziel soll konkret, eindeutig und präzise formuliert sein. - Ein Ziel und ein Erreichungsgrad müssen überprüft werden können, also messbar sein. - Ein Ziel soll Ansatzpunkte für positive Veränderungen aufzeigen. - Ein Ziel soll zwar hoch gesteckt, aber immer noch erreichbar sein. - Ein Ziel soll einen ausreichenden zeitlichen Bezug mit einem festen End(zeit)punkt haben. Dieses Ziel wird in eine Planung umgesetzt, ausgebildet und überwacht. Neben dem Fachwissen gehören ebenfalls bestimmte Fähigkeiten wie Projektplanungsmethoden, Gesprächs- und Moderationstechniken, Zeitmanagement, Konfliktmanagementwissen und andere Kompetenzen dazu, die man sich aneignen muss. 171 Leutnantsbuch Schaffe Dir Freiheit! Schon bei der Bestimmung und planmäßigen Umsetzung von Zielen wird deutlich, dass dies nur möglich ist, wenn Spielräume und Freiheiten gesichert und gefördert werden. Persönliche Freiheit muss mit Freiräumen korrespondieren, die ich den Soldaten, die ich führe, einräume. Dazu ist es wichtig, - Entscheidungen rechtzeitig zu treffen und nicht auf die „lange Bank“ zu schieben, - Optimismus und Zuversicht zu vermitteln, - Maß zu halten, - eine „klare Linie zu fahren“ und berechenbar zu sein, - Übersicht zu bewahren, - zu vereinfachen, wo es möglich und zweckmäßig ist; denn „nur das Einfache hat Erfolg“, - ehrlich zu sein. Die Beschränkung von Sachverhalten auf das Wesentliche gibt Spielräume und Entfaltungsmöglichkeiten für unser Handeln als militärische Führer. Mache das Beste aus einer Lage! Diese Aussage zielt auf eine bestimmte innere Einstellung, ohne die man keinen Erfolg hat. Die persönliche Motivation und die Bestimmung von Zielen, Methoden und Mitteln ist die eine Sache, das konkrete, situationsbezogene Handeln eine andere. Man kann nicht erwarten, dass nur durch Zielvorgabe und Projektplan oder Operationsplan alles gleich planmäßig läuft. Oftmals treten schon beim ersten Schritt Widerstände oder andere Hindernisse auf. 172 Leutnantsbuch Daher sind das Können und die innere Einstellung, - das Beste aus einer bestimmten Ausgangslage zu machen, - unter ungünstigen und schwierigen Bedingungen handlungsbereit und handlungsfähig zu bleiben und dabei auch hart gegen sich selbst sein zu können, - Chancen zu erkennen und Gestaltungsmöglichkeiten zu finden und zu nutzen, von entscheidender Bedeutung. Die geleistete Vorarbeit, wie das Verständnis der Zusammenhänge, die Definition von Zielen und die Gedanken zur Planung, leiten dann das eigene Handeln. Das führt letztendlich zum Erfolg. Ziele zu setzen, Chancen zu nutzen und sie zu verwirklichen gehören zusammen. Entwickle Dich weiter! Erfolg hat man nur, wenn man die innere Bereitschaft und den Willen hat, an sich selbst zu arbeiten, sich selbst weiterzuentwickeln, also lebenslang zu lernen. Sei es in der Persönlichkeitsentwicklung oder beim Erwerb neuer Fähigkeiten. Immer gilt: „Wer meint, fertig zu sein, bleibt stehen“ bzw. „Wer sich nicht verändert, der wird verändert“. Hierbei spielt die eigene Handlungsfreiheit und wie ich sie für mich zu nutzen verstehe, eine bedeutende Rolle. Halte Dich fit! Die Forderung nach körperlicher Fitness und Robustheit ist für den Offizier unerlässlich. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber noch auf einen anderen Aspekt hinweisen. Um Ziele in die Tat umsetzen zu können, braucht man Energie und Schaffenskraft. Wenn aber die körperliche 173 Leutnantsbuch Leistungsfähigkeit nachlässt, wird das Erfolgreichsein schwieriger. Gerade dann muss man verstärkt auf seinen Körper achten und die vorhandenen Kräfte effektiv einsetzen. Im Zusammenhang mit unserer körperlichen Leistungsfähigkeit ist auch die Beachtung des „biologischen“ Rhythmus’ notwendiger denn je. Es ist nicht gut, immer unter „Volllast“ zu fahren. Dies gilt für uns selbst, aber auch für die Menschen, die wir führen. Nur der Wechsel zwischen Aktivität und Entspannung bringt den Erfolg. Die Fehlerhäufigkeit nimmt ab, der klare Blick bleibt bestehen, die Gesamtübersicht und die persönliche Motivation bleiben erhalten oder nehmen sogar zu. Dies ist eine Art von Fürsorge sich selbst und anderen gegenüber.“ Major Seidel holt tief Luft. Unsere Getränke sind längst leer, und ein bisschen haben wir den Eindruck, dass Major Seidel unter Zeitdruck steht. Es ist sieben Uhr, um acht geht seine Veranstaltung los. Deshalb sage ich: „Herr Major, ich glaube, das müssen wir erst einmal verarbeiten. Sie hatten uns doch angeboten, uns Ihre Notizen mitzugeben. Steht das Angebot noch?“ „Keine Frage, natürlich!“, antwortet er. „Allerdings muss ich jetzt bald los, sonst komme ich zu spät. Wir werden ja sicher noch Zeit haben, weiter über unser Projekt zu sprechen. Ich habe da so eine Idee … mehr verrate ich Ihnen aber nicht. In zwei Wochen ist unser Ausbildungswochenende. Dann haben wir freitags Sportfest und abends werden wir grillen. Wie wäre es, wenn wird uns dann noch einmal zusammensetzen? Ich will versuchen, noch den ein oder anderen zu gewinnen, der uns aus seinem Soldatenleben erzählt. Kann ja nicht schaden, oder?“ 174 Leutnantsbuch „Das ist eine gute Idee“, antwortet Cindy und wir bestätigen dies durch Kopfnicken. Dann verabschieden wir uns, Major Seidel geht direkt los und wir bleiben noch ein wenig sitzen. Jetzt schmeckt auch schon ein Weizenbier. 175 Leutnantsbuch Offizieranwärter Frank Das Ausbildungswochenende W eitsprung, 5.000-Meter-Lauf, Kugelstoßen und Schwimmen habe ich schon absolviert, der Rest sollte kein Problem sein. Dann habe ich das Sportabzeichen für dieses Jahr auch erledigt. Ich halte es für wichtig, die Bedingungen möglichst früh im Jahr abzulegen. Dann kommt man am Ende nicht in Zeitnot. Außerdem macht es auch mehr Spaß, dies gemeinsam zu tun. Ich sage das auch immer den anderen, dass man hier nicht nachlässig sein darf. Unser Sportfest im Rahmen des Ausbildungswochenendes hier an der Offizierschule steht unter einem guten Stern, das Wetter wird auch weiterhin mitspielen – strahlend blauer Himmel! Bevor wir Offizieranwärter uns nachher mit Major Seidel treffen, werden wir aber noch an ein paar Spaßvorhaben im großen Rahmen teilnehmen. Ich habe mich für Sackhüpfen entschieden, Markus für den Eierhindernislauf. Annette und Cindy sind in der Damenmannschaft beim Tauziehen gemeldet und Jonas ist freiwillig als Schiedsrichter dabei. Von Major Seidel habe ich bis jetzt noch nichts gesehen, aber wir hatten uns ja auch erst für den gemütlichen Ausklang verabredet. Grill- und Lagerfeuerromantik. Allerdings hatte ich vorhin ganz kurz ein Gespräch mit Major Steegemann, den ich ja noch aus dem Gespräch im Kasino kenne. Er sagte, dass er auch zu uns kommen würde und noch den ein oder anderen Interessierten mitbrächte. Das kann wieder ein schöner Abend werden, denke ich. 176 Leutnantsbuch Auf dem Weg zu den Duschen treffe ich Jonas. Die sportlichen Aktivitäten haben wir hinter uns, jetzt heißt es, sich fein machen für den geselligen Teil. Jonas sagt: „Wir sollten Major Seidel noch einmal auf die schriftlichen Erlebnisberichte ansprechen. Ich fände das eigentlich ganz gut, wenn man die einzelnen Erzählungen sammelte bevor man sie irgendwann wieder vergisst.“ „Ja“, antworte ich, „das hatte ich mir auch schon überlegt. Wir werden ihn darauf ansprechen. Übrigens: Ich habe am Wochenende auch schon angefangen, mein Erlebnis im Offizieranwärterbataillon aufzuschreiben. Damals, als ich während der Übung so oft darüber nachgedacht habe, was ich eigentlich da gerade tue.“ Nach dem Duschen schlendern Jonas und ich zurück zum Sportplatz, wo es schon nach Gegrilltem riecht. Nach kurzer Zeit sehen wir die anderen, und dann auch Major Seidel, Major Steegemann und einen weiteren Stabsoffizier, den wir nicht kennen. Wir treffen uns auf halbem Weg, begrüßen uns, und vereinbaren, zuerst einmal für das leibliche Wohl zu sorgen. „In einer halben Stunde am Lagerfeuer“, sagt Major Seidel, und wir stimmen zu. Als wir gemütlich in einer kleinen Runde um das Feuer sitzen, beginnt Major Seidel: „Bevor wir uns anhören, was Major Steegemann und Major Schmidthuber zu erzählen haben, möchte ich mit Ihnen noch eine Idee besprechen, die ich letztens auf der Fahrt nach Hause hatte. Ich hatte Ihnen ja versprochen, weitere Erlebnisse und Erfahrungen zu sammeln – nach Möglichkeit 177 Leutnantsbuch in niedergeschriebener Form. Ein paar Beiträge habe ich auch schon zusammen. Ich glaube fest daran, dass Sie nicht die einzigen Offizieranwärter oder Offiziere im Heer oder in der Bundeswehr sind, die sich die Frage nach dem Besonderen an unserem Beruf gestellt haben. Wie wäre es, wenn wir unsere Ideen und Erlebnisse einfach einmal zusammenschreiben. Bestimmt gibt es andere, die eine solche „Sammlung“ als Anregung aufnehmen und auch – so wie wir – gemeinsam über die Inhalte sprechen.“ „Genau das haben Frank und ich heute auch gedacht“, pflichtet Jonas bei. „Wir fänden das richtig gut – auch für uns. Bestimmt kommt wieder eine Zeit, in der wir uns eine solche Sammlung noch einmal vornehmen – als Bettlektüre, oder einfach so, wenn einmal Zeit dafür ist.“ „Als Arbeitsbegriff für unsere Sammlung“, fährt Major Seidel fort, könnten wir „Das Leutnantsleben“ oder „Das Leutnantsbuch“ wählen. Aber das können wir ja noch einmal später besprechen.“ „Herr Schmidthuber“, sagt Major Steegemann, „Sie hatten doch neulich auch so ein tolles Erlebnis. Vielleicht beginnen Sie einfach mal mit Ihrer Geschichte, ich bin sicher, dann fallen uns noch weitere ein!“ Alle nicken und Major Schmidthuber beginnt zu erzählen. Das wird sicher ein langer Abend, hier am Lagerfeuer … mit Muskelkater und großer Zufriedenheit – insbesondere für Markus, der seinen Eierhindernislauf gewonnen hat. 178 Leutnantsbuch Einsatz beim Operational Mentoring and Liaison Team (OMLT) in Afghanistan F ast drei Monate beim Einsatzunterstützungsverband Kabul waren bereits vergangen, als mich der Kommandeur in meinem Dienstzimmer aufsuchte. Er meinte, dass wir mal im Schatten des Kompanieblockes „eine rauchen gehen“ sollten. Das war in der Zeit unserer Zusammenarbeit – mittlerweile fast eineinhalb Jahre – bisher noch nicht vorgekommen, zumal ich Nichtraucher bin. Mir war also klar, dass irgendetwas vorgefallen sein musste. Sofort dachte ich an die Kräfte meiner Kompanie, die in Kabul bei angespannter Sicherheitslage unterwegs waren. Doch der Wind wehte aus einer komplett anderen Richtung. Der Kommandeur eröffnete mir, dass die Bundeswehr kurzfristig einen weiteren Ausbildungsauftrag für die Afghanische Armee (ANA) bekommen hat und dazu sei ab sofort qualifiziertes Personal abzustellen – Personal, das sich bereits im Einsatz befindet. Für diese Kameraden würde sich der Einsatz also um weitere Monate verlängern. Aufgrund meiner im Vorjahr gesammelten Erfahrungen sollte ich den Dienstposten des Senior Mentors übernehmen und damit ein OMLT führen. Dabei wird dem Schlüsselpersonal eines afghanischen Bataillons jeweils ein deutscher Soldat zugeordnet, der dann im laufenden Dienstgeschäft als Mentor fungiert. Die Arbeit im OMLT stellt aus vielerlei Sicht eine besondere Herausforderung dar. Die OMLT wirken immer mit anderen Nationen, welche benachbarten, übergeordneten oder unterstellten Verbänden der ANA beratend zur Seite stehen, zusammen. Damit die Zusammenarbeit möglichst friktionslos verläuft, ist hier zwingend interkulturelle Kompetenz und ein hohes Maß an Kommunikationsfähigkeit gefordert, da durch die hohe Anzahl an Nationen und Schnittstellen mit unterschied179 Leutnantsbuch lichem Sprachniveau und verschiedenen Akzenten auch das eigene Englisch nicht immer verstanden wird. Außerdem müssen aufgrund der hohen Dienstgraddichte im OMLT alle anfallenden Tätigkeiten, wie Versorgungsfahrten, Technischer Dienst, Stuben- bzw. Containerreinigung im Team erledigt werden. Auch wenn man als Führer der oft zitierte „primus inter pares“, der Erste unter Gleichen ist, an den besondere Anforderungen gestellt werden, muss alles im gemeinschaftlichen Rahmen bewältigt werden. Die größte Herausforderung liegt aber im eigentlichen Auftrag selbst. Für Ausbildung und Beratung werden meist Sprachmittler benötigt. Hierbei kommt es immer zu einem unvermeidlichen Zeitverzug und einer gewissen Unsicherheit, ob das Gesagte auch so verstanden wurde oder mir die Absicht der afghanischen Kameraden auch richtig übermittelt wurde. Neben diesen Rahmenbedingungen, die an sich schon eine gewisse Gelassenheit und diplomatisches Geschick verlangen, befindet sich die ANA in einem rasant verlaufenden Entwicklungsprozess, der fast täglich Überraschungen mit sich bringt. Die Führer der ANA lassen sich grob in drei Kategorien einteilen: Die mit Ausbildung im russisch geprägten System, die mit westlich orientiertem Ausbildungsgang und die ehemaligen Mudschaheddin, die aufgrund ihrer Stellung in der afghanischen Gesellschaft sehr einflussreich sind. Allen ist aber die afghanische Gelassenheit gemein: z.B. Teetrinken und lange Diskussionen während des täglichen Dienstes. Aufgabe der internationalen Mentoren ist es, die afghanischen Führer zu beraten und ihnen Standardverfahren aufzuzeigen, damit der tägliche Routinedienst, der Ausbildungs- und Gefechtsdienst organisiert und planbar abläuft. Vieles aus dem uns vertrauten Dienstbetrieb der Bundeswehr ist bei 180 Leutnantsbuch einer Armee in der Aufstellung noch nicht vorhanden, sodass wirkliche Pionierarbeit geleistet werden muss. Wenn beispielsweise ein afghanischer Soldat Urlaub nehmen wollte, benötigte er die Unterschriften des Gruppenführers, des Zugführers, des Kompaniechefs, des Spießes, des Rechnungsführers, dann die des stellvertretenden Kommandeurs und letztendlich die des Bataillonskommandeurs selbst. Jeder einzelne Führer will immer an jedem Vorgang beteiligt werden und versucht Einfluss zu nehmen. Dadurch dauerte es entsprechend lange, bis dann bspw. der Urlaub genehmigt ist. Der beantragte Zeitraum ist dann oft schon verstrichen. Nur mit intensiver Überzeugungsarbeit, dass man dem unterstellten Bereich vertrauen kann und dadurch den Kopf für die wichtigen Führungsaufgaben frei hat, konnten wir eine Vereinfachung herbeiführen. So waren am Ende nur noch die Unterschriften des Zugführers, des Spießes und des Kompaniechefs erforderlich. Allerdings ließ sich der Kommandeur noch melden, wer wann im Urlaub war. Die Vereinfachung bewirkte auch, dass die Soldaten meist zur beantragten Zeit frei bekamen, was deren Motivation natürlich deutlich steigerte. Wenn man dann noch erfährt, dass der afghanische Kommandeur dieses Verfahren stolz bei der Kommandeurbesprechung als Fortschritt schildert und damit deutlich wird, dass die afghanischen Kameraden aus Überzeugung und nicht nur aus Höflichkeit einen Rat befolgen, dann wird man für sein eigenes weiteres Handeln motiviert. HI 181 Leutnantsbuch Der Offizierberuf fordert u.a. ein hohes Maß an Offenheit, Flexibilität sowie Kommunikations- und Belastungsfähigkeit – sowohl im Grundbetrieb als auch im Einsatz. Die Einsätze der Bundeswehr finden grundsätzlich im multinationalen Umfeld und in fremden Kulturkreisen statt. Deshalb ist gerade hier bei den Soldaten – auf der Basis des im Grundgesetz verankerten Menschenbildes – kulturadäquates Verhalten, d.h. der offene, sensitive, tolerante und respektvolle Umgang mit fremden Kulturen, Sitten und Gebräuchen unerlässlich. Um darüber hinaus angemessen auf sich ändernde Rahmenbedingungen reagieren zu können, kommt es darauf an, auf die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die hochwertige Ausbildung sowie auf das Können der Soldaten zu vertrauen, um einen Auftrag – und erscheint dieser zu Beginn noch so schwierig – erfolgreich erfüllen zu können. 182 Leutnantsbuch Medien im Einsatz I n Vorbereitung auf den Einsatz als Quick Reaction Force (QRF) des Regional Command North ISAF informierte uns unser Bataillonskommandeur und designierter Commander QRF während einer Teileinheitsführerbesprechung auf dem Truppenübungsplatz in Bergen, dass Medienvertreter ab jetzt unsere ständigen Begleiter sein würden. Er führte weiter aus, dass den Journalisten offen zu begegnen sei. Sie seien dafür verantwortlich, dass über unsere gute Leistung vor und während des Einsatzes in den Medien berichtet werde. Damit, so der Kommandeur, trage jeder Einzelne von uns zum Erfolg des Einsatzes bei! Im Anschluss an diese Besprechung wurde wenig über die Worte des Kommandeurs geredet. Medienpräsenz war als Randnotiz aufgenommen worden. Niemand hätte zu diesem Zeitpunkt geahnt, welche Ausmaße diese Präsenz noch annehmen sollte. In den kommenden Wochen nahm das Medieninteresse an unserer Arbeit jedoch rasant zu. Medientage, Interviews einzelner Soldaten und die Begleitung unserer Züge in der Ausbildung durch Journalisten waren bald an der Tagesordnung. Ständig erschienen Berichte über die „Hightechkrieger des Heeres“ und „… unsere Ausbildung zum Jagen der Taliban …“. Die meisten Berichte freuten uns, viele sorgten aufgrund der unmilitärischen Ausdrucksweise für Erheiterung und sehr wenige erregten unseren Unmut. Die Haltung der Medien war bei allen Begegnungen offen und fair. Nie habe ich erlebt, dass Journalisten uns gegenüber unangemessen oder aufdringlich aufgetreten wären. Auch wurde niemand zu Grundsatzfragen, wie etwa über den Sinn einer Mandatserweiterung, interviewt. Die Fragen der Journalisten waren ebenengerecht und es wurde akzeptiert, wenn jemand keine Antwort geben konnte oder wollte. Bald schon 183 Leutnantsbuch waren wir im Umgang mit den Medien routiniert. Diese bereits vor dem Einsatz gewonnene Routine half im Einsatz. Mit Beginn unserer Verlegung nach Afghanistan nahm das Interesse weiter zu. So gab es schon zu Beginn einen Medientag in Mazar-e-Sharif. Hierbei konnten sich etwa 70 Medienvertreter einen Eindruck davon verschaffen, wie die QRF in verschiedenen Szenarien vorgeht. Es folgten Besuche von Fernsehteams, Delegationen der „Hauptstadtpresse“ und bundeswehrinterner Medien. Medienvertreter folgten uns nach Pol-e-Khomri, auf Patrouille in Samangan und in die Gegend um Kunduz. Ein Fernsehteam stand neben uns im Checkpoint bei Aybak. Manche waren einige Stunden bei uns und hatten offensichtlich relativ feste Fragenkataloge abzuarbeiten. Andere blieben für eine Woche und begleiteten unseren I. Zug in die Region um Feyzabad. Dabei konnten sie die QRF hautnah erleben. Wir haben uns nicht verstellt und keine Fassaden aufgebaut. Wir haben den Medien als Stellvertreter einer interessierten Öffentlichkeit gezeigt, was wir machen und welche Probleme uns beschäftigen. Die Journalisten haben mit uns geschwitzt, Staub geschluckt und gelacht. Sie waren für uns so etwas wie Gäste und die anfängliche Scheu war gewichen. Auch nach dem Einsatz zeigten die Medien weiterhin großes Interesse an uns. Interviews am Rande des Heimkehrerappells, Besuche von Rundfunk und Fernsehen im Standort sowie etliche Berichte über die Einsatznachbereitung sind hierfür Zeugnis. Ich selbst habe beim Umgang mit den Medien stets gute Erfahrungen gemacht. Den Wunsch, einen Soldaten bei der Ankunft in Deutschland zu interviewen und mit ihm den Heimweg anzutreten, mussten wir ablehnen. Die ersten Stunden zu Hause gehören unseren Liebsten und keiner noch so interessierten Öffentlichkeit. HI 184 Leutnantsbuch Die Pressearbeit, d.h. die Zusammenarbeit mit den Medien, ist ein wesentlicher Bestandteil der Informationsarbeit der Bundeswehr. Sie wendet sich insbesondere an Journalistinnen und Journalisten aller Medien im In- und Ausland. Der Umgang mit den Medien ist grundsätzlich freiwillig. Wir betrachten die Journalistinnen und Journalisten als unsere Partnerinnen und Partner und gehen offen und ehrlich mit ihnen um. Als Soldaten hinterlegen wir die Visitenkarte unserer Einheit, des deutschen Heeres und der Bundeswehr. Die Berichterstattung in den Medien über die Aufgaben des Heeres, ihre Einsätze und den Alltag der Soldatinnen und Soldaten informiert die breite Öffentlichkeit unserer Bevölkerung, erzielt gesellschaftlichen Rückhalt und fördert das Vertrauen in die Bundeswehr. Sie trägt damit zum erfolgreichen Bestehen in den Einsätzen bei. 185 Leutnantsbuch Der kühle Kopf! I m Spätherbst erhielt meine Einheit den Auftrag im Einsatzkontingent KFOR eine Sicherungskompanie einer Task Force zu stellen. Kein außergewöhnlicher oder besonderer Auftrag, auch nicht für eine Flugabwehrbatterie. Bei der Erkundung im Dezember wurde aber die Brisanz dieses Auftrages deutlich. Grenzüberwachung an der Grenze zu Mazedonien bedeutet Einsatz im Hochgebirge. Die Ausbildung in allen Teilbereichen begann und schnell stellten sich die besonderen Herausforderungen an Mensch und Material heraus. Im Einsatz angekommen, übernahmen wir die Aufgaben und lebten uns schnell ein. Wenig Zeit, eine große Fülle an Aufträgen und Zusatzaufträgen hielten die Einheit auf Trab. Schnell vergingen die ersten Wochen und die Sicherheit im Handeln nahm zu. Die Leistungsfähigkeit der Soldaten nötigte mir als Einheitsführer Respekt ab, und es wurde schnell deutlich, wie motiviert die Soldaten waren. Leutnant V. war als Zugführer eines Sicherungszuges eingesetzt und stellte bereits in der Anfangsphase des Einsatzes seine Umsicht und Besonnenheit im Umgang mit seinen Soldaten unter Beweis. Vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Vorgesetzten und Untergebenen waren seine Markenzeichen. So war es auch kein Wunder, dass ein weiterer Zusatzauftrag zunächst an Leutnant V. erteilt wurde. Die Kompanie hatte den Auftrag, im Süden des Kosovo einen Bereich der Grenzsicherung zu Albanien und Mazedonien von der türkischen Task Force zu übernehmen. Aufgrund der Ausstattung und Ausrüstung kam für diesen Auftrag nur unsere Kompanie in Frage. Dieser Einsatz erforderte es, ein 186 Leutnantsbuch Höhenlager nahe dem Einsatzgebiet einzurichten, und so wurde Leutnant V. für einige Wochen zum Kommandanten dieses Höhenlagers. Unwegsame Straßen und das überwiegend alpine Gelände forderten den Einsatz von vorgeschobenen Außenposten im Gebirge. Diese wurden in Zeitabständen von zwei bis drei Tagen aus dem Höhenlager versorgt. Zunehmend wurden die Wetterbedingungen in den Außenposten schlechter und immer öfter zogen Nebel und eisige Luft in den Beobachtungsbereich, die die Auftragserfüllung erschwerten. Leutnant V. hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, den Personalwechsel auf den Observation Posts selbst durchzuführen und begleitete somit den Transport von Personal und Material zu den Außenposten. So konnte er sich ein Bild der aktuellen Lage verschaffen und das nachfolgende Personal selbst einweisen. Die Soldaten des Zuges schätzten die Nähe des Vorgesetzten, machte er ihnen doch so die Wichtigkeit ihres Einsatzes in diesem unwirtlichen Gelände deutlich. Wechsel und Transport konnten nur mit dem Überschneefahrzeug Häglund HUSKY durchgeführt werden, alle anderen Fahrzeuge versagten hier ihren Dienst. An einem kalten Morgen im Herbst nahm nun das Schicksal seinen Lauf. Wie so oft startete der HUSKY zum Wechsel des Personals zu den Außenposten. Beladen mit neun Soldaten und Verpflegung für drei Tage, war das Höhenlager schnell verlassen. Eine dichte Wolkendecke hing über dem Kosovo und der HUSKY gewann schnell an Höhe. Oberhalb von 2000 m hatte der erste Frost einen weißen „Zuckerguss“ auf dem spärlichen Bewuchs hinterlassen. 187 Leutnantsbuch Bei der direkten Anfahrt auf den Außenposten 2, auf einer Höhe von 2114 m geschah das, was im Untersuchungsbericht später als Verkettung unglücklicher Umstände beschrieben wurde. Der steile, mit Berggras bewachsene Weg war noch feucht vom Frost der Nacht, der HUSKY bewegte sich langsam auf den Scheitelpunkt des Anstieges zu. Da der HUSKY über ein automatisches Wandlergetriebe verfügt, schaltet dieses ab einer bestimmten Drehzahl in eine höhere Gangstufe. Und genau das tat das Getriebe jetzt. Der HUSKY, kurz vor dem Scheitelpunkt, hatte nun keine Leistung mehr zur Verfügung, um sich weiterhin der Schwerkraft entgegen zu stemmen. Das Fahrzeug begann rückwärts zu rutschen und geriet in Schieflage. Nach wenigen Metern kippte der Wagen und begann sich zu überschlagen. Durch mindestens vier Überschläge wurde die Karosserie zertrümmert, die Insassen und die Ausrüstung in ein Geröllfeld geschleudert. Die Bodengruppe des HUSKY blieb mit den Ketten nach oben ebenfalls in diesem Geröllfeld liegen. Die Soldaten waren alle verletzt, zwei Soldaten davon schwer. Obwohl selbst verletzt, begann Leutnant V. sofort, die leichter verletzten Soldaten einzuteilen. Einen vom Außenposten herbeigeeilten Soldaten beauftragte er damit, einen Notruf abzusetzen. Er selbst und zwei weitere Soldaten begannen mit der Versorgung der Verletzten. Später erzählte er mir, dass er in diesen Minuten wie in Trance handelte. Ob nun wie in Trance oder bei vollem Bewusstsein, die Erstversorgung wurde später vom eingetroffenen Notarzt als vorbildlich eingestuft und war 188 Leutnantsbuch verantwortlich dafür, dass den Verletzten kein bleibender Schaden entstanden ist. Erst nach dieser Erstversorgung und nach der Betreuung des unter Schock stehenden Kraftfahrers gestattete Leutnant V. einem Soldaten, dass dieser ihm auch seine Verletzungen versorgte. Über die OPZ der Task Force wurde ein Notruf abgesetzt, schnell war der für diese Zwecke vorbereitete Hubschrauber CH 53 in der Luft. Allerdings war der Pilot nicht in der Lage, die Maschine in der Nähe des Außenpostens zu landen. Nebel und schlechte Sicht machten eine Landung unmöglich. Nach einer ersten notfallmedizinischen Versorgung wurden die Verletzten mit dem inzwischen eingetroffenen Beweglichen Arzttrupp (BAT) zum nächsten möglichen Landeplatz des Hubschraubers transportiert und in das Feldlazarett nach Prizren geflogen. Noch am gleichen Abend wurden zwei Soldaten von der Luftwaffe nach Köln ausgeflogen und dort in ein Bundeswehrkrankenhaus eingeliefert. Nach einhelliger Meinung aller Beteiligten ist es dem umsichtigen und besonnenen Verhalten von Leutnant V. zu verdanken, dass bei den verletzten Soldaten keinerlei bleibende Schäden an Leib und Seele entstanden sind. Alle Soldaten dieser Fahrt wurden im Anschluss an die medizinische Versorgung durch den Truppenpsychologen betreut und waren nach wenigen Tagen erneut einsatzbereit. Lange Gespräche mit dem Kraftfahrer nahmen ihm die Schuldgefühle und auch dieser Soldat war nach einigen Tagen bereit, sich erneut hinter das Steuer zu setzten. Der Einsatz ging ohne weitere tragische Vorfälle zu Ende und seitdem habe ich Leutnant V. etwas aus den Augen verloren. 189 Leutnantsbuch Vor einigen Wochen erhielt ich jedoch die Nachricht, dass er mittlerweile zum Hauptmann befördert wurde und in die Laufbahn der Berufsoffiziere übernommen wurde. Über diese Entscheidung freue ich mich außerordentlich, traf sie doch den Richtigen, einen vorbildlichen Kameraden und Vorgesetzten. HI Vorbild sein, auch in Notlagen! Der Leutnant schuf dadurch eine verlässliche Vertrauensbasis, dass er sich unablässig um seine Männer und Frauen kümmerte – im besten Sinne des Wortes. Er zeigt Interesse für deren Aufgabenerfüllung, teilt Belastungen mit ihnen und führt von vorn! Er zeigt fachliche Kompetenz, auch als Ersthelfer am Unfallort! Trotz eigener Verletzung bewahrt er die Übersicht, koordiniert die ersten sanitätsdienstlichen Maßnahmen und aktiviert die Rettungskette. Die Geschichte zeigt auch: Unsere Rettungskette funktioniert – und dies nicht nur in diesem Fall! Besonnen und kompetent handelnde Führer, eine funktionierende Rettungskette und eine offene Fehler- und Gesprächskultur nach dem Unfall schaffen Vertrauen und die Grundlage für ein rasches Wiederherstellen der Einsatzbereitschaft! 190 Leutnantsbuch Führen von irgendwo! I ch befinde mich seit zwei Tagen auf dem Truppenübungsplatz Wildflecken und nehme mit meinen Kameraden an der einsatzvorbereitenden Ausbildung teil. Unsere Gruppe besteht aus einem Oberst, mehreren weiteren Stabsoffizieren und den Männern aus der „Truppe“. Vorbereitung für Afghanistan, ein sehr gefährliches Land – im Süden. Im Norden, so hofften wir damals, im Bereich des durch die Bundeswehr geführten Regional Command, würde es hoffentlich etwas anders aussehen. Dort möge man die Deutschen und freue sich über die zielstrebige Hilfe und die Unterstützung beim Wiederaufbau des Landes. Dennoch muss sich jeder Soldat, der die Heimat Richtung Afghanistan verlässt, auf Gefangenschaft und Geiselhaft vorbereiten. Aus diesem Grund nehmen wir an der Ausbildungsstation „Geiselhaft“ teil. 10.00 Uhr: Wir fahren in einem Bus über den Übungsplatz, als plötzlich vermummte und bewaffnete Milizionäre auf der Straße stehen. Aus neun Uhr eine MG-Garbe, die den Bus zum Stehen bringt. Wie es ausgebildet wurde, verhalten wir uns ruhig und machen keine Anstalten, uns zu wehren. Ohne Waffen können wir sowieso nichts ändern – Hilflosigkeit! Der Führer der Geiselnehmer betritt den Bus und schreit mit ausländischem Akzent: „Wer ist der Chef im Bus?“ Niemand antwortet – alle warten, Totenstille! Einer der Milizionäre kommt auf mich zu, nimmt mich am Arm, zerrt mich aus dem Bus und sagt: „Du Chef!“. Ich denke: „Mist!“. Widersprechen will ich nicht, denn das zieht Sanktionen nach sich. Es folgen mehrere Stunden Geiselhaft, eine sehr realistische Ausbildung. Dann ist endlich Schluss! 14.00 Uhr: Einrücken in den U-Raum, um die Schlussbesprechung durchzuführen. Die ganze Gruppe sitzt müde auf den Stühlen und trotzdem herrscht ein wenig Unruhe. 191 Leutnantsbuch Ich kann mich vor Spannung kaum auf dem Stuhl halten, denn mir brennt eine Frage unter den Nägeln. Doch der Ausbilder ist schneller und direkter, als ich es in dieser Situation jemals gewesen wäre und stellt dem Oberst, ohne Umschweife eine mutige Frage: „Zu Beginn der Geiselhaftausbildung fragte der Anführer der Miliz nach dem „Führer der Gruppe“. Warum haben Sie sich nicht gemeldet? Es folgte eine Antwort, die jeder Soldat aus seiner Grundausbildung kennt: „Mich hat niemand zum Führer des Busses eingeteilt!“ 192 Leutnantsbuch Haar- und Barterlass, Piercing und Tatoos D ienstagmorgen, 08.30 Uhr: Seit knapp sechs Monaten bin ich Zugführer in der 4. Kompanie, habe mich nach anfänglichen Höhen und Tiefen ganz gut bei uns eingewöhnt, die innere tägliche Anspannung ist schon ein bisschen der Routine gewichen, und ich kenne auch schon die meisten Offiziere im Bataillon. Heute um 10.00 Uhr ist Offizierweiterbildung mit allen zusammen im Offizierheim. Der Rechtsberater der Division kommt, die Spieße sind ebenfalls dabei. Ein Kamerad sagte mir, das geschähe eher selten. Im Schwerpunkt soll es wohl um das Disziplinarrecht gehen. Na ja, Wehrrecht war an der OSH nie meine besondere Stärke, im UZwGBw fühle ich mich auch heute noch nicht ganz sicher. Ich werde in Deckung bleiben, keine Fragen stellen und mich hoffentlich vor dem Kommandeur und den anderen Offizieren nicht blamieren, wenn sich jemand an mich wendet. 