Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
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David Bartosch „Wissendes Nichtwissen“ oder „gutes Wissen“? David Bartosch „Wissendes Nichtwissen“ oder „gutes Wissen“? Zum philosophischen Denken von Nicolaus Cusanus und Wáng Yángmíng Wilhelm Fink Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf. Umschlagabbildungen: links: Nikolaus Cusanus, Ausschnitt des Stifterbildes auf dem Hochaltar in der Kapelle des St.-Nikolaus-Spitals in Bernkastel-Kues (um 1460). rechts: Wáng Yángmíng, Portrait aus der Mingzeit, genaues Entstehungsjahr und Künstler sind unbekannt. Diese Arbeit wurde unter dem Titel: „‚Wissendes Nichtwissen‘ (docta ignorantia) oder ‚gutes Wissen‘ (liáng zhī 良知)? Eine komparative Studie zum philosophischen Denken von Nicolaus Cusanus (1401-1464) und Wáng Yángmíng 王陽明 (1472-1529)“ von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Oldenburg, Univ., Diss., 2013 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2015 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5847-6 DANKSAGUNG Die vorliegende Studie stellt die überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift dar, die im Herbst 2013 im Fach Philosophie der Fakultät IV für Human- und Gesellschaftswissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angenommen wurde. Mein außerordentlicher Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Johann Kreuzer. Er hat die Arbeit hervorragend betreut und ist mir bereits während des Magisterstudiums ein wertvoller akademischer Lehrer gewesen. Seine wohlwollende Offenheit gegenüber der europäisch-chinesischen Thematik, seine Hinweise zur abendländischen Philosophietradition gleichwie zur transkulturellen Forschung, sein zusätzliches Verständnis chinesischen Denkens, die gewährten notwendigen Freiheiten im Forschungsverlauf sowie seine, falls erforderlich, immer treffende Kritik waren der Sache äußerst förderlich. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich ebenso meinem Zweitbetreuer Herrn Prof. Dr. Wenchao Li, Inhaber der Leibniz-Stiftungsprofessur an der Leibniz Universität Hannover sowie Arbeitsstellenleiter der Leibniz-Edition in Potsdam. Trotz der Überlänge der Arbeit hat Herr Li die zeitaufwändige Aufgabe auf sich genommen, insbesondere auch die Anteile der Studie zu begutachten, die die Translation und Reflexion der chinesischen Denkinhalte betreffen. Verschiedene Gesprächstreffen in Hannover waren für mich im Forschungsverlauf sehr hilfreich. Die Studie wurde durch ein Promotionsstipendium der Konrad-AdenauerStiftung gefördert. Stellvertretend möchte ich der Leiterin der Abteilung Promotionsförderung Frau Dr. Daniela Tandecki sowie dem Oldenburger Vertrauensdozenten Herrn Prof. Dr. Uwe Meves für die materielle Unterstützung sowie ideelle Förderung meinen tief empfundenen Dank ausdrücken. Ich bedanke ich mich bei der Konrad-Adenauer-Stiftung zudem für Reisekostenzuschüsse, die mir Forschungsaufenthalte in der VR China ermöglichten. Eine weitere Förderung des Dissertationsprojektes durch die Gerda Henkel Stiftung gestattete danach schließlich einen reibungslosen Abschluss der umfangreichen Arbeit. Ein großzügiger Druckkostenzuschuss der Gerda Henkel Stiftung macht es möglich, dass die Studie im vorliegenden Format nun der Öffentlichkeit zugänglich wird. Stellvertretend möchte ich hiermit Frau Dr. Angela Kühnen vom Vorstand der Gerda Henkel Stiftung meinen tief empfundenen Dank gegenüber der Stiftung zum Ausdruck bringen. Mein Dank gilt auch der Universitätsgesellschaft Oldenburg unter Vorsitz von Herrn Michael Wefers: Ein Reisestipendium ermöglichte in der Frühphase der Forschungen eine Tagungsteilnahme in der VR China, die wichtige Zugänge zum chinesischen Diskurs eröffnet hat. 6 DANKSAGUNG In Europa und China erhielt ich mehrfach Gelegenheit, meine Forschungen in etablierten Forschungszirkeln zur Diskussion zu stellen. Für diese freundliche Aufnahme bin ich dankbar. Insbesondere der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte in Bernkastel-Kues an der Mosel danke ich für diverse Tagungen und Möglichkeiten des philosophischen Austausches zum Denken des Nicolaus Cusanus sowie für die Aufgeschlossenheit gegenüber meinem transkulturellen Ansatz. Eine internationale Tagung der Académie du Midi in Alet-les-Bains in Frankreich zu Fragestellungen der philosophischen Begegnung von Europa und Ostasien habe ich ebenfalls in guter Erinnerung. Insbesondere möchte ich meinen chinesischen Freunden für die Ausrichtung diverser internationaler Tagungen zur Philosophie Wáng Yángmíngs aufrichtig Dank sagen – mehr noch aber für ihr immer hilfreiches und freundliches Entgegenkommen bei meinen Arbeitsbesuchen. Vor allem folgenden Institutionen gilt mein Dank: Guìyáng Wáng Yángmíng Yánjiūhuì 贵阳王阳明研究会 (Wáng Yángmíng-Forschungsgesellschaft an der Guìyáng Dàxué 贵阳大学/ Guiyang University in Guìyáng, VR China), Yángmíngxué Yánjiūsuǒ 阳明学 研 究所 (Yángmíng-Forschungsinstitut an der Guìzhōu Dàxué 贵州大 学 / Guizhou University in Guìyáng, VR China), Zhèjiāngshěng Shèhuìkēxuéyuàn 浙江省社会科学院 (Institut für Sozialwissenschaften der Provinz Zhèjiāng in Hángzhōu, VR China), Běijīng Wàiguóyǔ Dàxué 北京外国语大学/Beijing Foreign Studies University (BSFU) sowie Guójì Rúxué Liánhéhuì 国际儒学 联合会/International Confucian Association (ICA) in Běijīng, VR China. Für die Organisation der Promotion bedanke ich mich beim Institut für Philosophie und der Fakultät IV für Human und Geisteswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg – dem schönen Geburtsort des Weltphilosophen Karl Jaspers. Mein persönlicher Dank gilt insbesondere Herrn Timm Behrendt vom Sekretariat des Instituts für Philosophie und Frau Marlies Heepen von der Geschäftsstelle der Fakultät IV. Auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Universitätsbibliothek sowie der Landesbibliothek Oldenburg bedanke ich mich für ihre hervorragende Arbeit. Last not least, möchte ich mich bei Frau Marina Scheuermann und Herrn Andreas Knop sowie bei allen weiteren beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Wilhelm Fink Verlages für die hervorragende Zusammenarbeit bei dieser Publikation bedanken. Ich widme die vorliegende Schrift zwei Menschen: meinem Sohn Beturian, für den europäische und chinesische kulturelle Praxen und Umwelten gleichermaßen seine eigene, im Werden begriffene Kultur ausmachen, sowie meiner Frau Bei Peng, in deren chinesischer Heimatprovinz ich im Jahre 2005 zum ersten Mal auf das Wirken des großen chinesischen Denkers Wáng Yángmíng aufmerksam wurde. David Bartosch Nußloch bei Heidelberg, März 2015 INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG ................................................................................ 11 1 KREATIVITÄT ..................................................................... 25 1.1 Logik der Kreation ............................................................................ 1.1.1 ‚Schöpfer‘ (creator) und ‚Geschöpf‘ (creatura) ...................... 1.1.2 ‚Ewigkeit‘ (aeternitas) und ‚Zeit‘ (tempus) ............................ 1.1.3 ‚Dreieinheit‘ (triunitas) oder ‚Eindreiheit‘ (unitrinitas) ......... Logik der Transformation ................................................................. 1.2.1 Zum ‚Kreativ-Wandelnden‘ (zàohuà) der ‚Dinge‘ (wù) ........ 1.2.2 ‚Bewegung-Ruhe‘ (dòng-jìng) der ‚Wandlung(en)‘ (yì) ........ 1.2.3 Exkurs: Kontingenz oder sinnhafter Zufall? .......................... 1.2 26 26 33 42 68 69 97 115 2 BEWUSSTHEIT UND KREATIVITÄT ....................................... 123 2.1 2.2 Logik des Bewusstseins und der Kreation ........................................ 2.1.1 Zur Sonderstellung des ‚Menschen‘ (homo) .......................... 2.1.2 Zur Logik des ‚Bildes Gottes‘ (imago Dei) ............................ 2.1.3 Zur ‚Schau Gottes‘ (visio Dei) im Vorliegenden ................... Logik des Bewussthabens und der Transformation .......................... 2.2.1 Zur Sonderstellung des ‚Menschen‘ (rén) .............................. 2.2.2 Exkurs: ‚Ordnungsprinzip-Lernen‘ (Lǐxué) ........................... 2.2.3 Zur Position des ‚Herzgeist-Lernens‘ (Xīnxué) ..................... 2.2.4 ‚Sehen‘ (jiàn) als ‚Auswirken‘ (yòng) des ‚Herzgeistes‘ (xīn) 3 GENERATIVITÄT UND KREATIVITÄT .................................... 191 3.1 Logik der Generativität und Kreation ............................................... 3.1.1 Der ‚göttliche Samen‘ (divinus semen) im ‚Leib‘ (corpus).... 3.1.2 ‚Vernunft‘ (intellectus) und Generativität I ............................ 3.1.3 Exkurs: Zum ‚Eros‘ (Ἔρως) des Philosophen........................ Logik der Generativität und Transformation .................................... 3.2.1 ‚Fluidum‘ (qì), ‚Leib‘ (shēn) und ‚Samenkraft‘ (jīng) ........... 3.2.2 Weibliches yīn und männliches yáng ..................................... 3.2.3 Exkurs: Wechsel (biàn) und Kontinuität (tōng) ..................... 3.2 124 124 135 146 156 156 164 173 184 192 193 197 205 212 213 221 229 8 INHALTSVERZEICHNIS 4 INEFFABILITÄT.................................................................... 233 4.1 Kontexte: Frühe Logiken der Ineffabilität ........................................ 4.1.1 Vom ‚unsagbaren Sprechen‘ (ineffabile fari) ......................... 4.1.2 ‚Schweigend und so wissend‘ (mò ér shí) .............................. Differenzen und Affinitäten: Methoden ............................................ 4.2.1 Zur (Nicht-)Negierbarkeit kataphatischer Reden ................... 4.2.2 Zur (Nicht-)Differenzierbarkeit apophatischen Denkens ....... Aussichten: Späte Reden im Schweigen ........................................... 4.3.1 ‚Und nicht ein anderer Name‘ (nec aliud nomen) .................. 4.3.2 ‚Mittels eines Wortes‘ (yī yǔ zhī xià) ..................................... 4.2 4.3 236 237 252 273 273 283 290 290 296 5 BEWUSSTHEIT..................................................................... 301 5.1 Logik der Bewusstheit: komparable Ausgangspunkte ...................... 5.1.1 ‚Geist‘ (mens) und ‚Herzgeist‘ (xīn): (un)bewegte Zentren... 5.1.2 Komparative Metaphorologie der Bewusstheit ...................... Logik des Bewusstseins .................................................................... 5.2.1 Exkurs: ‚Wirkende Vernunft‘ (intellectus agens)................... 5.2.2 Struktur(en) des ‚Geistes‘ (mens)........................................... 5.2.3 ‚Vernunft‘ (intellectus) und Generativität II .......................... Logik des Bewussthabens ................................................................. 5.3.1 Struktur(en) des ‚Herzgeistes‘ (xīn) I ..................................... 5.3.2 ‚Charakterisieren(des)‘ (xìng) und ‚Verdichten‘ (níngjù) ...... 5.3.3 Struktur(en) des ‚Herzgeistes‘ (xīn) II ................................... 