Sven Oliver Müller

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Sven Oliver Müller
Redaktionsanschrift
Geschichte und Gesellschaft, Prof. Dr. Paul Nolte, Freie Universität Berlin, FB Geschichts- und
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1 Beilage: Vandenhoeck & Ruprecht.
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Geschichte und Gesellschaft
Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft
Herausgegeben von
Werner Abelshauser / Jens Beckert / Christoph Conrad /
Sebastian Conrad / Ulrike Freitag / Ute Frevert / Wolfgang Hardtwig /
Wolfgang Kaschuba / Simone Lässig / Paul Nolte / Jürgen Osterhammel /
Margrit Pernau / Sven Reichardt / Rudolf Schlögl / Manfred G. Schmidt /
Martin Schulze Wessel / Hans-Peter Ullmann
Geschäftsführend
Christoph Conrad / Ute Frevert / Paul Nolte
Vandenhoeck & Ruprecht
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Geschichte und Gesellschaft
38. Jahrgang 2012 / Heft 1
Herausgeber dieses Heftes:
Sven Oliver Müller und Jürgen Osterhammel
Vandenhoeck & Ruprecht
Inhalt
Sven Oliver Müller und Jürgen Osterhammel
Geschichtswissenschaft und Musik
Historical Science and Music . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Jan-Friedrich Missfelder
Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit
Period Ear. Prospects of a Modern Sound History . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
Sven Oliver Müller
Die Politik des Schweigens. Veränderungen im Publikumsverhalten in
der Mitte des 19. Jahrhunderts
The Politics of Silence. Changes in Audience Behaviour in the Middle of
the 19th Century . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
Jürgen Osterhammel
Globale Horizonte europäischer Kunstmusik, 1860 – 1930
Classical Music in a Global Context, 1860 - 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
Sarah Zalfen
Zeitmaschine Oper. Die Macht des historischen Erbes der Oper am Ende
des 20. Jahrhunderts
Timemachine Opera. The Power of the Operatic Heritage at the End of the
Twentieth Century . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Diskussionsforum
David Kuchenbuch
„Eine Welt“. Globales Interdependenzbewusstsein und die Moralisierung des Alltags in den 1970er und 1980er Jahren
“One World”. Discourses on Global Interdependency and the Moralisation
of Everyday Life in the 1970s and 1980s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
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Geschichtswissenschaft und Musik
von Sven Oliver Müller und Jürgen Osterhammel
Warum sollten sich Historikerinnen und Historiker mit Musik beschäftigen?
Öffnet das der Geschichtswissenschaft neue thematische Perspektiven und
erschließt es ungewöhnliche Fragestellungen? In den Kulturwissenschaften
wird alle Jahre wieder ein neuer „turn“ verkündet. Auf den linguistic turn
folgte ein iconic turn oder visual turn. Ist es an der Zeit, einen acoustic turn
oder musical turn auszurufen?1 Die folgenden vier Aufsätze vermeiden einen
solch ehrgeizigen Anspruch. Sie sollen einen weiteren Beitrag dazu leisten, das
Thema Musik aus einer Nische heraus und dichter an die Interessen einer
„allgemeinen“ Geschichtswissenschaft heran zu führen.2
Weder eine „alte“ noch eine „neue“ Kulturgeschichte haben die Geschichtswissenschaft, jedenfalls vor etwa 1990, dazu verleiten können, sich eingehend
mit Musik zu beschäftigen. Sogar die Bürgertumsforschung hatte Musik
weniger stark beachtet, als dies aus der Perspektive der historischen Subjekte
zu erwarten gewesen wäre.3 Auch der in zahlreichen Situationen öffentlich
1 Das ist das Schlagwort des gleichnamigen Sammelbandes von Petra Meyer (Hg.),
Acoustic Turn, München 2008. Ähnliche Argumente finden sich bei Victoria Johnson,
Introduction: Opera and the Academic Turns, in: dies. u. a. (Hg.), Opera and Society in
Italy and France from Monteverdi to Bourdieu, Cambridge 2007, S. 1 – 26; Horst W.
Opaschowski, Die kulturelle Spaltung der Gesellschaft. Die Schere zwischen Besuchern
und Nichtbesuchern öffnet sich weiter, in: Bernd Wagner (Hg.), Jahrbuch für
Kulturpolitik, Bd. 5, Essen 2005, S. 211 – 215. Vgl. dagegen die kritischen Bemerkungen
über die fehlende methodische Reichweite dieses Konzeptes bei Sven Oliver Müller,
Analysing Musical Culture in Nineteenth-Century Europe. Towards a Musical Turn? in:
European Review of History 17. 2010, S. 833 – 857; sowie die Überlegungen von Alexa
Geisthövel, Auf der Tonspur. Musik als zeitgeschichtliche Quelle, in: Martin Baumeister
u. a. (Hg.), Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung, Göttingen
2009, S. 157 – 168; Irmelin Schwalb, Tönende Zeitzeugen? Geschichte als Musik, in: Otto
Borst (Hg.), Geschichte als Musik, Tübingen 1999, S. 10 – 31. Eine vorzügliche Analyse
zum Stand der Forschung in der Geschichtswissenschaft liefert Daniel Morat, Zur
Geschichte des Hörens. Ein Forschungsbericht, in: AfS 51. 2011, S. 695 – 716.
2 Den bisherigen Höhepunkt einer solchen Annäherung markieren die Kapitel über
Musik in Thomas Nipperdeys Geschichte des 19. Jahrhunderts: ders., Deutsche
Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 547 – 551; ders.,
Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990,
S. 741 – 752.
3 Musikkompetenz wurde durch Gastbeiträge von Musikwissenschaftlern einbezogen,
vgl. etwa Carl Dahlhaus, Das deutsche Bildungsbürgertum und die Musik, in: Reinhart
Koselleck (Hg.), Bildungsbürgertum im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 2: Bildungsgüter
und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S. 220 – 236.
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 5 – 20
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
ISSN 0340-613X (E-Journal)
6
Sven Oliver Müller und Jürgen Osterhammel
verbindende Charakter von Musik hat sie lange Zeit nicht als Kraft von
Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung für die Forschung attraktiv
gemacht. Eine solche sozialintegrative Wirkung ist allen Künsten eigen; im
Falle von Musik und Musiktheater ist sie besonders stark ausgeprägt.4
In den vergangenen zwanzig Jahren haben einige Historiker Versuche
unternommen, die Musik mit der Geschichte zu verbinden, sie als Teil einer
Geschichte von Gesellschaften zu begreifen. Der Pionier einer Sozialgeschichte
der Musik im Europa des 19. Jahrhunderts war der kalifornische Historiker
William Weber. In einer immer noch konkurrenzlosen Arbeit untersuchte er
die musikalischen Institutionen und das Konzertpublikum in London, Paris
und Wien in den 1830er und 1840er Jahren.5 Neuere Arbeiten zur historischen
Dimension des Musiklebens, wie etwa die Monographien von Celia Applegate,
Jennifer Hall-Witt und Christophe Charle, behandeln die Sinnlichkeit musikalischer Aufführungen und nationalistische und kulturelle Praktiken der
Rezeption.6 Methodisch anregend bleiben ebenfalls die Studien Ute Daniels
über das Hoftheater im 19. Jahrhundert und Anselm Gerhards über das
Musiktheater in Paris – allesamt Arbeiten, die das wechselseitige Desinteresse
4 Dieser Zusammenhang wird z. B. deutlich bei Robert M. Isherwood, Music in the Service
of the King. France in the Seventeenth Century, Ithaca, NY 1973; Peter Schleuning, Der
Bürger erhebt sich. Geschichte der deutschen Musik im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2000;
Rudolf Braun u. David Guggerli, Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und
Herrschaftszeremoniell, 1550 – 1914, München 1993; Reinhard Kannonier, Zeitwenden
und Stilwenden. Entwicklung der europäischen Kunstmusik, Wien 1984.
5 Vgl. William Weber, Music and the Middle Class. Social Structure of Concert Life in
London, Paris and Vienna, London 20042 ; ders., The Great Transformation of Musical
Taste. Concert Programming from Haydn to Brahms, Cambridge 2008. Richtungsweisend wurden auch: Simon McVeigh, Concert Life in London from Mozart to Haydn,
Cambridge 1993; Tia DeNora, Beethoven and the Construction of Genius. Musical
Politics in Vienna, 1792 – 1803, Berkeley, CA 1995; James H. Johnson, Listening in Paris,
Berkeley, CA 1995.
6 Vgl. Celia Applegate, Bach in Berlin. Nation and Culture in Mendelssohn’s Revival of the
St. Matthew Passion, Ithaca, NY 2005; Christophe Charle, Thtres en capitales.
Naissance de la socit du spectacle Paris, Berlin, Londres et Vienne 1860 – 1914, Paris
2008; Jennifer Hall-Witt, Fashionable Acts. Opera and Elite Culture in London,
1780 – 1880, Durham, NH 2007; David Gramit, Cultivating Music. The Aspirations,
Interests, and Limits of German Musical Culture, 1770-1848, Berkeley, CA 2002; Philipp
Ther, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa, 1815 – 1914, Wien
2006; ferner die Beiträge in Johnson u. a., Opera; Hans-Erich Bödeker u. a. (Hg.), Le
concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europe de 1780 1914: France,
Allemagne, Angleterre, Paris 2002; Christina Bashford u. Leanne Langley (Hg.), Music
and British Culture, 1785 – 1914. Essays in Honour of Cyril Ehrlich, Oxford 2000; Müller,
Analysing Musical Culture.
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Geschichtswissenschaft und Musik
7
von Geschichts- und Musikwissenschaft überwunden haben.7 Dennoch kann
eine solche Konvergenz der Fächer mehrere Hindernisse nicht verdecken.
Eine erste Schwierigkeit für die Geschichtswissenschaft besteht im Umgang
mit der Forschungsleistung der Musikwissenschaft. Auch wenn Historiker
vielfach die Theorieangebote aus der Literaturwissenschaft aufmerksam
betrachtet und manchmal dankbar angenommen haben, so haben sie
umgekehrt Fächergrenzen taktvoll beachtet und sich selten direkt zur Literatur
geäußert. Noch größer ist die Zurückhaltung, in Konkurrenz zur Musikwissenschaft zu treten. Die technischen Hürden sind in diesem Falle höher als bei
Literatur und Kunst. Über ein Gemälde oder ein Gebäude kann auch der Laie
mit einer gewissen Zuversicht sprechen; der iconic turn in den Kulturwissenschaften hat dieses Selbstbewusstsein gestärkt. Wenn es nicht gerade um
Spezialprobleme der Metrik geht, sind auch die Analysemethoden der
Literaturwissenschaft kein Buch mit sieben Siegeln. Der werkanalytische
Zugang zur Musik verlangt hingegen – auch als Voraussetzung ästhetischen
Urteilens – Notenkenntnis und ein Wissen um die Grammatik und Semantik
der musikalischen Sprache, das heißt um die Kunstfertigkeiten des Tonsetzens,
das neben Arithmetik, Geometrie und Astronomie zum Quadrivium des
exakten Wissens gehörte. Auch heute noch folgen viele Musikwissenschaftler
der Tradition ihrer Wissenschaft als Philologie und immanente Werkanalyse,
als am reinen Notentext orientierter Disziplin. Niemand kann der Musikwissenschaft ihre disziplinäre Hoheit streitig machen.8
7 Vgl. Ute Daniel, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und
19. Jahrhundert, Stuttgart 1995; Anselm Gerhard, The Urbanization of Opera. Music
Theatre in Paris in the Nineteenth Century, Chicago 1998; sowie Ruth Bereson, The
Operatic State. Cultural Policy and the Opera House, London 2002; Mary Hunter, The
Culture of Opera Buffa in Mozart’s Vienna. A Poetics of Entertainment, Princeton, NJ
1999; Walter Frisch, German Modernism. Music and the Arts, Berkeley, CA 2005;
Michael Walter, „Die Oper ist ein Irrenhaus“. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1997; Stephen C. Meyer, Carl Maria von Weber and the Search for a
German Opera, Bloomington, IN 2003; Philipp Ther, Einleitung. Das Musiktheater als
Zugang zu einer Gesellschafts- und Kulturgeschichte Europas, in: Sven Oliver Müller
u. a. (Hg.), Die Oper im Wandel der Gesellschaft. Kulturtransfers und Netzwerke des
Musiktheaters im modernen Europa, Wien 2010, S. 9 – 24.
8 Abweichungen von dieser Ausrichtung sind etwa die Arbeiten von Sieghart Döhring u.
Sabine Henze-Döhring, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert, Laaber 1997;
Konrad Küster, Das Konzert, Form und Forum der Virtuosität, Kassel 1993; Walter
Salmen, Das Konzert. Eine Kulturgeschichte, München 1988; Hanns-Werner Heister,
Das Konzert. Theorie einer Kulturform, 2 Bde., Wilhelmshaven 1983; Michael Forsyth,
Bauwerke für Musik. Konzertsäle und Opernhäuser. Musik und Zubehör vom
17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1992; Udo Bermbach u. Wulf Konold
(Hg.), Der schöne Abglanz. Stationen der Operngeschichte, Berlin 1992.
8
Sven Oliver Müller und Jürgen Osterhammel
Andererseits haben aber die Musik- und Theaterwissenschaften nur wenig
Gewicht auf die Rezeption von Musik und ihre sozialen und politischen
Implikationen gelegt. Die methodische und empirische Abgrenzung der
Musik- und der Geschichtswissenschaft hat die Erkenntnismöglichkeiten
beider Disziplinen beschränkt.9 Die Musikwissenschaft hat sich lange Zeit für
wenig mehr als die Werke selbst, bestenfalls noch für die Biografien ihrer
Urheber interessiert. Die soziale Rahmung der Produktion und des Konsums
von Musik wurde nur am Rande beachtet; deren politische Funktionalisierung
und ihr medialer Charakter sind nur peripher in ihren Gesichtskreis getreten.
Probleme der Aufführung und interpretierenden Umsetzung des Notentextes
in Klang galten bis zur Wiederentdeckung älterer Musizierpraktiken im letzten
Drittel des 20. Jahrhunderts als wissenschaftlich wenig bedeutsam, als Stoff für
das Feuilleton. Musikgeschichte war (und ist vielfach noch) Stilgeschichte.
Eine Einbettung von Musik in soziale und ideologische Zeitkontexte, wie sie
heute der amerikanische Musikwissenschaftler Richard Taruskin vertritt, ist
ein relativ neuer Ansatz, und es ist kein Zufall, dass eine umfassende
Darstellung der Rolle von Musik in der europäischen Kultur der letzten
Jahrhunderte von einem Fachhistoriker, dem englischen Frühneuzeitler Tim
Blanning, vorgelegt wurde.10 Viele der genannten Fragen hat die Musikwissenschaft einer später entstandenen Nachbardisziplin, der Musiksoziologie,
überlassen. Diese jedoch ist dem allgemeinen Trend der Soziologie gefolgt und
hat sich von historischen Fragestellungen, wie sie etwa bei Adorno noch
wichtig waren,11 zugunsten empirischer Untersuchungen über gegenwärtiges
Musikverhalten entfernt.12 Daher bleibt neben Musikwissenschaft und Musiksoziologie Raum für eine von Historikerinnen und Historikern mit den
Instrumenten der kritischen Quellenanalyse betriebene Kultur- und Sozialgeschichte der Musik und des Musikalischen.
Eine zweite Schwierigkeit und Herausforderung liegt in der Trennung
zwischen ernster (E-) und unterhaltender (U-)Musik. Selbstverständlich gab
es auch in früheren Jahrhunderten einen Unterschied zwischen der Musikausübung von Laien und der Praxis musikalischer Fachleute, zwischen dem
9 Dieses Problem diskutiert zuletzt Johnson, Introduction, S. 1 – 26. Vgl. Trevor Herbert,
Social History and Music History, in: ders. u. a. (Hg.), The Cultural Study of Music. A
Critical Introduction, New York 2003, S. 146 – 156; Leo Treitler, History and Music, in:
Ralph Cohen u. Michael S. Roth (Hg.), History and…: Histories within the Human
Sciences, Charlottesville, VA 1995, S. 209 – 230.
10 Richard Taruskin, The Oxford History of Western Music, 5 Bde., Oxford 2005; Tim
Blanning, The Triumph of Music. The Rise of Composers, Musicians and Their Art,
Cambridge, MA 2008.
11 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen,
Reinbek 1968.
12 Helga de la Motte-Haber (Hg.), Musiksoziologie (= Handbuch der systematischen
Musikwissenschaft, Bd. 4), Laaber 2007.
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Geschichtswissenschaft und Musik
9
Gesang in der Dorfschenke, der musikalischen Liturgie in der Kirche und der
Festmusik bei Hofe. Aber Joseph Haydn oder Gioacchino Rossini hätten sich
gewundert, wenn man ihnen gesagt hätte, ihre Musik sei „ernst“. Die E/UDichotomie ist historisch entstanden, ein Nebenprodukt von Vermarktungsstrategien im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Musik. Sie ist
kontingent, künstlich und durch zahlreiche Misch- und Übergangsphänomene in hohem Maße relativiert, allerdings soziologisch und sozialgeschichtlich
nicht ganz willkürlich. Das Publikum von Techno-Konzerten und das von
Liederabenden dürfte sich nur wenig überschneiden; Freunde von Musicals
wird man selten bei Avantgarde-Aufführungen antreffen und umgekehrt.
Diese Segregierung des Musikgeschmacks ist eine musiksoziologische Tatsache. Auch historisch ist mit einer außerordentlichen Breite des Spektrums zu
rechnen, ästhetisch ebenso wie sozial. Durch technische Medien ist Musik im
20. Jahrhundert auch für diejenigen erreichbar geworden, denen sie nach den
strengen Maßstäben musikalischer Kunstausübung oder den Standards
gebildeter Wertschätzung verschlossen gewesen wäre. Musik, ob nun „ernst“
oder „populär“, ist Medienkunst für die breite Bevölkerung geworden.
Kurzum: Musik ist mit großem Abstand die sozialste aller Künste, daher
auch ein ideales Feld für die Verschwisterung von Sozial- und Kulturgeschichte.
Ein drittes Problem, das Historikerinnen und Historiker vor musikalischen
Themen zurückschrecken lässt, ergibt sich aus der Art der vorhandenen
Quellen. Zumindest Neuzeithistoriker – bei früheren, quellenärmeren Epochen verhält es sich anders – sind daran gewöhnt, über ihre Quellen den
direkten Zugang zum Denken und zu den Handlungsmotivationen historischer Akteure zu finden. Bei jeder Form der Geschichte ästhetischer Gegenstände und ihrer gesellschaftlichen Verwendung ist ein solch unmittelbarer
Zugriff schwierig, nirgendwo mehr als bei der Musik. Der Vorgang des
Komponierens ist uns unzugänglich, sein Ergebnis, das Werk, nur mit den
Mitteln der Musikwissenschaft zu erschließen. Vor der Epoche der technischen Schallaufzeichnungen fehlt die Evidenz musikalischer Realisierung: Wir
wissen nicht, wie die hochgerühmten Castrati der Barockzeit gesungen und
wie Wolfgang Amadeus Mozart oder Frdric Chopin Klavier gespielt haben.
Auch Publikumsreaktionen sind aus den Quellen oft nur vermittelt rekonstruierbar. Man kennt die Kommentare einzelner professioneller Kritiker, aber
nur in seltenen Fällen die spontanen Reaktionen von Opern- oder Konzertbesuchern. Pausengespräche werden bis heute selten abgehört und mitgeschnitten. Die Herausforderungen an das methodische Geschick, circumstantial evidence zu nutzen, sind daher enorm.
Erst durch Tageszeitungen und Musikzeitschriften bildeten sich in den großen
Städten Netzwerke kultureller Kommunikation, Orte, an denen über Interes-
10
Sven Oliver Müller und Jürgen Osterhammel
sen und Geschmäcker diskutiert werden konnte.13 Seit dem ausgehenden
18. Jahrhundert bewertete die Presse nicht nur die musikalischen Werke und
die Qualität der Aufführungen, sondern enthielt auch umfangreiche Informationen über die Veranstalter, die Künstler und das Verhalten des Publikums.
Viele ästhetische Blätter wurden allmählich durch Tageszeitungen ersetzt, die
Musikrezensionen nunmehr als Teil einer themenübergreifenden Berichterstattung genutzt. Journalisten lösten schreibende Kenner und Ästheten ab.14
Diese Professionalisierung ist gerade im Aufstieg der seit den 1840er Jahren
nach Londoner Vorbild aufkommenden Bildberichterstattung zu beobachten.
Die wachsende Vermittlung musikalischer Nachrichten zwischen 1820 und
1870 gelang durch die Tagespresse, die Kulturzeitschriften und die Fachorgane. Journalisten verwandelten ihre musikalischen Erlebnisse in eine wortreiche, aber geregelte Sprache. Diese Möglichkeiten des Schreibens müssen
ausgelotet, und es muss nach den Begriffen, Sprachbildern und musikalischen
Kategorien in publizistischen Texten gefragt werden.15
In aller Regel wird Musik für ein Publikum aufgeführt und in der Gruppe
rezipiert. Elias Canetti hat sie in „Masse und Macht“ als ein Phänomen teils
orgiastischer, teils gebändigter Massen beschrieben.16 Noch mehr als die
anderen Künste kann Musik mobilisierend wirken. Sie hat Revolutionen
begleitet, Massenaufmärsche getaktet und politische Großkundgebungen
emotionalisiert. Nationalhymnen appellieren an Sentiments und Identitätsgefühle; kein Fußballländerspiel und keine olympische Siegerehrung kommen
ohne sie aus. Jahrhundertelang synchronisierte Militärmusik den Marsch13 Vgl. Derek B. Scott, Sounds of the Metropolis. The Nineteenth-Century Popular Music
Revolution in London, New York, Paris and Vienna, Oxford 2008; Applegate, Bach,
S. 80 – 104; Jürgen Rehm, Zur Musikrezeption im vormärzlichen Berlin. Die Präsentation bürgerlichen Selbstverständnisses und biedermeierlicher Kunstanschauung in den
Musikkritiken Ludwig Rellstabs, Hildesheim 1983, S. 17 – 37, und zur britischen Presse
Dennis Griffiths (Hg.), The Encyclopedia of the British Press, 1422 – 1992, London 1992,
bes. S. 24 – 46.
14 Vgl. Sandra McColl, Music Criticism in Vienna, 1896 – 1897. Critically Moving Forms,
Oxford 1996; Peter Borchardt, Die Wiener Theaterzeitschriften des Vormärz, Wien 1961;
Ellen Riggert, Die Zeitschrift „London und Paris“ als Quelle englischer Zeitverhältnisse
um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts. London im Spiegel ausländischer
Berichterstattung, Göttingen 1934; insges. Jörg Requate, Journalismus als Beruf.
Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland
im internationalen Vergleich, Göttingen 1995, S. 373 – 392.
15 Vgl. zum Stellenwert der Sprache im Kontext der Rezeption Leon Botstein, Listening
through Reading. Musical Literacy and the Concert Audience, in: 19th Century Music
16. 1992, S. 129 – 145; ders., Toward a History of Listening, in: Musical Quarterly 82.
1998, S. 427 – 431; Wolfgang Gratzer, Motive einer Geschichte des Musikhörens, in: ders.
(Hg.), Perspektive einer Geschichte abendländischen Musikhörens, Laaber 1997,
S. 9 – 31.
16 Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960.
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Geschichtswissenschaft und Musik
11
schritt und erschreckte den Gegner. Heute werden Soldaten zwar nicht mehr
„mit klingendem Spiel“ in den Krieg geschickt, doch nach wie vor begleitet die
Musik den Krieg, zuletzt etwa als bei „sonic warfare“ oder musikalischer Folter
Geräusche und Musik als hochtechnisierte Waffen eingesetzt wurden.17
Die Gestaltung des Musiklebens ist stets ein Verhandlungsprozess zwischen
den Interessen verschiedener Produzenten und Konsumenten, der Ein- und
Ausgrenzungen sichtbar macht. Dadurch erhält die Untersuchung musikalischer Aufführungen eine zentrale Bedeutung. Die tatsächliche Anwesenheit in
einem Konzert, aber auch die Vorstellung, beim Anhören einer Festspielaufführung im Radio Teil einer anonymen ästhetischen Gemeinschaft zu werden,
vereinen Subjekte zum wirklichen oder imaginären Kollektiv.18 Durch musikalische Aufführungen können sich Kommunikationsgemeinschaften herausbilden.19
Musikliebhaber nutzten ihre Kunstmusik, um sich gegen vermeintlich Fremdes abzugrenzen. Regelmäßig begannen Journalisten, Schriftsteller, Wissenschaftler, aber eben auch das breitere Publikum, die Vorherrschaft angeblich
eigener Traditionen zu fordern. Es ist fragwürdig, die Geschichte der
Beziehungen der Musikfreunde innerhalb einer Gesellschaft und zwischen
Staaten und Kulturen entlang der vermeintlich getrennten Achsen „Transfer“
und „Konflikt“ zu schreiben. Konvergenz und Divergenz können kaum als
Antipoden in der Musikgeschichte verstanden werden. Vielmehr ermöglichten
auch Konflikte und Konkurrenz die musikalische Kommunikation.20
17 Vgl. etwa Morag J. Grant, Serial Music, Serial Aesthetics. Compositional Theory in Postwar Europe, Cambridge 2001.
18 Vgl. zum Zusammenspiel von Werk und Aufführung, Praxis und Distinktion die
Überlegungen von Andreas Gebesmair, Grundzüge einer Soziologie des Musikgeschmacks, Wiesbaden 2001, S. 15 – 18; Gratzer, Motive, S. 9 – 31; Katherine Ellis, The
Structures of Musical Life, in: Jim Samson (Hg.), The Cambridge History of NineteenthCentury Music, Cambridge 2002, S. 343 – 370.
19 Hilfreich sind die Argumente von Christophe Charle, Opera and France, 1870 – 1914.
Between Nationalism and Foreign Imports, in: Johnson u. a., Opera, S. 243 – 266; Johann
Hüttner, Vorstadttheater am Weg zur Unterhaltungsindustrie. Produktions- und
Konsumverhalten im Umgang mit dem Fremden, in: Hans-Peter Bayerdörfer u. Eckhart
Hellmuth (Hg.), Exotica. Inszenierung und Konsum des Fremden im 19. Jahrhundert,
Münster 2003, S. 81 – 102.
20 Vgl. dazu Ther, In der Mitte der Gesellschaft, S. 395 – 421; Sven Oliver Müller, „A Musical
Clash of Civilisations“? Musical Transfers and Rivalries in the 20th Century, in: Dominik
Geppert u. Robert Gerwarth (Hg.), Wilhelmine Germany and Edwardian Britain. Essays
on Cultural Affinity, Oxford 2008, S. 305 – 329; ders., Einleitung, Musik als nationale
und transnationale Praxis im 19. Jahrhundert, in: JMEH 5. 2007, S. 22 – 38. Dieses
Konzept einer gleichsam „musikalischen Europäisierung“ ist auch das Thema des
Forschungsprojektes am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz: „Europe and
Beyond. Transfers, Networks and Markets for Musical Theatre in Modern Europe,
1740 – 1960“.
12
Sven Oliver Müller und Jürgen Osterhammel
Bei näherer Betrachtung stellt sich das scheinbare Spannungsverhältnis
zwischen Abgrenzung und Angleichung als Resultat vielschichtiger kommunikativer Prozesse im Zeitalter einer neuen Politisierung und Medialisierung
heraus. Oft mochten die Musikliebhaber verschiedener Bands, die Besucher
der Konzerte in verschiedenen Ländern einander kaum, nicht obwohl, sondern
weil sie mit den Werken der Anderen in Kontakt kamen. Der optimistische
pädagogische Glaube, dass gegenseitiges Kennenlernen, dass Austausch und
Transfer gleichsam notwendig kulturelle Harmonie und Verständnis innerhalb
und zwischen den europäischen Gesellschaften stiftet, wird gerade durch die
Rezeption von Musik widerlegt.21
Reaktionen auf Musik sind eingebettet in gesellschaftliche Praktiken und
Institutionen, sie werden erlernt und tradiert. Die öffentliche Darstellung im
Musikleben verlangt den Erwerb komplizierter und aufs Feinste abgestimmter
Verhaltensmuster : von der Auswahl der Aufführung bis zur Wahl der eigenen
Abendgarderobe, von der Bewegung im Auditorium bis zur Kontrolle des
Körpers. Die Disziplinierungsmacht nonverbaler Umgangsformen überlagert
oft den sprachlichen Anstandskanon – Selbstzwänge und Fremdzwänge sind
zu beobachten. Der gesellschaftliche Kontext und die Organisation der
Spielstätten machen die Künstler und das Publikum oft zu Gefangenen der
musikalischen Aufführungen. Durch ihr Wissen über die Musik, über
Komponisten, Stile, Sänger und Dirigenten erkennen die Eingeweihten, wer
zu ihnen gehört und wer nicht. Denn wer die kulturellen Regeln nicht
beherrscht, wird durch sie ausgeschlossen.22 Kurz: Die musikalische Praxis ist
eine Ressource, um soziale, politische und wirtschaftliche Positionen zu
erreichen.
Da das Erlebnis von Musik nicht allein von der Komposition und den
Künstlern abhängt, sondern auch durch die Anteilnahme an musikalischen
Aufführungen sozial vorgeprägt ist, ist es wichtig, das Spannungsfeld zwischen
21 Anregend ist die detaillierte, wenn auch methodisch ergänzungsbedürftige Studie von
Gundula Kreuzer, Verdi and the Germans. From Unification to the Third Reich,
Cambridge 2010, bes. S. 1 – 14; sowie zum deutsch-amerikanischen Transfer der
innovative Ansatz von Jessica C. E. Gienow-Hecht, Sound Diplomacy. Music and
Emotions in Transatlantic Relations, 1850 – 1920, Chicago 2009, und die Argumente von
Christophe Charle, Opera and France, 1870 – 1914. Between Nationalism and Foreign
Imports, in: Johnson u. a., Opera, S. 243 – 266; Hüttner, Vorstadttheater.
22 Folgt man Pierre Bourdieus Habituskonzept, wirkt keine Praxis stärker klassifizierend,
das heißt, die Verhaltensmuster und den Geschmack einer sozialen Gruppe ausdrückend und prägend, als der öffentliche Musikkonsum. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen
Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 19979, bes.
S. 277 – 286 u. S. 355 – 399; sowie zur Bestimmung der soziologische Reichweite
Gebesmair, Grundzüge, S. 47 – 75; Jane F. Fulcher, Symbolic Domination and Contestation in French Music. Shifting the Paradigm from Adorno the Bourdieu, in: Johnson
u. a., Opera, S. 312 – 329.
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Geschichtswissenschaft und Musik
13
der Organisation, der Vorführung, dem Erwartungshorizont des Publikums
und seinen Reaktionen zu vermessen. Dem radikalen Konstruktivismus von
Ola Stockfelt muss man nicht widerspruchslos folgen: „The listener, and only
the listener, is the composer of the music.“23 Dennoch scheint klar, dass
musikalische Bedeutung niemals ein allein werkimmanentes Phänomen
darstellt. Sie besteht nicht unverrückbar, sondern wird immer auch von den
Hörern selbst erzeugt.24 Das dabei hervortretende Problem besteht darin, zu
klären, ob es die Musik selbst oder eher ihr Kontext ist, welche das Musikleben
prägen. Damit ist die Unterscheidung zwischen Komposition und Rezeption
im Begriff, ihre Substanz zu verlieren. Mit guten Gründen diskutieren
Musikwissenschaftler die Frage, ob aus dieser Konsequenz eine Auflösung des
Werkbegriffs folgen könnte. Allerdings würde man sich durch einen konsequenten Wechsel vom Werkbegriff zum Aufführungsbegriff neue hermeneutische Schwierigkeiten einhandeln.25
23 Ola Stockfelt, zitiert nach Ruth Finnegan, Music, Experience, and the Anthropology of
Emotion, in: Martin Clayton u. a. (Hg.), The Cultural Study of Music. A Critical
Introduction, New York 2003, S. 181 – 192, Zitat S. 184. Vgl. Nicholas Cook, Music as
Performance, in: ebd., S. 204 – 214.
24 Eine stärkere Konzentration auf Rezeptionsanalysen forderten bereits vor zwanzig
Jahren Hermann Danuser u. Friedhelm Krummacher (Hg.), Rezeptionsästhetik und
Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft, Laaber 1991. Trotz der Belebung dieser
Forschungsrichtung konstatierten führende Vertreter der Musik- und Kulturwissenschaften nach wie vor große Lücken in diesem Bereich. Vgl. etwa die Beiträge in: Archiv
für Musikwissenschaft 57. 2000; Wolfgang Kemp (Hg.), Der Betrachter ist im Bild.
Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin 1992; Susan Bennett, Theatre
Audiences. A Theory of Production and Reception, London 1990; die wichtigen
Aufsätze von Jerrold Levinson, Performative vs. Critical Interpretation in Music, in:
Michael Krautz (Hg.), The Interpretation of Music, Oxford 1993, S. 34 – 60; Martyn
Thompson, Reception Theory and the Interpretation of Historical Meaning, in: History
and Theory 32. 1993, S. 248 – 272. Wegweisend in den Musikwissenschaften waren in
jüngster Zeit vor allem die Forschungen zur Bach-Rezeption in dem vierbändigen Werk
von Michael Heinemann u. Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Bach und die Nachwelt,
4 Bde., Laaber 1997 - 2004; dies. (Hg.), Johann Sebastian Bach und die Gegenwart.
Beiträge zur Bach-Rezeption, 1945 – 2005, Köln 2007; vgl. auch Kreuzer, Verdi.
25 Vgl. etwa Hans-Joachim Hinrichsen, Musikwissenschaft und musikalisches Kunstwerk.
Zum schwierigen Gegenstand der Musikgeschichtsschreibung, in: Laurenz Lütteken
(Hg.), Musikwissenschaft. Eine Positionsbestimmung, Kassel 2007, S. 67 – 87; ders.,
Musikwissenschaft. Musik – Interpretation – Wissenschaft, in: Archiv für Musikwissenschaft 57. 2000, S. 78 – 90; Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Köln
1977, bes. S. 16 f.; ders., Die Musik des 19. Jahrhunderts, Laaber 1980; Gerhard Brunner
u. Sarah Zalfen, Werktreue. Was ist Werk, was Treue? Dokumentation eines Symposiums des Master of Executive Arts Administration der Universität Zürich, Wien 2011;
James Buhler u. Daniel K. L. Chua, Absolute Music and the Construction of Meaning, in:
19th Century Music 26. 2002, S. 184 – 191, und die Überlegungen von Christian Kaden,
14
Sven Oliver Müller und Jürgen Osterhammel
Dass es die Musiker selbst sind, die zwischen dem Kunstwerk und seiner
Wahrnehmung vermitteln, verdeutlicht im Unterschied zur bildenden Kunst
und Literatur den kommunikativen Charakter der Musik. Beispielweise wird
ersichtlich, dass sich im ästhetischen Diskurs die Idee eines Werkes im Sinne
des abgeschlossenen, erschaffenen Kunstwerkes erst relativ spät, zwischen
1600 und 1800, etabliert hat. Dieses Konzept setzte sich im 19. Jahrhundert
derart erfolgreich durch, dass bis in die Gegenwart hinein die Musik die
einzige Kunst zu sein scheint, deren Stücke noch immer durch die Bezeichnungen „Opus“ geordnet werden. Ideengeschichtliche und wissenschaftshistorische Zugänge ließen sich mithin durch sozialgeschichtliche Perspektiven
ergänzen. Sichtbar würden so die kulturellen, ökonomischen und sozialen
Abhängigkeiten zwischen Komponisten, Musikern, Auftraggebern und Verlegern.26 Die Veranstalter und das Publikum erwarteten nicht nur musikalische
Leistungen, auch die Künstler orientierten sich oft an den ästhetischen
Erwartungen, um finanzielle Erfolge zu erzielen. Durch den Blick auf die
Biographien bestimmter Künstlern könnten etwa die Einkünfte eines Orchestermusikers mit seinem Status in einem bürgerlichen Verein verglichen
werden. Die Analyse musikalischer Schöpfungen und die Rolle ihrer Vermittler erleichtern es, die Praxis musikalischer Kommunikation zu beschreiben.
„Es geht nie darum, dass der auf der Bühne den da unten gut unterhält. Musik
funktioniert nur in einer gemeinsamen Kommunikation.“27 Der Pianist
Maurizio Pollini benennt damit akkurat das Thema dieses Heftes. Die Beiträge
versuchen die Polarität zwischen Kunst und Gesellschaft zu relativieren. Hier
interessieren in erster Linie die gegenseitige Beobachtung der Musikliebhaber,
der Austausch zwischen Musikern und Publikum und schließlich die öffentliche Reichweite dieser musikalischen Beziehungen. Musikalische Aufführungen sind als Akte sozialer Ordnung wichtig und werden analysiert, weil sie die
Ausbildung und die Abgrenzung von Gruppen ermöglichen. Die Entscheidung
von Gruppen, Musik in ihrer spezifischen Weise zu rezipieren, eröffnet einen
normativen Rahmen und erlaubt die Entwicklung verbindlicher gesellschaftDas Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel 2004;
Helga de la Motte-Haber u. Hans Neuhoff, Vorwort, in: dies. (Hg.), Musiksoziologie,
Laaber 2007, S. 9 – 17; Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt 2004,
S. 42 – 57; schließlich die grundlegenden Befunde von Walter Benjamin, Das Kunstwerk
im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt 1963.
26 Vgl. Schleuning, Der Bürger erhebt sich; Hansjakob Ziemer, Die Moderne Hören. Das
Konzert als urbanes Forum, 1890 – 1940, Frankfurt 2008; Jutta Toelle, Oper als Geschäft.
Impresari an italienischen Opernhäusern, 1860 – 1900, Kassel 2007; Dana Gooley, The
Virtuoso Liszt, Cambridge 2004; DeNora, Beethoven; Elisabeth Eleonore Bauer, Wie
Beethoven auf den Sockel kam. Die Entstehung eines musikalischen Mythos, Stuttgart
1992; Baumeister u. a., Die Kunst der Geschichte.
27 Das ist ein Zitat aus der CD-Reihe der Wochenzeitung Die Zeit: Die Zeit Klassik Edition,
Bd. 13: Maurizio Pollini, Hamburg 2005.
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Geschichtswissenschaft und Musik
15
licher Formen.28 Um den Stellenwert des Musiklebens in Kulturen und
Gesellschaften zu zeigen, ist ein Perspektivwechsel nötig. Die Aneignung der
Musik ist nicht als ein peripheres Phänomen, sondern als eine gesellschaftlich
relevante Entwicklung zu begreifen.
Das Heft behandelt Praktiken der Kommunikation im Musikleben. Das
Publikum des Musiklebens lässt sich als Teilsegment der Gesellschaft begreifen, in dem sich Fremde, Bekannte und Freunde begegnen und verbunden
werden. Die Kontexte, in denen die Hörer und Opernbesucher, die Fans und
Leser der Zeitungen handeln und fühlen, werden kommunikativ strukturiert.
Das Musikleben ist ein verbindender Faktor innerhalb der Gesellschaft, ein
kommunikativ entstehender Zusammenhang zwischen Subjekten, Gruppen
und Institutionen. Künstler, Veranstalter und die Musikindustrie haben auch
dadurch Erfolg. Die Geltung musikalischer Kommunikationspraktiken führt
durch die ökonomisch, sozial und politisch ungleiche Verteilung zu immer
neuen oder zumindest festeren Grenzziehungen in einer Gesellschaft.29 Die
Rezeption von Musik lässt sich als eine Form der Kommunikation untersuchen. Musikalische Aufführungen schaffen nie isolierte, aber vielfältig kombinierte Reize, die genau deshalb so nachhaltig wirken. Es ist schwierig für die
Mehrzahl des Publikums, die Struktur und das differenzierte Regelwerk einer
Komposition zu entschlüsseln und mit den Mitteln der Alltagssprache zu
beschreiben. Auch deshalb bedürfen die Musikfreunde einander und eignen
sich diese Kunstform als Mitglieder einer Gemeinschaft an. Denn viele Stücke
zwingen zu einer öffentlichen Rezeption, zum Austausch und zum wechselseitigen Lernprozess zwischen Managern, Künstlern, Publikum und Presse.30
Geschmäcker und Genres werden im Musikleben sozial angewandt, genutzt
und verhandelt. Jeder sozial erworbene Rang setzt eine erfolgreiche Kommunikation voraus. Dieser ist eng verbunden mit den im Musikleben bestehenden
28 Vgl. Johnson, Listening, S. 28 – 34 u. S. 281 – 285; Hans Neuhoff, Die Konzertpublika der
deutschen Gegenwartskultur. Empirische Publikumsforschung in der Musiksoziologie,
in: Motte-Haber u. Neuhoff, Musiksoziologie, S. 473 – 509; Derek B. Scott, Music and
Social Class, in: Samson, Cambridge History of Nineteenth-Century Music, S. 544 – 567;
Richard Münch, Die soziologische Perspektive. Allgemeine Soziologie – Kultursoziologie – Musiksoziologie, in: Motte-Haber u. Neuhoff, Musiksoziologie, S. 33 – 59, hier
S. 46 – 53.
29 Vgl. Hubert Knoblauch, Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion
kultureller Kontexte, Berlin 1995, S. 1 – 20; Zofia Lissa, Zur Theorie der musikalischen
Rezeption, in: Helmut Rösing (Hg.), Rezeptionsforschung in der Musikwissenschaft,
Darmstadt 1983, S. 361 – 376; vgl. Tim C. W. Blanning, The Culture of Power and the
Power of Culture. Old Regime Europe, 1660 – 1789, Oxford 2002, bes. S. 106 – 161.
30 Vgl. dazu die Beiträge in Dorothy Miell u. a. (Hg.), Musical Communication, Oxford
2007; den Ansatz von Knoblauch, Kommunikationskultur, S. 46 – 56 und passim; sowie
Habbo Knoch u. Daniel Morat (Hg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel
und Gesellschaftsbilder, München 2003.
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Sven Oliver Müller und Jürgen Osterhammel
Präferenzen und Wissensbeständen. Wirkungsmächtig werden Kleidungsmode und Langeweile, Körperlichkeit und Askese, Rossini und Karajan. Zur
Kommunikation dienen auch Ausdrucks- und Nachahmungsbewegungen,
Begrüßungen, Gesten der Ehrerbietung und des Missfallens. Diese Handlungsweisen im Publikum sind auf Reaktionen, auf Antwort der Anderen im
Saal oder in den Medien angelegt; ein Hörer kommuniziert nur, wenn er davon
ausgeht, dass er von den anderen verstanden und akzeptiert wird. Die
verschiedenen Handlungsoptionen gleichen sich so aneinander an, weil sie
zueinander im kommunikativen Verhältnis stehen und durch dieses aufeinander abgestimmt werden.31
Die Frage ist, ob der Umgang mit Musik die Verständigung zwischen Gruppen
und Individuen erleichterte oder erschwerte. Entstand durch die Musikkultur
ein neuer Kommunikationsraum? Was gelang durch die musikalisch motivierte Kommunikation, was sich etwa durch die gesprochene Sprache oder
durch Bilder nicht oder anders vollzog? Eröffneten musikalische Aufführungen zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen Kommunikationschancen, die politische, soziale und wirtschaftliche Themen zu
verhandeln erlaubten? Nach dem heutigen Kenntnisstand ist noch unklar, ob
durch musikalische Aufführungen neue gesellschaftliche Gruppen entstanden
oder ob umgekehrt bereits bestehende Gruppen sich musikalischer Verständigung bedienten. Vieles spricht dafür, dass die Praktiken musikalischer
Aufführungen die öffentliche Kommunikation strukturierten und sich oft
neue Beziehungen in der Gesellschaft bildeten. Die Begegnungen der Musikfreunde in den Spielstätten vollzogen genau die Welt, die sie zeigten: Eine
durch musikalische Auseinandersetzung entstehende Gemeinschaft. Die
Aufführungen der Musik bildeten ein Element der Verständigung, um das
sich allmählich festere Formen kristallisierten.32
Wo aber wären Orte der Musik in einem allgemeineren Geschichtsverständnis
zu finden? Auf einige aussichtsreiche Perspektiven aus den Bereichen der
Politikgeschichte, der Kulturgeschichte, der Sozial- und der Emotionsgeschichte sei hingewiesen. Am unmittelbarsten anschlussfähig ist möglicherweise die Kulturgeschichte des Politischen, die das Symbolische und Performative politischen Handelns in den Vordergrund rückt. In dem Maße, in dem
31 Vgl. Alfred Schütz, Das Problem der Relevanz, Frankfurt 1976; Ute Frevert, Politische
Kommunikation und ihre Medien, in: dies. u. Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des
Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004, S. 7 – 19.
32 Vielleicht lässt sich dieser Prozess als die Herausbildung einer Kommunikationsgemeinschaft begreifen, als Ergebnis eines gemeinsamen Wissens über Mittel und
Praktiken der Verständigung. Vgl. dazu die Beiträge in Müller u. a., Die Oper im Wandel
der Gesellschaft. Beachtenswert sind aber ebenso die skeptischen Überlegungen von
Knoblauch, Kommunikationskultur, S. 58 f. u. S. 314 f.; sowie die Überlegungen in
Christoph Gusy u. Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Inklusion und Partizipation. Politische
Kommunikation im historischen Wandel, Frankfurt 2005.
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Geschichtswissenschaft und Musik
17
Politikgeschichte ihren Schwerpunkt von Entscheidungen auf Repräsentationen verlagert, kann sie den planvollen öffentlichen Einsatz von Musik in ihren
Horizont einbeziehen. Dies reicht von der Festkultur an frühneuzeitlichen
Fürstenhöfen, bei der Musik nicht bloß eine Zutat war, sondern das mehr oder
weniger ritualisierte Geschehen mit höherer – auch religiöser – Bedeutung
versah, über die pompösen Staatsbegräbnisse und nationalpolitisch motivierten Musikfeste des 19. Jahrhunderts bis zu den musikalischen Inszenierungen
in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Noch die Frage der Europa-Hymne –
man einigte sich schließlich auf die Freudenmelodie („Freude, schöner
Götterfunken“) aus dem vierten Satz von Ludwig van Beethovens Neunter
Symphonie – war ein brisanter Streitpunkt. Musik muss allerdings nicht
unbedingt ein Instrument obrigkeitlicher Steuerung sein. Sie kann auch als
Kristallisationskern oppositioneller, ja, subversiver Gemeinschaftsbildung
dienen. Der offiziellen Kultur wird dann eine counter-culture entgegengesetzt.
Der frühe Jazz und die Popmusik in der Studentenrevolte spielten eine solche
Rolle ebenso wie die Arbeitergesangsbewegung, die sich übrigens auch
Elemente der Elitenkultur aneignete, etwa Musik des als menschheitlicher
Humanist verstandenen Komponisten Ludwig van Beethoven.33
Dass Musik weithin eine öffentlich vollzogene kulturelle Praxis ist, verleiht ihr
zwangsläufig eine ökonomische Dimension. Fürstliche, kirchliche und bürgerliche Mäzene ließen sich Musik viel Geld kosten. Dort, wo es diese Art von
offizieller Patronage nicht gab (etwa in den USA), haben bis zum heutigen Tage
private Sponsoren eine analoge Aufgabe übernommen. In Europa gab es
bereits im 17. und 18. Jahrhundert eine kommunale, von Höfen unabhängige
Musikpflege. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde daraus Kulturpolitik auf den
unterschiedlichen Ebenen von Staatlichkeit. Vor allem Gründung, Bau und
Betrieb von Konzerthäusern und Opernhäusern verlangten den Einsatz
staatlicher Mittel. In demokratischen politischen Systemen ist die Subventionierung einer offensichtlichen Minderheitskultur aus Steuergeldern eine
immer wieder umkämpfte und rechenschaftsbedürftige Entscheidung.
Sozialgeschichtlich interessiert die Frage nach der ästhetischen Bildung
kollektiver Identitäten und der Verwendung von Musik als Statusmarker und
Distinktionskriterium. Aus Pierre Bourdieus Untersuchungen über Akkumulation und Einsatz kulturellen Kapitals im Frankreich der jüngsten Vergangenheit34 ist zu lernen, dass nicht nur das deutsche Bildungsbürgertum des
33 Vgl. Philip V. Bohlman. The Music of European Nationalism. Cultural Identity and
Modern History, Santa Barbara, CA 2004; Sarah Zalfen, Staats-Opern? Der Wandel von
Staatlichkeit und die Opernkrisen in Berlin, London und Paris am Ende des 20.
Jahrhunderts, Wien 2011; Esteban Buch, Beethovens Neunte. Eine Biographie, München
2000; sowie die Beiträge in Sven Oliver Müller u. Jutta Toelle (Hg.), Bühnen der Politik.
Die Oper in europäischen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2008.
34 Bourdieu, Unterschiede; ders., Über Ursprung und Entwicklung der Arten der
Musikliebhaber, in: ders., Soziologische Fragen, Frankfurt 1993, S. 147 – 152.
18
Sven Oliver Müller und Jürgen Osterhammel
19. Jahrhunderts seine Überlegenheitsansprüche vor sich selbst und anderen
Teilen der Gesellschaft durch musikalische Kennerschaft und die Förderung
von Institutionen des musikalischen Lebens unter Beweis zu stellen suchte.