10.15 Uhr Nach der Meldung an den Kommandeur durch den Stellvertreter und einleitenden Worten erklärt der Kommandeur, wichtig sei ihm die Teilnahme der jüngeren Offiziere, da auch sie gelegentlich in der Situation seien, den Chef zu vertreten ... Toll, das wird ja heiter: Tests für die Oberleutnante und die Einsatzoffiziere ... Der Rechtsberater – man nennt ihn RB, ein etwas kühl wirkender Mensch, Jackett, Krawatte, ausgebeulte Hose, alte Lederaktentasche, kein großer Sympathieträger – trägt vor, weniger über einfache Disziplinarmaßnahmen, vielmehr über den Haar- und Barterlass. Immer wieder gebe es 193 Leutnantsbuch Beschwerden über diesen Erlass des BMVg, sei es, dass er vermeintlich zu stark in die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen eingreife, sei es, dass er die Frauen und Männer ungleich behandle. Da dieser Erlass des BMVg als einer der ganz wenigen unmittelbaren Befehlscharakter habe, musste sich der Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts schon mit ihm beschäftigen. Über den Minister kann man sich nur dort beschweren. Na die haben Sorgen. Zum Glück hatte ich damit noch keinen Ärger. Meine Jungs haben fast alle ganz kurze, einige auch gar keine Haare auf dem Kopf und die drei Frauen tragen ausschließlich Zopf im Dienst. Mit kurzen Haaren möchte ich sie mir gar nicht vorstellen. Jetzt, nach einigen Minuten, hat sich die Atmosphäre etwas gelockert und der „kühle Mensch“ aus dem Divisionsstab zieht mich durch teilweise heitere Beispiele und präzise Formulierungen schon fast in seinen Bann. Blicke nach links und rechts bestätigen mir: Den anderen geht es ebenso. Mir reicht es, wenn ich mir merkte, dass die Pflicht für Soldaten, sich kurze Haare schneiden zu lassen, nicht unverhältnismäßig in die Persönlichkeitsrechte eingreife und zu dulden sei. Zu der ungleichen Behandlung von Soldatinnen und Soldaten hat der RB einen Kernsatz gesagt, der mir einleuchtet: „Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln“. Prima. 10.45 Uhr Nach einer kurzen Pause, ich bin überrascht, wie viele doch noch rauchen, geht es weiter. Hauptmann L., Chef 2. Kompanie, geradlinig, dabei jugendlich, unverheiratet, spricht manchmal etwas zu laut, hat vorhin das Thema Piercing und Tatoos angerissen und der Kommandeur bat den RB, darauf einzugehen. 194 Leutnantsbuch Achtung, aufgepasst, Oberfeldwebel L. und Feldwebel S. haben beide Tatoos auf den Oberarmen und Stabsunteroffizier F. habe ich in Zivil schon mit einem Ohrring gesehen; ich mochte diese Kameraden jedoch noch nicht darauf ansprechen. Nun würde es etwas komplizierter werden, ruft der RB freudig, doch er fängt beim Einfachen an. Piercing sei eine Art von Schmuck, Tatoos ebenfalls. Die Innendienstvorschrift bestimme, dass männliche Soldaten zur Uniform keinen Schmuck tragen dürften, ausgenommen zwei Ringe, Krawattenspange und Manschettenknöpfe. Wer trägt so was schon ...? OK. Klare Regelung. Frauen dagegen dürfen, außer im Einsatz, „dezenten“ Schmuck tragen. Ausnahmen kann der Chef aus Sicherheitsgründen, z.B. Sport, befehlen. Aber was ist schon dezent? Zur Freude aller zeigt der RB einige Fotos „gepiercter Ungetüme“ und sagt unmissverständlich: Lippen- und Nasenpiercing sind sicher keine dezenten (Duden: „vornehm-zurückhaltend, unaufdringlich“) Schmuckstücke. Sie dürfen während des Dienstes nicht getragen werden. Gut so. Klare Regelung. Aber was ist mit den auffälligen Ohrsteckern in Form des Cannabisblattes? Meine Gedanken spricht für mich Chef 1. Kompanie aus. Jetzt windet sich nach meinem Geschmack der RB und sagt, hier müsse jeder Einzelfall betrachtet werden. Dies sei schließlich die königliche Aufgabe des Disziplinarvorgesetzten. Na toll, das hilft mir kein bisschen weiter, doch nach einigen Minuten der offenen Diskussion sehe ich ein, dass hier schlecht ein Katalog des Zulässigen und des Verbotenen erstellt werden kann. Der RB fährt fort: 195 Leutnantsbuch Gleichzeitig sei zu unterscheiden zwischen Schmuck, der einfach an- und abzulegen sei und demjenigen, der nur operativ entfernbar sei. Ein Befehl, sich z.B. das Piercing operativ entfernen zu lassen, ist unzulässig, da der Soldat oder die Soldatin einen derartigen Eingriff nach § 17 Abs. 4 SG nicht erdulden muss. In der Realität ist dann das Abkleben mit einem Pflaster die richtige und sinnvollste Maßnahme. Auch wichtig für die Beurteilung des Sachverhaltes und das Durchsetzen des Verbotes ist die Frage, ob das Piercing vor dem Wehrdienst eingesetzt wurde oder erst nach Dienstantritt – in Kenntnis des Verbotes – gestochen wurde. Bei Letzterem läge z.B. eine Dienstpflichtverletzung vor. Na hoffentlich haben wir bei uns nicht mal so einen Fall ...! „Und wie verhält es sich mit dem Tatoo, die Schlange von der Schulter über den Hals bis hin zum Ohr“, fragt der Spieß der 3. Kompanie. Er hat bestimmt einen konkreten Fall in der Kompanie im Auge. Tatoos, oder landläufig Tätowierungen, seien sozusagen „Permanentschmuck“, und unterlägen denselben Bestimmungen wie Piercings. Gibt es dezente Tatoos? Sie seien durch Pflaster abzudecken, denn der Befehl, sie wegoperieren zu lassen, sei schlicht nicht durchsetzbar. Aber wie bei Piercings sei das Stechen von sichtbaren Tatoos während des Wehrdienstverhältnisses wieder eine Dienstpflichtverletzung. Auf die Frage, wo man dies alles nachlesen könne, musste der RB passen. Es gäbe hierzu, neben den Aussagen zu Schmuck in der Anzugsvorschrift ZDv 37/10, keine ergänzenden Erlasse. Plötzlich wird er „bissig“ und merkte noch an, dass man auch in Deutschland nicht das ganze reale Leben in Erlasse und Vorschriften pressen könne. Schweigen im Raum. 196 Leutnantsbuch Mit einer persönlichen Anmerkung des Kommandeurs zu seiner 15-jährigen Tochter entschärfte dieser die Situation und wollte zum nächsten Thema „Der Vollzug“ überleiten. Der RB bat noch um einen Satz zum alten Thema: Durchaus wieder vertrauensvoll riet er uns, ihn bei solchen Fragen einfach anzurufen, auch dafür sei er schließlich da und werde ordentlich bezahlt. OK! Das war ein guter Schlussstrich und insgesamt überzeugend. HI Sei Vorbild! Halte Maß! Es gibt Grenzen der Toleranz. Die Achtung der Persönlichkeit ist wesentliches Merkmal und zugleich Forderung unseres Gemeinwesens. Sie findet jedoch u.a. dort ihre Grenze, wo die Freiheit Anderer beeinträchtigt wird oder wo zulässige Einschränkungen auf Angehörige staatlicher Institutionen wirken. Gesellschaftliche Erwartungshaltungen hinsichtlich der Haartracht und dem Tragen von Schmuck sind bei der Bundeswehr in maßvollen Erlassen niedergelegt. Es ist die Pflicht des Vorgesetzten, diese Bestimmungen durchzusetzen. 197 Leutnantsbuch Die Besprechung M ittwoch. 15.30 Uhr. Ein sonniger Tag im Frühsommer. Ich bin Zugführer in einem Panzerbataillon. Wir waren gerade von einem anstrengenden Grundausbildungstag aus dem Gelände zurück. Feuerkampf und Alarmposten waren die Themen laut Dienstplan. Mein Zug begann mit dem Waffenreinigen, das der Versorgungsdienstfeldwebel bereits vorbereitet hatte. Tische mit Gummimatten, Dochte, Reinigungsmittel, alles stand parat. Ich verschwand auf meiner Stube, nachdem ich meinem Stellvertreter die weitere Organisation übergeben hatte. Der Tag war anstrengend gewesen, ich war müde und hatte den Kopf voll. Schon kurz nach dem Mittagessen im Gelände hatte der Kompanietruppführer die Züge abgefahren und den Befehl des Kompaniechefs weitergegeben: „Besprechung um sechzehnhundert im Kompaniebesprechungsraum.“ Mittwoch war Besprechungstag im Bataillon. Die Kompaniechefs und der Stab fanden sich beim Bataillonskommandeur ein, vorher trafen sich die Chefs untereinander. Daher war der Kompaniechef wohl auch nicht zur Dienstaufsicht im Gelände. Der Kommandeur war da, hat aber nichts gesagt. Die Zeit wird knapp: Waffe grob reinigen und übergeben, Signalmunition abgeben, Uniform grob ausputzen, Stiefel wechseln, für’s Reinigen bleibt keine Zeit. Der Chef nimmt das sehr genau und schließlich will ich im Kameradenkreis ein Beispiel geben. Bloß keine Patzer! Unterlagen schnell noch unter den Arm geklemmt, gerade noch rechtzeitig erreiche ich den Besprechungsraum. Ein Blick auf den Kompaniechef, er verzieht keine Miene. 198 Leutnantsbuch Pokerface. Keine Einschätzung der Situation möglich, ich hoffe, dass alles gut gelaufen ist. Ich bin erst seit fünf Wochen in der Kompanie, aber der Besprechungsablauf ist mir schon etwas vertraut. Punkte aus der Chefbesprechung, erst vom Kommandeur, dann vom Stab. Punkte vom Kompaniechef, es folgen Spieß, und Kompanietruppführer, Versorgungsdienstfeldwebel, Zugführer I bis IV. Die drei anderen Zugführer sind erfahrene Portepees. Der II. Zug wird normalerweise auch von einem Offizier geführt. Ich fühle mich auf mich allein gestellt. Trotz aller Kameradschaft wollen sich die anderen, erfahrenen Zugführer immer gut darstellen und wissen auch meist wie. Auch der Kompaniechef will gut dastehen und stützt sich sehr auf die anderen drei ab. Er ist noch Oberleutnant und war vorher S2-Offizier im Bataillon. Mir fällt es noch nicht so leicht, meinen Zug zu präsentieren. Ich versuche, objektiv zu bleiben und hoffe, mich durchzusetzen und respektiert zu werden. Vielleicht sollte ich auch einfach mal offen auf meine Zugführerkameraden zugehen und das Gespräch suchen. Die alten Hasen haben bestimmt ein paar Tipps auf Lager und geben ihre Erfahrung auch weiter. Meine Gedanken schweifen ab, etwas zu sehr und so überhöre ich, dass der Kompaniechef mich direkt anspricht. Ich schrecke auf. Leises Lachen im Raum. „Konzentrieren Sie sich. Hier spielt die Musik“, sagt der Chef, „und wenn die Sonne draußen zu warm war, dann bin ich jetzt mal die Sonne, damit Ihnen warm wird.“ Wie ich diese Sprüche liebe. 199 Leutnantsbuch „Jawoll, Herr Oberleutnant“, ich entschuldige mich nicht, denke ich bei mir, denn das tut ein Offizier nicht, er bittet um harte, aber gerechte Bestrafung. Auch so ein seltsamer Spruch, der mir vom letzten Lehrgang noch in Erinnerung geblieben ist. Ich weiß nicht, wie lange ich gedanklich abwesend war, wohl lange genug, um zu überhören, dass der Spieß zwei Soldaten meines Zuges zum Dienstbeginn auf dem Geschäftszimmer haben wollte. Was ich dann hörte, klang vertraut, Dienstaufsichtsbemerkungen des Kommandeurs: Ausbau der Schützenmulden, Tarnung der Soldaten, Feuereröffnungslinie, einheitliches Feuerkommando – Ausbildungsablauf i.O., Gruppenführer engagiert, Soldaten motiviert – na also, alles wird gut. Der Einsatz von Darstellungsmitteln im I. Zug hat dem Kommandeur besonders gefallen. Hm, ich hätte mich gefreut, wenn er das auch im Gelände bei der Ausbildung mal gesagt hätte. Meine Stimmung hellt sich auf und auch der Kompaniechef scheint zufrieden. Er gibt das Wort an die Zugführer. „Keine Punkte, Herr Oberleutnant“, sage ich. Zu mehr bin ich nicht mehr in der Lage, der Tag und auch die letzten Wochen waren anstrengend – auch wenn ich es mir nicht eingestehen will. Erst viel später fällt mir ein, dass ich mir eigentlich auf dem Rückweg von der Ausbildung Gedanken machen wollte. Der Spieß schaut in meine Richtung und sagt: „Schütze Meyer aus dem I. Zug hat sich nur leicht den Fuß verknackst, er ist auf dem Weg vom Röntgen in die Kompanie und wird sich gleich bei Ihnen zurückmelden, Herr Leutnant.“ Das hätte ich melden müssen, denke ich, schon wieder ein Fettnäpfchen. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn 200 Leutnantsbuch und ich vernehme einen Seufzer aus Richtung Kompaniechef. Lieber Gott, lass` es enden, denke ich im Stillen. Es ist schon nach 17.00 Uhr, der Zug ist auf dem Weg zum Abendessen. Endlich vorbei. Ich beschließe, kein Antreten mehr durchzuführen, der Rest folgt morgen ... und ein „Anraunzer“ vom Spieß, verbunden mit der mir deutlich unangenehmen Frage, warum meine beiden Soldaten nicht wie befohlen bei ihm gewesen wären und ob ich meinen Zug nicht eingewiesen hätte? Die Soldaten des I. Zuges wüssten nie über irgendetwas Bescheid. Ich spare mir hier Weiteres. Meinen Einstieg hatte ich mir anders vorgestellt. Ich denke nach. Wie war das mit der Selbstreflexion und dem inneren Wachstum? Ich versuche die Bruchstücke zusammenzusetzen. Die Ausbildung war gut, ein erster Erfolg, ich habe es geschafft, Erlerntes umzusetzen. Weiter dranbleiben. Ein erstes Ziel. Aber die Besprechung? Auch – nein, gerade dieses Tagesgeschäft ist ein wichtiger Bestandteil, denn das Austauschen von Informationen ist wesentliche Grundlage jeder Führungstätigkeit. War ich zu leichtfertig? Verantwortung tragen ist nicht immer einfach, heißt aber auch, sich Fehler einzugestehen, sie zuzulassen und es besser zu machen. Ich beschließe, mich beim nächsten Mal mehr zu konzentrieren. Ich will mich so frühzeitig wie möglich vorbereiten und mir Notizen machen, als Gedankenstütze – aufschreiben hilft. 201 Leutnantsbuch Und woher nehme ich die Zeit dafür während der Ausbildung? Ich bin nicht alleine. Ich habe gute Ausbilder im Zug. Wenn die Ausbildung läuft, dann kann ich die bestimmt mal einige Minuten alleine arbeiten lassen. Das können die. Vertrauen ist notwendig, Vertrauen schenken, aber trotzdem die Kontrolle behalten. Außerdem können sie den Zug auch auf dem Laufenden halten, wenn ich Ihnen rechtzeitig die Information gebe, und umgekehrt mich natürlich auch. Ein neues Ziel. HI Trage Verantwortung! Schenke Vertrauen! Reflektiere Dein Verhalten! Die Schlussfolgerungen am Ende der Geschichte beschreiben wichtige Aspekte des Soldatenberufes. Wichtig dabei ist, dass man die Erkenntnis hat, dass man nicht alleine ist! Andere sind auch gut, vielleicht sogar besser – vertraue Ihnen! Das schafft Zeit für andere Dinge! Wichtig dabei ist, Informationen aufzunehmen und weiterzugeben – im Gespräch bleiben. 202 Leutnantsbuch Die Lehrprobe E in knappes Jahr ist seit dem „EK I“, dem Einzelkämpferlehrgang, vergangen und ich bin wieder Hammelburg. Ich melde mich an der Infanterieschule, in der Einzelkämpferinspektion zum Lehrgang. Der „Mythos“ ist für uns nicht mehr so stark, denn alles ist noch sehr vertraut: die Unterkünfte, die wir wohl kaum die ganze Zeit nutzen werden, die Ausbilder, der Abseilgarten, die Hindernisbahn und die Rhön, die uns in den folgenden Wochen noch einiges abverlangen soll. Meine Erwartungen sind hoch, denn es handelt sich jetzt um den Einzelkämpferleistungslehrgang oder kurz: „EK II“. Das Jahr haben wir gut für die Vorbereitung genutzt und ich fühle mich so fit wie noch nie zuvor. Hindernisbahn, Geländelauf und auch Gepäckmärsche stellen kein Problem dar. Ein Ziel haben wir alle vor Augen: Das Abzeichen für den Einzelkämpfer, das auch die Befähigung zum Ausbilden der EK I – Themen deutlich macht. Wie auf fast jedem Lehrgang beginnt es mit Theorie. Die Grundlagen aus dem ersten Lehrgang werden aufgefrischt, erweitert und wir bereiten erste Lehrproben vor. Knotenkunde, Überwinden von Hindernissen, Überleben unter widrigen Bedingungen sind durchaus noch präsent. Zusätzlich kommt der Jagdkampf hinzu, wir gehen also einen Schritt weiter. Nebenbei erfolgen die ersten Tests der körperlichen Leistungsfähigkeit, die aber alle problemlos schaffen. Schließlich rückt meine erste Lehrprobe auf dem Lehrgang heran: Ich bin Ausbilder im Abseilgarten der Kaserne. In dieser Grundlagenausbildung sollen sich die Soldaten im Karabinersitz vom circa fünf Meter hohen Holzturm 203 Leutnantsbuch abseilen, um sich an die Höhe und den Umgang mit dem Material zu gewöhnen. Das Wetter ist gut, die Stimmung auch. Ein Hörsaalkamerad aus der Truppenschule ist als Erster an der Reihe, wir beide haben schon an mehreren Abseilausbildungen teilgenommen. Der Ablauf ist wie gewöhnlich: Ich rufe ihn zu mir, prüfe den behelfsmäßigen Brust- und Sitzgurt und hänge das Bergseil ein. Als alles in Ordnung ist, gebe ich das Kommando: „UND AB!“ „STOP – Sind Sie wahnsinnig?!?“, hallt es sofort aus dem Hintergrund. Heiß und kalt läuft es mir den Rücken herunter: „Was ist passiert, was habe ich falsch gemacht?“ Der Ausbilder ist mit einem Satz bei uns. Ewig lange Sekunden vergehen, bis es mir dämmert: der Schraubkarabiner! Immer und immer wieder haben uns die Ausbilder darauf hingewiesen, ja den Karabiner zuzuschrauben … Meine Ausbildung wird abgebrochen und ein anderer Lehrgangsteilnehmer setzt mit seiner Aufgabe fort. Kurz gehen meine Gedanken in alle möglichen Richtungen. Hätte mir mein Kamerad nicht helfen können? Was passiert jetzt weiter? Werde ich vom Lehrgang abgelöst? Was bleibt, ist nur eins: Es war allein mein Fehler und ich muss für ihn gerade stehen. Später erfahre ich, dass ich zwar entgegen der Vorschrift gehandelt habe, aber keine Sicherheitsbestimmung verletzt wurde. Das bewahrt mich zwar vor der Ablösung vom Lehrgang, macht mich aber nicht wirklich glücklich. Was hätte hier oder in einer richtigen Abseilsituation alles passieren können? Den Rest des Lehrganges versuche ich alles, um die Scharte auszuwetzen. Wir marschieren tags und nachts mit über 204 Leutnantsbuch dreißig Kilogramm Ausrüstung durch die Rhön, führen Handstreiche, Hinterhalte und weitere Ausbildungen durch. Obwohl alles gut läuft, kreisen meine Gedanken immer wieder um die Situation auf dem Turm. Zum Ende des Lehrganges steht dann fest: bestanden. Die verpatzte Ausbildung schlägt sich deutlich im Zeugnis nieder. Trotz nicht besonders guter Noten bekomme ich zusammen mit allen noch Verbliebenen das Abzeichen verliehen – zufrieden bin ich nicht. Eine Woche später sind wir alle zurück an der Truppenschule und erhalten sofort den Auftrag, den Nachfolgejahrgang in einer Vorausbildung auf den EK I vorzubereiten. Die Themen sind Durchschlagen, Orientieren, Nahkampf und als letzte Station das Überwinden eines Hindernisses durch Abseilen mit mir als Stationsleiter. Nach ein paar Wochen ist es dann soweit. Nicht fünf, sondern 45 Meter geht es in einem alten Steinbruch nach unten. Wir bereiten die Abseilstelle vor und testen den Weg nach unten. Ein Offizieranwärter nach dem anderen kommt zu mir und meldet sich zum Abseilen. Der eine cool, der andere zittrig, aber alle geschafft von den Anstrengungen der letzten Tage und mit Respekt vor der Höhe. Peinlich genau prüfe ich jeden einzelnen Sitzgurt, jeden Karabiner und das korrekt eingehakte Sicherungsseil. Am Ende des Tages sind alle knapp fünfzig Kameraden sicher auf der Sohle des Steinbruches angekommen und erleichtert verpacken wir Seile, Gurte und Zubehör. Als ich einige Kameraden später nach der Ausbildung frage, höre ich nur positives Echo. Erst jetzt habe ich das Gefühl, den EK II wirklich bestanden zu haben. 205 Leutnantsbuch Was habe ich gelernt? Natürlich werde ich den Karabiner jetzt immer zuschrauben, aber das lässt sich auch auf andere Bereiche übertragen. Ausbildung ist wichtig und Fehler sind es ebenso. Ein Sprichwort sagt: „Wer keine Fehler macht, wird nicht erfahren.“ Aufpassen muss man nur, dass man aus Fehlern in der Ausbildung lernt, um vorbereitet zu sein, wenn es darauf ankommt. Außerdem ist es gerade für den Offizier als militärischen Führer wichtig, Soldaten auch nach Fehlern wieder in die Verantwortung zu stellen, sie aufzubauen und sich dann ein eigenes Bild von ihrer Leistungsfähigkeit zu machen. Ich bin heute noch dankbar, dass ich auch mir selbst nach dem Lehrgang beweisen konnte, dass ich das Abzeichen zu Recht auf der Brust trage. HI Akzeptiere Dich! Entwickle Dich weiter! Führer sein heißt, Verantwortung jederzeit wahrzunehmen. Aus der Verantwortung wird man nicht entlassen, sie ist nicht teilbar oder delegierbar! Verantwortungsbewusstes Handeln beinhaltet immer auch eine persönliche Fehlerkultur: Eigene Fehler eingestehen, die Fehler anderer akzeptieren. Wer Fehler nicht erkennt oder sie verschweigt, wird unzufrieden. 206 Leutnantsbuch Beim Handgranatenwerfen E s ist Februar, der vorletzte Tag eines Truppenübungsplatzaufenthalts in Bergen. Ich bin Oberleutnant in einer Panzerpionierkompanie und eingeteilt als Leitender beim Handgranatenwerfen. Alles läuft reibungslos. Für viele der jungen Kameraden ist es das erste Mal, dass sie eine Gefechtshandgranate in der Hand halten. Ich versuche durch erneutes Erläutern des Ablaufs und vor allem durch das Ausstrahlen von Ruhe, den Kameraden die Nervosität zu nehmen. Im letzten Rennen ist ein Gefreiter, der zuvor als Absperrposten eingeteilt war. Wie die Kameraden vor ihm, weise ich ihn nochmals in den Ablauf ein, gebe ihm ein Hilfsziel und fange an, die Kommandos zu geben: „Fertig machen zum Handgranatenwurf!“. Die Granate fest an den Oberschenkel gepresst, löst er den Ring aus der Arretierung und schaut mich an. Für mich das Zeichen, dass er bereit ist. Auf mein Kommando „Wurf!“ schaut er mich wiederum an, wirft aber nicht. „Sie können jetzt werfen!“, war meine Reaktion. Und das tat er dann auch. Nur eine kleine, aber entscheidende Sache hat er dabei vergessen – den Splint zu ziehen. Ich sehe den Splint an der Granate in der Sonne blitzen, ziehe den Gefreiten aber dennoch an seiner Splitterschutzweste runter, denn sicher ist sicher. Erwartungsgemäß bleibt der Detonationsknall aus und wir beide hocken in der Werferstellung. „Fünf Minuten die Köpfe unten halten!“, höre ich meinen Sicherheitsoffizier (SO), einen erfahrenen Hauptfeldwebel aus dem Bunker brüllen. „Der Feuerwerker wird gerade informiert!“. „Meine Fresse!“, denke ich, „Warum muss so etwas denn immer kurz vor Toresschluss passieren?“ Innerer Gram steigt in mir auf und ich frage den Gefreiten, der wie ein Häufchen Elend mir direkt gegenüber kauert: „Was war 207 Leutnantsbuch das denn jetzt?“ „Ich weiß auch nicht.“, kam nur zurück. Schweigend verbrachten wir die restlichen vier Minuten. Wieder zurück im Bunker, warteten wir auf den Feuerwerker. Derweil unterhielt ich mich mit meinem SO und legte ihm immer noch leicht angesäuert dar, dass ich den Gefreiten nicht mehr werfen lassen wolle. Darauf meinte der Hauptfeldwebel: „Hören Sie. Der Junge ist jetzt total am Boden. Wenn er nicht mehr werfen darf, ist das sicherlich alles andere als gut für sein eh schon angekratztes Selbstbewusstsein. Ich würde ihm sein Erfolgserlebnis geben.“ Der Feuerwerker traf erfreulicherweise kurz darauf ein. Ich schilderte ihm das Geschehene und wies ihn ein. Nachdem er die Granate gefunden und kurz in Augenschein genommen hatte, nahm er sie auf und kam wieder zurück zum Bunker. „Hier ist das gute Stück.“ Der Feuerwerker fuhr mit seinem Wolf wieder aus dem Gefahrenbereich und ich hatte mir in der Zwischenzeit die Worte des Hauptfeldwebels noch mal durch den Kopf gehen lassen. „Gefreiter H., zu mir! Gehörschutz rein, Helm auf und mitkommen.“ In der Werferstellung wies ich den Kameraden nochmals explizit in die Übung ein und merkte, wie seine Anspannung nach meinen „besonders“ beruhigenden Worten nachließ. Man konnte förmlich sehen, wie der Gefreite das Gesagte in seinem Kopf noch einmal für sich durchging. Beim Werfen der insgesamt drei Handgranaten gab es dann auch keine weiteren Mängel. Im Nachhinein bin ich froh darüber, dass der Hauptfeldwebel mich umgestimmt hat, da eine Ausbildung ohne Erfolgserlebnis wenig Nährwert hat. Die letzten Tage unseres Truppenübungsplatzaufenthalts konnte man den besagten Gefreiten mit einem breiten Lächeln auf den Lippen herumlaufen sehen. 208 Leutnantsbuch HI Höre auf erfahrene Kameraden. Gerade ältere Unteroffiziere mit Portepee haben meist mehr Diensterfahrung. Die Autorität eines Vorgesetzten wird durch das Annehmen eines guten Rates nicht geschmälert. Die selbstständige Unterstützung älterer Kameraden gegenüber einem jungen Offizier kann sogar Ausdruck von Vertrauen und Anerkennung sein. 209 Leutnantsbuch Der letzte Flug A m Vorabend hatte ich mit ihm noch etwas zusammen getrunken, bevor am Tag darauf die Meldung durch das Feldlager in Bosnien ging, dass er mit seinem Transportpanzer FUCHS an einem Berg abgestürzt und dabei um`s Leben gekommen war. Während die sterblichen Überreste in einem Kühlcontainer aufbewahrt wurden, stellte unser Kommandeur die Frage nach dem Ehrengeleit bei der Überführung des Sarges in das Flugzeug nach Hause. Es waren genau weitere sechs Kameraden in unserem Verband, die denselben Dienstgrad trugen wie der Verunglückte. Alle erklärten sich sofort bereit, das letzte Geleit im Einsatzland zu stellen. In langsamen Schritten trugen wir den Sarg vom Transporter am Flughafen durch ein langes, multinationales Spalier über das Flugfeld zum Flieger. Auf der geöffneten Ladeklappe der Transall stellten wir den Sarg ab und nahmen an dessen Seite Aufstellung. Dann blies ein Trompeter das Lied vom guten Kameraden, welches weit über das Flugfeld hallte. „Ich hatt’ einen Kameraden, Einen bessern find’st Du nicht ...“ Da hatte ich den mir sehr sympathischen Kameraden wieder vor Augen. Nachdem wir bisher das Geschehene gar nicht richtig fassen konnten, ergriff mich nun plötzlich eine tiefe Traurigkeit über diesen endgültigen Verlust. Das Lied vom guten Kameraden hat für mich seitdem einen ganz anderen Klang, sein Text berührt mich in einer neuen, tiefen Weise. Wir traten danach aus dem Flugzeug zum Spalier auf dem Flugfeld, woraufhin sich die Ladeluke schloss, der Flieger zur Startbahn rollte, direkt aus der Bewegung beschleunigte 210 Leutnantsbuch und abhob. Dem Beispiel unseres Kommandeurs folgend, legten wir alle, sicher mehr als hundert Soldaten, die Hand an die Kopfbedeckung zum letzten Gruß. Schweigend schauten wir lange dem Flieger nach, bis er in den Wolken in Richtung Heimat verschwunden war. Ich stellte mir die Ehefrau mit drei kleinen Kindern vor, die dort warten würden. HI 211 Leutnantsbuch Die Grußpflicht D ie Stimme am Telefon klang sehr aufgeregt: „Der französische Feldlagerkommandant fordert eine harte Bestrafung. Er will hier endlich die Grußpflicht richtig durchsetzen. Und das gilt für alle! Jetzt erwartet er, dass an dem Obergefreiten ein Exempel statuiert wird.“ Was war geschehen? Ich war seit zwei Monaten als S 1 Stabsoffizier beim Deutschen Einsatzkontingent EUFOR in Bosnien-Herzegowina eingesetzt. Wir saßen im Feldlager Rajlovac und der Anruf kam aus Mostar von der Multinationalen Brigade Süd, wo einige unserer Fernmelder abgestellt waren. Einer dieser Soldaten, ein Obergefreiter, war dem Feldlagerkommandanten begegnet und hatte ihn wohl nicht in der Form gegrüßt, wie es dieser erwartete. Daraufhin hatte ihn der französische Offizier tatsächlich an der Feldbluse gepackt, ihn beschimpft und ihm das Namensschild herunter gerissen – sozusagen als Beweisstück für die Missetat. Aber für wessen Missetat, fragte ich mich sogleich. Mein Gesprächspartner aus Mostar war mir eigentlich als ein erfahrener und verständiger Offizier bekannt. Aber offensichtlich hatte er sich von dem Ungestüm des forschen Feldlagerkommandanten derart einschüchtern lassen, dass er die unsinnige Forderung nach einer „Bestrafung“ unseres Obergefreiten unwidersprochen an mich weitergab. Er war mit dieser Situation offensichtlich etwas überfordert. Aber aus seiner Stimme hörte ich auch ein deutliches Unbehagen heraus. Die ganze Sache war von Anfang an völlig aus dem Ruder gelaufen. „Nun ’mal ganz langsam!“, sagte ich zu ihm. „Was ist denn wirklich passiert? Unser Obergefreiter hat den französischen Major nicht gegrüßt oder hat ihn vielleicht nur nachlässig gegrüßt. Wenn mir so etwas passiert, stelle ich den 212 Leutnantsbuch Kameraden zur Rede und belehre ihn über seine Grußpflicht. Und im Wiederholungsfall bietet mir unser Erlass Erzieherische Maßnahmen einige Möglichkeiten, die der französische Kamerad allerdings so nicht hatte.“ Mein Gesprächspartner stimmte mir zu und ich fragte ihn: „Werden Sie denn selbst von jedem dienstgradniedrigeren Soldaten gegrüßt – bei Ihnen da unten in Mostar?“ Er lachte durch das Telefon und erwiderte belustigt: „Nein, natürlich nicht. Viele Soldaten aus den anderen Nationen kennen doch meine Dienstgradabzeichen gar nicht. Außerdem laufen gerade in den ersten Tagen alle so orientierungslos hier herum, dass sie einem fast schon leid tun können – echte Tapsis halt!“ (Tapsi ist im Einsatz die liebevolle Abkürzung für: Total ahnungslose Person sucht Informationen). Jetzt konnte ich auch mitlachen und fragte weiter: „Und all diese Tapsis packen Sie dann jedes Mal gleich am Schlafittchen und reißen ihnen die Namensschilder herunter?“ – „Nein, natürlich nicht, wo kämen wir denn da hin? „Eben!“, bestätigte ich. „Und das darf sich auch kein Feldlagerkommandant herausnehmen – gleich welcher Nation und mit welchem Dienstgrad auch immer.“ „Aber man erzählt, er war früher bei der Fremdenlegion!“, wandte mein Gesprächspartner ein. „Na und? Das gibt ihm noch lange nicht das Recht, einen deutschen Obergefreiten an der Jacke zu packen. Wenn sich hier jemand etwas zuschulden hat kommen lassen, dann doch wohl der Kamerad Major. Sie können ihm Folgendes ausrichten: In unserer Armee gibt es keine exemplarischen Bestrafungen. Hier gibt es einen Erlass Erzieherische Maßnahmen, eine Wehrdisziplinarordnung und ein Wehrstraf213 Leutnantsbuch recht. Es gibt aber auch eine Wehrbeschwerdeordnung, Vertrauenspersonen und einen Wehrbeauftragten. Unsere Disziplinarvorgesetzten sind in der Ausübung ihrer Disziplinargewalt autonom und selbstverständlich an Recht und Gesetz gebunden. Sie bestrafen übrigens niemanden – und schon gar nicht auf Zuruf! Bestellen Sie dem Herrn Major auch, dass er keinerlei Recht besitzt, Soldaten derart entwürdigend zu behandeln, gleichgültig, ob es deutsche oder andere Soldaten sind. Er soll daher froh sein, wenn nicht gegen ihn selbst ermittelt wird. Und wenn er das nicht versteht, dann soll er mich besuchen kommen. Dann rede ich mit ihm. Wir gehen mit unseren Soldaten nämlich etwas anders um. Unser Obergefreiter wird nicht bestraft. Ich wüsste nicht, wofür!“ Genauso ist es damals passiert. Wir haben den Obergefreiten nach Rajlovac zurückgeholt und ich habe mit ihm gesprochen. Er war ein anständiger und disziplinierter Soldat, der das Pech hatte, einem schlechtgelaunten Stabsoffizier in fremder Uniform über den Weg zu laufen. Mehr war es nicht und hat dennoch für soviel Wirbel gesorgt. Übrigens habe ich damals den Begriff ‚Innere Führung‘ mit keiner Silbe erwähnt. Aber genau darum ging es in dieser Sache. Innere Führung gilt eben auch im Einsatz; selbst dann, wenn wir in multinationale Strukturen eingebunden sind. Und wie dieses kleine Beispiel zeigt, hat unsere Innere Führung letzten Endes auch funktioniert. Unser Leitbild vom Staatsbürger in Uniform rückt die Menschenwürde in den Mittelpunkt unseres gesamten Handelns. Und daran gibt es nichts zu rütteln – auch im Einsatz nicht! Darauf können wir wirklich stolz sein und dürfen es den anderen auch deutlich zeigen. Es gehört nur etwas Zivilcourage dazu und natürlich die Überzeugung, 214 Leutnantsbuch dass die Grundsätze der Inneren Führung gut und richtig sind. Und das sind sie ja auch! HI 215 Leutnantsbuch Auf der Standortschießanlage E s ist ein sonniger, warmer Tag. Ich sitze hier während der Mittagspause als Teilnehmer eines Übungsschießens auf der Standortschießanlage abseits auf einem erhöhten Punkt. Unter mir sehe ich Soldaten mit Essgeschirr bei der Verpflegungsausgabe durch den Spieß. Hinter mir ändert das Funktionspersonal den Zielbau für eine neue Schießübung nach dem Mittagessen. Viele Sachen gehen mir beim Anblick der anwesenden Soldaten durch den Kopf. Dort die Soldaten, die sich als Schützen auf das Schießen konzentrieren können und nun in der Mittagspause entspannen wollen. Hier das Funktionspersonal, das für den reibungslosen Ablauf und damit für den Ausbildungserfolg zu sorgen hat. Bei längerem Betrachten bemerke ich, wie das ein oder andere Lächeln über mein Gesicht huscht. Meine Gedanken schweifen zurück in das Jahr 1996. Es ist ein heißer Sommer und ich sitze ebenfalls mit meiner Mittagsverpflegung auf der Standortschießanlage und sehe links und rechts neben mir 50 Rekruten, die hastig und verschwitzt ihr Essen einnehmen. Ich, Panzerschütze, denke an nichts und wünsche mir nur, diese dicke, warme olive Uniform mit dem schweren Stahlhelm endlich ablegen zu können, um alle Viere von mir strecken zu können. Da kommt auch schon mein Zugführer, Leutnant Sch., und teilt uns in diesem immer wiederkehrenden, Disziplin verlangendem Ton mit, „Antreten in 5 Mike“. Unsere Essbewegungen werden schneller, da uns bewusst ist, es gibt nur einen Wasserhahn für 50 Soldaten, das Essgeschirr muss noch verpackt und der Anzug gerichtet werden. Nach fünf Minuten sind wir im befohlenen Anzug angetreten und wundern uns wieder, wie und wann der Leutnant den Zielbau hat umbauen lassen, sein Funktions216 Leutnantsbuch personal eingewiesen und selbst Verpflegung eingenommen hat, um nun im gleichen Anzug wie wir vor uns zu stehen. Es bleibt nicht nur bei der Schießübung. Die von uns allen mit Frust erwartete Parallelausbildung „ABC-Abwehr“ findet auch noch statt. Leutnant Sch. ist an diesem Tag wie gewohnt ruhig und fordernd. Er hat seinen Schießtag voll im Griff und wir jungen Rekruten bemerken keinen einzigen Fehler des jungen Offiziers. Seine Ausbildungen haben ohnehin stets Hand und Fuß. Seine Art der Menschenführung haben wir in den letzten sechs Wochen sehr zu schätzen gelernt. „Jede Gruppe ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied.“ Ein Satz, den wir immer und immer wieder hören, der sich eingeprägt hat. Er verlangt keine außergewöhnlichen Sachen von uns und steht selbst immer vorne. Bei jeder Ausbildung geht unser Zugführer im gleichen Anzug voran, zeigt uns an allen Stationen persönlich, was er von uns und von den Gruppenführern verlangt. Wir zollen ihm größten Respekt. Nun stehe ich vor ihm und melde mich mit nervösen Knien mit drei Kameraden zur Schießübung. Er lässt uns rühren, die Schießbücher abgeben und Munition empfangen. Ich stehe auf meiner Schießbahn und will mich bei der Aufsicht melden, als ich den Schrei des Leutnants durch meinen Gehörschutz wahrnehme. Er kommt direkt auf mich zu und fragt mich, ob er mich anfassen dürfe. Ich nicke und bemerke dabei, wie mir der Stahlhelm ins Gesicht rutscht. Der Kinnriemen, wie konnte ich vergessen, ihn nach der ABC Parallelausbildung wieder korrekt einzustellen. Er „friemelt“ ein paar Momente an meinem Helm herum und stellt ihn für mich passend ein. Dies war der erste Augenblick während meiner bis dahin kurzen Dienstzeit, dass sich ein Offizier persönlich um mich kümmerte. Mir war es sehr peinlich doch auch hilfreich zu gleich. Nie werde 217 Leutnantsbuch ich diesen Augenausdruck und das bestimmende Verhalten vergessen. Das Schießen verlief mit sehr gutem Erfolg und wir verließen abends in einer müden Verfassung die Schießbahn. Nach Ende der AGA wurde Leutnant Sch. versetzt und ich verlor dadurch die Verbindung zu einem Vorgesetzten, den ich sehr geschätzt und bewundert habe. Im Jahr 2003 stand in meiner Kompanie der Chefwechsel vor der Tür. Unser Spieß informierte das Unteroffizierkorps über den Nachfolger. Ein gewisser Hptm Sch. sollte in den nächsten zwei Wochen die Kompanie übernehmen. Das Wiedersehen verlief für beide Seiten sehr erfreulich. Wir waren doch beide sichtlich erleichtert, ein bekanntes Gesicht wieder zu sehen und Informationen und Erfahrungen auszutauschen. Die Führung der Kompanie in den folgenden beiden Jahren verlief genau so, wie ich es mir von ihm erwartet hatte. Seine straffe Art der militärischen Führung und seine Persönlichkeit wurden von jedem respektiert. Jeder war sichtlich froh und hoch motiviert, unter diesem Offizier dienen zu dürfen. Mit meiner Übernahme in die Laufbahn der Offiziere des militärfachlichen Dienstes wurde ich versetzt und unsere Wege trennten sich erneut. Geprägt von einem charakterlich anständigen Offizier und der Erfahrung aus neun Jahren Mannschafts-, Unteroffiziers- und Feldwebeldienstgraden durchlief ich die Offz-MilFD-Ausbildung. Da wir in den letzten Jahren immer wieder in Verbindung standen und ein nahezu freundschaftliches Verhältnis aufgebaut haben, wusste ich stets um den weiteren Werdegang meines Kameraden. Er durchlief die Generalstabsausbildung. Er hat sich nie verändert und ist immer derselbe Mensch geblieben, der er auch schon als Leutnant war. 218 Leutnantsbuch Offizieranwärter Frank Verabschiedung M orgen geht’s los! Endlich Studium – den anderen „draußen“ nachziehen: Fachbereichsfeste, Vorlesungen, Scheine machen – Surfschein steht ganz oben auf meiner Liste! „Wenn Sie sich da mal nicht täuschen“, sagt Major Seidel als ich ihm davon berichte. „Halten Sie sich ran, verschwenden Sie keine Zeit und bleiben Sie am Ball! Der Zug im Studium fährt schnell ab, verpassen Sie den Anschluss nicht“, hat er gesagt. Naja, meine Anmerkung war ja auch nicht ganz ernst gemeint. Wir OA sind auf dem Weg zum großen Abschiedsabend in der Reithalle der Offizierschule in Dresden. Danach werden sich unsere Wege wieder trennen. Ich werde mit Peter und Cindy nach München, der Rest nach Hamburg fahren. Wir sind alle sehr gespannt, was auf uns zukommt. Als wir uns der Reithalle nähern, geht von dort eine eigenartige Stimmung aus. Wir wissen, dass sich ab hier unsere Wege für mehrere Jahre trennen. Bachelor und Master sind Begriffe, die uns jetzt beschäftigen werden. „Jetzt wollen wir erst einmal sehen, was das Festkomitee aus der Halle gemacht hat“, sagt Cindy, und ich habe den Eindruck, dass sie etwas schneller wird. Annette schließt sich an und wir sind alle sehr gespannt auf die kommenden Stunden. Dann betreten wir die Reithalle. 219 Leutnantsbuch Wir wurden nicht enttäuscht! Ein sehr festlicher Rahmen – ja, trotz der Ansprachen! Jetzt sitzen wir an unserem Tisch, Major Seidel ist mit von der Partie. Er wollte ja noch andere Offiziere und Offizieranwärter fragen, ob sie nicht auch einige Erlebnisse aufschreiben wollen. Die Idee, die Major Seidel entwickelt hat, finden wir alle sehr gut. Wir haben so viele interessante Geschichten gehört – die darf man einfach nicht vergessen. Und deshalb hat er stolz verkündet, dass er schon eine Menge Erlebnisse gesammelt hat für das Projekt „Leutnantsbuch“. „Denken Sie daran: Nehmen Sie kein Blatt vor den Mund – aber bleiben Sie bitte sachlich“, gibt uns Major Seidel im Flüsterton mit. Der Inspektionschef hatte sich inzwischen von Tisch zu Tisch begeben und Major Seidel hatte gesagt: „Sicher wird er Sie fragen, wie Ihnen Ihre Zeit vor dem Studium als Offizieranwärter gefallen hat, was Sie besonders beeindruckt hat – und was nicht.“ Kurze Zeit später sind wir in das Gespräch mit dem Inspektionschef vertieft. Ja, er hat alle Fragen gestellt, die Major Seidel sozusagen angekündigt hatte. Dann kommt er plötzlich auf die Idee, von Major Seidel zu sprechen. „Wenn das klappt, dass Major Seidel viele Erlebnisse von Soldaten für Soldaten zusammenbekommt, dann wird das Leutnantsbuch sicher ein Riesenerfolg. Ich werde auf jeden Fall meinen Teil beitragen, und auch aus meiner Zeit im Einsatz ein Erlebnis aufschreiben. Major Seidel, wie sieht es denn aus mit Ihrer Idee?“ Major Seidel antwortet: „Sehr gut, Herr Oberstleutnant! Ich habe nicht nur in meinem alten Bataillon nachgefragt, sondern auch in anderen Bereichen, in denen ich noch einige Kameraden kenne. Ich habe schon wunderbare Erlebnisse 220 Leutnantsbuch zugeschickt bekommen! Das hätte ich nie gedacht! Wenn Sie einverstanden sind, dann werde ich das Projekt Leutnantsbuch weiterverfolgen. Wenn ich dann genug Erlebnisse zusammen habe, dann könnten wir diese an die zukünftigen Offizieranwärter verteilen. Ich könnte mir vorstellen, dass andere – vielleicht sogar die Offizieranwärterbataillone – auch ein großes Interesse an so einer Sammlung haben.“ „Da bin ich mir ziemlich sicher“, antwortet der Inspektionschef. „Ich habe auch schon ein bisschen herumtelefoniert. Dabei bin ich auf sehr positive Resonanz gestoßen. Aber jetzt sagen Sie mal, wie viele Geschichten konnten Sie denn schon sammeln?“ „Genau weiß ich es nicht, Herr Oberstleutnant, habe noch nicht gezählt. Aber ich habe für unsere Offizieranwärter hier jeweils Kopien zusammenstellen lassen. Vielleicht als „Beruhigungslektüre“ für die ersten Tage an der Uni!“, sagt Major Seidel mit einem Schmunzeln. „Dazu habe ich Ihnen – ich hatte es ja versprochen – meine eigenen Ideen zum beruflichen Selbstverständnis dazugelegt. Inklusive Bierdeckelkopien!“ Er beugt sich unter den Tisch, unter dem er offensichtlich etwas abgestellt hat. Dann überreicht er uns einen Papierpacken, der uns erst kurz aufstöhnen lässt. Dabei fügt er hinzu: „Ich würde mich freuen, wenn Sie sich einmal melden, wenn Sie die eine oder andere Geschichte gelesen haben. Insbesondere interessiert mich Ihre Meinung, ob sie geeignet sind, Ihren Nachfolgern das Bild des Offizierberufes anschaulich darzustellen. Ich habe meine 221 Leutnantsbuch Visitenkarte dazugeheftet, scheuen Sie sich nicht, sie zu nutzen! Und wenn Sie Interesse haben, ein bisschen weiter am Leutnantsbuch zu arbeiten, dann machen Sie ordentlich Werbung an der Uni. Da gibt es bestimmt viele interessante Erlebnisse, die ich gut brauchen kann!“ „Na, na Herr Major“, sagt der Inspektionschef, „vergessen Sie vor lauter Eifer nicht Ihre Hauptaufgabe! Der nächste Hörsaal kommt bestimmt!“ Der Abend verlief weiter in einer sehr angenehmen Atmosphäre und wir alle hatten noch viel Spaß. Am nächsten Morgen dann endgültige Verabschiedung. Wir haben die Papiere von Major Seidel in den Autos verstaut, uns noch einmal für die hervorragende Betreuung und das Interesse, das uns entgegengebracht wurde, bedankt und machen uns auf den Weg zu unseren schwer bepackten Autos. Cindy wird mich zum Bahnhof fahren – ich habe die Masse meiner Sachen schon bei einem Freund in München „eingelagert“ und kann so gemütlich mit dem Zug in Richtung Süden rattern. Studium. München. Biergarten. Surfseen. Berge. Ski fahren. So ganz kann ich die angenehmen Gedanken an die Zeit, die vor mir liegt, nicht verdrängen. Sollte ich wohl auch nicht, auch das gehört dazu! Auf dem Weg nach München denke ich noch viel an die anderen. Wir haben uns vorgenommen, uns regelmäßig zu treffen. Auch wenn die Entfernung zwischen München und 222 Leutnantsbuch Hamburg nicht gerade dazu einlädt. Und außerdem haben wir uns verabredet, tatsächlich eng in Verbindung zu bleiben, um dem Projekt Leutnantsbuch, soweit es geht, noch „ein bisschen unter die Arme zu greifen.“ Ich nehme die schwere Mappe in die Hand, die Major Seidel uns gegeben hat. Viele Geschichten scheinen es zu sein – mindestens ein Kilo! Als ich die Mappe aufschlage, finde ich die Visitenkarte von Major Seidel mit einer persönlichen Widmung und dem Wunsch nach viel Erfolg im Studium. Dann beginne ich, die erste Geschichte zu lesen … 223 Leutnantsbuch Fremde Kulturen E rstausbildung in Form eines Lehrgesprächs zum Thema „Die Beurteilung der Lage als Bestandteil des Führungsprozesses“. Ich befinde mich tausende Kilometer von Deutschland entfernt in einem stickigen, heißen Unterrichtsraum. Obwohl zugesagt, funktioniert die vorhandene Klimaanlage nicht und die Temperatur beträgt gut und gerne 40 °C. Ich schwitze und habe einen Kloß im Hals; gefühlte Temperatur 50 °C, denn diesmal bin ich nicht Lehrgangsteilnehmer, sondern 25 Augenpaare sehen mich erwartungsvoll an. Ich versuche den Blicken nicht auszuweichen, obwohl ich die Frage in den Augen einzelner sehen kann: „Warum steht da ein Leutnant und kein Stabsoffizier?“ Zugegeben, auch ich war überrascht, als mir der Ausbildungsleiter noch in Deutschland den Auftrag gab, diese Ausbildung vorzubereiten und durchzuführen. Auf meine Frage antwortete er: „Ich kenne unsere gründliche Offizierausbildung und Sie haben bisher gute Leistungen gezeigt.“ Weiter erklärte er: „Ich will den Auszubildenden zeigen, dass Kompetenz nicht an bestimmte Dienstgrade gebunden ist und man Vertrauen in seine unterstellten Soldaten setzen soll. In den Streitkräften unserer Auszubildenden sind diese Grundsätze nicht verbreitet.“ So stehe ich nun vor dem Bataillonskommandeur, einem Oberst; den Oberstleutnanten, die in den Gesprächen der vergangenen Tage berichteten, dass Sie in ihren Streitkräften Kompaniechefs seien und in dieser Funktion Kriegserfahrung hätten; gleiches gilt für die Stabsoffiziere und Offiziere des Bataillonsstabes. Die wenigen Feldwebel 224 Leutnantsbuch haben sich kaum geäußert, es sei denn, sie wurden von ihren Vorgesetzten dazu aufgefordert. Sie sind zurückhaltend, fast ängstlich. Vor Beginn der Ausbildung wurden wir intensiv in unseren Auftrag und in die Rahmenbedingungen, die uns erwarteten, eingewiesen. Mein Mund ist trocken. Gerne hätte ich jetzt einen Schluck Wasser, aber es ist Ramadan. Wir unterliegen zwar nicht den religiösen Vorschriften, aber es wurde positiv aufgenommen, dass wir uns mit Rücksicht auf diese zurückziehen, bevor wir etwas trinken. Ich bin in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), unser Auftrag ist es, irakische Pioniere nach unseren Grundsätzen auszubilden. Es ist ein Land, das von Luxus und Überfluss geprägt ist, während unsere Auszubildenden aus einem Land kommen, in dem derzeit kein Frieden herrscht. Würde ich mich uneingeschränkt auf die Ausbildung konzentrieren können oder wären meine Gedanken nicht auch – zumindest zeitweise – bei meiner Familie? Ich atme einmal tief durch, sage mir, dass ich gut vorbereitet bin und beginne zu sprechen. Nach wenigen Sätzen werde ich durch den Dolmetscher sanft unterbrochen. In der Aufregung hatte ich ihn und seine Aufgabe ganz vergessen. Gestern noch bin ich mit ihm den Unterricht durchgegangen und war überrascht, wie wenig Rückfragen es gab. Er lebt ja auch schon sehr lang in Deutschland. Er versteht nicht nur beide Sprachen, sondern kennt auch beide Kulturen und somit – obwohl er nicht die gleiche Nationalität hat – auch die Denkmuster unserer Auszubildenden. Zumindest zu großen Teilen, denn – so hat er es mir erklärt – nicht nur in 225 Leutnantsbuch Europa hat jede Nation trotz großer Gemeinsamkeiten eine eigene Geschichte und Kultur. Und gerade hier treffen in den Personen der Ausbilder, der Auszubildenden, der Dolmetscher und der Gastgeber vier Nationen mit sehr unterschiedlichen Entwicklungen während der letzten Jahrzehnte aufeinander. So langsam gewinne ich eine Vorstellung davon, welche Forderungen sich hinter der Formulierung „Interkulturelle Kompetenz“ verbergen. Die nächsten Minuten verstehe ich nichts und muss feststellen, dass die Übersetzung deutlich länger dauert, als ich angenommen hatte. Immer wieder gibt es Nachfragen zu Punkten, die aus meiner Sicht jedes Kind verstehen muss. Könnte ich selbst auf Anhieb ein System verstehen, das gänzlich von dem abweicht, was mich in der bisherigen militärischen Laufbahn geprägt hat? Mein Zeitplan gerät immer mehr ins Rutschen. Ich wollte doch viel weiter kommen! Ich erreiche nur einen Bruchteil dessen, was ich mir bis zur Pause, die mit Rücksicht auf die Gebetszeiten durchgeführt wird, erreichen wollte. Während ich noch am Pult stehe, kommt einer der auszubildenden Stabsoffiziere mit einem Dolmetscher auf mich zu. Nach ein wenig „small-talk“, bei dem ich mich bemühe – so wie wir es gelernt hatten – nicht den Dolmetscher, sondern meinen Gesprächspartner anzusehen, fragt er mich, ob er mein Handy nutzen dürfe, um seine Familie anzurufen. Er hätte eine eigene Mobilfunkkarte, sodass mir keine Kosten entstünden. Mir ist bewusst, dass wir nur für die Ausbildung zuständig sind, sämtliche anderen Angelegenheiten liegen in Verantwortung der gastgebenden Nation. Diese hatte uns darauf hingewiesen, dass aus Sicherheitsgründen den in der militärischen Anlage untergebrachten Auszubildenden die Nutzung von 226 Leutnantsbuch Mobiltelefonen untersagt sei. Aber, was ist so schlimm, wenn jemand in dieser Situation seine Familie anruft? Ich ringe mit mir selbst, habe die Hand schon an der Beintasche, entschließe mich dann aber, den vor mir stehenden Stabsoffizier höflich auf die ihm und mir bekannte Auflage hinzuweisen. Ohne ein weiteres Wort beendet er das Gespräch. Ich habe Zweifel, ob ich richtig gehandelt habe. In der folgenden Stunde habe ich keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Die verbleibende Ausbildungszeit scheint mir zwischen den Fingern zu verrinnen. Während der Bus mit den Auszubildenden auf dem Weg zu deren Unterkunft ist, äußere ich in der Ausbilderbesprechung meine Enttäuschung über die Leistungsfähigkeit der Auszubildenden. Ein älterer Kamerad fragt mich: „Haben Sie schon darüber nachgedacht, wer das durch Sie vorgegebene Ziel nicht erreicht hat. Die Auszubildenden oder Sie?“ Ich spüre, dass es wert ist, darüber noch einmal nachzudenken. Nach der Besprechung fahren wir vom Ausbildungsgelände zu unserer Unterkunft, die außerhalb der militärischen Anlage liegt. Wie immer werden wir von dem uns nahezu rund um die Uhr als Ansprechpartner zur Verfügung stehenden Offizier der gastgebenden Nation begleitet. Mit ihm kommt man – in Englisch – leicht ins Gespräch. Auf meine Frage, wie er den bisherigen Verlauf der Ausbildung empfunden habe, antwortet er: „Ich hatte bisher noch nie mit deutschen Soldaten zu tun und die Inhalte der Ausbildung sind mir zum Teil fremd. Aber es ist mir aufgefallen, dass die Zusammenarbeit hervorragend klappt, getroffene Absprachen eingehalten werden und man sich aufeinander verlassen kann.“ 227 Leutnantsbuch Ich sage ihm nicht, dass ich das Vertrauen, das uns auch über Kulturgrenzen hinweg entgegengebracht wird, fast enttäuscht hätte. HI Entwickle Dich weiter! Im Offizierberuf gibt es immer wieder neue Herausforderungen, die rasch auf einen Offizier zukommen können. Deshalb kommt es darauf an, in größeren Zusammenhängen denken und handeln zu können. Das Entwickeln von interkultureller Kompetenz ist nicht nur Aufgabe von Ausbildung und Lehrgängen, sondern persönliche Herausforderung. Sensibilität für andere Menschen, Verständnis für unterschiedliche Kulturen und Akzeptanz der „Andersartigkeit“ gehören hierzu. Deshalb ist es wichtig, selbst offen zu sein, Neues aufmerksam zu betrachten und die Kontrolle zu behalten. 228 Leutnantsbuch Soldaten muslimischen Glaubens in der Bundeswehr V or ein paar Jahren begann ich als Offizieranwärter in einem Transportbataillon meinen Werdegang bei der Bundeswehr. Bereits am ersten Tag meldete ich meinem Gruppenführer, dass ich Muslim sei und deshalb kein Schweinefleisch essen würde. Der Fahnenjunker runzelte ein wenig die Stirn, lächelte aber zugleich und verwies mich an den Spieß. Nichts ahnend wer oder was der Spieß sei, suchte ich das von meinem Gruppenführer besagte Dienstzimmer auf. Nachdem ich dem Spieß mein Anliegen vorgetragen hatte, war dieser verwundert und sagte, dass er so einen Fall noch nie hatte und fragte, warum ich denn kein Schweinefleisch essen würde. Ich erläuterte ihm die Situation und er versicherte mir, dass er das mit der Küche klären und ich bei der Verpflegung berücksichtigt werden würde. Während der Allgemeinen Grundausbildung konnte meine Konfession und die damit verbundenen Essensgebote jedoch nicht immer berücksichtigt werden. Aber, wenn es beim Essen in der Truppenküche nur ein Gericht mit Schweinefleisch gab und ich mich als Muslim zu Erkennen gab, wurde mir kurzer Hand etwas anderes zubereitet. An Geländetagen oder Übungen gab es für mich häufig einen „Salatteller“ als Ersatz. Jedoch konnte ich immer den Schweineanteil aus dem Lunchpaket oder EPA mit Kameraden tauschen, die mir dafür Käse oder Ähnliches gaben. Auf dem Einzelkämpferlehrgang in Hammelburg war Verpflegung auch kein Problem. Es gab sowieso nichts bzw. nur sehr wenig. An ein bestimmtes Ereignis kann ich mich aber sehr gut erinnern. Wir waren gerade in der Abschlussübung und hatten nur noch einen Tag vor uns. Nach einem langen Nachtmarsch kam unsere Gruppe völlig erschöpft 229 Leutnantsbuch morgens früh an den Platz, wo wir verpflegen und ruhen sollten. Dabei bekamen wir von unserem Ausbilder den Auftrag, alles Essbare aus dem Wald zu sammeln. Wir sammelten Pilze, Kräuter, Beeren usw. Pro Gramm unseres gesammelten Gutes bekamen wir dann den Anteil in Fleisch getauscht und konnten uns somit für den „letzten Tag“ der Abschlussübung stärken. Leider war es Schweinefleisch und ich war der Einzige in der Gruppe, der davon nichts essen konnte. Die Gruppe erkannte die Situation und stellte sich kameradschaftlich hinter mich und beschloss, auch nichts von dem Fleisch zu essen. Von dieser Kameradschaft war ich überwältigt, da wir alle ausgehungert waren. Ich versicherte meinen Kameraden, dass ich die Übung auch so noch durchziehen werde und sie das Fleisch ruhig essen sollten. Unsere Gruppe beschloss daraufhin, mich für die Ruhephase aus allen anderen Aufträgen (Sicherung usw.) herauszunehmen. Einige Zeit später, ich war übermüdet eingeschlafen, weckte mich unser Hörsaalleiter sehr unsanft und sagte: „Ich habe gehört, sie konnten nichts essen! Kommen Sie raus aus dem Zelt, ich hab ein wenig Putenfleisch für sie besorgt. Aber teilen sie es mit den Kameraden!“ Tatsächlich hatte der Hauptmann etwas Putenfleisch für mich besorgt. Diesen fürsorglichen und kameradschaftlichen Zug meines Hörsaalleiters und meiner Kameraden werde ich nie vergessen. HI Kameradschaft und interkulturelle Kompetenz sind nicht nur leere Worthülsen. Gehe auf Kameraden mit anderen religiösen Überzeugungen ein und respektiere sie. Nur durch praktisch vorgelebte Beispiele wird ein unterstellter Bereich erkennen, dass Kameradschaft und der damit verbundene notwendige Respekt vor zunächst als fremdartig Empfundenem nicht Halt macht. 230 Leutnantsbuch Feuerlöscheinsatz Griechenland S amstagabends, gegen 21.00 Uhr, erreichte mich ein Anruf meines Staffelkapitäns, dass die Führungsriege des mittleren Transporthubschrauberregiments am nächsten Morgen um 09.30 Uhr zusammen kommen sollte, um einen Feuerlöscheinsatz in Griechenland zu planen und zu organisieren. Nach häufiger Lageänderung und entsprechenden Beurteilungen sowie nach Dutzenden von Telefonaten zwischen der Division, dem Leitverband mTrspHubschrRgt und uns ging es dann dort darum, die ausgewiesenen Dienstposten zu besetzen und das notwendige Material zusammenzutragen. Innerhalb weniger Stunden hatten wir alle notwendigen Soldaten des Regiments mobilisiert. Mit beispielgebender Einsatzbereitschaft jedes Einzelnen und mit großer Flexibilität fanden wir die richtigen Leute für die Einsatzdienstposten und konnten die Verlegung nach Griechenland beginnen. Am Montag flogen früh morgens fünfzehn Soldaten mit CH 53 nach Landsberg und von dort mit TRANSALL Richtung Elefsis (Griechenland). Allerdings kamen wir dort nicht an, weil der Flug etwa eine Stunde vor der geplanten Landung umgeleitet wurde nach Andravida. Mit diesem Standort im Nordwesten der Peloponnes waren wir deutlich näher an unserem zugewiesenen Einsatzgebiet als mit einem Standort in der Nähe von Athen. Das griechische Phantomgeschwader in Andravida hatte im Übrigen nicht mehr Zeit, sich auf diese Lageänderung einzustellen, als wir, zeigte aber eine Professionalität und Improvisationsfähigkeit, die uns alle positiv überraschte und keinen Anlass zur Klage bot. Wir wurden herzlich 231 Leutnantsbuch aufgenommen und durch den Kommodore, den Leiter Flugbetrieb, einen Einsatzpiloten des Phantomgeschwaders, einen Einsatzpiloten der dort stationierten Löschflugzeuge und den Leiter der Feuerwehr in die Lage vor Ort und die detaillierten Abläufe des Einsatzes eingewiesen. Währenddessen verlegten drei Besatzungen mit drei CH 53 von Laupheim mit einer Übernachtung in Italien nach Andravida, wo sie am Dienstag, kurz vor 14.00 Uhr ankamen. Die Piloten und Techniker übernahmen die Hubschrauber, brieften die Kameraden mit ihren bis dato erworbenen Kenntnissen und konnten kurz nach 15.00 Uhr damit beginnen, die Wasserlöschbehälter SMOKEY (5000 Liter), die wie das meiste andere Material und Personal mit TRANSALL eingeflogen worden waren, an die Außenlasthaken zu hängen und den Löscheinsatz zu beginnen. Dazu nahmen wir an einem ein paar Flugminuten entfernten großen Speichersee das Löschwasser auf und empfingen vom Fire Coordination Centre in Athen, das die Löschkräfte steuerte und die Einsatzräume zuwies, die Koordinaten eines Waldbrandes ostwärts des antiken Olympia. Dieser Brand hatte eine Ausdehnung von der Größe eines Fußballfelds mit etwa 10 Meter hohen Flammen. Die Feuerwehr vor Ort war offensichtlich mit unzureichenden Löschkräften im Einsatz. Zudem war das Gelände hügelig und am Boden schwer zugänglich. Aufgrund dieses Lagebildes verabredeten wir, dass die Hubschrauber immer in der Rotte zusammen blieben, um kurz hintereinander mehrere SMOKEYS über dem Feuer zu entleeren und so mit einem Vielfachen von 5000 Liter Wasser das Feuer zu bekämpfen. 232 Leutnantsbuch Die Wasseraufnahme fand an einem nahegelegenen See und dem einzig noch wasserführenden Fluss der Gegend statt, so dass die Umlaufzeiten kurz gehalten werden konnten. Unsere Löscheinsätze der nächsten Tage gestalteten sich in derselben Art und Weise. Wir flogen in zwei Schichten, bekamen aus Athen die Koordinaten bzw. Einsatzräume und meldeten über den Tower den Erfolg unserer Brandbekämpfung. Dies bedeutete auch, dass wir bei neu entdeckten großen Feuern die Unterstützung von Löschflugzeugen anforderten, die innerhalb weniger Minuten zusammen mit uns den Brand bekämpften. Die Einsätze liefen koordiniert, ruhig und immer mit dem Maß an Sicherheit ab, welches einen sicheren Flugbetrieb gewährleistete. Einziges begrenzendes Element während dieser Einsätze war der Flugkraftstoff, der alle 100 Minuten am nächsten Flugplatz aufgenommen werden musste und unsere Bemühungen für 45 bis 60 Minuten unterbrach. Beim Löschvorgang selbst waren Augenmaß und Erfahrung gefragt, je nachdem, wie sich das Feuer darstellte. Wir lernten einzuschätzen, mit welcher Flughöhe und mit welcher Geschwindigkeit man den Brandherd anfliegen musste, damit das Wasser nicht verdunstete bevor es den Boden erreichte und damit wir unterschiedlich große Flächen beregnen konnten – das immer in Abhängigkeit vom Gelände und unter der Prämisse, nicht durch den aufsteigenden Rauch zu fliegen. Auch hierbei hat sich der Einsatz als Rotte bewährt, da die nachfolgenden Hubschrauber den Auslösevorgang des vorausfliegenden Hubschraubers bewerten und entsprechend mit ihrem Löschvorgang reagieren konnten. 233 Leutnantsbuch Mit dieser Vorgehensweise und im Zusammenspiel mit Luftfahrzeugen anderer Nationen konnten wir mehrere Dutzend Feuer erfolgreich bekämpfen, den vorhandenen Schaden an Menschen, Gebäuden, Siedlungen sowie Flora und Fauna einschränken und schließlich aufhalten. Zwischenzeitlich war die Zahl der Toten auf 64 gestiegen und landesweit waren mehr als 110 Dörfer vollständig oder teilweise zerstört. Ca. 16.000 Menschen wurden obdachlos und kamen entweder bei Verwandten oder bei einer großen griechischen Hotelkette unter. Etliche Griechen verloren ihre Existenz, ihre Tiere, ihre Olivenhaine und Zitrusbäume. Eine Soforthilfe von 200 Millionen Euro wurde bereitgestellt, um zumindest die ersten Schäden der Katastrophe zu mildern. Die Feuer in den 29 Regionen Griechenlands waren in großen Teilen durch Brandstifter gelegt worden bzw. wurden bei Temperaturen um die 35 °Celsius immer wieder durch den Wind angefacht. Diese Temperaturen forderten auch von den Besatzungen besondere Maßnahmen, denn die pralle Sonne trieb das Thermometer im Cockpit leicht auf über 45 °C. Ohne eine bordeigene Klimaanlage und ohne die Möglichkeit, das Fenster zu öffnen, forderte der Körper eine hohe Zuführung von Getränken während des gesamten Flugbetriebes. Zwischen zwei Tankpausen wurden nicht nur pro Hubschrauber ca. 1.800 Liter Sprit verbraucht, sondern auch pro Besatzungsangehörigem 1,5 Liter Wasser bzw. Saft getrunken. Wer dies anfangs nicht beachtete, merkte sehr schnell, wie die Konzentration und Leistungsfähigkeit im Laufe des Nachmittags schnell zurückging. In den letzten Tagen des Einsatzzeitraumes – wir hatten mittlerweile mehr als 250 SMOKEY über der Peloponnes geleert – war die akute Feuerbekämpfung soweit erfolgreich 234 Leutnantsbuch fortgeschritten, dass uns ein ca. 300 qkm großes Gebiet zur Überwachung und eventuellen Feuerbekämpfung zugewiesen wurde. Die griechischen Brandbekämpfer hielten die weiterhin durch aufkommenden Wind angefachten Feuer mit ihren Löschflugzeugen alleine unter Kontrolle und die ersten zur Hilfe geeilten Nationen zogen ab. Die Rückverlegung unserer Hubschrauber begann am Donnerstag. Mit einer Übernachtung auf der amerikanischen AF-Base Aviano (Italien) erreichten wir am Freitag gegen 17.45 Uhr unser Heimatregiment, wo uns unsere Regimentsführung, Familienangehörige und Print- und Funkmedien erwarteten und wir den erfolgreichen Abschluss des Feuerlöscheinsatzes Griechenland melden konnten. HI Finde Deine Motivation! Der Einsatz zeigt, dass körperliche Leistungsfähigkeit, Einsatzwille und die eigene Motivation wichtig für den Erfolg sind! Gerade komplexe, „ungewöhnliche“ Einsätze fordern den militärischen Führer über das eigentlich Militärische hinaus. Handlungsfähigkeit im multinationalen Umfeld, unter schwierigen Bedingungen, im Umgang mit zivilen Behörden zu behalten, zeichnen den Offizier besonders aus. 235 Leutnantsbuch Der militärische Gruß A ls gerade mal 20-Jähriger wurde ich 1971 zum Leutnant befördert und zugleich Panzerzugführer mit fünf Kampfpanzern M 48. Geschultert habe ich diese große Verantwortung aufgrund einer sehr guten praxisnahen Ausbildung und einer Reihe vorbildlicher Vorgesetzter, die fördern und fordern eng miteinander verknüpften. In unserer Kaserne lag außer dem Panzerbataillon nur noch eine Instandsetzungskompanie. In dieser diente der einzige Oberstabsfeldwebel der Kaserne. Oberstabsfeldwebel, das war früher wesentlich seltener als heute, wirklich etwas Besonderes. Kaum befördert, begegnete ich diesem Oberstabsfeldwebel. Zackig riss er die Hand ans Schiffchen (Barett trugen damals nur die Kampftruppen) und grüßte mich. Ich war völlig überrascht. Stolz kam in mir auf, aber zugleich war ich unangenehm berührt. Dieser leicht grauhaarige Herr, der dienstgradhöchste Unteroffizier in der Kaserne, grüßte mich „jungen Schnösel“ von einem Leutnant. Das imponierte mir dermaßen und nötigte mir soviel Respekt ab, dass ich mich fortan bemühte, den Herrn Oberstabsfeldwebel zuerst zu grüßen. Denn ich sah in ihm nicht den vom Dienstgrad her Untergebenen, sondern einen älteren Kameraden mit einer großen menschlichen und beruflichen Erfahrung. HI Zeige Persönlichkeit! Gebe Beispiel! Der militärische Gruß ist ein Ausdruck von gelebter Kameradschaft und gegenseitigem Respekt. Er gehört zum militärischen Miteinander – ohne auf Erlasse zu pochen. Der Respekt, den man seinem Gegenüber zollt, ist der 236 Leutnantsbuch Respekt vor der Persönlichkeit und der Leistung des anderen. Das sollte man gerade als junger Offizier berücksichtigen, es zeugt von Bescheidenheit und Verantwortungsbewusstsein. Respekt ist jedoch keine Einbahnstraße. Auch wenn sich Werdegänge und Anforderungen wandeln, galt 1971 ebenso wie heute: Auch der jüngste Leutnant hat schon Einiges geleistet, sonst wäre er nicht zu diesem Dienstgrad befördert worden. Dies scheint dem jungen Offizier in unserer Geschichte noch nicht so recht bewusst zu sein – wohl aber dem Oberstabsfeldwebel, der dies durch sein Verhalten auszudrücken weiß. Respekt! 