5.2 5.3 302 302 317 342 342 351 381 390 390 399 405 6 ERKENNTNIS UND EINSICHT ................................................ 425 6.1 Logik theoretischer Erkenntnis und Einsicht .................................... 6.1.1 ‚Wissendes Nichtwissen‘ (docta ignorantia) .......................... 6.1.2 ‚Genauigkeit‘ (praecisio), ‚Wissen‘ (scientia), ‚Schau‘ (visio) 6.1.3 Exkurs: Zu Kontexten der cusanischen Theorieauffassung ... 6.1.4 Theoretisch-poïetische Erkenntnis und Einsicht .................... Logik situativer Erkenntnis und Einsicht .......................................... 6.2.1 ‚Wissen‘ (zhī) als ‚tätiges Durchlaufen‘ (xíng) ...................... 6.2.2 Zum ‚Untersuchen der Dinge‘ (géwù) ................................... 6.2.3 Exkurs: Zu weiteren Kontexten der yángmíngschen Position 6.2.4 Situativ-poetische Erkenntnis und Einsicht ............................ Das motivierende Moment: Philosophischer Glaube ........................ 6.3.1 Das ‚Licht des Glaubens‘ (lumen fidei) in der Reflexion ...... 6.3.2 ‚Sich selbst glauben‘ (zìxìn) im ‚guten Wissen‘ (liángzhī) .... 6.2 6.3 428 429 467 489 507 520 521 534 557 583 591 591 597 INHALTSVERZEICHNIS 9 7 SELBSTPERFEKTION ............................................................ 601 7.1 Fundierungsebenen: Ideale der Perfektion ........................................ 7.1.1 ‚Sohnschaft Gottes‘ (filiatio Dei) ........................................... 7.1.2 ‚Ein heiliger weiser Mensch werden‘ (wéi shèngrén) ............ Perfektionslogische Metaphorik: Überschneidungen ........................ 7.2.1 Zur Metaphorik des ‚Goldes‘ (aurum vs. jīn) ......................... 7.2.2 Zur Metaphorik des ‚Spiegels‘ (speculum vs. jìng) ............... 7.2 602 603 619 641 641 646 8 MORALITÄT UND LIEBE ...................................................... 657 8.1 Logiken und Übungen der Moralität ................................................. 8.1.1 ‚Lob Gottes‘ (laus Dei) als ‚Übung‘ (exercitium) .................. 8.1.2 Äußerste ‚Mühen‘ (gōngfū) um ‚Menschlichkeit‘ (rén)......... Logiken der Liebe ............................................................................. 8.2.1 ‚Wissen der Liebe‘ (scientia amoris) ...................................... 8.2.2 ‚Liebe von Vater-(und)-Sohn‘ (fù-zǐ zhī ài) ........................... 8.2 9 658 658 679 707 707 729 FAZIT ................................................................................. 743 BIOGRAPHISCHE SYNOPSE............................................................ 763 BIBLIOGRAPHIE ........................................................................... 773 (A) (B) (C) (D) (E) (F) Werke Nicolaus Cusanus’ ................................................................. Werke Wáng Yángmíngs .................................................................. Weitere Primärliteratur ..................................................................... Sekundärliteratur ............................................................................... Lexika, Lexikonartikel, Hilfsmittel ................................................... Bildquellen ........................................................................................ 773 776 777 784 806 808 ABBILDUNGEN............................................................................. 809 GLOSSAR CHINESISCHER AUSDRÜCKE UND NAMEN ...................... 815 INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG Es heißt, Philosophie sei ihre Zeit und ihre Geschichte in Gedanken gefasst.1 Im globalisierten Kontext muss sich das Denken neu (er)finden, ohne dabei zu verflachen oder seine Geschichte(n) zu verlieren. Gewonnenes und Bekanntes will bewahrt und vertieft werden, indem es aus transkulturell-komparativer Perspektive wieder neu sehen gelernt wird. Zugleich geht es darum, außereuropäisches Philosophieren besser verstehen zu lernen. ‚Transkulturell-komparativ‘ bedeutet an dieser Stelle, dass zwei historische Philosophien rekonstruiert und gegenübergestellt werden, deren Traditionen unabhängig voneinander, ausgehend von differenten Ursprüngen, erwuchsen und die seinerzeit noch nicht im Austausch standen. Die gewohnte philosophiehistorische Betrachtung wird um eine Dimension erweitert: Wichtige Aspekte abendländischen Philosophierens werden gezielt mit Betrachtungsweisen der chinesischen Denktradition kontrastiert.2 Hierbei erfolgt eine Fokussierung auf die Philosophien Nicolaus Cusanus’ 3 (1401-1464) und Wáng Yángmíngs4 王陽明 (1472-1529). Jene zählt zu den 1 2 3 4 Vgl. Hegel, GrPR, Vorrede, S. 26. Dem aktuellen Desiderat einer stärkeren Beachtung der chinesischen Philosophietradition ist seitens der gegenwärtigen deutschsprachigen Philosophie noch nicht ausreichend Genüge geleistet worden. Vgl. Wohlfart 2000a u. ders. 2001, S. 150, der kritisiert, dass das Interesse seitens des Faches Philosophie am chinesischen Denken vergleichsweise immer noch viel zu schwach ausgeprägt sei. Vgl. auch die Kritik von Schmidt 2009, S. 9, der eine gravierende Disproportionalität in der wechselseitigen Kenntnisnahme feststellt. Dabei besteht seit der frühen Aufklärung eine europäische Denktradition im Blick auf China. Vgl. Hsia 1974, S. 16 f.: „Wer ist sich bewußt, daß z. B. eine der Triebfedern der europäischen Aufklärung, die Europa erst ‚modern‘ werden ließ, die chinesische Philosophie war?“ Vgl. dazu u. a. die Studien Li 2000; ders. 2011; Renn; Schemmel 2011; Lee 2003. Im 17./18. Jh. haben sich u. a. G. W. Leibniz, Chr. Wolff, G. B. Büllfinger, Voltaire, Cl. A. Helvétius und P. Poivre mit chines ischem Denken beschäftigt. Im 17./18. Jh. stand dabei vornehmlich die konfuzianische Tradition im Mittelpunkt des Interesses. Vgl. z. B. Leibniz, DTh, NovS; vgl. auch Li 2000 sowie Li; Poser (Hgg.) 2000. Vgl. Wolff, OSpp; bzgl. der anderen oben genannten Aufklärer vgl. bereits die Überschau bei Reichwein 1923, S. 96-102. Auch das „Dàodéjīng“, Grundlagenwerk des Daoismus, wurde bereits früh aus philosophischer Sicht wahrgenommen, vgl. Kern, I. 1998, S. 235. Der späte F. W. J. Schelling interessiert sich für daoistisches Denken, vgl. ders., PhM, S. 562 ff., bes. S. 564; zur nachfolgenden Daoismusrezeption im deutschsprachigen Raum vgl. Grasmück 2004, bes. S. 25-28, S. 57-70. Bürgerlich zunächst unter dem Nicolaus Cryfftz (= Krebs) bzw. Krieffts oder Kreves, vgl. Schönberger 1998 (E), o. S. [Internetversion] bekannt, nannte sich unser Philosoph später Nicolaus Cancer; danach kannten ihn italienische Humanisten, vgl. ebd., unter dem Namen Nicolaus Treverensis. Etwa ab 1440 ist der Name ‚Nicolaus Cusanus‘ verbürgt, vgl. ebd. Vorliegend wird der Name ‚Cusanus‘ verwendet. ‚Wáng‘ ist der Familienname, ‚Yángmíng‘ der sogenannte Literatenname, den sich unser Philosoph im 30. Lebensjahr zulegte, vgl. Kern, I. 2010, S. 50. Vgl. auch ebd., Fn. 3: „Im traditionellen China durften Leute außerhalb der eigenen Familie jemanden nicht bei seinem persönlichen Namen [míng] nennen.“ Jener Literatenname ist heute, im Gegensatz zum 12 EINLEITUNG wichtigsten Ereignissen abendländischen Denkens im quattrocento5, bei dieser handelt es sich, etwas mehr als ein halbes Jahrhundert später, um den philosophischen Höhepunkt der Mingzeit im 16. Jahrhundert.6 Vorliegend erfolgt zum ersten Mal eine Gegenüberstellung dieser beiden wichtigen Denkwege.7 Da in beiden Philosophien jeweils vorhergehende Traditionszusammenhänge in äußerst breit gefächertem Maße rezipiert wurden, hat der Vergleich eine exemplarische Funktion hinsichtlich jener Kontexte. Zugleich sind beide Philosophien auch von aktuellem Wert für bestehende Diskussionen, da sie in ihren Ursprungskulturen8 jeweils wieder verstärkt rezipiert werden.9 5 6 7 8 eigentlichen Rufnamen ‚Shǒurén‘ am meisten gebräuchlich. Vor dem sechsten Lebensjahr lautete der Rufname ‚Yún‘. Zu dieser Namensänderung im Kindesalter vgl. Tu 1976, S. 19 ff. Vorliegend wird der Literatenname ‚Yángmíng‘ gebraucht. Zu dieser Epoche vgl. u. a. Meuthen 2006. Vgl. zum gesellschaftlichen Umfeld und allgemeinen Entwicklungstendenzen der Philosophie im 14./15.Jh. auch Wöhler 1990, S. 137-142. Zu dieser Epoche vgl. zum Überblick u. a. Dabringhaus 2006, S. 14-32; vgl. ausführlicher u. a. Mote; Twitchett; Fairbank 1988 und Twitchett; Fairbank 1998. Ein Desiderat besteht diesbezüglich parallel bereits seit Ende des 16. Jhs., seit es im Zuge der jesuitischen Mission zu einem ersten Gedankenaustausch zwischen Europa und China kam. Obwohl beide Philosophien die wichtigsten philosophischen Entwicklungsstände kurz vor dieser ersten geistigen Begegnung Europas und Chinas darstellen, wurden die beiden „heterodoxen“ Denker seinerzeit ausgespart. Davon ausgehend ist bis heute die Reflexion chinesischen Denkens in Europa einseitig geprägt. Um dieses Manko auszugleichen, werden vorliegend Kerngesichtspunkte beider Traditionen speziell am Beispiel cusanischen und yángmíngschen Denkens herausgearbeitet, die auch für den aktuellen transkulturellen Dialog grundlegend sind. Vgl. zur Vernachlässigung der yángmíngschen Philosophie seitens der jesuitischen Missionare u. a. Luh 2013, S. 67. Vgl. auch Kern, I. 1998, S. 279, der bemerkt, dass die Philosophie Yángmíngs erst in Betrachtungen J. Bouvets (1656-1730), also erst während der Qingzeit (1644-1912), während der sie zudem (vornehmlich aus historisch-politischen Gründen) auch in China vernachlässigt wurde, eine zudem bloß eingeschränkte und oberflächliche Beachtung gefunden habe. Es liegt nun an unserer Zeit, diese Fundierungsebenen eines jeweiligen kritischen Denkens, das in Europa und China jeweils unabhängig zu der alles Denken fundierenden Ebene einer Logik der Einheit der Einheit und Differenz vorstößt, zum ersten Mal in nachhaltige Verbindung zu bringen und für das 21. Jh. – ein Jahrhundert, das im maßgeblichen Sinne bereits auch ein chinesisches darstellt – fruchtbar zu machen. (1) Das Wort ‚Kultur‘ kann im objektiven Sinne als Begriff je einer bestimmten Kultur mit einer (personenübergreifenden) Geschichte gebraucht werden. Entsprechend lässt sich von einer Pluralität von (Welt-)Kulturen sprechen. (2) ‚Kultur‘ bedeutet zugleich aber immer auch eine Wirklichkeit, die immer subjektiv bzw. personengebunden ist: Kultur im subjektiven Sinne. Die lebendige Verbindung zwischen dieser Wirklichkeit einer je meinigen und jenem objektivierenden Begriff „unserer“ Kultur ist das intersubjektive Geschehen bzw. die Kommunikation kultureller Praxen. In diesem Sinne hat kein Angehöriger einer bestimmten Kultur (im objektiven Sinne) exakt dieselbe Kultur (im subjektiven Sinne) wie eine andere Person derselben Kultur (im objektiven Sinne). Kulturen im objektiven Sinne können daher als jeweilige Kontinuen subjektiver, mit L. Wittgenstein übertragend gesprochen: „familienähnlicher“ Praxen gedacht werden, wobei vorliegend das jeweilige Dispositiv der