Musikkonsum, ob nun im regelmäßigen Konzertbesuch oder in der Anhäufung einer zur Schau gestellten Plattensammlung vollzogen, wird zum Element
sozialer Selbstentwürfe. Musikpräferenzen sind oft ein Bekenntnis, das sich
mit Inklusion und Exklusion verbindet. Auch die Richtungskämpfe innerhalb
des klassischen Bildungsbürgertums, etwa pro und contra Richard Wagner
und der Musik der „Neudeutschen“, sind Beispiele dafür. Musik kann ebenso
integrieren wie spalten. Sie erfüllt damit eine Rolle, die derjenigen von Religion
in manchem ähnelt.
Ein für die Geschichtswissenschaft vielversprechender Ansatz ist ein Blick auf
eine Geschichte der Emotionen im Musikleben.35 Auf Affekte und Gefühle
verweisen Forscher regelmäßig, meistens aber ohne diese zu erklären oder zu
kontextualisieren. Notwendig wäre dieser Ansatz allein schon deshalb, weil
Emotionen als öffentliche Form der Kommunikation wirken. Denn durch
gemeinsam ausgeprägte und ausgelebte Praktiken im Zusammenhang mit
Musik erlernten Gruppen emotionale Bindungen. Emotionen sind dabei
weniger momentane Affekte als vielmehr langfristige Verhaltensmuster, die
sozialem Wandel unterworfen sind. Die gleichen Musikstücke können in
unterschiedlichen Kontexten häufig andere Emotionen auslösen. Musik
erlaubt die Entschlüsselung emotionaler Zustände, deren Mitteilung durch
Sprache vergleichsweise schwerer zu leisten ist. Musikalisch motivierte
Emotionen erleichtern es, intensiver zu kommunizieren.
Musikalische Praktiken könnten als eine Geschichte erfolgter und erfolgreicher Kommunikation erforscht werden. Die Beiträge dieses Heftes verweisen
lediglich auf einige der genannten Perspektiven. Die einzelnen Aufsätze fragen
nach der Bedeutung, den Akteuren und der Kommunikation in ausgewählten
Themenfeldern. Der Fokus richtet sich nicht allein auf die Darstellung des
breiten Handlungsrepertoires einzelner Personen oder Institutionen, sondern
primär auf eine zusammenhängende Analyse der einzelnen Akteure. Gesellschaftliche Paradigmen und gruppenspezifische Praktiken sollen entschlüsselt
werden. Drei der vier Aufsätze im Schwerpunktteil dieses Hefts beleuchten
Aspekte der „ernsten“ Musik in räumlich wie zeitlich unterschiedlichen
sozialen settings. Die folgenden Bemerkungen beschränken sich daher auf
dieses immer noch sehr umfangreiche Themenfeld.
35 Vgl. zum analytischen Potential von Emotionen in der musikalischen Praxis; Tia
DeNora, Aesthetic Agency and Musical Practice. New Directions in the Sociology of
Music and Emotion, in: Patrik N. Juslin u. John A. Sloboda (Hg.), Music and Emotion.
Theory and Research, Oxford 2001, S. 161 – 180; Nicholas Cook u. Nicola Dibbden,
Musicological Approaches to Emotion, in: ebd., S. 45 – 70; Patrik N. Juslin u. John A.
Sloboda, in: ebd., S. 453 – 462; Malcom Budd, Music and the Emotions. The Philosophical Theories, London 1992.
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Geschichtswissenschaft und Musik
19
Die europäische Kunstmusik, als „klassische“ oder „ernste“ Musik eine
Erscheinung der Neuzeit und im 20. Jahrhundert von zunehmender Musealisierung betroffen, kann nicht nur in einem Kontinuum zur populären Musik
gesehen werden, sondern auch in noch größeren Zusammenhängen. Zum
einen ist dies „Weltmusik“, also die Musik prinzipiell aller Zivilisationen, wie
sie seit der Zeit um 1900 von der neuen europäisch-nordamerikanischen
Wissenschaft der Musikethnologie beziehungsweise Ethnomusikologie, verstanden als eine interkulturell vergleichende Musikwissenschaft, gesammelt
und studiert wurde; heute macht sie einen Bereich der musikalischen
Kulturindustrie aus. Der Beitrag von Jürgen Osterhammel skizziert diesen
„globalen“ Kontext der europäischen Musikgeschichte während der langen
Jahrhundertwende um 1900.
Musik jeglicher Art ist domestiziertes Geräusch, das heißt ein Spezialfall
innerhalb einer umfassenden Geschichte von Tönen, Krach und Klang, mithin
von akustischer Sinnlichkeit. Kommunikation spielt sich so gut wie nie in
klangneutralen Zusammenhängen ab; auch Sprache ist Klang. Eine sehr weit
gefasste Problemformulierung erleichtert und bereichert indes nicht immer
die Untersuchung spezifischer historischer Fragestellungen. Wer sich für das
Verhalten des Publikums in italienischen Opernhäusern der Belcanto-Epoche
interessiert, muss sich nicht unbedingt um eine allgemeine Geräuschgeschichte der Neuzeit kümmern. Hier sind feine Abstufungen und Vermittlungen unerlässlich, eine Aufgabe, die sich Jan-Friedrich Missfelder in seinem
Beitrag stellt.
Das Publikum im Musikleben ist ein bekanntes Phänomen, aber eine
wissenschaftlich nur wenig erforschte Kategorie. Doch gerade der Umgang
des Publikums mit musikalischen Aufführungen macht die Bedeutung der
Musik in der Gesellschaft greifbar. Die öffentliche Rezeption der Musik
verlangt den Erwerb komplizierter und aufs Feinste abgestimmter Verhaltensmuster. Das Publikum schuf ein Abhängigkeits- und Beobachtungsgeflecht, innerhalb dessen es dann angreifbar wurde, wenn bestimmte Hörer
„unschön“ agierten, die erwarteten Konventionen repräsentativer Kommunikation übertraten. Sven Oliver Müller untersucht in seinem Beitrag die
kulturelle und politische Konkurrenz zwischen Bürgertum und Adel in der
Mitte des 19. Jahrhunderts.
Musik und Musikrezeption zu historisieren, bedeutet nach den Prozessen und
Strukturen zu fragen, welche den Transfer der Musik durch die Zeit
ermöglichen – oder auch verhindern. Dabei entwickelte sich eine Vielfalt
von Finanzierungsformen und administrativen Apparaten, von Bauwerken
und Repertoires, von Rezeptions- und Repräsentationsritualen, und es
entstand die das Musikleben bis in die Gegenwart prägende Spannung
zwischen kulturellem Erbe und zeitgenössischer Legitimation. Am Beispiel der
Oper untersucht der Beitrag von Sarah Zalfen diese Phänomene als eine Form
der Institutionalisierung von Musik.
20
Sven Oliver Müller und Jürgen Osterhammel
Vieles spricht für die Überlegung, dass die Wirkung der Musik weniger aus
ihrer objektiv bestimmbaren Qualität resultiert als vielmehr aus der interpretierenden Bestimmung durch die situative Auswahl, die Geltung der Institutionen und das Verhalten der Zuhörer. Die Untersuchung des Zusammenhangs
zwischen Werk und Wirkung könnte vermeiden, Musik einseitig als kulturell
autonomes Phänomen zu begreifen und die gesellschaftliche Dimension von
Kunstwerken zu ignorieren. Die vorliegenden Beiträge stellen einen Versuch
dar, Perspektiven aufzuzeigen, wie durch die Beschäftigung mit der Musik
wichtige Einsichten gewonnen werden können. Die Entschlüsselung der
musikalischen Kommunikation ermöglicht zugleich Einblicke in die Anordnung der Gesellschaft.
Dr. Sven Oliver Müller, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung,
Lentzeallee 94, D-14195 Berlin
E-Mail: omueller@mpib-berlin.mpg.de
Prof. Dr. Jürgen Osterhammel, Universität Konstanz, Fachbereich Geschichte
und Soziologie, Postfach 6, D-78457 Konstanz
E-Mail: juergen.osterhammel@uni-konstanz.de
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Period Ear
Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit
von Jan-Friedrich Missfelder*
Abstract: This article advocates that we should understand the sound history as a new
way of investigating general history. It focuses upon auditory perception and the
political economy of sound utterances, and therefore identifies sound production as
an indicator of the valid political and social order. As such, the sound history unearths
the specific acoustemology of a given historical society, the way in which people make
sense of their world via sounds and their understanding of sound.
Die Stimme macht Lärm, die Dinge ebenfalls.1
Michel Serres
Turn! Turn! Turn! (To Everything there is a Season)2
The Byrds
Das Klio blind sei, wird niemand mehr behaupten können. Die Geschichtswissenschaft hat ihre „historischen Augen“ in den letzten Jahren geschärft und
Bilder und visuelle Medien aller Art als Quellen und Erkenntnismittel zu
nutzen gelernt.3 Deren heuristischer Wert steigt dabei insbesondere in der
Kultur- und Wissenschaftsgeschichte immer weiter. Bilder werden nicht mehr
nur als Speichermedium vergangener Wirklichkeiten aufgefasst, sondern
zunehmend auch als spezifische Produzenten historischen Wissens analysiert.4 Die methodische und theoretische Bewegungsrichtung der Geschichtswissenschaft scheint damit, wie in anderen Kulturwissenschaften auch, durch
den je nach Akzentuierung unterschiedlich gelagerten iconic, pictorial oder
* Für sachkundige Lektüre und konstruktive Hinweise danke ich Daniel Morat.
1 Michael Serres, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt
1998, S. 157.
2 The Byrds, Turn! Turn! Turn!, CBS 1897, November 1965.
3 Vgl. nur Gerhard Paul, Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006; Bernd Roeck,
Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit von der Renaissance zur
Revolution, Göttingen 2004; ders., Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder, in: GG
29. 2003, S. 294 – 315 sowie zusammenfassend Habbo Knoch, Renaissance der Bildanalyse in der neuen Kulturgeschichte, in: Historisches Forum 5. 2005, http://edoc.huberlin.de/e_histfor/5/PHP/Beitraege_5 – 2005.php#393.
4 Vgl. z. B. Julia Voss, Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie, 1837 – 1874,
Frankfurt 2007.
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 21 – 47
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
22
Jan-Friedrich Missfelder
visual turn vorgegeben.5 Kaum ist die eine Wende jedoch vollzogen, kündigen
sich neue Drehungen an. Vom jeweiligen emotional, medial oder gar historic
turn wird erwartet, dass er die Aufmerksamkeit der Kulturwissenschaften
wieder neu ausrichtet.6 Unter diesen verschiedenen turns firmieren seit
kurzem auch ein acoustic,7 sonic8 oder auditory turn.9 Was hat es damit auf
sich?
Klänge, Musik und akustische Wahrnehmung standen lange Zeit eher am
Rande der kulturwissenschaftlichen Forschungsagenda – von der Musikwissenschaft im engeren Sinne einmal abgesehen, die sich aber in ihrer
traditionellen Form ebenfalls eher der textuellen Basis der Musik in Form
von Notenschrift als dem Klangereignis selbst zuwandte.10 Dies sei, so die
Propagandistinnen und Propagandisten des acoustic, sonic, auditory turn, nun
im Begriff, sich zu ändern. Hatte der amerikanische Phänomenologe Don Ihde
schon 1976 der Philosophie einen auditory turn verordnet,11 so scheint die
Wende zum Klang nun auch andere Disziplinen zu betreffen. Literatur- und
Medienwissenschaften, (Kultur-)Anthropologie und nicht zuletzt die Musikwissenschaft selbst widmen dem Klang, dem akustischen Ereignis und der
Hörwahrnehmung seit einiger Zeit größere Aufmerksamkeit.12 Der kanadische
5 Vgl. zur Differenzierung und Wissenschaftsgeschichte der verschiedenen turns instruktiv Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S. 329 – 380.
6 Vgl. ebd., S. 381 f.
7 Vgl. Petra Maria Meyer (Hg.), Acoustic Turn, München 2008.
8 Vgl. Jim Drobnick, Listening Awry, in: ders. (Hg.), Aural Cultures, Toronto 2004,
S. 9 – 18, hier S. 10.
9 Vgl. die von Veit Erlmann im Oktober 2009 organisierte Konferenz „Thinking Hearing.
The Auditory Turn in the Humanities“, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=11961&sort=datum&order=down&search=erlmann.
10 Vgl. zu diesem Problem erhellend Nicholas Cook, Between Process and Product. Music
and/as Performance, in: Music Theory Online 7. 2001, http://www.mtosmt.org/issues/
mto.01.7.2/mto.01.7.2.cook_frames.html; eine frühe Ausnahme bildet allerdings Christopher Small, Musicking. The Meanings of Performing and Listening, Hanover, NH
1998. Die Anzahl der klangorientierten Studien im Bereich der Sozialgeschichte der
Musik nimmt allerdings zu. Vgl. z. B. jüngst Christopher Marsh, Music and Society in
Early Modern England, Cambridge 2010.
11 Vgl. Don Ihde, Listening and Voice. Phenomenologies of Sound, Albany, NY 20072 ; auch
Wolfgang Welsch, Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens? [1993], in: Reader Neues
Funkkolleg. Der Aufstand des Ohrs – Die neue Lust am Hören, Göttingen 2006,
S. 29 – 46; zu Ihde auch Daniel Schmicking, Hören und Klang. Empirisch phänomenologische Untersuchungen, Freiburg 2003, bes. S. 57 – 67; vgl. jetzt auch Jean-Luc Nancy,
Zum Gehör, Zürich 2010.
12 Vgl. als Auswahl an einschlägigen Sammelbänden und Literaturberichten nur Michael
Bull u. Les Back (Hg.), The Auditory Culture Reader, Oxford 2003; Nora M. Alter u. Lutz
Koepenick (Hg.), Sound Matters. Essays on the Acoustics of Modern German Culture,
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Perspektiven einer Klanggeschichte
23
Theoretiker Jim Drobnick legitimiert seinen Ruf nach einem sonic turn unter
anderem durch die „emergence of a critical mass of sound-inflected theory and
art“.13 Gilt dies auch für die Geschichtswissenschaft? Sind Historikerinnen und
Historiker gehalten, den nächsten turn zu vollziehen und sich vom Sehen aufs
Hören umzustellen? Die Diagnose einer amerikanischen Historikerin, dass
„auditory history entered the discipline with a vengeance“14 mag – zumindest
für den deutschsprachigen Raum – weit übertrieben sein.15 In Bezug auf die
angloamerikanische Forschung sieht die Lage etwas besser aus, finden sich
hier doch einige, durchaus disparate Studien und Ansätze aus dem Bereich der
Hör- und Klanggeschichte.16 Diese verbindet aber weder ein gemeinsamer
13
14
15
16
New York 2004; Veit Erlmann (Hg.), Hearing Cultures. Essays on Sound, Listening, and
Modernity, Oxford 2005; Harro Segeberg u. Frank Schätzlein (Hg.), Sound. Zur
Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005; Doris Kolesch
u. Sybille Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt 2006; David
W. Samuels u. a., Soundscapes. Toward a Sounded Anthropology, in: Annual Review of
Anthropology 39. 2010, S. 329 – 345.
Drobnick, Listening Awry, S. 10.
Sophia Rosenfeld, On Being Heard. A Case für Paying Attention to the Historical Ear, in:
American Historical Review 116. 2011, S. 316 – 334, hier S. 317.
Vgl. jetzt aber Daniel Morat u. a. (Hg.), Politik und Kultur des Klangs im 20. Jahrhundert, Zeithistorische Forschungen 8. 2011; Alexa Geisthövel, Auf der Tonspur. Musik als
zeitgeschichtliche Quelle, in: Martin Baumeister u. a. (Hg.), Die Kunst der Geschichte.
Historiographie, Ästhetik, Erzählung, Göttingen 2009, S. 157 – 168 sowie schon früh
Thomas Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre
Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen 1.
2004, S. 72 – 85.
Vgl. v. a. Veit Erlmann, Reason and Resonance. A History of Modern Aurality, New York
2010; Karin Bijsterveld, Mechanical Sound. Technology, Culture, and Public Problems of
Noise in the Twentieth Century, Cambridge, MA 2008; Ros Bandt u. a. (Hg.), Hearing
Places. Sound, Place, Time and Culture, Newcastle upon Tyne 2007; Richard Cullen
Rath, How Early America Sounded, Ithaca, NY 2003; Jonathan Sterne, The Audible Past.
Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham, NC 2003; David Garrioch, Sounds of
the City. The Soundscape of Early Modern European Towns, in: Urban History 30. 2003,
S. 5 – 25; Emily Thompson, The Soundscape of Modernity. Architectural Acoustics and
the Culture of Listening in America, 1900 – 1933, Cambridge, MA 2002; Mark M. Smith,
Listening to Nineteenth-Century America, Chapel Hill, NC 2001; Leigh Eric Schmidt,
Hearing Things. Religion, Illusion and the American Enlightenment, Cambridge, MA
2000; Jean-Pierre Gutton, Bruits et sons dans notre histoire, Paris 2000; Bruce R. Smith,
The Acoustic World of Early Modern England. Attending to the O-Factor, Chicago 1999;
vgl. auch die Literaturberichte von Daniel Morat, Sound Studies – Sound Histories. Zur
Frage nach dem Klang in der Geschichtswissenschaft und der Geschichte in der
Klangwissenschaft, in: kunsttexte.de/Auditive Perspektiven 4. 2010, http://edoc.huberlin.de/kunsttexte/2010 – 4/morat-daniel-3/PDF/morat.pdf sowie ders., Zur Geschichte des Hörens. Ein Forschungsbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 51. 2011,
S. 695 – 716; Jürgen Müller, „The Sound of Silence“. Von der Unhörbarkeit der
24
Jan-Friedrich Missfelder
theoretischer Horizont noch eine wirkliche Debatte über ihre Gegenstände
und Methoden – was ein bekanntes Problem relativ junger Forschungsfelder
sein mag. In jedem Fall ist die Forschungssituation zugleich prekär und
unübersichtlich. Während manche der bestehenden klanggeschichtlichen
Arbeiten eher impressionistisch sowie methodisch und theoretisch eher
unterreflektiert daherkommen,17 finden sich gerade auf dem boomenden Feld
der nicht (nur) historisch arbeitenden Sound Studies ebenso vielfältige wie
vage Theorieangebote, die einer Evaluation für den geschichtswissenschaftlichen Zweck bedürfen.18
Im Folgenden soll skizziert werden, wie eine historische Wissenschaft des
Akustischen aussehen könnte. Dabei wird die These vertreten, dass Klanggeschichte einen eigenständigen Beitrag zur Erkenntnis der allgemeinen
Geschichte zu leisten vermag, der sich nicht in der Thematisierung eines
bislang unterhistorisierten menschlichen Sinnes erschöpft. Um dies zu
verdeutlichen, soll in einem ersten Schritt gezeigt werden, dass Klanggeschichte als spezifische Form von Sinnesgeschichte verstanden werden muss,
welche der fundamentalen Konstitution aller historischen Wirklichkeit durch
das menschliche Sensorium Rechnung trägt. Das bedeutet, dass Klanggeschichte nur als Hörgeschichte sinnvoll konzeptionalisiert werden kann. Aus
dieser Ausrichtung ergibt sich eine Reihe von methodischen Problemen, die in
einem zweiten Schritt diskutiert werden. Schließlich soll am Beispiel der
akustischen Produktion sozialer und politischer Ordnungen vorgeführt
werden, welche neuartigen Erkenntnisse sich aus einer konsequent klanggeschichtlichen Perspektive auf klassische Felder der Geschichtsschreibung
ergeben.
Vergangenheit zur Geschichte des Hörens, in: HZ 292. 2011, S. 1 – 29; Rosenfeld, On
Being Heard, S. 317 – 326; Michele Hilmes, Is There a Field Called Sound Culture
Studies? And Does it Matter?, in: America Quarterly 57. 2005, S. 249 – 259 sowie Mark
M. Smith (Hg.), Hearing History. A Reader, Athens, GA 2004.
17 Vgl. z. B. Sieglinde Geisel, Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der
Sehnsucht nach Stille, Köln 2010; dagegen aber Smith, Listening to Nineteenth-Century
America, bes. S. 261 – 270 und Schmidt, Hearing Things, bes. S. 1 – 37.
18 Einen Überblick bietet Sabine Sanio, Aspekte einer Theorie der auditiven Kultur.
Ästhetische Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft, in: kunsttexte.de/Auditive
Perspektiven 4. 2010, http://www.kunsttexte.de/index.php?id=711&idartikel=37461&
ausgabe=37455&zu=907&L=0; vgl. auch Holger Schulze (Hg.), Sound Studies. Traditionen, Methoden, Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008; Holger Schulze u.
Christoph Wulf (Hg.), Klanganthropologie, Paragrana 16. 2007.
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Perspektiven einer Klanggeschichte
25
I. Klio von Sinnen
Um die mögliche Reich- und Tragweite einer klangorientierten Geschichtswissenschaft umreißen zu können, ist es hilfreich, noch einmal einen Blick auf
Struktur und Selbstanspruch des vorgängigen iconic turn zu werfen. Beide,
iconic und sonic turn, lassen sich nämlich als Varianten einer allgemeinen
Hinwendung zu den Sinnen als Grundierung kulturwissenschaftlicher Erkenntnis verstehen. Dass dies nicht nur die Ebene des Gegenstands betrifft,
sondern die epistemologische Struktur der Erkenntnis selbst, lässt sich bereits
am Beispiel des iconic turn aufzeigen. Mit diesem ist erheblich mehr
verbunden als die verstärkte Berücksichtigung visuellen Materials in der
historischen Quellenkunde. Als der amerikanische Literatur- und Bildtheoretiker W. J. T. Mitchell 1992 den pictorial turn ausrief, reagierte er damit auf
ein Unbehagen am in den Kultur- und Geisteswissenschaften vorherrschenden
textuellen Paradigma, installiert durch den vorherigen, den linguistic turn. Für
ihn lag im pictorial turn die Chance einer „postlinguistic, postsemiotic
rediscovery of the picture as a complex interplay between visuality, apparatus,
institutions, discourse, bodies, and figurality“.19 Mit dieser Perspektive stieß er
auf weitreichende Zustimmung. Gängige Formeln von der Kultur als Text, vom
endlosen Spiel der Zeichen oder von der Lesbarkeit der Welt erschienen immer
weniger überzeugend. Es gebe, so zum Beispiel der Basler Bildwissenschaftler
Gottfried Boehm, jenseits der Sprache „gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte
Räume der Visualität, des Klanges [sic!], der Geste, der Mimik und der
Bewegung“,20 die sich nicht als Texte verstehen und analysieren ließen,
sondern einer eigenen Logik gehorchten. Horst Bredekamp schließlich rief zur
„methodischen Schärfung der bildlichen Analysemittel auf jedwedem Feld und
in jeglichem Medium“21 auf und formulierte damit den Anspruch der neu
konstituierten Bildwissenschaft auf den Status einer Leitwissenschaft weit
über die engere Disziplin der Kunstgeschichte hinaus. Die Rede von einer
„ikonische[n] Episteme“,22 die aus der dem Text als Paradigma verpflichteten
Hermeneutik herausführe und vielmehr einer „Logik des Zeigens“ folge, zeugt
von einer grundlegenden Verschiebung in der kulturwissenschaftlichen
Theorietektonik. Worin genau die Folgen für jene Disziplinen bestehen, die
19 William J. T. Mitchell, The Pictorial Turn [1992], in: ders., Picture Theory. Essays on
Verbal and Visual Representation, Chicago 1994, S. 11 – 34, hier S. 16.
20 Gottfried Boehm, Jenseits der Sprache. Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: Christa
Maar u. Hubert Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004,
S. 29 – 43, hier S. 43.
21 Horst Bredekamp, Drehmomente. Merkmale und Ansprüche des iconic turn, in: ebd.,
S. 15 – 26, hier S. 16.
22 Gottfried Boehm, Das Paradigma „Bild“. Die Tragweite der ikonischen Episteme, in:
Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaft im Aufbruch, München 2007,
S. 77 – 82, hier S. 78 und öfter.
26
Jan-Friedrich Missfelder
sich nicht primär oder nicht ausschließlich der Analyse von Bildern widmen,
bleibt dabei aber meist eher vage. Insbesondere in der Geschichtswissenschaft
ist alles andere als deutlich, wie ein Versuch „nicht nur […] Bilder zu
verstehen, sondern die Welt durch Bilder zu verstehen“23 konkret aussehen
soll.
Jenseits der Frage der konkreten Umsetzung des Leitwissenschaftsanspruchs
im iconic turn fällt aber vor allem auf, dass dieser eine klare Hierarchie in das
menschliche Sensorium einführt. Die Betonung des Gesichtssinns gegenüber
den anderen Sinnen für die Erkenntnis der Welt sei, so die Annahme des iconic
turn, der spät- beziehungsweise postmodernen Situation einzig angemessen.24
In dem man den Blick auf Visualität richtet, reagiert man auf eine vielfach
beklagte „Bilderflut“ und versucht, diese „begrifflich zu dämmen“ und die
Bildanalyse damit „in das Zentrum einer kritischen Philosophie der Gegenwart“ zu rücken.25 Insbesondere im verstärkten Auftreten rein technisch
generierter Bilder in Kunst, Medien und Wissenschaften zeige sich die
„Dämmerung einer alten Welt“26 der Korrespondenz zwischen Bild und
Realem.27 Damit fielen klassische Fragen nach Abbildcharakter oder Repräsentation hinweg zugunsten einer reinen Präsenz des Visuellen, das seinerseits
Realitäten erst generiert. Die spezifische historische Situation der Gegenwart,
so wird hier suggeriert, erzwinge geradezu die Privilegierung eines Sinnes als
ein wissenschaftliches Paradigma. Vor diesem Hintergrund ist es nur verständlich, wenn auch der acoustic turn nicht antritt, das Visuelle als
Leitkategorie der Kulturwissenschaften zu bestreiten oder gar zu beerben.
Vielmehr nutzen seine Vertreter eingestandenermaßen den „Diskurseffekt der
Aufmerksamkeitserzeugung“,28 der im Slogan vom turn liegt, um das Augenmerk auf akustische Phänomene innerhalb der Kultur zu lenken, die einem
allzu souveränen Blick auf das rein Visuelle zu entgehen drohten. Worum es
23 Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 349, Hervorhebung im Original.
24 Vgl. zur spezifisch modernen Vorgeschichte dieser Hierarchisierung anregend David M.
Levin (Hg.), Modernity and the Hegemony of Vision, Berkeley, CA 1993.
25 Bredekamp, Drehmomente, S. 20. Vgl. auch Mitchell, Pictorial Turn, S. 16: „Most
important, it is the realization that while the problem of pictorial representation has
always been with us, it presses us inescapably now, and with unprecedented force, on
every level of culture, from the most refined philosophical speculations to the most
vulgar productions of mass media.“
26 Boehm, Paradigma „Bild“, S. 77.
27 Vgl. hierzu auch Friedrich Kittler, Schrift und Zahl. Die Geschichte des errechneten
Bildes, in: Maar u. Burda, Iconic Turn, S. 186 – 203.
28 Petra Maria Meyer, Vorwort, in: dies. (Hg.), Acoustic Turn, S. 13 – 31, hier S. 18. Meyer
behauptet etwas unklar, dass den anderen „proklamierten turns (vom ,linguistic turn‘
über den ,semiotic turn‘, den ,iconic turn‘ und ,performative turn‘ zum ,medial turn‘)
immer schon ein acoustic turn innewohnt“, S. 13. Es gehe daher darum, „diese zu
ergänzen und zu neuen Reflexionen heraus[zu]fordern“, S. 16.
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Perspektiven einer Klanggeschichte
27
geht, ist also keine Umkehrung von Sinneshierarchien, sondern allenfalls die
Erhöhung der Komplexität in einer auf vornehmlich einen Sinn ausgerichteten
Wissenschaftskultur. Die Gegenwart bleibt dabei primär visuell strukturiert,
ein acoustic turn ist zunächst nicht viel mehr als eine Pirouette innerhalb der
ikonischen Episteme moderner Kultur. Dieser Konstellation liegt, wiewohl
uneingestanden und implizit, eine eigene historische These zugrunde. Die
Meistererzählung von der in der Moderne einsetzenden Dominanz des
Visuellen als dem Medium der Vernunft und der Wahrheitsproduktion (Hans
Blumenberg),29 aber auch spezifisch moderner Überwachungstechnologien
(Michel Foucault)30 bei gleichzeitiger Marginalisierung der anderen Sinne
schreibt sich bis in die Gegenwart und in deren Epistemologie fort.31
Diese These lässt sich ihrerseits historisieren. Die Sinne und das Sinnieren
über die Sinne, das macht die turn-Diskussion deutlich, haben beide Anteil an
der jeweiligen historischen Situation, in der sie stehen. Sie lassen sich nicht
ablösen von ihrer sozialen, kulturellen und politischen Umgebung, sondern
bilden diese als je spezifische, historisch variable Konfiguration der Sinne ab.
Es erscheint demnach als eine ureigene Aufgabe der Geschichtswissenschaft,
den scheinbar natürlich gegebenen Sinnesapparat als soziales und kulturelles
Phänomen zu historisieren.32 Ebenso wie jegliche Erfahrung nur eine sinnlich
vermittelte ist, ist jegliche Geschichte demnach in gewisser Weise Sinnesgeschichte. Versteht man den iconic turn metonymisch als eine Wende vom
(textuellen) Sinn zu den Sinnen in den Kulturwissenschaften, so ließe sich
seiner Opposition gegen den linguistic turn eine Variante von dessen Credo
29 Vgl. Hans Blumberg, Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen
Begriffsbildung, in: ders., Ästhetische metaphorologische Schriften, Frankfurt 2001,
S. 139 – 171.
30 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt
1976; ders., Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt
1973.
31 Vgl. paradigmatisch Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf 1968; ders. u. Edmund Carpenter, Acoustic Space, in: dies. (Hg.),
Explorations in Communication, Boston 1960, S. 65 – 70; vgl. zu McLuhans Medientheorie des Akustischen auch Nils Röller, Marshall McLuhan und Vilm Flusser zur
Tragödie des Hörens, in: Hans-Peter Schwarz (Hg.), Aufträge. Zweites Zürcher Jahrbuch
der Künste 2005, Zürich 2006; auch Walter J. Ong, Oralität und Literalität. Die
Technologisierung des Wortes, Opladen 1987; als Kritik an dieser „great divide theory“
Mark M. Smith, Sensing the Past. Seeing, Hearing, Smelling, Tasting, and Touching in
History, Berkeley, CA 2007, bes. S. 8 – 13.
32 Vgl. als knappe Einführung Wolfram Aichinger, Sinne und Sinneserfahrung in der
Geschichte. Forschungsfragen und Forschungsansätze, in: ders. u. a. (Hg.), Sinne und
Erfahrung in der Geschichte, Innsbruck 2003, S. 9 – 28; Smith, Sensing the Past, sowie
die Beiträge in David Howes (Hg.), Empire of the Senses. The Sensual Culture Reader,
Oxford 2005.
28
Jan-Friedrich Missfelder
abgewinnen: „Il n’y a pas d’hors sens.“ In dieser Perspektive ergibt dann auch
der hypertrophe Umfassendheitsanspruch des iconic turn neuen, anderen
Sinn. Sinnesgeschichte erscheint so nicht als eine weitere „BindestrichGeschichte“ (Ute Daniel) neben Politik-, Sozial-, Geschlechter- oder Tiergeschichte, sondern als ein neuer „habit“ der Analyse jeglichen Gebietes der
Geschichte in jeglichem Quellenmedium: „an embedded way of remaining
vigilant about and sensitive to the full sensory texture of the past“.33
Sinnesgeschichte hat in diesem Sinne keinen prinzipiell abgegrenzten Gegenstand, sondern stellt eine Art und Weise dar, das Ganze der Geschichte neu, von
der sinnlichen Konstituierung der Wirklichkeit her zu fassen. Ebenso
entspricht einer Sinnesgeschichte als „habit“ keine privilegierte Quellengattung. Es gilt vielmehr, das gesamte Spektrum historischen Materials auf die
Thematisierung von Sinnen und sinnlicher Wahrnehmung hin neu zu lesen.
Hier sind ganz unterschiedliche Zugriffe denkbar. So schreibt Alain Corbin,
der Hauptvertreter neuerer französischer Sinnesgeschichte in der Tradition
der Annales, seine fulminante Wahrnehmungsgeschichte „ländlicher Gefühlskultur“ am Beispiel französischer Glockenkonflikte des 19. Jahrhunderts auf
der Basis normativer Quellen, Bürgereingaben und Verwaltungsakten.34 Mark
M. Smiths Klanggeschichte des Amerikanischen Bürgerkriegs und seiner
Vorgeschichte stützt sich dagegen stark auf Selbstzeugnisse, Reiseberichte und
Presseartikel.35 Beiden gemeinsam ist methodisch nur der neue Zugriff auf
bekanntes Material. Die „masses dormantes“36 an sinnesgeschichtlichen
Quellen stellen also kein unentdecktes historiographisches Neuland dar und
führen auf kein gänzlich neues Feld der Geschichtswissenschaft. Vielmehr
ermöglicht der „habit“ der Sinnesgeschichte einen anderen Blick auf vertrautes Gelände und eröffnet gerade dadurch neue Fragestellungen.37
Die historiographischen Traditionen einer solchen Sinnesgeschichte sind
ehrwürdig, haben aber noch kaum eine eigentliche Forschungsrichtung
innerhalb des Faches begründen können. Neben obligaten Referenzen auf Karl
33 Smith, Sensing the Past, S. 5; vgl. auch ders., Producing Sense, Consuming Sense,
Making Sense. Perils and Prospects for Sensory History, in: Journal of Social History 40.
2007, S. 841 – 858; Daniel Morat, Sinne, in: Anne Kwaschik u. Mario Wimmer (Hg.), Von
der Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch zur Theorie und Praxis des Historikers,
Bielefeld 2010, S. 183 – 186.
34 Vgl. Alain Corbin, Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische
Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt 1994.
35 Vgl. Smith, Listening to Nineteenth-Century America.
36 Alain Corbin, Historien du sensible. Entretiens avec Gilles Heur, Paris 2000, S. 107.
37 Vgl. auch Richard Cullen Raths Erfahrungen einer Relektüre bekannten Materials:
„When I started working with some of the primary sources Hall and Thomas used, I
noticed that where the two historians usually referred to beliefs about lightning, the
sources spoke of thunder.“ Ders., Hearing American History, in: Journal of American
History 95. 2008, S. 417 – 431, hier S. 417.
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Perspektiven einer Klanggeschichte
29
Marx38 und Georg Simmel39 könnten vor allem prominente Vertreter der
Annales-Schule Inspiration liefern. Das Interesse an der kulturellen Formung
der Sinne begleitet alle Generationen der Annales zumindest untergründig.
Dabei variiert der Kontext ihrer Thematisierung ganz erheblich. So diagnostizierte Lucien Febvre eine seiner Ansicht nach „außerordentliche Empfänglichkeit [des vormodernen Menschen, J.-F.M.] für alle Außenreize“ zunächst in
einem Aufriss zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychologie,40
arbeitete diese These dann aber in seiner Studie über das „Problem des
Unglaubens im 16. Jahrhundert“ zu einem zentralen Bestandteil seiner
Analyse des vormodernen „geistigen Rüstzeugs“ (outillage mental) aus.41
Febvre erkennt im 16. Jahrhundert eine fremde Sinnenwelt nicht nur hinsichtlich der sinnlich wahrnehmbaren Umwelt, sondern konstatiert auch einen
anderen Modus der Wahrnehmung. Für Febvre geht die verstärkte Reizbarkeit
seiner Kronzeugen Rabelais und Ronsard einher mit einer Periode „besonders
ausgeprägter Affektivität“,42 beide fügen sich zu einer erhöhten „Spannung des
Lebens“ (Johan Huizinga),43 gegenüber der die anästhesierte Moderne schal,
blechern und bleich daherkommt.44 Diesen romantisierend-kulturkritischen
Impetus teilt Febvre auch mit Robert Mandrou, der eine Annales-Generation
später für die Vormoderne immer noch eine „prdominance de l’affectif sur
l’intelligence“45 konstatiert. Febvre und Mandrou schreiben die Erzählung
38 Vgl. seine vielfach zitierte Bemerkung in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ von 1844: „Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen
Weltgeschichte.“ Zitiert in Marx-Engels-Studienausgabe, hg. v. Iring Fetscher, Bd. 2:
Politische Ökonomie, Frankfurt 1990, S. 38 – 128, hier S. 103.
39 Vgl. Georg Simmel, Exkurs über die Soziologie der Sinne, in: ders., Soziologie.
Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hg. v. Otthein Rammstedt
(= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt 1992, S. 722 – 742.
40 Lucien Febvre, Geschichte und Psychologie [1938], in: ders., Das Gewissen des
Historikers, Berlin 1988, S. 79 – 90, hier S. 86.
41 Vgl. Lucien Febvre, Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des
Rabelais, Stuttgart 2002 [1942], S. 372 – 382, Zitat S. 313.
42 Lucien Febvre, Sensibilität und Geschichte [1941], in: ders., Gewissen, S. 91 – 107, hier
S. 98.
43 Vgl. Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart 197511, S. 2.
44 Eine solche Perspektive findet sich in Ansätzen auch noch (oder wieder?) in aktueller
sinnes- und klanggeschichtlicher Literatur. Vgl. z. B. David Wickberg, What is the
History of Sensibilities? On Cultural Histories Old and New, in: American Historical
Review 112. 2007, S. 661 – 684; Rath, How Early America Sounded, S. IX: „Sound was
more important to early Americans than it is to you.“ S. 9: „These were worlds much
more alive with sound than our own, worlds not yet disenchanted, worlds perhaps even
chanted into being.“ Vgl. als Hintergrund auch Wolfgang Welsch, Ästhetik und
Anästhetik, in: ders., Ästhetisches Denken, Stuttgart 19985, S. 9 – 40.
45 Robert Mandrou, Introduction la France moderne, 1500 – 1640. Essai de psychologie
historique [1961], Paris 1998, S. 89.
30
Jan-Friedrich Missfelder
eines rationalen und daher visuell strukturierten gegenüber einem affektiven
und daher auf Gehör und die Nahsinne ausgerichteten Zeitalter in einem
durchaus anregenden Kurzschluss von Sinnes- und Emotionsgeschichte fort.
Die Vormoderne erscheint dabei als ein „temps qui prfre couter“,46 in der
aber auch Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn eine viel vitalere Rolle spielen
als in der tendenziell einsinnig visuellen Moderne. Geändert habe sich dies erst
mit dem Siegeszug des Buchdrucks, der Informationsgewinnung und -übermittlung durch individuelle und stille Lektüre. Restbestände dieser Meistererzählung finden sich auch noch bei Alain Corbin. Seine Studien zur
Geschichte des Geruchs im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert und zur
akustischen Kommunikationskultur der Glocken im ländlichen Frankreich
des 19. Jahrhunderts skizzieren ebenfalls eine verlorene Welt synästhetischer
Komplexität, gehen aber in methodischer wie materieller Hinsicht weit über
die Vorarbeiten Febvres und Mandrous hinaus.47 Hatten diese vor allem
literarische Quellen als Zeugnisse historischer Sinneszustände herangezogen
und die damit verbundenen quellenkritischen Schieflagen kaum thematisiert,
so taucht Corbin tief in die lokalen Archive hinab und zieht verstärkt
Selbstzeugnisse heran. Sinnesgeschichte besteht für Corbin gleichwohl weiterhin in der Erforschung „unterschiedlicher Wahrnehmungs- und Affektsysteme“ sowie des historischen Gebrauchs der Sinne, der aber weiterhin im
Rahmen einer „Sinneshierarchie“ geschieht.48 Sinnesgeschichte la franÅaise
lässt sich also charakterisieren als Thematisierung von historischen Verschiebungen im System der Sinne, als Beschreibung wechselnder Hierarchien und
der daraus resultierenden gesellschaftlichen Sensibilitäten. Spuren solcher
Verschiebungen fanden Febvre und Mandrou noch in mehr oder weniger
expliziten Thematisierungen des sensorischen Systems in Literatur und
Ideengeschichte, während Corbin eine anthropologische Wende vollzieht und
das historische Material gegen den Strich auf eher implizite Strukturierungen
der Sinne hin liest. Gemeinsam ist allen aber eine historische Großthese,
welche die Modernisierung als Ersetzung des Gehörs durch das Gesicht als
Leitsinn begreift und mit dem Siegeszug der Visualität eine tendenzielle
Verarmung der anderen Sinne diagnostiziert.49 Der Betonung von wechseln46 Mandrou, Introduction la France moderne, S. 76.
47 Vgl. Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs [1982],
Berlin 1984; ders., Sprache der Glocken.
48 Alain Corbin, Zur Geschichte und Anthropologie der Sinneswahrnehmung [1991], in:
Christoph Conrad u. Martina Kessel (Hg.), Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in
eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 121 – 140, hier S. 128 bzw. S. 132. Vgl. zu Corbins
Methode auch Sima Godfrey, Alain Corbin. Making Sense of French History, in: French
Historical Studies 25. 2002, S. 381 – 398.
49 Vgl. aber zur Kritik an Corbin am Beispiel seiner These einer desodorierten Moderne
Annick Le Gurer, Le dcin de l’olfactif, mythe ou ralit?, in: Anthropologie et Socits
14. 1990, S. 25 – 44.
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Perspektiven einer Klanggeschichte
31
den Sinneshierarchien entspricht dabei eine relativ breite ideengeschichtliche
Strömung innerhalb der Sinnesgeschichte, die sich vor allem der Reflexion auf
das System der Sinne, ihr Zusammenspiel und ihre Funktionen in Philosophie,
Theologie, Musik und Medizin widmet.50
Die hier skizzierten großen Erzählungen entlang eines SinneshierarchieParadigmas verschränken also zwei verschiedene Prozesse zu einer komplexen
sinnesgeschichtliche Modernisierungstheorie: die great divide51 zwischen
einer auditiven Vormoderne und der modernen Visualität und die Verarmung
eines tendenziell synästhetischen Weltverhältnisses zur modernen MonoSinnlichkeit. So wünschenswert ein systemischer Ansatz bleibt, der nicht nur
einen Sinn in den Blick nimmt, sondern seine historische Wandlung im
Verhältnis zum gesamten Sensorium analysiert, so problematisch bleibt doch
die Verknüpfung der Historisierung von Hierarchien mit damit verbundenen
Modernisierungsvorstellungen. Das zeigt sich sogar noch bei Ansätzen, die
sich explizit gegen die These der great divide wenden. So argumentiert zum
Beispiel Mark M. Smith gegen die Logik eines Nullsummenspiels in der
Sinnesgeschichte, nach der die scheinbare Aufwertung eines Sinnes (meist des
Gesichtssinnes) notwendig mit der Verarmung eines anderen einhergehen
müsse. Statt dessen plädiert er für ein dynamisches Modell von „intersensoriality“, um zu zeigen, dass „the other senses not only remained important
[but] became critical to modernity“.52 Dabei bleibt er aber einem modernisierungstheoretischen Modell verpflichtet und kann nur immer wieder von
neuem zeigen, dass nicht nur Visualität, sondern auch Gehör, Geschmack,
Geruch und Tastsinn ihren Ort in der Moderne finden.53 Das ist zunächst
50 Vgl. vor allem Robert Jütte, Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace,
München 2000, der vor allem eine „Geschichte der sinnlichen Wertordnungen
gegenwärtiger und vergangener Kulturen sowie der sich verändernden Hierarchie der
Sinnesvorstellungen und der Sinnesgebräuche“ (S. 22) im Sinn hat. Vgl. weiter Richard
Newhauser u. Corine Schleif (Hg.), The Senses in Medieval and Renaissance Intellectual
History, The Senses and Society 5. 2010; Stephen G. Nichols u. a. (Hg.), Rethinking the
Medieval Senses. Heritage, Fascinations, Frames, Baltimore 2008; Christopher M.
Woolgar, The Senses in Late Medieval England, New Haven, CT 2006; Anthony Synnott,
Puzzling over the Senses. From Plato to Marx, in: David Howes (Hg.), The Varieties of
Sensory Experience, Toronto 1991, S. 61 – 76; zum Gehör v. a. Charles Burnett u. a. (Hg.),
The Second Sense. Studies in Hearing and Musical Judgement from Antiquity to the
Seventeenth Century, London 1991.
51 Smith, Sensing the Past, S. 8.
52 Vgl. ebd., bes. S. 125 – 128, Zitat S. 128.
53 Vgl. nur als Zusammenstellung: „[S]ound increasingly mediated and helped inform
ideas about class, identity, and nationalism, especially, in the nineteenth century.“, ebd.,
S. 48; „Modernity was deeply indebted to smell and olfaction.“, ebd., S. 65; „The sense
of taste, in fact, received something of a boost from modernity and continued to inform
some of its fundamental categories, nationalism especially.“, ebd., S. 85; „[T]ouching
32
Jan-Friedrich Missfelder
einmal durchaus sehr verdienstvoll, erhöht es doch die Komplexität des
gezeichneten Bildes enorm und verabschiedet die ganz und gar unhistorische
Obsession, ganze Epochen auf sensorische Dominanzen und die damit
verbundenen Grundannahmen über deren Charakter hin prüfen zu müssen.
Um es noch einmal am gängigen Gegenüber von visueller Moderne und einer
Vormoderne, „qui prfre couter“, zu wiederholen: Klassische Attribute der
Moderne – Distanzierung, Rationalisierung, Säkularisierung, Objektivierung,
etc. – werden dem Visuellen zugeschrieben, gegen welches das Auditive als
Medium der Nähe, der Wärme und des Heiligen profiliert wird.54 Explizit
modernekritische Theorieentwürfe von Heidegger über Horkheimer bis
Derrida setzen daher auch vielfach mit einer Kritik der objektivierenden –
im Sinne von verdinglichenden – Funktion des Blicks an.55 Die Identifikation
von Visualität mit Distanz und Zeitlichkeit sowie Auralität mit Präsenz
suggeriert dabei eine Ahistorizität von Klang und akustischer Wahrnehmung,
die sich ihrer Historisierung immer schon zu entziehen scheinen. Es ist diese
„audiovisual litany“,56 zu deren Überwindung eine Sinnesgeschichte (nicht
nur) der Neuzeit einen systematischen Beitrag leisten kann. Der kanadische
Medienwissenschaftler Jonathan Sterne folgert aus seiner eigenen Polemik
gegen die „audio-visuelle Litanei“ ähnlich wie Mark M. Smith, dass auch eine
Klanggeschichte einen legitimen Ort in der Geschichte der Moderne beziehungsweise im Prozess der Modernisierung beanspruchen kann. Sein eigener
Beitrag, eine Studie zur Kulturgeschichte der Klangreproduktion im 19. und
20. Jahrhundert, „explores the ways in which the history of sound contributes
and develops from the ,maelstrom‘ of modern life“.57 Es folgen die klassischen
Charakteristika der Moderne vom Kapitalismus über Bürokratisierung zur
Fortschrittsgläubigkeit. So legitim diese Geschichte auch ist und so viele neue
und überraschende Einsichten sie auch birgt, so problematisch erscheint doch
die Idee des Beitrags („contribution“) zu einer eigentlich schon bekannten
Geschichte. So konzipiert, läuft Klanggeschichte Gefahr, durch die – man
verzeihe das schiefe Bild – Brille des Klangs all das noch einmal zu bestätigen,
was man ohnehin schon über die Moderne und ihr Anderes weiß. Zugleich
verpasst sie die weiterführende Frage, ob gängige Periodisierungen, die
traditionell aus Politik-, Wirtschafts- oder Sozialgeschichte stammen, sinnesgeschichtlich überhaupt eine Bedeutung haben oder ob nicht mit gänzlich
anderen Rhythmen, Phänomenen langer Dauer oder epistemischen Brüchen
54
55
56
57
was inextricable to the elaboration of a post-Renaissance and post-Enlightenment
world.“, ebd., S. 99.
Vgl. exemplarisch und für viele Ong, Oralität, und (durchaus kritisch) Welsch, Kultur
des Hörens.
Vgl. Martin Jay, Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth-Century French
Thought, Berkeley, CA 1993.
Sterne, Audible Past, S. 14.
Ebd., S. 9.
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Perspektiven einer Klanggeschichte
33
zu rechnen ist.58 Es käme also auf den Versuch einer Klanggeschichte an, die
nicht nur eine bis dato vernachlässigte Dimension menschlicher Erfahrung
historisiert und der Geschichtswissenschaft zuallererst einmal erschließt,
sondern entscheidend neue, nur über die Aufmerksamkeit auf Klänge
zugängliche Aspekte entdeckt. Andernfalls verbleibt sie im Stadium der
hinzugefügten Komplementärgeschichte.59
II. Klang- und Hörkulturen
Das Grundproblem jeder nicht-komplementären Klanggeschichte vor dem
Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – aber letztlich auch danach –
ist so trivial wie folgenreich: ihr Gegenstand ist verklungen. Im Unterschied
zur inzwischen fest etablierten Analyse visueller Kulturen sieht sich die
Geschichte des Klangs mit der nicht überwindbaren Schwierigkeit konfrontiert, dass ihr Objekt vielfach nicht mehr in der zumindest physiologisch
analogen Form gegeben ist. Bilder sind vielfach überliefert, Klänge in der Regel
nicht. Visuelle Medien in Form etwa von Kunstwerken oder Architektur bieten
sich oftmals dem Blick des Historikers oder der Historikerin selbst dar und
gewinnen ihre Qualität als „Zeugen ihrer Zeit“ (Bernd Roeck) gerade durch die
Differenz zum Blick vergangener Betrachter. Das konstitutiv Ephemere des
Klangs, seine existenzielle Zeitgebundenheit verhindert zunächst diese sich
gleichsam von selbst einstellende Historisierungsaufgabe. Die Überlieferung
von Klängen als akustischen Ereignissen schaltet daher immer eine mediale
Zwischenebene ein: Notenschrift, Klangobjekte als Überreste vergangener
materieller Kultur sowie vor allem Versprachlichungen von Hörerfahrungen
aller Art. Das betrifft auch, wenngleich in unterschiedlicher Weise, Formen
technischer Klangaufzeichnung. Walzen, Tonbänder, Schallplatten oder mp3Dateien suggerieren zwar den Realitätseffekt einer naturgetreuen Wiedergabe
des Verklungenen, sind aber prinzipiell nicht weniger medial form(at)iert als
andere Medien der akustischen Inskription.60 Daraus folgt zum einen, dass
jede Geschichte des Klangs immer auch Mediengeschichte seiner Speicherung
sein muss. Dabei besteht zunächst einmal kein qualitativer Unterschied darin,
ob diese Speicherung als Verschriftlichung von akustischen Wahrnehmungen
vorliegt oder als Einschreibung in technische Medien. Mediengeschichte
gerade auch des Akustischen erschöpft sich damit nicht in der Nacherzählung
technischer Innovationen, sondern lässt sich als Kulturgeschichte komplexer
Einschreibungsprozesse in unterschiedliche Medien, von Sprache über Schrift
58 Vgl. in diesem Sinne auch die Bemerkungen bei Martin Jay, In the Realm of the Senses.
An Introduction, in: American Historical Review 116. 2011, S. 307 – 315, bes. S. 311 f.