237 Leutnantsbuch Das Offizierkasino S o meine Herren, hier befindet sich also die „ Eingangshalle oder das Foyer unseres Offizierkasinos. Grundsätzlich, wenn Sie im Rahmen einer dienstlichen Veranstaltung geselliger Art hierher befohlen werden, sammeln wir uns erst einmal hier. Dazu folgende Grundregeln! Im Offizierkasino ist die Grußpflicht in Form des militärischen Grußes aufgehoben. Wer kann sich vorstellen warum? Keiner? Nicht nur, weil Sie dann die ganze Zeit grüßen würden, sondern weil man das Gefühl des Gemeinsamen hier bewahren möchte, wo Offiziere unter sich sind. Dennoch erweisen Sie den Anwesenden in einem Raum beim Betreten Ihren Gruß, indem Sie in Grundstellung gehen und eine leichte Verbeugung vollziehen. Sammeln Sie sich im Foyer, gehen Sie ebenfalls kurz in Grundstellung, wünschen die Tageszeit und beginnen bei der Person, die Ihnen am nächsten steht, mit der persönlichen Begrüßung. Danach suchen Sie sich einen Platz in der Runde und warten.“ So fing meine erste Einweisung in das Offizierkasino an. Das Kasino an meinem Standort war eines der wenigen, das noch außerhalb des geschlossenen Kasernenkomplexes lag. Als junger OA hatte ich nur selten das Vergnügen, diese Räumlichkeiten aufzusuchen. Aber ehrlich: Ich habe mich auch nicht wirklich darum gerissen. Irgendwie erschien mir das Ganze angestaubt und leblos. Ich weiß heute noch, wie ungern wir ins Kasino gegangen sind, irgendwie war es eine Verpflichtung, der keiner von uns die richtige Bedeutung beimessen konnte. 238 Leutnantsbuch Neben verschiedenen Vorträgen und der Ausbildung „Stil und Form“ war das Kasino immer der Ort, an dem einmal im Monat der Kommandeur „seine“ OA’s zum gemeinsamen Mittagessen empfing. Im Gegensatz zu den traditionellen gemeinsamen Essen mit den Offizieren des Bataillons, waren unsere immer mit einem Kurzvortrag durch ein oder zwei Kameraden zu vorgegebenen Themen verbunden. Diese Aufgaben führten nicht wirklich dazu, diesen Ort, zu dem wir uns eigentlich hingezogen fühlen sollten, zu mögen oder in unserer Freizeit aufzusuchen. Dies, obwohl uns jeder Offizierkamerad einen Besuch ans Herz legte. So verstrichen die ersten Monate der Ausbildung zum Offizier und es kam zur Versetzung an die Truppenschule. Auch hier wurde wieder auf Stil und Form sowie Vorträge in den Räumlichkeiten des Kasinos Wert gelegt. Im Gegensatz zu meinem alten Standort gab es hier ein „zentrales“ Offizierlager. Hier sollten alle Offiziere des Standortes untergebracht werden. Auch einige meiner Kameraden aus anderen Hörsälen wohnten vom ersten Tag an im Offizierlager. Ich hatte das Glück, die 18 Monate, die ich zur Truppenschule kommandiert war, nicht nur im selben Block und in der selben Stube verbringen zu dürfen, sondern auch genau gegenüber dem Unteroffizierheim zu wohnen, in dem man ja ab dem Dienstgrad Fahnenjunker willkommen war. Also mied ich wiederum die Atmosphäre und Gastlichkeit eines Offizierkasinos. An der Offizierschule gab es zwar ein Kasino, aber aufgrund des Lehrgangs, der Umgebung und der angebotenen Pizzadienste wurde auch dieses nur selten besucht. Dennoch wurde es neben den üblichen Vorträgen auch hin und wieder zum Mittagsessen aufgesucht, meist, wenn es nur 239 Leutnantsbuch Germknödel oder Eintopf in der Truppenküche gab. Hier entwickelte sich so etwas wie ein „Wir-Gefühl“. Ich ging immer mit meinen Kameraden dort hin, und irgendwie fühlte man sich „unter sich“. Als ich dann im Dienstgrad Oberfähnrich zurück in mein altes Bataillon kam, wurde ich in eine Stube im Dachgeschoss des Offizierheims einquartiert. Hier lernte ich zum ersten Mal die Vorzüge einer solchen Einrichtung kennen. Die Ordonnanzen kümmerten sich fast schon aufopferungsvoll um uns: Ob bei den Essen à la carte oder aber während der gemütlichen Abende mit Kameraden im Kaminzimmer, die Aufenthalte in „meinem“ Kasino waren einfach unbeschreiblich schön. Gespräche und Feiern, die in diesem mir noch vor wenigen Monaten so verstaubt wirkenden Objekt stattfanden, waren wohl die Schönsten die ich bis dahin während meiner Dienstzeit erlebt habe. Aber nicht nur die Feiern, sondern vor allem die Gespräche und der Austausch von Erfahrungen mit älteren Kameraden dienten meiner Horizonterweiterung. Heute bin ich nun Oberleutnant und führe einen Zug. Wenn es mir die Zeit erlaubt, besuche ich gerne mit meinem Chef oder meinen Zugführerkameraden unser Offizierkasino und genieße dessen Atmosphäre. HI Sei engagiert! Es muss uns gelingen, auch in der heutigen Zeit unsere Offizierheime – ob noch eigenständig als Verein geführt oder aber in privatwirtschaftlicher Leitung – als Orte des 240 Leutnantsbuch außerdienstlichen und dienstlichen Gemeinschaftslebens zu erhalten und weiterzuentwickeln. Diese Einrichtungen bieten eine erstklassige Möglichkeit, sich im Kreise Gleichgesinnter auszutauschen, sie bieten Rückzugsräume und die Möglichkeit zur Entspannung. Dies gilt im Grundbetrieb, aber auch in den Einsätzen. Dort müssen sich die Betreuungseinrichtungen jedoch den örtlichen Gegebenheiten lageabhängig anpassen. Was bleibt, ist die Forderung an den Offizier, sich in diesen Betreuungseinrichtungen persönlich aktiv zu engagieren. Wir dürfen unsere Kasinos nicht als „outgesourcte“ Gastwirtschaften verkümmern lassen. Sie sind unsere Einrichtungen, hier wächst das Offizierkorps zusammen. Hier besteht die Möglichkeit zur aktiven Gestaltung von Gemeinschaft und gelebter Kameradschaft. Im Offizierheim lernen sich alle Offiziere und Offizieranwärter auf gleicher Augenhöhe persönlich kennen. Gespräche gehen idealer Weise über das rein Dienstliche hinaus. Hier sollten ein ausgewogenes menschliches Miteinander und ein von Offenheit und Ehrlichkeit geprägtes Klima des Vertrauens herrschen. Die älteren Kameraden leben dieses Miteinander vor. Was im Kasino im Kameradenkreis besprochen wird, dringt im Regelfall nicht nach draußen. Kritische und von Vertrauen geprägte Diskussion ist notwendig. Zu falsch verstandener Kameraderie darf dies allerdings nicht führen. Dieses gelebte Miteinander ist die Grundlage für eine gefestigte Kameradschaft. Das am Standort gewachsene persönliche Vertrauensverhältnis trägt auch unter Belastungssituationen und im Einsatz. Umso wichtiger ist es, dass bereits der junge Offizieranwärter von Beginn seiner Dienstzeit an in diese Einrichtungen eingeführt wird und sie als „sein“ Kasino erlebt. Je früher er sein Kasino erlebt und sich hier aktiv engagiert, desto besser. 241 Leutnantsbuch Das Einführungsgespräch W ie sagte noch unser Hörsaalleiter an der OSH? „Wenn Sie Ihren Zug übernommen haben, suchen Sie innerhalb der ersten Wochen das Gespräch mit Ihren Unteroffizieren. Stellen Sie sich Ihnen persönlich vor und beantworten Sie sich die Frage: Was weiß ich eigentlich von meinen Untergebenen?“ Für mich rückte zum damaligen Zeitpunkt das Thema in den Hintergrund. So sitze ich an einem Mittwochabend in meinem Zugführerzimmer und überlege mir, was ich eigentlich über meine Unteroffiziere wissen will. Und, was ich ihnen von mir erzählen soll! Natürlich habe ich beim Zugantreten kurz erzählt, wer ich bin und was ich bereits in der Bundeswehr erlebt habe – eigentlich waren es bisher nur das Studium und viele Lehrgänge, also wenig spannende Erlebnisse. Über mich und mein Privatleben habe ich nur wenig erzählt, will das eigentlich jemand wissen? Am nächsten Tag geht es los. Ich habe für jeden Unteroffizier fünfzehn Minuten eingeplant. Hoffentlich reicht das aus. Ich beginne mein erstes Gespräch mit Oberfeldwebel W. Um das Eis zu brechen, erzähle ich zunächst von mir: „Geburtsort Mönchengladbach, dort die ganze Jugend verlebt, ... Hobbys Inlineskates, Skifahren und Fußball, aber nicht in der Bundesliga, ... meine Lebenspartnerin habe ich in Hamburg beim Studium kennen gelernt, sie fährt wie ich auch gerne Ski und Inlineskates, ... zur Zeit wohne ich hier am Standort, bin aber Wochenendpendler, da meine Partnerin in Hamburg berufstätig ist ...“ Oberfeldwebel W. strahlt mich an: „Da gibt es ja einige Gemeinsamkeiten. Ich fahre auch gerne Inlineskates, bin Gladbach-Fan und ebenfalls Wochenendpendler.“ 242 Leutnantsbuch Und dann berichtet er mir von seinen Interessen, aber auch von einigen Problemen mit seiner Partnerin. Diese seien wohl auf die Wochenendbeziehung zurückzuführen. Dann noch der Einsatz und die vielen Übungen, er sei froh, dass jetzt bald sein Sommerurlaub anstünde und er sich dann wieder mehr seiner Partnerin widmen könne. Aber auch dienstlich gibt es eine Menge interessanter Erfahrungen, die Oberfeldwebel W. zu berichten hat. Er war bereits zweimal im Einsatz, im Kosovo und in Afghanistan, und kannte eigentlich alle Truppenübungsplätze in Norddeutschland. Seine Feldwebellehrgänge hatte er als Lehrgangsbester bestanden und schließlich weihte er mich in seine Absicht ein, Berufssoldat zu werden. Das Gespräch dauert länger als geplant, nach dreißig Minuten sind wir erst fertig. Aber es hat sich gelohnt, jetzt wissen wir beide, dass hinter unserer Uniform mehr steckt als nur Dienstgrad und militärischer Werdegang. Ich mache mir einige Notizen und nehme diese zu meiner Handakte. Einige Tage später: Ich bin auf dem Standortübungsplatz, mein Zug übt das Einfließen in den Verfügungsraum. Nachdem ich den Befehl für die Sicherung gegeben habe, gehe ich den Raum ab. Am Feldposten 1 treffe ich Oberfeldwebel W., er meldet und trägt mir zur Lage vor. Im anschließenden Gespräch frage ich ihn: „Na, wie hat Gladbach gespielt?“ – „Eins zu Null! Ist eben unser Verein, Herr Oberleutnant“, antwortet er breit grinsend. Wir sind mitten im Pausengespräch ... HI Suchen Sie das offene Gespräch mit Ihren Mitarbeitern. Fragen Sie nach familiärem Hintergrund, Interessen und Hobbys. Interessieren Sie sich ehrlich für den Menschen der 243 Leutnantsbuch in der Uniform steckt. Machen Sie sich vorher Gedanken, was Sie wissen wollen, und strukturieren Sie das Gespräch. Seien auch Sie offen und berichten von sich selbst. Sagen Sie aber auch, was Sie von Ihren Mitarbeitern erwarten, was Sie erreichen wollen und was Sie auf keinen Fall dulden. Diese Gespräche sind häufig der Schlüssel, um Pausengespräche oder Unterhaltungen bei Gemeinschaftsveranstaltungen mit interessanten Themen zu beginnen, die nicht nur vom Dienstalltag handeln. 244 Leutnantsbuch Der „Robuste Soldat“ A ls ich nach meinem Schulabschluss in die Bundeswehr einrückte, war ich ein durchschnittlich sportlicher Abiturient. Die Ausbilder forderten insbesondere von uns Offizieranwärtern viel, und ich musste rasch feststellen, dass ich sportlichen Nachholbedarf hatte. Klar, ich wollte Gruppenführer werden und musste dafür natürlich körperlich leistungsfähig sein. Außerdem sollte ich im Anschluss an meinen Gruppenführerlehrgang nach Hammelburg gehen und den Einzelkämpferlehrgang absolvieren. Dieses Ziel vor Augen zog ich voll mit, konnte meine Leistungsfähigkeit, aber auch mein Selbstbewusstsein deutlich steigern. Einzelkämpferlehrgang und Gruppenführerlehrgang in einer Grundausbildungsinspektion liefen dann ausgesprochen gut. Anschließend wurde ich auf den Zugführerlehrgang kommandiert und irgendwie schienen sich die Anforderungen zu wandeln. Sport und körperliche Leistungsfähigkeit waren zwar ein Bestandteil des Lehrgangs, im Mittelpunkt standen aber Fähigkeiten eher schulischer Natur: Klausuren und Wehrrecht, Taktik und Logistik, Unterrichte und Vorträge. Wenn ich dann am Ende eines Ausbildungstages auf meine Stube kam, war ich geschafft. Meistens hielt ich ein kleines Nickerchen und wollte anschließend die Vor- und Nachbereitung der Ausbildung erledigen. Aber irgendwie fühlte ich mich matt und ohne Elan. Ich konnte meine Lehrgangskameraden nicht verstehen – die machten unmittelbar nach dem Dienst Sport, befassten sich mit Vor- und Nachbereitung der Lehrgänge und konnten sogar abends noch in die Stadt gehen – dazu hatte ich keine Kraft. Zum Glück gelang es meinen Kameraden, mich trotz meiner Skepsis zu aktivieren und mit ihnen nach Dienst laufen zu 245 Leutnantsbuch gehen. Dies verbesserte nicht nur meine Fitness, sondern steigerte meine gesamte Leistungsfähigkeit – körperlich und geistig. Das Lernen für Klausuren ging mir plötzlich viel leichter von der Hand. Mein Selbstbewusstsein stieg und mich konnte nichts mehr so leicht aus der Bahn werfen. Den Zugführerlehrgang konnte ich so erfolgreich abschließen. In meinen folgenden Spezialausbildungen – nämlich der Hubschrauberpilotenausbildung in den USA und meinem Studium der Luft- und Raumfahrttechnik in München – behielt ich diese Angewohnheit konsequent bei und bin damit immer gut vorangekommen. Mittlerweile bilde ich selbst junge Feldwebel- und Offizieranwärter aus und kann ihnen an meinem Beispiel recht schnell klar machen, dass sich der körperlich leistungsfähige, der „robuste Soldat“ auf dem Weg zum Spezialisten nicht nur leichter tut, sondern dass das ganz selbstverständlich dazu gehört. Kürzlich traf ich einen Jahrgangskameraden, der bereits den Stabsoffizierlehrgang in Hamburg absolviert hatte – übrigens mit einem glänzenden Ergebnis – und von seinem persönlichen Erfolgsrezept berichtete: „Nach dem Dienst erstmal einen Stunde laufen gehen, damit der Kopf wieder frei wird. Dann kann man befreit weiterarbeiten.“ HI Halte Dich fit! Mens sana in corpore sano – nur in einem gesunden Körper kann ein gesunder Geist wohnen! Es ist nicht gut, immer unter „Volllast“ zu fahren. Dies gilt für uns selbst, aber auch für die Menschen, die wir führen. 246 Leutnantsbuch Der Suizid E s war vor ziemlich genau einem Jahr. An einem ganz normalen Morgen. Wie immer nahm der Kompaniechef routiniert seinen Dienst auf. Zunächst nur beiläufig wurde registriert, dass der Kommandeur an diesem Morgen nicht da war. Irgendwann im Laufe des Vormittages wurde dann eine Entscheidung des Kommandeurs benötigt. Frage an sein Vorzimmer: „Wo ist der Kommandeur?“ – „Weiß ich nicht.“ – „Gibt’s einen Vertreter?“ – „Keine Ahnung, ich glaube nicht.“ Enttäuscht zog der Chef wieder ab. Nachdem im Laufe des Vormittags der Kommandeur nirgendwo gesichtet wurde, wählte das Vorzimmer die Privatnummer des Kommandeurs an. Kurz darauf wurde die Tür des Dienstzimmers des Kompaniechefs unsanft von außen geöffnet. Der S3Feldwebel aus dem Vorzimmer trat unaufgefordert herein. Noch bevor der Chef etwas sagen konnte, kam ihm der Feldwebel mit zittriger Stimme zuvor: „Der Kommandeur ist tot.“ – „Wie bitte? Was haben Sie gesagt?“ – „Der Kommandeur hat sich heute Nacht das Leben genommen.“ Für einen Moment herrschte eine entsetzliche Leere und Stille. Dann fingen im Kopf des Chefs die Bilder an zu laufen, immer mehr und schneller: - Bilder vom Kommandeur vor der Front - Bilder von guten Gesprächen mit ihm - Bilder von seiner untadeligen Dienstauffassung - Bilder von seiner strengen und fordernden Dienstaufsicht - ... und so weiter. Und am Ende stand über allem die eine zentrale Frage nach dem „Warum“. 247 Leutnantsbuch Wenige Tage später stand der Chef als Totenwache am Grab. Wieder fingen die gleichen Bilder im Kopf an zu laufen. Aber die unbeantworteten Fragen nach dem „Warum“ wurden nicht weniger, sondern mehr. Auf den ersten Blick lief doch alles hervorragend. Der Kommandeur hatte seinen Verantwortungsbereich umfassend im Griff, er stand glänzend da. Seine Karriere schien ungebrochen, eine förderliche Anschlussverwendung stand kurz bevor. - Warum trotzdem diese Entscheidung? - Hätte man es im Voraus erkennen können? - Hätte man ihm helfen können? - Warum hat er sich nicht Kameraden offenbart? An der letzten Frage blieb der Chef hängen. Hat ein Kommandeur überhaupt Kameraden? Wo findet er zwischen den nie nachlassenden Anforderungen seines Vorgesetzten einerseits und seiner Führungsverantwortung nach unten andererseits kameradschaftliche Unterstützung? Führungsverantwortung macht bekanntlich einsam. Der § 12 Soldatengesetz fordert von allen Soldaten, Kameraden in Not und Gefahr beizustehen. Wie groß muss die Not eines Kameraden sein, dass er freiwillig seinem Leben ein Ende setzt. Und keiner hat die Not erkannt! Hätte der untergebene Chef dem Kommandeur mehr Kamerad sein müssen? Hätte der Vorgesetzte des Kommandeurs diesem mehr Kamerad sein müssen? Wo beginnt Kameradschaft und wie lebt man sie? Die Frage nach der Kameradschaft beschäftigte den Chef lange Zeit. Auch höhere Vorgesetzter haben Anspruch auf Kameradschaft, auf Kameraden, die gegebenenfalls in der Not helfen. 248 Leutnantsbuch Der Chef jedenfalls hatte sich vorgenommen, zukünftig nicht nur für seinen Bereich, sondern auch „nach oben“ mehr Kamerad zu sein. Und heute, ein Jahr danach? Die Bilder vom alten Kommandeur kommen nur noch selten. Der neue Kommandeur hatte sich schnell eingearbeitet und steht glänzend da. Alles ist wie immer, jeden Tag nimmt man routiniert seinen Dienst auf. „Weiß jemand, wo heute Morgen der Kommandeur ist?“ HI Höre zu! Was wissen Führer eigentlich von ihren Kameraden? Wie weit öffnet man sich selbst gegenüber anderen? Hören wir auch unseren Vorgesetzten zu? Erkennen wir Zwischentöne? Versuchen wir, auch die Nöte und Sorgen von anvertrauten Soldaten und von Vorgesetzten zu erkennen? Kameradschaft als soldatische Tugend endet nicht bei Gleichgestellten! 249 Leutnantsbuch Die Gneisenaukaserne Geschichte und Tradition im Pausengespräch G rundausbildung in der „Gneisenaukaserne“. Der junge Leutnant kommt während der Ausbildungspause mit einigen Rekruten seines Zuges ins Gespräch. Unvermittelt fragt ihn ein Soldat, was es eigentlich mit dem Namen der Kaserne auf sich habe. Gneisenau – das sagt ihm irgendwie etwas. War das nicht ein Schlachtschiff? Aber wir sind doch beim Heer! Dem Leutnant fällt hierzu spontan ein, wie sein Militärgeschichtslehrer an der Offizierschule mit Leidenschaft über die Schlacht bei Waterloo erzählte. Da spielte doch Neidhardt von Gneisenau ein wichtige Rolle. Genau! In der Schlacht bei Ligny im Juni 1815, einem Vorgefecht von Waterloo, hatte die preußische Armee eine Niederlage gegen Napoleon einstecken müssen. Feldmarschall Blücher, der bekannte „Marschall Vorwärts“, war in den Abendstunden auf dem Schlachtfeld verschollen. In der sinkenden Dämmerung, bei peitschendem Regen und Wind, versuchten seine Offiziere, ihre verstreuten und demoralisierten Truppen wieder zu sammeln. Chaos. Rückzug. Abseits an einer Windmühle steht schweigend Gneisenau, der Generalstabschef der preußischen Armee. Allmählich sammeln sich die höheren Kommandeure im Halbkreis um ihn. Befehlsausgabe. Erstmals ist Gneisenau allein in der Verantwortung. Er spürt die Einsamkeit des Kommandos. Vor sich hat er die erschöpfte Armee, im Rücken die Straße, die nach Osten zur Maas führt, in die Heimat. Im Norden sind irgendwo die verbündeten Briten unter Wellington. Sie sind aber nur über die verschlammten Wege unter großen Strapazen zu erreichen. Gneisenau sieht die zweifelnden Blicke seiner Offiziere. Gerade er, der 250 Leutnantsbuch Intellektuelle, denken sie, der „Schreibtischstratege“ – ausgerechnet er soll nun einen großen Entschluss fassen! Gneisenau richtet sich im Sattel auf und weist mit dem Arm den Weg: „Die Armee geht nach Norden, nach Wavre!“ Die Offiziere glauben, nicht recht zu hören. Haben diese Quälerei und dieser Krieg denn nie ein Ende? Doch Stunden später sind sie auf dem Marsch. Was sie noch nicht wissen: In wenigen Tagen werden sie bei Waterloo Weltgeschichte schreiben. Und Gneisenau – er wird später als einer der bekannten »Preußischen Reformer« gelten. Die von ihm gemeinsam mit Gerhard von Scharnhorst, Hermann von Boyen und Carl von Clausewitz angestoßenen Veränderungen im preußischen Heer sind so modern, dass sie bis in unsere heutige Zeit hinein Gültigkeit besitzen. Wir denken vor allem an das Leistungsprinzip, die Auftragstaktik, die höheren Anforderungen an den Bildungsstand des Offiziers, die Pflicht zur menschenwürdigen Behandlung Untergebener und natürlich – an die Wehrpflicht! Spannende Geschichte, denkt der Rekrut. Der Zugführer hat echt Ahnung! Auch die anderen aus der Gruppe haben zugehört. Wie lange ist eigentlich noch Pause? Der Leutnant ist jetzt in seinem Element, er erzählt weiter. Die jungen Soldaten erfahren, dass sich die Bundeswehr neben den preußischen Militärreformen noch auf zwei weitere Traditionslinien stützt. Tradition ist – so lernen sie nebenbei – nicht dasselbe wie Geschichte, sondern eine wertebezogene Auswahl aus derselben. Aber bitte nicht zuviel Theorie! Dass Oberst Graf von Stauffenberg, der am 20. Juli 1944 versuchte, Hitler mit einer Bombe zu töten, ein Nachfahre Gneisenaus war, klingt interessanter. Und damit ist ja auch schon eine Brücke geschlagen zum militärischen Widerstand gegen Hitler. Namen wie Henning von Tresckow, Werner von Haeften oder Friedrich Olbricht sind 251 Leutnantsbuch einigen der Rekruten aus Fernsehdokumentationen bekannt. Ihr Zugführer macht ihnen nochmals deutlich, dass die meisten Attentäter des 20. Juli eine feste Bindung an Heimat, Familie, Tradition und christlichen Glauben besaßen – die Früchte einer konservativen Erziehung. Ihr Motiv lautete vor allem, dem Staate und dem Volke verantwortungsvoll zu dienen. „Unbedingter Gehorsam“ war ihnen fremd. Durch die Verbrechen der Nationalsozialisten und die immer fanatischere Führung des Krieges sahen sich zahlreiche Offiziere moralisch herausgefordert. Hier denkt manch einer der Rekruten zurück an die Rede des Bataillonskommandeurs, letzte Woche beim Gelöbnis. Da ging es auch um dieses Thema. Sprach er nicht auch von den Gewissenskonflikten der Männer des 20. Juli? Auch der Leutnant erzählt von den schweren inneren Kämpfen, welche diese Offiziere ausgetragen haben. Kürzlich hat er dazu im Internet einen Satz Stauffenbergs gelesen, er kann ihn sinngemäß wiedergeben: „Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem eigenen Gewissen.“ Was ist Gewissen? Ein schlechtes Gewissen hat wohl jeder der jungen Soldaten schon einmal gehabt, bemerkt der Leutnant nebenbei, also ist auch keiner von ihnen »gewissen-los«. Der 20. Juli 1944, so fährt er fort, zeigt aber, dass eine Gewissensentscheidung nicht nur bedeuten kann, einmal gegen den Strom schwimmen zu müssen und sich der Anfechtung auszusetzen. Für die Männer um Graf Stauffenberg ging es um Leben und Tod. General von Tresckow sagte dazu: „Der sittliche Wert eines Menschen beginnt dort, wo er bereit ist, 252 Leutnantsbuch für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben“. Die Rekruten hören, dass die Lehren des Widerstandes gegen Hitler nach über 60 Jahren darin bestehen, dass weder ein Staat noch eine menschliche Autorität das Recht besitzen, einen Menschen total zu fordern, sondern allenfalls einen »mündigen« Gehorsam erwarten dürfen. Es darf nicht Ziel des Soldaten sein, blind zu gehorchen, sondern gewissenhaft – also dem Gewissen treu zu sein. Und letztlich soll der Soldat eben nicht nur Kämpfer sein, sondern auch für die Durchsetzung und Erhaltung von Grundwerten einstehen. Viele Rekruten sind nachdenklich geworden. Das war sicher keine einfache Situation für die Offiziere um Stauffenberg. So mutig ist bestimmt nicht jeder. Ein Rekrut fragt schließlich, ob die Bundeswehr denn auch solche berühmten Soldaten vorzuweisen habe? Sicher, antwortet der Leutnant, wenn auch nicht so bekannte wie die bisher genannten. Die meisten der jungen Soldaten hören nun die Namen Wolf Graf von Baudissin, Ulrich de Maizière und Johann Adolf Graf von Kielmansegg. Sie erfahren, dass diese Personen weniger durch herausragende Taten im Krieg bekannt geworden sind – die Existenz der Bundeswehr hat nämlich entscheidend dazu beigetragen, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Frieden auf deutschem Boden zu bewahren. Wahrlich eine Erfolgsgeschichte! Die Verdienste der sogenannten „Gründerväter“ der Bundeswehr liegen in anderen Bereichen: Die von ihnen entwickelte Konzeption der „Inneren Führung“ ermöglicht es, dass die jungen Rekruten der „Gneisenaukaserne“, die heute viele Fragen haben, als „Staatsbürger in Uniform“ entsprechend einem zeitgemäßen Menschenbild und einer modernen Werteordnung ausgebildet, geführt und erzogen 253 Leutnantsbuch werden. Sie sollen wissen, wofür sie ihren Dienst leisten. Nicht zuletzt dazu dienen Pausengespräche ... HI 254 Leutnantsbuch ... lieber spät als nie! A llgemein wird mir viel Erfahrung nachgesagt. Ich bin ausgebildeter Flugsicherheitsoffizier (FSO) und verfüge über 6000 Flugstunden, davon einen Großteil als Fluglehrer. Also ein richtig zuverlässiger Pilot. Dennoch gibt es Erlebnisse, die eigentlich nicht passieren dürften. Ein normaler Ausbildungstag mit einem Flugschüler auf der alten ALOUETTE II, den ich schon seit Wochen betreute, führte uns zum Außenlandeplatz, an dem wir Autorotationen üben sollten. Zunächst verlief alles planmäßig, der Schüler machte gute Fortschritte und ich steigerte den Schwierigkeitsgrad. Leider unterlief mir in der Folge der Fehler, zu spät einzugreifen. Wir hatten einen zu großen Anstellwinkel in der Schlussphase und berührten nicht mit den Kufen, sondern mit dem Hecksporn sehr hart den Boden. An sich kann so etwas vorkommen. Man stellt die Maschine ab, informiert die Technik und wartet auf die Befundung. Im besten Fall fliegt man dann wieder weiter, im schlechtesten wird die Maschine überführt. Ich dagegen entschied mich gegen alle Vernunft, zurück zu fliegen, stellte die Maschine auf dem Hallenvorfeld ab, absolvierte mein Debriefing und machte mich auf den Weg nach Hause. Mit Verlassen der Kaserne wurde mir urplötzlich die Dimension meines Verhaltens bewusst. Ich drehte um, fuhr zur Technik, sperrte per Eintrag den Hubschrauber, meldete den Vorfall der Einsatzsteuerung und informierte den Flugsicherheitsoffizier. Am nächsten Tag meldete ich vor Dienstbeginn dem Kommandeur den Vorfall. Mir war klar, dass ich mich mehr als unprofessionell verhalten hatte. Daher war für mich auch eine disziplinare Ahndung nachvollziehbar. 255 Leutnantsbuch Entsprechend unserer Verbandskultur schilderte ich auch im Rahmen des morgendlichen Briefings mein Fehlverhalten, um auch darauf hinzuweisen, dass es in der Fliegerischen Ausbildung immer zu Zwischenfällen führen kann, die man meldet, um zukünftig vor möglichen Gefahren zu warnen. Auch bin ich froh, den Mut gefunden zu haben, mich unverzüglich nachträglich gemeldet zu haben, um weiteren Schaden zu vermeiden. HI Übernimm Verantwortung! Ehrlichkeit und Verantwortungsbewusstsein gehören zu den Grundtugenden des Offiziers. Dies auch im Verband oder in der Einheit zu fördern, ist Aufgabe des militärischen Führers. Eine gute Verbandskultur stellt sich gegen eine „Null-Fehler Mentalität“. 256 Leutnantsbuch Der Anschlag I m Mai wurde ich, Oberfeldwebel S., Opfer eines Selbstmordattentats in Kunduz, Afghanistan, bei dem drei meiner Kameraden ums Leben kamen, sowie zwei andere Soldaten, darunter ich selbst, schwer verletzt wurden. Meine Frau, die in Deutschland durch die Familienbetreuungsstelle benachrichtigt wurde, war ab diesem Moment absolut überfordert und nach einem Nervenzusammenbruch nicht dazu in der Lage, aus eigener Kraft ins Krankenhaus nach Koblenz zu kommen und alle anderen anfallenden Angelegenheiten zu klären. Ein Hauptmann, der vor Jahren als Leutnant mein Zugführer war, ist mittlerweile in Idar-Oberstein stationiert, wo ich mit meiner Familie lebe. Als er durch einen Zufall von diesem Unglück sowie von der Tatsache, dass ich ein Betroffener bin, erfuhr, begab er sich direkt mit den Soldaten, welche die Nachricht überbrachten, zu meiner Frau. Von diesem Moment an stand er mit Rat, Tat und Trost an der Seite meiner Frau und half ihr bei „allen“ anfallenden Angelegenheiten in der schweren Zeit. Darunter fällt unter anderem, dass er sich um die unzähligen Telefonate mit Freunden, Verwandten und Behörden und darüber hinaus um unseren achtjährigen Sohn kümmerte, Einkäufe erledigte und über drei Wochen hinweg täglich meine Frau von Idar-Oberstein nach Koblenz ins Krankenhaus fuhr. Dort war er rund um die Uhr die Stütze für meine Frau. Es ist erwähnenswert, dass der Hauptmann über die ganze Zeit hinweg, obwohl durch die Sache emotional selbst angegriffen, seinen Dienst weiterhin verrichtete – wenn auch nur halbtags unter Einsatz von Freistellungen. Auch andere Vorgesetzte haben sich hierbei verdient gemacht. 257 Leutnantsbuch Es ist für mich mit Worten unheimlich schwierig zu erklären und für Außenstehende, die nicht betroffen sind, eventuell schwer zu verstehen, welch’ unbezahlbare Hilfe und unglaublich große Leistung dieser Offizier für meine Frau und letztendlich auch für mich in dieser Zeit vollbracht hat. Diese Leistung und dieses Verhalten sind meiner Meinung nach mustergültig, unübertroffen und werden der Vorbildund Fürsorgefunktion eines Offiziers mehr als gerecht. HI Zeige Persönlichkeit! Sei Vorbild! Stelle den Mensch in den Mittelpunkt! Die Wirkung von eigenem Führungsverhalten auf andere muss stets reflektiert werden. Kameradschaft ist losgelöst von hierarchischen Strukturen und stellt den Mensch in den Mittelpunkt! Deshalb sind Empathie und Fürsorge wichtige Eigenschaften eines Offiziers. Darüber hinaus ist es in derart schwierigen Situationen auch wichtig, professionelle Hilfe anzubieten und auch anzunehmen. Es gibt inzwischen psychosoziale Netzwerke (PSN), die auf breiter Fläche diese Hilfe anbieten. Informieren Sie sich und Ihre Untergebenen über die bestehenden Möglichkeiten. 258 Leutnantsbuch Team „Hotel“ N ach meiner bisher wohl schönsten Zeit in der Bundeswehr – dem Studium der Betriebswirtschaft an der Universität der Bundeswehr in Hamburg – wurde ich mit bestandenem Diplom in ein Panzerbataillon versetzt. Einerseits war ich froh, nach der langen Zeit des Lernens und der vielen Klausuren und Prüfungen nun wieder in die Truppe zu kommen, andererseits war Hamburg für mich eine zweite Heimat geworden. Ich wurde also von dieser pulsierenden Metropole in eine Provinzstadt versetzt. Die Bataillonsführung des Panzerbataillons befand sich zum Zeitpunkt meiner Versetzung im Auslandseinsatz in Feyzabad, Afghanistan. Der technische Stabsoffizier führte das Bataillon und setze mich zunächst als Einsatzoffizier der vierten Kompanie ein. Die „Vierte“ wurde zu diesem Zeitpunkt durch zwei Oberleutnante der Reserve geführt, die nach meiner Einschätzung sehr gute Arbeit leisteten. In den kommenden Wochen entwickelte sich schnell ein freundschaftliches Verhältnis zwischen uns und so fiel es nicht schwer, die Herausforderungen einer Grundausbildung mit 90 Rekruten, sei es im Bereich der Führung, der Ausbildung oder auch im disziplinaren Bereich, zu bewältigen. Kurze Zeit später endeten jedoch die Wehrübungen beider Reservisten. Bei der sich nun stellenden Frage, wer die Kompanie die nächsten Monate führen sollte, fiel die Wahl auf mich. Eine wahre Herausforderung nach der langen Zeit der „Abstinenz“ von der Truppe. Auf meinen Schultern lastete nun die Verantwortung für eine neue Allgemeine Grundausbildung mit über 150 Soldaten – vom Rekruten bis zum altgedienten Hauptfeldwebel. Das Führerkorps der „Vierten“ war trotz Abwesenheit des Kompaniechefs und des originären Kompaniefeldwebels 259 Leutnantsbuch eine hocherfahrene und zusammengeschweißte Einheit. Dieser Umstand erleichterte mir zwar die Arbeit, es entstand aber auch eine hohe Erwartungshaltung hinsichtlich meiner Leistungen. Ich hatte die Befürchtung, dass es mir als jungem, relativ unerfahrenem Oberleutnant schwerfallen würde, das Vertrauen und die Anerkennung meines unterstellten Bereichs als Kompanieführer zu erlangen. Glücklicherweise gelang es mir nach meiner Einschätzung relativ schnell, auch von den älteren erfahrenen Portepeeunteroffizieren akzeptiert zu werden. Rückwirkend betrachtet lag das wohl daran, dass ich mich an die Tipps und Hinweise meines damaligen Hörsaalleiters an der Panzertruppenschule erinnerte und diese umsetzte. Ich bin mir sicher, dass die „Vierte“ zum damaligen Zeitpunkt von mir nicht das Können und die Erfahrung eines originären Kompaniechefs erwartete, sehr wohl jedoch einen Offizier, der sich mit vollem persönlichen Einsatz um die Belange der Kompanie kümmert. In den folgenden zweieinhalb Monaten durfte ich neben dem normalen Dienstgeschäft den Besuch des Divisionskommandeurs, diverse Stationen beim Tag der offenen Tür und einige Besuche bei der Patengemeinde der Kompanie vorbereiten und durchführen. Die Zeit als Kompanieführer direkt nach dem Studium war eine herausfordernde, aber auch hoch interessante und schöne Zeit. Kaum ein anderer Beruf ist so abwechslungsreich und spannend wie der unsrige. HI 260 Leutnantsbuch Wesentlich waren die folgenden fünf Regeln: - - - Gehe mit Deinem unterstellten Bereich vernünftig um und suche das offene Wort. Hab’ keine Angst vor neuen Herausforderungen. Lass’ Dich vor Deinen Entscheidungen umfangreich beraten und schöpfe damit das Erfahrungspotenzial Deiner Untergebenen aus. Setze Dich mit all Deiner Kraft und vollem persönlichen Einsatz für Deinen unterstellten Bereich ein. Häufig fordert Dich diese ungeteilte Verantwortung über die Regeldienstzeit hinaus. Nimm die Sorgen, Probleme und Nöte Deines unterstellten Bereichs ernst. 