Schriftsprache das ausschlaggebende bzw. zentrale verbindende Merkmal ist, um eine Kultur in diesem Sinne objektiv als solche definieren und gegenüber anderen Kulturen abgrenzen zu können. Vgl. ergänzend dazu u. a. Holenstein 2006. (Gemeinschaften ohne Schriftsprache lassen sich aufgrund der jeweils praktizierten Dispositive in den seltensten Fällen objektiv als persistente Kultur abgrenzen. In diesem Fall ließe sich eventuell von einem kulturellen Kontinuum sprechen.) Was in diesem Zusammenhang jeweils das kulturell Eigene für eine Person bedeutet, EINLEITUNG 9 13 hängt davon ab, (1) welche Aspekte bzw. spezifischen Praxen der entsprechenden Kultur (im objektiven Sinne) jeweils (2) auf welche Weise und (3) unter welchen Umständen praktiziert bzw., vgl. auch Sloterdijk 2009, geübt wurden/werden und (4) wie diese Person „ihre“ Kultur davon ausgehend jeweils auffasst bzw. im weiten Sinne erinnert und verinnerlicht hat sowie weiter aneignet. Entsprechend beweglich ist die Kategorie des kulturell Eigenen. (Eine Kultur, nicht als abstrakte Kategorie, sondern als Wirklichkeit genommen, ist immer etwas, das je in und mit je mir in Verbindung mit allen anderen (subjektiven) „Trägern“ dessen lebt und angeeignet werden will, was der objektive Begriff bloß allgemein versammelt. Aus Sicht einer Sozialisation im deutschsprachigen Bereich ist die Philosophie Cusanus’ nicht einfach ein objektiv gegebener Bestandteil je „meiner“ Kultur, der je mir i. S. eines Besitzstandes bereits voraussetzungslos zukäme. Die cusanische Philosophie liegt in diesem Falle aus kultur- und sprachhistorischen Gründen zunächst bloß unbestimmt „näher“ und ist in diesem beweglichen Sinne eben ein Eigenes. Bis zu einem gewissen Grade verschiebbar ist auch das, was die Rede vom kulturell Fremden meint. (Im Zusammenhang des Vorliegenden wird generell davon ausgegangen, dass sich jede/r der Möglichkeit nach von ihrer/seiner bestimmten kulturellen „Primäreinschreibung“ her in andere und daher in subjektiver Hinsicht wiederum nur vorläufig oder bedingt fremd zu nennende kulturelle Praxen einzuarbeiten, einzuleben und hineinzudenken vermag.) Beweglichkeit und Verschiebbarkeit der Perspektiven bedeutet nicht etwa den Verlust bestehender Kulturzugehörigkeit, sondern eine transkulturelle Erweiterung der Reflexion, die auch die Kultivierung des (objektiv und subjektiv) „Eigenen“ (im Sinne kultureller Primärsozialisation) fördert und flexibilisiert. Mit dem kulturell Fremden ist eine Kultur bzw. sind Aspekte einer Kultur (im objektiven Sinne) angesprochen, die nicht der Kultur (im objektiven Sinne) (bzw. im Falle im Falle einer bi- oder multikulturellen Familiensituation: den Kulturen (im objektiven Sinne)) entstammen, auf die hin eine ursprüngliche je meinige Sozialisation erfolgte. Das jeweilige (einzigartige, weil subjektive) Maß der Aneignung kulturell fremder Denkinhalte hängt auch von den persönlichen Umständen, Lebensformen, Aufenthaltsorten usw. ab sowie von Faktoren wie Motivationsstärke, Erkenntnisinteresse usw. Was fremd ist, kann auf dem Wege entsprechender sprachlicher Praxis und Reflexion nach und nach dechiffriert und auf persönliche Weise immer weiter angeeignet, quasi subjektiv inkulturiert werden. Subjektive Kultur wird um eine neue, transkulturelle Dimension erweitert, ohne den Bezug auf ihre Primäreinschreibungen zu verlieren. (Die Voraussetzung für die (subjektive und intersubjektive) Bildung eines solchen, vom kulturellen Proprium her erwachsenden, sich in der Aneignung des Fremden dann im „Hinüberwachsen“ immer weiter vertiefenden transkulturellen Horizontes ist, dass überhaupt der Wille besteht, sich immerfort auf einen/mehrere Bereich(e) einer oder mehrerer fremder Kulturen hinein transkulturell zu erweitern. Was damit gemeint ist, sollte an dieser Stelle klar geworden sein. Eine eigene Metatheorie der Transkulturalität kann hiervon ausgehend entfaltet werden, muss aber an dieser Stelle späteren Arbeiten vorbehalten bleiben.) Eine Vielzahl deutschsprachiger Philosophen setzte sich seit dem 19./20. Jh. mit dem cusanischen Erbe auseinander. Zu bekannten Größen im 20. Jh. zählen u. a. E. Cassirer, K. Jaspers, H. Blumenberg, H.-G. Gadamer. Vgl. zur Cusanus-Rezeption im 20. Jh. Reinhardt, Kl.; Schwaetzer (Hgg.) 2005. Die Philosophie Yángmíngs und der von ihm ausgehenden philosophischen Schulen der Mingzeit wurde im 20. Jh. von herausragenden chinesischen Philosophen und Philosophiehistorikern rezipiert, vgl. dazu Wesołowski 1997, der diesbezüglich auf Liáng Shùmíng zu sprechen kommt sowie Kern, I. 2010, S. XXV, der zudem auf Xióng Shílì, Hè Lín, Táng Jūnyì und Móu Zōngsān verweist. Auch Sūn Yìxiān (Sun Yat-sen), der Begründer der ersten chinesischen Republik, verehrt als Begründer des modernen China, war ein Anhänger yángmíngschen Denkens, vgl. [Kobsew] Кобзев 1983, S. 196; ausführlicher vgl. bei Gregor; Chang 1980. Lee M.-h. 2008, S. 383, weist darauf hin, „[that Liú Shīpéi (18841919)] was the first scholar to locate intellectual resources of modern democracy in [Yángmíng’s] theory of the ‘original knowing’ [vorliegend: ‚gutes Wissen‘ (liángzhī)].“ Zusätzlich zur chinesischen Diskussion ist das ‚Lernen im Sinne Yángmíngs‘ (Yángmíngxué) unter dem Namen Yômeigaku 陽明學 eine wichtige Ausgangsbasis für die moderne japanische Philosophietradition. Hierbei wurde auch eigenständig weitergedacht, vgl. zum Überblick u. a. 14 EINLEITUNG Ein erster Dreh- und Angelpunkt des Vergleiches ergibt sich daher, dass beide Denker ihren philosophischen Entwicklungsweg weit genug vorangetrieben haben, um bei derselben Tiefenschicht einer Selbstreferentialität der Reflexion anzugelangen, die auf komparable Weise jeweils ein Denken des Denkens bedeutet. Diese Tiefenschicht aller möglichen Reflexivität wird vorliegend im Sinne einer transkulturell-komparativen Kategorie als Grundlogik bezeichnet. Hinsichtlich Cusanus und Yángmíng lässt sich Philosophieren als reflektiertes Üben oder übendes Reflektieren auffassen, d. h. als lebenslanges Lernen auf die grundlegenden Voraussetzungen allen Denkens, Handelns und LebenKönnens hin: Jene Grundlogik zu realisieren bedeutet, eine permanent wahre Ansicht, den Grund jeder möglichen Entscheidung oder aller sinnvoll denkbaren Standpunkte, zu reflektieren. Sie betrifft den formalen Charakter von Einheit überhaupt: Diese steht nicht im Gegensatz zum Gegensatz, sondern bedeutet die sich vollziehende Reflexion der Einheit der Einheit und Differenz. Einheit bedeutet keinen einfachen begrifflichen Unterschied zur Differenz, sondern den transbegrifflichen Grund übergreifender Einheit in jeder oder durch jede Unterscheidung selbst. Beide Denker streben auf ihre Weise danach, dies möglichst permanent in allem zu reflektieren, ja förmlich zu leben. Dieser lebendigen Grundlogik [Cuī] 崔 2009, S. 75-99. Auch weitere kulturelle Entwicklungen in Japan stehen im Zusammenhang einer Yángmíng-Rezeption, vgl. dazu [Yú] 余 2009, S. 132-163 sowie Benesch 2009. Auch in Korea ist die Philosophie Yángmíngs rezipiert und weitergedacht worden, vgl. u. a. [Cuī] 崔 2009, S. 45-74; [Yú] 余 2009, S. 164-195. Im 20. Jh. wurde Yángmíng vereinzelt von deutschsprachigen Philosophen bereits wahrgenommen. Ein Blick in den Nachlass A. Schweitzers belegt dessen Interesse für die yángmíngsche Philosophie, vgl. ders., GcD, u. a. S. 272. K. Jaspers hat die Wichtigkeit Yángmíngs richtig eingeschätzt, vgl. Jaspers, GP, S. 185. Im Rahmen der philosophiehistorischen Grundlagenforschung des Sinologen A. Forke wurden bereits Inhalte des yángmíngschen Denkens besprochen, vgl. Forke 1964c, S. 380399. Zum 21. Jh.: Zur cusanischen Philosophie wird im deutschsprachigen Bereich ein vertiefter Diskurs geführt. Wichtige Beiträger des Faches Philosophie sind z. B. W. Beierwaltes, K. Flasch, J. Kreuzer, H. Schwaetzer u. v. a. Vgl. Reinhardt, Kl. 2004, S. 9: „Das Werk des [Cusanus] erweist sich sechshundert Jahre nach seiner Geburt (1401-2001) lebendiger denn je. Zwar wurde es […] immer wieder unter den verschiedensten Rücksichten studiert; doch ist der Reichtum seiner Gedanken noch keineswegs ausgeschöpft.“ Dieser Diskurs ist in einen weltweiten Cusanus-Diskurs eingebettet. Analog werden in China, im koreanischen und im japanischen Bereich Vertiefungsdiskurse zur Philosophie Yángmíngs geführt. Vgl. dazu Peng 2003, der die bis dahin grundlegenden Forschungen zusammenschaut, vor deren Hintergrund sich die aktuellen Diskussionen entwickelt haben. Aktuell verbindet sich die chinesische Diskussion mit Namen wie Dù Wéimíng, Chén Lái, Yáng Guóróng u. a. Zugleich ist auch hier die Forschung zunehmend internationalisiert, vgl. [Yú] 余 2009. Besonders weit ist die Erforschung der yángmíngschen Philosophie im anglophonen Bereich vorangeschritten, vgl. u. a. die bibliographisch angelegte Zusammenschau in ebd., S. 196-205. Zum russischen Diskurs, vgl. entsprechend ebd., S. 205-212. Seit einigen Jahren wird vice versa auch in der VR China die Philosophie Cusanus’ wahrgenommen, vgl. dazu Yang, H. 2008. Im deutschsprachigen Raum ist man nun seitens des Faches Philosophie (wieder) auf Yángmíng aufmerksam geworden: Li 2000 geht im Rahmen seiner Darstellung auf die Philosophie Yángmíngs ein. Vgl. die umfangreiche Studie von Kern, I. 2010 sowie auch bereits ders. 1998; vgl. auch erste Bemühungen in Bartosch 2008; ders. 2009a; ders. 2009b; ders. 2010a; ders. 2011; ders. 2013, die wiederum aus komparativer Perspektive im Zeichen dieses Anfanges stehen. EINLEITUNG 15 möglichst in allem Denken und Handeln zu folgen, bedeutet den permanenten, energischen Vollzug einer sich in der Nicht-Abspaltung haltenden (offenen) Selbstreferentialität, in welcher alle Gegenstände und Widerfahrnisse einer abgrenzenden Reflexivität frei geführt und bewahrheitet werden, ohne die nun bewusste Evidenz ihres unbegrenzten Grundes (in eine zu vermeidende Abspaltung des Grundes) zu verlassen. Cusanus steht dabei in der antiken mittelmeerischen und abendländischen Philosophietradition. Johann Kreuzer hat in diesem Kontext auf eine Strömung10 hingewiesen, die „[…] seit Proklos und Pseudo-Dionysios Areopagita über Johannes Scottus Eriugena, Eckhart von Hochheim und Nikolaus von Kues in die Neuzeit tradiert wurde.