59 Ähnlich auch Geisthövel, Tonspur, S. 166 f.
60 Vgl. zu diesem Zusammenhang instruktiv Lisa Gitelman, Scripts, Grooves, and Writing
Machines. Representing Technology in the Edison Era, Stanford, CA 1999.
34
Jan-Friedrich Missfelder
bis zu digitalen Speichern beschreiben. Jonathan Sterne hat gerade für
technische Medien der Klangaufzeichnung gezeigt, dass ihre Erfindung und
Entwicklung auf außertechnischen, kulturellen Voraussetzungen beruht.61 Er
wendet sich damit gegen eine starke Strömung insbesondere in der deutschen
Medientheorie und -geschichtsschreibung, die die Geschichte einem technisch-medialen Apriori unterwirft und damit auch einen qualitativen Bruch in
der Entwicklung technischer Medien annimmt.62
Zum anderen wird durch die Einsicht in die mediale Verfasstheit alles
Verklungenen deutlich, dass dieses nur im Kontext einer kulturellen Einordnung und Deutung greifbar ist, was wiederum nur möglich ist durch den
Rekurs auf nichtklangliches Quellenmaterial, das über die Sinnhorizonte und
Zuschreibungsformen akustischer Wahrnehmung informiert.63
Aus diesen Überlegungen lassen sich zwei methodische Prämissen ableiten.
Erstens: Klanggeschichte konstituiert ihren Gegenstand über Umwege, über
Quellen also, die nicht den Klang selbst überliefern, sondern allenfalls
Aufschluss über seine spezifische historische Wahrnehmung bieten. Klanggeschichte ist daher immer auch Mediengeschichte seiner Repräsentationen.
Zweitens: Geht man von der fundamentalen Historizität akustischer Wahrnehmungsformen aus, die sich über wandelbare Deutungen von Klängen
äußert, dann treten vor allem die kulturellen, sozialen und politischen
Kontexte der Klangproduktion wie -rezeption in den Mittelpunkt des
Interesses. Aus der Tatsache, dass Klanggeschichte also überhaupt nur als
Geschichte der Klangwahrnehmung, -verarbeitung und -speicherung, letztlich
also als Hörgeschichte geschrieben werden kann, resultiert methodisch daher
fast notwendig ein gemäßigter (oder radikaler) Konstruktivismus als analytische Grundhaltung: Klänge sind eben erst durch die sich historisch
wandelnden Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowie ihre medialen
Repräsentationsformen als historische Phänomene und Gegenstände historischer Forschung konstituierbar.
Es wäre daher schon aus quellenkritischen Überlegungen heraus irreführend,
eine reine Rekonstruktion einer verklungenen Klangumwelt (soundscape) zu
versuchen. Absicht und Ziel von Klanggeschichte kann also keineswegs eine
61 Vgl. Sterne, Audible Past.
62 Vgl. zum technisch-medialen Apriori zusammenfassend Knut Ebeling, Das technische
Apriori, in: Archiv für Mediengeschichte 6. 2006, S. 11 – 22; auch Jan-Friedrich
Missfelder, Endlich Klartext. Medientheorie und Geschichte, in: Jens Hacke u. Matthias
Pohlig (Hg.), Theorie in der Geschichtswissenschaft. Einblicke in die Praxis des
historischen Forschens, Frankfurt 2008, S. 181 – 198.
63 Vgl. in diesem Sinne auch Bruce R. Smith, Listening to the Wild Blue Yonder. The
Challenges of Acoustic Ecology, in: Bandt, Hearing Places, S. 249 – 270.
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Perspektiven einer Klanggeschichte
35
Inventarisierung des Verklungenen sein,64 sondern vielmehr die Erforschung
der Bedeutungshorizonte, welche vergangene Gesellschaften und historische
Akteure der akustischen Dimension ihrer Erfahrung zuschrieben. Man wird
nie wissen, wie es eigentlich geklungen, sondern nur, wie Menschen ihre
Klangumwelt wahrnahmen und in ihr handelten. Diese Wahrnehmungen und
Handlungen sind demnach als soziale Praktiken und politische Strategien
innerhalb einer Gesellschaft zu verstehen. Man hat es also mit „Dramatisierungen“ akustischer Wahrnehmungen als „conventions of persuasive speaking about sound“ zu tun,65 durch die historische Akteure politische und
gesellschaftliche Ziele verfolgen können, ihre soziale Position markieren, ihre
Sensibilität ausstellen oder Lärmbelästigung einklagen. Hier lassen sich
akustische Sagbarkeitsregime identifizieren, die den Rahmen historisch
gegebener Dramatisierungen abstecken und damit eine spezifische Klangund Hörkultur bestimmen.
Zur Beschreibung einer solchen Klang- und Hörkultur empfiehlt es sich für die
Geschichtswissenschaft, auch in diesem Fall auf die Signale zu hören, die eine
theoretisch ausgeformte Sinnesanthropologie schon seit einiger Zeit aussendet,66 um so dem seit bald 25 Jahren antrainierten ethnographischen Blick
auch ein ethnographisches Ohr oder besser : einen ethnographischen Sinnesapparat hinzufügen zu können.67 Besonders hilfreich für den Ansatz der hier
skizzierten Klanggeschichte erscheint Steven Felds Begriff der „acoustemology“. Indem er Akustik und Epistemologie verschaltet, bezeichnet Felds
Terminus das „potential of acoustic knowing, of sonic presence and awareness
of sounding as potent shaping forces in how people make sense of experiences“.68 Akustemologie zielt demnach auf die spezifisch akustische Art der
64 Vgl. dazu schon die Polemik gegen einen solchen klanggeschichtlichen Positivismus,
wie ihn z. B. Guy Thuiller vertritt (vgl. ders., Pour une histoire du quotidien au XIXe
sicle, Paris 1977), bei Corbin, Geschichte und Anthropologie, S. 123 f.
65 Vgl. zu Begriff und Konzept Bijsterveld, Mechanical Sound, hier S. 30.
66 Vgl. nur David Howes, Sensual Relations. Engaging the Senses in Culture and Social
Theory, Ann Arbor, MI 2003; ders., Can these dry Bones Live? An Anthropological
Approach to the History of the Senses, in: Journal of American History 95. 2008,
S. 442 – 451; David Le Breton, Le saveur du monde. Une anthropologie des sens, Paris
2006; Constance Classen, Worlds of Sense. Exploring the Senses in History and across
Cultures, London 1993.
67 Begriff nach James Clifford, Introduction. Partial Truths, in: ders. u. George E. Marcus
(Hg.), Writing Cultures. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley, CA 1986,
S. 1 – 26, hier S. 12; vgl. auch Veit Erlmann, But What of the Ethnographic Ear?, in: ders.,
Hearing Cultures, S. 1 – 20 und Regina Bendix, The Pleasures of the Ear. Toward an
Ethnography of Listening, in: Cultural Analysis 1. 2000, S. 33 – 50.
68 Steven Feld, Waterfalls of Song. An Acoustemology of Place Resounding in Bosavi,
Papua New Guinea, in: ders. u. Keith H. Basso (Hg.), Senses of Place, Santa Fe, NM 1996,
S. 91 – 135, hier S. 97; auch ders., A Rainforest Acoustemology, in: Bull, Auditory
36
Jan-Friedrich Missfelder
Welterfahrung und Weltdeutung einer Gesellschaft. Klangphänomene, so
Felds Hypothese, spielen eine entscheidende Rolle bei der Ausgestaltung
sozialer Ordnung, der Organisation von Wissen und gesellschaftlicher Kommunikation sowie – für Anthropologen zentral – der Kosmologie. Klang ist
daher in der Perspektive der Akustemologie stets mit Bedeutung versehen und
wird zu einem sozialen Phänomen durch seine Wahrnehmung und Einordnung in ein deutendes System. Schließlich bietet das Konzept der Akustemologie auch die Möglichkeit der reflexiven Wendung. Es geht dann nicht nur um
die Bedeutung von Klängen für die Etablierung sozialer und kultureller
Ordnungen, sondern auch um die „soundways“ historischer Akteure, also „the
paths, trajectories, transformations, mediations, practices and techniques – in
short, the ways – that people employed to interpret and express their attitudes
and beliefs about sound“.69
Anthropologen wie Steven Feld oder David Howes zeigen in ihren Arbeiten,
dass Ethnien wie die Kaluli oder Massim in Papua-Neuguinea umfassende
Parameter der Weltorientierung nach vornehmlich akustischen Kriterien
entwickeln.70 Sie beschreiben differenzierte Klang- und Hörkulturen, die im
Zentrum der jeweiligen Weltdeutungssysteme stehen. Auf diese Weise können
sie starke Argumente gegen eine allgemeine Fixierung auf Visualität ins Feld
führen, laufen aber zugleich Gefahr, ex negativo wiederum in die audiovisuelle
Litanei einzustimmen und statt rein visueller nun rein auditive Kulturen zu
postulieren.71 Ihr Forschungsobjekt wird auf diese Weise akustemologisch
homogenisiert und verliert an Vielschichtigkeit und historischer Dynamik.
Dabei verfügt das Konzept der Akustemologie durchaus über das Potential, um
damit gerade den Wandel historischer Klang- und Hörkulturen zu beschreiben. So stellt Mark M. Smith’s Arbeit ein exzellentes Beispiel dafür dar, dass
sich politische und kulturelle Konflikte auch und vielleicht entscheidend aus
differierenden Klangwahrnehmung des Eigenen und des Anderen, aus
gegensätzlichen acoustemes also, erklären lassen.72
In manchem schließt die Idee der Akustemologie an Modelle der interpretierenden Kulturanthropologie zum Beispiel Clifford Geertz’ an, die für die
Geschichtswissenschaft schon seit langer Zeit fruchtbar gemacht werden.73
Neu und innovativ ist aber die Aufmerksamkeit auf akustische Phänomene
69
70
71
72
73
Culture Reader, S. 223 – 239 sowie das instruktive Interview: ders. u. Donald Brenneis,
Doing Anthropology in Sound, in: American Ethnologist 31. 2004, S. 461 – 474.
Rath, How Early America Sounded, S. 2.
Vgl. Feld, Waterfall of Sound; Howes, Sensual Relations, S. 61 – 94.
Ganz ähnlich, allerdings mit Blick auf taktile und olfaktorische Weltorientierung
verfährt auch Constance Classen, McLuhan in the Rainforest. The Sensory Worlds of
Oral Cultures, in: Howes, Empire of the Senses, S. 147 – 163.
Vgl. Smith, Listening to Nineteenth-Century America.
Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme,
Frankfurt 19954.
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Perspektiven einer Klanggeschichte
37
und deren Integration in eine historische Sinnesanthropologie. Steven Feld
und anthropologisch arbeitende Klanghistorikerinnen und -historiker knüpfen in dieser Hinsicht an Überlegungen des Komponisten und Pioniers der
Klangökologie R. Murray Schafer an. Dieser versucht, Klänge als systemisches
Netz aus „vernommenen Geschehnissen“ natürlicher, menschlicher und
technischer Provenienz zu fassen, die historisch wandelbar sind, vor allem
aber bewusst gestaltet werden können: „die Welt als eine makrokosmische
musikalische Komposition“.74 Ein solcher soundscape setzt sich nach Schafer
aus dem Zusammenwirken von Grundlauten („keynote sounds“), Signalen
(„signals“) und Lautmarken („sound marks“) zusammen, welche die akustische Gestalt einer gegebenen historischen oder auch geographischen
Situation bestimmen.75 Grundlaute werden von Schafer als vorbewusste, in
der Regel durch die natürlichen Bedingungen eines soundscape bestimmte
„Tonarten“ definiert, die überhaupt nur ohrenfällig werden, wenn sie sich
massiv verändern oder gar wegfallen. Signale sind dagegen „Vordergrundgeräusche“, die zu „ausgeklügelte[n] Codes organisiert“76 und können somit eine
kommunikative Funktion innerhalb eines soundscape erfüllen. Lautmarken
schließlich wirken vergesellschaftend, indem sie Gruppen, Gemeinschaften
oder Gesellschaften akustische Identitäten verleihen und dadurch „akustische
Gemeinschaften“ konstituieren.77
Man muss Schafers Analyseraster nicht tel quel auf alle historischen Situationen übertragen. Ebensowenig muss man die massiven zivilisationskritischen Untertöne seines auf diesem Modell basierenden klangökologischen
Impetus teilen, um die Leistungen des soundscape-Begriffs anzuerkennen und
ihn für eine anthropologisch informierte Klanggeschichte zu operationalisieren.78 Zwei Punkte sind in dieser Hinsicht besonders hervorzuheben. Zunächst
bietet Schafer überhaupt einen Systematisierungsansatz von Klängen, der sich
nicht primär an deren phänomenologischer Gestalt, sondern an ihrer sozialen
Funktion orientiert. Dies ermöglicht die Historisierung von Klangzuschreibungen und Klangfunktionalisierungen in vergangenen Gesellschaften als
74 R. Murray Schafer, Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens [1977],
hg. v. Sabine Breitsameter, Mainz 2010, S. 42 u. S. 38.
75 Vgl. ebd., S. 45 f.
76 Ebd., S. 46.
77 Vgl. ebd., S. 350 f.; auch Barry Truax, Acoustic Communication, Westport, CT 20012,
S. 66.
78 Vgl. zur Kritik an Schafer nur Ari Y. Kelman, Rethinking the Soundscape. A Critical
Genealogy of a Key Term in Sound Studies, in: The Senses & Society 5. 2010, S. 212 – 234;
Sophie Arkette, Sounds like City, in: Theory, Culture and Society 21. 2004, S. 159 – 168;
dagegen die sympathetische Lesart bei Sabine Breitsameter, Hörgestalt und Denkfigur.
Zur Geschichte und Perspektive von R. Murray Schafers Die Ordnung der Klänge. Ein
einführender Essay, in: Schafer, Ordnung der Klänge, S. 7 – 28.
38
Jan-Friedrich Missfelder
spezifischen Ordnungen von Klängen.79 Mithin lassen sich historische Akustemologien über das je spezifische Zusammenklingen von keynote sounds,
signals und soundmarks beschreiben. Schafer selbst bietet eine historische
Großthese zu diesem Zusammenhang, die eine vormoderne Hi-Fi-soundscape
von einer modernen Lo-Fi-soundscape abgrenzt. Während Hi-Fi-Umgebungen
wie die vorindustrielle Natur für Schafer „ein günstiges Verhältnis von Signal
und Rauschen“ auszeichnet und „einzelne Laute deutlich [werden], weil der
Pegel der Umweltgeräusche niedrig ist“, werden in einer Lo-Fi-Situation wie
der modernen Stadt „die einzelnen akustischen Signale überdeckt von einer
übermäßig verdichteten Anhäufung von Lauten.“80 Für Schafer stellt der Weg
von Hi-Fi zu Lo-Fi eine akustische Verlustgeschichte dar, in welcher der
Reichtum und die Differenzierungskraft des vormodernen Hörens im Gebraus
der industriellen, urbanisierten und medialisierten Moderne verloren gegangen ist. Auch diese Zivilisationskritik ist nicht zwingend, unterschätzt sie doch
die Komplexität moderner urbaner soundscapes, die nicht als Degenerationsphänomen, sondern eher als akustisches Kommunikationssystem eigenen
Rechts analysiert werden sollten.81 Dennoch bietet Schafers Unterscheidung
eine Handhabe, historische Klänge als dynamische Systeme und soziale
Aneignungen zu thematisieren.
Daneben ermöglicht der Terminus einen synthetischen Zugriff auf das
gesamte Spektrum akustischer Phänomene und ihre Situierung im sozialen
Raum. Er vermeidet die künstliche Aufspaltung des Akustischen in Geräusch,
Sprache und Musik und begreift alle in je eigener Weise als sozial eingebundene Klänge. Er lenkt dadurch die Aufmerksamkeit auf die Historizität dieser
Unterscheidung selbst. Darauf wird unten noch einmal zurückzukommen
sein. Soundscape wird von Schafer explizit in Analogie zu landscape verstanden, einem Konzept also, das die fließende Grenze von Natur und Kultur
problematisiert und historisiert.82 Klanggeschichtlich gewendet bedeutet dies,
dass Naturklänge und menschengemachte sounds nur als wechselseitig
79 Sabine Breitsameter weist auf die Doppeldeutigkeit des Titels „Die Ordnung der Klänge“
hin, der nicht nur eine deskriptive, historische Dimension enthält, sondern eben auch
eine präskriptive, klangökologische. Dem entspricht die Mehrdeutigkeit im Originaltitel
„The Tuning of the World“ als „Stimmen eines Instruments, […] Einstellen eines
Radiosenders und […] Manipulieren (das ,Frisieren‘) eines Autos, dessen so erhöhte
Leistung sich lautstark darbietet“, S. 9.
80 Schafer, Ordnung der Klänge, S. 91.
81 Vgl. v. a. Arkette, Sounds like City.
82 Vgl. Thompson, Soundscape of Modernity, S. 1: „Like a landscape, a soundscape is
simultaneously a physical environment and a way of perceiving that environment; it is
both a world and a culture constructed to make sense of that world.“ Vgl. dazu auch
klassisch Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen
Gesellschaft, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt 1974, S. 141 – 163 u.
S. 172 – 190.
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Perspektiven einer Klanggeschichte
39
aufeinander bezogen analysiert werden können.83 „Natur“ ist auch in klanglicher Hinsicht eine kulturelle Konstruktion. Henry David Thoreau hatte zum
Beispiel keine Bedenken, Kirchenglocken in seine Wahrnehmung einer
akustisch unberührten Natur seines Refugiums Walden zu integrieren,
schreckte aber vor dem Pfeifen der Dampflokomotive kulturkritisch zurück.
Was hier als Kultur- oder Naturklang gilt, steht also keineswegs von vornherein
fest, sondern ist als Bestandteil der spezifischen Klang- und Hörkultur, der
Thoreau angehört, neu zu eruieren.84 Die Analyse einer historischen Akustemologie zielt demnach in letzter Konsequenz auf die Rekonstruktion eines
Period Ear, also auf die spezifischen „Hörbarkeitsregime“, welche die akustische Wahrnehmung einer Gesellschaft strukturieren.85
III. Klanggeschichte als politische Geschichte
Klanggeschichte, wie sie hier verstanden werden soll, beschäftigt sich nicht mit
Klängen als rein akustischem Material, sondern als kulturellen und gesellschaftlichen Phänomenen. Klingende Räume sind immer auch soziale Räume.
Diese wiederum klingen nicht einfach so, sondern können akustisch besetzt,
bestritten und umkämpft und dadurch zuallererst als politische Räume
konstituiert werden.86 Es gilt daher, die soziale und politische Wirkungsmacht
von Klängen herauszuarbeiten, um so Politiken des Akustischen analysieren
83 Vgl. exemplarisch Jan-Friedrich Missfelder, Donner und Donnerwort. Zur akustischen
Wahrnehmung der Natur im 18. Jahrhundert, in: Sophie Ruppel u. Aline Steinbrecher
(Hg.), „Die Natur ist überall bey uns…“. Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit,
Zürich 2009, S. 81 – 94.
84 Vgl. zu diesem Zusammenhang instruktiv Peter Coates, The Strange Stillness of the Past.
Toward an Environmental History of Sound and Noise, in: Environmental History 10.
2005, S. 636 – 665, bes. S. 643 f.; auch Diane Collins, Acoustic Journeys. Explorations and
the Search for an Aural History of Australia, in: Australian Historical Studies 37. 2006,
S. 1 – 17 sowie David Matless, Sonic Geography in a Nature Region, in: Social & Cultural
Geography 6. 2005, S. 745 – 766.
85 Vgl. zum Begriff des Period Ear in ähnlichem wie dem hier gemeinten Sinne, aber aus
musikwissenschaftlicher Perspektive Shai Burstyn, In Quest of the Period Ear, in: Early
Music 25. 1997, S. 693 – 701; auch Michael Toyka-Seid, Von der „Lärmpest“ zur
„akustischen Umweltverschmutzung“. Lärm und Lärmwahrnehmung als Themen einer
modernen Umweltgeschichte, in: Bernd Hermann (Hg.), Beiträge zum Göttinger
umwelthistorischen Kolloquium 2008/2009, Göttingen 2009, S. 253 – 276, bes. S. 265;
Veit Erlmanns Polemik gegen diesen Begriff (Reason and Resonance, S. 23) zielt eher auf
diesen musikalischen Kontext einer vornehmlich authentischen historischen Aufführungspraxis und geht daher an dem hier gemeinten Zusammenhang vorbei.
86 Vgl. dazu systematisch aus der Perspektive der sound studies Brandon LaBelle, Acoustic
Territories. Sound Culture and Everyday Life, New York 2010 sowie die Beiträge in
Bandt, Hearing Places.
40
Jan-Friedrich Missfelder
zu können. Als ein besonders geeignetes Analysekriterium zur Untersuchung
historischer Klangkulturen erscheint dabei die Kategorie der Legitimität.
Das breite Klangspektrum vergangener Gesellschaften war alles andere als
sozial homogen. Deutungen und Sinnzuschreibungen des soundscapes durch
historische Akteure etablierten eine eigene Hierarchie von legitimen und
illegitimen Klängen. Ein illegitimer Klang kann als „Lärm“ rubriziert werden.
Eine politische Geschichte des Klangs, welche mit der Kategorie der Legitimität arbeitet, ist also strukturell Lärmgeschichte. Dabei gilt: Was zu einem
gegebenen historischen Zeitpunkt als legitim oder illegitim, als Lärm also,
gehört wurde, war Gegenstand gesellschaftlicher Konflikte und Aushandlungsprozesse zwischen konkurrierenden Klang- und Hörkulturen. Historische Akusteme stellten also keine stabilen und homogenen Strukturen dar,
sondern waren durchzogen von vielfältigen Machtbeziehungen. So ergeben
sich Fragen, die Klanggeschichte als politische Geschichte denkbar werden
lassen: Welche Klänge wurden wann in welchem Kontext als Lärm begriffen,
stigmatisiert, bekämpft oder zum Schweigen gebracht? Mögliche Antworten
auf diese Fragen lassen sich über einen der angesprochenen Quellenumwege
zum Hören skizzieren: über ein Bild.
Auf William Hogarths Holzschnitt „The Enraged Musician“ (Abbildung 1) von
1741 ist ein wahres akustisches Pandämonium zu sehen (nicht zu hören).
Hogarths Bild soll hier als Quelle für eine politische Geschichte des Klanges –
und des Hörens – im urbanen Raum dienen, das die akustische Ordnung
legitimer und illegitimer Klänge in einem spezifischen historischen Kontext
vor Augen führt. Gezeigt wird eine Straßenszene in London, angefüllt mit
Menschen unterschiedlichster Professionen und Beschäftigungen. Aus einem
sich zur Strasse hin öffnenden Fenster lehnt sich ein höfisch gekleideter Geiger,
der sich – den Bogen noch in der einen Hand – mit beiden Händen die Ohren
zuhält und offensichtlich gegen den von außen in den musikalisierten
Innenraum seines Hauses dringenden Lärm protestiert. Dieser Lärm ist
außerordentlich vielgestaltig. Im rechten Bildvordergrund geht ein Scherenschleifer seinem kreischenden Handwerk nach, ein kleinwüchsiger Trommler
steht daneben. Im Hintergrund läutet ein „dustman“ seine Glocke, während
der ankommende Postreiter in sein Horn stößt. Dem Geiger direkt gegenübergestellt ist ein Straßenmusiker mit Oboe, eine Mutter versucht unter
seinem Fenster, ein herzzerreißend brüllendes Baby vergeblich durch Gesang
zu beruhigen. Ein weiteres Kleinkind schwingt eine Rassel, während es einem
etwa Gleichaltrigen beim Urinieren gegen des Musikers Hauswand zusieht.
Inmitten dieses akustischen Chaos steht, herausgehoben durch eine leicht
übernatürliche Größe und seinen weißen Rock, ein Milchmädchen, das den
Betrachter mit leicht geöffnetem Mund anblickt.
Dieses Bild ist eine der meistzitierten Bildquellen in der klanggeschichtlichen
Literatur, wird aber oftmals rein illustrativ herangezogen. Seine Interpretation
fällt auch nicht gerade leicht, transportiert es doch kaum eine eindeutige
Botschaft. R. Murray Schafer sieht in Hogarths Stich den „Konflikt zwischen
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Perspektiven einer Klanggeschichte
41
Abb. 1: William Hogarth, The Enraged Musician, 1741, Radierung, Tate Gallery London.
Musik im Innenraum und Musik im Freien“.87 Die englische Historikerin
Emily Cockayne erkennt darin ganz allgemein eine Repräsentation von „urban
disorder and disharmony“.88 Für den österreichischen Stadthistoriker Peter
Payer thematisiert es dagegen „Lärm als Form des Protests“.89 Wer allerdings
Subjekt und Objekt sowohl des Lärms als auch des Protests sind und wogegen
sich dieser im Einzelnen richtet, bleibt unklar. Auffällig an Hogarths Bild ist
zunächst nur eines: Der Künstler bietet eine extrem verdichtete Vision des
Londoner soundscape um die Mitte des 18. Jahrhunderts, welches auch in
87 Schafer, Ordnung der Klänge, S. 126.
88 Emily Cockayne, Hubbub. Filth, Noise and Stench in England, 1600 – 1770, New Haven,
CT 2007, S. 129.
89 Peter Payer, Vom Geräusch zum Lärm. Zur Geschichte des Hörens im 19. und frühen
20. Jahrhundert, in: Aichinger, Sinne und Erfahrung, S. 173 – 191, hier S. 185.
42
Jan-Friedrich Missfelder
schriftlichen Quellen als außerordentlich laut und lärmig beschrieben wird.90
Wichtiger für die politische Perspektive ist aber, dass er damit eine in diesem
Kontext gültige Hierarchie der Klänge aufzeigt. Der etablierte Kontrast von
klanglich stark reguliertem Innenraum und der außer Kontrolle geratenen
Klanglandschaft der Straße wird durch das friedlich und ein wenig unbeteiligt
dastehende Milchmädchen, das den Ruhepol zwischen beiden Szenen verkörpert, kontrapunktiert. Es hält zu beiden Extremen, der sich selbst als einzig
legitim begreifenden Kunstmusik ebenso wie zum für illegitim erklärten
Sound der Straße gleichermaßen Distanz. Lärm wird in Hogarths Bild also zu
einer relativen Größe, der seine Qualität als Lärm einzig durch die Beziehungen zwischen den akustischen Akteuren gewinnt. Diese sozialen Beziehungen
sind überdies sowohl hierarchisch strukturiert als auch moralisch aufgeladen.
Das distanzierte Milchmädchen erhebt sich graziös über den sie umgebenden
Lärm, sein Mund ist leicht geöffnet, es scheint etwas zu sagen (oder zu
singen?), das sich qualitativ vollkommen vom es umgebenden soundscape
abhebt. Zugleich weist das Bild aber auch auf die arrogante Haltung des
professionellen Musikers hin, welcher keinen Klang als den von ihm produzierten als legitim gelten lassen kann.91 Es ist eben der Musiker durch den
urbanen Klang enraged, nicht das Milchmädchen. Hogarths Stich zeigt, dass
Klang nicht nur ein akustisches Ereignis ist, sondern auch und vor allem ein
Medium sozialer Konstellationen. Diese Konstellationen als politisch-gesellschaftliche Ordnung bilden den Kontext für die historisch variable Legitimitätszuweisung, die Lärm erst zum Lärm macht. Lärm ist also nicht gleich Lärm,
sondern wird erst durch seine Kontextualisierung und seinen spezifischen Ort
zu einem solchen: „Le bruit n’existe donc pas en lui-mÞme, mais par rapport
au systme dans lequel il s’inscrit: metteur, transmetteur, rcepteur.“92 Der
kanadische Kulturhistoriker Peter Bailey bestimmt Lärm in Anlehnung an
Mary Douglas’ berühmte Definition von Schmutz in „Reinheit und Gefährdung“ als „sound out of place“.93 Hierbei ist „place“ eben nicht nur rein
räumlich zu verstehen, sondern bezieht sich vor allem auf einen Ort in der
legitimen sozialen und symbolischen Ordnung einer Gesellschaft. R. Murray
Schafers Schüler und Kollege Barry Truax macht diesen Zusammenhang noch
90 Vgl. Smith, Acoustic World of Early Modern England, S. 52 – 71; Cockayne, Hubbub,
S. 106 – 130.
91 Vgl. zu Beschreibung und Deutung des Bildes Jeremy Barlow, The Enraged Musician.
Hogarth’s Musical Imaginary, Aldershot 2005; vgl. auch in diesem Sinne Cockayne,
Hubbub, S. 129.
92 Jacques Attali, Bruits. Essai sur l’conomie politique de la musique [1977], Paris 2001,
S. 49.
93 Peter Bailey, Breaking the Sound Barrier. A Historian Listens to Noise, in: Body &
Society 2. 1996, S. 49 – 66, hier S. 50, leicht gekürzt auch in Smith, Hearing History,
S. 23 – 35; vgl. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen
von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt 1988.
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Perspektiven einer Klanggeschichte
43
deutlicher und definiert Lärm ebenfalls mit Bezug auf Mary Douglas als
„unwanted sound“.94 Die eigentlich historische Frage, wer welchen Klang in
welchem Kontext nicht will, zielt auf politische und soziale Machtverhältnisse
in der Stadtgesellschaft, also auf Fragen der politischen Geschichte. Indem
urbane Klänge gesellschaftlich situiert werden, eröffnen sich Möglichkeiten
zur Präsenzmarkierung sozialer Gruppen und Individuen im städtischen
Raum. Die Macht über den Raum schließt auch seine akustische Besetzung ein.
Dies reicht schon für die Zeit der Frühen Neuzeit vom trompetenbeschallten
Introitus des Herrschers95 über die akustische Formung sakraler Räume und
religiöser Rituale96 bis zur Katzenmusik oder „rough music“ zur öffentlichen
Ridikülisierung untreuer Ehegatten.97 Die Frage nach der Legitimität solcher
akustischer Praktiken verdeutlicht aber nicht nur ihre Situativität, sondern
eröffnet auch die weitergehende Frage, welche Klänge in welchen Räumen als
zulässig galten. Hogarths Profigeiger befindet sich eben nicht mit auf der
Straße, um dem schäbigen Oboisten die akustische Herrschaft über dieselbe
streitig zu machen, sondern verteidigt einen spezifisch inneren, privaten
Klangraum gegen die Sound-Invasion von außen. Hier deutet sich um die Mitte
des 18. Jahrhunderts ein Fundamentalprozess der Modernisierung an: die
Privatisierung und „Spatialisierung“ von Klängen im Sinne ihrer Zuweisung
an bestimmte legitime Räume innerhalb des urbanen Raums.98 Wichtig wird
dies insbesondere im Zuge der Industrialisierung, welche die Trennung nach
lärmintensiven öffentlichen und stillen Räumen und damit eine neue Strukturierung des Stadtraums vorantreibt.99 Noch einmal zurück zu Hogarth: Seine
Relationierung von verschiedenen Klängen im Stadtraum regt dazu an, in
methodischer Hinsicht nicht systematisch zwischen Musik und „Geräusch“ zu
unterscheiden, sondern beide im Anschluss an Schafer als soziale Klangpraktiken entlang einer historisch variablen Legitimitätsskala zu verorten.100
94 Truax, Acoustic Communication, S. 95; vgl. auch Garrett Keizer, The Unwanted Sound
of Everything We Want. A Book about Noise, New York 2010.
95 Vgl. z. B. instruktiv Florence Alazard, Art vocal, art de gouverner. La musique, le Prince
et la cit en Italie au XVIe sicle, Paris 2002 und Evelyn Korsch, The „Loud Joy“. Music as
a Sign of Power, in: Renaissance Journal 8. 2003, S. 4 – 14.
96 Vgl. z. B. Jan-Friedrich Missfelder, Akustische Reformation. Lübeck 1529, in: Historische Anthropologie [20. 2012].
97 Vgl. Emily Cockayne, Cacophony, or Vile Scrapers on Vile Instruments. Bad Music in
Early Modern English Towns, in: Urban History 29. 2002, S. 35 – 47; Edward P.
Thompson, Rough Music, in: ders., Customs in Common, London 1991, S. 467 – 538.
98 Vgl. z. B. John M. Picker, Victorian Soundscapes, New York 2003; auch Martin Hewitt u.
Rachel Cowgill (Hg.), Victorian Soundscapes Revisited, Leeds 2007.
99 Vgl. Bijsterveld, Mechanical Sound, S. 68 f.; auch Peter Payer, Der Klang von Wien. Zur
Neuordnung des öffentlichen Raumes, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 15. 2004, S. 105 – 131.
100 Vgl. hierzu v. a. Attali, Bruit; auch Paul Hegarty, Noise/Music. A History, London 2007.
44
Jan-Friedrich Missfelder
Anhand der Kategorie der Legitimität lässt sich also ein sozial und politisch
bestimmtes Netz von Klängen identifizieren und rekonstruieren, das Aufschluss über die sinnliche Erfahrbarkeit gesellschaftlicher Strukturen verspricht. Die Frage nach dem Klang als Objekt der historischen Analyse
impliziert also immer die Frage nach der politischen und sozialen Definitionsmacht in einer gesellschaftlichen Ordnung. Was Hogarth ins Bild setzt, sind
nicht nur Klänge in der Stadt, sondern im Wortsinne die verklungene Stadt als
soziale Ordnungsformation.101
Diese Kontextabhängigkeit des Lärms impliziert folglich immer auch Lärmkritik, aber nicht zwingend als Kritik am klanglichen Ereigniszusammenhang,
sondern an der sozialen Ordnung, welche die akustische Legitimitätsverteilung garantiert. Das bedeutet aber auch, dass sich Status und gesellschaftliche
Position durch Klänge ausdrücken und sozial manifestieren können. Dies
wiederum hat Folgen für die spezifische Form von Lärmkritik, welche der
„Enraged Musician“ repräsentiert. Hogarths London ist das London des 18.
Jahrhunderts. Der städtische Raum, in dem sich die von ihm verbildlichten
Klänge ereignen, ist damit der einer frühneuzeitlichen Anwesenheitsgesellschaft.102 Die Lärmkritik des „Enraged Musician“ erweist sich in genau dem
Maße als eine spezifisch frühneuzeitliche, da alle Klänge – legitim oder
illegitim – spezifischen Akteuren in dieser Anwesenheitsgesellschaft zugerechnet werden können. Die gleichsam sonifizierten Sozialbeziehungen sind
daher in direkten Interaktionen verhandelbar, was die Wahrscheinlichkeit von
personaler Gewalt – eben „rage“ – signifikant erhöht. Die frühneuzeitliche
Akusteme des Lärms bezieht sich in der Regel weniger auf den Klang als
solchen als auf die Lärm produzierenden Akteure, ist also sozial relational und
nicht phänomenologisch orientiert. Im Zentrum städtischer Lärmregulierungen stehen daher die üblichen Verdächtigen der sozialen Devianz: Jugendliche
und die notorisch Unruhe stiftenden Handwerksgesellen.103 Die obrigkeitlich
gewünschte Ruhe ist damit nicht nur eine rein akustische, sondern auch und
vor allem eine politische. Beide aber, und das ist hier entscheidend, hängen
unmittelbar zusammen. Es sind eben ganz bestimmte soziale Gruppen, deren
akustische Präsenz kontrolliert und reglementiert werden muss.
101 Vgl. in diesem Sinne, wenn auch eher impressionistisch Garrioch, Sounds of the City.
102 Vgl. Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden.
Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: GG 34. 2008,
S. 155 – 224; auch ders., Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen
Form des Politischen in der vormodernen Stadt, in: ders. (Hg.), Interaktion und
Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 9 – 60.
103 Vgl. Christian Casanova, Nacht-Leben. Orte, Akteure und obrigkeitliche Disziplinierung in Zürich, 1523 – 1833, Zürich 2007, bes. S. 83 – 104; auch Norbert Schindler,
Nächtliche Ruhestörung. Zur Sozialgeschichte der Nacht in der frühen Neuzeit, in: ders.
(Hg.), Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt
1992, S. 215 – 257.
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Perspektiven einer Klanggeschichte
45
Diese frühneuzeitliche Akusteme unterscheidet sich signifikant von derjenigen, die spezifisch neuzeitlicher Lärmbekämpfung zugrunde liegt. Lärm gilt
seit spätestens der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr in erster Linie als
Problem sozialer Stabilität, sondern als zentraler Bestandteil der „unbeabsichtigten Nebenfolgen der Moderne“.104 Zwar spiegelt sich auch im neuzeitlichen Lärmdiskurs ein gesellschaftliches Problem – die Angst der bürgerlichen Eliten vor den lärmenden Massen des Proletariats –, doch richten sich die
konkreten Maßnahmen weniger gegen solche sozialen Gruppen als gegen die
akustischen Folgen der Urbanisierung und Mechanisierung der Gesellschaft in
Verkehr, Industrie und Handel.105 Entscheidend daran ist, dass Klänge nicht
mehr personal zurechenbar sind, die politische Akustemologie der Moderne
also klangliche und politische Ordnung zunehmend entkoppelt. Zwischenstufen lassen sich dennoch konstatieren. John Picker und Peter Payer haben für
London und Wien nachgezeichnet, dass eine der ersten konzertierten urbanen
Lärmschutzinitiativen um die Mitte des 19. Jahrhunderts sich gegen wandernde Straßenmusiker wandte.106 Diese stehen als soziale Gruppe gleichsam
zwischen den Zeiten: Einerseits bilden sie als Objekt obrigkeitlicher Regulierung eine soziale Außenseitergruppe alteuropäischen Zuschnitts, andererseits
erscheinen sie in der modernen Akusteme als Störungen einer akustischen,
nicht sozialen Homogenisierung des Stadtraums.
Aufschlussreich sind diese Befunde aber auch hinsichtlich der oben angesprochen Frage nach alternativen Periodisierungsmodellen. Es ist auffällig,
dass systematische Lärmbekämpfungsanstrengungen erst nach 1850 einsetzten, dass Lärm also erst seit dieser Zeit „als negativ konnotierter Schlüsselbegriff des Modernisierungsprozesses besetzt wird“.107 Versteht man den
modernen Lärmbegriff auf diese Weise als ein Produkt der industrialisierten
und urbanisierten Moderne, so ist die Lücke von mindestens einem halben
Jahrhundert zwischen dem Take-Off der Industrialisierung in den meisten
Ländern Europas und dem Auftreten einer verstärkten akustischen Sensibilität
104 Monika Dommann, Antiphon. Zur Resonanz des Lärms in der Geschichte, in:
Historische Anthropologie 14. 2006, S. 133 – 146, hier S. 135; vgl. auch Philipp Felsch,
Die Stadt, der Lärm und der Ruß. Mechanische Spuren der Psyche, 1875 – 1895, in:
Cornelius Borck u. Armin Schäfer (Hg.), Psychographien, Zürich 2005, S. 17 – 42.
105 Vgl. Daniel Morat, Zwischen Lärmpest und Lustbarkeit. Die Klanglandschaft der
Großstadt in umwelt- und kulturhistorischer Perspektive, in: Bernd Hermann (Hg.),
Beiträge zum Göttinger umwelthistorischen Kolloquium 2009/2010, Göttingen 2010,
S. 174 – 190; Peter Payer, The Age of Noise. Early Reactions in Vienna, 1870 – 1914, in:
Journal of Urban History 33. 2007, S. 773 – 793; ders., Vom Geräusch zum Lärm. Zur
Geschichte des Hörens im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Aichinger, Sinne und
Erfahrung, S. 106 – 118.
106 Vgl. John M. Picker, The Soundproof Study. Victorian Professionals, Workspace and
Urban Noise, in Victorian Studies 42. 2000, S. 427 – 454; Payer, Klang von Wien.
107 Dommann, Antiphon, S. 135; vgl. auch Toyka-Seid, „Lärmpest“.
46
Jan-Friedrich Missfelder
für deren Nebenfolgen erklärungsbedürftig.108 Erfolgten die Modernisierung
der Gesellschaft und die Modernisierung ihrer Akusteme demnach mit einer
gewissen Phasenverschiebung? Genauere Studien zur Klanggeschichte des
späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts liegen bisher nicht vor, es ist aber
anzunehmen, dass die Entwicklung der Klang- und Hörkultur dieser Zeit nach
anderen Rhythmen vonstatten zu gehen scheint als Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vorgeben.
Klanggeschichte als politische Geschichte zielt also auf die sinnliche Wahrnehmbarkeit sozialer Beziehungen und politischer Machtverhältnisse und
kann damit einen Beitrag zu der Frage leisten, wie diese Strukturen überhaupt
lebensweltlich erfahrbar waren. Ein solcher Versuch einer sozialen Akustemologie, so skizzenhaft ihr Entwurf hier bleiben muss, sollte doch deutlich
gemacht haben, dass Klänge, ihre Produzenten und ihre Rezipienten nicht nur
Machtbeziehungen spiegeln, sondern diese zuallererst herstellen: weder
Bindestrich-, noch Komplementärgeschichte also.
IV. Coda: Der wilde Westen des Hörens
Man kann den oben eingeschlagenen Weg weiter verfolgen bis in die
akustische Gegenwart. Unter den vielfältigen Aktivitäten im Zusammenhang
mit der europäischen Kulturhauptstadt des Jahres 2009 Linz befindet sich auch
ein Projekt mit dem Titel „Hörstadt“. Das Projekt setzt sich für eine „bewusste
und menschenwürdige Gestaltung unser hörbaren Umwelt“ ein und veröffentlichte am 20. Februar 2009 in der französischen Tageszeitung Le Figaro ein
„Akustisches Manifest“, das auf den Tag genau hundert Jahre später mit
Filippo Tommaso Marinettis „Futuristischem Manifest“ abrechnen möchte.
Dessen Feier des Lärms wird eine politische Kritik entgegengesetzt, die durch
die Schule Michel Foucaults gegangen ist. Der zweite Abschnitt des Manifests
ist überschrieben mit „Der Wilde Westen des Hörens“:
Schall ist die neue Waffe der Macht. Schall ist zu Strahlung geworden. Das Volk wird mit
Schall bestrahlt und apathisch und blöd gemacht – an jedem Ort, zu jeder Zeit und unter allen
Umständen. Längst werden Produkte akustisch manipuliert und Werbung akustisch
inszeniert. In Supermärkten, Geschäften, Einkaufszentren, Restaurants, Warteräumen,
Telefonwarteschleifen, ja Wohnungen, Stiegenhäusern, sogar Toiletten sind täglich Millionen
Menschen Opfer toxischer Schallstrahlung, die durch ihre Körper kriecht. Verkehrsschneisen schleudern als Strahlungskanonen ihren krankmachenden Lärm auf Junge und Alte, sie
schleudern ihn auf Frauen und Männer, ja selbst auf Babys und Greise! Niemand entrinnt
dem Bombardement. Automobile, Stahlrosse und Aeroplane machen uns mit Strahlenmilitarismus gefühllos, leblos und tot. Das ist die Schönheit der Schnelligkeit! Das ist der Krieg,
108 Dieses Problem fiel auch schon R. Murray Schafer auf. Vgl. ders., Ordnung der Klänge,
S. 141 – 144.
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Perspektiven einer Klanggeschichte
47
den Marinetti pries! Die Mächtigen vergewaltigen die Machtlosen. Willkommen im Wilden
Westen des Hörens!109
Hier ist der Lärm nicht mehr – wie bei Hogarth – spezifischen Akteuren
zurechenbar und auch nicht mehr – wie in der Moderne – als Technologiefolge
bekämpfbar, sondern wirkt durch die Mikrophysik der Macht, durch Strahlung
und Gift. Die Forderung nach bewusster und menschenwürdiger Gestaltung der
akustischen Umwelt richtet sich also vor allem gegen die Dauer- und Zwangsbeschallung des öffentlichen Raumes durch mechanische Klänge und Muzak, also
eigens als Hintergrund designte Musikformen: „Das Irrenhaus der Akustik ist
bevölkert von Parasiten: Warteschleifen, Jingles, Audiologos, Warn- und Signaltöne, Corporate Sounds, Auftragsfirmensongs, Klingeltöne“. Lärmkritik dieser
Art hat zwar eine spezifisch moderne Vorgeschichte. Der 1908 vom Hannoveraner
Philosophen Theodor Lessing gegründete „Anti-Lärm-Verein“ identifizierte zum
Beispiel Lärm als eine kulturell ansteckende Krankheit zum Tode des modernen
Menschen.110 Ebenfalls gemeinsam ist all diesen Diagnosen ihre Ambivalenz zur
akustischen Moderne. Marinetti und sein futuristischer Mitstreiter Luigi Russolo
hatten Maschinenklänge und die sounds der industrialisierten Moderne insgesamt als Objekte spezifisch moderner Kunst beansprucht. Gemeinsam ist all
diesen Initiativen auch die Diagnose eines sozial unspezifisch klingenden LärmRaumes. Im Gegensatz zum London des 18. Jahrhunderts ist der urbane Raum
demokratisiert: seine Klänge können nicht mehr persönlich adressiert werden, sie
sind genuin gesellschaftliche Klänge geworden. Die dem „Akustischen Manifest“
beigefügte „Linzer Charta“ des „Hörstadt“-Projekts zieht hieraus die Konsequenz:
„Der akustische Raum ist Gemeingut. Er gehört allen […] Die Teilhabe am
akustischen Raum erfordert das Recht auf akustische Selbstbestimmung und die
Entwicklung eines akustischen Verantwortungsgefühls.“111 Eine historische Akustemologie des Lärm-Hörens könnte diese Entwicklung nachzeichnen und die
Verschiebungen ihrer politischen Implikationen thematisieren. Mit Phänomenen
der langen Dauer ist auch hierbei zu rechnen. Die akustische Dominanz und
Besetzung städtischer Räume geschieht auch in der Moderne möglicherweise
nicht nur durch die Mikropolitik der Macht. Demokratisierung des Klangs
beinhaltet auch die Geschichte von Ghettoblaster und iPod und ihren Nutzern als
Medien der akustischen Raumkonstitution.112 Man kann das täglich hören – an
jedem öffentlichen Platz und in jedem Pendlerzug der Welt.
Dr. des. Jan-Friedrich Missfelder, NCCR „Medienwandel – Medienwechsel –
Medienwissen“, Historisches Seminar, Universität Zürich, Culmannstr. 1,
CH-8006 Zürich
E-Mail: jan-friedrich.missfelder@hist.uzh.ch
109 http://www.hoerstadt.at/ueberuns/das_akustische_manifest/das_akustische_manifest_im_wortlaut.html.
110 Vgl. hierzu Dommann, Antiphon, und Morat, Zwischen Lärmpest und Lustbarkeit.
111 http://www.hoerstadt.at/ueberuns/die_linzer_charta.html.
112 Vgl. Michael Bull, Sound Moves. iPod Culture and Urban Experience, London 2007.
Die Politik des Schweigens
Veränderungen im Publikumsverhalten in der Mitte des
19. Jahrhunderts
von Sven Oliver Müller*
Abstract: From the historian’s point of view, it is important to acknowledge that
audiences make the performance of music meaningful and relevant. This article argues that the impact of concert performances depends less on their musical content
than on the power of the social relations involved in musical reception. The reception
of music by audiences establishes a link between musical production and society. One
section deals with the change of cultural practices and the new evaluation of musical
taste. It demonstrates how inattentive audiences evolved into listeners during this
period. Public acts of self-discipline during concerts were used for the identification
and the demarcation of audiences. Musical behaviour increasingly led to culture wars
among audiences, which therefore constituted a form of politics. Middle class concertgoers, fighting to legitimate their new lifestyle, frequently accused the aristocracy
for displaying uneducated manners during performances.
I. Das Publikum. Eine kulturgeschichtliche Kategorie
Die Geschichtswissenschaft hat in der Musikkultur viel zu entdecken. Die
tradierten methodischen und empirischen Abgrenzungen der Musik- und der
Geschichtswissenschaft behinderten lange Zeit die Erkenntnismöglichkeiten
beider Disziplinen.1 Erst in den letzten Jahren haben Historiker der Musikkultur – gemessen an ihrer hohen gesellschaftlichen Bedeutung – eine größere
Aufmerksamkeit geschenkt. Es kommt darauf an zu zeigen, wie soziale
Beziehungen in einer Gesellschaft durch Teilnahme an musikalischen Aufführungen geprägt wurden. Hilfreich ist es, Musik gleichsam in die Geschichte
* Für wichtige Hinweise und Korrekturen danke ich sehr herzlich Iris Törmer, Jürgen
Osterhammel und Sarah Zalfen.