261 Leutnantsbuch Der Hochwassereinsatz A m 01. Juli trat ich meinen Dienst als Offizieranwärter der Panzergrenadiertruppe an. Ab Mitte August begann es dann immer häufiger und immer länger zu regnen. Wir hörten in den Nachrichten von Hochwasserwarnungen in Tschechien. Später hieß es dann, auch Deutschland könnte von Hochwasser betroffen werden. Unser Bataillon wurde in Alarmbereitschaft versetzt, auch unsere Grundausbildungskompanie sollte bei Hochwasser zum Einsatz kommen. Unser Zugführer, ein junger Oberleutnant machte uns „heiß“ auf einen Einsatz für den Katastrophenfall. Am nächsten Tag stand Verladen der Ausrüstung auf dem neuen Zusatzdienstplan. Das komplette Bataillon begann Kampftragetaschen und Seesäcke auf Zehntonner zu verladen. Es rollten mehr und mehr zivile Busse an und fuhren auf dem Antreteplatz auf. Nach dem Essen trat die Kompanie an und unser Kompaniechef gab bekannt, dass das Bataillon noch heute nach Sachsen-Anhalt verlegen und an der Elbe eingesetzt würde. Unsere 4. Kompanie hatte den Auftrag die Ortschaft Vockerode bei Dessau vor dem Hochwasser zu schützen. Nach dem Antreten war noch Zeit, um zu Hause anzurufen. Da meine Familie auch die Nachrichten verfolgt hatte, war niemand überrascht, dass wir nun auch in Sachsen-Anhalt Hilfe leisten mussten und wollten. Wir kamen in einem Ort mit dem Namen Oranienbaum an und unser Zug bezog fast geschlossen ein Klassenzimmer der örtlichen Grundschule. Am folgenden Morgen begann die Arbeit direkt am linken Ufer der Elbe. Die A9 war nicht weit entfernt. Wir wunderten uns allerdings, dass wir keine Fahrzeuge sehen und hören konnten. Die Autobahn war gesperrt, die Elbe 262 Leutnantsbuch musste irgendwo bereits weit über die Ufer getreten sein. Das spornte uns an, sofort mit der Arbeit zu beginnen. Unser Zug begann den natürlichen Damm mit Sandsäcken zu verstärken. Wir bildeten eine Kette und reichten uns in rasendem Tempo die Sandsäcke durch. Der zweite Tag verlief ähnlich wie der vorherige. Nur bekamen wir an diesem Tag zusätzliche Unterstützung von Anwohnern, die helfen wollten, ihr Hab und Gut vor dem Hochwasser zu retten. Die Pegel waren trotz der Hitze in der Nacht weiter gestiegen und die untersten unserer Sandsäcke vom Vortag wurden nass. Die Bevölkerung fuhr nun mit privaten „Pick-Ups“ und kleinen Nutzfahrzeugen im Pendelverkehr Sandsäcke zu unserem Damm. So konnten wir gruppenweise die vielen kleinen Löcher mit Sandsäcken stopfen und verhindern, dass der Damm brach. Wir kamen so gut voran, dass unser Kompaniechef zusammen mit der Feuerwehr beschloss, die Arbeit an diesem Damm einzustellen. Mein Freund Hans und ich meldeten uns freiwillig für die Nachtwache am Damm. Ab 20.00 Uhr waren wir dann mit einem Funkgerät SEM 70, unseren Rucksäcken, zwei EPA-Rationen Linseneintopf und einem Esbit-Kocher alleine am neu errichteten Elbdamm. Die Nacht verbrachten wir in Zweistundenschichten auf der Autobahnbrücke der A9. Der Sandsackwall hielt die Nacht über stand. So konnten wir uns am nächsten Tag wieder darum kümmern, die kleinen Löcher abzudichten und den Damm weiter zu verlängern. Das THW meldete, dass der höchste Pegelstand erreicht sei und der Wasserstand der Elbe ab jetzt wieder sinke. Das ließ uns jubeln, da wir nun nicht mehr damit rechnen mussten, dass unser künstlicher Deich doch noch einbrechen würde. 263 Leutnantsbuch Auch die folgende Nacht hielten zwei Kameraden auf der A9 Wache, aber die Funksprüche lauteten immer gleich: „Unser Damm hält!“ Drei Tage später rückten wieder die gesamte Kompanie und die Bataillonsführung aus nach Vockerode. Dort war an einer anderen Stelle der natürliche Elbdamm feucht geworden, und nun drohte ein kleines Neubaugebiet überschwemmt zu werden. Ein Zug wurde wieder zum Befüllen der Sandsäcke abgestellt, der Rest verlegte zum Neubaugebiet. Die Anwohner und die Feuerwehr hatten bereits große Planen ausgelegt. Darauf sollte später ein mindestens 1,50 Meter hoher und 200 Meter langer Damm aus Sandsäcken entstehen. Sofort begannen wir mit der Arbeit. Am ersten Tag schafften wir bereits eine Höhe von knapp 50 cm. Das würde fürs Erste das Wasser abhalten. Die Nacht über wurden wir von einer anderen Kompanie abgelöst. Als wir am Morgen wieder in dem Neubaugebiet ankamen, war der Damm bereits auf einen Meter angewachsen. Wir konnten bis zum Abend mit Hilfe aller Einwohner des Neubaugebietes, der Feuerwehr und des THW die erforderliche Höhe von 1,50 Meter erreichen. Am nächsten Tag hieß es nur noch Lücken schließen. Einige von uns schrieben Zettel auf denen stand: „Hier entstand der Oberviechtacher Damm“ oder „Das Panzergrenadierbataillon war hier“. Diese Zettel wurden in kleine Plastikflaschen gesteckt und unter Hunderten von Sandsäcken vergraben. Die erwartete Flut auf das Neubaugebiet kam auch in den nächsten Tagen nicht. Die 6. Kompanie, die mit dem Befestigen des feuchten Elbdammes beauftragt war, hatte ganze Arbeit geleistet. Das Bataillon bekam den Befehl, Marschbereitschaft herzustellen und wir erwarteten ein Fernmeldebataillon als 264 Leutnantsbuch Ablösung. Am letzten Abend gab es bei der Schule ein kleines Grillfest unserer Kompanie. Auch der Kommandeur sowie der Bürgermeister von Vockerode waren eingeladen. Der Bürgermeister, der von unseren „Flaschenandenken“ gehört hatte, verkündete, dass der Sandsackwall, den wir gebaut hatten, mit Erde aufgeschüttet und dann mit Blumen bepflanzt werden solle. Zusätzlich solle dieser Wall den Namen „Oberviechtacher Damm“ tragen. Wir jubelten ihm zu und freuten uns sehr über diese Ehrung. Am nächsten Tag verlegten wir in unseren Standort zurück und setzten die AGA nach drei Tagen Sonderurlaub wieder fort. Knapp drei Jahre später befand ich mich zusammen mit fünf Kameraden aus dem Hochwassereinsatz an der Offizierschule des Heeres in Dresden. Wir beschlossen, zusammen nach Vockerode zu fahren, um den „Oberviechtacher Damm“ zu besteigen. In Vockerode angekommen ging es geradewegs in das altbekannte Neubaugebiet. Von Weitem sahen wir schon den Damm, den wir damals im Sommer zusammen mit unseren Kameraden erbaut hatten und in dem wir uns mit unseren „Flaschenandenken“ verewigt hatten. Der Damm war schön mit Gras und Blumen bewachsen, ganz so, wie es der Bürgermeister versprochen hatte. Wir stiegen auf „unseren“ Damm, machten Fotos und gingen noch zu anderen Orten, an denen wir eingesetzt gewesen waren. Als wir uns auf den Rückweg machen wollten, sagte einer von uns: „Es sieht nach Regen aus, meint ihr, wir können es wagen, hier wegzufahren?“ HI 265 Leutnantsbuch „Dat hann isch verjess …“ D amals ... Wie wichtig es für Vorgesetzte ist, gleichgültig welcher Dienstgradgruppe oder Dienststellung, ständige Fürsorge und Kontrolle walten zu lassen, wurde mir an einem sonnigen Donnerstagnachmittag auf einem Standortübungsplatz im Saarland bewusst. Ich war Fahnenjunker und junger Offizieranwärter, als Gruppenführer (damals war es noch üblich in dieser Dienstgradgruppe als Gruppenführer eingesetzt zu werden) in einer Allgemeinen Grundausbildung eingesetzt – hatte also „meine Gruppe“, meine zwölf Rekruten. Nach einem dreitägigen Übungslager auf dem Standortübungsplatz marschierten wir in Zugreihe in den Standort zurück. Zwölf Kilometer galt es zu schaffen und die ersten vier Kilometer lagen hinter mir und meiner Gruppe. Bei einer kurzen Pause nach etwa vier Kilometern, meldete sich einer der Jäger, der aus der Region stammte, zum Austreten ab. Ich wurde nach vorne zum Zugführer gerufen, der eine Lageinformation ausgab und den Weitermarsch befahl. Zurück bei meiner Gruppe, ließ ich während des Aufbruchs durchzählen – in bewährter Manier mit taktischen Zeichen. Alle da! Im Glauben, die Gruppe sei vollzählig und das Material vollständig, legten wir circa zehn Minuten Marschweg zurück, als wir erneut kurz halten mussten. Ich zog meine Gruppe zusammen, ließ sie auf einer Lichtung halten und führte eine Vollzähligkeitsprüfung der Handwaffen G3 durch. Ich ließ die Gruppe antreten, die Waffe in Jägerhaltung. Auf dem Weg an der Gruppe vorbei, sah ich aus dem Augenwinkel den letzten meiner Jäger, wie befohlen anständig in Jägerhaltung – allerdings ohne sein 266 Leutnantsbuch Gewehr … Im Glauben, nach drei Tagen mit nur wenig Schlaf einer Sinnestäuschung erlegen zu sein, machte ich Halt, schaute noch einmal, konnte aber erneut kein G 3 in seinen Händen ausmachen – aber die Jägerhaltung stimmte. Ich rief meinen Gruppenführerkameraden von der Nachbargruppe heran, bat ihn auch noch einmal auf die Entfernung zu prüfen, ob dort wirklich kein G 3 bei dem Jäger zu sehen war oder ob ich halluzinierte. Auch er bestätigte letztendlich: Die Jägerhaltung stimmt, aber es ist kein G 3 zu sehen … Mit einer bösen Vorahnung schritten wir zu einer Befragung des Kameraden. Auf die Frage, wo er denn seine Waffe habe und warum er ohne diese in der Jägerhaltung stünde, schaute ich in ein ungläubiges und erschrecktes Augenpaar. Dann fing der Kamerad an, seine Beintaschen und seine Brusttaschen abzuklopfen und abzusuchen. Für alle, die mit dem Gewehr G 3 und dessen Abmessungen nichts anfangen können – es passt selbst mit eingezogener Schulterstütze weder in eine Bein- noch in eine Brusttasche … Der Kamerad blieb denn auch erfolglos beim Abtasten seines Anzugs, schaute mich seelenruhig an und erklärte mir in ganz ruhigem und selbstverständlichem Ton im besten Saarländisch: „Ey, dat hann isch verjess!“ Die Ungläubigkeit über diese Meldung stand mir ins Gesicht geschrieben, während mein Gruppenführerkamerad mir auf die Schulter klopfte und sich breit grinsend auf den Weg zurück zu seiner Gruppe machte. Ich fragte den Kameraden noch einmal nach dem Verbleib seiner Waffe. In gleicher Tonlage versicherte mir der Rekrut erneut, er habe sein Gewehr G 3 vergessen – das müsse wohl vorhin beim Austreten passiert sein … fügte er dann etwas kleinlaut hinzu, nachdem sich meine Gesichtszüge verfinstert hatten. Auf meine Frage, wo er denn sein Gewehr vergessen habe, bekam ich ganz stolz und 267 Leutnantsbuch mit einem Fingerzeig in den um uns herum liegenden Wald die Antwort: „Ey do hinne, am Baum!“ Das hatte gesessen! Mitten in einem dichten Wald auf einer Lichtung stehend, erklärt mir mein Rekrut voller Stolz, dass er genau wisse, wo seine Waffe sei. Mit einem Zeitansatz von vier Minuten ausgestattet und dem Hinweis, er möge sehr hoffen, dass das mit Manövermunition teilgeladene Gewehr G 3 noch an eben jenem Austrete-Baum lehnte, machte er sich auf den Weg und kam – zu unser aller Erleichterung – mit seinem Gewehr pünktlich wieder zurück. Heute … Dass die Geschichte gut ausgegangen ist, verdanke ich wohl einer glücklichen Fügung und der Tatsache, dass das zivil genutzte Waldstück zu diesem Zeitpunkt wohl menschenleer war und nur unser Zug dieses Gebiet nutzte. Allerdings brannte sich dieses Ereignis – neben der Gewissheit, dass „Hochdeutsch“ als Amtssprache eine dankbare Festlegung wäre – gehörig in mein Gedächtnis ein und hält mich auch heute, sieben Jahre nach diesem denkwürdigen Marsch und in der Position eines Zugführers und stellvertretenden Kompaniechefs in einer Grundausbildungseinheit immer wieder dazu an, ständig auf Ausrüstung und Ausstattung meiner mir anvertrauten Soldaten zu achten. Waffen werden eben nicht aus der Hand gelegt, an Gegenstände gelehnt oder ohne Grund und wenn, nur mit einer ordentlichen Übergabe, an Kameraden übergeben. HI 268 Leutnantsbuch Der Nijmegen-Marsch E s ist Dienstag, noch vor Sonnenaufgang, 02.00 Uhr in der Früh. Ich liege wach auf meinem Feldbett im Camp Heumensoord. Als Führer einer Nijmegen-Marschgruppe bin ich nervös und freue mich, dass es endlich los geht. Der erste von vier Marschtagen. Wir sind 25 Fernmelder, die sich der Herausforderung, in Formation an vier aufeinander folgenden Tagen 40 Kilometer mit zehn Kilogramm Gepäck zu marschieren, stellen. War unsere Vorbereitung ausreichend, werden alle Soldaten am Ende den verdienten Orden erhalten? Vor acht Wochen hatte mich der Kommandeur gefragt, ob ich bereit sei, eine offizielle Nijmegen-Marschgruppe aufzustellen, zu trainieren und natürlich auch in Nijmegen zu führen. Obwohl für meine Kompanie einige Vorhaben geplant waren, die nicht abgesagt werden sollten, sagte ich nach kurzer Bedenkzeit und Beratung mit meinem Vertreter, dem Spieß sowie dem Kompanietruppführer zu. Im Anschluss lief die Planung und Organisation auf Hochtouren. Es wurden zehn unterschiedlich lange Marschstrecken erkundet, Verpflegungspunkte festgelegt, ein wehrübender Masseur einberufen, der Truppenpsychologe des Kreiswehrersatzamtes mit einbezogen, für die Gesangsausbildung das Heeresmusikkorps angesprochen sowie ein Ausgleichs- und Rahmenprogramm zur Entspannung ausgeplant. Wir hatten an alles gedacht. Die gedankliche Vorbereitung war jedoch der bedeutend leichtere Teil der Aufgabe. Parallel dazu musste ich Marschierer für dieses Projekt „gewinnen“. Mir war klar, dass mit dem Befehl zur Teilnahme die Motivation der Soldaten nicht gleichzeitig gegeben war. Ich setzte ausschließlich auf Freiwillige. Da es sich bei diesem Auftrag um eine Herausforderung für das gesamte Regiment 269 Leutnantsbuch handelte, führte ich mehrere Informationsveranstaltungen durch. Ich stellte die Absicht und den Ablauf der Vorbereitung vor. Ich machte deutlich, dass vor der Ordensverleihung mehr als 600 Kilometer zu absolvieren seien, diese Herausforderung kein „Spaziergang“ würde, aber dass die Begeisterung der Bevölkerung und das besondere Erlebnis des Marsches für viele Strapazen entschädigen würden. Tatsächlich gelang es mir, das Interesse von etwa 30 Soldaten aller Dienstgradgruppen aus vier Kompanien des Regimentes zu wecken. Sogar die Einweisung in der Grundausbildungskompanie hatte Meldungen zur Folge. Ich fragte mich aber, ob die jungen Rekruten nach ihrer AGA, nachdem sie erst wenige Monate Kampfstiefel trugen und lediglich kürzere Eingewöhnungsmärsche absolviert hatten, diesen Belastungen wirklich würden standhalten können? Was folgte, waren vier Wochen intensiver Vorbereitung am Standort. Die ersten zwei Wochen waren die schwierigsten. Die Füße reagieren auf eine solch’ immense Belastung, sie verändern sich, schwellen an, werden größer. Die Folge sind Blasen, Blasen, Blasen. Aber Blasen bringen niemanden um. Auch mit Blasen zu marschieren ist möglich. Fast jeder Teilnehmer musste diese Erfahrung machen. Jede Blase hat zu dem eine Ursache: die Stiefel oder die Socken, zu groß oder zu klein. Diese Ursachen wurden in den folgenden Tagen immer erfolgreicher abgestellt. Die ersten Märsche gingen auch an mir nicht spurlos vorüber. Meine Soldaten erkannten, dass auch ich nicht mit „Lederhaut“ an den Füßen marschierte. Trotz Blasen stand ich am nächsten Tag aber wieder vor meiner Gruppe und befahl „Stiefel – an, Rucksack – auf, vorwärts – marsch! Keinen Tag überließ ich die Führung der Gruppe meinem Stellvertreter. 270 Leutnantsbuch Nach den Tagesmärschen begann erst mein eigentlicher Dienst. Ich bearbeitete die Post, schrieb Beurteilungen, nahm an Besprechungen teil und führte Dienstaufsicht bei der Ausbildung meiner Kompanie. Die Tage waren manchmal sehr lang und abends war ich richtig kaputt. Am Ende der zweiten Woche wollten die Marschierer wissen, wie ich denn nur so gute Laune haben könne, obwohl doch jeder wüßte, dass auch ich mindestens drei Blasen hätte, das Marschieren nun nicht immer Spaß machte, der Gesang die Schmerzen nicht vertreiben könne und auch nach den Märschen keine Zeit für mich sei, mir Ruhe zu gönnen. Meine Antwort war einfach: „Ich habe ein Ziel: Alle Soldaten dieser Marschgruppe, die in Nijmegen an den Start gehen, werden den verdienten Orden erhalten. Ich weiß, dass wir alle, wenn wir nur wollen, dieses Ziel erreichen werden. Nach diesen ersten zwei Wochen weiß ich, was Sie alle zu leisten im Stande sind, und das macht mich zuversichtlich. Jetzt müssen nur noch Sie an sich selbst glauben.“ Das Training am und um den Standort hat die Soldaten zusammen geschweißt. Dennoch mussten fünf Soldaten lehrgangsbedingt oder wegen persönlicher Gründe das Marschieren aufgeben. Weitere zwei Wochen Vorbereitung mit allen offiziellen Marschgruppen der Bundeswehrdelegation auf dem Truppenübungsplatz Ehra-Lessien folgten. Obwohl Marschieren kein Wettkampf ist und es beim Nijmegen-Marsch nicht auf die Zeit ankommt, wollte meine Marschgruppe immer die erste sein, die die Tagesetappe absolviert hatte. Nicht ich war dabei die treibende Kraft, sondern die Gruppe wollte es. Meinen Soldaten gab das schnelle Marschieren, das schneller Sein als andere, einen ernormen Schub, ohne 271 Leutnantsbuch dass der Einzelne überfordert war. Wir waren einfach gut vorbereitet. Nach zehn Tagen auf dem Truppenübungsplatz meldete mir unser Sanitäter, dass Hauptgefreiter S. nicht mehr weiter machen könne, sein Knie sei als Folge des Marschierens seit mehreren Wochen geschwollen. Ich suchte das Gespräch mit dem Hauptgefreiten S.. Er war am Boden zerstört. Nach fast 400 Trainingskilometern machte sein Körper nicht mehr mit. Er bat mich, mit der Bahn nach Hause fahren zu können. Ich lehnte zunächst ab. Noch waren fünf Tage Zeit, bevor es in Nijmegen richtig losgehen sollte. Nach Rücksprache mit dem Delegationsarzt und dem Delegationschef wurde vereinbart, den Hauptgefreiten S. aus dem Training herauszunehmen, ihn zu schonen. Sein Knie sollte eine Pause erhalten. Das Thema wurde während der nächsten Trainingsmärsche intensiv diskutiert. Sollen wir in Nijmegen mit dem Hauptgefreiten S. an den Start gehen. Sollen wir das Risiko, dass sein Knie wieder anschwillt, eingehen? Am Abend vor der Verlegung in die Niederlande wendete ich mich an die gesamte Marschgruppe: „Wir sind eine Gruppe. Wir 25 haben über sechs Wochen hart trainiert und wollen jetzt gemeinsam die Ernte einfahren, die vier Tage in Nijmegen genießen. Als Gruppe sind wir stark genug, um einem Einzelnen weiterzuhelfen. Wir können das Tempo reduzieren, die Pausen verlängern, das Gepäck reihum verteilen. Der Arzt hat zugestimmt, dass Hauptgefreiter S. wieder marschieren kann, aus medizinischer Sicht gibt es keine Einwände. Er gehört selbstverständlich zur Mannschaft dazu.“ Endlich! Die Vorbereitung ist abgeschlossen. Hier und heute zählt es. Im Camp Heumensoord geht es gleich los. Die Anspannung ist überall zu spüren. Nach dem Frühstück 272 Leutnantsbuch schwört der Delegationschef alle Gruppen und Marschierer noch einmal ein. Unmittelbar vor dem Ausmarsch aus dem Camp wird die Nationalhymne gespielt und von allen laut mitgesungen. Ein Gänsehautgefühl macht sich breit. Stiefel – an, Rucksack – auf, vorwärts – marsch! Die Eindrücke auf der Strecke übertreffen unsere kühnsten Erwartungen, die Begeisterung der Bevölkerung kennt keine Grenzen, die ersten drei Tage vergehen wie im Flug. Die gute Vorbereitung macht sich bezahlt, es gibt nahezu keine Probleme. Auch der Hauptgefreite S. hat sich vollständig erholt, das Tempo ist wie gewohnt hoch, und die Fernmelder erreichen stets als erste Deutsche Mannschaft das Ziel. Das erste Bier nach Ankunft geht natürlich auf meine Kosten. Ich bin stolz auf die Männer. Der vierte und letzte Tag soll der krönende Abschluss sein. Doch schon nach dem Wecken meldet sich Unteroffizier K., es gehe ihm nicht gut, er habe sich die Nacht über mehrfach übergeben müssen. Offensichtlich war eine Magenverstimmung die Ursache. Er wolle der Gruppe nicht zur Last fallen und lieber im San-Bereich verbleiben. Vor einer Entscheidung schicke ich ihn zum Arzt. Nach seiner Behandlung und der Einwilligung des Doktors informiere ich alle. Unteroffizier K. tritt in die erste Rotte ein und gibt das Tempo vor. Es soll verhindert werden, dass er überfordert wird. Durch ständigen Gesang zur Ablenkung und weitere Pausen zwischen den offiziellen Rastplätzen wird die Belastung deutlich reduziert. Die immer heißer strahlende Sonne um die Mittagszeit, ist dann jedoch nicht mehr auszugleichen. Nach Kilometer 24, vier Kilometer nach dem letzten Rastplatz mit ärztlicher Versorgung ist Unteroffizier K. mit seinen Kräften am Ende. Ich befehle sofort eine Pause, übergebe nach 15 Minuten das Kommando für die Pause an meinen Stellvertreter, bevor ich mit Unteroffizier K. 273 Leutnantsbuch gemeinsam die vier Kilometer zum letzten Rastplatz zurück marschiere. Etwa eine Stunde nach dem Zwischenfall treffen wir am Rastplatz ein. Wir gehen direkt zum Delegationsarzt, unterrichten ihn über die Situation. Der Doktor versorgt Unteroffizier K. sofort, behält ihn für eine weitere Stunde zur Beobachtung vor Ort und gibt dann grünes Licht für die Fortsetzung des Marsches. Parallel unterrichte ich meinen Stellvertreter ständig über den Stand der Dinge, den dieser an die Soldaten weiter gibt. Drei Stunden nachdem die unfreiwillige Pause begonnen hatte, sind wir zurück und werden mit großem Hallo begrüßt. Unteroffizier K. tritt wieder in der ersten Rotte ein, sein Gepäck wird alle zwei Kilometer übergeben. Natürlich sind wir an diesem Tag nicht die Schnellsten, aber wir haben ohne Ausfall auch den letzten Tag erfolgreich absolviert. Alle Marschierer erhalten den verdienten Nijmegen-MarschOrden aus den Händen ihres Divisionskommandeurs. Der Nijmegen-Marsch ist anstrengend, nein, er ist sehr anstrengend und einzigartig zugleich. Er ist eine Strapaze und eine Einladung. Er macht jeden Marschierer leer, bis er während des Marschierens das Denken einstellt und baut ihn anschließend wieder auf. Er nimmt alle Kraft und gibt sie dreifach zurück. Im Kopf ist vieles zu steuern. Der Wille, etwas zu leisten, ist entscheidend. Jeder Einzelne meiner Marschierer hatte sich bewährt, war in seiner Persönlichkeit um eine wichtige Erfahrung reicher, war gereift. Jeder hat seine Grenzen erfahren und erlebt, was Kameradschaft bedeutet. Als Marschgruppenführer habe ich dieses Gefühl noch intensiver erlebt. Ich war verantwortlich und konnte durch mein persönliches Beispiel, mit den richtigen Entscheidungen und mit meinem Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit der gesamten Gruppe das Ziel, alle 274 Leutnantsbuch Marschierer bei der Ordensverleihung vorzustellen, erreichen. Stiefel – an, Rucksack – auf, vorwärts – marsch! Mit diesen Worten wurde jeder Marschtag begonnen, aber auch die Zeit nach den vier „Daagsen“, hat dieser Schlachtruf überdauert. Er passt zum Soldatenleben. Ein Leben in dem es Dinge gibt, die getan werden müssen, über die man nicht spricht. Man versucht nicht, sie zu rechtfertigen. Man kann sie nicht erklären, man kann sie nicht rechtfertigen. Man tut sie einfach. Zehn Jahre später trete ich meinen neuen Dienstposten als Bataillonskommandeur an. Im Rahmen der Übergabe bespreche ich auch das Personal mit meinem Vorgänger. Sechs Soldaten, die damals mit mir marschiert sind, bilden heute wichtige Stützen dieses Bataillons. Aus den Marschierern sind gute, sehr gute, einsatzbereite und besonders leistungswillige Soldaten mit der richtigen Einstellung zum Beruf geworden. Zwei Wochen nach der Übergabe kommt einer der Soldaten auf mich zu und fragt: Herr Oberstleutnant, stellen wir wieder eine Nijmegen-Marschgruppe? Ich bin dabei. HI 275 Leutnantsbuch Auslandsstudium USA I n den nun fast acht Jahren bei der Bundeswehr erinnere ich mich gerne an die Zeit von August bis Dezember 2006 zurück, als ein Kamerad und ich ein Auslandssemester in den USA verbrachten. Damals wurde es zwei Angehörigen der Universität der Bundeswehr in Hamburg ermöglicht, für fünf Monate die „United States Military Academy West Point“ zu besuchen, um dort am Studium der amerikanischen Kadetten teilzunehmen. An einem sonnigen Tag erreichten wir im Bundesstaat New York die „Academy“, die circa 70 km nördlich von New York City liegt. Beim Betreten der Einrichtung entdeckten wir als erstes eine Tafel mit folgender Inschrift: „A cadet will not lie, cheat, steal, or tolerate those who do.“ Hierbei handelte es sich um den Cadet Honor Code, der auch unser Leben in den nächsten Monaten prägen sollte. Strikte Regeln und klare Anweisungen schränkten uns zwar auch in dem Semester ein, nichtsdestotrotz genossen wir diese Zeit sehr. Die kleine Stube teilten wir uns jeweils mit einem amerikanischen Kadetten, der uns bei den ersten Schritten unterstützte. Bereits in den ersten Tagen zeigte sich die amerikanische Gastfreundschaft, die uns schnell in das System integrierte. Das Studium gestaltete sich ein wenig anders zu dem, was wir an der Universität in Hamburg gewöhnt waren. Die Stundenpläne waren strikt organisiert und neben akademischen Fächern kamen noch ein intensives Sportprogramm und militärische Ausbildungen auf uns zu. In Fächern wie „History of the Middle East“ mussten Tests, Zwischenklausuren und Endklausuren geschrieben sowie Referate gehalten werden. 276 Leutnantsbuch Jedoch vernachlässigten wir auch nicht unseren zweiten wesentlichen Auftrag, nämlich das Kennenlernen von Land und Leuten. Trotz der hohen Anforderungen, denen die Kadetten in „West Point“ unterlagen, waren sie immer bereit, uns zu unterstützen. Insgesamt kann man sagen, dass die fünf Monate in den USA fordernd waren, allerdings auch neue tiefe Freundschaften schafften und uns das amerikanische System verständlicher machten. „West Point“ war eine Erfahrung, die mich persönlich weiterbrachte und mir auch zeigte, dass ein Auslandsstudium in den USA nicht nur viel Fleiß und Anstrengung erfordert, sondern auch Spaß bedeuten kann. HI 277 Leutnantsbuch „Regen“ D er Transportzug war mit acht LKW MULTI und drei TPz FUCHS auf dem bekannten, staubigen Rückweg von Bagram nach Kabul. Ein Blick nach hinten auf den Konvoi zeigte das beruhigende Bild einer konzentrierten Rundumsicherung an den Maschinengewehren und die üblichen vermummten Gesichter der Soldaten. Soweit war alles gut gelaufen, die Straße war frei, und bei konstanter Marschgeschwindigkeit konnte sich jeder ausrechnen, dass ausnahmsweise alle pünktlich in die Dienstunterbrechung gehen würden. Doch dann zog von Süden her eine dunkelbraune Wolkenwand rasch auf und zu. Innerhalb von zehn Minuten wurde der gesamte Konvoi von einer riesigen Staubwolke verschluckt und die Sichtweite reduzierte sich, trotz Beleuchtungsstufe 2, auf maximal zehn Meter. Ich befahl die Weiterfahrt in Schrittgeschwindigkeit und während der Umriss des hinter mir fahrenden Lkw gerade noch erkennbar war, drückte sich der Staub in alle sich ihm bietenden Öffnungen. Nach ein paar Minuten waren Staub und Sand noch schneller wieder verschwunden als sie gekommen waren. Dafür begann es, wie aus Eimern zu schütten und jeder, der aus den Luken heraus sicherte, war sofort durchnässt. Doch auch dieser Spuk war nach kürzester Zeit vorbei und schon wenige Kilometer später begannen die stechende Sonne und der Fahrtwind schon damit, uns wieder zu trocknen. Kaum waren wir leicht angetrocknet, als sich uns auch schon das nächste Hindernis in den Weg stellte. Wo sich auf der Hinfahrt noch ein nur an dem leicht braungrünen Bewuchs erkennbares Rinnsal befunden hatte, ergoss sich nun ein 20 Meter breiter, flacher Fluss quer über die Straße. Dieser hatte den linken Teil der Straße unterspült und einen 278 Leutnantsbuch Kleintransporter etwa 100 Meter mit sich gerissen. Der lag auf der Seite in einem flachen, braunen See und war offensichtlich leer. Dafür hatte sich jenseits des Flusses, in etwa 300 Meter Entfernung direkt neben der Straße eine etwa siebzigköpfige Menschengruppe gesammelt. Eine Menschengruppe an dieser Stelle der Straße war absolut ungewöhnlich und darüber hinaus war zu erkennen, dass in der Mitte der Gruppe mindestens ein Feuer entzündet worden war. Da wir ausschließlich mit voll beladenen 15 Tonnen MULTI unterwegs waren, entschied ich sofort, dass eine Durchquerung des „Flusses“ ungefährlich war und befahl über Funk langsam und mit erhöhter Aufmerksamkeit weiterzufahren. Als der Konvoi langsam an der Menschengruppe vorbeifuhr, begannen diese zu winken und auf das Feuer in ihrer Mitte zu zeigen. Direkt neben dem Feuer standen drei Männer, die jeweils ein nasses, scheinbar lebloses Kind über das Feuer hielten. Absurderweise schoss mir sofort der Gedanke „Jetzt kommt die Verwundeteneinlage“ durch den Kopf. Dann war die Entscheidung zu treffen: „Anhalten und helfen“ oder „Weiterfahren und melden“. Ein kurzer Rundumblick in das in jede Richtung mindestens einen Kilometer offene und ebene Gelände ließ den Ort denkbar ungünstig für einen Hinterhalt erscheinen und ich hatte einen TPz San dabei. Also schneller Befehl per Funk: „100 m weiter rechts ran fahren, Maschinengewehre sichern rundum, Beifahrer und Sanitäter zu mir.“ Absitzen, Verkehrsposten einteilen und dann gingen wir mit circa zehn Mann auf die Afghanen zu. Mir war ganz schön mulmig zumute, wie würden die Afghanen reagieren, hoffentlich machst Du alles richtig. Als wir auf die Afghanen zugingen, teilte sich die Menge und 279 Leutnantsbuch man ließ uns unbehelligt zu dem Feuer gehen. Als die Sanitäter und ich den drei Afghanen, welche die Kinder trugen, bedeuteten, uns zu folgen, taten sie das anstandslos und ruhig. Wir führten die drei mit den Kindern hinter den TPz San, und ich befahl dem Sanitätsfeldwebel, die Kinder zu untersuchen und dem Funker unsere Position und den Halt an die Operationszenrale zu melden. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie die Menschenmenge langsam und ruhig auf uns zukam. Noch während mir die Gedanken im Kopf herumrasten, was ich am besten befehlen sollte, gingen meine Soldaten schon freundlich, aber bestimmt auf die Afghanen zu und bedeuteten ihnen mit Gesten zurückzubleiben. Diese gehorchten sofort, und ich musste nur noch etwas Ordnung in die „lockere Postenkette“ bringen. Schließlich meldete mir der Sanitäter, dass wir einen Arzt benötigten. Wir forderten aus dem nur etwa zehn Kilometer entfernten Camp einen Beweglichen Arzttrupp (BAT) an, der zugesagt wurde. Es verging eine knappe Stunde. Die Afghanen verhielten sich ruhig, nur ich wurde innerlich immer nervöser – wo bleiben die denn. Als der BAT schließlich kam, waren wir schon etwa 90 Minuten vor Ort. Der Arzt übernahm die Behandlung, die allerdings nicht wirklich reibungslos verlief. Die Kinder begannen zu „krampfen“ und bis der Arzt alles unter Kontrolle hatte, waren weitere 90 Minuten vergangen. Außerdem teilte mir der Arzt mit, dass die Kinder unbedingt ins Krankenhaus müssten, er sie aber nicht mit zurück ins Lager nehmen könne. Er schlug eine Verlegung in das Indira Krankenhaus in der Innenstadt vor. Dies konnte einer unserer Kameraden, der einige Brocken Arabisch sprach, den Afghanen auch klarmachen. Ich entschied mich, den Konvoi zu teilen. Etwa vier Kilometer vor dem Lager bogen die MULTI in dessen Richtung ab und ich verlegte mit vier 280 Leutnantsbuch TPz in die Innenstadt. Wir kamen ohne Probleme bis zu dem Krankenhaus und der Arzt verschwand mit unserem „Dolmetscher“ im Gebäude, um alles zu regeln. Wir warteten und warteten und es begann langsam dunkel zu werden. Als die beiden endlich wieder erschienen, konnten die Kinder ins Krankenhaus gebracht werden. Unser Arzt hatte, wie er andeutete, bei den richtigen Leuten das entsprechende Geld dafür bezahlt. Wieder verschwanden Arzt und „Dolmetscher“, diesmal mit den Kindern, im Gebäude. Mittlerweile war es etwa 21.00 Uhr und stockdunkel. Alle vier Maschinengewehre waren zwar in die Luft gerichtet, aber ständig besetzt. Ich konnte die Erleichterung aller Soldaten spüren, als die beiden schließlich wieder aus dem Gebäude traten und mir meldeten, dass alles erledigt wäre. Ich ließ sofort aufsitzen und wir fuhren durch die nächtlichen Straßen Kabuls zurück ins Camp. Nachdem mein Oberfeldwebel, der im Zuggefechtsstand auf mich gewartet hatte, mir meldete, dass er mit den MULTI gut angekommen war, ging ich zu meinem Kompaniechef, um mich zurückzumelden. Laut Aussage des behandelnden Arztes war durch unser Eingreifen die Genesung der Kinder innerhalb der nächsten Tage sichergestellt. Hätten wir hingegen nicht reagiert, wäre ihr Schicksal höchst ungewiss gewesen. HI Kein Befehl kann alle Eventualitäten vorab berücksichtigen und regeln. Hier schlägt die Stunde der Auftragstaktik. Kenne Deinen Auftrag und, wichtiger noch, die Absicht des übergeordneten Führers. Nutze in diesem Rahmen Deine Spielräume. Entscheide und verantworte. Häufig erfordern 281 Leutnantsbuch außergewöhnliche Lagen ebenso außergewöhnliche Entscheidungen und Maßnahmen. Wäge sorgfältig, auch wenn nur wenig Zeit bleibt, und räume der Eigensicherung hohe Priorität ein. Dann fasse Deinen Entschluss und setze ihn um. Nicht immer wird sich der Erfolg so einstellen wie in dieser Geschichte. Unabhängig davon wird man aber in der Rückschau oft zu der Bewertung gelangen: Einen Versuch war es wert! 282 Leutnantsbuch Die Veteranen A nlässlich eines Kommandeurwechsels bei unserem französischen Patenverband, dem 40e Régiment de Transmissions in Thionville, war ich als Ehrenzugführer eingeteilt. Nach dem Appell auf einem großen innerstädtischen Platz folgte ein Vorbeimarsch der gesamten Formation, bestehend aus dem französischen Regiment, meinem deutschen und einem amerikanischen Ehrenzug, an der Tribüne der Ehrengäste entlang. Wie in Frankreich üblich, befanden sich die Vertreter diverser Veteranenverbände mit ihren Fahnen direkt neben dieser Tribüne. Den Vorbeimarsch mit Blickwendung hatten wir im Heimatstandort fleißig geübt, eine kleine Herausforderung bestand noch in der Anpassung an das Tempo der französischen Marschmusik. Während ich an der Spitze meiner Formation, direkt gefolgt von unserer Regimentsfahne, an der Tribüne vorbeimarschierte und den zweiten Richtungsposten sowie dahinter folgend die Veteranen in den Blick bekam, entschied ich mich spontan, die Ehrung per Blickwendung auch den kriegsgedienten ehemaligen Soldaten zukommen zu lassen. Ich hätte es als stillos empfunden, ausgerechnet diese Menschen keines Blickes zu würdigen. Die Geste war denkbar klein (das Kommando „Augengeradeaus“ erfolgte eben nur ein paar Sekunden später als vom Protokoll gewollt), der Effekt jedoch durchschlagend, wie ich beim anschließenden Empfang im Offizierheim an den Mienen der alten Kameraden und den zahlreichen Gesprächen bemerkte. Zum Hintergrund sei noch angemerkt, dass Thionville in Lothringen liegt und die Bewohner im 20. Jahrhundert mehrmals ihre Loyalität zwischen Frankreich und Deutschland wechseln mussten. 283 Leutnantsbuch Meine Schlussfolgerungen daraus waren und sind zum Einen, dass die Blickwendungen in unserer Formaldienstvorschrift eine tiefsinnige deutsche Besonderheit und keineswegs hohler Selbstzweck sind: Beim Ansehen der Person werden Botschaften ohne Worte ausgetauscht, die von unersetzlichem Wert sind (hier: „Wir respektieren Eure Opferbereitschaft“, bei allgemeinen Antreten: „Ich vertraue Euch – Wir sind da“ und Ähnliches). Zum Andern, dass einige zentrale geschichtliche und aktuelle Hintergrundkenntnisse als Vorbereitung für solche Auftritte unerlässlich sind. HI 284 Leutnantsbuch Das Dilemma D er Hindukusch – wenn Einsatz, dann hier. Seit zehn Tagen bin ich nun in Afghanistan. Als Oberleutnant der Panzertruppe hätte ich hier gerne meinen Zug geführt. Jetzt habe ich eine Verwendung, die für einen jungen Offizier ungewöhnlich ist: Ich bin bei CIMIC, und wenige Monate nach der Versetzung durfte ich auch schon mit in den Einsatz. Immerhin … Zugegebenermaßen ist die Tätigkeit sehr viel interessanter als ich sie mir als Kampftruppenmann vorgestellt habe. Sehr oft unterwegs sein, der Bevölkerung vor Ort helfen können, und dabei zwangsläufig viel von Land, Leuten und Kultur kennenzulernen – das hat viel und gibt mir viel. Der CIMIC-Trupp, dem ich heute angehöre, wird geführt von meinem Kompaniechef, einem Afghanistan-erfahrenen Offizier; außer mir sind noch ein Oberfeldwebel als Kraftfahrer und unser Sprachmittler dabei. Wir sind seit gestern mit einer mehrtägigen Patrouille in einer abgelegenen Region im Norden unterwegs. Unsere Aufgabe ist es, die Patrouille zu begleiten und festzustellen, ob Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung erforderlich sind; und wenn ja, in welcher Art und welchem Umfang sie durch die Bundeswehr geleistet werden können. Es ist meine erste Fahrt durch dieses Land, und ich bin am zweiten Tag schon ganz durchgeschüttelt, als wir am frühen Nachmittag unser erstes Ziel erreichen: ein kleines Dorf mit circa 250 Einwohnern. Am Ortseingang steht ein Polizist, auf einen großen Stock gestützt, und winkt uns freundlich zu. Wir halten auf seiner Höhe an, und unser Sprachmittler lässt sich den Weg zum Haus des Malik, so wird hier der Dorfälteste bezeichnet, 285 Leutnantsbuch erklären, mit dem wir sprechen wollen. Kaum hält die Patrouille in der Mitte des Dorfes an, werden wir von einer Kinderschar umringt, die uns lauthals schreiend offenbar um etwas bittet, was ich aber nicht verstehe. Nachdem die Sicherung steht, geht mein gesamter CIMIC-Trupp in Begleitung des Patrouillenführers zum Malik, der uns freundlich begrüßt und uns zum Gespräch auf der Veranda seines Hauses einlädt. Kurze Zeit später sitzen wir auf dem Boden der Veranda bei einer Tasse süßen Tees, und es werden die ersten Höflichkeiten ausgetauscht. Mittlerweile haben sich etwa 50 Kinder zwischen unserem bewachten Fahrzeug und dem Haus des Maliks versammelt, die pausenlos etwas rufen und johlen. Diese lautstarke Untermalung empfinde ich als Störung, sie tut dem Gesprächsverlauf aber offensichtlich keinen Abbruch, denn der Malik und mein Chef bleiben gelassen und unterhalten sich höflich weiter. Der Polizist, der uns vorhin den Weg gewiesen hatte, kommt auf die Kindergruppe zu. Mit strengem Gesichtsausdruck ruft er den Kindern etwas zu, offensichtlich jedoch ohne Wirkung. Plötzlich hebt er seinen Stock und schlägt mehrfach nach den Kindern. Ein kleiner Junge, um die sieben Jahre alt, kann dem Schlag nicht mehr ausweichen und wird am Kopf getroffen. Er stürzt hin, die Platzwunde fängt sofort an zu bluten. Anstatt ihm zu helfen, wendet sich der Polizist den anderen Kindern zu, um sie mit Stockschlägen vollends zu vertreiben. In mir steigt Wut hoch. Was fällt dem ein, so auf Kinder einzuprügeln. Die haben ihm doch gar nichts getan. Was, wenn er weitere verletzt? Hat der denn kein Gewissen? Wir sind hier, um der Bevölkerung zu helfen, und der Polizist als Vertreter der lokalen staatlichen Gewalt wendet in unnötiger 286 Leutnantsbuch und überzogener Art und Weise Gewalt gegen Wehrlose an? Und warum greifen denn noch nicht einmal unsere Sicherungssoldaten ein? Das kann doch alles nicht sein! Ich will aufspringen, eingreifen, doch mein Chef hält mich am Arm fest und raunt mir zu, ohne den Blick von seinem Gesprächspartner zu wenden: „Bleiben Sie bloß sitzen! Alles weitere später …!“ Ich bin konsterniert. Gelten hier denn nicht die gleichen Menschenrechte, die zu vertreten mit zu unserem Auftrag gehört? Ich habe Mühe, dem weiteren Gesprächsverlauf zu folgen, sehe, wie die Kinderschar sich auflöst, wie der verletzte Junge von einem anderen gestützt in die übernächste Hütte geht, wie der Polizist offenbar gleichgültig in eine Seitenstraße schlendert … Eine Stunde später sitzen wir wieder im Fahrzeug und verlassen gerade das Dorf. Ich setze an: „Herr Major, wieso haben Sie mich vorhin zurückgehalten? So ein Verhalten dürfen wir doch nicht zulassen!“ „Herr Oberleutnant, Sie waren kurz davor, vieles zu vergessen, was Sie in Ihrer Ausbildung gelernt haben. Wir sind zwar hier, um der Bevölkerung zu helfen, aber wir befinden uns in einer völlig anderen Kultur mit anderen Gesetzmäßigkeiten. Das müssen wir akzeptieren, zumal das Leben des Jungen nicht in Gefahr schien“, so mein Kompaniechef. „Wenn Sie eingegriffen hätten, hätten Sie die Gastfreundschaft des Malik verletzt, weil Sie einfach davon gestürmt wären. Sie hätten die Autorität des Polizisten untergraben, wenn Sie ihn an seinem Tun gehindert hätten. Ihr Verhalten hätte letztlich dazu führen können, dass wir nicht mehr als Gäste und Freunde angesehen würden, sondern womöglich als Besatzer, mit negativen Folgen für unsere Auftragserfüllung. Wir müssen akzeptieren, dass dies 287 Leutnantsbuch der für hiesige Verhältnisse normale Umgang mit Kindern ist, auch wenn es uns schwer fällt. Vielleicht sind wir sogar mit verantwortlich dafür, weil erst unser Erscheinen zu diesem Auflauf geführt hat. Und zu guter Letzt hätten Sie mit Ihrem spontanen Verhalten ein tolles Beispiel für unsere Sicherungssoldaten abgegeben. Ich sehe Ihre guten Vorsätze, erwarte aber zukünftig von Ihnen, dass Sie überlegter agieren. Interkulturelle Kompetenz wird im Übrigen gerade von uns als CIMIC-Soldaten in besonderem Maße erwartet. Schließlich trägt unsere Aufgabe nicht unmaßgeblich zum Schutz des gesamten Kontingents bei.“ Je öfter ich über diese Situation nachdenke, umso mehr wird mir klar, wie Recht mein Kompaniechef hat. So sehr mein erster Reflex mir richtig erscheint, ein solches, letztlich unüberlegtes Handelns kann in mehrfacher Hinsicht negative Auswirkungen haben – für mich wie auch für andere. Sind wir denn nicht zum Offizier ausgebildet worden, um auch in unübersichtlichen Situationen erst einen Entschluss zu fällen, nachdem wir eine Lagebeurteilung angestellt haben? Und müssen wir nicht auch und gerade in solchen Momenten einen kühlen Kopf bewahren, ganz gleich, ob es sich um eine Gefechtssituation handelt oder um eine andere schwierige Lage? Von uns Offizieren wird doch beispielhaftes Verhalten erwartet, und genau das hätte ich beinahe vermissen lassen. Ein weiteres Mal passiert mir das ganz bestimmt nicht! HI 288 Leutnantsbuch Der Hindernisparcours D er junge Leutnant M. befindet sich mit seinem Jägerzug im Rahmen der Vollausbildung auf dem Hindernisparcours an der Luftlande- und Transportschule in Altenstadt, um eine erlebnisorientierte sowie physisch und psychisch anspruchsvolle Ausbildung für seine Männer durchzuführen. Seine jungen Soldaten, die ihm anvertraut sind, führt er bereits seit über vier Monaten. Sie wissen, was ihr Zugführer von ihnen verlangt, kann er stets selbst vormachen und so geht auch hier Leutnant M. bei jedem Hindernis, das es zu überwinden gilt, mit Vorbild als Erster voran. Zudem wissen sie auch, dass der junge Leutnant ein sehr fordernder Zugführer ist und dass immer stets so geübt wird, wie man auch unter realen Gefechtsbedingungen kämpfen würde und, dass die Gruppe oder der Zug nur so stark sein könne, wie das schwächste Glied darin. Über die ersten Hindernisse, die in relativ geringer Höhe aufgebaut waren, kamen die Soldaten recht zügig und mit geringer Überwindungskraft hinüber. Dann kam jedoch der Zug zu einem Tal, über dem ein 80 m langer und in 40 m Höhe aufgebauter doppelter Seilsteg angebracht war. Als erstes ging der Zugtrupp mit dem Leutnant M. und die erste Gruppe mit dem Oberfeldwebel K. über den doppelten Seilsteg. Viele Soldaten der ersten beiden Zugelemente waren sehr nervös. Da jedoch der militärische Führer immer voran ging, folgten ihm alle. Als jedoch die 2. Gruppe mit Feldwebel W. an der Reihe war, bemerkte der Leutnant, dass der Feldwebel Probleme hatte, über den Seilsteg zu gehen. Daraufhin kletterte der Leutnant ein zweites Mal zurück, um mit dem Feldwebel W. zu sprechen. Im Gespräch unter vier Augen fragte er ihn, was los sei. Feldwebel W. hatte 289 Leutnantsbuch Höhenangst und war der Meinung, dass er das Hindernis nicht schaffen würde. Daraufhin antwortete der Leutnant, dass er doch die anderen vorherigen Hindernisse bereits absolviert hätte und dass dieses Hindernis nur etwas höher sei, aber vom Prinzip das Gleiche. Dies schien den Feldwebel nicht sonderlich zu überzeugen. Deshalb packte der Leutnant M. den Feldwebel bei seiner Ehre und sagte zu ihm: „Der militärische Führer darf niemals aufgeben, solange er noch unterstellte Soldaten zu führen hat! Dort ist Ihre Gruppe. Ich erwarte Sie geschlossen am anderen Ende des Seilstegs!“ Dann ging der Leutnant zurück auf den Seilsteg und kletterte bis zur Mitte, dem tiefsten und wackligsten Punkt auf dem Seilsteg. Er wartete dort auf seinen Feldwebel und gab ihm indirekt das Gefühl, dass nichts passieren könne. Da überwand sich der junge Feldwebel und führte seine ihm anvertrauten Soldaten über den Seilsteg. Als er am anderen Ende ankam, sagte der Leutnant zu ihm: „Und, war doch gar nicht so schlimm, oder?“ Daraufhin antwortete der Feldwebel, dass er nicht so mutig sei und er Höhenangst habe. Da erwiderte der Leutnant mit einer beiläufigen Bemerkung, dass es ihm jedes Mal so erginge, denn auch ihm sei die schwindelige Höhe nicht geheuer. Jedoch müsste er seine Männer führen und wenn er sich in solch einer Situation nicht überwinden könne, dann wäre er der Falsche für diesen Beruf. HI 290 Leutnantsbuch Menschenführung im Einsatz E s war mein erster Einsatz und zum damaligen Zeitpunkt wusste ich nur in Ansätzen, was mich erwarten würde und hatte auch nicht mit allem gerechnet. Der Spähzug FENNEK des PRT (Provincial Reconstruction Team) Kunduz hatte den Auftrag, den Bereich der bodengebundenen Spähaufklärung abzudecken. Dies bedeutet Aufklärung entlang der Marschstrecke, Überwachung gefährdeter Stellen und Patrouille auf gepanzerten Fahrzeugen. Kern der Vorbereitung ist, alle Soldaten frühestmöglich und bestmöglich auszubilden. Das Schaffen von automatischen Reaktionen durch drillmäßige Ausbildung kann, wenn es hart auf hart kommt, lebenswichtig sein. „Schweiß in der Ausbildung spart Blut im Gefecht“, hört sich immer wie eine einfache Floskel an, wurde für meinen Zug und mich aber schneller Ernst als wir dachten – doch dazu später mehr. Menschenführung im Einsatz beginnt lange vor dem Einsatz. Alleine damit, dass man anfängt, sich Gedanken darüber zu machen, wen man aufgrund seiner Erfahrung und Qualifikation mit in den Einsatz nimmt. Darüber hinaus machte ich mir Gedanken über das zwischenmenschliche Zusammenspiel, schließlich wäre es nicht sinnvoll gewesen, Probleme, die einzelne Soldaten miteinander haben, mit in einen mehrere Monate dauernden Einsatz zu nehmen. Man sollte dies auch nicht vernachlässigen und denken, dass erwachsene Menschen damit schon zurecht kommen. Über einen Zeitraum von vier bis sechs Monaten lässt sich Dienstliches und Privates nicht trennen. Man muss wissen, wie man seine Soldaten am besten einsetzen kann, auf wen 291 Leutnantsbuch man mehr und auf wen man weniger achten muss. Diese Verantwortung ist unteilbar. Wir haben viel Zeit und „Schweiß“ in die vorbereitende Ausbildung gesteckt und jeder von uns war über Monate auf die vor uns liegenden Belastungen vorbereitet worden. Das Schaffen von Standards, das gegenseitige Kennenlernen unserer Stärken und Schwächen, wie auch das Beherrschen unseres Materials, standen im Vordergrund. Auch die familiäre Lage der Soldaten muss berücksichtigt werden. Der Einsatz selbst stellt besonders für junge Soldaten eine große Belastung dar, viele leiden unter den Ängsten um den Fortbestand der Beziehung und der oft erstmals langen Trennung von der Familie. Daher sollte man den Soldaten und ihrem Umfeld die Zeit und die Möglichkeit geben, sich auf den Einsatz und die damit verbundene Trennung vorzubereiten. Im Juli war es dann soweit, Familie und Freunden auf Wiedersehen zu sagen und nach Afghanistan zu verlegen. Meine Soldaten und ich mussten in unserem Einsatzzeitraum direkt mit drei Anschlägen fertig werden. Damit war die Belastung außergewöhnlich hoch und für uns der Einsatz etwas anders als für andere Soldaten. Der schwerste Anschlag folgte im Oktober. Hierbei wurde ein Kraftfahrer meines Zuges verwundet. Der Spähtrupp unter Führung meines Stellvertreters war nach Abschluss seines Überwachungsauftrags auf dem Rückweg ins Lager. Es war kurz vor Mitternacht und er traf den Entschluss, südlich von Kunduz zurück zu verlegen. Ungefähr acht Kilometer vom Lager entfernt geriet sein Spähtrupp in einen Hinterhalt. Sein Fahrzeug als Führungsfahrzeug wurde mit Geschossen einer Panzerfaust vom Typ RPG 7 beschossen. Eines der 292 Leutnantsbuch Geschosse traf das rechte Vorderrad des Spähwagens so ungünstig, dass es das Rad durchschlug und der Geschosskopf in den Kampfraum eindrang. Dabei wurde der Kraftfahrer durch die Splitterwirkung verletzt. Die Verletzung war so schwer, dass er zwar den FENNEK noch einige hundert Meter aus der Gefahrenzone bringen konnte, danach jedoch sofort versorgt werden musste. Ich kann die Situation meines Stellvertreters gut nachempfinden, erlebte ich eine solche doch selbst erst vor einigen Monaten. Im August, ebenfalls kurz vor Mitternacht, südlich vom Lager war ich gerade am Anfang meines Auftrags und auf dem Weg Richtung Süden, um mit der Afghanischen Nationalen Polizei (ANP) einen Check Point zu errichten. Gerade zehn Minuten unterwegs, gab es plötzlich eine Explosion direkt rechts vor meinem Fahrzeug. Ich sah bloß ein grelles Licht und vernahm einen lauten Knall. Ich dachte nicht lange nach, brüllte bloß noch in meinen Sprechsatz: „Durchstoßen!“ Mein Kraftfahrer gab sofort Vollgas und mein Systembediener feuerte mit dem Maschinengewehr grob in Richtung drei Uhr. Der DINGO hinter uns feuerte daraufhin ebenfalls grob in diese Richtung und schloss auf mein Fahrzeug auf. Die ANP wusste auf Grund von Sprachbarriere und anderem taktischen Denken nicht, was ich wollte und hielt erst an. Glücklicherweise folgte uns dann auch die ANP, wir konnten uns 800 Meter entfernt von der Anschlagsstelle sammeln und alle Fahrzeuge und Besatzungen auf Schäden und Ausfälle prüfen. Zu unserer positiven Überraschung war alles in Ordnung. Anschläge dieser Art bedeuten immer eine extreme Stresssituation, in der man keine Zeit für langes Denken hat. Hier muss jetzt das greifen, was man lange und intensiv 293 Leutnantsbuch geübt hat. In solch einer Situation muss alles wie von alleine passieren – eben drillmäßig. Die Verwundung eines Kameraden ist für alle ein schwerer Moment, er führt die eigene Verletzlichkeit vor Augen und zeigt auch, dass nicht immer alles gut geht. Ich selbst erkannte für mich selbst erst hinterher, in einem Moment der Ruhe, zu wie viel Stress eine solche Situation führt. In erster Linie dreht sich alles um den verwundeten Kameraden – dass es ihm gut geht, was mit ihm passiert. Als fest stand, dass der Kraftfahrer vorzeitig zurück nach Deutschland geflogen würde, um die bestmögliche Behandlung zu bekommen, schaffte dies ein Gefühl der Zufriedenheit, da ich wusste, dass es ihm bald wieder viel besser gehen würde. Die Lücke, die aber in einen neun Mann starken Zug gerissen wird, wenn plötzlich einer fehlt, ist deutlich spürbar. Die Angst, die der eine oder andere in sich trug und der Wunsch, sofort nach Hause zu fliegen, obwohl wir noch sechs Wochen Einsatz vor uns hatten, zwang mich dazu, als Vorgesetzter tätig zu werden und alle daran zu erinnern, warum sie eine Uniform trugen und welche Verantwortung damit verbunden war. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht der nette, verständnisvolle Leutnant sein, sondern musste dafür sorgen, dass mein Zug nicht auseinander brach und ich meinen Auftrag weiter fortsetzten konnte. Das war auch eine schwere Zeit für mich; ich musste selber Ruhe und Kraft finden, um den Kopf wieder frei zu bekommen und um klar denken zu können. Ein Grund, weshalb meine Soldaten verstanden, was ich von ihnen verlangte und mir auch zu hundert Prozent wieder folgten, war der, dass ich offen war und mich immer bemühte, meinen Soldaten ein Vorbild zu sein. Ich verlangte 294 Leutnantsbuch nie mehr von ihnen, als ich mir selbst zutraute. Und auch dann gab es nur eine Möglichkeit den Zug zusammen zu halten: „Führen durch Beispiel“. Obwohl ich selber nicht frei von Sorge war, war ich es, der nach jedem Anschlag als erster das Lager verließ und in die Nacht hinaus fuhr. HI 295 Leutnantsbuch Multinationalität bei SFOR D as Inspektionsbataillon ist eine multinationale Einheit von 55 Kameraden aus Frankreich, Spanien, Italien und der Bundesrepublik Deutschland. Der Hauptauftrag ist die regelmäßige Inspektion der militärischen Liegenschaften aller drei Entitäten im Verantwortungsbereich der Multinationalen Division Süd-Ost. Geführt wird die MSCU, wie die englische Abkürzung für Multinational Site Control Unit lautet, von einem spanischen Major. Sein Stellvertreter ist ein deutscher Hauptmann. Diese Einheit ist wahrscheinlich eine der am stärksten multinational ausgeprägten innerhalb der Division, was sich nicht zuletzt in den hier anzutreffenden unterschiedlichen Uniformen, Waffen, Kraftfahrzeugen und Speisen sowie diametral entgegen gesetzten Arbeitsweisen, Vorlieben und Abneigungen, Urlaubsbestimmungen, Ausgangsreglungen, nationalen Festtagen, nationalen Verboten und Führungsstilen widerspiegelt. Für den Einzelnen kaum vorstellbar und man mag es kaum glauben – aber wie auch immer – die Arbeit funktioniert. Im Inspektionsbataillon gibt es verschiedene Teams, wie zum Beispiel die Führungsgruppe, das Team Technik, das Team Dokumentation und noch einige mehr. Als Herzstück der Einheit haben die fünf Inspektionsteams den Auftrag, die militärischen Liegenschaften in regelmäßigen Abständen zu inspizieren. Binational zusammengesetzt, war der deutsche Anteil mit den italienischen Kameraden der Teams drei- bis viermal täglich auf den Straßen Bosnien-Herzegowinas anzutreffen. 296 Leutnantsbuch Neben der interessanten Tätigkeit, den wunderschönen Landschaftsimpressionen und der tollen Kameradschaft galt hier stets das Motto „Lachen ist gesund“. Sprachkenntnisse? – „Nema Problema!“ Multi-kulti forever! Hier einmal ein paar Gedanken zur Amts- bzw. Kommandosprache: Zur Auswahl standen Französisch, Italienisch und Deutsch, also Sprachen, die jeweils von 25% der Truppe sicher beherrscht wurden. Dazu gesellten sich recht schnell noch einschlägige Floskeln aus der „local language“ und dann hatte man ja noch Hände und Füße zur Verfügung – und natürlich noch ein paar Brocken Schulenglisch. Einem Außenstehenden wäre es wohl schon etwas sonderbar vorgekommen, aber für die Soldaten war es nach kürzester Zeit eigentlich ganz normal, auf den allmorgendlichen Gruß „Dobro Jutro my friend, how are you?“ mit einem lockeren „Gracias, very dobro, und selbst?“, zu antworten. Multinationalität wird im Inspektionsbataillon so intensiv gelebt wie in kaum einem anderen Verband auf dem Balkan. Neben der täglichen Kameradschaft gegenüber den Angehörigen der SFOR-Nationen und der Arbeit mit lokalen Sprachmittlern hat man intensiven Kontakt mit den militärischen Repräsentanten der Streitkräfte Bosnien-Herzegowinas. Die Aufträge sind hochinteressant, man erlebt täglich, was es heißt, die im Dayton-Abkommen festgelegten Waffenund Kaserneninspektionen durchsetzen zu müssen. Die Komplikationen, die aufgrund der Sprachbarriere auftauchen, werden aber durch die erfolgreiche und spürbare Arbeit für den Friedensprozess, die vorzügliche Kameradschaft und viele schöne persönliche Erlebnisse mehr als ausgeglichen. 297 Leutnantsbuch Am Ende des Einsatzes überwiegen die angenehmen Erinnerungen, trotz der langen Trennung von zu Hause. HI Sei offen für andere Kulturen, akzeptiere andere militärische Traditionen und Umgangsformen! Bereite Dich auf die Multinationalität aktiv vor – durch sprachliche Aus- und Weiterbildung, Information über die Streitkräfte und Länder Deiner Kameraden! Frage Dich nach den Besonderheiten Deiner Kultur und des Deutschen Heeres! Vertrete Deine eigenen Streitkräfte sachlich, aber auch mit Stolz! Unsere Führungskultur kann sich auch international sehen lassen! 298 Leutnantsbuch Der geeignete Zeitpunkt für Kritik A ls junger Oberfähnrich führte ich einen Panzerpionierzug. Ich war Vorgesetzter von 30 jungen „Kerlen“, die ich vom ersten Tag an in meiner Obhut hatte. Ich bildete Sie mit meinen Gruppenführern zu guten, loyalen und disziplinierten Soldaten aus. Der Zug war nach wenigen Monaten ein eingespieltes Team, um nicht zu sagen, eine verschworene Gemeinschaft. Jeder achtete den Anderen, was auch mich als den Zugführer einschloss. Eines Tages ließ ich den Zug vor dem Kompaniegebäude antreten, um organisatorische Punkte bekannt zu geben. Während des Antretens kam der Kompaniechef hinzu und unterbrach mich prompt in meiner Rede. Er wandte sich vor dem angetretenen Zug mit folgenden Worten, für alle hörbar, an mich: „Herr Oberfähnrich, der Flecktarn Ihrer Jacke passt nicht zum Flecktarn Ihrer Hose. Stellen Sie diesen Mangel ab!“ Diese Feststellung entsprach der Wahrheit und war durch den unterschiedlichen Abnutzungsgrad beider Kleidungsstücke begründet. Zugegeben ist dies ein Mangel. Schließlich sollte man, insbesondere als Vorgesetzter immer um einen vernünftigen Anzug bemüht sein. Und selbstverständlich steht es einem Vorgesetzten zu, erkannte Mängel festzustellen und anzusprechen. Jedoch sollte man dabei Zurückhaltung wahren und mit dem erforderlichen Gespür für die Verhältnismäßigkeit und den geeigneten Zeitpunkt vorgehen. Vor allem, wenn es sich bei der betreffenden Person um einen Vorgesetzten handelt, der sich in Gegenwart seiner Untergebenen befindet. Der Kompaniechef hat damals mit seinen wenigen Worten für einige Unruhe innerhalb des angetretenen Zuges gesorgt. Ich stand vor der Front und wusste zunächst nicht, was ich sagen sollte. 299 Leutnantsbuch Diese Begebenheit beschäftigt mich bis heute. Inzwischen sind acht Jahre vergangen und ich bin nun selbst Kompaniechef. In gewisser Hinsicht muss ich meinem damaligen Chef für diese Erfahrung dankbar sein. Hat Sie mir doch auf negative Art und Weise vor Augen geführt, dass man für das Ansprechen und Beseitigen von Mängeln auch den falschen Ort und Zeitpunkt wählen kann. HI 300 Leutnantsbuch Die Kurzeinweisung A bschlussantreten der Kompanie am Freitagmittag. Eine normale Woche des Dienstes am Standort liegt hinter der Kompanie und nach wenigen Worten und der üblichen „Belehrung zum Wochenende“ entlasse ich die Kompanie ins wohlverdiente Wochenende. Ich selbst freue mich auf zu Hause und auf den mit meiner Frau vereinbarten Einkaufsnachmittag. Und eben dort erreicht mich am Nachmittag desselben Tages der Anruf meines Brigadekommandeurs. Ich solle bitte sofort in die Kaserne kommen. Im Einsatz sei ein Unfall passiert, ein Transportpanzer (TPz) FUCHS sei verunglückt und ein deutscher Soldat schwer verletzt. Im Zuge der üblichen Suche nach Ursache und Verantwortlichkeit sei man auf den Kraftfahrer des Fahrzeugs gekommen und der hätte ausgesagt, dass er aufgrund seiner nur verkürzt durchgeführten Einweisung an diesem Fahrzeug und der fehlenden Fahrpraxis gar nicht in der Lage gewesen wäre, die Situation richtig einzuschätzen und in der Folge diesen tragischen Unfall zu verhindern. Und diese Einweisung, ich erinnere mich schnell, wurde etwa ein bis zwei Monate vorher in meiner Kompanie und unter meiner Verantwortung durchgeführt. Mit meiner Frau zusammen mache ich mich sofort auf den Rückweg und melde mich wenig später beim Brigadekommandeur. Mein Bataillonskommandeur ist nicht zugegen. Dem Brigadekommandeur geht es nicht um eine Vernehmung oder Ähnliches. Nein, primär möchte er „aus erster Hand“ die Umstände und Rahmenbedingungen dieser, in einer seiner Kompanien durchgeführten Einweisung am 301 Leutnantsbuch TPz FUCHS erfahren, um auf eventuelle Fragen aussagekräftig antworten zu können. Und so schildere ich die näheren Umstände ... Etwa ein bis zwei Monate zuvor bekomme ich an einem Dienstag im Dienstzimmer meines Kompanietruppführers eher zufällig ein Telefongespräch mit dem Kompanietruppführer einer ca. 20 km entfernt liegenden Einheit mit. Letzterer erkundigt sich nach dem Termin für die nächste der regelmäßig in meiner Kompanie stattfindenden Einweisungen TPz FUCHS. Mein Kompanietruppführer nennt die Termine und ich höre, dass der nächste von uns vorgesehene Termin zu spät für die betreffende Einheit ist. Konkret geht es um einen Soldaten, der als Ersatzkraftfahrer TPz für den Einsatz geplant ist und kurzfristig bereits am kommenden Montag, also in sechs Tagen, in den Auslandseinsatz verlegen soll. Tatsächlich aber benötigt er bis dahin die entsprechende Ausbildung. Die beiden Kompanietruppführer verbleiben letztlich ohne Ergebnis. Der Standpunkt der Kompanie ist klar: Eine Einweisung dauert zwei Wochen und findet in unserer Kompanie erst zu einem späteren Zeitpunkt statt. Verkürzte Einweisungen sind grundsätzlich möglich, jedoch auf keinen Fall eine Einweisung in maximal fünf Tagen. Kurze Zeit später ruft mich der Kompaniechef des betreffenden Soldaten an und ich erkläre diesen Standpunkt erneut. Unmittelbar nach diesem Telefonat informiere ich den Bataillonskommandeur. Auch ihm erkläre ich kurz die Hintergründe, einfach auch deshalb, weil ich denke, dass er kurzfristig einen Anruf seines Kommandeurskameraden erhalten wird. Und genauso ist es. Wenig später bekomme ich mit dem Rückruf meines Kommandeurs den Auftrag, auf dringende 302 Leutnantsbuch Anfrage des Nachbarbataillons eine entsprechende, stark verkürzte Ausbildung für einen Soldaten des Nachbarbataillons so durchzuführen, dass dieser am Montag in das Einsatzland verlegen kann. Die für die Überprüfung des Soldaten erforderlichen Absprachen mit der am Standort befindlichen Fahrschulgruppe solle ich treffen. Ich bin mit diesem Auftrag nicht einverstanden und mache dies auch deutlich. Letztlich aber bleibt es bei dem Auftrag und zusammen mit dem Kompanietruppführer, einem weiteren erfahrenen Feldwebel der Kompanie als Ausbilder und dem Leiter der Fahrschulgruppe plane ich die Ausbildung, die bereits am nächsten Tag beginnen soll (und muss). Ich lege fest, dass wo immer möglich, theoretische Anteile zugunsten der Fahrpraxis gekürzt werden sollen und erwähne im Gespräch mit dem für den Sonntag eingeteilten Prüfer der Fahrschulgruppe, dass die Überprüfung aufgrund der signifikanten Verkürzung der Ausbildungsdauer nicht „unter allen Umständen“ erfolgreich verlaufen muss. Gleichzeitig erteile ich den Auftrag, genau festzuhalten, welche Ausbildungsgebiete nicht vermittelt werden konnten. So beginnt am nächsten Tag die kürzeste Einweisung am TPz FUCHS, die in meiner Verantwortung stattgefunden hat. Am Sonntag bekomme ich abends den Anruf des Fahrlehrers über den erfolgreichen Verlauf der Überprüfungsfahrt. Damit bleibt mir, am Montag das Fahrtennachweisheft zu unterschreiben und damit den Abschluss der Ausbildung zu bestätigen. Ich tue dies nicht, ohne im Fahrtennachweisheft die festgehaltenen, nicht durchgeführten Ausbildungsgebiete aufzulisten und mit meiner Unterschrift und der „dringenden Empfehlung einer Nachschulung vor Einsatz als Kraftfahrer TPz im Einsatzland“ zu versehen. 