“ 11 Alle diese haben die Grundlogik erfasst. Cusanus geht es vor diesem Hintergrund um ein philosophisch-reflexives, weiterentwickeltes Verständnis einer ‚Sohnschaft Gottes‘ (filiatio Dei). Analog hat Yángmíng ausgehend von konfuzianischen12 und daoistischen13 Motiven, beeinflusst vom Chán 禪 -Buddhismus 14 sowie vermittelt über den Neokonfuzianismus15 der Songzeit (960-1279) in der Mingzeit (1368-1644)16 10 11 12 13 14 15 Vgl. z. B. Scharfstein, 1998, S. 1, der ‚philosophische Tradition‘ zunächst als eine Verkettung von Denkern definiert, deren einzelne Glieder ihre Gedanken jeweils auf ihre Vorgänger bezögen und so eine zusammenhängende Übertragung ergäben. Eine Tradition im Ganzen, so Scharfstein, sei aus Subtraditionen aufgebaut; es handle sich aber um eine Tradition, weil alle gemeinsame Quellen und Denkweisen teilten und sich in wechselseitiger Beeinflussung entwickelten. Traditionen, so Scharfstein weiter, seien fortschrittlich, insofern sie sich in zunehmender Detailliertheit und Dichte entwickeln würden. Kreuzer 2003, S. 128. Mit Chang, C. 1963, S. 17: „A comprehensive picture of Confucianism through the ages may be derived from its four periods: (1) Confucianism as one of the many rivals in the age of the ‘hundred schools’; (2) Confucianism in the former Han Dynasty as the most privileged and authoritative of all ‘schools’; Confucianism as eclipsed by Buddhism and [D]aoism; (4) Confucianism reborn, or the renaissance of Confucianism, known as Neo-Confucianism […].“ Vgl. dazu die Ausführungen in ebd., S. 18-29. Zur weiteren Einführung zum Konfuzianismus und Neokonfuzianismus vgl. u. a. einschlägige Einführungen zur chinesischen Philosophiegeschichte bei Fung 1997 sowie in Forke 1964a; ders. 1964b; ders. 1964c; vgl. davon ausgehend u. a. auch Billington 1997, S. 118-133; Moritz, R.; Lee (Hgg.) 1998; Chow; Ng; Henderson (Hgg.) 1999; Huang S.-c. 1999; Slingerland 2009; Chong 2009; Liu S.-h. 2009 sowie überhaupt die einschlägigen Forschungsarbeiten von Wing-tsit Chan, William Theodore de Bary und Tu Wei-ming; im Sinne eines allgemeiner gehaltenen Vergleiches zum Christentum vgl. Ching 1977. Zum Daoismus einführend vgl. u. a. die entsprechenden Stellen in Forke 1964a; ders. 1964b; ders. 1964c; Fung 1997; vgl. spezieller u. a. Billington 1997, S. 85-106; Wohlfart 2001; Möller, H.-G. 2001; Liu, X. 2009; Shen 2009; Chan, A. K. L. 2009, vgl. auch die kurze Synopse in Luh 2013, S. 109-112. Vgl. einführend zur buddhistischen Philosophie in China u. a. Forke 1964b, bes. S. 186-196; Chang G. C. C. 1986; 1993; Billington 1997, S 43-84; Li 1999; Lai, W. 2009; auch die kurze Synopse in Luh 2013, S. 112 ff. Eine tabellarische Übersicht in Chang, C. 1963, S. 80-83, vermittelt grundlegende Zusammenhänge der Übertragung des Buddhismus nach China. Hierbei handelt es sich um eine Bezeichnung der westlichen Geschichtsschreibung der chinesischen Philosophie. Sie verdeckt auf den ersten Blick, dass die damit versammelten, konkurrierenden Schulströmungen, obzwar im Kern einer konfuzianischen Grundhaltung folgend, methodisch und inhaltlich auch vom Buddhismus und Daoismus beeinflusst wurden. 16 EINLEITUNG die (Selbst-)Reflexion in der Form einer durchgängigen Einheit der Einheit und Differenz vorangetrieben. Er verfolgt vor dem Hintergrund des chinesischen Erbes einen Denkweg, der dem cusanischen zwar nicht gleich, aber transkulturell vergleichsfähig ist. Yángmíng geht es mutatis mutandis um aktive Transformation zum ‚heiligen weisen Menschen‘ (shèngrén 聖人) auf philosophisch reflektierter Basis. In beiden Fällen besteht ein Anliegen, das permanente kreative Begrenzen und Fokussieren in allem Differenzieren selbst – oder anders gesagt: den Grund in allem Abgrenzen, der selbst permanent unbegrenzt bleibt, möglichst ununterbrochen in den „Blick“ der Selbstreflexivität zu bekommen, d. h. auf, in und für sich zurückbezogen, aus sich selbst heraus zu reflektieren – ohne diesen Grund selbst zu objektivieren.17 Primär geht es um selbstreferentielle Einsicht in ihrer reflexiven Wirklichkeit, die nicht in einem objektivierenden Sinne wie ein Gegenstand bewiesen werden kann:18 Es geht vielmehr darüber hinaus primär um den denkerischen Aufweis19 dessen, was auch jedes objektivierende Denken und Beweisen selbst voraussetzt. Die grundlogische Form ist, was zu zeigen sein wird, für den Vergleichsfall cusanischen und yángmíngschen Denkens transkulturell gültig und stellt das primäre tertium comparationis dar. Vorliegend wird ihr in beiden Philosophien nachgegangen, indem ihr Modus Operandi offengelegt wird. Die Fragen lauten: Welche inhaltlichen Affinitäten und Differenzen beider Philosophien sind gegeben? Wie verleihen beide Philosophen dabei ihrem Anliegen einer Hinführung auf größtmögliche Selbstreflexivität/Selbstreferentialität der Reflexivität bzw. des Denkens Ausdruck? 16 17 18 19 Vgl. Chang, Y.-c. 1975, S.191; Kern, I. 2010, S.68. Die Philosophie der vorhergehenden und zeitgenössischen Mingdynastie war äußerst vielfältig und kreativ – in dieser Hinsicht vergleichbar mit der geistigen Umwelt Cusanus’. Viele Konfuzianer hatten sich seinerzeit vom Staatsdienst ferngehalten, vgl. u. a. Ching 1976, S. XXI f. Oftmals auf dem Land ansässig, pflegten viele von ihnen ausgiebige philosophische Diskurse. Vgl. Forke 1964c, S. 306-398. Vgl. auch die Übersicht in Ching 1976, S. 262. Zum cusanischen Denken hält dazu bereits Pöppel 1956, S. 108 fest: „Wer den Weg des Gottsuchens betritt, ist so lange auf dem ‚Abweg‘, solange er ‚etwas‘ zu erkennen sucht [i. O.]. [vgl. auch i. O. De vis. (h VI), cap. VI, n. 20, S. 22, lin. 8 ff.: „Qui igitur ad videndum faciem tuam pergit, quamdiu aliquid concipit, longe a facie tua abest.“] Gott darf ihm nicht in der Weise eines ‚Etwas‘, eines bestimmten gegenständlichen Inhalts, Problem sein, nicht eine ‚Aufgabe‘ unter ‚anderen‘.“ Vgl. Wittgenstein, PB, § 189, S. 233: „Ein Beweis beweist, was er beweist, und nicht mehr.“ Zur Rede vom trans-definitorischen, siehe vorliegend, Kap. 4, Aufweis des Grundes beweisenden Denkens vgl. in übertragender Weise u. a. Scheler, VEw, S. 546: „Unter ‚Aufweis‘ […] versteht man ein […] Zeigen von Etwas, das noch nicht gefunden ist. [i. O.] […] Es kann ein Aufweis hierbei durchaus so beschaffen sein, daß er seinerseits in seinem Gange vermittelndes Denken, auch mancherlei Schließen enthält. Das Ganze aber des Prozesses, den man ‚Aufweis‘ nennt, hat doch nur dieselbe Bedeutung, wie ein Zeigestab mit dem wir auf etwas hinzeigen, sehen machen, damit es der andere besser sehe oder überhaupt sehe.“ Vgl. zum philosophischen Gebrauch des Wortes ‚Aufweis‘ in familienähnlicher Weise auch Wittgenstein, TLP, 4.121: „Der Satz zeigt [i.O.] die logische Form der Wirklichkeit. Er weist sie auf.“ EINLEITUNG 17 Zum zweiten Ausgangspunkt des Vergleiches: Jene Rekursion der Reflexion erfolgt bei Cusanus und Yángmíng immer konkret problembezogen20. Dabei kommen in beiden Philosophien, kulturübergreifend, dieselben philosophischen Grundproblematiken zum Tragen. Vor diesem versammelnden Hintergrund werden im Vorliegenden Affinitäten, mehr aber inhaltliche Differenzen eruiert. 21 Jene Analogizität 22 der philosophischen Problemhorizonte, ist ein weiteres wichtiges Standbein der Vergleichsfähigkeit der jeweiligen verhandelten Sichtweisen; sie bedeutet eine komparativ einzulösende transkulturellanalytische Permeabilität23 der cusanischen und yángmíngschen Reflexionen.24 20 21 22 23 24 Letzteres ist ein Grundcharakteristikum von Philosophie, vgl. auch bereits Liat 1953, S. 69. Vgl. auch Elvin 2005, S. XXXII: „From a historian’s point of view, at least, different systems of thought and practice have different behaviours and capacities for particular types of action, and distinguishing between them is the essence of his work, just as a biologist distinguishes between species and their behaviours.“ Speziell im Vorliegenden war es ein Anliegen, dabei eine angemessene Balance zwischen dem Nachweis einer Komparabilität sowie der Feststellung inhaltlicher Differenzen zu erreichen. Vgl. auch Wohlfart 2000b, S. 85, der im Ausgang von L. Wittgensteins Rede von „Familienähnlichkeit“ (mit demselben über denselben hinausgehend) bemerkt, dass „die Analogie [i. O.], die Entsprechung als Modus der interkulturellen Kommunikation zu erwägen [wäre]. […] Familien(un)ähnlichkeit heißt: Analogie, Entsprechung, Entsprechung heißt: Identität in der Differenz und Differenz in der Identität. Wie gesagt: die Sprache ist eine Familie entsprechender Sprachspiele, so wie das (globale) Ethos eine Familie analoger ethoi ist, d. h. analoger ethischer ‚Gewohnheiten‘ bzw. ‚Wohnsitze‘.“ Die Permeabilität der Problemhorizonte bedeutet weiteres komparatives Medium. Diesbezüglich lässt sich von W. Benjamin her im übertragenden Sinne festhalten, vgl. Walter 1999, S. 219: „Das Medium kann nicht Durchbrochen [i. O.] werden wie die Schranke, vielmehr bricht es [i. O.] das durch es Hindurchgehende. Genauso erlaubt die ‚Arkade‘([aus: W. Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“] IV, 19) dem Blick, sie zu durchdringen und stellt ihm doch ein gewisses Hindernis entgegen, trennt zwei Seiten voneinander. [i. O. Abs.] Anders als die Mauer [siehe vorliegend, S. 23, Fn. 35] ist die Arkade ein Bild für Trennendes und Durchlassendes zugleich. […] [Hier besteht eine] Harmonie […], die gerade durch die Distanz zustandekommt. Die Sphären (das heißt: die Bahnen der Gestirne) berühren einander nicht. Dennoch stehen sie in einem Zusammenhang, der als Sternbild erfahrbar ist.“ Vgl. ergänzend Wohlfart 1998b, S. 281 f., der in diesem Forschungsfeld vor zwei Gefahren warnt: „The first danger is the rash identification of the foreign with the familiar. The danger of this ‘let’s come together’ mentality consists in embracing the foreign in such effusive philosophical xenophilia that they suffocate. To be able to agree and disagree, to converge and diverge – each act necessitates the other. The motto of comparative studies should be the words from Shakespeare’s ‘King Lear’: ‘I’ll teach you differences’. We need more tolerance of difference. It’s necessary to compare: that means to work out the differences and problems inherent in any East-West meeting; not to support rash solutions. The philosopher’s job is to protect questions from quick answers. [i. O. Abs.] The second danger is the opposite, that of overemphasizing the difference, the contradictions between the foreign-as-alien and the familiar. Here, doubtless, the even greater danger of philosophical xenophobia dwells, preventing not only every embrace of intellectual intercourse, which can be very fruitful – but even every ‘copulation’. In this respect, reflection on what is held in common can be helpful. [i. O. Abs.] In short, it is a question of pursuing the critical path between an overemphasis on identification and an overemphasis on difference. This path, if I see it clearly, leads to what I would like to call identity in difference (difference in identity), or correspondence.