1 Wichtige Überlegungen zu diesem Problem trifft Victoria Johnson, Introduction. Opera
and the Academic Turns, in: dies. u. a. (Hg.), Opera and Society in Italy and France from
Monteverdi to Bourdieu, Cambridge 2007, S. 1 – 26. Vgl. Trevor Herbert, Social History
and Music History, in: Martin Clayton u. a. (Hg.), The Cultural Study of Music. A Critical
Introduction, New York 2003, S. 146 – 156; Leo Treitler, History and Music, in: Ralph
Cohen u. Michael S. Roth (Hg.), History and …: Histories within the Human Sciences,
Charlottesville 1995, S. 209 – 230, und den wichtigen Literaturbericht von Daniel Morat,
Zur Geschichte des Hörens. Ein Forschungsbericht, in: AfS 51. 2011, S. 695 – 716.
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 48 – 85
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
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Die Politik des Schweigens
49
einzuführen – sie als Teil einer Geschichte von Gesellschaften zu begreifen,
nicht als eine Spezialdisziplin.
Das Musikleben in der Gesellschaft lässt sich besonders eindringlich durch
eine Untersuchung des Publikumsverhaltens erfassen. Die soziale und kulturelle Bedeutung des Konzert- und Opernpublikums im 19. Jahrhundert ist in
der Forschung immer noch unzureichend erfasst. Es wäre gänzlich irreführend, das Publikum lediglich als Beobachter und passiven Rezipienten
musikalischer Spektakel zu betrachten. Die Teilnehmer an den musikalischen
Aufführungen des 19. Jahrhunderts waren selbst Akteure, die den Charakter
eines Abends durch ihre körperliche Präsenz, ihre Bewertung der Musik und
ihr Hörverhalten wesentlich prägten. Das Benehmen des Publikums sollte als
gesellschaftlich relevantes Handeln deutend verstanden und dadurch im
Idealfall erklärt werden. Sein Verhalten stellt eine kodierte Praxis dar, mit Hilfe
derer Musikliebhaber eigene Erfahrungen und Interessen artikulieren. Da das
Erlebnis von Musik nicht allein von der Komposition und den Künstlern
abhängt, sondern auch durch die Anteilnahme an musikalischen Aufführungen sozial vorgeprägt ist, ist es wichtig, das Spannungsfeld zwischen der
Vorführung, dem Erwartungshorizont des Publikums und seinen Reaktionen
zu vermessen. Im Anschluss an die Konjunktur konstruktivistischer Ansätze
in den Kulturwissenschaften ist es unstrittig, dass auch die Bedeutung von
Musik nicht unverrückbar besteht, sondern immer auch von den Hörern selbst
erzeugt wird.2
Aufführungen der Musik bilden ein Kommunikationselement, um das sich
allmählich festere Formen kristallisierten. Das musikalische Material erleichterte die Kommunikation des Publikums, weil es ästhetisch reizvoll war, aber
Botschaften nur in konnotativer Form weitergab. Die gesellschaftliche Bedeutung der Musik kann mit Hilfe drei ausgewählter Kategorien untersucht
2 Eine stärkere Konzentration auf Rezeptionsanalysen forderten bereits vor zwanzig
Jahren Hermann Danuser u. Friedhelm Krummacher (Hg.), Rezeptionsästhetik und
Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft, Laaber 1991. Trotz der Belebung dieser
Forschungsrichtung konstatierten führende Vertreter der Musik- und Kulturwissenschaften nach wie vor große Lücken in diesem Bereich. Vgl. etwa die Beiträge in: Archiv
für Musikwissenschaft 57. 2000; Wolfgang Kemp (Hg.), Der Betrachter ist im Bild.
Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin 1992; Susan Bennett, Theatre
Audiences. A Theory of Production and Reception, London 1990; die wichtigen
Aufsätze von Jerrold Levinson, Performative vs. Critical Interpretation in Music, in:
Michael Krautz (Hg.), The Interpretation of Music, Oxford 1993, S. 34 – 60; Martyn
Thompson, Reception Theory and the Interpretation of Historical Meaning, in: History
and Theory 32. 1993, S. 248 – 272. Wegweisend in den Musikwissenschaften waren in
jüngster Zeit vor allem die Forschungen zur Bach-Rezeption in dem vierbändigen Werk
von Michael Heinemann u. Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Bach und die Nachwelt, 4
Bde., Laaber 1997 – 2004; vgl. auch Gundula Kreuzer, Verdi and the Germans. From
Unification to the Third Reich, Cambridge 2010.
50
Sven Oliver Müller
werden: dem Publikum (das heißt, dem Verhalten einer Gruppe und seinem
Umgang mit der Musik), den Aufführungen (das heißt, dem Musikbetrieb in
Konzert- und Opernhäusern) und dem Geschmack (das heißt, der Bewertung
und der Auswahl von Kompositionen). Statt ästhetische Phänomene von den
Aufführungsorten und den sozialen Strukturen zu trennen, kommt es darauf
an, die Beziehung zwischen Werk und Wirkung zu nutzen. Das Publikum
verständigt sich durch seinen musikalischen Geschmack im Kontext bestehender baulicher und kultureller Institutionen (Konzert- und Opernhäuser,
Sinfonieorchester, Presseberichte).
Scheut man die Zuspitzung nicht, dann besuchte das Publikum nicht einfach
nur öffentliche musikalische Veranstaltungen – es war die Öffentlichkeit.
Genauer : Es wurde zur Öffentlichkeit durch den Akt des kollektiven Musikkonsums. Geteilte ästhetische Vorlieben und öffentliche Verkehrsformen
verbanden Menschen von unterschiedlicher Herkunft und von unterschiedlichem Status. Bestimmte Geschmackspräferenzen brachten bestimmte soziale
Gruppen hervor, für die der amerikanische Historiker William Weber den
Begriff „taste publics“ geprägt hat.3 Auf diesen Zusammenhang von kultureller
Praxis und sozialer Genese hat Jürgen Habermas als einer der Ersten
hingewiesen: „Strenger noch als am neuen Lese- und Zuschauerpublikum läßt
sich am Konzertpublikum die Verschiebung kategorial fassen, die nicht eine
Umschichtung des Publikums im Gefolge hat, sondern das ,Publikum‘ als
solches überhaupt erst hervorbringt.“4
Der historische Blick auf das Musikleben im Konzertsaal und im Opernhaus
mag helfen, die immer noch wenig erforschte Rolle des Publikums besser zu
verstehen. Erklärungsbedürftig ist es, dass sich in den beiden wichtigsten
musikwissenschaftlichen Lexika, „Musik in Geschichte und Gegenwart“ und
„New Grove“, keine Einträge unter der Rubrik „Publikum“ beziehungsweise
„audiences“ finden lassen.5 Gleichwohl wird inzwischen die Frage nach dem
Verhalten und dem Geschmack des Publikums diskutiert. Der wichtigste
Anstoß ging dabei von James Johnsons Buch „Listening in Paris“ aus, das die
sich wandelnde Beziehung zwischen der in Opern- und Konzerthäusern
aufgeführten Musik und den Publikumsreaktionen vom späten 18. bis ins
frühe 19. Jahrhundert untersucht. Seine pointierte, doch einer international
vergleichenden Überprüfung noch harrende These besagt, dass sich in Paris
ein schweigendes Hörverhalten in Folge neuer Kompositionen und neuer
3 William Weber, Music and the Middle Class. Social Structure of Concert Life in London,
Paris and Vienna, London 20042, bes. S. 11 f.
4 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt 19904. Vgl. HannsWerner Heister, Das Konzert. Theorie einer Kulturform, 2 Bde., Wilhelmshaven 1983,
S. 100 – 116.
5 Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 29 Bde., Kassel 1994 – 20082 (MGG); The New Grove Dictionary of
Music and Musicians, 29 Bde., Oxford 20012.
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Die Politik des Schweigens
51
Aufführungspraktiken durchsetzte.6 Die relativ wenigen neueren Arbeiten zur
historischen Dimension kultureller Verhaltensmuster, wie etwa die Monographien von Celia Applegate, Jennifer Hall-Witt und Christophe Charle, zeichnen
das Bild eines heterogenen Publikums, heben das sinnliche Erleben opulenter
Inszenierungen und die vielfältigen nationalistischen und kulturellen Implikationen musikalischer Vergnügungen hervor.7
Ein erster Befund besagt, dass in der Forschung die Trennung zwischen
Komposition, Aufführung und Rezeption immer weiter an Bedeutung verliert.
Die Sinneswahrnehmungen des Publikums stehen in Relation zur Gesellschaft.
Damit ist die Unterscheidung zwischen Komponisten und Rezipienten im
Begriff, ihre Substanz zu verlieren. Kunstwerke büßten spätestens im 19. Jahrhundert ihre ästhetische Autonomie ein – wenn sie diese je hatten. Mit guten
Gründen diskutieren Historiker aber auch Musikwissenschaftler die Frage, ob
aus dieser Konsequenz eine Auflösung des Werkbegriffs folgen könnte.
Allerdings würde man durch einen konsequenten Wechsel vom Werkbegriff
zum Aufführungsbegriff neue hermeneutische Schwierigkeiten erhalten.8
6 James H. Johnson, Listening in Paris, Berkeley 1995 und von John M. Picker, Victorian
Soundscapes, Oxford 2003, gelang eine Analyse der auditiven Wahrnehmungen und
neuer Verhaltensweisen im viktorianischen England. Ebenso stimulierend für die
Debatte zwischen den Disziplinen sind der soziologische Ansatz von Tia DeNora,
Beethoven and the Construction of Genius. Musical Politics in Vienna, 1792-1803,
Berkeley 1995 und die Arbeit von Dana Gooley, The Virtuoso Liszt, Cambridge 2004,
über die gesellschaftliche Rezeption von Franz Liszt in Europa. Vgl. zur Untersuchung
des Publikumsverhaltens zudem die Überlegungen von Jennifer L. Hall-Witt, Representing the Audience in the Age of Reform, Critics and the Elite at the Italian Opera in
London, in: Christina Bashford u. Leanne Langley (Hg.), Music and British Culture,
1785 – 1914. Essays in Honour of Cyril Ehrlich, Oxford 2000, S. 121 – 144.
7 Vgl. Celia Applegate, Bach in Berlin. Nation and Culture in Mendelssohn’s Revival of the
St. Matthew Passion, Ithaca, NY 2005; Christophe Charle, Thtres en capitales.
Naissance de la socit du spectacle Paris, Berlin, Londres et Vienne 1860 – 1914, Paris
2008; Jennifer L. Hall-Witt, Fashionable Acts. Opera and Elite Culture in London,
1780 – 1880, Durham, NH 2007; David Gramit, Cultivating Music. The Aspirations,
Interests, and Limits of German Musical Culture, 1770-1848, Berkeley 2002; Philipp
Ther, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa, 1815 – 1914, Wien
2006; Sven Oliver Müller, Analysing Musical Culture in Nineteenth-Century Europe:
Towards a Musical Turn?, in: European Review of History 17. 2010, S. 833 – 857.
8 Vgl. etwa Hans-Joachim Hinrichsen, Musikwissenschaft und musikalisches Kunstwerk.
Zum schwierigen Gegenstand der Musikgeschichtsschreibung, in: Laurenz Lütteken
(Hg.), Musikwissenschaft. Eine Positionsbestimmung, Kassel 2007, S. 67 – 87; ders.,
Musikwissenschaft. Musik, Interpretation, Wissenschaft, in: Archiv für Musikwissenschaft 57. 2000, S. 78 – 90, und die Überlegungen von Christian Kaden, Das Unerhörte
und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel 2004; Helga de la MotteHaber u. Hans Neuhoff, Vorwort, in: dies. (Hg.), Musiksoziologie, Laaber 2007, S. 9 – 17.
52
Sven Oliver Müller
Hier wird der Blick gelenkt auf die öffentlichen Arenen der Konzert- und
Opernhäuser in Berlin, London und Wien in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Diese nutzten Bürger und Adelige um sowohl ihren Beifall als auch ihr
Missfallen öffentlich zu demonstrieren. In diesem Beitrag werden vermeintlich
nichtige Details des Musiklebens an die großen gesellschaftlichen Dramen des
19. Jahrhunderts angebunden. Ein Musikstück zu mögen oder nicht, sich für
die Kleidung und das Gespräch eines Sitznachbarn zu interessieren oder nicht
– all das waren mehr als unterhaltsame Selbstverständlichkeiten. Diese
Indikatoren offenbaren die gesellschaftlichen Ordnungsstrategien der Eliten
des 19. Jahrhunderts. Adelige und Bürger, Berliner und Londoner suchten
einigen brennenden Problemen der Epoche durch ihre Handlungen im
Auditorium zu begegnen – oder zu entfliehen. Viele Hörer nutzten ihre
sozialen Beziehungen und politischen Geschmacksurteile, um auf der musikalischen Bühne ihre Interessen und Werturteile zu demonstrieren.
Um die Bedeutung dieser Form der Kommunikation aufzuzeigen, ist es
notwendig den Bestand und den Wandel der Verhaltensmuster des Publikums
zu beleuchten. Das kann anhand der Untersuchung scheinbar unwichtiger
Manieren im Musikleben deutlich werden. So war beispielweise die Geräuschkulisse in den Opern- und Konzerthäusern des 19. Jahrhunderts auffällig. Die
Besucher lärmten ohne Unterlass. Man kam und ging, das heißt, man öffnete
und schloss Türen, manchmal verspätete man sich oder ging etwas früher ;
einige warfen versehentlich Stühle um, andere absichtlich Geschirr ; Zugaben
wurden erklatscht oder der Auftritt missfallender Künstler lärmend abgebrochen. Diese Musikkultur veränderte sich. Zwischen 1820 und 1860 erfand das
Publikum das Schweigen. Konzert- und Opernbesucher verwandelten sich in
Musikhörer im wörtlichen Sinne – sie hörten Musik. Die Menschen begannen
Geräusche zu verhindern, sich im Laufe des Abend selbst zu kontrollieren: Sie
applaudierten statt zwischen den Sätzen am Ende einer Sinfonie und
beschränkten die Konversation auf die Treffen im Foyer in der Pause.
Die Unruhe und die spätere Disziplinierung des Publikums waren nicht nur
pittoreske Eigenarten, sie waren gesellschaftlich wichtig. Denn die Veränderung des Publikumsverhaltens, die Art und Weise wie Musik gehört und
angeeignet wurde, ermöglicht es, den Wandel kultureller Geschmacksnormen
und sozialer Beziehungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu erfassen. Die
Konzert- und Opernhäuser erfüllten genau diese Funktion als Orte, in denen
Musikfreunde zunehmend vom Urteil der Anderen abhängig und so für das
eigene Verhalten sensibilisiert wurden. Der Wandel des Hörverhaltens
markiert eine Periode des historischen Übergangs und bietet die Chance,
die Konkurrenz etablierter und innovativer Praktiken, musikalische Kontrollverluste mit Kontrollversuchen zu vergleichen. Dadurch eröffnen zunächst
ergebnisoffene Prozesse neue Einsichten. Die Bedeutung des neuen Hörverhaltens ist kaum zu überschätzen, war es doch Indiz für einen nachhaltigen
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Die Politik des Schweigens
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Wandel von sozialer Praxis, politischen Urteilen und ästhetischem Geschmacksurteil.9
Der Fokus richtet sich hier auf die ästhetische und die politische Bewertung
der symphonischen Musik des 19. Jahrhunderts im Konzertsaal, was umgekehrt bedeutet, viele Genres auszublenden: Die Kirchen- und die Chormusik
ebenso wie die ganze Bandbreite der Unterhaltungsmusik. Die Aufführungen
von Sinfonien lassen sich empirisch leichter untersuchen. Zwar funktioniert
diese Kombination aus kultureller und sozialer Ordnung auch in anderen
öffentlichen Orten wie Tanzlokalen oder Cafs. Was dort aber im Vergleich zu
den Begegnungsräumen der Elite fehlt, sind die institutionelle Verfestigung
der Spielstätten, ein regelmäßiges Repertoire und ein fester Publikumsstamm.
Öffentlich auffällig sind formal aufwändig konzipierte Werke und groß
besetzte musikalische Gattungen – Aufführungen, die aus sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen ein großes Publikum benötigen. Lieder
und Kammermusik werden deshalb ganz ausgeblendet, weil sie für die
öffentliche Rezeption der Musik nur einen relativ geringen Stellenwert
besaßen.
Von Interesse ist, wie sich durch musikalische Aufführungen Kommunikationsgemeinschaften in den großen Städten herausbildeten. Der Umgang der
Eliten miteinander im Konzertsaal und im Opernhaus lässt nicht nur manche
soziale und ökonomische Differenzen in Berlin, in London und in Wien
erkennen. Dem gegenüber ist die vergesellschaftende Wirkung in allen
Spielstätten nicht zu unterschätzen. Erkennbar sind wichtige kulturelle
Übereinstimmungen in den drei Metropolen in der Herausbildung des
Konzertwesens, im wachsenden Publikumsinteresse und im sich verändernden Geschmack.
In Wien machten die vielfältigen Institutionen der Kaiserstadt und besonders
die Kultur der Adelshäuser die Stadt zu einem musikalisch bedeutsamen Ort.
Hierin lag ein wichtiger Unterschied zum Musikleben in Berlin und in London.
Adelige Familien, wie gerade Esterhzy, Lichnowski und Lobkowitz, engagierten sich als Mäzene, als Veranstalter zunächst halböffentlicher Konzerte
und finanzierten ohne Bedenken selbst Beethovens Karriere. Weder in der
9 Umso erstaunlicher ist es deshalb, dass über diesen Prozess des Hörenlernens immer
noch recht wenig bekannt ist. Vgl. neben Johnson, Listening; Christina Bashford,
Learning to Listen, Audiences for Chamber Music in Early-Victorian London, in:
Journal of Victorian Culture Edinburgh 4. 1999, S. 25-51; William Weber, Did People
Listen in the 18th Century? in: Early Music 25. 1997, S. 678-691; Michael P. Steinberg,
Listening to Reason. Culture, Subjectivity, and Nineteenth-Century Music, Princeton
2004; Hall-Witt, Fashionable, S. 227 – 264; Peter Gay, Die Macht des Herzens. Das
19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich, München 1997, S. 19 – 48; Sven Oliver
Müller, Hörverhalten als europäischer Kulturtransfer. Zur Veränderung der Musikrezeption im 19. Jahrhundert, in: Peter Stachel u. Philipp Ther (Hg.), Wie Europäisch ist
die Oper? Wien 2009, S. 41 – 53.
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Sven Oliver Müller
Struktur der Habsburgermonarchie noch im Musikleben ist ein „bürgerliches
Zeitalter“ zu erkennen. Der Hochadel achtete auch nach 1848 auf seine
Abgrenzung zum aufsteigenden Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum. Das
aber eröffnete den Orchesterkonzerten neue Möglichkeiten. Die Konzertsäle
waren für alle Eliten zugänglich, für den Adel und für das gehobene Bürgertum
gleichermaßen. Das zeigte exemplarisch die erfolgreiche Neugründung der
„Gesellschaft der Musikfreunde“ 1813. Diese Konzertreihe changierte zunächst zwischen aristokratischem Salon und öffentlichen Konzerten. Im
Unterschied zu den Kaufleuten und Händlern interessierten sich gerade
Beamte und Lehrer für diese neue musikalische Unterhaltung.10
Auch in Berlin erkannten viele Anwälte, Ärzte und Beamte, dass ihre Chancen
in der Gesellschaft durch den individuellen Erwerb musikalischer Bildung
wuchsen und nicht mehr allein durch die Herkunft und den materiellen Besitz.
Spätestens seit den 1830er Jahren erlaubten neue Konzertserien die öffentliche
Sichtbarkeit der Bürger und nutzten der Herausbildung einer bürgerlichen
Elite. Das Repertoire der staatlichen Königlichen Kapelle war überaus
konservativ ausgelegt (Potpourris aus Spätbarock und Frühklassik) und erst
die Initiativen privat gegründeter Orchester bereicherten das Berliner Konzertleben. Im Ergebnis zeichnete sich in Berlin ein gemeinsamer Musikkonsum von Adeligen und Bürgern ab. Auch die königliche Familie nahm an den
Konzerten der von Bürgern organisierten Singakademie teil und erlebte
beispielsweise die Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion durch Felix
Mendelssohn Batholdy und Carl Friedrich Zelter 1829. Die Tatsache, dass sich
Adelige und Bürger immer öfter im Konzert begegneten, sich in Gespräche
über Sinfonien und Solokonzerte vertieften, zeigt, dass sich Berlin wenigstens
in seiner kulturellen Praxis weiter als Wien öffnete.11
In London war vor allem der Hochadel (nobility) und weniger der niedere Adel
beziehungsweise der Landadel (gentry) in den kulturellen Veranstaltungen
präsent. Die gentry hatten es aus Gründen der räumlichen Entfernung und
ihrer beschränkten finanziellen Mittel weit schwerer, die musikalische Saison
in der Hauptstadt zu besuchen. In dieser Hinsicht galten in London ähnliche
Rahmenbedingungen wie in Wien und in Berlin. Ein zentraler Unterschied
zwischen London und den übrigen Metropolen bestand aber in der Organisation des Opernhauses selbst. In Wien und Berlin beherrschten die Hoftheater
den Spielplan und das Gesellschaftsleben, wohingegen in London freie
Unternehmer ohne staatliche Subventionen um die Gunst des Publikums
10 Die Angaben folgen Weber, Music, S. 87 – 98 u. S. 159 – 161. Vgl. die Beiträge in Rudolf
Flotzinger u. Gernot Gruber (Hg.), Musikgeschichte Österreichs, Bd. 2: Vom Barock
zum Vormärz, Wien 19952.
11 Vgl. Christoph Helmut Mahling, Zum „Musikbetrieb“ Berlins und seinen Institutionen
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Carl Dahlhaus (Hg.), Studien zur
Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert, Regensburg 1980, S. 27 – 284;
Applegate, Bach, S. 10 – 44.
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werben mussten.12 Ärzte, Rechtsanwälte und Verwaltungsfachleute, nicht aber
das Wirtschaftsbürgertum, gründeten neue Konzertreihen, um ehemals
private Aufführungen von Kunstmusik so in den öffentlichen Raum zu
überführen. Ohne die bestehenden musikalischen Institutionen erweiterten
sie in eigener Verantwortung die musikalische Praxis. Auffällig war die
Neugründung der Royal Philharmonic Society 1813, einer Konzertreihe,
welche nicht nur die neuen musikalischen Ideale der middle class (Sinfonien,
Solokonzerte) befriedigte, sondern auch den ästhetischen Konservatismus
(Barock, Chormusik) der aristokratisch dominierten „Ancient Concerts“
verdeutlichte.13
Dieser Beitrag gliedert sich in drei Abschnitte und ein knappes Fazit. Nach
diesen einführenden Bemerkungen handelt der zweite Teil vom neuen
Hörverhalten des Konzertpublikums. Zunächst wird die Alltäglichkeit des
undisziplinierten Musikkonsums im frühen 19. Jahrhundert beschrieben. Die
Frage drängt sich auf, warum das bürgerliche Publikum überhaupt begann,
sich schweigend auf die Aufführungen zu konzentrieren und warum sich diese
Entwicklung in verschiedenen europäischen Städten und Ländern – wenn auch
in unterschiedlichem Tempo und zeitlich versetzt – in dieselbe Richtung
vollzog. Dabei interessiert der Übergang von der relativen habituellen
Unordnung im Musikleben um 1800 zur relativen Ordnung um 1850, eine
Entwicklung von der Vielfalt der Werte und Praktiken hin zur Angleichung.
Die Entscheidung, Affekte zu disziplinieren, kann als eine Stufe des wachsenden bürgerlichen Selbstbewusstseins verstanden werden und speiste sich aus
Widersprüchen einerseits und neuen Grenzziehungen andererseits. Durch
wen und auf welche Weise setzten sich schärfer ausgewählte und kontrolliert
gehörte Musikwerke durch? Verursachten neue Kompositionen und Aufführungen oder neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen und individuelle
Entscheidungen diesen Wandel? Das heißt, es ist zu diskutieren, ob sich in
erster Linie das Benehmen der Hörer oder der gesellschaftliche Stellenwert
musikalischer Aufführungen veränderte.
Der dritte Teil schildert die Politisierung dieser neuen musikalischen Praktiken in der Mitte des 19. Jahrhunderts – die politische Reichweite der
kulturellen Gemeinschaft der Musikfreunde in Berlin, in London und in
Wien.14 Die ästhetischen Auseinandersetzungen des Konzert- und Opernpu12 Vgl. Hall-Witt, Fashionable, S. 12 – 22 u. S. 149 – 172; Michael Walter, „Die Oper ist ein
Irrenhaus“. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 71 – 109.
13 Vgl. Weber, Music, S. 61 – 80 u. S. 162 – 164; Simon Gunn, The Public Culture of the
Victorian Middle Class. Ritual and Authority in the English Industrial City, 1840 – 1914,
Manchester 2000, S. 134 – 162.
14 Vgl. die Beiträge in Sven Oliver Müller u. a. (Hg.), Die Oper im Wandel der Gesellschaft.
Kulturtransfers und Netzwerke des Musiktheaters in Europa, Wien 2010; Philip V.
Bohlman, The Music of European Nationalism. Cultural Identity and Modern History,
Santa Barbara 2004.
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blikums über einen angemessenen musikalischen Geschmack eröffneten in
den 1830er und 1840er Jahren vielen Bildungs- und Wirtschaftsbürgern
zusätzliche politische Handlungsspielräume gegenüber den herrschenden
Adeligen. Denn wer die Kunstmusik nicht sensibel zu hören vermochte, so die
Argumentation, der schien auch ungeeignet für die Kontrolle des Staatswesens
zu sein. Weil das Bürgertum seinen gesellschaftlichen Stellenwert auch durch
den Besuch der Konzerthäuser sichtbar machen konnte, wurde diese kulturelle
Praxis auch als politische Form immer wichtiger. Eine These lautet, dass die
kulturelle Konkurrenz der Institutionen und der Streit um ein adäquates
Hörverhalten die politische Konkurrenz zwischen Bürgertum und Adel
erleichterte. Die eigenen Erfahrungen im Konzertsaal konnten Musikliebhaber
strategisch nutzen, um etwa eigene Positionen in der Debatte über Pressefreiheit oder Wahlrechtsreformen zu markieren. Hier interessiert die Frage, ob die
Freude an der Musik die Hörer zu politischen Freunden verband. Mit Hilfe
welcher kulturellen Strategien verwandelten manche Bildungsbürger die
Adeligen im Konzerthaus in eine kulturell verfeindete Gruppe? Waren es
primär Kategorien der Musik, die divergierende politische Positionen formulierten? Oder geschah es doch umgekehrt, und musikalische Konflikte ließen
sich in der Sprache der Politik austragen? Schließlich wirft die Politisierung
des musikalischen Geschmacks auch die Frage nach dem Zeitraum auf:
Manches spricht dafür, dass das musikliebende Bürgertum eine stärkere
eigene kulturelle Identität in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte als
in der zweiten Hälfte.
Die Tageszeitungen und Musikzeitschriften sind die wichtigste Quellengruppe
in diesem Beitrag, sie eröffnen viele Möglichkeiten, um den gesellschaftlichen
Rang und die Bewertung von Musik zu untersuchen. Dieser Befund mag
überraschen, denn musikalische Aufführungen verschwanden im Laufe des
20. Jahrhunderts im Kulturteil der Tageszeitungen. Der Unterschied zu den
Berichten im 19. Jahrhundert könnte kaum größer sein. In Berlin informierten
Zeitungen über ein wichtiges Konzert oft auf dem unteren Drittel des
Titelblattes. In London fanden Leser die über zwei oder drei Spalten gehende
Schilderung einer Gala-Aufführung im Opernhaus gleich neben dem politischen Leitartikel. Die zeitgenössische Presse bewertete nicht nur die musikalischen Werke und die Qualität der Aufführungen, sondern enthielt auch
umfangreiche Informationen über die Erscheinung, die Zusammensetzung
und das Verhalten des Publikums. Zu Beginn jeder Spielzeit druckten die
wichtigsten Tageszeitungen eine vollständige Besucherliste der Konzert- und
Opernhäuser ab, das heißt, ein minutiöses Verzeichnis der adeligen und
großbürgerlichen Rezipienten, die Sitzplatzverteilung und die Kartenpreise.
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Anwesende und Abwesende wussten um diese kulturelle Anordnung der
Gesellschaft und nutzten sie.15
Die Zeitungslandschaft veränderte sich mit ihren Lesern. Der Übergang
zwischen Zeitungen und Zeitschriften war im frühen 19. Jahrhundert fließend.
Oft unterschieden schriftstellerisch arbeitende Journalisten kaum zwischen
Meldung, Hintergrundanalyse und Kommentar. In Wien wollten die Sonntagsblätter oder die Allgemeine Wiener Musikzeitung 1847 sowohl über die
Musik als auch über die Politik in der Donaumonarchie berichten. Wichtig
waren zudem die individuellen Leistungen einiger Schriftsteller, die sich vom
professionellen Arbeitsethos späterer Kritiker deutlich unterschieden. E.T.A.
Hoffmann wirkte als Dichter, Schriftsteller und Journalist. Ludwig Rellstab
verfasste nicht nur Opernlibretti, sondern brachte auch gelehrte Kunstzeitschriften wie die Iris auf den Markt. Adolf Bernhard Marx gab die analytisch
hochrangige Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung heraus.16
II. Die Erfindung des Schweigens
Ein heutiger Konzert- oder Opernbesucher hätte sich in einer typischen
Vorstellung um 1820 vermutlich nicht besonders wohl gefühlt. Bis in die Mitte
des Jahrhunderts hinein entsprach das Hörverhalten oft nicht schweigender
bildungsbürgerlicher Distanz, sondern erinnerte an die lautstarke Anteilnahme auf einem Fußballplatz. Das galt für London und Paris, mit geringen
Abstrichen aber auch für Berlin, Wien und die übrigen europäischen
Metropolen. Während die Musik lief, plauderte man, mal leiser, mal lauter,
aß und trank, besuchte sich gegenseitig in den Logen und promenierte durch
den Saal. Geschäftsleute besprachen ihre kommerziellen Angelegenheiten,
Frauen führten ihre neueste Kleidung vor, Kurtisanen machten potenzielle
Liebhaber auf sich aufmerksam. Körperlich gezeigte Freuden kamen zumal bei
guten Weinsorten, leckeren Appetithäppchen und köstlichen Desserts ins
Spiel. Stendhal beispielsweise schwärmte in Mailand darüber, dass die Diener
15 Vgl. aus der Literatur der Zeitungsforschung die Beiträge von Jörg Requate, Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995; Peter Borchardt, Die
Wiener Theaterzeitschriften des Vormärz, Wien 1961; Imogen Fellinger, Verzeichnis der
Musikzeitschriften des 19. Jahrhunderts, Regensburg 1968; Die Sprachwendungen und
ungewöhnlichen Schreibweisen des frühen 19. Jahrhunderts werden hier im Regelfall
beibehalten. Vgl. Derek B. Scott, Sounds of the Metropolis. The Nineteenth-Century
Popular Music Revolution in London, New York, Paris, and Vienna, Oxford 2008, bes.
S. 15 – 57; Hall-Witt, Fashionable, S. 23 – 56.
16 Vgl. Applegate, Bach, S. 104 – 124; Jürgen Rehm, Zur Musikrezeption im vormärzlichen
Berlin. Die Präsentation bürgerlichen Selbstverständnisses und biedermeierlicher
Kunstanschauung in den Musikkritiken Ludwig Rellstabs, Hildesheim 1983.
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Sven Oliver Müller
Gefrorenes in die Loge brachten und die Anwesenden darüber wetteten,
welche der allabendlich angebotenen Sorbetsorten wohl am besten mundeten.17 Auch der Tabakkonsum fehlte im Musikleben nicht. Bis weit in die zweite
Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein genossen viele Männer Zigarren und
Pfeifen während der Aufführung. Zur Entspannung breiteten viele Besucher
sich genüsslich in ihren Sitzen aus und behielten dabei ihre Hüte zu oft auf und
ihre Schuhe zu selten an.
Dabei waren die Musikfreunde nicht eigentlich unaufmerksam; sie konzentrierten sich nur höchst selektiv auf bestimmte zirzensische Glanzleistungen
der Künstler und die „schönen“ Stellen einer Partitur. Dann aber nahmen sie
in der Regel überaus aktiv am Geschehen teil, wobei sie potenziell jedes
Musikstück und jede Bravourarie bejubeln oder ausbuhen konnten. Oft zog
sich die Aufführung erheblich in die Länge, weil einzelne Arien oder Szenen
nach der Aufforderung der Zuhörer zum Teil mehrfach wiederholt werden
mussten.18
Überraschenderweise stechen im Vergleich des Opern- mit dem Konzertpublikum im frühen 19. Jahrhundert zunächst die Parallelen ins Auge. Auch
wenn die Besucher der Konzerte später die Avantgarde eines neuen schweigenden Hörverhaltens bilden sollten, unterschied sich ihr Benehmen lange
kaum von dem des Opernpublikums. Hier wie dort waren der spontane Genuss
musikalischer Darbietungen und der eigenmächtige Konsum von Musik
ausschlaggebend. Der nach London gereiste Franz Grillparzer klagte 1836 über
das in seinen Augen völlig ungehörige Benehmen des Opernpublikums.
Wem’s einfällt, der behält den Hut auf dem Kopfe. Kommen nun gar die half-price Leute, so
setzt sich jeder wo sein Platz ist. Die später kommenden stürmen nun in die Logen, steigen
hinter dem Rücken der Sitzenden auf die Bänke, drängen sich ein. Die Logenthüren bleiben
offen.
Besonders empörend sei „die Frechheit der Weiber in den Corridors“.19
Diese Freiheit bedeutete nicht unbedingt, jede Kontrolle aufzugeben, nur
bestimmten diese Musikliebhaber selbst, was für die Elite zu wünschen war
17 Stendhal, Rom, Neapel und Florenz im Jahre 1817, in: Stendhal (Henri Beyle), Werke,
hg. v. Carsten Peter Thiede, Frankfurt 1980, S. 24.
18 Grundlegend zur Musikkultur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts in England ist
John Brewer, The Pleasures of the Imagination. English Culture in the Eighteenth
Century, London 1997. Vgl. Howard Chandler Robbins Landon, Mozart. Die Wiener
Jahre, 1781 – 1791, München 1990; Daniel Fuhrimann, Herzohren für die Tonkunst.
Opern- und Konzertpublikum in der deutschen Literatur des langen 19. Jahrhunderts,
Freiburg 2005; Marjorie Morgan, Manners, Morals and Class in England, 1774 – 1858,
London 1994 und den Sammelband von Carl Dahlhaus (Hg.), Die Musik des
18. Jahrhunderts, Laaber 1985.
19 Zitiert nach Eduard Hanslick, Musikalisches Skizzenbuch. Neue Kritiken und Schilderungen, Bd. 4: Die moderne Oper, Berlin 1888, S. 262.
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und was nicht. Der eigene Rang und das eigene Verhalten setzten Markierungspunkte, welche in feinen Abstufungen die soziale Position kenntlich
machten. So stellte das häufigste Freizeitvergnügen in der Oper den gegenseitigen Besuch in den Logen mit anschließenden Gesprächen und Scherzen
dar. Männer bewegten sich meist zwischen den Logen, ihre Frauen blieben
dort, hatten aber das Recht, selbst zu entscheiden, wen sie einließen und wen
nicht.20 In den Begegnungen der elitären Musikfreunde waren alle geschäftlichen und privaten Angelegenheiten von Interesse. Besondere Aufmerksamkeit zogen die jüngeren höheren Töchter der Gesellschaft auf sich. Was immer
die Musik den Männern auch offerieren mochte, alles verblasste hinter der
Aussicht auf weibliche Offerten. Die Allgemeine Musikalische Zeitung berichtete über das Berliner Konzertleben:
Das allgemeine laute Plaudern hörte nicht einen Augenblick auf; es hatten auch sogar
verschiedene Herren sich mit ihren Stühlen vor die Sitze der Damen so gesetzt, dass sie dem
Orchester den Rücken zukehrten, um sich mit diesen desto bequemer laut unterhalten zu
können.21
Das Publikum hörte viele der gespielten Kompositionen kaum, weil die
Aufmerksamkeit dem eigenen Lärmen, dem Kartenspiel oder der gegenseitigen Unterhaltung galt. Die musikalischen Aufführungen auf der Bühne zu
erleben, war zwar wichtig, entscheidend aber war das Interesse an den sozialen
Aufführungen auf der Bühne des Zuschauerraums. Über das geltende
Verhalten in der Oper in Berlin hieß es dazu:
Bey den nachkommenden Vorstellungen wird geschwätzt, gelärmt, in den Logen Besuch
gegen Besuch gewechselt, Karten gespielt, suopirt, ja, man lässt wohl gar die Vorhänge an der
Loge herab, um auch nicht zufällig von der Bühne her im Spiele oder im Gespräche gestört zu
werden.
Bei berühmten Cavatinen und Duetten „werden Karten oder Essbesteck auf
einige Minuten bey Seite gelegt […] um sich gleich […] wieder vom Theater
ab, und zu seiner vorigen Unterhaltung zu wenden“.22
Die fehlende Begeisterung des Publikums verärgerte häufig die auftretenden
Künstler. Louis Spohr wunderte sich vor seinem Konzert am Braunschweiger
Hof darüber, dass die Herzogin ihn aufforderte, nicht forte zu spielen, denn zu
laute Klänge lenkten sie von ihrem Kartenspiel ab. Oft beeinträchtigte das
Publikumsverhalten die Qualität neuer Kompositionen. Gioacchino Rossini
passte gelegentlich eilig geschriebene Bühnenwerke der unkonzentrierten
Aufmerksamkeit seiner Hörer an. Mehr noch: In seiner Oper „Ciro di
Babilonia“ schrieb er für eine zweitklassige Sängerin eine wenig komplexe
„Sorbet-Arie“ (aria del sorbetto). Den Namen erhielt das Stück durch das
20 Vgl. Hall-Witt, Fashionable, S. 59 – 73.
21 Allgemeine Musikalische Zeitung 10. 1808, S. 380.
22 Ebd., 16. 2. 1820, S. 110.
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Sven Oliver Müller
Publikum, das sich dadurch zum ungestörten Konsum seiner Eiscreme
während der Vorstellung stimuliert sah.23
In der Mitte des 19. Jahrhunderts verschwand dieses Hörverhalten. Die
Übergangsperiode von der Fremd- zur Selbstkontrolle der Konzert- und
Opernbesucher ist schwer zu begründen, weil der Wandel so massiv ausfiel
und die Entstehung eines neuen Lebensstils aufzeigte. Ab dem zweiten Viertel
des 19. Jahrhunderts veränderte sich das Hörverhalten nicht allein als Folge
neuer ästhetischer Prämissen, sondern ebenso als ein Resultat unbekannter
akustischer Reize, einer sich wandelnden Klangwelt in den europäischen
Metropolen. Neue akustische Belastungen sind zu beobachten und die
Entwicklung neuer Anpassungsstrategien gegen die hörbare Lautstärke.
Viele Stadtbewohner ärgerten sich nicht allein über die exzessiven Baumaßnahmen und die lärmenden technischen Transportmittel, sondern bereits über
die akustischen Störungen von Straßenmusikern und Zirkustruppen. Die
Menschen vermochten sich der belastenden Präsenz von öffentlichen Klängen
viel schwerer zu entziehen als der öffentlichen Existenz von Bildern. Dieser
akustischen Unordnung begegnete das Bürgertum durch Ordnungsversuche,
dem akustisch Fremden durch neue Grenzziehungen.24
In vielen großen Städten formte sich ein eigenes distinktives Publikum und
brachte das Schweigen gleichsam von außen in den Konzertsaal. Die Festlegung des Benehmens, des Konsums und der Pünktlichkeit ist ein Produkt der
gesellschaftlichen Veränderung nach 1800. Im Publikumsverhalten ist eine
neue Bewertung der politischen, sozialen und kulturellen Ordnung erkennbar,
die sich idealtypisch, aber eben nicht ausschließlich im Konzert- und
Opernhaus beobachten lässt. Aufführungen von Musik sind Elemente einer
neuen Kommunikation in pluralen Gesellschaften, durch die sich im Laufe der
Zeit festere Gruppen herausbilden.25 Öffentlich zu schweigen, stellte eine mehr
23 Gay, Macht, S. 25. Louis Spohr hielt in seinen Lebenserinnerungen, hg. v. Folker Göthel,
Kassel 1860/61, Bd. 1, 245 f., fest, dass die soziale Praxis des musikalischen Lärmens
ganz Europa im Griff hatte. Über seinen Besuch in der Mailänder Scala im Jahre 1816
schrieb er : „Während der kräftigen Ouvertüre, mehreren sehr ausdrucksvoll akkompagnierten Rezitativen und allen Ensemblestücken war ein Lärm, daß man kaum etwas
von der Musik hörte. In den meisten Logen wurde in Karten gespielt und im ganzen
Hause überlaut gesprochen. Es läßt sich für einen Fremden, der gern aufmerksam
zuhören möchte, nichts Unausstehlicheres denken als dieser infame Lärm. Indessen ist
von Leuten, die dieselbe Oper vielleicht dreißig- bis vierzigmal sehen, und die das
Theater nur der Gesellschaft wegen besuchen, keine Aufmerksamkeit zu erwarten, und
es ist schon viel, daß sie nur einige Nummern ruhig anhören.“
24 Das ist die treffende Beobachtung von Picker, Victorian Soundscapes, bes. S. 15 – 81.
25 Vgl. Heinz-Dieter Meyer, Taste Formation in Pluralistic Societies. The Role of Rhetorics
and Institutions, in: International Sociology 15. 2000, S. 33 – 56; Sven Oliver Müller,
Körper und Kommunikation. Das Publikum in der Berliner Hofoper, 1820 – 1870, in:
Jens Elberfeld u. Marcus Otto (Hg.), „Beauty politics“. Zur Genealogie von Ethik und
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oder minder bewusste Entscheidung dar, um den Lebensstil zu klassifizieren,
um mit der neu begründeten Schönheit der Musik auch den eigenen sozialen
Rang zu festigen. Der Geschmack vereinte die Hörer, die in ihrem Verhalten
aufeinander abgestimmt waren und zueinander passten, je länger sie gemeinsam Musik hörten und sich dabei regelmäßig beobachteten.
Zunächst war es die Bildungselite in einigen norddeutschen Städten, die sich
für einen Wandel der bestehenden musikalischen Praxis durch eine teilweise
Neubewertung des Spielbetriebes entschied. Die Musik im Allgemeinen und
die Instrumentalmusik im Besonderen wurden von einer der niederen zu einer
der höchsten Kunstformen stilisiert. Gerade im deutschsprachigen Raum
schrieb man der Musik transzendentale Qualitäten zu, sie versprach, höhere
Gegenwelten zu eröffnen. Musikalische Spielstätten, zumal die Konzertsäle
begriffen viele Bürger gleichsam als sakrale Tempel, die es vor Entweihung und
eben auch vor unangepasstem und unaufmerksamem Verhalten zu schützen
galt. Von dieser Position ausgehend, war es nur ein konsequenter Schritt zum
Ausbau der eigenen und zur Bekämpfung der vermeintlich fremden Ideale.
Eine der Ursachen für die wachsende Disziplinierung der Hörer war die
Professionalisierung des Spielbetriebs. Im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts zeichnete sich eine neue Organisation musikalischer Aktivitäten ab.
Musiker veranstalteten immer seltener Konzerte in eigener Regie, wohingegen
die Anzahl der regelmäßig durchgeführten Konzertveranstaltungen wuchs.
Die Ausdifferenzierung der Gattungen und wachsende Ansprüche an die
Aufführungen verstärkte die Trennung zwischen Amateuren und Experten,
zwischen privaten und öffentlichen Darbietungen.26
Die vorsichtige soziale Öffnung des Spielbetriebes funktionierte weniger als
eine Demokratisierung, sondern eher als eine Professionalisierung der
Aufführungen. Im Zeitalter wachsender Kommerzialisierung, Popularisierung
und sich verändernder Geschmackspräferenzen schwand das Interesse an
musikalischen Laien, ad hoc zusammengestellten Ensembles und unzureichend ausgebildeten Solisten. Die gestiegene Nachfrage und die höheren
Erwartungen des Publikums beförderten adäquate berufliche Leistungen
einzelner Künstler und der Orchester. Qualität beruhte auf langen und
Ästhetik in der Moderne, Wiesbaden 2009, S. 205 – 223; Ulrike Döcker, Die Ordnung
der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert,
Frankfurt 1994, S. 77 – 85; die Beiträge in Hermann Danuser (Hg.), Musikalische
Interpretationen, Laaber 1992; insges. Oliver Sacks, Der einarmige Pianist. Über Musik
und das Gehirn, Reinbek 20086.
26 Zur neuartigen Professionalisierung des Spielbetriebs vergleiche Rebecca Grotjahn, Die
Sinfonie im deutschen Kulturgebiet 1850 bis 1875. Ein Beitrag zur Gattungs- und
Institutionengeschichte, Sinzig 1998, S. 88 – 121; Simon McVeigh, Concert Life in
London from Mozart to Haydn, Cambridge 1993, S. 223 – 229; William Weber,
Redefining the Status of Opera, London and Leipzig, 1800 – 1848, in: Journal of
Interdisciplinary History 36. 2006, S. 507 – 532, hier S. 530 f.
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Sven Oliver Müller
intensiven Vorbereitungen, auf einer minutiösen Ausbildung, so dass statt
praktizierender Laien nunmehr musikalische Experten erwartet wurden.
Damit stiegen auch die Honorare der Musiker. Das künstlerische Niveau
erhöhte sich zusätzlich durch den Einsatz von Stimmführern für bestimmte
Instrumentengruppen innerhalb des Orchesters und durch die Etablierung
eines die Aufführung leitenden Dirigenten. Institutionell betrachtet, ist eine
erhebliche quantitative Zunahme organisierter Abonnementkonzerte zu
beobachten. Diese Professionalisierung führte unter anderem dazu, dass die
Programme immer stärker nach künstlerischen Gesichtspunkten zusammengestellt wurden. Inhaltlich verschwanden um die Mitte des Jahrhunderts die
überwiegend gemischten Konzertprogramme, die aus Ouvertüren, Duetten,
Chorszenen, Arien, solistischen Einlagen, Sinfonien und Tänzen bestanden, zu
Lasten zeitlich verkürzter Veranstaltungen mit wenigen Werken.27
Besonders deutlich wird dieser ästhetische und habituelle Wandel durch den
Blick auf die Aufwertung der Sinfonie im Musikleben. In der Sinfonie
erblickten viele Bildungsbürger eine ideale kulturelle Leistung, denn sie
vereine die unterschiedlichen Stimmen im Orchester. Die Sonatenhauptsatzform mit ihrem dialektischen Spannungsverlauf und ihrem kontrastreichen
Verschmelzen der Einzelstimmen zu einer harmonischen Einheit bildete das
wichtigste Stilelement des Konzertbetriebes. Weit stärker als die Oper wurde
die Musik im Konzert nach Auffassung der bürgerlichen Elite allmählich nur
noch dank der Internalisierung eines bestimmten Wissenskanons konsumierbar und damit tendenziell allein einem gebildeten Publikum zugänglich.28
Die Kanonisierung der Sinfonie initiierte zweierlei: den Glauben an eine
absolute Musik und Ansätze für ein neues Hörerverhalten im Konzert. Diese
neuen Standards im Musikleben eröffneten dem Publikum andere Wege der
Deutung, Aneignung und Reproduktion seiner Umwelt. Vereinzelte Habsburgische Aristokraten ausgenommen, war es namentlich das deutschsprachige Bildungsbürgertum, das seit den 1820er Jahren eine Sinfonie zunehmend
27 Vgl. Daniel Koury, Orchestral Performance Practices in the Nineteenth Century, Ann
Arbor 1986, S. 176 – 199 u. S. 299 – 325; Percy A. Scholes, The Mirror of Music,
1844 – 1944. A Century of Musical Life in Britain as Reflected in the Pages of the Musical
Times, 2 Bde., London 1947, hier Bd. 1, S. 376 f.
28 Vgl. Leo Balet u. Eberhard Gerhard, Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst,
Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, hg. v. Gert Mattenklott, Frankfurt 1972,
S. 334 – 394 u. S. 468 – 481; Mark Everist, Reception Theories, Canonic Discourses, and
Musical Value, in: Nicholas Cook u. Mark Everist (Hg.), Rethinking Music, Oxford 1999,
S. 376 – 402; Ute Daniel, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18.
und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 126 – 157; Thomas Nipperdey, Kommentar :
„Bürgerlich“ als Kultur, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im
19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 143 – 148; Eberhard Preußner, Die bürgerliche
Musikkultur. Ein Beitrag zur deutschen Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts, Kassel
1935.
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Die Politik des Schweigens
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als wertvolles „Werk“ und weniger als unterhaltendes „Beiwerk“ begriff.29
Diese Form der so genannten „absoluten“ Musik im Orchester sollte nicht
einfach nur genossen, sondern verstanden werden, und auf lange Sicht hin zur
Erbauung der Individuen und zur Vereinheitlichung des Kollektivs wirken.