303 Leutnantsbuch Damit ist der Auftrag erfüllt und das schlechte Gewissen wird schnell durch den alltäglichen Dienstbetrieb beiseite gewischt. Umso stärker kommt es zurück, als mich der eingangs erwähnte Anruf des Brigadekommandeurs erreicht. Was verbindet dieses Erlebnis nun mit den Werten und Tugenden eines Offiziers? Welche Lehren ziehe ich aus dem Erlebten? Ganz grundsätzlich überwiegen auch Jahre später die Zweifel daran, ob ich als verantwortlicher Kompaniechef alles getan habe, diese von vorneherein zu kurze Ausbildung zu verhindern. Selbstkritisch geht es dabei zu allerletzt um Bequemlichkeit oder ein „Sich-aus-der-Verantwortung-Stehlen“. Vielmehr geht es um die Frage, ob ich den Bataillonskommandeur mit deutlicheren Worten von seiner Auftragserteilung hätte abbringen können (und müssen)? Konnte der Bataillonskommandeur nur diese Entscheidung treffen, weil der Kompaniechef ihn nicht ausreichend auf die Hintergründe aufmerksam gemacht hatte? Hätte ich den Gehorsam verweigern können oder gar müssen? Hätte ich den Kompaniechef im Einsatz telefonisch auf die Umstände der Einweisung und den Zusatz im Fahrtennachweisheft aufmerksam machen müssen? Weiterhin steht für mich auch außer Frage, dass ein Auftrag, so er denn einmal erteilt ist, auch dann auszuführen ist, wenn die Rahmenbedingungen dem entgegenstehen. „Nach bestem Wissen und Gewissen“ ist hier das Schlüsselwort für den in Verantwortung stehenden Offizier. Eine nachträgliche Schuldzuweisung, an wen auch immer, kommt in diesem wie in vielen anderen Beispielen nicht in Frage. Zuversicht und Geradlinigkeit sind auch dann die Tugenden des Offiziers, wenn er selbst im Zweifel ist. 304 Leutnantsbuch Abschließend bleibt dem damaligen Kompaniechef aber auch die Gewissheit, dass auch eine „nach bestem Wissen und Gewissen“ geplante und durchgeführte Ausbildung mit, per Unterschrift bestätigten, Ausbildungslücken nebst der Empfehlung zur Nachschulung bei Eintritt einer schwerwiegenden Folge, keine Entlastung des eigenen Gewissens ist. Eine Tugend des Offizierberufs ist es auch, mit diesen Zweifeln umzugehen ... Nachtrag: Der Stundenansatz für die Einweisung am TPz FUCHS wurde in der entsprechenden Ausbildungsvorschrift wenig später um fünf Stunden Fahrpraxis erhöht! HI 305 Leutnantsbuch Diagnose Krebs Z weiter Weihnachtstag. Die Familie sitzt gemütlich beisammen und genießt die weihnachtliche Stimmung bei Kerzenschein und knisterndem Kamin. Alle sind heiter, ausgelassen und zufrieden. Mein Mobiltelefon klingelt. Ein Kamerad meldet sich. Ich freue mich darüber. Wir tauschen Weihnachtsgrüße aus. Doch das Gespräch nimmt eine schnelle Wendung. „Er ist letzte Nacht verstorben … Lungenembolie … ich war zwei Tage vorher noch bei ihm, … da ging es ihm noch den Umständen entsprechend …“ Stille … Ich bin irritiert, ich hatte mit ihm auch vor zwei Tagen noch telefonisch gesprochen. Ich muss mich setzen. „Die Beisetzung wird am 30.12. sein … mit militärischen Ehren.“ „Ich werde kommen … Okay, schön, ich melde mich morgen, wenn ich die Einzelheiten habe.“ „Ja, … klar …“ Wir verabschieden uns, wie man sich in so einem Moment voneinander verabschiedet … Betroffenheit, Trauer kommen hoch. Gefühle, die ich bis dahin in dieser Form nicht gekannt hatte. Erinnerungen werden wach. Einzelkämpfervorbereitung an der Truppenschule. Ich sehe ihn vor mir. Erster Nachtorientierungsmarsch. Er startet eine halbe Stunde vor mir. Zwei Stunden später treffen wir uns wieder. Er bricht schweißgebadet aus einer kleinen Fichtenschonung. Zunächst dachte ich es wäre ein Reh, aber dann schaltet er die Taschenlampe an. „Eh, hallo, ... is’ da wer?“ „Ja, ich bin’s, hier drüben!“ Ich komme ihm entgegen. „Ah, du bist es, ich hab mich total verfranst. Ich kämpfe mich hier schon fast eine Stunde durch!“ Ich muss lächeln. Wem ist das noch nicht passiert. Wir helfen uns gegenseitig und gehen dann wieder unserer Wege. Letztendlich schaffen wir beide den Marsch. Erleichterung. Irgendwie war das der 306 Leutnantsbuch Anfang. Wir waren zusammen auf dem Einzelkämpferlehrgang in einem Hörsaal und an der Offizierschule ebenfalls. Wir mussten jedes Mal schon lächeln, dass wir uns immer wieder trafen und dann auch noch im gleichen Hörsaal. Es wurde daraus nicht direkt eine Freundschaft, nein, eher ein besonderes kameradschaftliches Verhältnis. Geprägt war das Verhältnis von Hilfsbereitschaft, Vertrauen, Respekt, das Einstehen für einander … all die Aspekte, die man sich unter Kameradschaft einfach vorstellen kann. Er war eine besondere Persönlichkeit, der seine Zeit als Soldat genoss und die Werte des Berufs hochhielt. Ein Kämpfer, Sportler und Gentleman. Dann trafen wir uns an der Bundeswehruniversität wieder. Er hatte das Sportstudium nicht bekommen, dafür aber einen Platz bei den Pädagogen. Und ich hatte den Studiengang gewechselt. Und wieder trafen wir aufeinander. Schicksal. Er nahm die Möglichkeit wahr, einen Platz bei den Politologen zu besetzen. Mit der Zeit wurde aus der Kameradschaft langsam eine Freundschaft. Wir gingen gemeinsam in die ‚Muckibude‘, trafen uns zum Gedankenaustausch, wollten zusammen auf den Springerlehrgang …, und das mit meiner Höhenangst. Dann kam die vorlesungsfreie Zeit. Er freute sich auf die Zeit mit seiner Freundin und seinem Kind. Ich freute mich auf mein Praktikum und meinen Urlaub. Zu schaffen machte ihm aber noch eine Magen-Darm-Erkrankung, die er augenscheinlich nicht gut wegsteckte. Aber bei der Kämpfernatur renkt sich wieder alles ein. Keiner dachte sich etwas dabei. Nach der vorlesungsfreien Zeit auf einmal keine Spur von ihm. Telefon gleich Fehlanzeige. Ich treffe einen gemeinsamen Freund, der ihm näher steht. Der berichtet. „Er liegt zurzeit im Krankenhaus … man hat einen faustdicken Tumor an seinem Oberschenkel festgestellt … Leider hat der 307 Leutnantsbuch Krebs aber schon Metastasen gesetzt, in Bauchraum und Lunge gestreut … Es sieht nicht gut aus … Du kennst ihn … Er kämpft … Aber wie lange noch, steht in den Sternen … Vielleicht müssen sie ihm das Bein abnehmen …“ Ich bin fassungslos. Man hört zwar immer wieder von Krebs, aber er scheint immer sehr fern von einem zu sein … Jetzt steht man auf einmal daneben und muss zuschauen … „Wie kann ich ihn erreichen?“ Er gibt mir die Krankenhaustelefonnummer und wir versprechen, uns gegenseitig auf dem Laufenden zu halten. Nun saß ich da vor meinem Telefon. Was sage ich ihm? Wie gehe ich an die Sache heran? Soll ich mich gar nicht melden und warten? Hunderte von Gedanken gehen mir durch den Kopf. Irgendwann hatte ich den Hörer in der Hand und er war am anderen Ende. Riesige Freude. Er erzählt mir alle Einzelheiten in gewohnter Manier, als ob gar nichts wäre … fast so, als wäre es lediglich eine Grippe … Er ist zuversichtlich … Wie immer … Die Hoffnung stirbt zuletzt. … Er erzählt mir von den anstehenden Behandlungen, von seiner Familie … Ich glaube, unser erstes Gespräch ging über eine Stunde. Irgendwann merkte man ihm die Anstrengung an. Ich sagte ihm noch, dass ich vorbeikommen werde, ihn besuche und dass wir regelmäßig telefonieren werden. So wurde es abgemacht. Fortan telefonierten wir jede Woche. Ein Besuch wurde vereinbart. Er wollte erst, dass ich ihn besuche, wenn er zu Hause ist. Gesagt getan, doch einen Tag vor dem geplanten Termin bittet er mich, diesen zu verschieben … Es ginge ihm nicht besonders gut. Er will „fitter“ sein, wenn ich vorbeikomme … So blieb es auch bei den anderen Terminen … Noch heute mache ich mir ab und zu den Vorwurf, dass ich seinen Wunsch ignorieren und ihn einfach hätte besuchen sollen … Ende Oktober kündigt er einen Besuch an der Uni an … Er wolle 308 Leutnantsbuch ein paar Sachen holen, die Leute sehen und so weiter … Seine Wohnebene bereitet den Besuch vor und lädt mich ein … Nur wenige sind da … Er kommt mit seiner Freundin … Insgeheim erschrecke ich, ist er das wirklich … Er ist kaum wiederzuerkennen. Ich hatte damit gerechnet, dass er anders ist, und mich versucht darauf einzustellen, aber das, was ich sehe und erlebe, schockiert mich zutiefst. Er ist schwer gezeichnet von seiner Krankheit … Smalltalk bei einem Tässchen Kaffee … Doch nach einer halben Stunde ist schon Schluss … Er fühlt sich nicht gut … Er ist auch nicht mehr bei der Sache … Er verabschiedet sich und legt sich hin … Betroffenes Schweigen in der Runde … Einer bricht das Schweigen … „Es ist schon erstaunlich, wie er kämpft, kein anderer hätte es bis hierher geschafft“ … Zustimmung bei den anderen, aber in jedem Gesicht kann man lesen, dass keiner daran glaubt, dass er es schafft … Nach zwei Stunden verabschiede ich mich von den anderen, es war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Der Nachmittag lässt mich nicht mehr los. Schwierig die Gefühle zu beschreiben … Ich telefoniere mit ihm weiterhin. Er hat manchmal gute und jetzt öfters schlechte Tage … Er erzählt mir am Telefon, dass er sich ein neues Auto zugelegt hat und was er, wenn er wieder fit ist, damit alles machen wird … Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte … Hilflosigkeit macht sich breit … Weihnachten rückt immer näher … Kurz vor Heiligabend telefonieren wir … vereinbaren wieder einen Termin zwischen den Tagen … wer hätte gedacht, dass es unser letztes Gespräch ist … 30. Dezember. Der Tag der Beerdigung. Er wird mit militärischen Ehren beigesetzt. Nur wenige militärische Freunde sind zu meiner Überraschung anwesend. Die Uni stellt einige Kameraden als Totenwache und Kranzträger. 309 Leutnantsbuch Doch die engsten Kameraden wollen dies übernehmen … So stehen wir zu sechst neben dem Sarg in der kleinen Kapelle. Ich vorne links. Großer Dienstanzug mit Paradehelm. Der Sarg geschmückt mit der Bundesdienstflagge und einem Stahlhelm … Langsam füllt sich die Kapelle mit den Eltern, Freunden und Bekannten … Die Kapelle füllt sich bis zum letzten Platz … Einige müssen draußen bleiben … Ich sehe in die Gesichter der Eltern und der Freundin … Sie sind gezeichnet von Trauer … Die Worte des Pfarrers sind schön und beschreiben ihn genau so, wie er war … Anderthalb Stunden stehen wir am Sarg, bis wir diesen dann zur Grabstelle tragen … Vorneweg die Kranzträger und ein Trommler vom Heeresmusikkorps … An der Grabstelle noch ein paar Worte seines Studentenfachbereichsleiters, seinem letzten Disziplinarvorgesetzten … Man merkt auch hier deutlich, dass er mit der Trauer zu kämpfen hat, seine Stimme zittert … Die Totenwache tritt beiseite … Der Sarg wird unter leisem Wirbeln des Trommlers herabgelassen … Jeder nimmt Abschied … als alle Freunde und Bekannten die Grabstelle verlassen, sind wir an der Reihe uns zu verabschieden … Ich stehe als Erster vor dem Grab … Zuerst eine Schaufel Erde … Ich gehe in Grundstellung und salutiere … Dann trete ich beiseite … Die anderen machen es mir nach … Als wir durch sind, schauen wir uns an … Jeder nickt dem anderen zu … Jeder weiß in diesem Moment, was der andere denkt … Ihm hätte es gefallen, genau so wollte er es haben … Mit seinem Grab ist eine persönliche Geschichte verbunden, die sich in erster Linie mit dem Umgang von Krankheit und Tod eines Kameraden beschäftigt. Krankheit und Tod gehören zum Soldaten-, zum Offizierberuf und man hat sich diesen Begriffen zu stellen. Und ob einen nun Kameradschaft oder gar Freundschaft verbindet, das 310 Leutnantsbuch unbedingte Einstehen und Zueinanderstehen ist eine der Tugenden, die den Offizierberuf von anderen unterscheidet. Wir haben dem erkrankten Kameraden Hoffnung, Mut und Vertrauen geschenkt und gezeigt, dass dieser auch und gerade aus dem militärischen Freundeskreis heraus nicht alleine gelassen wird. Der Tod eines Kameraden nach schwerer Krankheit ist eben nicht „Privatsache“ ... auch und insbesondere dann nicht, wenn sich für die Kameraden ebenfalls erhebliche emotionale Schwierigkeiten und in manchen Situationen auch erhebliche Gewissensbisse ergeben haben. Couragiertes Engagement, Kameradschaft, das Nicht-Wegsehen und die damit verbundene, echte Teilnahme sowie Respekt in tiefer militärischer Verbundenheit sind die Schlüsselbegriffe dieser Geschichte. HI 311 Leutnantsbuch Das offene Ohr S eit hundert Tagen sind wir jetzt in Afghanistan und Ende des Monats geht es nach Hause. Wir waren schon immer ein gutes Team. Doch der Einsatz hat uns im Zug noch mehr zusammengeschweißt. Vor allem eine Situation ist mir noch gut in Erinnerung, die ich so schnell nicht vergesse. Doch von vorn: Vor gut drei Wochen – etwa zwei Drittel der Einsatzzeit hatten wir hier bereits absolviert – traf ich Stefan im Raucherzelt vor unserem Block. Wir kennen uns seit unserer Grundausbildung vor zwei Jahren und haben seither nahezu jeden Ausbildungsabschnitt gemeinsam absolviert. Hier in Afghanistan ist er, so wie ich, Beifahrer und MG-Schütze auf dem TPz. An diesem Tag war Stefan irgendwie verschlossen und längst nicht so gut gelaunt wie sonst. Erst nach einiger Zeit rückte er damit heraus und erzählte mir, was passiert war. Seine Freundin und er hatten sich mächtig am Telefon gestritten. Für beide schien die Trennung durch den Einsatz und in gewisser Hinsicht wohl auch die Ungewissheit zunehmend unerträglicher. Zudem hatte Clara, so heißt Stefans Freundin, zum ersten Mal von Trennung gesprochen. Sie habe gerade eine schwierige Prüfungsphase und erhoffe sich mehr emotionalen Beistand, erklärte er mir. Auch ich hatte in dieser Hinsicht bereits meine Erfahrungen gesammelt und wusste, wie schwierig es ist, in den wenigen Minuten Telefonat – noch dazu im Einsatz – nicht das vermeintlich Falsche zu sagen. Doch Stefan schien regelrecht niedergeschlagen und verzweifelt zu sein. Bis spät in die Nacht unterhielten wir uns und ich fasste den Entschluss, ihm, wenn irgend möglich, eine kleine Auszeit zu verschaffen. 312 Leutnantsbuch Am nächsten Tag bat ich unseren Zugführer, einen jungen Oberleutnant, der ein Jahr zuvor unseren Zug übernommen hatte, darum, mit Stefan den Dienst am darauf folgenden Tag tauschen zu dürfen. Da ich allerdings Stefans Situation auch nicht an die große Glocke hängen wollte, erklärte ich auf Nachfrage meines Vorgesetzten, dass mich eine Patrouille in den Osten Mazar-e-Sharifs sehr interessiere, was zugegebenermaßen auch zutraf. Stefan gewann so einen Tag im Camp und hatte die Möglichkeit einmal ausgiebig mit Clara zu sprechen. Das tat er dann auch. Irgendwie schien unser Zugführer allerdings doch etwas mitbekommen zu haben. Vielleicht war ihm schlichtweg Stefans Niedergeschlagenheit aufgefallen. Jedenfalls schaffte er es, am darauffolgenden Wochenende, an dem mehrere Video-Live-Konferenzen zu den Familien nach Deutschland geplant waren, auch einige Minuten für Stefan und seine Freundin zu reservieren – ein weiteres Mosaiksteinchen, das seine Wirkung nicht verfehlte. Mittlerweile ist Stefan nahezu wieder der alte und freut sich, ebenso wie Clara, aufs Monatsende. Auf mich wartete allerdings noch eine ganz andere Überraschung, als ich während des Antretens vergangene Woche durch unseren Zugführer vor die Front geholt wurde. „Vor allem im Einsatz erstreckt sich Kameradschaft weit über das Dienstliche hinaus. Einsatzbelastungen betreffen uns alle. Umso erleichterter bin ich festzustellen, welchen Stellenwert Teamgeist in diesem Zug hat. Neben mir steht ein Soldat, der nicht nur im Dienst mit vorbildlichem Einsatz überzeugt, sondern auch außerhalb des Dienstes für seine Kameraden ein offenes Ohr hat und auch zusätzliche Belastungen nicht scheut, wenn er damit anderen helfen 313 Leutnantsbuch kann. Ich bin froh, solche Kameraden um mich zu wissen“, erklärte er dann vor versammelter Mannschaft. Auch wenn es mir vielleicht ein wenig peinlich war, ich bin normalerweise niemand, der gern im Mittelpunkt steht, war ich auch stolz auf das Gesagte. Doch lag mir auch daran, unserem Zugführer, als ich ihn später traf, zu erklären, wie selbstverständlich das Ganze für mich war. Seine Reaktion verblüffte mich: „Wissen Sie, Herr Hauptgefreiter, es ist immer einfach, Vieles schnell als selbstverständlich hinzunehmen. Ihr Verhalten war schlichtweg vorbildlich, so etwas sollte nicht verschwiegen werden.“ Lob ist ebenso wie Tadel ein wesentliches Führungsmittel. Leider wird es oft vernachlässigt. Doch gerade zur Festigung des Teamgeistes, wirkt vor allem Anerkennung nicht nur unmittelbar auf den Betroffenen, sondern auch auf sein unmittelbares Umfeld motivationssteigernd. HI Lob und Anerkennung kommen gegenüber dem Tadel oft zu kurz, obwohl sie wesentlich zur Motivation beitragen und auch den Teamgeist fördern. Es ist ein Zeichen echter Kameradschaft, belasteten Kameraden bei der Bewältigung ihrer Probleme zu unterstützen. Eine solche Hilfsbereitschaft wird auch von anderen wahrgenommen und gewürdigt. 314 Leutnantsbuch Die Gruppe in der AGA I m Alter von damals 22 Jahren war ich zum ersten Mal verantwortlich für zehn Soldaten im Alter von 19 bis 24 Jahren. Es stellte sich schnell heraus, dass diese Gruppe sehr heterogen war – ein ‚Querschnitt der Gesellschaft’, wie man immer so sagt. Die jungen Soldaten unterschieden sich deutlich in ihren Bildungsniveaus, der körperlichen Verfassung, der Einstellung zur Bundeswehr und in privaten Vorlieben. Wenn ich jetzt in meiner kleinen DIN-A6Gruppenführerkladde von damals nachlese, finde ich dort unterschiedlichste Beschreibungen: - Der Sohn eines ehemaligen DDR Botschafters in der damaligen Sowjetunion, Triathlet, mit dem Ziel des Studiums „Hotelmanagement“ in der Schweiz, der Interesse an der Übernahme ins Reservistenverhältnis zeigte. - Der Offizieranwärter auf Widerruf, der während dieser Grundausbildung die persönliche Entscheidung pro/ contra Übernahme SaZ 12 zu fällen hatte. - Der 19-jährige Rekrut, der als engster Verwandter für die Betreuung der sich in psychiatrischer Behandlung befindlichen Großmutter verantwortlich war und sich schnell als informeller Führer herauskristallisierte. - Der Wasserinstallateur aus Stade, der mit einem Hauptschulabschluss einerseits kein überdurchschnittliches Bildungsniveau hatte, sich andererseits durch seine praktischen Fähigkeiten, sein Engagement und seinen Humor auszeichnete und ein Leistungsträger der Gruppe war. - Ein arbeitsloser Tischler, der in der 7. Klasse seine Schulausbildung abgebrochen hatte, mit Problemen im privaten Bereich sowie mit der körperlichen Fitness. 315 Leutnantsbuch All’ diese unterschiedlichen Charaktere mit ihren verschiedensten Fähigkeiten vereinten sich nun in meiner Gruppe. Meine Aufgabe war es nun, als Ausbilder das soldatische Grundhandwerkszeug zu vermitteln. Als Führer und Erzieher wollte ich aus der Summe von Einzelpersonen eine Gruppe bilden, die zusammenhielt und stolz darauf war, in eben dieser 5. Gruppe zu sein. Bei der Umsetzung dieses Zieles war ich dann mit Problemen konfrontiert, mit denen ich zuvor nicht gerechnet hatte. Ein Wehrpflichtiger hatte z.B. einen sehr prägnanten eigenen Körpergeruch, gepaart mit einer ungenügenden Körperhygiene. Bei der Übung von Schleiftricks im Rahmen der Sanitätsausbildung wurde er deswegen gemieden. Um einer Ausgrenzung aus der Gruppe und möglichen Pflichtverletzungen wie „Pflicht zur Gesunderhaltung“, „innerdienstliche Wohlverhaltenspflicht“ oder „Pflicht zum Gehorsam“ frühzeitig entgegenzuwirken, musste ich also handeln. Leider (oder zum Glück) gibt es für solche und viele andere Probleme des Truppenalltags keine Patentlösungen, die in Vorschriften oder Ausbildungshilfen, auf den speziellen Fall zugeschnitten, nachzulesen sind. Mit Gesprächen, dem Befehl zur Durchführung angemessener Körperhygiene, verstärkter Dienstaufsicht, „Erzieherischen Maßnahmen“ oder Disziplinarmaßnahmen nach der Wehrdisziplinarordnung steht ein bunter Strauß an Maßnahmen unterschiedlichen „Eskalationsniveaus“ zur Verfügung. Ich führte mit dem Soldaten ein Vieraugengespräch, zeigte ihm auf, dass seine mangelnde Hygiene das Zusammenleben und -arbeiten der Gruppe belastet und befahl ihm, sich täglich zu waschen bzw. zu duschen. Dies zeigte für einige Zeit Erfolg. Etwa eine Woche später teilte mir der Spieß mit, dass er dem Soldaten eine schriftliche Ausarbeitung zum Thema 316 Leutnantsbuch „Hygiene im Felde“ aufgetragen hatte, da dieser mit stark verschmutztem Essgeschirr bei der Essensausgabe erschien. Ich befahl dem Rekruten, mir nach Dienst die Ausarbeitung vorzulegen. Gegen 17.00 Uhr meldete er, dass er die Ausarbeitung nicht verfassen könne. Ihm fehlten einfach die geistigen Fähigkeiten, um eine solche Problemstellung zum Thema „Hygiene“ schriftlich zu erörtern. Ich nahm mir daraufhin Zeit, um ruhig mit dem Soldaten gemeinsam die Ausarbeitung zu Papier zu bringen. Dabei öffnete er sich und berichtete von persönlichen Problemen, einer laufenden Vaterschaftsklage und dem Tod eines nahen Angehörigen, die er zuvor für sich behalten hatte. Am Ende dieses Tages war ich froh, mehr über „meinen Problemsoldaten“ erfahren zu haben. In der restlichen Zeit der Allgemeinen Grundausbildung besserte sich das Verhalten des Soldaten, wenngleich er weiterhin manchmal die eigene Körperhygiene vernachlässigte. Ich beließ die „Erziehung“ auf meiner Ebene. Welches Verhalten hier richtig war oder was ein anderer an meiner Stelle getan hätte, möge jeder für sich beurteilen. Es passt nicht jede Maßnahme x (wie schriftliche Ausarbeitung für verschmutztes Essgeschirr) auf jeden Soldaten y (der selbstständig eine solche nicht schreiben kann). Dies war ein Beispiel für eine Herausforderung während meines Gruppenführerpraktikums. Für mich war dies die schönste Aufgabe meiner bisherigen Dienstzeit, da ich als Gruppenführer in der AGA während und auch außerhalb des Dienstes sehr viel Zeit mit den mir anvertrauten Soldaten verbracht habe. So konnte ich die Stärken und Schwächen meiner Soldaten und auch meine eigenen erfahren. Man wird von seinen Untergebenen hier und auch in anderen Verwendungen mit Vorgesetztenfunktion nicht nur als 317 Leutnantsbuch militärischer Vorgesetzter in dienstlichen Belangen, sondern auch als Ratgeber für allgemeine Dinge, wie Berufsperspektiven oder private Probleme, wahrgenommen, obgleich man kaum älter ist als sie. HI 318 Leutnantsbuch Soldatenwallfahrt nach Lourdes D er Standortpfarrer hatte im Lebenskundlichen Unterricht davon gesprochen, dass Menschen verändert aus Lourdes zurückkommen. Was hat er damit gemeint? Neugierig geworden, habe ich mich für die Internationale Soldatenwallfahrt nach Lourdes angemeldet. Wir trafen uns an einem sonnigen Montagmorgen Ende Mai am Kölner Hauptbahnhof. Hier wartete eine bunte Menge aus Soldatinnen und Soldaten sowie zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der gesamten Bundeswehr. Unser Militärpfarrer begrüßte uns und wir bekamen erste Instruktionen. Im Zug vernahmen wir eine Stimme aus dem Zuglautsprecher. Es war eine Durchsage des Militärischen Transportführers (MTF). Er gab präzise Anweisungen zum allgemeinen Verhalten während der Wallfahrt, zur Trageweise der Uniform, Alkoholverbot usw. Dann meldete sich noch der Pilgerleiter und lud zu einem gemeinsamen Gebet zu Beginn der Wallfahrt ein. Der Einladung wurde nicht immer gefolgt, weil wenige sich als gläubige Christen offenbaren wollten. Kameradschaft und Geselligkeit waren kein Problem – aber Stille im Gebet erzeugte Unbehagen. Gegen Mittag des nächsten Tages fuhr der Zug im Bahnhof Lourdes ein. Zunächst ging es in geschlossener Marschformation durch die Stadt hoch zum Zeltlager. Die gut drei Kilometer Fußweg sollten mit einem Lied verkürzt werden. Wir sollten das Halleluja nach Taizé singen. Das Vorhaben wurde aber nach kläglichem Versuch schnell wieder aufgegeben. Wir wurden in großen Zelten untergebracht und hatten Zeit, uns mit den Lagereinrichtungen vertraut zu machen. Insgesamt war das Zeltlager sehr einfach ausgestattet. Dafür gab es in der Stadt alles reichlich. Bevor wir das Zeltlager aber verlassen durften, gab es eine Befehlsausgabe. Auch 319 Leutnantsbuch gab es einen Tagesdienstplan mit Hinweisen an welchen Veranstaltungen unser Sonderzug geschlossen teilnehmen würde. Das waren zum Glück nur sehr wenige Veranstaltungen, so dass jeder sein eigenes Programm zusammenstellen konnte. Angebote gab es genügend. Fast 20.000 Soldatinnen und Soldaten aus mehr als 40 Nationen versammeln sich bei der jährlichen Internationalen Soldatenwallfahrt und eben so viele Zivilisten wollen sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen. Entsprechend bunt und gefüllt war die Stadt. Zum gemeinsamen Eröffnungsgottesdienst wurde es zum ersten Mal Ernst. Da traten eine Soldatin und ein Soldat nach vorne und sie bekannten sich in wilder Ehe zu leben, ein weiterer bekannte sich zur Homosexualität. Zuerst glaubte ich an eine ungeheuerliche Störung des Gottesdienstes. Doch durch den Hauptzelebranten wurden wir aufgefordert, uns mit den Problemen unserer nächsten Kameraden auseinander zu setzen und sich nicht zu verschließen bzw. nicht wegzuschauen. Nach dem Gottesdienst gingen viele nachdenklicher geworden in die Stadt und vielfach wurde über das Erlebte weitergesprochen. Abends kam ich schnell mit anderen Kameraden ins Gespräch. Viele sagten, dass sie eigentlich wegen der abendlichen Feiern und der internationalen Begegnung nach Lourdes gekommen sind. Als die Kameraden sich so unterhalten, sieht man so „ein Leuchten in ihren Augen“. Irgendetwas ist schon passiert an diesem Ort, wo der Legende nach dem kleinen Mädchen Bernadette die Mutter Gottes erschienen war. Am nächsten Morgen regnete es in Strömen und die gute Laune vom Vorabend ist im Zeltlager auf einem unterirdischen Tiefpunkt gerutscht. Gegen Mittag ging ich hinunter in die Stadt. Die Cafés waren mit Soldaten gefüllt. 320 Leutnantsbuch Viele Nationen hatten Musikkorps mitgebracht, die durch die Stadt zogen und dort, wo der Jubel besonders groß war, wurde spontan ein Platzkonzert gegeben. Nur im Heiligen Bezirk fand man Ruhe vor dem Trubel. Dort hatte Bernadette auf Geheiß der Mutter Gottes nach einer Quelle des Lebens gesucht. Man muss sich vorstellen, dass sich ein Rahmenprogramm in fast beliebigen Sprachen täglich wiederholt. Alle wollen einen Gottesdienst an der Grotte feiern, eine Lichterprozession organisieren usw. Jede Pilgergruppe kommt zu ihrem Recht. Ein Höhepunkt war die Ankunft der kranken Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr. Gerne meldet man sich für den Sonderdienst der Krankenbetreuung. Immer gibt es mehr Freiwillige als zu Betreuende. Anschließend fand ein gemeinsamer Kreuzweg mit dem Militärbischof statt. Die Kameraden, die den beschwerlichen und steinigen Weg bergan nicht gehen konnten, wurden auf Tragen hinaufgetragen. An jeder Station wurden die Kranken abgesetzt. Obwohl das Tragen sehr schmerzhaft war, mochte niemand abgeben. In der Stille der Nacht trafen sich Soldaten an der Grotte zum Gebet. Man wird plötzlich und nachhaltig von diesem Ort ergriffen. Diese besondere Erfahrung und das Erlebnis bleiben mir unvergessen. Ich habe viele betrübte Soldaten erlebt, die mit einem Lächeln im Gesicht weggegangen sind. Auch die Augen der vielen Kranken waren voller Hoffnung und leuchteten heller als die von manchem augenscheinlich Gesunden. Es gäbe noch soviel zu erzählen von diesem besonderen Ort. Nach fast einer Woche in Lourdes, mit viel Nachdenklichem, aber auch viel gelebter Kameradschaft mussten wir uns verabschieden. 321 Leutnantsbuch Wir marschierten geschlossen zur Marienstatue im Heiligen Bezirk, um Abschied zu nehmen. Und wieder sangen wir das Halleluja von Taizé. Diesmal sangen alle mit. Schließlich setzte sich der Zug durch die Nacht in Bewegung. Es war merkwürdig ruhig in den Abteilen. Was hatte der Standortpfarrer gesagt. „Ihr kommt als anderer Mensch zurück.“ Und es stimmt. Lourdes war und ist ein außergewöhnliches Erlebnis und für jeden eine sehr individuelle Erfahrung – in jedem Fall aber eine Bereicherung. 322 Leutnantsbuch Als Seelsorger in Afghanistan – Erfahrungen und Einsichten aus einer anderen Welt * „Es hat gut getan, Ihnen morgens beim Waschen zu begegnen. Sie haben trotz Kälte und Dreck so viel Optimismus ausgestrahlt. Das hat mir richtig Kraft für den Tag gegeben“, so die freundliche Anerkennung eines Oberstabsarztes mir gegenüber an seinem letzten Tag im März 2002 im Camp Warehouse in Kabul. Zunächst freute ich mich ganz einfach über dieses Lob. Dann aber wurde mir auch deutlich: Dieser Dank enthält im Kern das Seelsorgekonzept der Einsatzbegleitung: Teilen der Lebensbedingungen als Seelsorge. Das ist ungewöhnlich. Ich habe als Pfarrer bisher ganz unterschiedliche Formen von seelsorgerlicher Betreuung kennen gelernt: Die Bedeutung der Besuche im Gemeindepfarramt, das Ritual, wenn ich Menschen in Übergangssituationen begleite, das Seelsorgegespräch in Konflikt- und Belastungssituationen. Im Einsatz jedoch ist Seelsorge noch viel elementarer. Sie besteht vor allem im Mitgehen mit den Soldaten und im Erleben und Bewältigen der gleichen Lebensbedingungen. Und schön – wie mein Beispiel zeigt -, wenn wir Pfarrer dabei Optimismus und Humor ausstrahlen. Das klingt sehr einfach. Doch als leicht habe ich diese an mich gestellte Anforderung in Afghanistan nicht empfunden. Im Gegenteil. Aber dennoch als spannend und facettenreich. Darüber will ich in diesem Aufsatz erzählen. Der Aufbruch „Ich habe mich drei Mal zu Hause von meiner Frau und meinen Kindern verabschiedet. Und dann stand ich abends wieder vor der Tür. Das war das absolute Chaos. Ich bin immer noch sauer. Aber was konnte ich dagegen tun?