“ 18 EINLEITUNG Die besagten Problemhorizonte lassen sich, fragend, wie folgt umreißen: (1) Wie lässt sich allumfassend bedingende Kreativität25 charakterisieren? Wie ist der Modus ihrer Wirkweise zu reflektieren? Wie steht sie in Beziehung zu dem, was sie bedingt, wie zum Menschen, wie zur Welt im Ganzen? (2) Wie sind vor diesem Hintergrund die Struktur(en) der Bewusstheit zu denken, welche dies zu reflektieren vermag? Wie ist die bewusste Selbstreferentialität aufzufassen, die sich dergestalt zu denken, zu objektivieren, zu modellieren vermag? (3) Welcher Stellenwert und welche Funktion sind menschlicher Generativität (Geschlechtlichkeit, Fortzeugung und familiärer Lebensstruktur) im Zusammenhang dessen einzuräumen, was im erst- und zweitgenannten Problemhorizont jeweils reflektiert wird? (4) Wie ist zu verfahren, um jene allumfassend bedingende Kreativität, deren unbegrenzte Wirklichkeit selbst auch noch die reflexive Rede von ihr selbst ist, und die somit (begrifflich) ineffabel bleibt, zur Entsprechung zu bringen? (5) Was ist wahre Erkenntnis und wie ist diese zu erlangen? (6) Was bedeutet Selbstperfektion und woran ist diese auszurichten? (7) Was bedeutet gutes Handeln und wie ist dieses zu realisieren? Was steht dem entgegen? Woran sollen wir uns in unserem Handeln orientieren? (8) Wie ist eine allgemeine Menschenliebe philosophisch zu begründen? Was ist ihr Ausgangspunkt? Woran soll man sich orientieren? Zur reflexionsbegrifflichen Unterscheidung dieser Problemhorizonte untereinander sind einige komparative Kategorien einzuführen, Zitat Robert Cummings Neville: Der erste logische Schritt eines Vergleichs ist […] die Identifizierung einer [oder mehrerer] komparative[r] Kategorie[n]. Sie [müssen] vage und logisch unbestimmt im Blick auf das bleiben, was durch sie definiert oder spezifiziert werden soll. ‚Logische Unbestimmtheit‘ – ein Begriff der erstmals durch Charles S. Peirce im Kontext komparativer Wissenschaften analysiert wurde – bedeutet, dass eine komparative Kategorie in Vergleichen inkompatible Anwendungen gleichberechtigt zulassen kann, denn das argumentationslogische Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch gilt nicht für das, was ‚logisch unbestimmt‘ bleibt. So kann z. B. ‚Gott‘ als komparative Kategorie in anthropomorphen Vorstellungen oder im Begriff des actus purus wie bei Thomas von Aquin oder als Seinsgrund bei Paul Tillich konzeptualisiert sein. Diese Konzepte scheinen sich zu widersprechen, können jedoch der Kategorie eines Gottesbegriffes zugeordnet werden. Die [komparative] Kategorie ‚Gott‘ ist […] dann besonders geeignet, wenn sie [im Sinne des obigen Fallbeispiels] ermöglicht, die genannten wie auch andere theistische Theorien als stimmige und vorurteilsfreie Gottesbegriffe zu erfassen.26 Diesen Sinn von ‚komparative Kategorie‘ gilt es auf die vorliegende transkulturelle Vergleichsperspektive und den Gebrauch der folgenden acht komparativen Reflexionsbegriffe zu übertragen. Sie stehen jeweils für die entsprechenden permeablen Problemhorizonte in den Philosophien Cusanus’ und Yángmíngs: 25 26 Oder im übertragenden Sinne mit einem Kunstwort J. W. v. Goethes: „allfältige“ Kreativität. Neville 2009, S. 37 f. EINLEITUNG 19 (1) allumfassend bedingende Kreativität, (2) Struktur(en) von Bewusstheit, (3) menschliche Generativität, (4) Ineffabilität, (5) Erkenntnis und Einsicht, (6) Selbstperfektion, (7) Moralität, (8) Liebe. Diese Problemhorizonte bezeichnen die inhaltliche Reflexionsbasis, gleichsam das Material oder die inhaltliche Folie, auf deren Basis beide Philosophen jeweils die Form eines grundlogisch strukturierten Denkens entfalten. Beide entwickeln entsprechend jeweils vergleichsfähig (1) eine Logik der Kreativität, (2) eine Logik der Bewusstheit, (3) eine Logik der Generativität, (4) eine Logik der Ineffabilität, (5) eine Logik der Erkenntnis und Einsicht, (6) eine Logik der Selbstperfektion, (7) eine Logik der Moralität und (8) eine Logik der Liebe. In einem zweiten logischen Schritt des Vergleichs ändert sich in dieser Zusammensetzung damit der formale Status der einfachen komparativen Kategorien von vage und unbestimmt (im obigen Sinne Nevilles) hin zu einer (höherwertigen) logischen Überbestimmtheit: Das formal Verbindende der Permeabilität der Problemhorizonte, das über die inhaltlich unbestimmte Analogizität von Problemstellungen hinausreicht, besteht darin, dass sowohl bei Cusanus als auch bei Yángmíng im Kontext jedes Problemhorizontes jeweils das formale Muster eines Verständnisses von Einheit als Einheit der Einheit und Differenz als Fundierendes der Reflexion deutlich wird. Dies verbindet die entsprechenden Inhalte bei Cusanus und Yángmíng über die Analogizität der Grundproblematiken hinaus aufgrund jener (grund)logischen Überbestimmtheit27 in Richtung auf eine Selbstreferentialität der Reflexivität: auf ein Gewahren des Grundes im (objektivierenden) Denken hin – ohne dass dieser Grund objektiviert bzw. objektivierbar würde. Die Reflexionskategorien verlieren dadurch ihre einfache Vagheit, ohne ihrer Permeabilität für den transkulturellen Vergleich verlustig zu gehen. Wichtige Fragestellungen hinsichtlich beider Philosophien lauten: Welche zentralen philosophischen Wendungen werden jeweils auf welche Weise hinsichtlich der einzelnen Problemhorizonte gebraucht?28 Welche Funktion erfüllen sie in diesen Kontexten jeweils? Sind bzw. inwiefern sind inhaltliche Affinitäten und Differenzen im Gebrauch der zentralen Termini zu ersehen? Die Frage nach inhaltlichen Affinitäten und Differenzen betrifft alle acht oben genannten Problemhorizonte. Welche traditionellen Einflusssphären sind gegeben? Auf welche Weise wird in den beiden Philosophien hinsichtlich jedes der genannten acht Problemhorizonte die Grundlogik ausgedrückt? Wie sind bei jedem der beiden Denker die Grundproblematiken entsprechend mit27 28 Das Erfassen der Einheit als Einheit der Einheit und Differenz, oder anders gesagt: der selbstreflexiven Form der Reflexion, welche dieser Satz besagt, bedeutet die Reflexion/Reflexivität der Form der Voraussetzung des Denkens als eines bestimmenden Denkens, also eines Denkens in distinkten bzw. begrifflichen Einheiten. Auch hierin liegt neben Grundlogik und komparablen Problembezogenheiten also ein weiteres Merkmal hinsichtlich der Definition eines transkulturellen Philosophie(n)begriffs. Vgl. auch bereits Liat 1953, S. 70: „Philosophy [as such] has its own technical language.“ 20 EINLEITUNG einander verbunden? Welche Schwerpunktsetzungen bestehen jeweils? Welche Differenzen sind diesbezüglich zwischen Cusanus und Yángmíng zu ersehen? Wie stehen diese Schwerpunktsetzungen im Zusammenhang mit den jeweiligen zentralen philosophischen Wortgebrauchsweisen/Bedeutungen? Der Arbeit unterliegen implizit eine doppelte Schwerpunktsetzung sowie eine diese beiden Schwerpunkte zusätzlich überlagernde Dreiergliederung. Die erste Schwerpunktsetzung geht vom Problemhorizont allumfassender Kreativität im Denken Cusanus’ und Yángmíngs aus. Sie wird in den Kapiteln 1 bis 4 entfaltet, indem ausgehend von Analysen zum jeweiligen kreativitätslogischen Denken in diesem Kontext dann jeweilige Korrelationen mit den Problemhorizonten der Bewusstheit, der Generativität und der Ineffabilität analysiert werden. Die zweite bündelnde Thematik bot der Problemhorizont der Selbstperfektion. Damit hängt bereits die Erörterung der jeweiligen Reflexionen des Problemhorizontes der Bewusstheit bei Cusanus und Yángmíng in Kapitel 5 zusammen: Ein modellhaftes Verständnis der Strukturen von Bewusstheit ist eine philosophisch fundierende Voraussetzung der Arbeit am ‚Geist selbst‘ (mens ipsa) bzw. am ‚wahren Selbst‘ (zhēn jǐ). Auch die jeweiligen Positionen zu den Problemhorizonten der Erkenntnis und Einsicht sowie der Moralität und Liebe sind jeweils von einem reflektierten Streben nach Selbstvervollkommnung her motiviert. Jene überlagernde implizite Dreiergliederung betrifft (1) die Kapitel 1 bis 3 (Kreativität, Bewusstheit, Generativität), (2) 4 bis 6 (Ineffabilität, Bewusstheit, Erkenntnis/Einsicht) sowie (3) 7 und 8 (Selbstperfektion, Moralität, Liebe), die engere Sinnzusammenhänge darstellen. In Kapitel 4 (Ineffabilität) überschneiden sich im Blick auf jene oben besagte erste Schwerpunktsetzung wiederum (1) und (2), denn diese Thematik spielt in beide implizite Segmente mit hinein. Im Kapitel 7 (Selbstperfektion) überschneiden sich analog die Segmente (2) und (3), denn die Übung der Selbstperfektion betrifft die Thematiken der Strukturen von Bewusstheit, von Erkenntnis und Einsicht sowie von Moralität und Einsicht. Jene Setzung eines doppelten Schwerpunktes erfolgt im Blick auf eine abweichende Gewichtung besagter acht Problemhorizonte bei beiden Philosophen. Eine Reflexion allumfassender Kreativität sowie deren entsprechende grundlogische Fundierung spielen bei Cusanus eine stärker gewichtete Rolle als bei Yángmíng. Vice versa wird die Thematik der Selbstperfektion, obschon sie auch hier relevant ist, bei Cusanus weniger hervorgehoben als bei Yángmíng. Diese unterschiedliche Gewichtung korreliert mit entsprechenden basalen Ausgangsunterschieden beider Traditionen. Damit zusammenhängend ist sie auch auf systematisch immanente Gründe speziell bei Cusanus und Yángmíng zurückzuführen, die die vorliegende Studie offenlegt. In jedem der acht Hauptkapitel der Untersuchung wird zunächst immer auf die entsprechende Position Cusanus’ eingegangen, danach erfolgt dann die Be- EINLEITUNG 21 sprechung der entsprechenden yángmíngschen Position. Dies bedeutet n. b. keine wertende Rangfolge 29 , sondern den geordneten und methodisch absichernden Zugang vom abendländischen Denkhorizont her auf eine Aneignung der entsprechenden chinesischen Positionen bei Yángmíng hin. Am Anfang steht eine Analyse der Reflexionen des Problemhorizontes bzw. der Logik der Kreativität bei Cusanus und Yángmíng. Damit ist ein Einstieg gegeben, der zugleich alle weiteren Problemfelder implizit berührt. Im Verlaufe des Hauptkapitels 1 wird im Hinblick auf diesen Problemhorizonte eine inhaltliche Differenz aufgezeigt, die mit allen weiteren inhaltlichen Unterschieden in Verbindung steht: der Unterschied zwischen einer cusanischen Logik der Kreation sowie einer yángmíngschen Logik der Transformation. Die Analyse einer jeweiligen Verbindung der Problemfelder allumfassender Kreativität sowie einer Bewusstheit derselben ist das Thema von Hauptkapitel 2. Die Reflexion dieses Zusammenhanges spielt analog in beiden Philosophien eine wichtige Rolle. Um dies auf vertiefte Weise reflektieren zu können, wird eine weitere reflexionsbegriffliche Differenzierung eingeführt: Es wird zwischen einer cusanischen Logik des Bewusstseins und einer yángmíngschen Logik des Bewussthabens unterschieden.30 Eine weitere inhaltliche Differenz besteht hinsichtlich der jeweiligen Reflexionen eines Zusammenhanges umfassender bzw. weltbedingender Kreativität in Relation zum Grundfaktor menschlicher Generativität. Dies ist das Thema von Hauptkapitel 3: Cusanus denkt Generativität geschöpflich (als leibliche bis begriffliche Generativität), Yángmíng hingegen als (familiensystemisch eingefasstes) zentrales Moment allumfassender Transformation selbst. Allumfassende Kreativität wäre nicht adäquat aufgefasst, wenn sie nicht auch als Voraussetzung und kreative Bedingung der Rede von ihr eingesehen würde. Im Hauptkapitel 4 wird insbesondere der Unterschied einer negierbaren kataphatischen Rede bei Cusanus sowie einer nicht negierbaren kataphatischen Rede bei Yángmíng thematisiert. In Entsprechung dazu können bei Cusanus mehrere Formen apophatischer Rede festgestellt werden, bei Yángmíng ist ausschließlich eine Form apophatischer Rede denkmöglich.31 In Hauptkapitel 5 wird die Unterscheidung einer Logik des Bewusstseins und einer Logik des Bewussthabens weiterführend präzisiert. Bewusstheit im jeweiligen Sinne Cusanus’ und Yángmíngs wird nun im Hinblick darauf analysiert, wie beide Denker jeweils die Struktur(en) menschlicher Bewusstheit 29 30 31 Im Vorliegenden geht es primär um die wertfreie Analyse der jeweiligen philosophischen Positionen. Ein wichtiger Grundsatz transkultureller Komparatistik im Bereich der Philosophie sollte es sein, inhaltliche Analyse und mögliche Bewertung streng zu trennen. Die Frage der Bewertung philosophischer Positionen im transkulturellen Kontext stellt ein philosophisches Problem für sich dar und kann im Vorliegenden nicht weiter problematisiert werden. In Kap. 2 wird dabei auch bereits ein Zugang zu Kap. 5 gelegt, wo dann die Thematik der Bewusstheit hinsichtlich Cusanus und Yángmíng dezidiert für sich untersucht wird. Auch die Prädikate ‚kataphatisch‘ und ‚apophatisch‘ werden hier also einem erweiterten Sinn nach als Bedeutungsbestandteile transkulturell komparativer Kategorien gebraucht. 