Die Auseinandersetzung des Publikums zunächst mit den Sinfonien Beethovens (und in den 1840er Jahren mit denen Mendelssohn Bartholdys und
Schumanns) öffnete Gelegenheiten für ein neues Hörverhalten. Beethoven
durch erworbenes Verständnis verehren zu wollen, verband Kanonisierung
und Kultivierung. Sinfonien zu hören, hieß ihre Bedeutung zu erlernen und die
tradierte Unterhaltung zu verlernen. Auch das neue Hörverhalten war eine
Form der Unterhaltung, aber erweitert um den Charakter der Bildung.
Erkannte das gebildete Publikum diese Bedeutung, wollte es immer mehr
derartige Konzerte besuchen und seinen Umgang diesen Werken anpassen.
Anders gewendet: Die Zuhörer hatten ihre Aufmerksamkeit durch die
disziplinierenden Regeln des Konzertbetriebes erst zu erlernen. „Bei der
Aufführung einer Symphonie“ hieß es aus Berlin bereits 1824, „wirkt nicht
äußerliches. […] Wer nicht der Komposition in ihrem Gange folgt, hat gar
nichts, und so lehren Symphonien, Musik ohne Zerstreuung und um ihrer
selbst willen zu hören.“30
Den Besuchern der Berliner Sinfoniekonzerte wünschte man für diesen Weg
der Selbsterkenntnis nicht nur „Treue und Pietät“, sondern die immer zu
wiederholende konzentrierte Teilnahme an sinfonischen Konzerten:
Die Beethovensche Symphonie ist zu groß, zu reich und zu tief, um in ihrer Ganzheit und
vollen Herrlichkeit auf das erste Mal gefasst zu werden. […] Vergessen wir aber nicht, daß es
das tiefste und gereifteste Instrumentalwerk des genialsten, gereiftesten jetzt lebenden
Tonkünstlers ist: so wird das Unverstandene selbst den Wunsch nach Wiederholung der
Kunstfeier erwecken.31
Dieser Duktus, durch kanonisierte Stile und Werke die Geltung der musikalischen Praxis zu erweitern, blieb nicht auf den deutschsprachigen Raum
beschränkt. Etwa ab 1840 finden sich auch in der Londoner Presse Vorbehalte
gegen Konzertveranstalter, die Beethovens Sinfonien falsch oder verkürzt
29 DeNora, Beethoven, S. 11 – 36; sowie Ulrich Schmitt, Revolution im Konzertsaal. Zur
Beethoven-Rezeption im 19. Jahrhundert, Mainz 1990; Egon Voss, Das Beethoven-Bild
der Beethoven-Belletristik. Zu einigen Beethoven-Erzählungen des 19. Jahrhunderts, in:
Helmut Loos (Hg.), Beethoven und die Nachwelt. Materialien zur Wirkungsgeschichte
Beethovens, Bonn 1986, S. 81 – 94.
30 Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung 1. 1824, S. 444. Vgl. Anna Pederson, A. B.
Marx, Berlin Concert Life, and German National Identity, in: 19th Century Music 18.
1994, S. 87 – 107; Celia Applegate, The Internationalism of Nationalism. Adolf Bernhard
Marx and German Music in the Mid-Nineteenth Century, in: Journal of Modern
European History 5. 2007, S. 139-158.
31 Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung 3. 1826, S. 384 f.
64
Sven Oliver Müller
Abb. 1: Fernand Khnopff, En coutant Schumann, 1883, Muses royaux des Beaux-Arts de
Belgique.
gespielt hätten. Eine Konzertankündigung der Neunten Sinfonie durch die
New Philharmonic Society hielt schlichtweg fest, dass allenfalls das eigene
Unverständnis der Zuhörer diese für Beethovens Geist nicht empfänglich
mache:
We believe no one will depart from the Hall this evening without a deeper conviction that
Beethoven’s genius soars immeasurably above all other Composers, of every age and clime.
Should any withhold his approval of the work, let him be assured the fault is not Beethoven’s
but his own.32
Die Veränderung des Hörverhaltens kann als ein Prozess der Aus-Bildung
verstanden werden. Aufmerksam war das Publikum im Jahre 1820 und im
Jahre 1860 gleichermaßen, nur unterschieden sich die Formen ihrer Aufmerksamkeit erheblich voneinander. Vielfalt und Unterhaltung wichen Angleichung und Disziplin. Erst im Konzertsaal und etwas später im Opernhaus
breitete sich eine zunächst ungewohnte Stille aus. Die Hörer verwandelten sich
in Zuhörer.
Im Bild „En coutant Schumann“ des belgischen Symbolisten Fernand
Khnopff sitzt eine in schwarz gekleidete Hörerin in sich gebeugt in der Mitte
32 Prospectus of the New Philharmonic Society and Programme of the First Concert,
London 1852, S. 10 f., in: British Library, Royal Philharmonic Society RB 23 B 3725. Vgl.
Athenaeum, 1. 6. 1844, S. 506.
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Die Politik des Schweigens
65
eines bürgerlichen Salons (Abbildung 1). Das Gesicht verbirgt sie in ihrer
rechten Hand, der Daumen berührt die Schläfe. Die Kunst des Pianisten kann
man nur im Hintergrund erahnen, denn der Maler lenkt den Blick des
Betrachters auf die Kunst des Zuhörens.
Am leichtesten war die Disziplinierung der Musikfreunde in der Reglementierung ihrer Körper auszumachen. Nicht nur die eigene Bewegung während
einer Aufführung, auch die Stimme und den expressiven Gesichtsausdruck
verbargen die Zuhörer, um ihre habituelle Fähigkeit unter Beweis zu stellen. Sie
verblieben auf ihren Sitzen, verzichteten auf beliebte Imbisse und erlernten das
Schweigen. Die Teilnehmer musikalischer Aufführungen folgten allmählich
konzentriert dem Verlauf der Musik, beschränkten Beifall und Missfallen
maßvoll und stellten die Kommunikation mit den Künstlern wie mit den
Sitznachbarn während der Vorstellung ganz ein. Jeder Hörer bemühte sich
immer intensiver darum, Disziplin zu üben und seine eigene spontane
Begeisterung nicht öffentlich zu zeigen: Aus Konsumenten musikalischer
Unterhaltung sollten Kenner musikalischer Kunst werden.33
Mögliche Unregelmäßigkeiten galt es, durch Kontrolle zu bewältigen. Die
Hörer passten sich einander an – auch um den Preis, für die gewonnene
kollektive Sicherheit mit dem Verlust der eigenen eindrucksvollen Vorstellung
zu bezahlen. Sie kalkulierten nicht nur ein, dass ihr eigenes Verhalten für
jedermann im Konzertsaal sichtbar war, sondern orientierten sich auch an den
neuen mehrheitsfähigen Informationen, welche das Publikum sich auf Dauer
erschloss. Die Musikliebhaber stellten die seit langem etablierten Ordnungsvorstellungen im Konzertsaal in Frage und begannen die Suche nach
Alternativen. Die traditionellen Besucher im Konzertsaal hatten zunächst
kaum erklärte Feinde, zu ihren gefährlichsten Gegnern aber wurden im Laufe
der Zeit ihre disziplinierten Freunde.34
In den 1820er und 1830er Jahren erlernten erst wenige Hörer das Schweigen.
Recht zaghaft formierte sich ein über etwa vierzig Jahre andauernder Prozess
der Geschmacksumwertung. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts aber waren die
musikalischen Fachzeitschriften und Feuilletons intensiv mit dem Problem
beschäftigt, wann man während der Vorstellungen applaudieren dürfe und
wann man zu schweigen habe. Relativ leicht fielen Beschwerden über die
33 Vgl. die soziologische und musikwissenschaftliche Perspektive in Volker Bernius u. a.
(Hg.), Der Aufstand des Ohrs. Die neue Lust am Hören. Reader neues Funkkolleg,
Göttingen 2006; Wolfgang Gratzer, Motive einer Geschichte des Musikhörens, in: ders.
(Hg.), Perspektive einer Geschichte abendländischen Musikhörens, Laaber 1997,
S. 9 – 31; Johannes Goebel, Der Zu-Hörer, in: Bernius, Aufstand, S. 15 – 28; sowie Ute
Bechdolf, Ganz Ohr, ganz Körper. Zuhörerkultur in Bewegung, in: Ganz Ohr.
Interdisziplinäre Aspekte des Zuhörens, hg. v. Zuhören e.V., Göttingen 2002, S. 74-84.
34 Vgl. Johnson, Listening, S. 92 f.; Bashford, Learning, S. 25 – 28; Weber, People, S. 678 f.,
und insges. Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag,
München 20097, S. 193 – 207.
66
Sven Oliver Müller
endlosen Zugaben im Konzertsaal. Im Urteil des Spectator hieß das: Da oft
ganze Sinfonien durch einzelne Sätze unterbrochen würden, die ganze
Aufführung mithin zerstörten, gelte es, Sinn zu stiften und diesen „sound of
alarm“ zu bewältigen.35
In erster Linie aber zogen Kritiker und Journalisten gegen den Mangel an
ernsthaften Verhaltensmaßstäben im zeitgenössischen Musikleben zu Felde.
Beobachter in Berlin machten derartige Bewertungen früher als diejenigen in
Wien oder in London. Nach 1850 jedoch unterschieden sich die großen
europäischen Städte in dieser Frage immer weniger voneinander. Die Londoner Musical World beispielsweise verteilte Ratschläge über die im Konzert
erwünschte Etikette. Auch nur zu flüstern oder gar sich im Saale zu bewegen,
ginge bei Beethoven leider gar nicht, da der Meister dadurch zum Opfer seiner
eigenen Verehrer würde. Selbstredend solle man nicht den Takt mitschlagen,
Stücke vor sich hin summen oder sich aus Bewunderung zu lachhaften Gesten
hinreißen lassen.36
Die wachsende Vermittlung musikalischer Nachrichten gelang durch die
Tagespresse, die Kulturzeitschriften und die Fachorgane. Journalisten verwandelten ihre musikalischen Erlebnisse in eine wortreiche, aber geregelte
Sprache. Diese Möglichkeiten des Schreibens müssen ausgelotet und nach den
Begriffen, Sprachbildern und musikalischen Kategorien in den Zeitungen
gefragt werden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts setzten sich die Musikkritiker in der Presse durch. Ihre Urteile beeinflussten das Verhalten des
Publikums, das seine musikalische Welt auch durch die Brille des Kritikers
wahrnahm. In London schätzten die Leser etwa die Expertisen von Henry
Chorley (Athenaeum) und die von Henry Davison (Times). Die Karriere von
Eduard Hanslick in Wien stellte alles in den Schatten. Sein Berufsethos kannte
keine Grenzen. Kompromisslos aber erfolgreich verteidigte Hanslick den
Bestand des musikalischen Regelwerkes und rühmte sich selbst seiner
öffentlichen Bildungsstrategie: „Dem Publikum gegenüber fühle ich mich zu
dem Geständnis verpflichtet, daß ich eigentlich selbst das Publikum bin,
dessen Befriedigung ich bei Bearbeitung dieser Schrift fürerst im Auge
hatte.“37
Neue Regeln griffen in die Bewegungen des Publikums im Konzerthaus ein.
Die Musiker und ihr Publikum wurden im Laufe der Zeit räumlich getrennt, im
Konzertsaal setzte sich ein erhöhtes Podium durch. So wurden akustische und
visuelle Verbesserungen erreicht, die Hörer leichter auf die Mitte des Saales hin
35 The Spectator, 23. 3. 1850, S. 276. Vgl. Müller, Hörverhalten, S. 41 – 53.
36 The Musical World, 3. 4. 1852, S. 217; A Word to Concert-Goers, in: ebd., 21. 9. 1867,
S. 647.
37 Eduard Hanslick, Aus meinem Leben, 2 Bde., Berlin 1894, Bd. 1, S. 11. Vgl. Sandra
McColl, Music Criticism in Vienna 1896 – 1897. Critically Moving Forms, Oxford 1996;
Leon Botstein, Listening through Reading, Musical Literacy and the Concert Audience,
in: 19th Century Music 16. 1992, S. 129 – 145.
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Die Politik des Schweigens
67
ausgerichtet, das heißt, auch für das Spiel der Künstler sensibilisiert. Die
Einführung von festen Sitzreihen seit der Jahrhundertmitte beschränkte das
Umhergehen und erschwerte die gewohnte Plauderei. Neu eingerichtete
Konzertpausen trennten Aufmerksamkeit und Zerstreuung zeitlich voneinander.38 Die Veranstalter bestimmten, dass Konzerte pünktlich zur angekündigten Zeit zu beginnen hätten. Nach 1850 setzte man fest, dass der Zutritt nur vor
dem Konzert und in der Pause zu erfolgen hatte. Das Publikum sollte nicht
innerhalb der Aufführung, sondern nur zwischen den gespielten Werken den
Saal verlassen. Die Royal Philharmonic Society veranlasste 1888 sogar, die
Eingangsportale während der Sätze einer Sinfonie geschlossen zu halten.39 In
diesem Lernprozess mischten sich handwerkliche Peinlichkeiten und bildungsbürgerliche Werturteile. „Hunde werden nicht geduldet“ – diese Vorschrift der Frankfurter Konzertgesellschaft lässt sich heute als Kuriosum, im
19. Jahrhundert aber als erwünschte Maßnahme begreifen.40
Im europäischen Musikleben folgte seit 1830 eine wachsende Mehrheit
bürgerlicher und adeliger Zuhörer den neuen Umgangsregeln im Hörverhalten. Im Ergebnis zeichnete sich mehr ab als eine schweigende Selbstdisziplinierung. Die Mehrheit im Publikum verzichtete auf öffentliche Sinnlichkeit,
entschied sich, um seinen gesellschaftlichen Stellenwert zu erhalten, neuen
Bildungsidealen zu folgen und im Konzert Passivität und Sammlung zur Schau
zu stellen. Diese Entwicklung erkannte die Allgemeine Wiener Musikalische
Zeitung bereits 1842 und bilanzierte:
Der Vergleich des heutigen Konzertwesens mit dem vergangenen bedeute zunächst, dass jene
minder passiver Art waren als die unseren. Die Leute wollen, um unterhalten zu seyn, selbst
müßig gehen. […] Die Concerte sind Mode geworden, also in die Luxusartikel aufgenommen. Sie zu besuchen, erfordert der Anstand, die Rücksicht auf Bildungsansprüche. […] Wer
Gutes haben kann, braucht das Mittelmäßige nicht. […] Das Publikum ist gesammelter.41
In den Opern- und Konzerthäusern in Europa vollzog sich eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Musikliebhabern und verschiedenen Verhaltensnormen. Statt schlicht von einem teleologischen Prozess auszugehen,
welcher zur glatten Durchsetzung eines „modernen“ – mithin eines uns heute
noch bekannten – Publikumsverhaltens führte, scheint es aufschlussreicher,
38 Vgl. zur Frühphase dieser Entwicklung, Peter Schleuning, Der Bürger erhebt sich.
Geschichte der deutschen Musik im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2000, bes. S. 141 – 179;
James van Horn Melton, School, Stage, Salon. Musical Cultures in Haydn’s Vienna, in:
Journal of Modern History 76. 2004, S. 251 – 279.
39 Directors’ Meetings 1887 – 93, Bl. 54, 7. 4. 1888, in: British Library, RPS/MS/288
(= 48.2.10). Vgl. ebd., Bl. 55, 23. 4. 1888; Phil. Society 1867 – 72. Konzertprogramme,
in: ebd., RPS/MS/322 (= 48.5.2).
40 Zitiert nach Heinrich Schwab, Konzert. Öffentliche Musikdarbietungen vom 17. bis
19. Jahrhundert, Leipzig 1971, S. 68.
41 Allgemeine Wiener Musikzeitung 2. 1842, S. 241 – 243.
68
Sven Oliver Müller
den wechselseitigen Verhandlungsprozess verschiedener Hörertypen zu verfolgen. Denn die wiederholten Beschwerden über unangemessenes Verhalten
demonstrierten nicht nur den allmählichen Wandel kultureller Praktiken und
Manieren, sondern ebenso eindringlich den Fortbestand traditioneller Geschmacksmuster. Als Ludwig Rellstab sich in Berlin im Jahre 1844 über den
unkontrollierten Applaus des Publikums anlässlich einer Vorstellung der
legendären Jenny Lind als „Norma“ beschwerte, blieb sein abwertendes Urteil
über das Publikumsverhalten nicht unwidersprochen. Obwohl Rellstab Linds
Interpretation der Arie „Casta Diva“ über die Maßen lobte, monierte er doch in
der Vossischen Zeitung, dass diese Arie mitten im Akt da capo verlangt wurde.
Als ein Anhänger des neuen Hörverhaltens erkannte er darin eine „Barbarei
des Beifalls, der allen dramatischen Zusammenhang des Kunstwerks zerstört“.42
Doch diese Betonung disziplinierter Selbstbeschränkung stellte zu diesem
Zeitpunkt noch keinesfalls einen allgemein geteilten Konsens dar. Wenige Tage
später empörte sich ein verärgerter Leser des Artikels in der gleichen Zeitung
und unterstrich die Bedeutung spontaner und freier Beifallsbekundungen:
Der Referent dieser Blätter nennt den Hervorruf während des Aktes, Barbarei des Beifalls,
anstatt ihn als den reinsten Erguß der Begeisterung und des wohlverdienten Dankes zu
betrachten, zumal die Handlung der Oper dadurch gar nicht gestört ward.43
Manche Beobachter sahen genau in der Maßregelung, in den kulturellen
Regieanweisungen didaktische Zwänge, welche ein freies Urteil erschwerten.
Verliefen Fremd- und Selbstkontrolle so weiter wie bisher, verschwände auch
der Applaus aus dem Musikleben: „Es wird aber noch so weit kommen, dass
sich der noble Theil des Publikums von jeder Beifalls-bezeigung zurückzieht.“44
Damit drängt sich die Frage auf, ob der „noble Theil“ eher dem Adel oder dem
Bürgertum zuzurechnen war. Ein eindeutiges Urteil ist schwer zu bestimmen,
weil viele Bürger etwa zwischen 1830 und 1850 ihre musikalischen Kenntnisse
und ihre Verhaltensmuster im Konzertsaal oft unzulässig über die Fähigkeiten
des Adels stellten. Sicher scheint: Die soziale Anordnung folgte kulturellen
Mustern. Das schweigende Zuhören wurde zu einem wichtigen kulturellen
Muster des europäischen Bürgertums.45 Die musikalische Ästhetik und die
42
43
44
45
Vossische Zeitung, 17. 12. 1844.
Ebd., 20. 12. 1844.
Allgemeine Musikalische Zeitung 46. 1844, S. 427.
Vgl. Döcker, Ordnung; Manfred Hettling u. Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Der
bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000; Gunn,
Public Culture; Pamela Horn, Pleasure and Pastimes in Victorian Britain, Thrupp 1999;
Eric M. Sigsworth (Hg.), In Search of Victorian Values. Aspects of Nineteenth-Century
Thought and Society, Manchester 1988; Geoffrey Best, Mid-Victorian Britain 1851 – 75,
London 1971; Jose Harris, Private Lives Public Spirit. Britain, 1870 – 1914, London 1993.
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Die Politik des Schweigens
69
soziale Stellung verwiesen aufeinander. Das Medium der Musik entsprach
geradezu idealtypisch dem Wertehimmel des aufstrebenden Bildungsbürgertums: Die musikalische Harmonie korrespondierte mit der Utopie bildungsbürgerlichen Lernens. In der Struktur der auf gesetzmäßige Wiederholung
angelegten Musik erkannte das Bildungsbürgertum seine Ordnungsprinzipien. Damit wurde das stumme Hören das Element einer Überprüfung des
eigenen Verhaltens. Durch distinktive Verhaltensformen machte der eigene
Geschmack gebildete Musikkenner als Wertegemeinschaft sichtbar. Gerade
der Musikgeschmack hob die eigene Stellung in der Gesellschaft hervor. Und
umgekehrt: Die sozialen Eliten kreierten die musikalische Kultur.46
Dennoch kann die musikalische Kultur keineswegs als eine allgemeine
Verbürgerlichung verstanden werden. Entgegen dem Forschungsstand der
1980er Jahre ist dem Bürgertum nicht einmal ein konkurrenzloser kultureller
Aufstieg in Europa zuzurechnen. Tatsächlich formierten sich bürgerliche und
adelige Hörergruppen gleichermaßen durch ihre geschmacklichen Präferenzen. Das hat William Weber für das europäische Konzertleben gezeigt.47 Die
Kommunikation über und durch die Musik war entscheidend und verfestigte
allmählich neue Geselligkeitsformen. Der kulturelle Disput trennte und
verband Bürgertum und Adel gleichzeitig, beide stritten und interagierten
im sozialen Raum des Auditoriums und formierten aus diesem Handlungskontext heraus allmählich ein neues Publikumsverhalten. Habituelle Unterschiede waren zwischen Bürgertum und Aristokratie zwar zu erkennen – sie
wurden nur immer weniger.
Der Erfolg des schweigenden Hörverhaltens und dessen oft polemische
Verteidigung sind nicht zuletzt durch den neuen Stellenwert des musikalischen
Geschmacks zu erklären. Seit den 1820er Jahren unterstrichen Tageszeitungen
und Fachzeitschriften in wohlformulierten Artikeln verstärkt die gesellschaftliche Bedeutung des Geschmacks. In praktisch endlosen Variationen nutzte
das Publikum seine verfeinerten kulturellen Regeln zur öffentlichen Darstel46 Vgl. Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, Laaber 1980, S. 39 – 42; Angelika
Linke, Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts,
Stuttgart 1996, S. 22 – 31; Hermann Bausinger, Bürgerlichkeit und Kultur, in: Kocka,
Bürger und Bürgerlichkeit, S. 121 – 142; Johnson, Listening, S. 228 – 238; Ivo Supičić,
Music in Society. A Guide to the Sociology of Music, Stuyvesant 1987, S. 68 – 72; Isabel
Matthes, Der Raum des Paradieses. Gesellige Erfahrung und musikalische Wahrheit im
18. und 19. Jahrhundert, in: Hans-Erich Bödeker u. a. (Hg.), Le concert et son public.
Mutations de la vie musicale en Europe de 1780 1914. France, Allemagne, Angleterre,
Paris 2002, S. 273 – 301.
47 Weber, Music and the Middle Class, bes. S. 11 f. Vgl. ders., The Great Transformation of
Musical Taste. Concert Programming from Haydn to Brahms, Cambridge 2008,
S. 88 – 92; ders., Mass Culture and the Reshaping of European Musical Taste, 1770 – 1870,
in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 8. 1977, S. 5 – 21; sowie
insges. Meyer, Taste.
70
Sven Oliver Müller
lung. Der jedermann gezeigte Geschmack verband die Wissenden und schloss
die Unwissenden aus. Das Publikum formierte sich neu, indem es entzückt den
Lärm zur Unanständigkeit und das Schweigen zur Anständigkeit erklärte.
Die Kategorie des Geschmacks beschreibt nicht nur Präferenzen des Publikums, sie ist selbst eine Ressource der Deutung, ein Mittel, um gesellschaftliche Positionen zu erreichen. Der Geschmack verwandelt nach Pierre
Bourdieu Beobachtungen in „distinkte und distinktive Zeichen, der kontinuierlichen Verteilung in diskontinuierliche Gegensätze“.48 Die Entstehung des
Geschmacks ist dabei nicht nur durch die Institutionen und die Lernbedingungen bestimmt, sondern wenigstens anteilig auch eine persönliche Auswahl.
Die Bestimmungen der vermeintlich „richtigen“ Musik und des „richtigen“
Hörverhaltens existieren dadurch, dass diese Phänomene den Menschen
gefallen. Ob Beethovens oder Mendelssohn Bartholdys, ob Rossinis oder
Webers Werke durch das Publikum „verstanden“ werden können, ist hier
vielleicht nicht die entscheidende Frage. Entscheidend ist, ob Musik und deren
Interpreten öffentlich gefallen können. Den Geschmack als ein Gebildeter zu
praktizieren, ist ein Versuch der Kommunikation – mit all den dadurch
initiierten Möglichkeiten und Zwängen.
Das neue Hörverhalten verbreitete sich in den europäischen Städten mit Hilfe
einer erfolgreichen Werbung für diesen Lebensstil. Kenner und Kritiker
warben für relevante Kompositionen, Interpreten und Veranstalter. Diese
öffentliche wie private Werbung beschleunigte den Transfer in Europa. Dass
die Attraktivität kultureller Normen durch ihre erfolgreiche internationale
Übertragung wuchs, mag die Auswirkung des neuen Hörverhaltens in London
verdeutlichen. Zwar lässt sich, streng methodisch betrachtet, kein kausaler
Nexus zwischen dem schweigenden Hörverhalten in England und der
Wirkung bestimmter Musikstücke und habitueller Praktiken deutschsprachiger Provenienz ausmachen. Das ist wahrscheinlich aber gar nicht die
entscheidende Frage. Vielmehr glaubten am Ende des 19. Jahrhunderts viele,
die Musik liebende Briten, dass ihr verfeinertes Hörverhalten nachhaltig von
deutschen Werten und deutscher Musik geprägt worden war. Und auch wenn
die Musik italienischer Komponisten erklang, hatte man dieser adäquat,
48 Vgl. zur Definition des Geschmacks die Überlegungen von Pierre Bourdieu, Die feinen
Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 19979, S. 277 – 399,
Zitat S. 284; Antoine Hennion, Music Lovers. Taste as Performance, in: Theory, Culture
and Society 18. 2001, S. 1 – 22; Andreas Gebesmair, Grundzüge einer Soziologie des
Musikgeschmacks, Wiesbaden 2001, S. 16 f. u. S. 47 – 75; Simon Dentith, Society and
Cultural Forms in Nineteenth-Century England, London 1998, S. 8 – 25, und bereits
Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der
Institutionen, Frankfurt 2000, bes. S. 119 – 163.
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Die Politik des Schweigens
71
mithin schweigend zu folgen und sprach von dem herrschenden „custom
borrowed from Germany of observing silence until the end of the act“.49
Erklärt die Durchsetzung der musikalischen Kenner die Erfindung des
Schweigens? Auf diese Frage ist eine eindeutige Antwort bislang noch nicht
gefunden worden. Vieles spricht dafür, dass die Gesellschaft ein neues
Publikum hervorbrachte. Ein wichtiger Erklärungsansatz zur Veränderung
des Publikumsverhaltens liegt aber in den Kategorien von Norbert Elias, der
einen „Prozess der Zivilisation“ beschrieb.50 Mit Blick auf die Transformation
des frühneuzeitlichen Europas hat Elias den wachsenden Einfluss der eigenen
Disziplin und den Rückgang spontaner Affektausbrüche in der Öffentlichkeit
als eine Form von wechselseitigem Selbstzwang bezeichnet. Diese Entwicklung
war keinesfalls das Verdienst einer einzelnen Klasse oder Gruppe, sondern
resultierte aus der gegenseitigen Reaktion vorher vielleicht getrennter Berufe,
Geschlechter und Konfessionen in öffentlichen Räumen aufeinander.
Die Konzerthäuser des 19. Jahrhunderts erfüllten genau diese Funktion als
Orte, in denen Musikhörer zunehmend vom Urteil der Anderen abhängig und
so für das eigene Verhalten sensibilisiert wurden. Die beinahe gleichen
Besucher kamen häufiger zu denselben Orten, hörten die gleichen Werke
derselben Interpreten. Diese Angleichung und die engere Bindung aneinander
resultierten in erster Linie aus den wechselseitigen Beobachtungen der
Menschen. Die relative Autonomie einzelner Konzertbesucher sank durch die
regelmäßige Ausrichtung an anderen und die gegenseitige Abhängigkeit von
anderen Zuhörern. Das Publikum des 19. Jahrhunderts bildete sich in erster
Linie als ein Produkt vieler voneinander abhängiger Individuen. Eben weil
durch diesen sozialen Zwang der Selbstbeherrschung sich das individuelle
Benehmen zunehmend anglich, wuchs die Aufmerksamkeit für eine gemein-
49 The Morning Post, 21. 5. 1913. Vgl. zur Auswirkung der Werke Richard Wagners in Paris
die Beobachtungen von Hector Berlioz, Schriften. Betrachtungen eines musikalischen
Enthusiasten, hg. v. Frank Heidlberger, Kassel 2002, S. 68 – 77; und zur Wagner
Rezeption in Bayern Sven Oliver Müller, Richard Wagner und die Entdeckung des
Schweigens in Bayern und in Europa, in: Margot Hamm u. a. (Hg.), Götterdämmerung.
König Ludwig II. und seine Zeit, München 2011, S. 120 – 126.
50 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische
Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt 19807. Vgl. Richard Sennett, Verfall und Ende des
öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt 1986; ders., The Conscience
of the Eye. The Design and Social Life of Cities, New York 1992. Zur kulturwissenschaftlichen Einordnung vgl. Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien,
Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt 2001, S. 254 – 269; und zur musikwissenschaftlichen
Perspektive insges. Goffman, Theater, bes. S. 189 – 215; Christopher Small, Musicking.
The Meanings of Performing and Listening, Middletown, CT 1998; Richard Leppert,
Music and Image. Domesticity, Ideology and Socio-Cultural Formation in EighteenthCentury England, Cambridge 1988, S. 71 – 106; Wolfgang Welsch, Auf dem Weg zu einer
Kultur des Hörens? in: Bernius, Aufstand, S. 29 – 47.
72
Sven Oliver Müller
same Vertrautheit innerhalb der eigenen Welt – für verfeinerten Geschmack,
für differenzierende Gesten und eben auch für „schweigende“ Verhaltensmuster. Die sich angleichende neue Anonymität im Publikum erschwerte
selbstredend, andere Zuhörer persönlich kennen zu lernen, und damit das
private Gespräch und das kommunizierende Herumlaufen während der
Vorstellung.51 Die gegenseitige Wahrnehmung im Auditorium verstärkte
Gefühle von Scham und beförderte ein neues diszipliniertes Hören von Musik.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte das Publikum eine solche
Aversion davor, in seinen Musiktempeln in Verlegenheit zu geraten, dass es
sich zunehmend von der Last möglicher negativer öffentlicher Beurteilung,
vom Ausleben eigener Lust und demonstrativen Handelns, befreite – und sich
in das Schweigen zurückzog. Sosehr gebildete Musikliebhaber auch von der
verklärenden „Verinnerlichung“ ihrer abendlichen Teilhabe schwärmten,
relevant war die Entscheidung, die eigenen Grenzen des Körpers, der Gestik
und der Sprache in der Öffentlichkeit zu kontrollieren. Dieser Selbstzwang,
Affekte oder Spontaneität zu disziplinieren, kann als eine Stufe des wachsenden Selbstbewusstseins verstanden werden.
Die Verlaufsformen des Redens und des Schweigens zeigten schließlich,
inwieweit auch Schweigen ein Gespräch darstellt. Durch bewusste Demonstration konnte auch Schweigen beredt sein. Denn die Kommunikation in den
Konzert- und Opernhäusern war mit guten Gründen auch deshalb so intensiv,
weil sich die einander Wahrnehmenden nicht auf hörbare Gespräche einließen. Die Funktion von Musik wandelte sich daher, und zwar nicht nur, weil die
notierten Werke sich änderten, sondern – konzeptionell erklärt – weil sich das
Hörverhalten in Gesellschaften veränderte.52
III. Die Politisierung des Schweigens
In der Mitte des 19. Jahrhunderts eröffnete das Schweigen im Konzertsaal eine
politische Dimension. Die Disziplinierung des musikliebenden Bürgertums,
die Herausbildung einer kulturellen Gemeinschaft, erhöhte dessen Chancen,
Deutungskämpfe gegen den Adel zu führen. Weil die bürgerlichen und
51 Bereits der Harmonicon 2. 1824, S. 145, wunderte sich darüber, dass günstigere
Eintrittspreise für ein neues Konzert das Publikum anonymisiere, man neue Leute sehe,
„whom one did not recognise“.
52 Vgl. Johnson, Listening, S. 228 – 238 u. S. 281 – 285; Gebesmair, Grundzüge, S. 15 – 18;
Wolfgang Gratzer, Motive einer Geschichte des Musikhörens, in: ders. (Hg.), Perspektive
einer Geschichte abendländischen Musikhörens, Laaber 1997, S. 9 – 31; Ellis, Structures,
S. 343 – 370; Weber, Redefining; Balet u. Gerhard, Verbürgerlichung, S. 334 – 394 u.
S. 468 – 481; Daniel, Hoftheater, S. 126 – 157; Armin Owzar, Reden ist Silber, Schweigen
ist Gold. Konfliktmanagement im Alltag des wilhelminischen Obrigkeitsstaates,
Konstanz 2006, S. 20 – 32.
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Die Politik des Schweigens
73
adeligen Eliten ihren gesellschaftlichen Stellenwert durch den Besuch der
Opern- und Konzerthäuser sichtbar machten, wurde diese kulturelle Praxis als
politische Form immer wichtiger. Seit den 1830er und 1840er Jahren werteten
wachsende Teile des Bürgertums in London, aber seltener in Berlin und in
Wien, die Institution des Konzertes auf. Sie verwiesen auf den Rang des
Konzerthauses und des sinfonischen Repertoires und grenzten sich vom
Opernbetrieb ab. Bereits die exklusive soziale Zusammensetzung des Opernpublikums veranschaulichte hier die aristokratische Vorherrschaft. Auch in
der Mitte des 19. Jahrhunderts blieb die Zahl der Adeligen in den Logen und
auf den teuren Plätzen hoch. Im Jahre 1847 beispielsweise besuchten
35 Prozent aller englischen Peers das Londoner Her Majesty’s Theatre und
das Royal Italian Opera House Covent Garden.53 Gerade weil die Aristokratie
die Opernhäuser so häufig frequentierte und sich in diesen inszenierte,
förderten Bürger das Konzert als eine alternative kulturelle Praxis.
Die Kanonisierung des sinfonischen Repertoires exkludierte gesellschaftlich.
Der Verteilungskampf um den Rang der ausgewählten Werke im Musikleben
wurde regelmäßig mit nicht-musikalischen Mitteln geführt. Kanonisch organisierte Konzertprogramme nutzten der Herrschaftsstabilisierung der Elite,
welche ihren Status durch ihren Musikgeschmack festigte.54 Kanons exkludierten ästhetisch, das heißt, sie wirkten durch den Ausschluss nicht
akzeptierter Stile und Werke ebenso auf das Musikleben wie durch die
Inklusion der „großen“ Schöpfungen der Meister. Der Glaube an eine absolute
Musik begünstigte ein neues Hörerverhalten im Konzert. Gerade die Aufwertung der Sinfonie setzte neue Standards im Musikleben und eröffnete dem
Publikum andere Wege der Deutung, Aneignung und Reproduktion seiner
Umwelt.55
Ein faszinierendes Problem ist zu beobachten: Die kulturelle Konkurrenz der
Institutionen und der Streit um adäquaten Geschmack konstruierte die
politische Konkurrenz zwischen Bürgertum und Adel. Gemeinsame kulturelle
und soziale Orte verbanden das Bürgerturm – mehr noch: Sie wirkten als
Integrationsfaktoren und erleichterten die Möglichkeit zum Handeln. Dieser
politische Konflikt war ein wichtiger Sonderfall in den 1830er und 1840er
Jahren. Die neu entstehenden sinfonischen Konzertreihen ermöglichten es
Bürgern und Adeligen, sich einfacher zu begegnen, leichter über neue Themen,
53 Vgl. die Berechnungen von Jennifer L. Hall-Witt, Representing the Audience in the Age
of Reform, Critics and the Elite at the Italian Opera in London, in: Christina Bashford u.
Leanne Langley (Hg.), Music and British Culture, 1785 – 1914. Essays in Honour of Cyril
Ehrlich, Oxford 2000, S. 121 – 144, hier S. 137, Anm. 70; dies., Reforming the Aristocracy, Opera and Elite Culture, 1780 – 1860, in: Arthur Burns u. Joanna Innes (Hg.),
Rethinking the Age of Reform, Britain 1780 – 1850, Cambridge 2003, S. 225 – 232.
54 Vgl. Weber, Transformation; Ellis, Structures, S. 356 – 359.
55 DeNora, Beethoven, S. 11 – 36; sowie Schmitt, Revolution; Voss, Beethoven-Bild,
S. 81 – 94.
74
Sven Oliver Müller
Präferenzen und Geschmäcker zu kommunizieren. Im Unterschied zu den
hierarchischen Traditionen im Opernhaus, der teuren und sozial strengen
Kartenvergabe, gelang beiden Schichten der Zutritt ins Konzerthaus leichter.
So frei der öffentliche Zutritt der Adeligen auch war, so schwer war nach der
Meinung vieler Bürger ihr kultureller Zugang. Weder entspräche die von ihnen
bevorzugten Kompositionen noch ihr ästhetischer Geschmack, geschweige
denn ihr undiszipliniertes Hörverhalten dem kulturellen Standard der Zeit.
Musikliebende Bürger stritten um die Beherrschung öffentlich gelebter
Affekte. „Falsch“ genossene Musik im Konzertsaal im Allgemeinen und der
Opernbetrieb im Besonderen verwandelten sich in Chiffren, in denen
Reformer die Schwäche adeliger Lebensart erblickten.
Teile des liberalen Bürgertums begründeten ihre politischen Partizipationsansprüche auch auf dem Schlachtfeld der musikalischen Kultur. Ihnen war es
wichtig, sich gegenüber dem inkompetenten Adel als überlegen zu erweisen,
einen ausgewählten musikalischen Kanon und ein verfeinertes Hörverhalten
als Früchte eines kompetenten Bildungswissens herauszustellen.56 Deshalb
eignete sich der musikalische Geschmack als politische Waffe. Die Hör- und
Verhaltenskodizes im Musikleben zu verschärfen, bedeutete, politische Reformdebatten zu führen. Polemische Debatten über den richtigen und den
falschen Geschmack im Konzertsaal erleichterten es, zumal in Berlin und in
Wien, die Zensur zu passieren. „Das öffentliche Leben stürmte und brauste im
Theater und Konzertsaal, weil es anderswo nicht stürmen und brausen durfte“,
befand Wilhelm Heinrich Riehl in einer Erzählung, die im Jahre 1885 entstand
und 1839 spielte.57
Die auf den ersten Blick als unpolitisch geltende öffentliche Bewertung von
Musik half, politische Positionen zu markieren und zu legitimieren. Wo die
institutionellen Bedingungen das politische Potenzial der Reformer beschränkten, eröffneten Konzertsäle und Feuilletonartikel alternative Handlungsmöglichkeiten. Die Akteure in diesen zunächst rein ästhetischen Auseinandersetzungen konnten aus guten Gründen erwarten, öffentlich zu reden
und zu handeln, ohne sich zu eng an Debatten über Wahlrechtsreformen oder
Versammlungsfreiheit zu binden – und sich damit manche unangenehmen
56 Vgl. zu diesem Spannungsverhältnis Hall-Witt, Fashionable, S. 131 – 145; Gramit,
Cultivating Music, S. 128 – 160; Gunilla-Friederike Budde, Stellvertreterkriege. Politik
mit Musik des deutschen und englischen Bürgertums im frühen 19. Jahrhundert, in:
Journal of Modern European History 5. 2007, S. 95 – 117; den Ansatz von Norbert Elias,
Mozart, Frankfurt 1993, S. 17 – 40. Vgl. zur Konstituierung des Bürgertums im
europäischen Vergleich, Jürgen Kocka, Das europäische Muster und der deutsche Fall,
in: ders. (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Einheit und Vielfalt Europas,
Göttingen 1995, S. 9 – 75; ferner Bausinger, Bürgerlichkeit, S. 121 – 142; Weber, Music,
S. 51 – 59.
57 Wilhelm Heinrich Riehl, Gradus ad Parnassum, in: W. H. Riehls Geschichten und
Novellen, Bd. 7: Lebensrätsel. Fünf Novellen, Stuttgart 1900, S. 77 – 142, hier S. 79.
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Die Politik des Schweigens
75
Folgen ersparen. Vielleicht befreite die eigene transzendentale Verklärung der
Musik viele Bürger nicht nur von den Problemen des Alltags, sondern
stimulierte sie auch zu unwahrscheinlichen politischen Lösungsversuchen.
Indem besonders in London der Adel die bürgerlichen Verhaltensweisen
übernahm, wurde in gewisser Hinsicht ein Sieg des Bürgertums im kulturellen
Bereich errungen, der auch explizit soziale Konsequenzen beinhaltete.58
Die Aufführungen von Musik und das Reden über Musik passten sich nahtlos
in das Wertesystem und das Konfliktverhalten des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums ein. Die potenzielle musikalische Harmonie stimulierte das Ideal
politischer Eintracht. Die Struktur der auf Wiederholungen angelegten
musikalischen Aufführungen und die sich wiederholende Struktur musikalischer Kompositionen selbst halfen dem bürgerlichen Musikkennern die
eigenen kulturellen und politischen Ordnungsideale zu erlernen. Ein „korrektes“ und sich selbst disziplinierendes Verhalten während öffentlicher
musikalischer Darbietungen galt daher nicht nur als Ausdruck guten Geschmacks, sondern als kulturelle und politische Auszeichnung.59
Die Konflikte zwischen divergierenden Lebensstilen und Wertesystemen
bildeten eine der zentralen politischen Bruchlinien der europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Ihre politische Brisanz erhielten die musikalischen Mittel der Adelskritik dadurch, dass sie Elemente innerhalb eines
weitreichenden diskursiven Kontextes waren. So wichtig die Forderungen
nach einem verfeinerten Hörverhalten in den Fachzeitschriften, Tageszeitungen und Karikaturen auch waren, von ungleich höherer Bedeutung zeigten sich
zumal in den 1830er und 1840er Jahren die Reformdebatten über die
Pressefreiheit, das Wahlrecht oder die Verfassung. Was aber die Musikkritik
gleichwohl leistete, war beachtlich, denn erst die Bewertung einer vermeintlichen Unterhaltungsform ermöglichte es, selbst kleine habituelle Abweichungen zu beurteilen – pointiert und polemisch. Die Musikkritik reihte sich
glänzend in die kritischen Vorstöße der liberalen Presse ein und war genau
deshalb so erfolgreich und verbreitet, weil sie politisch harmlos schien.
Seine theatralischen Bewegungen und exklusiven Verhaltensmuster machten
den Adel in den Hauptstädten sichtbar. Viele liberale Bürger bestaunten oder
kritisierten den aristokratischen Lebensstil, die Kleidung, die Pferde – und die
58 Vgl. Hans-Christoph Schröder, Der englische Adel, in: Armgard von Reden-Dohna u.
Ralph Melville (Hg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters, 1780 – 1860,
Stuttgart 1988, S. 21 – 88, bes. S. 47 – 51; Elisabeth Fehrenbach, Adel und Bürgertum um
deutschen Vormärz, in: HZ 258. 1994, S. 1 – 28.
59 Vgl. Richard Leppert, The Social Discipline of Listening, in: Bödeker, Le concert et son
public, S. 459 – 485; Johnson, Listening, S. 228 – 238; Balet u. Gerhard, Verbürgerlichung, S. 334 – 394 u. S. 468 – 481; Daniel, Hoftheater, S. 126 – 157; insges. Lothar Gall,
Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989; die Beiträge in ders. (Hg.), Stadt und
Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, München
1993.
76
Sven Oliver Müller
musikalischen Neigungen des Adels. Denn warum ging Graf von SaynWittgenstein Hohenstein immer in die Oper, aber nie ins Konzert, und wieso
liebte die Countess of Wessex gerade die Sopranistin Maria Malibran?
Erstaunlich schien es für manche Gebildete, das Adelige aus Frivolität
Opernszenen in Konzertprogramme aufnahmen oder durch ihre Ignoranz
professionelle Musiker und deren Kunst beschädigten, weil sie diese nicht
ernst nähmen. Spielerisch und eitel genossene Musik drohte wie jedes
modische Accessoire ihr gesellschaftliches Prestige einzubüßen, weil ihre
Konsumenten sich durch die Presse leicht beobachten und persiflieren ließen.
Nur unter schweren, vielleicht sogar gefährlichen Bedingungen war diese
kulturelle Adelskritik außerhalb Englands öffentlich sagbar. Über die schwerwiegenden politischen Unterschiede wird noch zu reden sein. Dennoch: Nicht
in ihren politischen Möglichkeiten, aber in ihren kulturellen Wahrnehmungen
ähnelten sich die bürgerlichen Eliten in den drei Städten. Eine vergleichbare
kulturelle Medialisierung ist seit dem frühen 19. Jahrhundert in Berlin, in
London und in Wien zu beobachten. Bürgerliche Leser nutzten Bücher,
Broschüren, Gedichte und Karikaturen, um die kulturellen Gewohnheiten des
Hofadels und des Landadels zu sezieren. Diese Kette bürgerlicher Stereotypen
spannte einen weiten Bogen und umfasste Scherze über gestelzte Tänze, gierige
Essgewohnheiten im Opernhaus oder das Interesse der Adeligen an fremden,
zumal französischen und italienischen Sängern. Die kulturellen Werte des
Bürgertums formierten sich auch durch die Witzeleien über den peinlichen,
verweichlichten und letztlich falschen Musikkonsum der Aristokratie. Und
viele Adelige unterschätzten die mediale Beschleunigung kultureller Deutungsmöglichkeiten, welche sich allenfalls auf den ersten Blick als politisch
harmlose Spielereien zu erkennen gaben.60
Am intensivsten führte die middle class in London ihre musikalischen
Deutungskämpfe. Erst andeutend und dann immer offener kontrastierten
Londoner Tageszeitungen und Unterhaltungsblätter in den 1830er und 1840er
Jahren adäquates Hörverhalten im Sinfoniekonzert (mithin das eigene
bürgerlich konzentrierte und schweigende) mit dem geschwätzigen und
genusssüchtigen Benehmen der Adeligen im Opernhaus. Die bürgerlichen
Eliten suchten durch eine Aufwertung des musikalischen Geschmacks die von
ihrem Ideal abweichenden Wertekanons gezielt in Frage zu stellen. Vorsichtiger und zaghafter äußerte sich dagegen die Presse in Berlin und in Wien.
In London aber entschieden sich Fachzeitschriften und auch liberale Blätter
dafür, den adeligen Ochsen bei den Hörnern zu packen. Jedermann sehe ein,
dass Adelige Kunstmusik nicht wertschätzten, weil sie sich letztlich nur
lautstark amüsierten. Der adäquate Umgang mit der Kunstmusik zeichnete
60 Vgl. Gramit, Cultivating, S. 129 – 151; Hall-Witt, Fashionable, S. 131 – 145; Applegate,
Internationalism, S. 139 – 159.
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Die Politik des Schweigens
77
sich dabei als bürgerliche Strategie ab. Die Musical World urteilte über eine
Aufführung von Vincenzo Bellinis „I Puritani“ im Her Majesty’s Theatre:
A school for behaviour should be provided for some of the aristocratic tenants of the boxes at
this theatre. The incessant gabbling of lordling coxcombs is doubtless interesting to
themselves, but by others cannot be regarded otherwise than as an obtrusive impertinence,
and, as such, should be put down without ceremony.61
Lobend bekundete die britische Presse dagegen die Erfolge eines kulturellen
Erziehungsprozesses. Den Anlass bot das ungezügelte Verhalten des Herzogs
von Gloucester, der mit seiner Entourage lautstark von seiner Loge herab über
Carl Maria von Webers „Freischütz“ herzog. Ein aufgeklärter Musikfreund
aber rief den Herzog von seinem billigen Stehplatz vom Parkett aus zur
Ordnung.62 Bürgerliche musikalische Kenntnisse zeichneten den augenscheinlich räumlich und sozial unterlegenen Hörer aus.
Kritische Journalisten klagten darüber, dass die Londoner Adeligen stets
französische und deutsche Opern, aber keine Werke englischer Meister hörten.
„Scarcely one of these noble animals is to be found offering encouragement to
that which has so many claims on their patronage.“63 Diese Zeilen stammten
aus einer linksliberalen Spottzeitschrift, die unter dem werbewirksamen Titel
Figaro in London erschien. So schwer es auch ist, die öffentliche Anerkennung
dieses Angriffes zu bewerten, so erstaunt doch bereits die Gleichsetzung von
mangelndem menschlichem Benehmen mit tierischem Benehmen. Unzivilisierte adelige Musikfreunde subsumierte dieses Blatt nicht nur unter dem
Schlagwort „the idiot aristocracy“, sondern auch unter der naturverbundenen
Kategorie „the aristocratic animals“.64 Hier sind sprachliche Diffamierungen
und aggressive Wortspiele zu entdecken, die sich wohl in keiner anderen
Hauptstadt in Europa hätten veröffentlichen lassen.
Gelobt wurden dagegen diejenigen Adeligen, welche sich nicht lachend und
störend benähmen, sich während der schönsten Stellen der Oper nicht
unterhielten. Kulturell betrachtet sei der Landadel (gentry) besser als der
Hochadel (nobility), am besten aber wäre es, wenn die Aristokratie gleich
daheim bliebe und den Musikbetrieb dem geschmacklich souveränen Bürgertum (middle class) überließe.
Some point of peculiar harmony – all was attention. There was no vulgarity, for the
aristocracy kept away. The audience consisted of gentry, which presented a strong contrast to
the class facetiously called nobility. The house was full, which proves there is taste among the
middle classes of the community.65
61
62
63
64
65
The Musical World, 30. 4. 1840, S. 274.
Figaro in London (Figaro), 25. 5. 1833, S. 84.