“ Diesen Kommentar über den Aufbruch in Deutschland im 323 Leutnantsbuch Januar 2002 habe ich oft von den Soldaten der Luftlandebrigade gehört. Tatsächlich war der erste Teil der Verlegung der ISAFSoldaten nach Afghanistan durch sich dauernd ändernde politische Vorgaben gekennzeichnet. Der Abflug verzögerte sich deshalb fortlaufend. Auch die Aufstellung der Kontingente. Und das alles ereignete sich zeitgleich zu den Weihnachtsvorbereitungen in den Familien. Mein katholischer Kollege und ich haben es ganz ähnlich erlebt. Die innere Anspannung während des Christfestes 2001 werde ich nicht so schnell vergessen. Warum haben die wechselnden Lagen und unterschiedlichen Einplanungen die Soldaten so erschöpft und verbittert? Ich glaube zum einen, weil die Alarmierung mitten in die Vorbereitungen des Weihnachtsfestes platzten. Wir alle freuten uns auf unser familiäres Weihnachtsfest. Und auf einmal schien es eher unwahrscheinlich, dass wir Weihnachten überhaupt noch zu Hause sein würden. Zum anderen hatten Soldaten den Eindruck, vor ihren Angehörigen und Freunden das Gesicht zu verlieren. Sie hatten angekündigt, beim Afghanistaneinsatz dabei zu sein – dann waren sie vielleicht auf einmal doch nicht mehr dabei. Sie sollten im Dezember fliegen – auf einmal verzögerte sich alles, und es würde vielleicht sogar Februar werden. „Bist du immer noch da? Wir dachten, du bist schon weg?“, fragten auch mich Freunde ein wenig schmunzelnd. Inwiefern konnten wir als Seelsorger den Soldaten helfen? Ich denke, es war für die Soldaten sicherlich zum einen hilfreich, dass wir Pfarrer mit ihnen gemeinsam die Ungewissheiten des Aufbruchs trugen. Ich erinnere mich an den Tag nach Weihnachten, als wir zusammen auf gepackten Seesäcken und Kampftragetaschen in einem Büro des 324 Leutnantsbuch Stabsgebäudes saßen und der kommenden Dinge harrten. Unserer inneren Unruhe haben wir durch Witzeleien Luft gemacht. Das hat geholfen und natürlich wurde auch an diesem Tag nichts aus dem Abflug. Wichtig ist weiterhin, dass der Pfarrer das Geschick der Soldaten als Zivilist teilt. Der Pfarrer steht außerhalb der Hierarchie und ist vor allem Werten wie Gerechtigkeit und Fürsorge verpflichtet. Damit ist er so etwas wie ein Bremsschuh für mögliche Willkür und Ungerechtigkeit. Ja, er ist – dritter Gesichtspunkt – in den Augen vieler so etwas wie ein Repräsentant von Öffentlichkeit, ein Fenster nach draußen, durch das in das System und in die inneren Abläufe der Bundeswehr hineingeschaut werden kann. Das begrenzt das Gefühl des Ausgeliefertseins, das sich beim einzelnen Soldaten in Situationen wie der Alarmierungsphase für den Afghanistaneinsatz leicht einstellen kann. Ankunft im Camp Warehouse in Kabul „Ach, jetzt kommt unser Beistand, nun kann uns ja gar nichts mehr passieren!“ So sind mein katholischer Kollege und ich von einigen Soldaten begrüßt worden, nachdem wir am 19. Januar 2002 im Camp Warehouse in Kabul eintrafen. Die Fahrt vom Flughafen Bagram, wo wir landeten und von den Kameraden in Empfang genommen wurden, bis nach Kabul glich zuweilen einer Reise durch eine Mondlandschaft. Die Zerstörung aufgrund der jahrelangen Kämpfe gerade in diesem Gebiet war allgegenwärtig und erzeugte deprimierende Anblicke. Schließlich erreichten wir Kabul. Die Menschen in Kabul staunten uns in den Bussen an. So viele ausländische Soldaten hatten sie schon lange nicht mehr gesehen. Wir überspielten unsere eigene Unsicherheit 325 Leutnantsbuch durch freundliches Zulächeln. „Hoffentlich passiert hier nichts!“, habe ich nur gedacht. Denn wir waren eingepfercht in einen schrottreifen afghanischen Kleinbus und wären im Falle von bewaffneten Übergriffen ziemlich wehrlos gewesen. Das waren die Anfänge. Doch – wie schon angedeutet – schließlich erreichten wir unser Feldlager. Die Bezeichnung „warehouse“ – auf deutsch „Lagerhaus“ passt, denn das Camp Warehouse ist der ehemalige Bauhof von Kabul mit großen Werkstatt- und Lagerhallen und einem mehrstöckigen Bürogebäude. Das Ganze ungefähr zehn Kilometer außerhalb der Stadt an der Straße von Kabul nach Jalalabad gelegen. Allerdings haben die mehrjährigen selbstzerstörerischen Kämpfe der Mudschaheddin gegeneinander auch diese Einrichtung nicht unbeschadet gelassen. Im Gegenteil: Die Hallen sind zum Teil vollständig zerschossen und eingefallen, das Gelände ist vollgestellt mit Baugeräteschrott und in den Mauern des Stabsgebäudes gab es Mitte Januar noch keinen Strom, kein Wasser, keine Scheiben vor den Fenstern, keine Kanalisation. Ein zuständiger Soldat empfing uns herzlich, wenngleich mit einigen Frotzeleien und markigen Sätzen. Wahrscheinlich wollte er uns auf diese Weise die Chance nehmen, allzu sehr unserer Enttäuschung über den Zustand des Gebäudes und über die abendliche Kälte in den Räumen nachzuhängen. Auch waren bei weitem noch nicht so viele Zelte aufgebaut wie erhofft. Die sehnsüchtig erwarteten Warmluftgeräte fehlten natürlich auch. Alles war sehr karg. In der Nacht fiel die Temperatur schließlich bis minus 20 Grad. Aber wir hatten ja gute Schlafsäcke bekommen. Und nachdem ich endlich einige Tabletten gegen meine Kopfschmerzen (wir 326 Leutnantsbuch befanden uns auf einmal auf 1800 Meter Höhe!) geschluckt hatte, bekam meine Zuversicht wieder die Oberhand. Ich habe als Soldatenseelsorger eine ganze Zeit gebraucht, bevor ich mich an diese gängige Bezeichnung „Beistand“ gewöhnt hatte. Es schien mir zu viel Ironie mitzuschwingen. Irgendwann habe ich begriffen, dass von Seiten der Soldaten viel Ehrlichkeit in dieser Bezeichnung enthalten ist. Oft genug sehen Soldaten in uns den einzig verbliebenen Beistand, der eine gehörige Portion Autorität und Vortragsrecht vor höheren Vorgesetzten hat. Von seelsorgerlicher Betreuung in Konfliktsituationen ganz abgesehen. Ja und dann ist mir irgendwann deutlich geworden, dass der Pfarrer in den Augen der Soldaten tatsächlich so etwas wie die „Nähe Gottes“ verkörpert. Für die Soldaten bedeutet deshalb die Begleitung durch den Pfarrer, auch fern von daheim nicht außerhalb der Fürsorge Gottes geraten zu sein. Diese Gewissheit kann durchaus eine Hilfe sein, wenn Gefühle der Fremdheit und Verlorenheit einen zu überwältigen drohen. Der Raum der Militärseelsorge „Befehlsfreie Zone“ – diese Bezeichnung hatten wir an den Raum der Militärseelsorge im Stabsgebäude befestigt. Der Raum lag im Parterre, nahe dem Treppenhaus. Wir waren also stets im Blickfeld und leicht erreichbar. In den ersten Wochen eines neuen Kontingents sind die Soldaten noch mit dem Aufbau beschäftigt. Die Neuigkeitserfahrungen und die viele Arbeit lassen das Bedürfnis nach intensiven Einzelgesprächen eher in den Hintergrund treten. In der Fallschirmjägertruppe wird ohnehin vieles Persönliche in der engen und verbindlichen Gemeinschaft der Gruppen und Trupps besprochen. 327 Leutnantsbuch Wir sahen aber schnell die entscheidende Betreuungslücke und machten aus unserem Raum eine erste Betreuungseinrichtung. Voraussetzung dafür waren die preiswerten Teppiche, die uns ein afghanischer Mitarbeiter besorgte, und die den Raum wohnlich machten. Mein Mitarbeiter in Oldenburg schickte mir ein Heißluftgerät, das wir mithilfe eines technisch versierten Mitbewohners tatsächlich an einen Generator vor dem Haus anschließen konnten und das dafür sorgte, dass es bei uns einige Grade wärmer war als im restlichen Gebäude und erst recht draußen. Außerdem versorgte uns mein Mitarbeiter mit Instantkaffee und Keksen, die wir unseren Besuchern anboten. Dieser Raum der Militärseelsorge wurde stark frequentiert, oft von 8 Uhr morgens bis 23 Uhr nachts. Und von allen Dienstgradgruppen. Da war der Dreisternegeneral und Befehlshaber Einsatzführungskommando, der einmal auf unsere Einladung hin vorbeischaute, eine kleine Pioniergruppe war regelmäßig Gast, um sich aufzuwärmen, der Chef des Stabes machte mit einer Zigarette und einem Cappuccino bei uns Pause, „Instler“ kamen und viele andere Soldaten aus allen Dienstgradgruppen, um sich eine Auszeit zu nehmen, um einmal kurz den Blicken ihrer Vorgesetzten zu entschwinden, um die Gemeinschaft zu genießen und sich auszutauschen. Special guest war die Schriftstellerin Siba Shabib („Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen“), sie gab bei uns eine Autogrammstunde usw. usw. Und wir? Wir mussten einfach da sein, gastfreundlich einladen, Zeit haben und vor allem gut zuhören. Doch nicht immer wurden wir Seelsorger gebraucht, zuweilen reichte einfach schon der Raum. So werde ich nie vergessen, wie einmal ein älterer Unteroffizier kam, um für sich zu sein und zu weinen. 328 Leutnantsbuch Patrouillenbegleitung „Blackman soll seine Schulterklappen runternehmen!“ Die Aufforderung kam per Funk aus dem Führungsfahrzeug vom Leiter der Gruppe. Blackman war mein Spitzname bei einigen Fallschirmjägern. Ich konnte die Aufforderungen des Patrouillenführers, eines Oberfeldwebels, gut nachvollziehen und hatte meine Schulterstücke schon selbst vorher abgenommen. Ich wollte unsere afghanischen Gesprächspartner in dieser Anfangsphase nicht irritieren oder gar provozieren. Damit hätte ich den Dienst unserer Einsatzsoldaten zusätzlich erschwert. Ich begleitete eine abendliche Patrouille, die vom Camp Warehouse in die Stadt Kabul in ihren Verantwortungsbereich fuhr. Freundlicherweise muteten die Soldaten mir nicht wie sich selbst zu, auf der Ladefläche des Zweitonners Platz zu nehmen, sondern ich durfte in der Führerkabine mitfahren. Sie ahnten wohl, dass ich nicht die gleiche körperliche Widerstandskraft gegen die Kälte, den eisigen Wind und den Schnee haben würde. In Kabul werden wir zuerst ein Polizeiquartier in unserer Verantwortungsregion ansteuern, um zusätzlich afghanische Polizisten aufzunehmen. So gestaltet sich die Auftragsdurchführung. Denn die ISAF-Soldaten (ISAF heißt: International Security Assistence Force, also Unterstützungstruppe) haben nicht die Verantwortung für die Situation in Kabul, sondern unterstützen lediglich die einheimischen Kräfte bei ihrem Bestreben, für Sicherheit zu sorgen. Diese Patrouillen sind wirklich nicht ungefährlich. Die britischen Fahrzeugkolonnen sind häufiger beschossen worden. Auch die Sicherheitskräfte wirken nicht unbedingt zuverlässig. 329 Leutnantsbuch Oberfeldwebel G. möchte auch vor diesem Hintergrund ungern, dass ich als Pastor erkennbar bin. Er kann das Verhalten seines afghanischen Partners noch nicht genau einschätzen. Ja, am Anfang empfand er mich eher als zusätzliche Belastung. „Jetzt muss ich auf Sie auch noch aufpassen.“ Doch das änderte sich schnell. Seine eingeschworene Gruppe, er und ich kamen uns schnell näher. Er fand mein Interesse an seinem Dienst gut und beteiligte mich deshalb an allen Gesprächen, die er führte. Zum Beispiel mit den Polizeioffizieren. Einmal besuchte er sogar den Gottesdienst. Ein Gegenbesuch bei Blackman sozusagen. Ein paar Tage, bevor er nach Deutschland flog, winkte mich der Oberfeldwebel in sein Zelt. „Ich habe etwas für Sie!“ Er zog aus seiner Tasche ein ledernes Halsband mit einem Stein. In den Stein war ein Kreuz eingeritzt. „Das habe ich für Sie gemacht!“ Die Brüdergemeinde Am Sonntagnachmittag fuhren mein katholischer Kollege und ich immer zur Brüdergemeinde. Die Brüdergemeinde bestand aus drei bzw. zwei Brüdern, die zur so genannten „Christusträgerbruderschaft“ gehörten und die in Kabul zwei ambulante Kliniken und ein Arbeitsbeschaffungsprojekt betrieben. Bruder Tschak und Bruder Retho waren schon über 30 Jahre in Kabul. Sie hatten selbst über die schlimme Zeit der Mudschaheddinkämpfe, während der ein Großteil Kabuls zerstört worden war, in der Stadt ausgehalten. Nur während des Bombenkrieges der USA hatten sie kurzzeitig ihre Wohnungen und Kliniken verlassen. Die Brüder wohnten in der ehemaligen Residenz des DDR-Botschafters im Diplomatenviertel Kabuls. Sie hatten das über viele Jahre völlig unbewohnte Haus gerettet, als es nach Raketentreffern drohte auszubrennen. Zu den Gottesdiensten, die wir am Sonntagnachmittag mit den Brüdern, den kleinen 330 Leutnantsbuch Schwestern Jesu in Kabul und vielen Mitarbeitern von NGOs feierten, brachten wir auch immer Soldaten mit. Die genossen es, das Lager einmal für einige Stunden verlassen zu können, in einem richtigen Wohnzimmer zu sitzen und sich mit Zivilisten über die Situation in Afghanistan auszutauschen. An eine Situation erinnere ich mich noch besonders. Fast eine ganze Stabsabteilung hatte sich für die Fahrt zu den „Brüdern“ angemeldet. Auf dem Gelände angekommen und uns per Funk in der OPZ „abgemeldet“, stellte ich die Soldaten den Brüdern vor. Doch kaum hatten sie die Veranda des Gebäudes betreten, versanken die Soldaten ins Schweigen. Ich ahnte, was in ihnen vorging. Sie blickten auf den Rasen, die Blumen, die Sträucher. Sie genossen den Schatten und die kultivierte Natur. Und auf einmal fiel der ganze Druck des Kabuler Lagerlebens von ihnen ab. Die Enge im Camp, die Anspannung aufgrund der Rivalitäten im Stab, die Erschöpfung aufgrund der fast täglichen Sandstürme und der brutalen Hitze (es war mittlerweile Sommer), die Sorgen um das Zuhause. Und sie wurden ganz ruhig. Und sammelten wieder Kraft. Verteilen von Kinderschuhen Die Kinderschuhe waren von unseren Angehörigen in Deutschland gesammelt worden und die Luftlandeversorgungskompanie organisierte den Transport nach Kabul. Wir selber fuhren dann mit den Schuhen zu Schulen, deren Leiter vorinformiert worden waren. So wussten alle Bescheid, als wir mit unserem Geländewagen und Zweitonnern auf den Schulhof vorfuhren. Der Schulleiter – oder die Schulleiterin – kamen uns mit ihren Helfern schon entgegen und begrüßten uns herzlich. Abgesehen von der Kernmannschaft beteiligten wir an diesen Aktionen immer wieder 331 Leutnantsbuch neue Soldaten. Diese breiteten die Hunderten von Kinderschuhen dann auf Bänken auf dem Schulhof aus. Die Kinder traten klassenweise an unsere Auslagen und suchten sich unter unserer Beratung ein paar aus. Oder wir trugen sie sackweise in Abschätzung der richtigen Schuhgröße für die Altersstufe in die Klassen. Und dort wurden sie dann in unserem Dabeisein und unter Aufsicht des Klassenlehrers verteilt. Ursprünglicher Anlass für diese Aktion war die Betroffenheit unserer Soldaten über die vielen Kinder in Kabul, die trotz Kälte und Schnee auch im Januar keine oder nur ganz unzulängliche Schuhe trugen. Diese Bedürftigkeit tat uns sehr Leid. Der zweite Grund war: Wir wollten unsere eigenen Ohnmachtsgefühle überwinden. Denn die frierenden Kinder im Januar 2002 in Kabul waren ja nur die Spitze des Eisbergs. Man darf nicht vergessen, wir waren in ein Land gekommen, in dem seit über 20 Jahren Krieg herrschte. Afghanistan war nicht nur zerstört, sondern zerfallen in die Machtbereiche verschiedener Provinzfürsten, die häufig genug untereinander verfeindet waren. Und manchmal hatten wir den Eindruck, unser Engagement in Kabul ist letztlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben nicht die Möglichkeiten, ein Bedingungsgefüge zu schaffen, unter dem die Menschen ihr Land und ihren Staat wieder aufbauen können. Zu sehr hat der Krieg die Menschen geprägt. Natürlich sollte unsere Aktion nicht an die Stelle einer nüchternen Bestandaufnahme treten. Aber sie konnte Gedankenspiralen der Ohnmacht und Resignation unterbrechen. Und sie konnte uns das Gefühl geben: Wir können etwas tun! Denn Afghanistan besteht nicht nur aus vom Krieg und Terror traumatisierten Menschen, die passiv geworden 332 Leutnantsbuch sind. Genauso warten in den Schulen zum Beispiel viele Kinder, um endlich wieder etwas zu lernen. Und wir selber sind nicht zum Scheitern verurteilt, sondern das in Kabul Erreichte wird mit der Zeit auf das ganze Land ausstrahlen. Veränderung ist möglich. Ist diese Sichtweise naiv? Ich glaube nicht. Und ich sehe auch keine Alternative zu dieser Hoffnung. *) Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Evangelischen Kirchenamtes für die Bundeswehr abgedruckt. Der Autor, Militärpfarrer Jürgen Walter, hat diesen in dem Buch „Für Ruhe in der Seele sorgen – Evangelische Militärpfarrer im Auslandseinsatz der Bundeswehr; Hrsg. Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr, Bonn, 2003“ veröffentlicht. 333 Leutnantsbuch Selbstverständnis des Heeres Das Grundgesetz regelt die parlamentarische Kontrolle und Kommandogewalt über die Bundeswehr. Es betont den Primat der Politik, der die militärische Führung der politischen Führung unterordnet. Streitkräfte und Staat stehen in einem besonderen Treueverhältnis. Das Selbstverständnis der Angehörigen des Heeres begründet sich in diesem Rahmen aus der Verpflichtung, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Die Merkmale des Selbstverständnisses des Heeres • Das Heer ist Kern der Landstreitkräfte und Träger der Landoperationen im Rahmen von Einsätzen zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger, bei internationaler Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, bei der Unterstützung der Bündnispartner, bei Rettung, Evakuierung und sonstigen Hilfeleistungen. • Das Heer muss weltweit in den unterschiedlichsten geografischen, klimatischen und kulturellen Regionen kämpfen, schützen, helfen und vermitteln können. • Das Heer setzt die Werte und Normen des Grundgesetzes durch Anwendung der Prinzipien der Inneren Führung um und wendet zur Erfüllung seiner Aufgaben die Grundsätze der Auftragstaktik an. • Das Heer steht in der Tradition der Heeresreformer um Gerhard von Scharnhorst, der Widerstands334 Leutnantsbuch kämpfer des 20. Juli 1944 und seiner eigenen über 50-jährigen Geschichte, nicht zu vergessen, tugendhaftes Verhalten und herausragende Einzeltaten aus unserer langen Militärgeschichte. Dies wird in seinen Truppenteilen, seinen Truppengattungen und seinem militärischen Brauchtum erlebbar. • Das Heer ist stets durch Vielfalt gekennzeichnet. Diese Vielfalt spiegelt sich in den unterschiedlichen Truppengattungen wider. • Das Heer steht nie allein, sondern es erfüllt seinen Auftrag zusammen mit anderen Angehörigen der Bundeswehr und ihrer verbündeten Streitkräfte. Die Leitsätze der Angehörigen des Heeres Wir Soldatinnen und Soldaten des Heeres • dienen unserem Land treu und diszipliniert. Dafür sind wir bereit, Opfer und Entbehrungen auf uns zu nehmen und unser Leben einzusetzen; • sind stolz auf unser militärisches Können und bestrebt, uns ständig weiter zu entwickeln – Einsatzbereitschaft und Einsatzfähigkeit sind Richtschnur unseres Handelns; • bestehen im Einsatz alleine oder im Team mit Tapferkeit, Mut, Kompetenz und Besonnenheit; • leben Toleranz und Kameradschaft, sind offen für Neues und achten fremde Kulturen; 335 Leutnantsbuch • sind bescheiden, selbstkritisch und wollen Vorbild sein. Wir bekennen uns zu unserer Tradition und zu unserem militärischen Brauchtum. 336 Leutnantsbuch Namenspatron des 79. Offizieranwärterjahrgang des Heeres Dr. Ferdinand Maria von Senger und Etterlin Dr. Ferdinand Maria von Senger und Etterlin wurde am 8. Juni 1923 in Tübingen als Sohn des späteren Generals der Panzertruppe Fridolin von Senger und Etterlin (1891–1963) und seiner Frau Hilda Margarethe, Tochter des preußischen Generalleutnants Friedrich Wilhelm von Kracht geboren. Er entstammte einer katholischen Familie aus Oberfranken, die im 17. Jahrhundert in den Reichsadelsstand erhoben wurde und sich im Südwesten Deutschlands niederließ 1. Nach seinem Abitur an einem humanistischen Gymnasium trat von Senger und Etterlin im Oktober 1940 als Offizieranwärter beim Ersatztruppenteil des Kavallerie-Regiments Nr. 3 in Göttingen ein 2. Nach der Offizierausbildung wurde er als Leutnant und Schwadronführer in das Panzerregiment 24 unter Oberstleutnant von Bassewitz versetzt, um an der Ostfront eingesetzt zu werden. Im Herbst 1942 kämpfte die 24. Panzerdivision im Raum Stalingrad, wo er schwerverwundet aus dem Kessel geflogen wurde. Nach der Neuaufstellung der Division ging es im Oktober 1943 erneut an die Ostfront. Als Regimentsadjutant und Kompaniechef erlebte er die Rückzugskämpfe zum Bug und die Abwehrschlacht zwischen San und Weichsel. Im Spätsommer 1944 wurde er zum achten Mal verwundet und verlor seinen rechten Arm. Ende 1944 wurde der mit dem Deutschen Kreuz in Gold, dem Panzervernichtungs1 Deutsches Adelsarchiv (Hrsg.): Genealogisches Handbuch des Adels. Adelige Häuser B XIV, Limburg/Lahn 1981, S. 482f. 2 Sein Vater war bis Ende 1939 Kommandeur dieses Regiments. 337 Leutnantsbuch abzeichen und der Silbernen Nahkampfspange ausgezeichnete und frisch beförderte Rittmeister persönlicher Adjutant des Inspekteurs der Panzertruppen, General Leo Frhr. Geyr von Schweppenburg im OKH. Zusammen mit Teilen des Stabes geriet von Senger und Etterlin kurzzeitig in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Bereits im Herbst 1945 konnte von Senger und Etterlin in seiner alten Garnisonstadt Göttingen das Studium der Rechtswissenschaften aufnehmen. Seine Studien setzte er bis 1948 zeitweise in Zürich und Oxford fort. Im März 1946 heiratete von Senger und Etterlin die ebenfalls 1923 geborene Ebba von Keudell. Anfang der 1950er Jahre absolvierte er seine zweite juristische Staatsprüfung in Hannover und wurde mit der Arbeit „Der Parteienstaat: Ein Vergleich zwischen Weimarer Reichsverfassung und Bonner Grundgesetz“ promoviert. Danach schlug er die Beamtenlaufbahn im neugeschaffenen Bundesamt für Verfassungschutz, das dem Bundesinnenministerium unterstand, ein. Im März 1956 ließ er sich als Panzeroffizier reaktivieren. Über seinen Vater, der sowohl in der Expertengruppe in Himmerod als auch im Personalgutachterausschuss wirkte, war er bestens über die neuen Streitkräfteplanungen informiert. Aufgrund seiner guten Russischkenntnisse wurde er zuerst im Referat „Grundsatzfragen des Militärischen Nachrichtenwesens und Fremde Streitkräfte Ost“ als Hilfsreferent eingesetzt. 1959/60 nahm er am 3. Generalstabslehrgang teil und wurde danach G3-Stabsoffizier für Ausbildung, Führung und Organisation der Panzerlehrbrigade 9 in Munster. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit war die Erprobung des neuen Kampfpanzers Leopard 1. Bevor er 1964 Kommandeur des Panzerlehrbataillons 94 wurde, beschäftigte er sich in der Studiengruppe des Heeres an der Führungsakademie mit Fragen der Nukleartaktik und der Heeresplanung. 1967 absolvierte er einen Lehrgang am NATO-Defence-College in 338 Leutnantsbuch Rom, um danach bis 1969 als G3-Stabsoffizier bei der NORTHAG in Mönchengladbach verwendet zu werden. Im Oktober 1969 wurde Oberst Dr. von Senger und Etterlin dann Kommandeur der Panzerbrigade 20 in Hemer. Bereits nach einem halben Jahr wurde er in den Führungsstab des Heeres versetzt und als Brigadegeneral Leiter der Stabsabteilung VI (Heeresplanung). Im Frühjahr 1972 wurde er als Generalmajor Befehlshaber des Wehrbereichs V in Stuttgart, um zwei Jahre später Kommandeur der 7. Panzerdivision in Unna und im April 1978 als Generalleutnant Kommandierender General des I. Korps zu werden. Nach eineinhalb Jahren in Münster wurde er Nachfolger von General Franz-Joseph Schulze als Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte Europa-Mitte (CINCENT) und General. Im September 1983 wurde er dann in den Ruhestand verabschiedet. Bereits dreieinhalb Jahre später verstarb der Vater von vier Kindern im 64. Lebensjahr. Zeit seines Lebens schrieb der Panzerexperte Fachbücher, darunter die Geschichte der 24. Panzerdivision, und zahlreiche Beiträge für Fachzeitschriften. Er war einer der erfolgreichsten Militärschriftsteller unter den Generalen der Bundeswehr. General a.D. Dr. von Senger und Etterlin erwarb sich große Verdienste bei der Aufstellung und Weiterentwicklung des Heeres, hier vor allem der gepanzerten Truppen, bei der operativen Planung zur Verteidigung Westeuropas und als international anerkannter Panzerexperte. Er galt als hochbefähigter, ideenreicher und schwungvoller Truppenführer. 339 Leutnantsbuch Wo finde ich mehr Die grundlegenden Dokumente für den Dienst in der Bundeswehr müssen von jedem Offizieranwärter gekannt werden. Dazu zählen vor allem das „Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ sowie die Zentrale Dienstvorschrift 10/1 (vom 28.1.2008) „Innere Führung“. Das Weißbuch erläutert die Sicherheitspolitik Deutschlands in ihren strategischen Rahmenbedingungen und in ihren Werten, Interessen und Zielen. Die ZDv 10/1 legt die Konzeption der Inneren Führung fest. Als grundlegende Vorschrift für den Dienst in der Bundeswehr bietet sie eine werteorientierte und praxisnahe Anleitung für erfolgreiches Führen. Die Vorschriftenstellen, Truppen- und Stabsbüchereien sowie die Bibliotheken an den Bildungseinrichtungen der Bundeswehr führen oft sehr reichhaltige Bestände an Fachliteratur, nicht nur zu militärspezifischen Themen. Informieren Sie sich auch über deren Neuanschaffungen. Die folgenden Empfehlungen zum Weiterlesen sind nach einigen zentralen Themenbereichen geordnet, die in enger Beziehung zu wesentlichen Aussagen dieses Buches stehen. Dabei wurden aus der Fülle der vorhandenen Literatur nur Buchtitel zur Vertiefung der Thematik ausgewählt, die als Standardwerke gelten, sich einer guten Lesbarkeit erfreuen und im Regelfall erschwinglich sind. Einige Titel sind leider nur noch über Bibliotheksausleihe oder antiquarisch erhältlich. Lassen Sie sich von den genannten Büchern ansprechen. Sie bilden eine wertvolle, kleine Handbibliothek für die Stunden der Bildung und Betrachtung. 340 Leutnantsbuch Philosophie Kunzmann, P./Burkard, F.-P./Wiedmann, F./Weiß, A.: dtv-Atlas zur Philosophie. Schischkoff, G. (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Weischedel, W.: Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken. Ethik und Lebensführung De officio. Zu den ethischen Herausforderungen des Offizierberufs. (Hrsg. im Auftrag des Evangelischen Militärbischofs vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr). Knigge, A. Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen. Pieper, J.: Das Viergespann. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß. Innere Führung Reeb, H.-J./Többicke: Lexikon Innere Führung. Hartmann, U.: Innere Führung. Erfolge und Defizite der Führungsphilosophie für die Bundeswehr. Schlaffer, R./Schmidt, W. (Hrsg.): Wolf Graf von Baudissin 1907 – 1993. Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. 341 Leutnantsbuch Führungskompetenz Oetting, D. W.: Auftragstaktik. Oetting, D. W.: Motivation und Gefechtswert. Vom Verhalten des Soldaten im Kriege. Spannagel, P.: Von Friedrich II zu Graf Wolf von Baudissin: Betrachtungen der Leitbilder deutscher Offiziere und Ausbilder. Sicherheitspolitik Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hrsg.): Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen. Kompendium zum erweiterten Sicherheitsbegriff. Meyer, E.-Ch./Nelte, K.-M./Schäfer, H.-U.: Wörterbuch zur Sicherheitspolitik. Deutschland in einem veränderten internationalen Umfeld. Münkler, H.: Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie. Tradition und militärisches Brauchtum de Libero, L.: Tradition in Zeiten der Transformation. Zum Traditionsverständnis der Bundeswehr im frühen 21. Jahrhundert. Militärgeschichtliches Forschungsamt (MGFA, Hrsg.): Symbole und Zeremoniell in deutschen Streitkräften vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. 342 Leutnantsbuch Transfeldt, W., Stein, H.-P. (Hrsg.): Wort und Brauch in Heer und Flotte. Militärgeschichte Keegan, J.: Das Gesicht des Krieges. Schieder, Th.: Friedrich der Große. Uhle-Wettler, F.: Höhepunkte und Wendepunkte der deutschen Militärgeschichte. Frieser, K.-H.: Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940. Widerstand Steinbach, P./Tuchel, J.: Lexikon des Widerstandes 1933–1945. Lill, R./Oberreuter, H. (Hrsg.): 20. Juli. Porträts des Widerstands. Militärgeschichtliches Forschungsamt (MGFA, Hrsg.): Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime. Kriegsbriefe und Tagebücher Witkop, P. (Hrsg.): Kriegsbriefe gefallener Studenten. Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden. Mit einem Geleitwort von Franz Josef Strauß. 343 Leutnantsbuch „Ich will raus aus diesem Wahnsinn“. Deutsche Briefe von der Ostfront 1941–1945. Aus sowjetischen Archiven. Mit einem Vorwort von Willy Brandt. Hammer, I./zur Nieden, S. (Hrsg.) Sehr selten habe ich geweint. Briefe und Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg von Menschen aus Berlin. Klepper, J.: Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932–1942. Klemperer, V.: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945. Weitere Klassiker zur Militär- und Kriegsgeschichte Roth, J.: Radetzkymarsch. Lernet-Holenia, A.: Die Standarte. Hasek, J.: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Renn, L.: Adel im Untergang. Renn, L.: Krieg/Nachkrieg. Köppen, E.: Heeresbericht. Remarque, E.M.: Im Westen nichts Neues. Jünger, E.: Das gesamte Frühwerk. Flex, Walter: Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis. Ranke-Graves, R. von: Strich drunter. Lawrence, T.E.: Unter dem Prägestock. Unruh, K.: Langemarck. Legende und Wirklichkeit. Eksteins, M.: Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg. Tuchman, B.: August 1914. Bamm, P.: Die unsichtbare Flagge. Plievier, Th.: Stalingrad. 344 Leutnantsbuch Glossar Kategorisierung der Beiträge Leutnantsbuch 1. Menschenführung 2. Politische Bildung 3. Dienstgestaltung und Ausbildung 4. Informationsarbeit 5. Organisation und Personalführung 6. Fürsorge und Betreuung 7. Vereinbarkeit von Familie und Dienst 8. Seelsorge und Religionsausübung 9. Tod und Verwundung 10. Auftreten des Offiziers zusätzlich wird zwischen Grundbetrieb (GB) und Einsatz (E) unterschieden. Beitrag: Kategorie: Der Bierdeckel Das Zeitspiel Der erste Marsch Der Hinterhalt Der Grünschnabel und der Alte Das Grab Beförderungsappell zum Gefreiten 1,3,5 3,5 1 1,9 X X X 1,5,10 9 X X 1,5 X 1,3 1,5,10 X X Nicht nur der erste Eindruck zählt Der neue Leutnant 345 GB: E: X Leutnantsbuch Beitrag: Kategorie: Ein schöner Tag! Die Ehefrau Hochzeit in Hessen Der Lebensabschnitt Der Pizza Falter Die Feldjägerkontrolle Ein Auftrag zuviel 5,10 X 6,7 1,6,7 4 10 1,10 1,6 X X X X X Der Feuerkampf Das Funkloch Kameradschaft Die Todesnachricht 1,2,3 1,5 1,6 1,6,9 Die etwas andere Patrouille Jointness Der Brief Glauben hilft Friendly Fire Die Truppenpsychologin Im Moor Blauhelme in Sarajevo Mein Spieß Einsatz im OMLT AFG Medien im Einsatz Der kühle Kopf 2,4 4,5 6,7 8 1,8,9 1,6,8 1,5,10 GB: E: X X X X X X X X X X X X 1,3,10 1 X X 1,3,5 3,4 1,6,10 X X X 346 Leutnantsbuch Beitrag: Kategorie: Führen von irgendwo Haar- und Barterlass, Piercing und Tatoos Die Besprechung Die Lehrprobe Beim Handgranatenwerfen Der letzte Flug Die Grußpflicht Auf der Standortschießanlage Fremde Kulturen Soldaten muslimischen Glaubens in der Bw Feuerlöscheinsatz in Griechenland Der militärische Gruß Das Offizierkasino Das Einführungsgespräch Der „Robuste Soldat“ Der Suizid Die Gneisenaukaserne .... lieber spät als nie! Der Anschlag Team „Hotel“ Der Hochwassereinsatz „Dat hann isch verjess ...“ 10 X 1,10 3 1,3 X X X 1,10 7,9 1 X 1,10 2,4,10 X 6,8 X 1,10 4,6 X X 1 3 6,9 2,3 10 1,6,7,9,10 1,10 X X X X X 10 X 3 X 347 GB: E: X X X X X Leutnantsbuch Beitrag: Kategorie: Der Nijmegen-Marsch Auslandsstudium USA „Regen“ Die Veteranen Das Dilemma Der Hindernisparcours Menschenführung im Einsatz Multinationalität bei SFOR Der geeignete Zeitpunkt für Kritik Die Kurzeinweisung Diagnose Krebs Das offene Ohr Die Gruppe in der AGA Soldatenwallfahrt nach Lourdes Als Seelsorger in Afghanistan 1 2,3 5,6 2,4 2,4,10 1 GB: E: X X X X X X 1,3,6,7,9,10 X 2,3,4 X 1 3 9 1,6 X X X X 1,6 X 8 X 8 X 348 Leutnantsbuch Notizen Auf den folgenden Seiten können Sie Ihre eigenen Auffassungen zu Ihrem beruflichen Selbstverständnis als Offizier des deutschen Heeres oder Anmerkungen zu Ihrem persönlichen Werdegang niederschreiben. 349 Leutnantsbuch 350 Leutnantsbuch 351 Leutnantsbuch 352 Leutnantsbuch 353