22 EINLEITUNG modellhaft (re)konstruiert haben. Bei Cusanus ergeben sich dabei Schnittflächen mit den Inhalten, die in Hauptkapitel 3 besprochen werden, denn die Thematik der Struktur des Bewusstseins steht bei ihm im Zusammenhang mit dem Problemhorizont der Generativität (der bei Yángmíng hingegen stärker mit dem der Kreativität verbunden ist). In engem Zusammenhang mit jener Thematik steht in beiden Philosophien jeweils die Problematisierung von Erkenntnis und Einsicht, die in beiden Fällen entsprechend grundlogisch fundiert ist. In Verbindung mit den Differenzen, die bereits hinsichtlich des Problemfeldes der Kreativität, mehr noch aber auch im Hauptkapitel 5 zuvor analysiert werden, ergeben sich im Hauptkapitel 6 weitere reflexionsbegriffliche Spezifizierungen: Cusanus entwickelt primär eine Logik theoretischer Erkenntnis und Einsicht, Yángmíng hingegen in eminenter Weise eine Logik situativer Erkenntnis und Einsicht. Das Hauptkapitel 7 ist jeweiligen Reflexionen zum Problemhorizont der Selbstperfektion gewidmet. Cusanus rekonstruiert hier von seinem epochenspezifischen Horizont her eine religiöse Rede von Jesus Christus philosophisch im Sinne eines Ideals vollkommener Erkenntnis, Einsicht und Moralität sowie eines vollkommenen, schöpferischen und auf bestmögliche Weise agierenden Grundes im Bewusstsein eines jeden Menschen. Dies lässt sich entsprechenden philosophischen Reden von einem „inneren ‚Kǒngzǐ 孔子‘ (Konfuzius)“ oder auch vom Verwirklichungsgrad eines ‚Buddha‘ (fó 佛) bei Yángmíng produktiv gegenüberstellen.32 In Hauptkapitel 8 wird zunächst der jeweilige Umgang mit dem Problemhorizont der Moralität und des Gewissens bei Cusanus und Yángmíng analysiert. Dabei zeigt sich deutlich, dass sich mutatis mutandis auch Cusanus der Frage stellt, was letztendlich zu tun ist, wenn sich theoretische ‚Weisheit‘ (sapientia) zeigt. Ein weiterer Vergleichsaspekt in diesem Zusammenhang sind jeweilige Logiken der Liebe bei Cusanus und Yángmíng, in deren Horizont jeweils alle zuvor besprochenen Problemhorizonte mit hereinspielen. Wenn kein anderer Übersetzer angeführt wird, stammen die Übersetzungen im Vorliegenden von mir.33 Cusanus-Zitate basieren fast immer auf der historischkritischen Ausgabe „Nicolai de Cusa opera omnia, iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis ad codicum fidem edita“ (1932-2005). Zitate Yángmíngs wurden nahezu ausschließlich der akademischen Gesamtausgabe „Wáng Wénchénggōng Quánshū 王文成公全書“ (1933) entnommen.34 32 33 34 Da viele Aspekte der jeweiligen Logik der Selbstperfektion bei Cusanus und Yángmíng eng mit den Inhalten von Kap. 5, 6 und 8 verknüpft sind und dort bereits in Verbindung und im Blick auf die entsprechenden Problemhorizonte zur Sprache kommen, hat dieses Hauptkapitel eine eher ergänzende und verbindende Funktion. Die Thematik selber stellt unbesehen davon einen Schwerpunkt der vorliegenden Studie dar. Zu verwendeten elektronischen Wörterbüchern siehe im Literaturverzeichnis unter (E). An einer Stelle wurde „Wáng Yángmíng Quánjí 王陽明全集“ (1992) herangezogen. EINLEITUNG 23 Die Übersetzungen wurden möglichst an der originalen syntaktischen Form der Sätze orientiert. Dadurch kommen einige Subtilitäten der originalen philosophischen Gedankenführungen besser zur Geltung. Teils wurde bezüglich yángmíngscher Textstellen bewusst zu deutschsprachigen Wendungen gegriffen, die philosophisch wenig oder noch nicht „vorbelastet“ sind und auch sonst wenig gebraucht werden. Dies ist ein mögliches Mittel, um vorschnelle „Begriffs-Projektionen“ gewohnter westlicher Denkmuster auf die chinesischen Kontexte zu vermeiden.35 Sinngehalte, die im originalsprachlichen Zusammenhang nicht wörtlich ausgedrückt werden, aber dennoch mit impliziert sind, werden in der Übersetzung in runde Klammern gesetzt. Erläuterungen erfolgen in der Regel in Fußnoten. Titel von Schriften Cusanus’, Yángmíngs oder anderer Primärquellen werden meist nicht übersetzt, d. h. nur stellenweise bzw. teils auch nur in der biographischen Synopse36 übertragen. Bei jeder ersten Nennung in einem Absatz sowie wenn in einem Absatz die Übersetzung cusanischer und yángmíngscher Wendungen im Deutschen gleich lautet, werden den deutschsprachigen Übersetzungen dieser Termini in Klammern die entsprechenden Originalbezeichnungen nachgestellt.37 Chinesische Termini werden in Pīnyīn-Umschrift38 wiedergegeben. Das entsprechende Schriftzeichen findet sich nur bei Erstnennung im Text, ansonsten aber im Glossar chinesischer Ausdrücke am Ende des Bandes. Ausnahmen von dieser Regel erfolgen, wenn zwei Zeichen im selben Absatz eine identische PīnyīnSchreibung aufweisen. Originalzitate werden in Fußnoten selbstverständlich auch in chinesischen Zeichen wiedergegeben. Entsprechend der Originalquelle werden jeweils Lang- oder Kurzzeichen verwendet. Die Wiedergabe der Stel35 36 37 38 In diesem Zusammenhang sei auch auf das Übersetzungsdenken W. Benjamins (1892-1940) verwiesen, vgl. Hirsch 1999, S. 82: „[…] Benjamin [fordert], daß nicht mehr das Gemeinte und der Sinn im Vordergrund des Übersetzungsbemühens stehen sollen, sondern die auf Artikulation der Fremdheit der anderen Sprache zielende Anbildung der ‚Art des Meinens‘ der anderen Sprache in der eigenen. […] [I]ndem das Fremde der anderen Sprache […] zum zentralen Wert des Übersetzungsvorgangs wird, wird ein zugleich vereinheitlichendes und ethnozentrisches Übersetzungsdenken aufgegeben.“ Vgl. auch Walter 1999, S. 218 f.: „[Eine] Mauer, die die Sprache vom Original und die Übersetzung voneinander trennt, die so in der Sprachwelt die Spaltung, die Gebrochenheit, feststellt [und die in ihrer vermeintlichen] Festigkeit […], die durch uneinsichtige Übersetzer hervorgebracht wird und die sie, vorgeblich der eigenen Sprache willen, zu bewahren streben, steht dabei in merkwürdigem Kontrast zu der wahren Beschaffenheit ihrer Sprache. Die ist nicht durch feste Mauern, sondern durch morsche Schranken ([aus: W. Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“] IV, 19) von den fremden Sprachen getrennt. […] [D]em wahren Übersetzer [geht] es darum, seine Sprache zu erweitern, darum, daß er die Schranken bricht (IV, 19). […] ‚Die wahre Übersetzung, so wurde gesagt, ‚ist durchscheinend‘, sie fungiert quasi als das weltliche Medium durch das hindurch die reine Sprache ihr Licht auf das Original fallen läßt (IV, 18).“ Siehe vorliegend, S. 763-772. Hiervon ausgenommen sind chinesische Orts- und Dynastienamen, die immer nur in einfacher lateinischer Umschrift, d. h. ohne diakritische Zeichen, wiedergegeben werden. Vgl. zur Pīnyīn-Schreibung Stoppok 2010 (E). Für einige philosophische Begriffe bestehen hinsichtlich der Wortzusammenfügung in der Pīnyīn-Umschreibung noch keine eindeutigen Normierungen. In diesem Falle waren jeweils eigenständige Entscheidungen zu treffen. 24 EINLEITUNG len bei Yángmíng bemisst sich orthographisch an der zuerst genannten Gesamtausgabe, wobei die Schriftrichtung auf horizontal und von links nach rechts umgesetzt wurde.39 Im Falle des Gebrauchs anderer Umschriftsysteme (Wade-Giles, Franke- oder Unger-System usw.) in zitierter Sekundärliteratur wird dieser immer in eckigen Klammern durch die entsprechende PīnyīnSchreibung ersetzt. Worte und Namen in weiteren Schriftsystemen werden in gängigen Umschriften und im Original wiedergegeben. Ausgenommen davon sind im Vorliegenden bekannte griechische Namen und Werktitel, die hier in lateinischer Schrift und ohne diakritische Zeichen stehen. Hervorhebungen erfolgen immer kursiv. In Zitaten werden andersartige Weisen der Hervorhebung im Original vorliegend ebenfalls immer kursiv wiedergegeben. Dabei ist eine Besonderheit des wissenschaftlichen Apparates zu beachten: Hervorhebungen im Original werden im Vorliegenden immer mittels ‚[i. O.]‘ gekennzeichnet. Alle Hervorhebungen in wörtlichen Zitaten, die nicht gekennzeichnet sind, stammen stattdessen von mir.40 Zu den Literaturangaben: Primärliteratur Cusanus’ und Yángmíngs wird in Fußnoten ohne Autorenname unter Verwendung von Siglen angeführt. Die vollständigen Angaben zum entsprechenden Werk finden sich für Cusanus in der Bibliographie unter (A), für Yángmíng unter Punkt (B). Sonstige Primärliteratur wird hingegen jeweils (sofern gegeben) mit dem Autorennamen und einer entsprechenden Sigle angeführt, die dann unter (C) nachzuschlagen ist. Chinesische Autoren bzw. Primärwerke werden immer mittels Pīnyīn-Umschrift und im Falle mehrerer möglicher Namensbezeichnungen immer anhand desselben Namens verzeichnet, damit sie einheitlich alphabetisch auffindbar sind. Sekundärliteratur wird in der Kurzform mittels Nachname und Erscheinungsjahr angeführt und ist unter (D) nachzuschlagen. Chinesische Sekundärliteratur wird, damit sie im Literaturverzeichnis nach alphabetischer Ordnung auffindbar wird, unter Voranstellung der Pīnyīn-Umschrift des Nachnamens angeführt (wie z. B. im Falle von ‚[Chén] 陈 2006‘).41 Die Namen chinesischer oder aus China stammender Autoren in westlichen Publikationen werden entsprechend der in diesem Kontext verwendeten Namensumschrift sowie ohne Angabe der chinesischen Schriftzeichen geführt.42 Wird ein Artikel aus einem Nachschlagewerk zitiert, so findet sich der Angabe des Nachnamens und Erscheinungsjahres in der entsprechenden Fußnote speziell noch der Verweis auf (E) nachgestellt, wo dann in der Bibliographie entsprechend nachzuschlagen ist. 39 40 41 42 Traditionell ist der Text vertikal gesetzt und die Spalten verlaufen von links nach rechts. Diese Umkehrung der üblichen Gepflogenheit, originale Hervorhebungen nicht zu kennzeichnen, eigene Hervorhebungen jedoch mit einem Hinweis in eckigen Klammern zu versehen, erfolgt aus Gründen der besseren Lesbarkeit. Vorliegend überwiegen eigene Hervorhebungen in Zitaten deutlich die originalen Hervorhebungen. Entsprechend wird auch kyrillisch transkribiert im Falle von ‚[Kobsew] Кобзев 1983‘. Wie z. B. im Falle der im Westen gebräuchlichen Namensschreibweise ‚Tu Wei-ming‘ anstelle der Schreibung in Pīnyīn-Umschrift und chinesischen Zeichen ‚Dù Wéimíng 杜維明‘. 