Ebd., 23. 6. 1832, S. 116.
Ebd., 16. 6. 1832, S. 110 u. 9. 3. 1833, S. 38 – 40. Vgl. ebd., 24. 4. 1833, S. 64.
Ebd., 10. 8. 1833, S. 128 (Hervorhebung im Original). Vgl. ebd., 27. 6. 1835, S. 109 f. Eine
Karikatur im Punch witzelte darüber, dass der Rang eines Adeligen – auch gemessen an
78
Sven Oliver Müller
Die Aneignung der Musik verband Menschen, weil musikalische Reize über
einen hohen Wiedererkennungswert verfügten. Sie erlaubten die Verständigung durch sinnliche Mitteilungen, welche durch die gesprochene Sprache
unter den Bedingungen der Zensur schwerer vermittelt werden konnten.
Musikalische Aufführungen vermochten es, ihre Hörer politisch zu verbinden.
Weil sie es verschiedenen Hörern erleichterten, über die gleichen Werke zu
kommunizieren, intensivierten sie zudem Gegensätze.66 Durch das Wissen
über den gewünschten musikalischen Kanon und die habituellen Regeln des
Musikkonsums wählten die Gebildeten aus, wer politisch zu ihnen gehörte –
und wer nicht. „Geschmacklose“ Musikkonsumenten ließen sich dadurch aus
der Gemeinschaft ausschließen.67 Die Regeln der neuen disziplinierenden
Musikkultur stifteten durch die Sprache und die Handlungen bildungsbürgerlicher Protestgruppen den politischen Zusammenhalt.
Der musikalische Geschmack bildete gerade in einer pluralen Gesellschaft wie
Großbritannien eine kulturelle Strategie der Nachahmung und der Verfeinerung, ein Merkmal der Zugehörigkeit. Durch eine distinktive Verhaltensform
machte der eigene Geschmack die Musikliebhaber nicht nur als kulturelle,
sondern auch als politische Wertegemeinschaft sichtbar. Die Kategorie des
Geschmacks beschrieb nicht nur Präferenzen des Publikums, sie war selbst
eine Ressource der Deutung, ein Mittel, um gesellschaftliche Positionen zu
erreichen. Die gemeinsame Begeisterung für Musik und die gemeinsame
Ablehnung derjenigen, die ihren Stellenwert missachteten, vermochten soziale, politische oder kulturelle Differenzen zu überbrücken. So ließen sich auf
dem Umweg ästhetischer Stellvertreterkriege politische Ansprüche viel ungehinderter formulieren.
Die musikalische Hochkultur belebte auch in Berlin und in Wien die
Konkurrenz. Die gemeinsame Front gegen diejenigen, die sich als Gegner
bürgerlicher Hochkultur zu erkennen gaben, stärkte den Zusammenhalt der
durchaus unscharf abgegrenzten Gruppe der Bürger. Zumal die bildungsbürgerlichen Akteure suchten und fanden kulturelle Gegner in ihren Konzert- und
Opernveranstaltungen. Auf die unnachsichtige Verteidigung tradierter adeliger Distinktionsprivilegien, auch auf die Verweigerung, sich musikalischen
seiner Körperform – allein aus seinem Erbe, nicht aber aus seinem Erwerb stamme.
„Phrenological View of Social Rank“, in: Punch 65. 1873, S. 4.
66 Vgl. Bourdieu, Unterschiede, S. 442 – 462; Theodor W. Adorno, Einleitung in die
Musiksoziologie, Frankfurt 19897, S. 14 – 34; Ute Frevert, Was haben Gefühle in der
Geschichte zu suchen? in: GG 35. 2009, S. 183 – 208; sowie die Beiträge in Sabine A.
Döring (Hg.), Philosophie der Gefühle, Frankfurt 2009.
67 Vgl. Lawrence Kramer, Music as Cultural Practice, 1800 – 1900, Berkeley 1990; Wolfgang
Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Kocka,
Bürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 1, S. 92 – 127; M. Rainer Lepsius (Hg.), Lebensführung und ständische Vergesellschaftung (= Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert,
Teil 3), Stuttgart 1992, S. 9 – 18.
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Die Politik des Schweigens
79
Innovationen zu öffnen, reagierte das gebildete Bürgertum oft diffamierend.
Denn in der Adelsdistanzierung erkannten manche auch eine gewinnbringende Chance, die bürgerliche Kulturwelt zu verfestigen.68 Eben weil gerade
das Bildungsbürgertum seine neuen Konzertserien als Organisationsstruktur
der Zukunft förderte, kam es ihm darauf an, sie vor den vermeintlichen
Bedrohungen aus der kulturellen Vergangenheit zu schützen.
Ein Bildungsbürgertum im deutschsprachigen Sinne gab es in England zwar
nicht, wohl aber lassen sich massive kulturelle Interessen der middle class in
der liberalen Öffentlichkeit erkennen.69 Geschickt kontrastierten die liberale
Presse und die musikalischen Fachzeitschriften die eigene bürgerliche
Wertschätzung der Musik mit dem adeligen Desinteresse. Musik sei für die
Aristokratie kein Wert an sich, sondern nur modisches Beiwerk. Über die vom
Adel organisierten und frequentierten „Ancient Concerts“ urteilte der Spectator vernichtend:
The destiny of the ancient concerts is controlled by the mere caprice of fashion. […]
Nevertheless, these concerts have their use; for they constitute the last link that connects any
portion of the aristocracy with the music in England. Their faults are to be traced to their
constitution, and their failures are the necessary consequences of their system of
management.70
Mehr noch: Die Konzertprogramme der Adeligen seien ebenso reformunfähig
wie diese selbst und vom fortschrittlichen Zeitgeist getrennt. Vor dem
Hintergrund der Reformdebatten im Parlament konnten auch Forderungen
nach musikalischen Reformen kaum in die politische Leere laufen.
Selbstredend ließe sich argumentieren, dass die bürgerlich-liberale Kritik an
den ausschließlich von der Aristokratie geleiteten „Ancient Concerts“ letztlich
auf rein ästhetischen Kriterien beruhte, die allein von der Kunst handelten.
Schließlich konservierte die adelige Musikkultur im zweiten Viertel des 19.
Jahrhunderts zwar ein altmodisches, aber ursprünglich mehrheitsfähiges
Repertoire. Doch ein solcher Befund ging ins Leere – eine kulturpolitisch
neutrale Perspektive existierte in keiner europäischen Metropole. Tatsächlich
gab es über dieselben Konzerte – je nach weltanschaulichem Standpunkt –
vernichtende Kritiken (Spectator, Athenaeum, Harmonicon), aber auch be68 Vgl. Rudolf Braun u. David Guggerli, Macht des Tanzes, Tanz der Mächtigen. Hoffeste
und Herrschaftszeremoniell, 1550 – 1914, München 1993, S. 226 – 241; Susanne Kill,
Politische Konstituierungsfaktoren des Bürgertums, in: Gall, Stadt und Bürgertum,
S. 183 – 202; Budde, Stellvertreterkriege, S. 103 – 105; Kocka, Muster, S. 18 f.
69 Deutlich wird das u. a. in den Ausführungen des Harmonicon, 7. 1829, S. 190 f., über den
sich verbessernden Geschmack der „enlightened people“ im Musikleben. Beschworen
wird ein „system of education, of religious belief, of manners, sentiments, and habits.
[…] It is also necessary to elaborate these in moments of calm thought, in order to give
them correctness and consistency.“
70 The Spectator, 8. 5. 1841, S. 445.
80
Sven Oliver Müller
geisterte adelige Hofberichterstattung (Morning Post, Times). Die Tory-treue
Morning Post führte die Verteidigungslinie aristokratischer Musikkultur in
London an. Immer wieder rühmte sie die Veranstaltungen als nationale
Errungenschaften und druckte spaltenweise – vom Herzog absteigend – die
Liste der aristokratischen Besucher :
As we have repeatedly said before these Concerts are a credit to the country, and are entitled
to the support of the Nobility and Gentry ; for, had it not been for these performances, some
of the finest compositions that were ever written would have been entirely lost to us.71
Durch diese konservative Bewertung des musikalischen Geschmacks wird
deutlich, dass die Besprechungen nicht allein – vielleicht in diesem Kontext
nicht einmal primär – ästhetischen Kriterien folgten, sondern auch politische
Kritiken waren. In den musikalischen Fachzeitschriften gaben die Kritiker ihre
Konzerteindrücke nicht originalgetreu wieder, sondern filterten sie aus ihrer
spezifischen Perspektive heraus.
Die Revolution von 1848 bot manchen bildungsbürgerlichen Musikfreunden
in Wien und in Berlin eine ungekannte politische Chance. Vielleicht erreichten
die demonstrierenden Musikfreunde nur in diesem Jahr auf dem Kontinent
das, was die britischen und französischen Konzertbesucher seit den 1830er
Jahren verwirklicht hatten. Die musikalische Hochkultur reihte sich erfolgreich in die politischen Demonstrationen ein. Denn die demokratische
Gesellschaft sollte das exklusive und elitäre Musikleben der Vergangenheit
öffnen. Teile des Bildungsbürgertums unternahmen einen kulturellen Angriff
auf das Repertoire und das Hörverhalten des Adels. Die Rezensenten wichtiger
Zeitungen und Zeitschriften ordneten das Musikleben in Zugehörige (Bürger)
und Fremde (Adelige) und verknüpften damit implizit Herrschaftsansprüche.
Wer sich im Konzert nicht benehmen konnte, wer seine Geschmacklosigkeit
öffentlich zur Schau stelle, schien auch für die Ausübung der staatlichen
Herrschaftsgewalt denkbar ungeeignet zu sein.
Das unruhig gewordene liberale Bildungsbürgertum in Berlin und in Wien
setzte seine anscheinend überlegene musikalische Ästhetik auch in den
deutschen Staaten als politische Waffe ein. Ein diszipliniertes Hörverhalten
einzufordern und neue musikalische Ideale durchzusetzen, kam einer politischen Handlung gleich.72 Durch eine Neubewertung des musikalischen
71 The Morning Post, 7. 6. 1833. Vgl. die erhaltenen Besucherlisten und Presseberichte:
Alphabetic List of the Subscribers to the Antient Music for the Present Season 1810, by
W. Lee, London 1810, in: British Library, 1607 – 1212 u. 11778.aa26; sowie The
Performances of Antient Music, for the Season 1820, Published by Permission of the
Royal and Noble Directors, are most Humbly Presented to the Subscribers by G.
Wilding, London 1820; John Parry, Notices of the Concerts of Ancient Music Covering
the Period 1834 – 1848, extracted from the Morning Post, 2 Bde., London 1843 u. [1848].
72 Vgl. aus soziologischer Perspektive zu dieser Wechselwirkung Gebesmair, Grundzüge,
S. 55 – 63; Klaus-Ernst Behne, Hörertypologien. Zur Psychologie des jugendlichen
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Die Politik des Schweigens
81
Geschmacks stellten die bürgerlichen Eliten die Herrschaftsansprüche der
Aristokratie gezielt in Frage. Gegen dieses instrumentalisierte Diktat des
Geschmacks konnte sich die Aristokratie lange erfolgreich wehren, nur kaum
in der revolutionären Öffentlichkeit des Jahres 1848. Zu diesem Zeitpunkt
riskierten manche Bürger etwas im deutschsprachigen Raum so nie Dagewesenes: Sie vertrauten sich einer selbständigen musikalischen Kulturpolitik an.
Einen „Zusammenhang zwischen Musik und Politik“ erkannte die Allgemeine
Musikalische Zeitung darin, dass die gegenwärtigen humanistischen Ideale die
vergangenen Manierismen der Aristokratie ersetzten. Die Musik werde das
Volk erziehen und das Publikum bilden – in seinem Geschmack und in seiner
Politik. Jetzt hofften viele in Deutschland, dass
die Adelsaristokratie […] gefallen ist, […] dadurch aber auch auf das wahre Bedürfnis und
die Veredelung des Volkes durch die Kunst Rücksicht genommen werden wird. […] [Es]
herrscht bei Hofe ein schlechter Geschmack, sei es in der Kleidung oder anderen Dingen,
namentlich in der Kunst, so muss der schlechte Geschmack um jeden Preis für nobel und
nachahmungswerth gelten. Der Adel wagt nicht, einen anderen Gout zu haben, als die
allerhöchsten Herrschaften, und das Publikum richtet sich nach dem Adel, hält italienische
Musik für unübertrefflich, man mag dagegen predigen, man mag ihn vordemonstrieren, dass
sein eigentlicher Geschmack das gar nicht sein könne, so viel man will. […] Das Publikum ist
ein Kind, welches erzogen werden kann und muss.
Die Kunst solle solchen Männern anvertraut werden,
welche fühlen, wie das deutsche Volk seiner inneren Natur nach fühlen muss, welche wissen,
was dem Volke zur Bildung und Veredelung dient. Solche Männer werden unter unseren
Aristokraten aber schwer zu finden sein, denn diese sind nicht deutsch, sondern adelig,
aristokratisch, sie bilden eine Kaste für sich und weiter nichts. Sie müssen und sie werden
deshalb über kurz oder lang von dem Ruder entfernt werden.73
Die Befürworter gesellschaftlicher Reformen relativierten die Grenze zwischen
Musik und Politik. Das hatte nicht nur ideologische, sondern auch pragmatische Ursachen, denn das Reden und Schreiben über Musik war 1848 längst
zum bürgerlichen Alltag geworden. Die öffentliche Bewertung von Musik, das
tatsächliche oder vermeintlich harmlose Plaudern über Mozart fiel jahrzehntelang leichter als die politische Bewertung staatlicher Ordnung. Die Neue
Zeitschrift für Musik hielt fest:
Die künftige Gestaltung der Kunst wird sicher einen politischen Charakter annehmen. Denn
die Kunst, die das innerste Leben äußerlich darstellt, nimmt schon durch die öffentliche
Musikgeschmacks, Regensburg 1986, S. 418 – 437; Hans Neuhoff, Die Konzertpublika
der deutschen Gegenwartskultur. Empirische Publikumsforschung in der Musiksoziologie, in: Motte-Haber u. ders., Musiksoziologie, S. 473 – 509; und bereits Carl Dahlhaus
u. Helga de la Motte-Haber (Hg.), Systematische Musikwissenschaft, Laaber 1982.
73 Allgemeine Musikalische Zeitung 50. 1848, S. 538 – 542. Geschrieben im August 1848
unter dem Titel: „Ueber den Zusammenhang zwischen Musik und Politik“. Vgl. zur
Reichweite dieses Blattes Schmitt-Thomas, Entwicklung.
82
Sven Oliver Müller
Darstellung der persönlichen Ideen und Gefühle die gemeinsame Sympathie in Anspruch,
und wird dadurch politisch.74
Eine ähnlich pointierte Begründung stellte die Neue Berliner Musikzeitung im
Dezember 1848 auf. Heutzutage sei Musik keine weltentrückte Mode mehr,
sondern zur unmittelbaren politischen Angelegenheit aller Menschen geworden. „Die Musik ist sociale Kunst, sie gehört mehr denn irgend eine andere
allen Ständen, dem ganzen Volke an.“75
Es gibt viele Gründe dafür, warum in London wenigstens im Musikleben diese
kulturelle Utopie und die Erfolge innerhalb der Institutionen leichter gelangen
als in Berlin und in Wien. In ihrer Häufigkeit, musikalische Reformen
einzufordern, unterschieden sich die Journalisten und Konzertbesucher in
allen drei Hauptstädten relativ wenig voneinander. Schärfer und chancenreicher aber fielen die kulturellen Vorstöße und Provokationen der middle class
in Großbritannien aus. Der Befund liegt gewissermaßen auf der Hand: Wenn
es eine bürgerliche Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhundert in Europa gab,
dann war sie in London am stärksten. Unzensiertes Reden und Handeln in der
Öffentlichkeit war weit weniger staatlich-aristokratisch geregelt, die Forderungen daher variantenreicher und schärfer. Vielleicht zeigte sich der
sprachliche Stil härter und der öffentliche Konflikt im Musikleben größer,
weil die politischen bereits vor den musikalischen Reformen angelaufen
waren.
Ein ungebrochener Siegeszug der middle class – geschweige denn des
Bildungsbürgertums – über den Adel mit Hilfe der Musik ist daraus jedoch
nicht abzuleiten. Die meisten Bürger in den verschiedenen europäischen
Metropolen tendierten nur selten dazu, die Herrschaft des Adels politisch
brechen zu wollen. Nicht nur das: Die bildungsbürgerliche Adelskritik trug zur
Selbstbehauptung des Adels auch deshalb bei, weil dieser sich in seinem
Geschmack und in seiner Lebensführung nicht nur in London, sondern auch
in Berlin und in Wien dem Bürgertum allmählich anglich und damit willentlich
seine Angriffsflächen verringerte.76
Die Musikkultur des 19. Jahrhundert sollte als ein Bestandteil der sozialen und
der politischen Strategien des Bürgertums verstanden werden. Die Kriterien
musikalischer Bewertung und Erziehung lassen sich in Beziehung zur
Demokratisierung und Politisierung setzen. Sie sind dynamisch und ideologisierbar, weil sie über den benannten Zweck hinausweisen, weil sie kulturelle
74 Neue Zeitschrift für Musik 28. 1848, S. 45 – 47, Zitat S. 47.
75 Neue Berliner Musikzeitung 2. 1848, S. 376.
76 Vgl. Dieter Langewiesche, Bürgerliche Adelskritik zwischen Aufklärung und Reichsgründung in Enzyklopädien und Lexika, in: Fehrenbach, Adel und Bürgertum,
S. 11 – 28; Schröder, Adel, bes. S. 37 – 59; insges. Braun u. Gugerli, Macht, S. 202 – 256.
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Die Politik des Schweigens
83
und politische Interessen aneinanderbinden.77 Reinhart Koselleck vermutet
bei jedem öffentlichen Wortgebrauch nicht nur die abweichende Standortbezogenheit der Akteure. Noch wichtiger sei vielleicht der mögliche „Zwang zur
Politisierung“, da immer mehr Personen angesprochen und mobilisiert
würden.78 Für die musikalischen Deutungskämpfe zwischen Adel und Bürgertum folgt daraus, dass kulturelle und politische Praktiken ähnliche
gesellschaftliche Lernprozesse, das heißt, auch Bildungsprozesse, eröffnen
konnten. Die Forderungen nach demokratischem Musikkonsum und demokratischer Pressefreiheit waren sich erstaunlich ähnlich, die politischen Folgen
aber unterschieden sich nachhaltig voneinander in London, Berlin und Wien.
IV. Schlussbemerkungen
Die Geschichtswissenschaft hat viele Möglichkeiten, die Entstehung und den
Wandel kultureller Praktiken zu analysieren. Die gleichen Musikstücke
konnten in unterschiedlichen Konzerten und bei verschiedenen Hörern
heterogene Handlungen auslösen. Zu zeigen ist, wie menschliches Verhalten in
einer Gesellschaft durch Teilnahme an musikalischen Aufführungen geprägt
und verändert wurde. Die hier diskutierten Fragen verweisen auf genuin
historische Probleme, die einen historischen Ansatz erfordern. Warum etwa
das Publikum während der Vorstellungen im Konzerthaus in Berlin aufhören
wollte zu reden, zu essen, herumzulaufen und im Auditorium lauthals zu
lärmen – das sind Fragen, die Historiker anders und vielleicht präziser als
Musikwissenschaftler beantworten können. Um den historischen Stellenwert
der Musikkultur in der Gesellschaft zu zeigen, ist ein Perspektivwechsel
hilfreich: von musikalischen Werken hin zur Wirkung von Musik, von der
Partitur einer Komposition hin zur Aufführungspraxis.79 Aus historischer
77 Das ist der treffende Befund von Reinhart Kosellecks Einleitung in ders. u. a. (Hg.),
Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in
Deutschland, Stuttgart 2004, S. XIII – XXVII. Vgl. ders., Begriffsgeschichten. Studien zur
Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt 2010. In
vergleichender Perspektive zur Politisierung der Musikkultur in Europa siehe Sven
Oliver Müller u. Jutta Toelle (Hg.), Bühnen der Politik. Die Oper in europäischen
Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2008.
78 Koselleck, Grundbegriffe, Zitat S. XVIII.
79 Zwar wird das auch in der Musikwissenschaft regelmäßig gefordert, doch nur selten
eingelöst. Vgl. Small, Musicking; Richard Taruskin, Text and Act. Essays on Music and
Performance, New York 1995; Nicholas Cook, Music as Performance, in: Clayton u. a.,
Cultural Study, S. 204 – 214; Richard Münch, Die soziologische Perspektive. Allgemeine
Soziologie, Kultursoziologie, Musiksoziologie, in: Motte-Haber u. Neuhoff, Musiksoziologie, S. 33 – 59; Johnson u. a., Opera and Society.
84
Sven Oliver Müller
Sicht interessiert Musikkultur, weil für sie und durch sie eine Kommunikationsgemeinschaft konstituiert wird.
Musikalische Aufführungen sind Bühnen der Gesellschaft. In einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive zählen die Komposition und die Interpretation
einer Partitur weniger, als die öffentliche Rezeption ihrer Aufführung. Denn die
musikalische Produktion, das Komponieren, bedarf der künstlerischen Reproduktion, der Wiedergabe und diese der gesellschaftlichen Rezeption, des
Publikums. Aus der Betonung der Rezeption folgert keinesfalls, dass die
Komposition selbst nicht zählt. Vielmehr besteht ein Wechselverhältnis zwischen dem Werk und dem Publikum, weil beide einander bedürfen. Erst die
Rezeption der Musik erschafft auch die Musik, da Komponisten ihre Schöpfungen oft auf den Geschmack ihrer Hörer hin ausrichten und auf diese Weise
eine Verbindung zwischen musikalischer Produktion und sozialer Gemeinschaft
entsteht. Das ist der kreative Spielraum musikalischer Aufführungen. Das
Publikum teilt die Musik, die es liebt, und dadurch vervielfacht sie diese.80
Stark vereinfacht betrachtet, erfolgte eine grundlegende ideelle, ja, ideologische Umwertung der Musik durch viele Bildungsbürger. Die Musik im
Allgemeinen und die Instrumentalmusik im Besonderen wurden von einer der
niederen zu einer der höchsten Kunstformen stilisiert. In Deutschland
schrieben Philosophen wie Arthur Schopenhauer der Musik gar transzendentale Qualitäten zu und begriffen sie als Matrix der realen Welt, welche höhere
Gegenwelten eröffne und den Zugang zum letzten Glück ermögliche.81
Musikkultur funktionierte gewissermaßen als eine Form der Kommunikation.
Sie stellte mehr dar als eine Zielutopie der Lebensführung, sie warb mit
bildungsbürgerlichen Normen und machte diese für neue Interessierte
attraktiv. Die Kenner werteten bestimmte Kompositionen geschmacklich auf
und erfanden so die Kunstmusik. Viele Bildungsbürger begriffen die Kunstmusik demnach nicht nur als besondere Sinnstiftungsinstanz, sondern
integrierten musikalische Praktiken (wie den Konzert- und Opernbesuch,
die Laien- und Hausmusik) auch intensiv in ihr Leben.82
Die Kontroversen zwischen unterschiedlichen Hörergruppen im Konzertsaal
veranschaulichen nicht nur den kulturellen Wandel in der Mitte des 19.
80 Vgl. die methodischen und empirischen Überlegungen von Müller, Analysing Musical
Culture, S. 835 – 859; Small, Musicking; S. 183 – 221; Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des
Performativen, Frankfurt 2004, S. 31 – 57.
81 Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, hg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, Bd. 2, S. 423 – 532.
82 Vgl. Bernd Sponheuer, Musik als Kunst und Nicht-Kunst. Untersuchungen zur Dichotomie
von „hoher“ und „niederer“ Kunst im musikästhetischen Denken zwischen Kant und
Hanslick, Kassel 1987; Botstein, Listening, S. 129– 145; zur bürgerlichen Verdi-Rezeption
im Deutschen Kaiserreich Kreuzer, Verdi, S. 85 – 137; und zur Funktion publizierter
Werkerläuterungen in der bildungsbürgerlichen Musikrezeption Christian Thorau, Der
Hörer und ihr Cicerone. Werkerläuterung in der bürgerlichen Musikrezeption, in: Andreas
Jacob (Hg.), Musik, Bildung, Textualität, Erlangen 2007, S. 207– 220.
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Die Politik des Schweigens
85
Jahrhunderts. Sie zeigen auch, dass sich durch den Besuch musikalischer
Aufführungen politische Konflikte leichter austragen ließen. Viele Konzertbesucher betrachteten ihren Musikkonsum als eine unpolitische Bereicherung. Die Kommunikation zwischen Bildungsbürgern und Adeligen in den
1830er und 1840er Jahren macht aber deutlich, dass Politik keine fest
bestimmbare Kategorie ist, sondern eine Projektionsfläche kollektiver Zuschreibungen sein kann. Durch ihre gegenseitige Verständigung entscheiden
Akteure, was politisch ist und was durch sie selbst politisch wird. Abhängig
von den Akteuren und ihrer Kommunikation verwandeln sich auch augenscheinlich nicht politische Aufführungen in politische Felder. Dieses Verständnis unterscheidet sich grundlegend von der Annahme einer „natürlichen“ Trennung der Sphären von Kunst und Politik. Musikalische Aufführungen im öffentlichen Raum sollten vielmehr als potentiell politische
Zuschreibungen begriffen werden. Der Blick auf eine – mögliche – politische
Dimension der Kunstmusik erlaubt es, Aufführungen als kollektiv gewünschte
politische Tatsachen und als umstrittene Ereignisse zu deuten.
Die Kunstmusik der Bildungsbürger war stärker noch als die der Adeligen eine
Projektion, die manches über die Werte und Wünsche ihrer Schöpfer und oft
weniges über die Strukturen der Komposition offenbarte. Mit der Zurschaustellung der Musik übertrug man die Werte bürgerlicher Bildung zugleich auf
die Kunst. Genau deshalb aber faszinierte diese bildungsbürgerliche Utopie –
als Kontrast zu den zahlreichen Herausforderungen der Lebenswelt des 19.
Jahrhunderts und zur Orientierung an offenbar zeitlosen Maßstäben. Kunstmusik als Ideal zu leben, als Religion, Wissenschaft und Politik zu erfinden,
kann als eine Kommunikationsform begriffen werden, durch die man sich
über Zustand, Zuschnitt und Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft verständigte.
Die Veränderungen des Publikumsverhaltens und die ästhetische Kanonisierung der symphonischen Musik zwischen 1820 und 1860 lassen sich als eine
kulturelle Zäsur begreifen. Die bürgerlichen Eliten glaubten, das Musikleben
zum Nutzen der Gesellschaft in Ordnung zu bringen, es nach einem
„modernen“ Modell umbauen zu können. Die Frage bleibt, ob das Konzertpublikum des 19. Jahrhunderts durch seine am Ende erfolgreiche Selbstdisziplinierung langfristig betrachtet mehr kulturelle Probleme schuf, als es löste.
Der Preis, den viele Musikliebhaber für diese Umwertung ihres Objektes der
Begierde bis heute im Konzert- und Opernhaus zahlen müssen, ist hoch:
Durch den beschriebenen Wandel gewann das europäische Publikum vielleicht neue musikalische Einsichten, büßte dafür aber viel vom spontanen
Genuss musikalischer Erlebnisse ein. Es gewann an Geschmack, was es an
Unterhaltung verlor.
Dr. Sven Oliver Müller, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung,
Lentzeallee 94, D-14195 Berlin
E-Mail: omueller@mpib-berlin.mpg.de
Globale Horizonte europäischer Kunstmusik,
1860 – 1930
von Jürgen Osterhammel*
Abstract: The European tradition of what became known as “classical” music is
unique among Western arts because it resisted influences from non-Western civilisations. In the contemporary world, both the European canon of musical masterpieces and the social setting of western musical life have been exported to many
different parts of the world with few changes. This tradition of European musicmaking should not obscure the global contexts in which music evolved, in particular
from the mid-nineteenth century onwards. This article outlines several of these
contexts, including exoticism, colonial rule, the mobility of musicians, the impact of
new reproductive technologies, and the concept of “world music”.
Musik ist das globalisierte Kulturgut par excellence. Sie ist über den
Tonträgerhandel,1 über Radio und Fernsehen und zunehmend über Downloads aus dem Internet weltweit verfügbar. Die Strategien der Musikindustrie
übersteigen seit langem den nationalen Rahmen; sie ignorieren politische
Grenzen und geographische Entfernungen. Anders als Literatur erfordert
Musik keine Übersetzung. Nicht jede Musik ist jedem verständlich, doch
ermöglicht die kulturneutrale Konservierung musikalischen Sinns durch
Notenschrift prinzipiell eine Umsetzung des Geschriebenen in Klang durch
einschlägig geschulte Musiker mit den unterschiedlichsten kulturellen Voraussetzungen.2 Auch wenn es noch Residuen „nationaler“ Schulen instrumentaler Interpretation gibt, werden selbst feinhörige Experten selten treffsicher unterscheiden können, ob eine Mozartsonate von einer asiatischen oder
einer europäischen Pianistin gespielt wird. Musik ist eine besonders mobile
* Für kritische Hinweise zum Manuskript danke ich Sven Oliver Müller, Martin Rempe
und Steffen Rimner, für Hilfe bei Recherche und Literaturbeschaffung Christian
Gütgemann und Jan-Markus Vömel. Das Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von
Integration“ an der Universität Konstanz hat meine Arbeit durch eine Freistellung
gefördert.
1 Dieser Handel erlebt allerdings seit einigen Jahren eine dramatische Umstrukturierung.
Der Umsatz von CDs, einem 1983 kommerziell eingeführten Medium, und anderen
mobilen Tonträgern fiel weltweit von 40,5 Milliarden US-Dollar im Jahre 1999 auf
27,8 Milliarden im Jahre 2008. So Ulrich Dolata, The Music Industry and the Internet. A
Decade of Disruptive and Uncontrolled Sectoral Change (= SOI Discussion Paper 2.
2011), Stuttgart 2011, S. 8.
2 Nirgendwo wird dies deutlicher als in Kinshasa Symphony, Dokumentarfilm von Claus
Wischmann u. Martin Baer, 2010.
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 86 – 132
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
87
und in ungewöhnlich hohem Maße globalisierungstaugliche Form kulturellen
Ausdrucks.
Dies trifft nicht für alle Arten von Musik in gleichem Maße zu. So ist zum
Beispiel genuine Folklore (zu unterscheiden von einem marktgängigen
„Country“-Stil) stärker ortsgebunden und schwieriger über kulturelle Grenzen
hinweg transportierbar als die von Massenmedien weltweit verbreitete
Popmusik. Die sogenannte „ernste“ oder „klassische“ Kunstmusik der
neuzeitlichen europäischen Tradition steht zwischen diesen Extremen.3 Auf
der einen Seite ist sie bisher noch nicht in einer umfassenden Weltmusik
aufgegangen, sondern hat sich trotz kombinatorischer und hybrider Kompositionsweisen, die in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten immer häufiger
erprobt worden sind, eine randscharfe Identität gegenüber nichteuropäischer
Musik bewahrt. Andererseits sprechen zahlreiche Belege für eine erdumspannende Resonanz auf dieses in Europa geschaffene ästhetische Idiom. Auf allen
Kontinenten werden Opern und Symphonien europäischer Herkunft gespielt.
Das Publikum in Ländern wie Japan oder Südkorea gilt im internationalen
Vergleich als besonders empfänglich und sachverständig für europäische
Musik.4 Etwa ein Drittel der Studierenden an deutschen Musikhochschulen
stammen heute aus dem Ausland; die meisten sind Asiaten. Jährlich bewerben
sich allein aus Südkorea um die siebentausend junge Instrumentalisten und
Sänger.5 Einige weltweit anerkannte Interpreten europäischer Kunstmusik
stammen aus Asien. Seit kurzem besuchen asiatische Orchester den Westen
und führen dort Musik aus dem europäischen Kanon auf, oft in Verbindung
3 Zur Genesis der Kategorie der „Klassischen“ vgl. Tim Blanning, The Triumph of Music.
The Rise of Composers, Musicians and Their Art, Cambridge, MA 2008, S. 111 – 114;
tiefgründiger Carl Dahlhaus, Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Teil 1:
Grundzüge einer Systematik, Darmstadt 1984, S. 47 – 51. Dahlhaus hat auch auf eine
weitere Zwischenlage im 19. und 20. Jahrhundert hingewiesen: „mittlere Musik“, also
solche „jenseits der Dichotomie von Trivialmusik und Musik als Kunst“. So Carl
Dahlhaus, Über die „mittlere Musik“ des 19. Jahrhunderts, in: ders., Gesammelte
Schriften in zehn Bänden, hg. v. Hermann Danuser, Bd. 5, Laaber 2003, S. 570 – 582, Zitat
S. 578.
4 Ein Bericht des Musikredakteurs Wolfgang Schreiber in der Süddeutschen Zeitung,
2. 11. 2006, über einen Besuch des Lucerne Festival Orchestra unter Claudio Abbado in
Tokyo stand unter der Überschrift: „Zu Gast beim besten Publikum der Welt“.
5 Jochen Wiesigel, Deutsche Klassik in Korea, in: http://www.spiegel.de/unispiegel/
studium/0,1518,345218,00.html. Vgl. weitere Daten in Deutscher Akademischer Austauschdienst, Wissenschaft weltoffen 2010. Daten und Fakten zur Internationalität von
Studium und Forschung in Deutschland, Bonn 2010. Bei einigen Musikhochschulen ist
der Ausländeranteil (nicht nur Asiaten) extrem hoch, etwa in Trossingen mit 47 Prozent
(ebd., S. 21). In umgekehrter Richtung helfen europäische Lehrer beim Aufbau des
Musikunterrichts in Asien.
88
Jürgen Osterhammel
mit Werken asiatischer Komponisten.6 Seit 1969 war Japan – mit der bereits
1887 gegründeten Firma Yamaha als Weltmarktführer – der wichtigste
Produzent des Klaviers, dieses Universalinstruments für westliche Musik
und prototypischen Möbels europäischer Bürgerlichkeit.7 Inzwischen wurde
es von China überholt, das vor allem billige Klaviere sowohl für den
heimischen Markt als auch für den Export herstellt, sich zunehmend aber
auch anspruchsvollere Marktsegmente erschließt. Der größte Klavierproduzent der Welt, die Firma Pearl River in Guangzhou (Kanton), ist mittlerweile
Joint Ventures mit Yamaha und der amerikanischen Nobelmarke Steinway &
Sons eingegangen.8 Umgekehrt verkaufte Steinway im Geschäftsjahr 2010
11 Prozent seiner Eigenproduktion an Flügeln und Pianos in China, 10 Prozent
in Japan und 10 Prozent in anderen asiatischen Ländern.9
Die Rezeption und, wenngleich in bescheidenerem Maße, die Reproduktion
europäischer Musik hat längst die Grenzen des Okzidents übersprungen.
Klassische Musik ist ein wichtiges Element kultureller Globalisierung. Jene
Kunst, die im Selbstverständnis des Westens lange Zeit als die europäischste
überhaupt galt, ist nicht länger eine reservierte Domäne ihrer Ursprungszivilisation. Mozart, Beethoven oder Verdi sind Kulturikonen von grenzüberschreitender Erkennbarkeit und Markenzeichen auf einem globalen Markt
geworden.
Die Spannung zwischen europäischer Genesis und weltweiter Geltung verlangt
nicht allein musikwissenschaftliche und musiksoziologische Kommentare,
sondern fordert auch die Globalgeschichte heraus. Im Folgenden sollen einige
Dimensionen weiträumiger und transkultureller Vernetzung, Vergesellschaftung und Normbildung durch Musik mit der Absicht umrissen werden, das
Feld für künftige Forschungen zu erschließen. Populäre Musikformen, vor
allem auch der wegen seiner transatlantischen Dimension besonders faszi-
6 So etwa das 1977, ein Jahr nach dem Tod Mao Zedongs und der Entmachtung der
„Viererbande“, gegründete Beijing Symphony Orchestra, das seit 2001 mehrere
Europatourneen unternommen hat. Vgl. http://www.bjso.cn/index.php/introduction/.
7 Diese oft, u. a. von Max Weber, zitierte Charakteristik des Klaviers stammt aus Oscar Bie,
Das Klavier und seine Meister, München 19012, S. 292 f. So Christoph Braun u. Ludwig
Finscher, Einleitung, in: Max Weber Gesamtausgabe. Bd. I/14: Zur Musiksoziologie.
Nachlaß 1921, hg. v. Christoph Braun u. Ludwig Finscher, Tübingen 2004, S. 1 – 126, hier
S. 70 f.
8 Johnny Erling, Steinway aus China, in: Welt-online, 6. 12. 2005, http://www.welt.de/
print-welt/article182458/Steinway_aus_China.html. Zur Bedeutung des Klaviers als
Mittel sozialer Distinktion in China vgl. bereits Richard C. Kraus, Pianos and Politics in
China. Middle-Class Ambitions and the Struggle over Western Music, New York 1989.
9 Steinway Musical Instruments, 2010 Annual Report, S. 6, http://www.steinwaymusical.com/investor relations/financial reports/.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
89
nierende Jazz, müssen unberücksichtigt bleiben.10 Der zeitliche Schwerpunkt
liegt auf den Jahrzehnten zwischen etwa 1860 und 1930: musikhistorisch die
Zeit des Übergangs zur Moderne, musiksoziologisch eine Phase der Fixierung
von Musikerrollen und der Schematisierung von Rezeptionshaltungen,11
zugleich auch eine distinkte Epoche der Globalisierungsgeschichte. Nach
etwa 1860 wurde die Fernmigration von Musikern durch regelmäßigen
Dampfschifffahrtsverkehr erleichtert; es entstand eine integrierte transatlantische Musikwelt.12 In den 1930er Jahren wiederum flohen zahlreiche Komponisten und Interpreten aus Europa nach Nord- und Südamerika, die meisten
von ihnen – etwa Arnold Schönberg (1874 – 1951), Kurt Weill (1900 – 1950),
Bruno Walter (1876 – 1962) oder Bronisław Huberman (1882 – 1947) – als
Juden bedroht, aber keineswegs alle: Der ungarische Komponist Bla Bartk
(1881 – 1945) oder der deutsche Geiger Adolf Busch (1891 – 1952) wollten nicht
länger in einem faschistisch werdenden Europa leben, und Arturo Toscanini
(1867 – 1957), der berühmteste Dirigent der Welt, kehrte Italien den Rücken,
verschloss sich Angeboten aus einem nazifizierten Bayreuth und verlegte den
Schwerpunkt seines Wirkens endgültig in die USA, wo er bereits seit 1908
immer wieder aufgetreten war. Mit diesem Exodus endete der europäische
Monopolanspruch auf musikalische Maßstäblichkeit.13
Wenn hier auf umgreifende Horizonte der europäischen Musik hingewiesen
wird, dann geschieht dies nicht in der oberflächlichen Absicht, nach einer
10 Jazzgeschichte ist ein eigenes Feld, das spezielle Fachkenntnisse verlangt. Zu den frühen
amerikanisch-europäischen Verbindungen in der Jazz-Geschichte vgl. etwa William A.
Shack, Harlem in Montmartre. A Paris Jazz Story between the Great Wars, Berkeley, CA
2001; zu den afrikanischen Wurzeln Maximilian Hendler, Vorgeschichte des Jazz. Vom
Aufbruch der Portugiesen zu Jelly Roll Morton, Graz 2008; zur frühen Einführung von
Jazz im kolonialen Indien durch afro-amerikanische Musiker vgl. Bradley Shope, The
Public Consumption of Western Music in Colonial India. From Imperialist Exclusivity
to Global Receptivity, in: South Asia. Journal of South Asian Studies 31. 2008,
S. 271 – 289.
11 Siehe die Einleitung zu diesem Heft.
12 Zum Einfluss sinkender Transportkosten auf die Mobilität von Komponisten vgl.
Frederic M. Scherer, Quarter Notes and Bank Notes. The Economics of Music
Composition in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, Princeton, NJ 2004,
S. 142 – 154.
13 Zur Musikeremigration vgl. die biographische Literatur, außerdem als Übersicht Joseph
Horowitz, Artists in Exile. How Refugees from Twentieth-century War and Revolution
Transformed the American Performing Arts, New York 2008; Dorothy L. Crawford, A
Windfall of Musicians. Hitler’s Emigrs and Exiles in Southern California, New Haven,
CT 2009; Reinhold Brinkmann u. Christoph Wolff (Hg.), Driven Into Paradise. The
Musical Migration from Nazi Germany to the United States, Berkeley, CA 1999; HannsWerner Heister u. a. (Hg.), Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die internationale
Musikkultur, Frankfurt 1993. Die erste große Emigrationswelle war bereits durch die
russische Oktoberrevolution ausgelöst worden.
90
Jürgen Osterhammel
nationalen nunmehr eine transnationale oder globale Betrachtungsweise als
überlegen und zeitgemäßer zu empfehlen. Vielmehr stehen zwei Gesichtspunkte im Vordergrund. Erstens ist musikgeschichtlich auch innerhalb
Europas eine nationale Perspektive alles andere als selbstverständlich. In der
gesamten europäischen Neuzeit ist keine der Künste ähnlich transfertauglich
wie die Musik gewesen, keine andere Kategorie von Künstlern mobiler als die
Musiker. Schon die erste aus den Quellen markant hervortretende Komponistenpersönlichkeit, Josquin des Prez (um 1450/55 – 1521), verbrachte nach
einem typischen Muster als gebürtiger Flame oder „Burgunder“ einen großen
Teil seines Berufslebens an italienischen Höfen. Die Idee „nationaler“ Musik
wurde selbst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als man sie vielfach
propagierte, niemals wirklich dominant. Schon um 1800 hatte der Göttinger
Musikhistoriker Johann Nikolaus Forkel (1749 – 1818) den Plan aufgegeben,
eine Geschichte allein der deutschen Musik zu schreiben. „Der Antheil,“ so
Forkel, „den die Deutschen von den frühesten Jahrhunderten an, an der
Entwickelung der neuen Europäischen Musik-Art überhaupt genommen
haben, hat ihre Specialgeschichte so sehr mit der allgemeinen verwebt“, dass
der nationale Strang kaum zu isolieren gewesen wäre.14 Allerdings ist es bis
heute eine Eigenart insbesondere kleiner oder junger Nationen, Stolz auf
international prominente Komponisten des eigenen Landes zu entwickeln und
zu pflegen. Eine solche Rolle spielen Jean Sibelius (1865 – 1957) für Finnland,
Carl Nielsen (1865 – 1931) für Dänemark, Carlos Chvez Ramrez (1899 – 1978)
für Mexiko oder Arvo Pärt (geb. 1935) für Estland. Musik prägt, wie Theodor
W. Adorno sagt, „die Antinomien des nationalen Prinzips in sich aus“.15 Sie ist
eine universale Sprache und ebnet dennoch Unterschiede nicht ein.16
Zweitens sollen die Grenzen einer globalhistorischen Sicht ausgelotet werden.
Die berechtigte Aufforderung, Europa zu „provinzialisieren“, kann nicht a
priori eine genaue Einschätzung der jeweiligen empirischen Chancen für eine
solche Dezentrierung Europas ersetzen. So wird man aus globalhistorischer
Sicht den Anspruch der europäischen Kunstmusik, sie sei eine kulturelle
Jungfrauengeburt und verdanke anderen Zivilisationen wenig, mit Misstrauen
betrachten oder gar unter Ideologieverdacht stellen. Was ist europäische
Musik und als wie autonom muss sie gelten? Diese Frage soll am Anfang der
folgenden Kartierung des Feldes stehen.
14 Johann Nikolaus Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, 2 Bde., Leipzig 1788 – 1801,
hier Bd. 2, S. iii. Die Geschichte der deutschen Musik hätte den 3. Band dieses Werkes
bilden sollen.
15 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen,
Reinbek 1968, S. 167.
16 Vgl. aber Reinhard Kopiez, Der Mythos von Musik als universell verständliche Sprache,
in: Claudia Bullerjahn u. Wolfgang Löffler (Hg.), Musikermythen. Alltagstheorien,
Legenden und Medieninszenierungen, Hildesheim 2004, S. 49 – 94.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
91
I. Weltgeschichten der Kunst und Weltgeschichten der Musik
Seit dem Erscheinen des ersten Bandes von Martin Bernals dreibändigem
Werk „Black Athena“ im Jahre 1987 erhitzen sich die Gemüter von Altertumswissenschaftlern über Bernals These, die Kultur des klassischen Hellas
verdanke dem Orient Entscheidendes, die Wissenschaften von der Antike
hätten jedoch seit der Zeit um 1800 diese nahöstlichen Ursprünge der
europäischen Tradition verdrängt und unterschlagen.17 Eine ähnliche, wenngleich gemäßigter formulierte Herausforderung hat 2008 der Kunsthistoriker
und Theoretiker der Bildwissenschaft Hans Belting in die Diskussion eingeführt.18 Belting schließt an jüngere Arbeiten von George Saliba und anderen
über arabische Einflüsse auf Vorstellungen der Renaissance von Wissenschaft
und Wissenschaftlichkeit an19 und entwickelt die These, dass die Perspektive,
ein seit der frühen italienischen Renaissance verwendetes künstlerisches
Mittel, ihre Existenz einer älteren mathematischen Theorie über Strahlen des
Sehens und die Geometrie des Lichts verdanke, die in muslimischen Ländern
entstanden war. Keineswegs behauptet Belting, die Araber hätten die Perspektive „erfunden“ und die Europäer hätten sie später kopiert. Er argumentiert subtiler, wenn er zeigt, wie Künstler und Denker in Italien eine an Bildern
gar nicht interessierte arabische Theorie des Sehens in eine Theorie des Bildes
verwandelten, die für ihre eigene künstlerische Praxis unmittelbar relevant
wurde. Belting interessiert sich nicht für Fragen der Priorität oder des
historischen „copyright“. Im Zentrum seiner Untersuchungen stehen Weisen
der Uminterpretation von Wissen im Prozess des Überquerens kultureller
Grenzen. Weder das europäische noch das arabische Wissen sind in Beltings
Sicht dem jeweils anderen überlegen. Auch wäre es unrichtig anzunehmen, die
17 Grundthese und wissenschaftsgeschichtliche Herleitung bei: Martin Bernal, Black
Athena. The Afroasiatic Roots of Classical Civilization, Bd. 1: The Fabrication of Ancient
Greece, 1785 – 1985, London 1987. Die anderen Bände, die der empirischen Beweisführung dienen, erschienen 1991 und 2006. Vgl. zur Debatte um Bernal Mary R. Lefkowitz,
Not Out of Africa. How Afrocentrism Became an Excuse to Teach Myth as History, New
York 1996; dies. (Hg.), Black Athena Revisited, Chapel Hill, NC 1996; dies., History
Lesson. A Race Odyssey, New Haven, CT 2008; David Chioni Moore (Hg.), Black Athena
Writes Back. Martin Bernal Responds to His Critics, Durham, NC 2001. Deutsche
Autoren haben wenig Interesse an dieser Debatte gezeigt, vgl. aber Jan Assmann,
Sentimental Journey zu den Wurzeln Europas. Zu Martin Bernals „Black Athena“, in:
Merkur 522. 1992, S. 921 – 931; Thomas A. Schmitz, Ex Africa lux? Black Athena and the
Debate About Afrocentrism in the US, in: Göttinger Forum für Altertumswissenschaften 2. 1999, S. 17 – 76.
18 Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München
2008.
19 Zusammenfassend George Saliba, Islamic Science and the Making of the European
Renaissance, Cambridge, MA 2007.
92
Jürgen Osterhammel
Gelehrten der Renaissance hätten die Einsichten ihrer arabischen Vorgänger
verfeinert und auf eine „höhere Entwicklungsstufe“ gehoben. Es war viel
einfacher : Sie bemächtigten sich einer Idee, die zu genau jenem Zeitpunkt auf
dem intellektuellen Markt bekannt wurde, als die Schwächung kirchlicher
Gedankenkontrolle neue Experimentierräume öffnete.
Es war nicht Hans Beltings Absicht, eine Weltgeschichte der Kunst zu
schreiben. Er begnügte sich damit, einen entscheidenden Moment in der
Kontaktgeschichte zwischen zwei unterschiedlichen, aber räumlich benachbarten Zivilisationen hervorzuheben. Es gibt aber mittlerweile solche Weltgeschichten der Kunst, und sie verdienen es, in der Historiographie des
„Globalen“ berücksichtigt zu werden.20 Nichts Vergleichbares existiert bisher
zur Musik. Im 18. Jahrhundert wurden einige Versuche unternommen,
„allgemeine Geschichten“ der Musik zu schreiben. In mehreren Fällen, allen
voran der dreibändigen „Storia della musica“ (1757 – 1781) des bei den
Zeitgenossen berühmten Bologneser Komponisten und Theoretikers Giovanni
Battista Martini (Padre Martini, 1706 – 1784), beruhten sie auf umfassender
Gelehrsamkeit nach den höchsten Ansprüchen der damaligen Epoche.21 Dass
sämtliche Werke des 18. Jahrhunderts sich auf den Okzident beschränkten,
kann man ihren Verfassern nicht vorwerfen. Gerade auf dem Gebiet der Musik
ließ das verfügbare Material die universalistisch und kosmopolitisch gesinnten
Autoren der Aufklärung im Stich. Nur sehr wenige Beispiele nichteuropäischer
Musik waren bis dahin in Notenschrift notiert und europäischen Kennern als
Manuskripte oder im Druck zugänglich gemacht worden; kaum ein Text
nichtwestlicher Musiktheorie lag in einer Übersetzung in eine der europäischen Sprachen vor.
Trotz solch enormer Schwierigkeiten fehlte es nicht an dem Willen, die
europäische Tradition zu „provinzialisieren“. Der große Musikologe Johann
Nikolaus Forkel, dessen Position als Musikdirektor der Universität Göttingen
ihn in engen Kontakt mit der Göttinger Schule von Welthistorikern wie Johann
Christoph Gatterer und August Ludwig Schlözer brachte, entwickelte ein
ehrgeiziges und weitsichtiges Programm von Studien, die weit über die
Untersuchung schriftlich fixierter Musik hinausgehen und die Betrachtung
20 Jeweils recht unterschiedlich konzipierte Werke, aber alle über den europäischen Kanon
hinausgehend: Hugh Honour u. John Fleming, A World History of Art, London 1982;
David Summers, Real Spaces. World Art History and the Rise of Western Modernism,
London 2003; Julian Bell, Mirror of the World. A New History of Art, London 2007; Elke
Linda Buchholz, Art. A World History, New York 2007; David Carrier, A World Art
History and Its Objects, University Park, PA 2008; Ben-Ami Scharfstein, Art Without
Borders. A Philosophical Exploration of Art and Humanity, Chicago 2009.
21 Christof Stadelmann, Art. Martini, Giovanni Battista, in: Ludwig Finscher (Hg.), Die
Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 29 Bde.,
Kassel 1994 – 20082 (fortan: MGG), Personenteil, Bd. 11 (2004), Sp. 1197 – 1202, bes. Sp.
1200.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
93
von schriftlosen Traditionen, von Gebräuchen und Musikinstrumenten
einschließen sollten.22 Forkel drang bis an die Grenzen des damals Denkbaren
vor und fand zu einer weitgehenden Relativierung eines eurozentrischen
Zugangs zur Geschichte der Musik:
Der Neugrieche, der Türke, der Perser, der Chinese, der amerikanische Wilde, dessen
Tonleitern, woraus er seine Melodien bildet, von den unsrigen so sehr abweichen, daß wir
nicht im Stande sind, nur die mindeste Ordnung und Schönheit darin zu finden, hat dennoch
eine schöne Musik, weil sie ihm gefällt und weil er die nämliche Unordnung, die wir der
seinigen vorwerfen, auch an der unsrigen gewahr zu werden glaubt.23
Gleichzeitig äußerte sich Charles Burney, der maßgebende englische Musikhistoriker, in ganz ähnlicher Weise: „we hear of no people, however wild and
savage in other particulars, who have not music of some kind or other, with
which we may suppose them to be greatly delighted“.24 Toleranz in
Geschmacksdingen bedeutete nicht, die Musik der „Wilden“ und diejenige
Georg Friedrich Händels auf dieselbe Stufe zu stellen, doch wurde Nichteuropäisches nicht grundsätzlich aus der Sphäre legitimer Klangproduktion
verbannt und dem Bereich des vorästhetischen Lärms zugeschlagen.
Ähnlich wie in der allgemeinen Historiographie, traten solche universalistischen Ansätze nach dem Ende der Aufklärung auch in der Musikgeschichtsschreibung in den Hintergrund. Eine „abendländische“ Denkweise gewann die
Oberhand. Zur allgemeinen Ansicht wurde es nun, allein in Europa habe die
Musik den Zustand der Perfektion erreicht. Europa sei nicht nur eine
künstlerisch kreative Zivilisation unter mehreren, sondern die maßstäbliche
und universal gültige Musikzivilisation schlechthin. Nichts sei mit einer Kultur
vergleichbar, die Bach und Händel, Mozart und Beethoven hervorgebracht
habe. An die Stelle zumindest universal gemeinter Geschichten der Musik
traten, wie bei dem kenntnisreichen Wiener Hofrat und Amateurmusiker
Raphael Georg Kiesewetter (1773 – 1850), Geschichten der „europäischabendländischen Musik“, die oft evolutionistisch als Fortschrittsgeschichten
angelegt waren, manchmal unterlegt mit der Furcht, die lang andauernde Blüte
der Musik könnte in Verfall übergehen.25 So schilderte Kiesewetter in einem
konzisen Band „die allmählige stufenweise Entwickelung der Tonkunst bis auf
22 Vgl. über die ästhetischen und historiographischen Anschauungen Forkels immer noch
Vincent H. Duckles, Johann Nicolaus Forkel. The Beginning of Music Historiography,
in: Eighteenth-Century Studies 1. 1968, S. 277 – 290; Oliver Wiener, Apolls musikalische
Reisen. Zum Verhältnis von System, Text und Narration in Johann Nicolaus Forkels
„Allgemeiner Geschichte der Musik“, 1788 – 1801, Mainz 2009.
23 Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, Bd. 1 (1788), S. xiv.
24 Charles Burney, General History of Music from the Earliest Ages to the Present Period
[1789], Bd. 1, hg. v. Frank Mercer, New York 1935, S. 11.
25 Zum Beispiel Joseph Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik in übersichtlicher
Darstellung, Leipzig 1863, S. 107 ff.: Epigonentum nach Beethoven und Schubert.
94
Jürgen Osterhammel
unsre Zeit“.26 Von „Kunst“ konnte nur im Okzident die Rede sein, denn, wie es
der in ganz Europa einflussreiche belgische Musikologe FranÅois-Joseph Ftis
(1784 – 1871) ausdrückte, es sei von dem Grundsatz auszugehen „qu’en dehors
des peuples de la race blanche il n’y a pas de musique leve la dignit d’art et
que les chants instinctifs des autres races n’ont pas contribu sa cration“.27
Solche streng hierarchisierenden Aussagen in der Sprache einer selbstverständlich werdenden rassischen Klassifikation der Menschheit – Ftis spricht
auch gern von „la race arienne“ – müssen allerdings neben Ftis’ genuinem
Interesse an nichteuropäischer Musik und seiner tiefen Kenntnis davon
gesehen werden; sein Werk enthält lange Kapitel über die Musik der Araber,
Iraner, Türken und Inder. Damit stand Ftis nicht allein. Seit Guillaume-Andr
Villoteaus (1759 – 1839) Beiträgen zu der vielbändigen „Description de
l’
gypte“, in der die wissenschaftlichen Erträge von Bonapartes kurzer
Besetzung Ägyptens (1798 – 1801) ausgewertet wurden, sammelten französische, englische, deutsche und österreichische Gelehrte umfassendes Material
besonders zur Musik in der muslimischen Welt. Daher wäre es ungerecht, das
19. Jahrhundert im Blick auf die Musikhistoriographie pauschal als ein
dunkles Zeitalter eines hochmütigen „Orientalismus“ abzutun, auch wenn
nichteuropäische Musik niemals als vollkommen gleichwertig und stets nur als
Randphänomen oder Vorstufe der „eigentlichen“ Musikgeschichte betrachtet
wurde.28 Wenn man an die Epoche nicht die heutigen Maßstäbe einer
Verpönung kultureller Hierarchien anlegt, dann kann man die Pionierarbeiten
von Gelehrten wie Ftis, Kiesewetter und dessen in Prag und Wien tätigem
Neffen August Wilhelm Ambros (1816 – 1876), einem Spezialisten für türkische und arabische Musik, neben die bekannteren Errungenschaften der
Geisteswissenschaften in jener Zeit stellen.29
26 Raphael Georg Kiesewetter, Geschichte der europäisch-abendländischen Musik [1846],
Darmstadt 2010, S. 11. Zum Autor vgl. Herfrid Kier, Raphael Georg Kiesewetter,
Ahnherr der modernen Musikwissenschaft, in: ebd., S. v-xx.
27 FranÅois-Joseph Ftis, Histoire gnrale de la musique depuis les temps les plus anciens
jusqu’ nos jours, Bd. 1, Paris 1869, S. 6. Zu Ftis vgl. Robert Wangerme, Art. Ftis,
FranÅois-Joseph, in: MGG, Personenteil, Bd. 6 (2001), Sp. 1087 – 1095.
28 August Wilhelm Ambros, Geschichte der Musik, 4 Bde., Breslau 1862 – 78, hier Bd. 1, S.
xvii; diese eigentliche Geschichte beginnt für Ambros mit den Griechen.
29 Raphael Georg Kiesewetter, Die Musik der Araber nach Originalquellen dargestellt,
Leipzig 1842. Dazu Philip V. Bohlman, R. G. Kiesewetter’s „Die Musik der Araber“. A
Pioneering Ethnomusicological Study of Arabic Writings on Music, in: Asiatic Music 18.
1986, S. 164 – 196. Ambros, Geschichte der Musik, behandelt erstmals in einer
allgemeinen Musikgeschichte auch China: Bd. 1, S. 20 – 41. Vgl. insgesamt Philip V.
Bohlman, The European Discovery of Music in the Islamic World and the „NonWestern“ in Nineteenth-Century Music History, in: Journal of Musicology 5. 1987,
S. 147 – 163.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
95
Dennoch erweisen sich Versuche, aus der Selbstbespiegelung der okzidentalen
Hochkultur auszubrechen, als wenig repräsentative Außenseiterpositionen.
Weit in das 20. Jahrhundert hinein wurden im Geiste des Hegelianismus
nichteuropäischer Musik sowohl Geschichtlichkeit als auch ästhetischer Wert
abgesprochen. Noch 1968 konzentrierte eine umfangreiche „Weltgeschichte
der Musik“ sämtliche „außereuropäische Musik“ in einem kurzen Einleitungskapitel von 36 Seiten.30 1979 blieb in der keineswegs kurzgefassten
„Concise Oxford History of Music“ so gut wie kein Raum für eine Behandlung
außerokzidentaler Musikpraxis.31 Erst in den achtziger Jahren berücksichtigte
ein deutsches Standardwerk außereuropäische Musik, allerdings vom Durchgang durch die abendländische Musikgeschichte säuberlich geschieden.32
Unter den Autoren, die sich diesem eurozentrischen Mainstream jedenfalls
teilweise verweigerten, muss an erster Stelle Curt Sachs (1881 – 1959) erwähnt
werden, ein deutscher Emigrant, der nach mehreren Jahren in Paris 1937 in
New York Zuflucht fand und im Jahre 1943 eine allgemeine Geschichte der
Musik veröffentlichte, die lange Kapitel über nichteuropäische Zivilisationen
einschließt und sich von dem üblichen Glauben an die Überlegenheit und
Perfektion der westlichen Musik bemerkenswert weit entfernt.33 Sachs war eine
Weltautorität der Musikinstrumentenkunde, in die er nichteuropäische
Objekte großzügig einbezog, und er gehört zu den Klassikern der Ethnomusikologie.34 Seine wissenschaftshistorische Bedeutung wird dadurch nicht
geschmälert, dass er sich stark auf die Kulturkreislehre bezog, einen in der
deutschen und österreichischen Völkerkunde des frühen 20. Jahrhunderts
einflussreichen Ansatz, der auf der holistischen Annahme säuberlich abgegrenzter und klar definierbarer Zivilisationsräume beruht.35 Curt Sachs
gehörte zu den ersten namhaften Musikwissenschaftlern, die die europäische
Musiksprache der Polyphonie und der Dur-Moll-Tonalität nicht teleologisch
als den zwangsläufigen Höhe- und Endpunkt der universalen Kulturentwicklung betrachteten, sondern als einen Sonderweg, dessen Entstehung und
Entwicklung selbst ein faszinierendes historisches Problem darstellt. Sachs
würdigte die beispiellose Kreativität der europäischen Tradition, ohne nicht30 Kurt Honolka u. a., Knaurs Weltgeschichte der Musik, München 1968.
31 Gerald Abraham, The Concise Oxford History of Music, London 1979.
32 Hans Oesch, Außereuropäische Musik, 2 Bde., Laaber 1984/87 (= Neues Handbuch der
Musikwissenschaft. hg. v. Carl Dahlhaus, fortgef. v. Hermann Danuser, Bde. 8 – 9).
33 Andreas Eichhorn, Art. Sachs, Curt, in: MGG, Personenteil, Bd. 14 (2005), Sp. 767 – 770;
Curt Sachs, The Rise of Music in the Ancient World East and West, New York 1943.
34 Vgl. vor allem sein letztes Werk: Curt Sachs, The Wellspring of Music. An Introduction
to Ethnomusicology, hg. v. Jaap Kunst, Den Haag 1962.
35 Vgl. Werner Petermann, Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004, S. 583 – 593.
Über Kulturkreisvorstellungen in der Musikethnologie vgl. Bruno Nettl, The Study of
Ethnomusicology. Thirty-one Issues and Concepts, Urbana, IL 20052, S. 320 – 338, bes.
S. 323 f.
96
Jürgen Osterhammel
europäische Musiksprachen und Praktiken des Musizierens abzuwerten und
zu Verlierern der Musikgeschichte zu erklären.
Ein anderer Musikwissenschaftler, der über den europäischen Horizont
hinausblickte, war Walter Wiora, der an den Universitäten Kiel und Saarbrücken lehrte, einer der originellsten Musikologen seiner Zeit. Sein Buch „Die
vier Weltalter der Musik“ (1961) umriss eine universale Musikgeschichte als
Evolution durch vier Stadien.36 Lange bevor der Terminus „global“ Verbreitung fand, nannte Wiora sein viertes Stadium das „Weltalter der Technik und
globalen Industriekultur“.37 Er ging in seinem schmalen Band allerdings
niemals über allgemeine Bemerkungen hinaus und beließ es bei der Vision
einer künftigen Weltgeschichte der Musik, ohne sie selbst auszuarbeiten.
Dennoch stand er mit seiner offenen Denkweise im Kontrast zu der
abendländischen Selbstbeschränkung, die in der musikwissenschaftlichen
Zunft bis in die 1960er Jahre vorherrschte, nicht selten auch noch darüber
hinaus. Weltgeschichten der Musik sind bis heute nicht geschrieben worden,
und Fragen der Prägung der europäischen Musikkultur durch Einflüsse von
außen, wie sie in Analogie zu den Arbeiten Martin Bernals und insbesondere
Hans Beltings gestellt werden könnten, fehlen weitgehend in der musikhistorischen Literatur.
II. Musikkulturen und die Besonderheiten Europas
Die globalgeschichtlich unabweisbare Frage, was denn jene „europäische“,
„abendländische“ oder „westliche“ Musik überhaupt sei,38 deren stufenweise
Entfaltung durch die Stilepochen man internalistisch beschrieb, ließ sich
solange nicht klären, wie alles „Fremde“ zur Vorgeschichte der „eigentlichen“
Musik erklärt wurde. Sofern sie die vergleichende Methode in den Mittelpunkt
stellte, kam erst die in den 1890er Jahren entstehende Musikethnologie einer
Antwort näher, die weder ästhetisch noch geschichtsphilosophisch grundiert
war. Zu ihren frühesten außerfachlichen Rezipienten zählte Max Weber
(1864 – 1920). In einer kurzen Schrift, die im wesentlichen 1912 entstand, dann
aber unvollendet beiseite gelegt und postum als Fragment veröffentlicht
36 Walter Wiora, Die vier Weltalter der Musik. Ein universalhistorischer Entwurf, München
1988.
37 Ebd., S. 139 - 178.
38 Während die englischsprachige Literatur in kulturvergleichenden Zusammenhängen
gerne von „Western music“ spricht, soll in diesem Aufsatz der Ausdruck „europäische
Musik“ bevorzugt werden. Er bezieht sich auf den gesamten musikalischen Okzident
einschließlich Russlands und des Transfers europäischer Musik in die Neue Welt. Von
einem eigenen nordamerikanischen Musik-„Dialekt“ in der „klassischen“ Kunstmusik
kann erst im 20. Jahrhundert die Rede sein, und auch dieser blieb in den Bahnen der
europäischen Tradition.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
97
wurde, entwarf er eine Theorie der musikalischen Rationalisierung.39 Weber,
dessen Verständnis der technischen Seite der Musik die eines durchschnittlichen Bildungsbürgers seiner Zeit deutlich überstieg, begriff Musik als die
vielleicht deutlichste Artikulation des allgemeinen Entwicklungsprozesses der
modernen Welt.40 Für ihn war Musik ein kultureller Komplex, der mindestens
vier verschiedene Elemente umfasste: erstens die materiale Logik der
Tonproduktion und ihre Systematisierung in Form einer tonalen Musiksprache; zweitens die Anwendung dieser Sprache im kreativen Prozess des
Erfindens und Komponierens individueller musikalischer Werke; drittens die
diesen Objektivationen durch ein musizierendes und zuhörendes Publikum,
dessen „Geschmack“ einer eigenen Geschichte unterlag, zugeschriebenen
Bedeutungen; viertens die institutionelle Organisation des musikalischen
Lebens innerhalb spezifischer Gesellschaften.
Dem Komparatisten Max Weber ging es vor allem darum, die Singularität des
modernen Westens so scharf wie möglich zu fassen. Er tat dies in einer bewusst
werturteilsfreien Erkenntnishaltung, vermied also jegliche hegelianische
Konstruktion der Geschichte, die in einer Apotheose der perfekten europäischen Kunstmusik gipfeln würde.41 Wertfreiheit hielt den zeittypisch unvermeidlichen Eurozentrismus nahe an seinem im Zeitalter des Hochimperialismus möglichen Minimum. Für Weber bot die Entwicklung des musikalischen
Materials hin zu einem Tonsystem von Dur- und Molltonarten, technisch
fundiert durch die akustischen Verhältnisse einer „temperierten“ Tonskala,
wie sie im späten 17. Jahrhundert festgelegt worden war, ein ausgezeichnetes
Beispiel für „Rationalisierung“ in der Neuzeit, vielleicht das beste überhaupt.
Diese intrinsische Rationalisierung war begleitet von einem Wandel in der
Konstruktion von Musikinstrumenten (mit dem Klavier als der mechanischen
Verkörperung der temperierten Skala), in der Notation, in künstlerischen
Verfahrensweisen wie dem polyphonen Tonsatz, usw. All diese Entwicklungen
zusammengenommen bildeten den einzigartigen kulturellen Komplex europäischer Kunstmusik in der Neuzeit, wie sie musikgeschichtlich im 16. Jahrhundert begann. Als ein solcher charakteristisch ausgeprägter kultureller
39 Max Weber, Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, München 1921.
40 Max Weber Gesamtausgabe, Bd. I/14. Das Folgende nach Christoph Braun u. Ludwig
Finscher, Einleitung, in: ebd., S. 1 – 126; Christoph Braun, Max Webers „Musiksoziologie“, Laaber 1992; vgl. auch Ronald Kurt, Indien und Europa. Ein kultur- und
musiksoziologischer Verstehensversuch, Bielefeld 2009, S. 22 – 32. Wenig überzeugend
ist die Denunziation von Webers Seriosität bei James Wierzbicki, Max Weber and
Musicology. Dancing on Shaky Foundations, in: Musical Quarterly 93. 2010,
S. 262 – 296; treffender Leon Botstein, Max Weber and Music History, in: ebd.,
S. 183 – 191.
41 Über Hegel und die Musik vgl. Herbert Schnädelbach, Hegel, in: Stefan Lorenz Sorgner
u. Oliver Fürbeth (Hg.), Musik in der deutschen Philosophie. Eine Einführung, Stuttgart
2003, S. 55 – 76.
98
Jürgen Osterhammel
Komplex unterschied sich die europäische Musik unverwechselbar von jeder
anderen in der Welt.
Auch Max Weber blieb so weit dem Denkhorizont seiner Zeit verhaftet, dass
ihm einige Bemerkungen über den „primitiven“ Stand musikalischer Rationalisierung in nicht-literaten Zivilisationen und über die „Irrationalitäten“ in
einigen Richtungen nichteuropäischer Musik unterliefen, aber er war bestens
vertraut mit den Forschungen der ersten Generation im Felde tätiger
Musikethnologen. Er sah japanische, indische oder indonesische Musik als
respektable „Kulturmusiken“ und zeigte einen Grad an ästhetischer Offenheit
für solche Musik, der unter Zeitgenossen mit einem ähnlichen sozialen und
kulturellen Hintergrund ungewöhnlich und vielleicht seit Johann Nikolaus
Forkel in der Musiktheorie beispiellos war. Wenn Weber die grundlegenden
Merkmale „westlicher Musik“ definierte, so verfiel er nicht in einen ideologischen Idealismus. Wie Weber in Übereinstimmung mit Akustikern und
Musikwissenschaftlern seiner Zeit zeigen konnte, ist „westliche Musik“ kein
Phantasma eines kulturell autistischen Europa und keine kontingente Konstruktion, sondern ein mit reichem Verwendungspotenzial ausgestatteter
Code kultureller Artikulation, der in den wissenschaftlich beobachtbaren
Tatsachen der physikalischen Akustik eine materiale Grundlage besitzt.
Dies ist jedoch nicht die ganze Geschichte. Dass die sogenannte „klassische“
Musik, verstanden als ein Kanon „großer Werke“ und als eine olympische
Versammlung komponierender Genies, auch ein Resultat von Zuschreibung ist
und ihre eigene Geschichte von Wertung und Prestige besitzt, war bereits für
Max Weber selbstverständlich. Dennoch verflüchtigt sich die Idee europäischer Musik keineswegs unter einem dekonstruktionistischen und postkolonialen Zugriff. Okzidentale Musik ist nicht bloß das Produkt semantischer
Operationen, sondern eine gleichermaßen physikalische wie historische
Tatsache. Die meisten Musikwissenschaftler dürften heute ihrem amerikanischen Kollegen Richard Taruskin beipflichten, wenn er feststellt „that the
literate tradition of Western music is coherent at least insofar as it has a
completed shape“; diese Tradition sei eine historische Tatsache, weil sie einen
identifizierbaren und erklärbaren Anfang und, so Taruskins Erwartung, auch
ein absehbares Ende besitze.42 Ein solcher kultureller Komplex „westliche
Musik“ ist in den Augen externer Beobachter klar identifizierbar gewesen.
Überall wo Europäer im Zuge ihrer siedelnden und erobernden Expansion mit
Nichteuropäern in Kontakt kamen, wurde ihr Musizieren als charakteristisch,
eigenartig und möglicherweise „fremd“ gesehen. Sein Klangcharakter war
hörbar, die Praktiken des Musikmachens waren sichtbar für alle Ohren- und
Augenzeugen. Man erkannte die Europäer an ihrer Sprache, ihrer Religion,
ihren Gebräuchen und auch an ihrer Musik.
42 Richard Taruskin, The Oxford History of Western Music, Oxford 2005, Bd. 1, S. xv.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
99
Dieses Argument lässt sich verallgemeinern: Bis hin zum jüngst angebrochenen Zeitalter der „Weltmusik“, der cross-overs, der Hybriditäten, Mischungen,
des ästhetischen Kosmopolitanismus und einer global operierenden Musikindustrie koexistierten in der Welt verschiedene Musikkulturen, die sich
gegenseitig als unterschiedlich empfanden und die in eine Vielzahl von
Beziehungen zueinander traten. Diese Musikkulturen, etwa die europäische
und die japanische, lassen sich nicht auf ein jeweils klar benennbares „Wesen“
reduzieren. Sie variieren vielmehr entlang einer großen Anzahl unterschiedlicher Parameter :
1. Systeme der Harmonie und Tonalität, rhythmische Möglichkeiten, Existenz
und Grad der Ausbildung von Polyphonie;
2. Unterscheidung unterschiedlicher Formtypen und Genres und ihrer
hierarchisierten Bewertung in gesellschaftlicher wie ästhetischer Hinsicht;
relative Wertschätzung von Vokal- und Instrumentalmusik, Formen des
Tanzes und ihr Verhältnis zur Musik;
3. charakteristische Musikinstrumente, zugehörige Spieltechniken und Möglichkeiten des Arrangements verschiedener Instrumente zu Ensembles;
Gesangsstile und Gesangstechniken;
4. Abgrenzung und Interaktion zwischen religiös-geistlichem und säkularprofanem Musizieren;
5. Existenz einer (geschriebenen) musikalischen Theorie und ihr Verhältnis
zu Praktiken des Komponierens und Aufführens;
6. Ausprägungsgrad, Art und Akkuratheit von Notenschrift und, als unmittelbare Konsequenz daraus, Vorkehrungen für die Speicherung, Erhaltung
und materielle Tradierung verschriftlichter Musik; Verhältnis von geschriebener Musik und textungebundener Improvisation;
7. soziale Anlässe für unterschiedliche Arten des Musikmachens; Herausbildung professioneller Musikerrollen und (evtl.) ihr Verhältnis zum „Amateur“; Status von unterschiedlichen Gruppen von musikalischen Praktikern
in der Gesellschaft; Geschlechterrollen und ihre Verbindung zu spezifischen musikalischen Praktiken unter besonderer Berücksichtigung des
Tanzes;
8. generationelle Weitergabe musikalischen Wissens, Arten des Lehrens und
Lernens von Musik und die dazugehörigen Institutionen.
Jeder einzelne dieser Parameter muss als historisch betrachtet werden. Allein
schon ein kurzer Blick auf die europäische Musikgeschichte der letzten vier
Jahrhunderte zeigt, dass es in jeder der genannten Hinsichten große Veränderungen gab; Ähnliches war in asiatischen oder afrikanischen Traditionen
der Fall. Dennoch ist es möglich, unterschiedliche Musikkulturen nach
solchen Kriterien zu vergleichen und zu Kartographierungen und Typologien
zu gelangen: eine wichtige Aufgabe der Musikethnologie, also des komparativen Studiums der Musik von einer anthropologischen Warte aus. Jeder
Vergleich dieser Art unterstreicht die deutliche Besonderheit des kulturellen
100
Jürgen Osterhammel
Komplexes der europäischen Musik, wie er sich, auf mittelalterlichen Grundlagen aufbauend, im letzten halben Jahrtausend entwickelt hat.
In welchem Ausmaß trugen nichteuropäische Traditionen zur Herausbildung
europäischer Musik bei? Da nichtwestliche Einflüsse auf den Hauptstrom der
europäischen Musik zwischen Monteverdi und Debussy kaum nachweisbar
sind, muss ein prägender Einfluss in früheren Epochen vermutet werden, am
ehesten in der formativen Phase der europäischen Musik während des
Mittelalters. Weil es zu dieser Zeit allein schon physisch keine Transmissionswege musikalischen Wissens von China, Japan, Indonesien, Indien,
Amerika oder dem südlichen Afrika nach Europa gab, ist die arabische
Musik die einzige Kandidatin für eine tiefergehende Anregung von außen. Seit
dem 10. Jahrhundert zeigten arabische Gelehrte, mit dem Erbe der Griechen
eng vertraut, ein großes Interesse an musikalischer Theorie. Im Sizilien der
Normannenherrschaft (seit den 1160er Jahren und während des Aufenthalts
von Kaiser Friedrich II. auf der Insel, ca. 1220 – 1250) und – noch wichtiger – in
Spanien, also al-Andalus, waren europäisch ausgebildete Musiker anhaltenden
und intensiven Erfahrungen mit Musik aus dem muslimischen Orient
ausgesetzt. Vor allem der Süden Spaniens, wo die jüdische Kultur als ein
drittes wichtiges Element hinzu kam, wurde zu einem Labor von ästhetischem
Synkretismus und kultureller Befruchtung, allerdings mit dem Vorrücken der
christlichen Reconquista zunehmend in die Defensive gedrängt.
Die Frage der Bedeutung arabischer Musiktheorie und arabischer musikalischer Praxis bildet eine enge Parallele zu der von Hans Belting studierten
Rezeption optischen Wissens aus der muslimischen gelehrten Kultur. Sie lässt
sich nur von Fachleuten für mittelalterliche Musikgeschichte diskutieren und
vielleicht entscheiden, muss aber für den vorliegenden Zusammenhang in
ihrer systematischen Bedeutung betont werden. Denn es ist von größter
Signifikanz für das Selbst- wie für das Fremdverständnis Europas, ob die
europäische Kunstmusik der Neuzeit das Ergebnis im Wesentlichen autonomer kultureller Produktion war oder ob ihre Entstehung aus einem multikulturellen, nach mittelalterlichen Verhältnissen geradezu „globalen“ Interaktionszusammenhang zu erklären ist. Sollte die zweite These zutreffen, dann
wäre, analog zu Martin Bernals Kritik an einer unliebsame Fremdspuren
verwischenden Altertumskunde, die Vorstellung einer eigenständigen europäischen Musikentwicklung das Ergebnis einer kritikwürdigen späteren
Ideologisierung.
Es scheint indes, als würden beim jetzigen Stand der Forschung die Belege für
einen arabisch-islamischen Beitrag zur Herausbildung der europäischen
Kunstmusik nicht ausreichen, um eine solche revisionistische These zu
stützen. Die Frage der Bedeutung arabischer Musiktheorie und Musikpraxis
für die Entstehung der europäischen Musik hat Gelehrte schon lange
beschäftigt. 1925 veröffentlichte der britische Musikwissenschaftler und
Arabist Henry George Farmer (1882 – 1965) seine Abhandlung „The Arabian
Influence on Musical Theory“, die zur am meisten beachteten Formulierung
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
101
der Einflussthese wurde.43 Abgesehen vom Problem der Quellen und ihrer
Interpretation ist die Frage des arabischen Einflusses mit allen möglichen
politischen und ideologischen Tücken behaftet. Der Nachweis einer hinreichend umfangreichen Rezeption arabischer Einflüsse würde die lateinische
Christenheit, ganz im Sinne gewisser Bestrebungen in der heutigen Mediävistik, tiefer in die multikulturelle Welt des Mittelmeeres einbetten und
europäische Musik ihres herkömmlichen Anspruchs auf voraussetzungslose
Autogenesis berauben. Sollten indes die Araber mehr als Übermittler alten
griechischen Wissens denn als Schöpfer ihrer eigenen „mittelalterlichen
Modernität“ erscheinen, würde das Argument in eine andere Richtung
gewendet und könnte jenen Eurozentrismus eher noch stärken, den die
Anhänger der These von einer arabischen Prägung eigentlich bekämpfen
wollen. Die Debatte wird dadurch weiter kompliziert, dass manche Musikwissenschaftler auch heute noch die Musik des christlichen Mittelalters und
nichteuropäische Musik überhaupt als „primitive in a similar sense“ betrachten.44
Eine mögliche Antwort gibt der israelische Musikhistoriker Amnon Shiloah.45
Er warnt davor, eine zu enge und zu selbstverständliche Parallele zwischen den
bekannten arabischen Einflüssen auf Gebieten wie Medizin, Mathematik,
Physik, Astrologie und Philosophie auf der einen Seite und musikalischer
Transmission auf der anderen zu ziehen. Der musikalische Transfer beschränkte sich im Wesentlichen auf Musiktheorie und war selbst auf diesem
Gebiet Shiloah zufolge von relativ geringer Bedeutung. Die generelle kulturelle
Überlegenheit der Araber übersetzte sich nicht in tatsächliche Impulse auf
jedem einzelnen Feld der muslimisch-christlichen Begegnung. Selbst wenn
spezifische musikalische Elemente wie etwa bestimmte Instrumente oder
charakteristische Formen gesungener Verskunst unter besonderen lokalen
Bedingungen übernommen worden sein sollen (und selbst hier ist Shiloah
skeptisch), dann ist dies nicht so zu verstehen, als hätten zentrale Komponenten eines musikalischen Codes kulturelle Grenzen überschritten und einen
entscheidenden Einfluss auf Tonmaterial, Rhythmik und Kompositionsverfahren als dem Kern von Musik, verstanden als eine regelgeleitete Ausprägung
von Kunst, gewonnen. Folgt man Amnon Shiloah, dann gab es keine
musikalische Analogie zu dem „Beltingian moment“, den der Kunsthistoriker
auf dem Gebiet der visuellen Präsentation nachzuweisen vermochte. Einflüsse
43 Henry George Farmer, The Arabian Influence on Musical Theory, in: Journal of the
Royal Asiatic Society 1. 1925; ders., Historical Facts for the Arabian Musical Influence,
London 1930, und zahlreiche andere Arbeiten. Ein zweiter Begründer der Einflussthese
war der Spanier Julin Ribera. Vgl. mit kritischer Tendenz Eva R. Perkuhn, Die Theorien
zum arabischen Einfluss auf die europäische Musik des Mittelalters, Walldorf 1976.
44 Daniel Leech-Wilkinson, The Modern Invention of Medieval Music. Scholarship,
Ideology, Performance, Cambridge 2002, S. 66.
45 Amnon Shiloah, Art. Arabische Musik, in: MGG, Sachteil, Bd. 1 (1994), Sp. 753 f.
102
Jürgen Osterhammel
wie die Verwendung arabischer Muster in der spanischen Volksmusik oder
örtliche Übernahmen auf dem Balkan beschränkten sich zumeist auf die
Popularkultur und berührten selten die europäische great tradition.46 Bis zum
empirischen Beweis des Gegenteils wird man daher an einer „weberianischen“
Sonderwegsvermutung festhalten müssen: Die europäische Musik ist kein
Derivat externer Vorbildkulturen, und sie hat sich in ihrer formativen Periode
weniger für Impulse von außen empfänglich gezeigt als die bildende Kunst. Ihr
„Globalisierungsgehalt“ war vergleichsweise gering.
III. Exotismus
Sobald der kulturelle Komplex „Europäische Musik“ in der Renaissance
deutlich ausgeprägt und fest etabliert war – wie sehr öffnete sich dieser
Komplex in den folgenden Jahrhunderten gegenüber Einflüssen von außen?
Diese Frage wird zumeist unter dem Problemtitel des „Exotismus“ behandelt,
also der Evokation kultureller Bedeutungen, die sich von lokal akzeptierten
Normen grundlegend unterscheiden.47 Exotisierende Tendenzen findet man in
sämtlichen Künsten, in zahlreichen Musikkulturen und keineswegs nur über
große geographische Entfernungen hinweg. Im frühneuzeitlichen Europa zum
Beispiel war die kulturelle Kluft zwischen der Dorfgesellschaft und der
städtisch-höfischen Sphäre der Elitenkultur so tief, dass bereits ein ländliches
Bühnenbild in einer Oper, die für Pariser Bühnen geschrieben wurde, als ein
Fall von Exotismus angesehen werden kann.48
Eine wichtige Unterscheidung ist die zwischen der Verarbeitung exotischer
Stoffe auf der Theaterbühne und der Inkorporation fremden musikalischen
Materials in Partituren und Aufführungspraktiken. Nur der zweite Falltypus
ist für die Geschichte der Musik von erstrangiger Bedeutung.49 Beide Aspekte
46 David Wulstan, Boys, Women and Drunkards. Hispano-Mauresque Influences on
European Song? in: Dionisius A. Agius u. Richard Hitchcock (Hg.), The Arab Influence
in Medieval Europe, Reading 1994, S. 136 – 167; Donna A. Buchanan (Hg.), Balkan
Popular Culture and the Ottoman Ecumene. Music, Image and Regional Political
Discours, Lanham, MD 2007, zumeist über zeitgenössische Entwicklungen.
47 Vgl. als Überblick Klaus von Beyme, Die Faszination des Exotischen. Exotismus,
Rassismus und Sexismus in der Kunst, Paderborn 2008. Grundlegend zur Musik ist
Ralph P. Locke, Musical Exoticism. Images and Reflections, Cambridge 2009, der einen
sehr weit gefassten Begriff von „Exotismus“, einschließlich „exoticism without exotic
style“, bevorzugt.
48 Ralph P. Locke, Art. Exoticism, in: Stanley Sadie (Hg.), The New Grove Dictionary of
Music and Musicians, 29 Bde., London 20012, Bd. 8, S. 459 – 462, hier S. 459.
49 Peter Gradenwitz, Musik zwischen Orient und Okzident. Eine Kulturgeschichte der
Wechselbeziehungen, Wilhelmshaven 1977; Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, in: ders., Gesammelte Schriften in zehn Bänden, hg. v. Hermann Danuser, Bd. 5,
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
103
des Exotismus sind oft eng miteinander verwandt, doch müssen sie keineswegs zusammenfallen. Georg Friedrich Händels Oper „Tamerlano“ (1724) zum
Beispiel ist wie zahlreiche Stücke im barocken Sprechtheater auf einem
orientalischen Schauplatz angesiedelt, enthält aber keine Musik, die orientalisch klingt oder vom Komponisten als exotisches Ornament gemeint ist,
anders als später etwa Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“
(1782) mit seinen Zitaten türkischer Janitscharenmusik.50
Wie die meisten seiner Zeitgenossen dürfte Händel wenig von Musik
außerhalb Europas gewusst haben. Nichtwestliche Melodien, Harmonien,
Rhythmen und Instrumente gelangten nicht über eine allgemeine kulturelle
Annäherung nach Europa, sondern auf ganz spezifischen und in der frühen
Neuzeit verhältnismäßig engen Übermittlungswegen. Vor der Erfindung von
Apparaten zur technischen Schallaufzeichnung war es für die Bewohner
Europas extrem schwierig, die Musik der Anderen aus erster Hand kennenzulernen. Für lange Zeit beschränkten sich direkte akustische Eindrücke auf
türkische Janitscharenkapellen, die entweder von Kriegsgefangenen in osmanischen Militärlagern gehört oder als Teil der „Türkenmode“ an deutschen
oder auch polnischen Fürstenhöfen engagiert wurden; manchmal bestanden
sie auch aus Kriegsgefangenen.51 Die früheste nachgewiesene Darbietung
chinesischer Musik in Europa fand 1756 in London statt, blieb aber vereinzelt
und folgenlos.52 Vor 1838 scheinen keine indischen Musiker in Europa
aufgetreten zu sein.53 Authentische Darbietungen japanischer, vietnamesischer oder siamesischer Musik waren erst wesentlich später im Westen zu
vernehmen.
Ein zweiter Transmissionskanal, anfänglich der wichtigste, war das Studium
von Manuskripten. Hier stellte sich von Anfang an das Problem der Notation.54
Vor der Entschlüsselung nichteuropäischer Notationssysteme war Musik, die
nicht in europäischen Manieren notiert war, für europäische Musiker und
Musikgelehrte unverständlich; sie ließ sich nicht oder nur sehr schwer in
europäische Notationssysteme übersetzen. Wenn Missionare oder musikalische Amateure, die in Übersee lebten oder ferne Gegenden durchreisten, ihre
Höreindrücke in europäischer Notenschrift festhielten, beschränkte sich dies
50
51
52
53
54
Laaber 2003, S. 11 – 390, hier S. 294 – 302; Thomas Betzwieser u. Michael Stegemann,
Art. Exotismus, in: MGG, Sachteil, Bd. 3 (1995), Sp. 226 – 243.
Über Händel und den Orient vgl. Locke, Musical Exoticism, S. 89 – 97.
Edmund A. Bowles, The Impact of Turkish Military Bands on European Court Festivals
in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Early Music 34. 2006, S. 533 – 559; Ralf
Martin Jäger, Art. Janitscharenmusik, in: MGG, Sachteil, Bd. 4 (1996), Sp. 1316 – 1329.
David Clarke, An Encounter with Chinese Music in Mid-18th-Century London, in: Early
Music 38. 2010, S. 543 – 558, bes. S. 547 – 549.
Locke, Exoticism, S. 459.
Vgl. umfassend über die technischen Aspekte der Verschriftlichung von Musik: Elaine
Gould, Behind Bars. The Definitive Guide to Music Notation, London 2011.
104
Jürgen Osterhammel
lange auf einzelne und simple Melodien, während komplexere musikalische
Formen und vor allem kunstvolle Improvisationen überhaupt nicht erfasst
werden konnten. Viel nichteuropäisches Tonmaterial sperrte sich grundsätzlich gegen die Fixierung durch europäische Aufschreibetechniken. Sofern man
sie überhaupt anwenden konnte, führte dies zwangsläufig dazu, dass beim
Versuch, chinesische oder javanische Klänge zu notieren, das Original
europäisiert wurde.55 Die Disposition des europäischen Ohrs und die Formatierung der Niederschritt durch die „Software“ des europäischen Notationssystems bewirkten notwendig eine Harmonisierung und damit ästhetische
Glättung nichtwestlicher Musik.56 Selbst große Bewunderer asiatischer Musik
mussten bei dem Versuch versagen, dem heimischen Publikum einen getreuen
Eindruck von jener Musik zu vermitteln, die sie in den Kolonien oder auf
Reisen gehört hatten.
Dennoch blieben schriftliche Quellen ohne Alternative. Deshalb ließ sich zum
Beispiel viel von dem, was europäische Komponisten über chinesische Musik
wussten, bis weit in das 19. Jahrhundert hinein auf zwei Quellen zurückführen:
ein paar Melodien in der weit verbreiteten China-Enzyklopädie des Paters
Jean-Baptiste Du Halde von 1735 sowie das dünne Büchlein „Mmoire de la
musique des Chinois tant ancient que moderne“ (Beijing 1779, Paris 1780) des
gelehrten Jesuitenpaters Jean-Joseph Marie Amiot (1718 – 1793), außerdem die
Sammlung „Divertissements chinois“ (1779) desselben Autors, in der er mit
einer west-östlichen Mischform experimentierte, die darin bestand, chinesische Schriftzeichen in europäische Notenlinien einzufügen.57
Ein großer Aufschwung des Interesses an fremden Klängen lässt sich ab 1670 in
Frankreich beobachten, zunächst allerdings nur dort. Allein in Frankreich
setzten sich Musiktheoretiker mit fremder, zumeist nahöstlicher, Musik
55 Über musikalische Sinnbrechung durch Notation vgl. Gerry Farrell, Indian Music and
the West, Oxford 1997, S. 45 f. Zum Wechsel von Notationsweisen als Teil einer
staatlichen Verwestlichungsstrategie im Osmanischen Reich ab 1827 vgl. Ruhi Ayangil,
Western Notation in Turkish Music, in: Journal of the Royal Asiatic Society 18. 2008,
S. 401 – 447.
56 Eine gute Diskussion findet sich in Peter Revers, Das Fremde und das Vertraute. Studien
zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption, Stuttgart 1997,
S. 62 – 71.
57 Jean-Baptiste Du Halde, Description gographique, historique, chronologique, politique de l’Empire de la Chine et de la Tartarie chinoise, 4 Bde., Paris 1735; Peter Revers,
Jean-Joseph Marie Amiot in Beijing. Entdeckung und Erforschung chinesischer Musik
im 18. Jahrhundert, in: Christian Utz (Hg.), Musik und Globalisierung. Zwischen
kultureller Homogenisierung und kultureller Differenz, Saarbrücken 2007, S. 50 – 58.
Zum umgekehrten Vorgang, der frühen Rezeption europäischer Musik in China, vgl.
Wai Yee Lulu Chiu, The Function of Western Music in the Eighteenth-Century Chinese
Court, Diss. Chinese University of Hong Kong 2007, dort S. 154 ff. über Amiot und
andere westliche Musikexperten in Beijing.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
105
auseinander, und nur dort integrierten führende Komponisten exotisches
Material in einige ihrer Werke. Ein Höhepunkt dieser Tendenz wurde im Jahr
1735 mit Jean-Philippe Rameaus (1683 – 1764) opra-ballet „Les Indes galantes“ erreicht, das Türken, Perser, „les Incas du Prou“ und „les sauvages“ auf
die Bühne brachte und sie mit musikalischen Charakterisierungen versah, die
zu einem großen Teil auch dem heutigen Hörer noch einleuchten.58
Andere französische Komponisten bedienten denselben Geschmack. Seine
Verbreitung im frühen 18. Jahrhundert ist nicht leicht zu erklären, denn das
musikalische Exotikinteresse korrespondierte keineswegs exakt mit der
Geschichte des französischen Kolonialismus. Das französische Publikum
begeisterte sich eher für authentische oder erfundene Melodien aus dem nichtkolonialen Persien oder aus Spanisch-Amerika als für Sklavengesänge aus
Frankreichs eigenen westindischen Zuckerkolonien. In unterschiedlichen
Formen setzte sich dieser französische musikalische Exotismus während der
nächsten beiden Jahrhunderte fort. Dabei durchlief er, mit dem orienterfahrenen und -begeisterten Saint-Simonisten Flicien David (1810 – 1876) in den
vierziger Jahren neu ansetzend,59 eine Reihe von Stadien und Metamorphosen,
die ihn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Höhepunkt führten:
bei Claude Debussy (1862 – 1918) 1903 in „Pagodes“, im gleichen Jahr bei
Maurice Ravel (1875 – 1937) in „Shhrazade“ und – die finale Kulmination –
bei Olivier Messiaen (1908 – 1992) in seiner „Turangalla“-Symphonie
(1946 – 1948) und „Sept Ha Ka“ (1963). Die eigenen Kolonien waren für die
französischen Komponisten dabei von geringerer Bedeutung als etwa Ägypten
oder Ostasien. Der aufgeschlossenste und musikalisch geschickteste koloniale
Exotisierer war Camille Saint-Sans (1835 – 1921), der bei mehreren Reisen
und Aufenthalten in Nordafrika lokale Melodien und Harmonien gesammelt
hatte und sie in einigen seiner Werke zitierte und variierte („Suite algrienne“
op. 60, Klavierkonzert Nr. 5 F-dur op. 103).60
Nirgendwo sonst gab es eine ähnliche musikalische Obsession mit dem Orient,
allenfalls noch in Russland zwischen etwa 1870 und 1910, wo Komponisten wie
Milij Balakirev, Alexandr Borodin und Nikolaj Rimskij-Korsakov vor allem
Material aus den zentralasiatischen inneren Kolonien des Zarenreiches
aufgriffen.61 Die italienische Oper ließ zahlreiche Türken und andere Exoten
auftreten, doch nur wenige Komponisten gingen so weit wie Giuseppe Verdi,
der in „Aida“ (1871) in einigen Szenen orientalische Stimmungen schuf.
58 Siehe Thomas Betzwieser, Exotismus und „Türkenoper“ in der französischen Musik des
Ancien Rgimes. Studien zu einem ästhetischen Phänomen, Laaber 1993, S. 151 – 180.
59 Ralph P. Locke, Music, Musicians and the Saint-Simonians, Chicago 1986, S. 171 – 219.
60 Franzpeter Messmer, Musiker reisen. Vierzehn Kapitel aus der europäischen Kulturgeschichte, München 1992, S. 208 – 217.
61 Richard Taruskin, „Entoiling the Falconet“. Russian Musical Orientalism in Context, in:
Cambridge Opera Journal 4. 1992, S. 253 – 280; ders., Oxford History of Western Music,
Bd. 3, S. 392 – 405.
106
Jürgen Osterhammel
„Aida“ war für die Öffnung des Suez-Kanals im Jahre 1869 in Auftrag gegeben
worden, wurde aber erst zwei Jahre später in Kairo mit ägyptologischer
Beratung uraufgeführt. Bei der ersten Inszenierung der Oper an der Opra de
Paris sorgte der Komponist, abermals von Ägyptenkennern unterstützt,
persönlich dafür, dass das Bühnenbild eine „authentische“ Atmosphäre
vermittelte.62 In Ägypten selbst war eine Oberschicht, die sich kulturell viel
stärker nach Frankreich als nach Italien oder Großbritannien orientierte,
keineswegs nur an ägyptischen Sujets und Stimmungen interessiert. Das
musikdramatische Lieblingswerk des Khediven (Vizekönigs) Isma‘il
(reg. 1863 – 1879) war Jacques Offenbachs (1819 – 1880) vollkommen unorientalische Operette „La Belle Hlne“ (1864), von Franzosen auf Französisch
auf den Bühnen Ägyptens dargeboten.63
Verdi machte den Exotismus indes nicht zu seinem Markenzeichen: In seinen
anderen Werken findet man allenfalls die „Zigeuner“-Exotik von „Il Trovatore“
(1853).64 Giacomo Puccini (1858 – 1924) unterschied sich von anderen führenden italienischen Opernkomponisten darin, dass er tatsächlich orientalisches Material studierte und es für mehr als nur eine oberflächliche couleur
locale verwendete, insbesondere in seinem letzten Meisterwerk „Turandot“
(postum 1925). Turandot, die „chinesische“ Prinzessin, die der italienische
Dramatiker Graf Carlo Gozzi (1720 – 1806) in Europa populär gemacht hatte,
war einer der beliebtesten orientalischen Stoffe, seit Carl Maria von Weber
(1786 - 1826) ihn 1809 in der Bühnenmusik „Turandot“, op. 37, für sich
entdeckt hatte. Außer Puccinis und Ferruccio Busonis Gestaltung des Gegenstandes 1917 gab es im langen 19. Jahrhundert mindestens sechs andere
Turandot-Opern.65
62 Karen Henson, Exotisme et nationalit. Aida l’Opra de Paris, in: Herv Lacombe
(Hg.), L’opra en France et en Italie, 1791 – 1925. Une scne privilgie d’changes
littraires et musicaux, Paris 2000, S. 263 – 297, bes. S. 274 – 288; Ralph P. Locke, Aida
and Nine Readings of Empire, in: Roberta Montemorra Marvin (Hg.), Fashion and
Legacies of Nineteenth-Century Opera, Cambridge 2010, S. 152 – 175. Berühmt ist die
Kritik von Aida bei Edward W. Said, Culture and Imperialism, London 1993, S. 134 – 157;
dagegen argumentiert Paul Frandsen, Aida and Edward Said. Attitudes and Images of
Ancient Egypt and Egyptology (2000), http://web.archive.org/web/20010210224405/
www.ucl.ac.uk/archaeology/events/conferences/enco/Visual/Fransden.htm. Als Verteidigung Saids gegen seine radikalen Anhänger vgl. Jonathan D. Bellman, Musical Voyages
and Their Baggage. Orientalism in Music and Critical Musicology, in: Musical Quarterly
94. 2011, S. 417 – 438.