1 KREATIVITÄT Wie ist allumfassende Kreativität bei Cusanus, wie bei Yángmíng reflektiert? Was sind die zentralen philosophischen Wendungen in diesen Kontexten? Wie kommt hier jeweils die Grundlogik zu Geltung? Am Anfang der nachfolgenden Betrachtung steht eine reflexionsbegriffliche Abgrenzung. Die Kategorie des Problemhorizontes allumfassender Kreativität, die sowohl auf den cusanischen als den yángmíngschen Kontext anwendbar ist, lässt sich bezüglich Cusanus als Problemhorizont allumfassender Kreation spezifizieren. Cusanus denkt daher in den Bahnen einer Logik der Kreation. Yángmíng widmet sich demgegenüber dem Problemhorizont einer allumfassenden Transformation. Entsprechend denkt Yángmíng im Gegensatz zu Cusanus auf Basis einer Logik der Transformation, deren spezifizierender Begriff freilich ebenfalls unter die allgemeine komparative Kategorie einer Logik der Kreativität fällt. Als Einstieg erfolgt im Kapitel 1.1 eine erste Hinwendung zur Logik der Kreation bei Cusanus. In diesem Zusammenhang werden der Begriff eines geschaffenen ‚Alls‘ (universum) und bedingter ‚Geschöpfe‘ (creaturae) reflektiert. Alles ist hier auf einen ‚Schöpfer‘ (creator) verwiesen. In diesem Zusammenhang finden die philosophischen Rekonstruktionen Cusanus’ ihren Ausgangspunkt. Es sei kurz angemerkt, dass meine Rede von einer Logik der Kreativität und einer Logik der Kreation in diesem Kontext vom Begriff einer „Logik des Kreativen“ 1 bei Johann Kreuzer inspiriert ist. Im Kapitel 1.2 steht entsprechend die Logik der Transformation bei Yángmíng zur Debatte. Dabei kommt es zu ersten transkulturellen Vergleichen. Ein klassisches Problem der philosophischen Komparatistik wird neu aufgerollt: Wenchao Li weist darauf hin, dass sich bereits die jesuitischen Chinamissionare des 16. und 17. Jahrhunderts in philosophischer Hinsicht mit dem Problem „Schöpfung versus Verwandlung“ 2 konfrontiert sahen:3 Der Neokonfuzianismus (als Philosophie), so Li, interpretiere die Entstehung des Universums als einen natürlichen, d. h. aus sich wirkenden Prozess. Er lehne, so Li weiter, die Annahme eines Schöpfergottes im christlichen Sinne grundsätzlich ab.4 1 2 3 4 Vgl. Kreuzer 2006. Ebd. wird diese Wendung analog zum vorliegenden Gebrauch der Wendung ‚Logik der Kreation‘ verwendet, also noch nicht i. S. einer transkulturell-komparativen Kategorie ‚Logik der Kreativität‘. Mit dieser Unterscheidung ist im Vorliegenden eine transkulturelle Erweiterung des reflexionsbegrifflichen Vokabulars gegeben. Li 2000, S. 132. Vgl. zum Überblick ebd., S. 132-138. Ebd., S. 294. 26 1.1 LOGIK DER KREATION 1.1 Logik der Kreation Die cusanische Logik der Kreation lässt sich auf den Satz hin bündeln, ‚Gott schafft‘ (Deus creat) alle ‚Geschöpfe‘ (creaturae), in denen ‚Gott geschaffen wird‘ (Deus creatur).5 Dies besagt die Einheit der Einheit und Differenz von Schöpfer und Geschöpf. 6 Was dies bedeutet, wird im vorliegenden Kapitel aufgeschlüsselt. In Entsprechung zur Rede von einem ‚Schöpfer‘ (creator) redet Cusanus aus etwas anderer Perspektive auch von ‚Ewigkeit‘ (aeternitas), anstelle der Rede vom Geschöpf dann von ‚Zeit‘ (tempus). Der Gebrauch dieser beiden Paare von Bezeichnungen ermöglicht im Vorliegenden einen adäquaten Einstieg in die Analyse der cusanischen Logik der Kreation. Im Anschluss erfolgt eine Vertiefung zur philosophischen Rede von ‚Dreieinheit‘ (triunitas) im Zusammenhang dessen, was vorliegend Logik der Kreation genannt wird. Abschließend wird insbesondere hinsichtlich des Problemhorizontes allumfassender Kreation kurz auf Besonderheiten der cusanischen Terminologie Bezug genommen. Es sei darauf hingewiesen, dass das äußerst vielschichtige Thema der cusanischen Kreationslogik hier nur soweit besprochen werden kann, als es für die Gegenüberstellung mit einer Logik der Transformation bei Yángmíng sinnvoll erscheint. 1.1.1 ‚Schöpfer‘ (creator) und ‚Geschöpf‘ (creatura) Ein passender Einstieg hinsichtlich der oben besagten kreationslogischen Rede von ‚Schöpfer‘ (creator) und ‚Geschöpf‘ (creatura), der zugleich die Kreationslogik von ‚Ewigkeit‘ (aeternitas) und ‚Zeit‘ (tempus) aufweist, findet sich im folgenden Zitat aus der ersten primär philosophischen Schrift „De docta ignorantia“: 5 6 Vgl. Flasch 1973, S. 284, der sich hierbei auf De vis. (h VI), cap. VI, n. 50, S. 43 bezieht. ‚Deus creatur‘ ist eine Wortschöpfung K. Flaschs, die das Gemeinte auf den Punkt bringt. Dieses Denken prägt sich aus in einer, mit Beierwaltes 1978, S. 5, „durch ne[o]platonische Philosophie und [jüdisch-]christliche Theologie [sehr] aspektreich ausgearbeiteten und umgeformten Konzeption.“ Im Denken Cusanus, insbesondere im Rahmen seiner Kreationslogik, wirken in nicht unerheblichem Maße Denker wie Proklos und Pseudo-Dionysios Areopagita nach. Ebd. verweist W. Beierwaltes darauf, dass die cusanische Konzeption zugleich auf „die Bestimmung des ersten Prinzips oder des göttlichen Seins in der ‚Theologie‘ des Aristoteles [verweise]: nicht nur Geist oder Denken, sondern Denken des Denkens, Selbst-Reflexion, zu sein. Mit J. Kreuzer ist auf den Einfluss Augustinus von Hippos hinzuweisen. Die Wichtigkeit der augustinischen Reflexionen zur Trinitätsthematik kann auch in puncto Kreationslogik bei Cusanus, vgl. Kreuzer 2001a, S. X, „für die weitere Tradition christlicher Religionsphilosophie gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.“ Eine wichtige Entwicklungslinie abendländischen Philosophierens, die der cusanischen Kreationslogik als Hintergrund dient, läuft u. a. über Johannes Scottus Eriugena, Dietrich von Freiberg, Eckhart von Hochheim. 1.1.1 ‚SCHÖPFER‘ (CREATOR) UND ‚GESCHÖPF‘ (CREATURA) 27 Gott konnte von Ewigkeit schöpfen, weil, wenn er nicht dazu imstande gewesen wäre, (so) wäre er nicht die höchste Macht gewesen. Daher kommt ihm dieser Name ‚Schöpfer‘, obschon er ihm im Hinblick auf die Geschöpfe zukommt, dennoch auch zu, noch bevor ein Geschöpf war, weil er ja von Ewigkeit her schöpfen konnte.7 Der Gebrauch des Wortes ‚bevor‘ (antequam) an dieser Stelle ist nicht zeitlich zu verstehen. Er ist im übertragenen Sinne, d. h. kreationslogisch zu lesen. In „Dialogus de ludo globi“ hält Cusanus diesbezüglich eindeutig fest: Du täuschst dich. Denn du stellst dir vor, dass Gott [im zeitlichen Sinne] vor der Schöpfung der Welt gewesen sei und nicht die Geschöpfe. Wenn du aber beachtest, dass es noch niemals wahr gewesen ist, zu sagen Gott sei gewesen und die Geschöpfe hätten nicht existiert, so ‚siehst du (ein), dass nicht im eigentlichen [zeitlichen] Sinne gesagt wurde, Gott (sei) vor den Geschöpfen‘. Denn dass irgendetwas gewesen (ist, obwohl) die Zeit noch nicht existierte, ist nicht möglich: weil ‚gewesen sein‘ eine vergangene Zeit impliziert.8 Das Wort ‚bevor‘ (antequam) im Eingangszitat bedeutet einen Aufweis göttlichen Schöpfen-Könnens überhaupt, welches nicht mit zeitlichen Maßstäben gemessen werden kann – obwohl es sich wiederum ausschließlich zeitlich zeigt. ‚Gott‘ (deus) und Geschöpf(e) (creatura(e)) können vor diesem Hintergrund nicht absolut unterschieden sein, zugleich aber auch nicht einfach identisch: Gott wäre nicht als ‚Schöpfer‘ (creator) eingesehen, wenn er wie ein Geschöpf von seinen Geschöpfen unterschieden gedacht würde. Andererseits muss die schöpferische Instanz irgendwie vom Geschöpf unterschieden sein, sonst wäre die differenzierende Rede von beiden fehl am Platze. Es gilt also zunächst zwei Perspektiven auseinanderzuhalten, die allerdings unlöslich – kreationslogisch – zusammengehören. Einerseits ist Gott (im Sinne eines philosophisch rekonstruierten Prinzips) „von allen Geschöpfen unterschieden, weil Gott der Schöpfer selbst nicht Geschöpf ist“ 9 , wie es in „Apologia doctae ignorantiae discipuli ad discipulam“ heißt. „Denn Gott ist selbst absolute Voraussetzung von allem, die auf irgendeine Weise so vorausgesetzt wird, wie jede Wirkung eine Ursache voraussetzt.“10 Wenn Gott seine 7 8 9 10 De docta ign. (h I), lib. prim., cap. XXIV [n. 79], S. 50, Z. 16-19: „Nam ab aeterno Deus potuit creare, quia, nisi potuisset, summa potentia non fuisset. Igitur hoc nomen ‚creator‘, quamvis sibi in respectu ad creaturas conveniat, tamen etiam convenit, antequam creatura esset, quoniam ab aeterno creare potuit.“ De ludo (h IX), lib. sec., n. 87, S. 106 f., Z. 11-16: „Tu deciperis. Imaginaris enim ante mundi creationem deum fuisse et non creaturas. Sed dum attendis quod numquam verum fuit dicere deum fuisse quin et creaturae essent, ‚vides deum ante creaturas non proprie dici fuisse‘. Fuisse enim aliquid tempore nondum exsistente non est possibile, cum ‚fuisse‘ sit praeteriti temporis.“ Apol. (h II), n. 9, S. 7, Z. 18 f.: „[…] ab omni distinguens creatura, quia ipse Deus creator non creatura […].“ De sap. (h V), lib. sec., n. 30, S. 61, Z. 10 ff.: „Nam deus est ipsa absoluta praesuppositio omnium, quae qualitercumque praesupponuntur, sicut in omni effectu praesupponitur causa.“ Vgl. speziell zu dieser Stelle weiterführend auch die Ausführungen von Haubst 1991, S. 53-65 („Der natürliche Zugang zur Gotteserkenntnis: Gott als die ‚absolute Voraussetzung 28 1.1 LOGIK DER KREATION Schöpfung(en) willentlich kraft personaler Freiheit wirkt11, müssen diese andererseits in seiner absoluten Unbegrenztheit zugleich als aufgehoben, d. h. als jener allschöpferischen Transzendenz absolut immanent gedacht werden. In erster Hinsicht wird die Differenz, in der zweiten die absolute Einheit in der Einheit der Einheit und Differenz von Schöpfer und Geschöpf betont. Aus Sicht der cusanischen Logik der Kreation sind das Universum, mehr noch aber jedes einzelne Geschöpf und vor allem ‚unser Geist‘ (nostra mens) (geschöpfliche) ‚Erscheinung Gottes‘ (apparitio Dei) 12. Alles Zeitliche ist ausschließliche Wirklichkeit göttlicher ‚Ewigkeit‘ (aeternitas). Diese zeigt sich, alles bedingend, in ihrem ‚Bild‘ (imago), in unserem – oder besser: als unser Geist. Damit ist nun schon ein zweites Mal das Wichtigste gesagt: Eine allumfassend schöpferische Instanz erschafft überzeitlich und überräumlich 13 den ‚menschlichen Geist‘ (humana mens) als ihr zeitlich-räumlich, d. h. unter Bedingungen der Endlichkeit seiendes „Bild“, in dessen Selbstreferentialität diese allschöpferische Instanz selbst erschaffen wird („Deus creatur“, Kurt Flasch), weil sie hier, und nur hier, reflektiert wird.14 In diesem Sinne ist der ‚Mensch‘ Cusanus zufolge ein ‚zweiter Gott‘ (secundus deus).15 Indem Gott in seiner reflexiven und potentiell selbstreflexiven Erscheinung, die ‚unser Geist‘ (nostra mens) ist, sowie auch wahrnehmungssinnlich vermittelt im je Vorliegenden, welches seiner sukzessiven Natur nach dessen Wirk- 11 12 13 14 15 von allem‘ und das Kausaldenken“), S. 190-195 („Gott als ‚die absolute Voraussetzung‘ aus heutiger Sicht“). Vgl. allgemein auch Beierwaltes 1979, S. 143: „Der Schöpfer ist – in christlicher Auslegung von Welt als dem Allgesamt von verursacht Seiendem – umfassendste, allgemeinste, aber personal bestimmte Ursache von Seiendem. Wille und Freiheit sind Wesensmomente seiner Personalität. Dies aber heißt: dem kraft personaler Freiheit frei-setzenden [sic!] Ursprung entspringt das Sein von Welt als absolutem Anfang.“ Vgl. auch Wolter 2004, S. 80: „Das auf die sinnenfällige Welt verwiesene, in der Erschaffung von Begriffen kreativ tätige Erkennen unseres Geistes ist selbst Erscheinung der kreativen Kunst des göttlichen Geistes […].“ Vgl. De vis. (h VI), cap. VI, n. 17, S. 20, Z. 12: „Quae quidem facies tua vera est […] quanta neque qualis neque temporalis neque localis. Ipsa enim est absoluta forma, quae est facies facierum.“ [Dieses aber dein wahres Angesicht hat […] weder Quantität noch Qualität noch Zeit noch Ort. Denn es ist selbst die absolute Form, die das Angesicht der Angesichte ist.“]; vgl. auch die Stelle zit. bei Wohlfart 1986, S. 154: „Das ‚Gesicht Gottes‘ ist ‚neque temporalis neque localis.‘“ Vgl. im Weiteren die Bemerkung von Kreuzer 2000, S. 184: „‚Raumlos überräumlich‘ ist das Prinzip, das wir denken als das, was dem, was erscheint, Raum gibt. ‚Zeitlos überzeitlich‘ erscheint das, was wir als Grund des Vorübergehens des zeitlich Werdenden erinnern. Was als schöpferisches ‚Sein‘ gedacht wird, unterliegt der Bestimmung von Raum und Zeit (genaugenommen: der als Sukzession räumlich vorgestellten Zeit) nicht. […] Was als ‚schöpferisches Ist‘ gedacht wird, ist nicht (etwas). Es ist wirklich im Werden der Dinge, die insofern sind bzw. ‚Sein haben‘, als sie in Raum und Zeit bestimmt werden können.“ Vgl. dazu auch Wolter 2004, S. 80 f.: „Darum kann vom Menschen, genauer von seiner vornehmsten Tätigkeit, seinem Erkennen [und Einsehen], in dem er sich als Mensch erst voll verwirklicht, gesagt werden, dass der modus apparationis alles Geschaffenen in ihm zu Bewußtsein kommt. Das Schaffen Gottes ist der ermöglichende Grund für das menschliche Erkennen. Und das menschliche Erkennen ist die Erscheinung des göttlichen Schaffens.“ Vgl. De beryl. (h XI/1), n. 7, S. 9, Z. 2. 1.1.1 ‚SCHÖPFER‘ (CREATOR) UND ‚GESCHÖPF‘ (CREATURA) 29 lichkeit ist, präsent ist, ohne mit der/den Zeit(en) identisch zu sein, ist er den Geschöpfen unlöslich korreliert. Hierbei handelt es sich aber nicht um eine Korrelation wie unter zwei oder mehreren Geschöpfen, sondern um eine Verbindung durch den Gegensatz von Immanenz und Transzendenz: Alles und jedes ist ‚Erscheinung Gottes‘ (apparitio Dei). In der Immanenz des Vorliegenden wird Gott als das schlechthin Transzendente gerade dadurch immerwährend, d. h. ohne Ende, wirklich, dass er dieser Wirklichkeit permanent entzogen ist.16 Der ‚Schöpfer‘ (creator) kann also nur in Transzendenz alles schöpfen, indem er in der Immanenz, als Welt, die wir als seine Bilder perspektivisch und ausschnitthaft erfahren, wirklich wird. 17 Anders gesagt: Ohne unbegrenztes, unbedingtes Bedingen(des) – ohne den einen ‚Schöpfer‘ (creator) – sind keine Geschöpfe, d. h. begrenzte, bedingte Entitäten, denkbar: Ihre jeweilige raumzeitliche Bestimmtheit, die sie erst das sein lässt, was sie jeweils sind – diese Grenze ist für sich genommen nicht begrenzt. Es handelt sich um die eine Grenze selbst, die selber unendlich ist. Cusanisch formuliert: Sie ‚faltet‘ sich, indem sie die Zeit(en) schafft, in eine geschöpfliche Wirklichkeit unendlicher ‚Vielfalt‘ (pluralitas) ‚aus‘ (explicet). Und daher ist die Schöpfung ein ‚Sehenlassen‘ (ostensio) dessen, was immer und ewig im eigenen Geist er selbst war und in seiner Kunst oder Wissenschaft immer und ewig derselbe selbst war und im Wohlgefallen seines Willens ewig derselbe gepriesene Gott selbst war, der – wie sich eine reiche Vernunft, um ihre Herrlichkeit zu zeigen, in ihren Werken zeigt und durch diese mitteilt – die Schätze seiner Herrlichkeit, die er auf vernunfthafte Weise in sich hat, aus seiner reinen Güte zeigt und sich bemüht, (diese) genauestmöglich auf sinnengemäße Weise auszufalten – auf dass er sich entsprechend der Natur des Guten verbreiten und die Teilhabe (an seinen Werken) möglich machen möge. Und (so) wirst du den allereinfachsten Gott in seinem unaussprechlichen Reichtum und (seiner) 16 17 Die Grundlagen für diese Auffassung hat bereits Cusanus’ wichtiger Einflussgeber Eriugena gelegt. Vgl. dazu auch Kreuzer 2000, S. 64 f., der entsprechend auf Eriugenas Rede von Theophanie verweist, nach der jede sichtbare und unsichtbare Schöpfung als Gottes Erscheinung zu denken sei. Ebd., S. 65, heißt es weiter: „Wenn in diesem Zusammenhang von Selbstwerdung Gottes die Rede ist, so heißt das nicht, daß Gott (zu etwas) in der Natur würde. Die Relation zwischen dem, was als schöpferischer Grund zu denken ist, und seinem kreatürlichen Erscheinen ist kein Verhältnis differenzloser Identität. Dieser Grund ist vielmehr wirklich (d. h. sich auswirkend), indem er Differenz setzt. Er ‚wird‘ als das in jeder Erscheinung sich zeigende kreative Prinzip des Werdens von Natur. Gerade wegen [i. O.] ihrer Immanenz ist die schöpferisch gedachte Ewigkeit jedem bestimmten Erscheinen transzendent.“ Hinsichtlich der Verbindung cusanischen Denkens zur Philosophie Eriugenas schließe ich mich u. a. Beierwaltes 1994, bes. S. 266-312 sowie u. a. Kreuzer 2000; ders. 2006 an. Vgl. auch Catà 2011, S. 59, der die philosophische Beziehung zwischen Eriugena und Cusanus noch einmal sehr prägnant zusammenfasst. Cusanus, so Catà in diesem Kontext, habe die wichtigste Deutung eriugenischer Philosophie zwischen Eckhart von Hochheim und dem Deutschen Idealismus vollzogen. Vgl. auch Kreuzer 2011a, S. 61, der auf Eriugena hin anmerkt, dass ohne die bleibende Unterscheidung zwischen ‚Schöpfer‘ (als natura creatrix) und ‚Geschöpf‘ (als natura creata) beider Einheit nicht nur ihren Sinn verliere, sondern als Einheit überhaupt nicht denkbar sei. Diese Feststellung gilt auch für die von Eriugena beeinflusste Kreationslogik Cusanus’. 30 1.1 LOGIK DER KREATION Schönheit18 sehen, und vollständig in allem Glück des herrlichen Lebens, aus dessen Reichtum er selbst so viele, viele lichte und ‚gestaltenschwangere‘ (formis plenas) Intelligenzen, so viele, viele funkelnde Sterne, so viele, viele lebendige Tiere, so viele, viele der angenehmsten Gerüche und Geschmacksnoten und schönsten Blumen und so weiter unzählbar hervorgebracht hat und (uns) zeigt.19 Weil die Schöpferinstanz in diesem Sinne aber nur als begrenzende Grenze aller Begrenzten unbegrenzt zu denken ist, kann ohne eine Vielheit begrenzter Bedingter, mit denen der Schöpfer erscheint, kein unbegrenzter und bedingender Schöpfer gedacht werden. Auf diese Grundgesetzlichkeit, dass die einfache Einheit sich durch das Different-Setzen in ihr und zugleich aus ihr selbst erst zur wirklichen Einheit bedingt, ist die cusanische Philosophie grundsätzlich bezogen. Cusanus führt dabei nicht zuletzt ein altes neoplatonisches Grundmuster (μονή, προόδος, ὲπιστροφή) auf innovative Weise fort. 20 Und vergessen wir dabei wie gesagt den ‚Geist‘ (mens) nicht: Als ‚Bild Gottes‘ (imago Dei) ist der Mensch ‚zweiter Gott‘ (secundus deus), indem er unter Bedingungen der Endlichkeit an der Unendlichkeit und Unbegrenztheit partizipiert, die er dabei, bewusst oder unbewusst, permanent reflektiert. Mit „De aequalitate“: „Die Seele21 schaut die Grenze in allen Begrenzten. Und weil der Grenze (selbst) keine Grenze zukommt, schaut sie sich als unbegrenzte Grenze der Begriffe ohne Anders18 19 20 21 Zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund bei Platon und Augustinus vgl. Kreuzer 2011b, im Blick aufs obige Cusanus-Zitat bes. ebd., S. 105: Der „Glanz des Schönen“, so Kreuzer, mache in seiner Unbestimmbarkeit den dem Denken unbestimmbaren kreativen Grund von allem sinnfällig. Vgl. auch ders. 2000, S. 186 f.: „Der Grund des Schönen – und Schönheit im Grunde – ist ihrer Selbst als Erscheinung bewußtwerdende Natur. Pulchritudo [‚Schönheit‘; ‚Glanz‘] bedeutet ein Erkennen der Diesselbigkeit des in der Zeit Erscheinenden und seines kreativen Prinzips.“ Crib. Alk. (h VIII), lib. sec., cap. IV, n. 98, S. 80 f., Z. 1-13: „[…] et quod creatio est ostensio eorum, quae semper et aeternaliter in mente ipsius fuerunt ipse et in arte seu sapientia sua semper et aeternaliter fuerunt idem ipse et in beneplacito voluntatis suae aeternaliter fuerunt idem ipse deus benedictus, qui ‚divitias gloriae suae‘ ex mera bonitate sua ostendit, sicut dives intellectus ad ostensionem gloriae suae se in operibus suis ostendit et communicat et ea, quae intra se habet intellectualiter, quanto praecisius potest, sensibiliter nititur explicare, ut sic iuxta naturam boni se diffundat et participabilem faciat. Et videbis deum simplicissimum ineffabiliter divitem et pulchrum atque plenum omni felicitate vitae gloriosae, de cuius divitiis ipse tot lucidas intelligentias formis plenas, tot splendidas stellas, tot viva animalia, tot dulcissimos odores et sapores atque pulcherrimos flores et cetera innumerabilia produxit et ostendit.“ Vgl. Beierwaltes 2007, S. 114, der diesbezüglich auf Proklos verweist, dessen Philosophie für das cusanische Denken ebenfalls prägend gewesen ist: „Verharren des Einen [sic!] Grundes in sich selbst – dessen bestimmender Hervorgang in Anderes, welches auf ihn bezogen bleibt – Umkehr und Rückgang alles Seienden in seinen Grund und Ursprung. […] Im Blick auf diesen Zusammenhang dieser drei Momente erscheint es konsequent, Gott als in sich seienden Anfang (Ursprung), sich selbst [auf Cusanus hin gesprochen: zur und im Rahmen der Vielheit aller Geschöpfe] vermittelnde Mitte und in sich selbst zurückführendes, die von ihm ausgehende Bewegung vollendendes Ziel zu denken: principium – medium – finis.“ Vgl. auch Haubst 1991, S. 65, der feststellt, dass hiermit auch die „alte Orphische Terminologie ἀρχή, μέσον und τελευτή“ implizit mit verarbeitet und tradiert sei. ‚Seele‘ (anima) ist hier äquivalent zur cusanischen Rede vom ‚Geist‘ (mens) zu denken.