63 Alexander Flores, Offenbach in Arabien, in: Die Welt des Islams 48. 2008, S. 131 – 169,
hier S. 135.
64 Locke, Musical Exoticism, S. 154 – 160.
65 Kii-Ming Lo, „Turandot“ auf der Opernbühne, Frankfurt 1996; vgl. auch Peter W. Schatt,
Exotik in der Musik des 20. Jahrhunderts. Historisch-systematische Untersuchungen
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
107
Sehr wenig Exotisches lässt sich in der deutschen protestantischen Barockmusik finden; bei Johann Sebastian Bach (1685 – 1750), dem nahezu exakten
Zeitgenossen des französischen Orientalisierers Jean-Philippe Rameau, sucht
man es vergeblich. Allerdings: der bei Bach und vielen anderen Komponisten
des 17. und 18. Jahrhunderts beliebte Tanzrhythmus der Sarabande ist zuerst
in Mexiko belegt und mag auf indianische Vorbilder zurückgehen.66 Ebenso
marginal ist die Rolle des Exotischen in jener Tradition, welche die europäische
Musik seit dem späten 18. Jahrhundert dominierte und die in der ganzen Welt
als ihre charakteristischste Verkörperung angesehen wurde: dem österreichisch-deutschen „klassischen Stil“ mitsamt seinen Konsequenzen bis hin zu
Arnold Schönberg. Spuren finden sich bei Joseph Haydn (1732 – 1809), dessen
eigener Exotismus freilich eher eine „zigeunerische“ und später eine „schottische“ Einfärbung aufwies als eine orientalische,67 und bei Ludwig van
Beethoven (1770 – 1827) im Finale der Symphonie Nr. 9 („türkische“ Musik, T.
343 ff.).68 Franz Schubert (1797 – 1828) und Anton Bruckner (1824 – 1896) sind
exotikfrei; der „Orient“ des Wahlwieners Johannes Brahms (1833 – 1897) lag
innerhabsburgisch in Ungarn.
Die österreichisch-deutsche Tradition öffnete sich dem Osten viel zaghafter als
die französische. Die einzige Ausnahme von dieser Regel bilden wenige, aber
beim Publikum bis heute beliebte Werke von Wolfgang Amadeus Mozart: das
Rondo alla turca aus der Klaviersonate A-Dur KV 331, das Violinkonzert in ADur KV 219 sowie einige Nummern aus dem Singspiel „Die Entführung aus
dem Serail“ (1782). Dasjenige unter den Großwerken der österreichischdeutschen Tradition, das den höchsten Exotikgehalt aufweist, ist chronologisch eines ihrer letzten: Gustav Mahlers (1860 – 1911) symphonischer
Liederzyklus „Das Lied von der Erde“ (postum 1911), eine ausladende
Gestaltung chinesischer Gedichte, bei der der Komponist, ohne dass eine
bewusste Übernahme bewiesen werden kann, einen allgemeinen, vielleicht
zur Metamorphose einer ästhetischen Fiktion, München 1986, mit einem guten Kapitel
über Busoni, S. 53 – 60.
66 Timothy D. Taylor, Beyond Exoticism. Western Music and the World, Durham, NC 2007,
S. 23. Vgl. auch Rainer Gstrein, Art. Sarabande, in: MGG, Sachteil, Bd. 8 (1998),
Sp. 991 – 1002, hier Sp. 992.
67 Vgl. aber Nicholas Cook, Encountering the Other, Redefining the Self. Hindostannie
Airs, Haydn’s Folksong Setting and the „Common Practice“ Style, in: Martin Clayton u.
Bennett Zon (Hg.), Music and Orientalism in the British Empire, 1780s – 1940s.
Portrayal of the East, Aldershot 2007, S. 13 – 37.
68 Lawrence Kramer deutet dieses türkische Element als eine philhellenische, also
antitürkische Aussage: The Harem Threshhold. Turkish Music and Greek Love in
Beethoven’s „Ode to Joy“, in: ders., Critical Musicology and the Responsibility of
Response. Selected Essays, Aldershot 2006, S. 95 – 107, bes. S. 101 – 105.
108
Jürgen Osterhammel
durch musikethnologische Phonogramme gewonnenen Klangeindruck ostasiatischer Musik verarbeitete.69
Das wichtigste Jahr in der Geschichte des musikalischen Exotismus war 1889,
als in Paris die Exposition Universelle europäischen Hörern und Zuschauern
die erste Gelegenheit bot, an authentischen Aufführungen asiatischer Musik
teilzunehmen. Ein Publikum, das an die eleganten, aber doch oberflächlichen
Schilderungen orientalischer Menschen, Orte und Stimmungen durch Komponisten wie Camille Saint-Sans (auch in seiner Oper „Samson und Dalilah“),
Georges Bizet (1838 – 1875, insbesondere die Oper „Les pÞcheurs des perles“)
oder den dominierenden Opernschöpfer der Zeit, Jules Massenet (1842 – 1912,
insbesondere „Le roi de Lahore“), gewöhnt war, wurde nun plötzlich mit einem
Gamelan-Ensemble aus Java oder einer Operntruppe aus Vietnam konfrontiert. Diese Art von Realitätsschock sabotierte in der Wahrnehmung mancher
Hörer den offiziellen Zweck der Weltausstellung. Während sie als Bühne für die
Demonstration europäischer Überlegenheit auf allen erdenklichen Gebieten,
auch der Musik, gedacht war, führte die überraschende und verstörende
Erfahrung „roher“ Musik aus dem Osten zur Destabilisierung von Normen
und Erwartungen und öffnete neue ästhetische Horizonte, von denen aus
Zweifel am Solipsismus sogar der französischen Musikkultur möglich wurden.70
Vor allem indonesische Musik weckte überraschend positive, nicht selten
enthusiastische Reaktionen bei praktizierenden Musikern ebenso wie professionellen Musikkritikern.71 Der bekannteste Fall ist der von Claude Debussy,
der später drei Klavierstücke schrieb, in denen erstmalig in der europäischen
Musikliteratur die technische wie ästhetische Amalgamation unterschiedlicher musikalischer Codes gelang. Das Ergebnis waren nicht bloß – wie so oft in
der Vergangenheit – europäisierende Angleichungen des importierten Materials, sondern neue Klänge. Debussys Periode der Absorption fremder
Einflüsse dauerte allerdings nur wenige Jahre, von etwa 1903 bis 1910, eine
Zeit, in der sich der Komponist auch für spanischen Flamenco und amerikanischen Ragtime interessierte.72 Während seiner letzten Lebensjahre wandte
69 Peter Revers, Das Lied von der Erde, in: Bernd Sponheuer u. Wolfram Steinbeck (Hg.),
Mahler-Handbuch, Stuttgart 2010, S. 343 – 361, hier S. 346 f.
70 Annegret Fauser, Musical Encounters at the 1889 Paris World’s Fair, Rochester, NY 2005,
S. 145 u. S. 162 – 165.
71 Jürgen Arndt, Der Einfluß der javanischen Gamelan-Musik auf Kompositionen von
Claude Debussy, Frankfurt 1993, S. 49 – 69.
72 Ebd., S. 145 – 147. Antonn Dvořks (während seines Aufenthalts in den USA
1892 – 1895) und Ferruccio Busonis Studien über die Musik der Native Americans
und der schwarzen Amerikaner gehören ebenfalls in diesen Zusammenhang. Zu Dvořk
vgl. Ulrich Kurth, Aus der Neuen Welt. Untersuchungen zur Rezeption afro-amerikanischer Musik in europäischer Kunstmusik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts,
Göppingen 1982, S. 117 – 157; zu Busoni Regine Wild, Lieder der nordamerikanischen
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
109
sich Debussy wieder Europa zu und konzentrierte seine durch Krankheit
verminderten Kräfte auf den Versuch, die französische Kultur in einer Zeit, wie
er es sah, heraufziehender Barbarei zu bewahren. Debussys persönliche
Entwicklung steht symptomatisch für ein allgemeineres Muster : Insofern
europäische Komponisten Einflüsse von außerhalb der eigenen Klangwelt
aufnahmen, revolutionierte dies selten ihre gesamte künstlerische Identität.
Typisch war, dass sie nach einer exotisierenden Phase zu Interessen zurückkehrten, die dem europäischen Mainstream näher lagen, ohne notwendigerweise konservativ zu sein. Um 1930 war das Interesse westlicher Musiker an
Exotisierung gegenüber der Jahrhundertwende deutlich zurückgegangen.
IV. Musik und europäische Expansion
Das Konzept eines „Western impact“ wird heute in der globalhistorischen
Literatur vermieden, vor allem deshalb, weil es Nichteuropäern nur die Chance
zu passivem „response“ zu lassen scheint. Dennoch eignet es sich weiterhin
dafür, die Grundstrukturen einer Weltgeschichte der Musik zu erfassen.73 Die
Idee eines „Western impact“ kombiniert zwei unterschiedliche Aspekte
musikalischer Expansion: Auf der einen Seite näherten sich Europäer dem
Rest der Welt mit Musik als Teil ihres kulturellen Gepäcks und ihres
Instrumentariums von Herrschaftstechniken. Ebenso wie sie selbst oft
unwillkommen waren, so traf auch ihre Musik mitunter auf Unverständnis.
Auf der anderen Seite gibt es nicht wenige Beispiele dafür, dass Nicht-Europäer
westliche Musik außerhalb jedes imperialen oder kolonialen Zwangszusammenhangs aus freien Stücken importierten und sich aneigneten.
Die europäische Expansion war von vielfältigen Formen des Musikmachens
begleitet: militärischem Signalisieren, Liedern von Seeleuten und Soldaten,
kirchlichen Liturgien, Festmusiken für die verschiedensten Gelegenheiten.74 Im
Britischen Empire unterhielten Gouverneure unweigerlich eine Militärkapelle,
die zu zeremoniellen Anlässen aufspielte, nicht zuletzt dann, wenn einheimische
Würdenträger unterhalten und beeindruckt werden sollten.75 Solche kleinen
Ensembles wurden zu Akteuren musikalischer Mobilität: Kurz nach Erscheinen
erreichten die melodienreichsten Opern Giuseppe Verdis – insbesondere
Indianer als kompositorische Vorlagen. In der Zeit von 1890 bis zum Ersten Weltkrieg,
Köln 1994, S. 175 – 202.
73 Bruno Nettl, The Western Impact on World Music. Change, Adaptation and Survival,
New York 1985 – ein reichhaltiges, aber unsystematisches und historisch wenig
tiefenscharfes Buch.
74 Übersicht bei Ian Woodfield, English Musicians in the Age of Exploration, Stuyvesant,
NY 1995, S. 39 – 91.
75 Trevor Herbert u. Margaret Sarkissian, Victorian Bands and Their Dissemination in the
Colonies, in: Popular Music 16. 1997, S. 165 – 179.
110
Jürgen Osterhammel
„Rigoletto“ (1851), „Il Trovatore“ (1853) und „La Traviata“ (1853) – rasch durch
Arrangements für Blasinstrumente, die von jeder besseren Militärkapelle
gemeistert werden konnten, weltweite Bekanntheit.76
Die früheste institutionelle Rahmung musikalischer Praxis, die in einen
anderen Teil der Welt verpflanzt wurde, war die sakrale Musik der spanischen
Eroberer. Spanisch-Amerika wurde rasch mit einem Netz von Kathedralen,
Dorfkirchen, Klöstern und Konventen überzogen, und überall gehörte Musik
zur Routine des Alltags, sowohl bei religiösen Anlässen als auch in weltlichen
Situationen. Wie alle Kolonialherren, so kultivierten Übersee-Spanier Musik
nicht zuletzt deshalb, weil sie eine affektive Verbindung zur Alten Welt bot. Wie
Geoffrey Baker in einer Studie über das koloniale Cuzco gezeigt hat, übernahm
die örtliche Kreolen-Bevölkerung, das heißt in Amerika geborene Menschen
spanischer Abstammung, schon früh Elemente aus der Musik der Anden als
einen Unterscheidungsmarker. Sobald die Unterwerfung des Inka-Reiches
eine irreversible Tatsache geworden war, fanden andine Traditionen Eingang
in die koloniale Kultur. Umgekehrt wurde europäische Musik nicht bloß in
kulturimperialistischer Weise von Europäern ausgeübt, um das Projekt der
christlichen Missionierung der einheimischen Bevölkerung zu flankieren. Das
europäische und kreolische Personal reichte für die Bedürfnisse in Amerika
nicht aus. Missionare benötigten kompetente indianische Musiker und gaben
sich viel Mühe, sie auszubilden, zumal Musik als ein ideales Werkzeug für die
„Zivilisierung“ der Einheimischen verstanden wurde. Baker kommt zu dem
Schluss, dass vermutlich in den Dörfern und Missionsstationen SpanischAmerikas mehr Musik betrieben wurde als in den ländlichen Regionen der
iberischen Halbinsel.77
Die musikalische Tradition des Mutterlandes zu kopieren, ist eine weithin
verbreitete Praxis zur Wahrung von sozialer Kohärenz und kultureller Identität
in Diaspora-Situationen. Chinatowns im Nordamerika des 19. Jahrhunderts
76 John Rosselli, The Life of Verdi, Cambridge 2001, S. 191 (Anm. 1). Vgl. auch Trevor
Herbert, The Repertory of a Victorian Provincial Brass Band, in: Popular Music 9. 1990,
S. 117 – 132. In Europa verbreiteten sich Opern nicht nur von Verdi durch Bearbeitungen
für Stimmen und Piano beziehungsweise unterschiedliche Kammerensembles. In
Großbritannien z. B. wurden die Texte gelegentlich bei der Übersetzung ins Englische
den herrschenden moralischen Normen angepasst. Vgl. Roberta Montemorra Marvin,
Verdian Opera in the Victorian Parlor, in: dies., Fashion and Legacies of Nineteenthcentury Opera, S. 53 – 75, bes. S. 54 – 57 u. S. 67.
77 Geoffrey Baker, Imposing Harmony. Music and Society in Colonial Cuzco, Durham, NC
2008, S. 239. Vgl. auch Victor Anand Coelho, Music in New Worlds, in: Tim Carter u.
John Butt (Hg.), The Cambridge History of Seventeenth Century Music, Cambridge
2005, S. 88 – 110; sowie eine schöne Studie zu einem anderen Bereich der spanischen
Kolonialgeschichte: David R. M. Irving, Colonial Counterpoint. Music in Early Modern
Manila, Oxford 2010.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
111
waren bemüht, ihr musikalisches Erbe zu erhalten.78 Noch in der kleinsten
Gemeinschaft von Siedlern und Kolonialfunktionären wurde irgendeine Art
von privater Musik betrieben. Spätestens sobald Frauen präsent waren, wurde
Musik zu einer wichtigen Freizeitbeschäftigung und zu einem Kristallisationskern für gesellige Anlässe. Größere überseeische Niederlassungen von
Kolonialisten bemühten sich, das Musikleben europäischer Provinzstädte zu
imitieren. Im späten 18. Jahrhundert konnte zum Beispiel Kalkutta niemals
hoffen, mit dem kulturellen Glanz Londons zu konkurrieren, doch war es nicht
unrealistisch, das Niveau einer kultivierten englischen Mittelstadt wie Bath
oder Norwich zu erreichen. Gesellige Zusammenkünfte waren unvollständig
ohne musikalische Aktivitäten, Klavierspiel und Gesangskünste unentbehrliche Pluspunkte auf dem kolonialen Heiratsmarkt. Das ehrgeizigste Ziel einer
größeren Gemeinschaft nicht nur in Indien war es, professionelle Künstler
engagieren und vielleicht sogar eine Serie von Abonnementskonzerten
einrichten zu können.79 Unter den Briten in Indien gab es, insbesondere in
den zwei oder drei Jahrzehnten nach 1780, ein großes Interesse nicht nur an
der letzten oder vielleicht eher vorletzten Mode, die aus Europa eintraf,
sondern auch an indischer Musik – vorausgesetzt die erheblichen Schwierigkeiten, indische Melodien auf einem klimabedingt schwer stimmbaren
Cembalo zu spielen, konnten gemeistert werden. Die wahren Orte interkultureller Begegnung waren weniger die britisch dominierten Herrschaftszentren Kalkutta, Bombay und Madras als vielmehr einige der indischen
Fürstenhöfe. An Orten wie Awadh (Oudh) mit seiner Hauptstadt Lakhnau
(Lucknow) trafen sich indische und britische Eliten im sozialen Raum einer
geteilten musikalischen Kultur, wo Briten zu Kennern von indischer Musik und
indischem Tanz wurden und Inder Georg Friedrich Händel oder Carl Philipp
Emmanuel Bach schätzen lernten.80
Erst eine größere Zahl von Fallstudien würde ein nuanciertes Bild kolonialen
Musizierens entstehen lassen. Es dürfte aber plausibel sein, dass Musik oft eine
integrierende Funktion erfüllte. Sie stiftete Kohärenz in der begrenzten
sozialen Welt der Kolonisierer und öffnete zuweilen eine gemeinsame
Geselligkeitssphäre für indigene und fremde Eliten.81 Auf imperialer Ebene
78 Krystyn R. Moon, Yellowface. Creating the Chinese in American Popular Music and
Performance, 1850s – 1920s, New Brunswick, NJ 2005, S. 68 – 70; vor allem aber eine
Studie über die Kanton-Oper, die seit 1852 in Kalifornien aufgeführt wurde: Daphne Piwei Lei, Operatic China. Staging Chinese Identity across the Pacific, New York 2006.
79 Ian Woodfield, Music of the Raj. A Social and Economic History of Music in Late
Eighteenth-century Anglo-Indian Society, Oxford 2000, S. 70 – 75.
80 Ebd., S. 149 – 158. Für eine entfernt ähnliche Konstellation im frühen 20. Jahrhundert
vgl. Bradley Shope, Anglo-Indian Identity, Knowledge, and Power. Western Ballroom
Music in Lucknow, in: The Drama Review 48. 2004, S. 167 – 182.
81 Im Sinne von David Cannadine, Ornamentalism. How the British Saw Their Empire,
London 2001.
112
Jürgen Osterhammel
wurde erwartet, dass Musik, die oft durch imperiale Propaganda aktiv
gefördert wurde, eine Art von weltweiter corporate identity schuf, zumindest
unter den Briten zu Hause und in den Kolonien. Imperiale Festanlässe wurden
mit einer bestimmten, als wiedererkennbares Markenzeichen dienenden
Musik verbunden. Georg Friedrich Händels Status als führender englischer
Nationalkomponist, ein Rang, der ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des
aus Halle an der Saale stammenden Meisters erreicht war,82 wurde in
kolonialen Zusammenhängen immer wieder bekräftigt. Die aufwendigen
Händel-Feierlichkeiten in Kalkutta 1797, die ein Echo auf das prunkvolle
Händel-Fest in der Westminster Abbey 1784 bildeten, können als Anspruch
der Stadt auf kulturelles Gewicht verstanden werden. Sie erlaubten den Briten
in Bengalen, an einem symbolischen Universum universaler Britishness
teilzuhaben.83
Ein Jahrhundert später wurden Sir Arthur Sullivan (1842 – 1900), im Team mit
seinem Librettisten als Schöpfer der „Gilbert & Sullivan“-Operetten bekannt,
und Sir Edward Elgar (1857 – 1934) in den Rollen „imperialer“ Komponisten
installiert. Elgar, ein Mann von hohem Kunstanspruch und keineswegs
auffälliger imperialistischer Gesinnung, zollte seit 1897 dem Zeitgeist durch
das Verfertigen „imperial“ gemeinter, aber klanglich wenig exotischer Märsche
Tribut, deren Popularität das Empire überlebt und die besseren Werke des
Komponisten überschattet hat. Gesangsstars wie die australische Sopranistin
Nellie Melba (1861 – 1931) oder die englische Altistin Clara Butt (1862 – 1936)
ergänzten ihre ansonsten überwiegend kontinentaleuropäischen Recital-Programme um imperiale Evergreens und betätigten sich ab 1914 enthusiastisch
in der musikalischen Truppenbetreuung.84
Der koloniale Transfer europäischer Musik und ihrer Institutionen nahm viele
andere Formen an. Im französischen Imperium diente die Garnier-Oper in
Paris, der architektonische Prototyp des modernen Opernhauses, als Muster,
das in verkleinertem Maßstab überall kopiert werden konnte. 1911 wurde
Hanoi, die Hauptstadt Französisch-Indochinas, wo man in den 1890er Jahren
mit regelmäßigen Opernaufführungen begonnen hatte, nach zehnjähriger
Bauzeit mit einem Opernhaus geschmückt, das einer Gemeinschaft von etwa
82 So William Weber, The Rise of Musical Classics in Eighteenth-century England. A Study
in Canon, Ritual, and Ideology, Oxford 1992, S. 101.
83 Woodfield, Music of the Raj, S. 145 – 148. Vgl. auch das Gesamtbild bei Holger Hoock,
Empire of the Imagination. Politics, War, and the Arts in the British World, 1750 – 1850,
London 2010.
84 Jeffrey Richards, Imperialism and Music. Britain, 1876 – 1953, Manchester 2001,
S. 19 – 87 u. S. 475 – 492; Bernard Porter, Edward Elgar and Empire, in: Journal of
Imperial and Commonwealth History 29. 2001, S. 1 – 34; Corissa Gould, „An Inoffensive
Thing“. Edward Elgar, The Crown of India, and Empire, in: Clayton u. Zon, Music and
Orientalism in the British Empire, S. 129 – 146.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
113
2.700 Franzosen 750 Sitzplätze bot.85 Auch im französischen Kontext verband
sich mit „klassischer“ Musik und ihrem buchstäblich spektakulärsten Genre,
der Oper, die Absicht, die Überlegenheit der europäischen, insbesondere der
französischen, Zivilisation sinnfällig zu machen. Das kurzlebige (1927 – 1930)
Conservatoire FranÅais d’ExtrÞme-Orient bediente nicht allein die französischen Siedler in Hanoi, sondern versuchte auch Vietnamesen anzuziehen, die
eine Ausbildung in europäischem Musizieren anstrebten.86
Ein Glaube in die „zivilisatorische“ Macht der Musik, so durchsichtig die
imperiale Interessenlage im Allgemeinen war, sollte jedoch nicht ausschließlich als eine zynische Strategie zur Indoktrination der Kolonisierten und zu
ihrer Entfremdung vom eigenen kulturellen Erbe gesehen werden. Ein solcher
Glaube hatte tiefere Wurzeln in antiken orphischen Mythen und spielte bereits
in der Aufklärung eine wichtige Rolle.87 Als man während der drei Weltreisen
des Kapitän James Cook im Zeitraum von 1768 bis 1779 den Bewohnern der
Pazifischen Inseln europäische Musik vorspielte, war dies einer der harmloseren Aspekte europäischer Expansion. Insgesamt gesehen, ist Musik ein
schwer kontrollierbares Werkzeug kolonialer Hegemonie. Selbst unter den
asymmetrischen Machtverhältnissen des Kolonialismus konnte niemand
gezwungen werden, europäische Musik zu mögen oder sie gut auszuführen.
Wenige andere Formen kulturellen Ausdrucks sind widerspenstiger als das
Singen und das Spielen von Musikinstrumenten.
Außerhalb der Kolonien war der Import europäischer Musik ein komplexer
Prozess, in dem sich Widerstand, Aneignung, Anpassung und Transformation
verbanden. In einigen Fällen ging die Initiative vom Staat aus, nirgendwo mehr
als in Japan. Westliche Musik war im 16. Jahrhundert von den Jesuitenmissionaren eingeführt worden, dann aber mit der Unterdrückung des Christentums, die 1639 abgeschlossen war, wieder verschwunden. Nach der Öffnung
des Landes 1854 wurde die Musik des Westens neu entdeckt. Wie auch sonst im
Orient und im ferneren Asien,88 etwa in Siam (Thailand), das mit europäischer
Musik erstmals Ende 1861 Bekanntschaft machte, als die Militärkapelle im
Gefolge des preußischen Sondergesandten Graf Friedrich zu Eulenburg vor
dem königlichen Hofstaat aufspielte,89 wurde der früheste Musikkontakt
85 Michael E. McClellan, Performing Empire. Opera in Colonial Hanoi, in: Journal of
Musicological Research 22. 2003, S. 135 – 166, hier S. 154.
86 Ders., Music, Education and FranÅais de couleur. Music Instruction in Colonial Hanoi,
in: Fontes artis musicae 56. 2009, S. 315 – 325.
87 Vanessa Agnew, Enlightenment Orpheus. The Power of Music in Other Worlds, Oxford
2008, S. 165.
88 Etwa in Ägypten seit den 1820er Jahren, vgl. Salwa Aziz El-Shawan, Western Music and
Its Practitioners in Egypt, ca. 1825 – 1985. The Integration of a New Musical Tradition in
a Changing Environment, in: Asian Music 17. 1985, S. 143 – 153, hier S. 143 f.
89 Suphot Manalapanacharoen, Die Geschichte deutsch-thailändischer Musikbeziehungen, Frankfurt 2000, S. 42 – 48.
114
Jürgen Osterhammel
zwischen Japan und dem Westen über Militärmusik hergestellt. Bereits vor
dem Beginn der Meiji-Umgestaltung 1868 hatten mehrere große Feudalfürsten
ihre eigenen Militärkapellen im europäischen Stil gegründet.90 Als erneut
Missionare ins Land kamen, brachten sie eine Flut christlicher Hymnen mit.
Für die Meiji-Regierung, die Japan als ein „zivilisiertes“ Land erscheinen
lassen wollte, war die Unterstützung westlicher Musik auf Kosten der
einheimischen Traditionen Teil ihrer kulturpolitischen Strategie. 1872 verfügte das Erziehungsministerium, dass sich die Musikerziehung in allen Grundund Mittelschulen auf westliche Musik beschränken solle.91 Ausländische
Musiker wurden angeworben, um das musikalische Leben in Japan auf
mehreren Ebenen neu zu organisieren.92 1887 entstand in Tokyo die erste
Musikakademie, 1890 die erste Musikzeitschrift. Bevor noch eine einzige Note
Wagners in Japan erklungen war, debattierten japanische Intellektuelle bereits
die Vorzüge und Mängel des Wagnerianismus.93 Die erste Opernvorstellung,
die Aufführung einer Szene aus Charles Gounods „Faust“ (1859), einer der im
späten 19. Jahrhundert populärsten Opern der Welt, fand 1894 statt. So begann
– ohne jede koloniale Initiative, aber mit Hilfe frei engagierter europäischer
Berater – der Aufstieg der westlichen Musik in einem Land, das bereits 1878
sein erstes Klavier aus eigener Herstellung auf einer Weltausstellung in Paris
vorstellen konnte.94 Allerdings fehlte es auch nicht an Verteidigern der
indigenen Musiktradition.95
90 Eta Harich-Schneider, A History of Japanese Music, London 1973, S. 533 f. Über die
frühe Übernahme von Militärkapellen westlichen Stils in China vgl. Gong Hong-yu,
Missionaries, Reformers, and the Beginnings of Western Music in Late Imperial China,
1839 – 1911, unveröff. Diss. University of Auckland 2006, S. 188 ff.
91 Harich-Schneider, History of Japanese Music, S. 540. Enttäuschend Genkichi Nakasone,
Die Einführung der westlichen, besonders deutschen Musik im Japan der Meiji-Zeit,
Hamburg 2003; aber vgl. den vorzüglichen Aufsatz Toru Takenaka, Foreign Sound as
Compensation. Social and Cultural Factors in the Reception of Western Music in Meiji
Japan, 1867 – 1912, in: Susan Ingram u. a. (Hg.), Floodgates. Technologies, Cultural (Ex)
Change and the Persistence of Place, Frankfurt 2006, S. 185 – 202.
92 Mattias Hirschfeld, Beethoven in Japan. Zur Einführung und Verbreitung westlicher
Musik in der japanischen Gesellschaft, Hamburg 2005, S. 37 – 43.
93 Toru Takenaka, Wagner-Boom in Meiji-Japan, in: Archiv für Musikwissenschaft 62.
2005, S. 13 – 31, hier S. 22.
94 Cyril Ehrlich, The Piano. A History [1976], Oxford 1990, S. 67.
95 Vgl. William P. Malm, The Modern Music of Meiji Japan, in: Donald H. Shively (Hg.),
Tradition and Modernization in Japanese Culture, Princeton 1971, S. 257 – 300; Ury
Eppstein, Musical Instruction in Meiji Education. A Study of Adaptation and
Assimilation, in: Monumenta Nipponica 40. 1985, S. 1 – 38, über Izawa Shūji, den
wichtigsten Musikpädagogen der Meiji-Zeit: Toru Takenaka, Izawa Shūji’s „National
Music“. National Sentiment and Cultural Westernisation in Meiji Japan, in: Itinerario 34.
2011, S. 97 – 118.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
115
Japan war ein Extremfall. Aber auch in anderen Ländern Asiens sorgte sich der
Staat um so etwas wie Musikpolitik. In Siam (Thailand) geschah dies in
Fortsetzung einer fest etablierten Tradition der Hofmusik.96 Noch vor Japan
engagierte die Regierung des Osmanischen Reiches europäische Musikexperten. 1828 wurde Giuseppe Donizetti (1788 – 1856), der ältere Bruder des
berühmten Opernkomponisten Gaetano Donizetti, als Generalinstruktor der
kaiserlichen osmanischen Musik (mit dem „Pascha“-, das heißt Generalstitel)
an den Hof des Sultans Mahmud II. berufen, wo er den Rest seiner Laufbahn als
Leiter des Hoforchesters, Lehrer, Zeremonienmeister, gelegentlicher Komponist und Gastgeber europäischer Musiker – etwa im Juni 1847 von Franz Liszt –
verbrachte.97 Am Sultanshof in Istanbul wurde europäische Musik gepflegt:
Prinzen und Prinzessinnen ließ man am Klavier ausbilden, und mehrere
Sultane versuchten sich als Komponisten von Märschen und anderen kurzen
Stücken.98 Auf der Ebene volkstümlicher Unterhaltung traten „böhmische“
Kapellen, viele von ihnen aus den niedergehenden Bergbauregionen des
Erzgebirges stammend, in zahlreichen levantinischen Städten auf.99 In weniger
radikaler Weise als in Japan gründete später die Türkische Republik die
staatliche Erziehung und das öffentliche Zeremonienwesen auf Musik westlicher Herkunft, in die allerdings folkloristische Element eingeschmolzen
werden sollten.100
Andernorts waren Marktkräfte stärker als staatliche Interventionen. In der
1912 proklamierten Republik China gab es nach dem Untergang der Monarchie plötzlich keine kaiserliche Hofmusik mehr. Die politisch schwache
Zentralregierung verfolgte nicht wie die kemalistische Staatsmacht in der
Türkei eine umfassende Politik kultureller Verwestlichung. Immerhin errichtete sie 1922 an der Universität Beijing eine Musikabteilung und 1927 in
Shanghai eine Nationale Musikhochschule, Chinas erste quasi-professionelle
Organisation für musikalischen Unterricht. Ihr Curriculum war überwiegend
westlich orientiert mit traditioneller chinesischer Musik als einem langsam an
96 Manalapanacharoen, Geschichte deutsch-thailändischer Musikbeziehungen, S. 1 – 40.
97 Vgl. Emre Araci, A Levantine Life. Giuseppe Donizetti at the Ottoman Court, in: The
Musical Times 143. 2002, S. 49 – 56.
98 So das Buch eines türkischen Pianisten (aber ohne Quellenbelege): Vedat Kosal,
Westliche klassische Musik in dem Osmanischen Reich, Istanbul 2003, S. 22 – 44,
S. 50 – 58 u. S. 87 – 92. Vgl. auch eine CD mit osmanischer Hofmusik: The London
Academy of Ottoman Court Music. Invitation to the Seraglio, Warner Brothers 2004.
99 Malte Fuhrmann, Down and Out on the Quays of Izmir. „European“ Musicians,
Innkeepers, and Prostitutes in the Ottoman Port Cities, in: Mediterranean Historical
Review 24. 2009, S. 169 – 185, hier S. 172 – 174.
100 Orhan Tekelioğlu, Modernizing Reforms and Turkish Music in the 1930s, in: Turkish
Studies 2. 2001, S. 93 – 108, bes. S. 95 f.
116
Jürgen Osterhammel
Bedeutung gewinnenden Ergänzungsfach.101 Das Studentenorchester der
Musikhochschule war das erste auf europäische Musik spezialisierte Ensemble, das ausschließlich aus chinesischen Musikern bestand.102 In Shanghai,
dem von der Zentralregierung unabhängigen Mittelpunkt der ausländischen
Präsenz in China, zelebrierte seit der Wintersaison 1919/20 ein gut besetztes
Orchester unter dem Florentiner Klaviervirtuosen und Dirigenten Mario Paci
(1878 – 1946), einem Enkelschüler Liszts, die europäische symphonische
Literatur von der Wiener Klassik bis hin zu Debussy, Ravel, Stravinskij und
sogar dem italienischen Avantgardisten Gian Francesco Malipiero. Zum
100. Todestag Beethovens wurde 1927 die Neunte Symphonie aufgeführt, nur
drei Jahre nach ihrer Erstaufführung in Tokyo, wo westliche Kulturimporte
zumeist früher eintrafen als in China.103 Um diese Zeit trat auch der erste
chinesische Musiker in das Shanghai Municipal Orchestra ein, ein Geiger, der
seinen Anfangsunterricht bei deutschen Missionaren erhalten hatte.104 Das
Orchester bestand ansonsten aus Versprengten vieler europäischer Länder,
darunter russische Flüchtlinge vor dem Bolschewismus und in den dreißiger
Jahren jüdische Emigranten aus Zentraleuropa. Maestro Paci leitete es, bis ihn
die japanischen Besatzungsbehörden 1942 aus dem Amt entfernten.
V. Musikermobilität
Die individuelle Mobilität von Musikern folgte nur sehr bedingt der Infrastruktur der Imperien. Keiner der berühmten europäischen Komponisten
hatte persönliche Wurzeln in der kolonialen Welt. Vereinzelt traten überseeische Interpreten auf. Der in Polen geborene George Augustus Polgreen
Bridgetower (1799 – 1860), ein vielfach gelobter Geiger, hatte zwar Europa nie
verlassen, fiel aber auf, weil er der Sohn eines farbigen Kammerpagen war. Der
zeitweilig mit ihm befreundete Beethoven widmete ihm die Violinsonate A-dur
op. 47, zunächst „Sonata mullatica“ genannt, deren Widmung später auf
101 Jonathan P. J. Stock, Musical Creativity in Twentieth-Century China. Abing, His Music,
and Its Changing Meanings, Rochester, NY 1996, S. 143 f.; auch Zhang Que-May,
Bildungsreform und westliche Musikerziehung in China, in: Periplus. Jahrbuch für
außereuropäische Geschichte 6. 1996, S. 147 – 155.
102 Vgl. Zhu Shi-Rui, Entstehung und Entwicklung moderner professioneller chinesischer
Musik und ihr Verhältnis zum eigenen Erbe und zum westlichen Einfluß, Aachen 2000,
S. 65 – 70.
103 Die ostasiatische Erstaufführung der Neunten Symphonie hatte am 1. Juni 1918 durch
deutsche und österreichisch-ungarische Kriegsgefangene im japanischen Lager Bandō
stattgefunden. Vgl. Hirschfeld, Beethoven in Japan, S. 79 f.
104 Sheila Melvin u. Jindong Cai, Rhapsody in Red. How Western Classical Music Became
Chinese, New York 2004, S. 34 – 40 u. S. 89 – 92.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
117
Rodolphe Kreutzer übertragen wurde.105 Von Joseph Boulogne (oder Bologne),
Chevalier de Saint-Georges (ca. 1745 – 1799), auf Guadeloupe als Sohn eines
Pflanzers und einer aus dem Senegal stammenden Sklavin geboren, der ein
ausgezeichneter Komponist, der beste französische Geiger seiner Zeit und
zugleich ein berühmter Fechtmeister war, sind in den letzten Jahren Violinkonzerte und Streichquartette auf CD eingespielt worden; sie klingen
ausgesprochen „mozartisch“ und in keiner Weise kolonial oder exotisch.106
Zu Beginn des 19. Jahrhundert bewegten sich die gefragteren unter den
Instrumental- und Gesangsvirtuosen in einem europäischen Kernraum, der
Italien, die Habsburgermonarchie, die deutschen Länder, Frankreich und
England umfasste. Gelegentlich kamen Spanien, Schottland, Kairo und
Konstantinopel hinzu. Seit dem Ende der 1820er Jahre wurde das Zarenreich,
besonders die großstädtischen Zentren wie Warschau, die baltischen Städte, St.
Petersburg, Moskau und Odessa, immer häufiger in Tourneen einbezogen.107
Überseereisen europäischer Musiker waren vor der Einrichtung eines regelmäßigen transatlantischen Dampferverkehrs sehr selten. Mozarts Librettist
Lorenzo da Ponte (1749 – 1838) emigrierte in die USA und starb im Alter von
89 Jahren in New York als pensionierter Professor für italienische Literatur,108
doch Mozart selbst war niemals in Übersee. Auch in den letzten Jahrzehnten
vor 1914 war eine Transatlantikreise für bekannte Komponisten keine
Selbstverständlichkeit. Nur eine Minderheit unter den berühmten europäischen Meistern überquerte vor 1914 den Atlantik: Pjotr Iljič Čajkovskij (April/
Mai 1891 in New York, Baltimore und Philadelphia), Antonin Dvořk (USAAufenthalt von September 1892 bis April 1895) und Gustav Mahler (von
Dezember 1907 bis April 1911 in New York).109 Der deutsch-italienische
105 Vgl. die Romanbiographie von Dieter Kühn, Beethoven und der schwarze Geiger,
Frankfurt 1990; auch Janet Schmalfeldt, Beethoven’s „Bridgetower“ Sonata op. 47, in:
Darla Crispin (Hg.), New Paths. Aspects of Music Theory and Aesthetics in the Age of
Romanticism, Löwen 2009, S. 37 – 68. Zu den Erfahrungen eines kubanischen Geigers in
Süddeutschland Daniel Jütte, Schwarze, Juden und die Anfänge des Diskurses über
Rasse und Musik im 19. Jahrhundert. Überlegungen anhand von Claudio Jos Domingo
Brindis de Salas’ Reise durch Württemberg und Baden im Jahre 1882, in: Archiv für
Kulturgeschichte 88. 2006, S. 117 – 140.
106 Thomas Betzwieser, Art. Saint-Georges, Joseph Bologne, in: MGG, Personenteil, Bd. 14
(2005), Sp. 792 – 796.
107 Olga Lossewa, Die Russlandreise Clara und Robert Schumanns 1844, Mainz 2004, S. 29,
die Schumanns reisten von Januar bis Mai 1844.
108 Anthony Holden, The Man Who Wrote Mozart. The Extraordinary Life of Lorenzo da
Ponte, London 2006, S. 163 – 214 über seine amerikanischen Jahre; auch Rodney Bolt,
Lorenzo da Ponte. The Adventures of Mozart’s Librettist in the Old and New Worlds,
London 2006.
109 Elkhonon Yoffe, Tchaikovsky in America. The Composer’s Visit in 1891, New York 1986;
Jens Malte Fischer, Gustav Mahler. Der fremde Vertraute, Wien 2003, S. 698 – 754.
118
Jürgen Osterhammel
Komponist und Klaviervirtuose Ferruccio Busoni hielt sich zwischen 1891 und
1915 fünfmal in den USA auf und nutzte die Gelegenheit, um die Musik der
einheimischen Indianer kennenzulernen.110 Der aktivste Reisende unter den
Musikern seiner Zeit war Camille Saint-Sans, der als Konzertpianist 1915 eine
triumphale Tour durch die USA absolvierte; er besuchte auch Algerien,
Ägypten, Uruguay, Ceylon (Sri Lanka) und Vietnam.111 Johannes Brahms und
Giuseppe Verdi hingegen beglückten niemals ihre amerikanischen Bewunderer mit ihrem persönlichen Erscheinen.112 Franz Liszt, der während seiner
Virtuosenzeit zwischen 1838 und 1847 kreuz und quer durch Europa mehr als
30.000 Kilometer zurückgelegt hatte,113 überwiegend in der Kutsche, kannte
die westliche Hemisphäre ebenso wenig wie sein Schwiegersohn Richard
Wagner. Allerdings äußerte Wagner 1880 in missmutiger Stimmung die
Absicht, nach Minnesota auszuwandern und den „Parsifal“ den Amerikanern
zu widmen.114
Es gibt vor 1900 in der Musik kein Gegenstück zu weitgereisten Literaten und
bildenden Künstlern wie Luis Vaz de Cames, Robert Louis Stevenson, Joseph
Conrad, Rudyard Kipling oder Paul Gauguin. Unter den wenigen globalen
Lebensläufen von Musikern vor dem Ende des 19. Jahrhunderts fällt der von
Louis Moreau Gottschalk (1829 – 1869) deshalb besonders auf, weil er sich in
Musik niedergeschlagen hat. Gottschalk wurde in dem multikulturellen
melting pot New Orleans geboren, wo er früh die unterschiedlichsten
musikalischen Eindrücke aufnahm, bevor er zur Ausbildung nach Frankreich
geschickt wurde. Neben ausgedehnten Konzertreisen als Pianist durch die USA
besuchte er Kanada, Kuba und Haiti; auch auf Puerto Rico und Jamaika und in
Venezuela trat er auf. Er selbst behauptete, 95.000 Meilen zurückgelegt zu
haben, und er starb während einer Reise in Brasilien. Gottschalk war einer der
ersten interkontinental mobilen Instrumentalisten und der früheste Komponist mit einem genuin neuweltlichen „Sound“. Allerdings war sein Einfluss auf
seine komponierenden Zeitgenossen nicht sehr groß; seine einfallsreichen
musikalischen Beschwörungen der Tropen und der nordamerikanischen
110 Wild, Lieder der nordamerikanischen Indianer, S. 175 – 202, bes. S. 176 f.; Antony
Beaumont, Busoni the Composer, Bloomington, IN 1985, S. 190 – 203.
111 Brian Rees, Camille Saint-Sans. A Life, London 1999, S. 289.
112 Ein anderes Thema ist die amerikanische Resonanz auf europäische Komponisten, nicht
nur durch Aufführungen ihrer Werke, sondern auch durch die Berichterstattung in
amerikanischen Periodika oder durch Kontakte über zurückgekehrte amerikanische
Schüler. Vgl. als Fallstudie etwa, Nancy B. Reich, Clara Schumann and America, in: Peter
Ackermann u. Herbert Schneider (Hg.), Clara Schumann. Komponistin, Interpretin,
Unternehmerin, Ikone, Hildesheim 1999, S. 195 – 203.
113 Karte und Liste seiner Reisen bei Alan Walker, Franz Liszt, Bd. 1: The Virtuoso Years,
1811 – 1847, London 1983, S. 292 – 295.
114 Martin Gregor-Dellin, Richard Wagner. Sein Leben, sein Werk, sein Jahrhundert,
München 1983, S. 788.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
119
Südstaaten – in Miniaturen mit Titeln wie „Le Bananier. Chanson ngre“ oder
„Souvenir de Porto Rico“ – finden allenfalls Echos in den Werken einer
späteren Generation, etwa bei Debussy und Ravel.115
Nordamerika wurde zunehmend zum Reisemagneten für europäische Musiker,
für manche auch zum Ziel dauerhafter Emigration. Amerikanische Veranstalter
boten ökonomische Konditionen und Arbeitsbedingungen an, mit denen auf
dem europäischen Kontinent wenige mithalten konnten. Der Virtuose und
Klavierbauer Henri (Heinrich) Herz tourte 1846 bis 1851 ausgiebig durch beide
Amerikas;116 der norwegische Geiger Ole Bull (1810 – 1880) bereiste ab 1843
mehrfach Nordamerika und konzertierte auch in Panama und Kuba.117 1845
hatte Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809 - 1847), nicht nur als Komponist,
sondern auch als Stardirigent und -pianist geschätzt, ein üppiges Angebot aus
New York erhalten und eine Weile gezögert, bis er es aus Gesundheitsgründen
ablehnte.118 Auch Richard Wagner verbarg 1880 seine finanziellen Motive nicht.
Die aus Amerika über den Atlantik hinweg Einladenden waren oft Deutsche, in
deren Hände der Aufbau eines amerikanischen Musiklebens in großem Umfang
gelangt war. Als Gruppe gesehen, waren sie die wichtigsten Globalisierer des
Musikbetriebs in den fünf oder sechs Jahrzehnten vor 1914.119 Konzerttourneen
durch die USA konnten auch direkten kommerziellen Zwecken dienen, wenn
etwa die Klavierfabrikanten Steinway & Sons als Sponsoren auftraten, zum
Beispiel bei einer sehr erfolgreichen Rundreise 1872/73 des russischen Virtuosen, Komponisten und Pädagogen Anton Rubinstein (1829 – 1894).120
115 S. Frederick Starr, Louis Moreau Gottschalk, Urbana, IL 2000; James E. Perone, Louis
Moreau Gottschalk. A Bio-bibliography, Westport, CT 2002; Jack Sullivan, New World
Symphonies. How American Culture Changed European Music, New Haven, CT 1999,
S. 195 – 199. Eine schöne Charakterisierung von Gottschalks Stellung in der Musikgeschichte der USA bei Richard Crawford, America’s Musical Life. A History, New York
2001, S. 331 – 350.
116 Laure Schnapper, La tourne de Henri Herz aux Amriques, 1846 – 1851, in: Christian
Meyer (Hg.), Le musicien et ses voyages. Pratiques, rseaux et reprsentations, Berlin
2003, S. 203 – 222.
117 Harald Herresthal, Art. Bull, Ole (Bornemann), in: MGG, Personenteil, Bd. 3 (2000),
Sp. 1239 – 1243.
118 R. Larry Todd, Mendelssohn Bartholdy. A Life in Music, Oxford 2003, S. 486.
119 Grundlegend: Jessica C. E. Gienow-Hecht, Sound Diplomacy. Music and Emotions in
Transatlantic Relations, 1850 – 1920, Chicago 2009, bes. Kap. 3 – 4; daneben Joseph
Horowitz, Classical Music in America. The History of Its Rise and Fall, New York 2005.
120 R. Allen Lott, Anton Rubinstein in America, 1872–1873, in: American Music 21. 2003,
S. 291–318; über Rubinsteins mitreisenden Violinpartner vgl. Renata Suchowiejko, Henryk
Wieniawski in America, in: Ad Parnassum. A Journal of Eighteenth- und Nineteenth-Century
Instrumental Music 3. 2005, S. 45–55. Eine ähnliche Megatournee absolvierte Hans von Bülow
1875/76, als er 139 Konzerte in beinahe 40 Städten gab: R. Allen Lott, „A Continuous Trance“.
Hans von Bülow’s Tour of America, in: Journal of Musicology 12. 1994, S. 529–549. Weitere
Fälle in ders., From Paris to Peoria. How European Piano Virtuosos Brought Classical Music to
the American Heartland, Oxford 2003.
120
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Auch Sängerinnen und Sänger überquerten den Atlantik in stetig zunehmender Zahl. Erst waren es Südeuropäer, etwa der bedeutende spanische Tenor
und Gesangspädagoge Manuel Garca d. Ä. (1775 – 1832), der im November
1825 den Grafen Almaviva in der amerikanischen Erstaufführung von Rossinis
„Il barbiere di Siviglia“ darstellte – mit ihm reiste seine Tochter Mara, die
später unter dem Namen Mara Malibran (1808 – 1836) gefeierte Primadonna.121 Später kamen Künstler aus allen Teilen Europas, zumal nach der
Eröffnung des Metropolitan Opera House in New York 1883. Zwischen 1884
und 1891 war die „Met“ de facto ein deutsches Opernhaus, in dem sogar
„Trovatore“ und „Aida“ auf Deutsch gesungen wurden; danach verbreiterte
sich die personelle Rekrutierungsbasis, und es wurde üblich, das Repertoire in
den Originalsprachen singen zu lassen.122 Mit wenigen Ausnahmen, vor allem
Mattia Battistini (1856 – 1928), dem führenden Belcanto-Bariton der Epoche,
der die Strapazen einer Atlantiküberquerung fürchtete, gastierten alle maßgebenden europäischen Sängerinnen und Sänger irgendwann einmal an der
Met oder gehörten zu deren Ensemble.123
Eine andere Art von Musikerwanderung fand im Südatlantik statt.124 Alljährlich zogen Scharen italienischer Musiker nach Südamerika: Orchester, ganze
Opernensembles, einzelne Sängerinnen und Sänger, auch Chöre, manchmal
bestehend aus rustikalen Laiensängern vom Dorfe, die keine Noten lesen
konnten.125 Wenn sie in Südamerika Pech hatten, mussten sich manche die
Rückfahrt in die Heimat durch Landarbeit verdienen. So wie Argentinien,
Uruguay und Brasilien zu wichtigen Zielen der italienischen Massenauswanderung wurden, so kann man die Opernhäuser Lateinamerikas als Außenposten des europäischen Musikbetriebs beschreiben. An erster Stelle unter
ihnen standen die verschiedenen Theater von Buenos Aires, vor allem das 1857
eröffnete Teatro Coln (als Neubau 1908 wiedereröffnet).
Die italienische Hegemonie über den argentinischen Opernbetrieb erlebte ihr
goldenes Zeitalter zwischen etwa 1873 und 1914; sie endete mit der Weltwirtschaftskrise. Bis dahin wurden zwar nicht ausschließlich Werke von italieni121 James Radomski, Manuel Garca, 1775 – 1832. Chronicle of the Life of a Bel canto Tenor
at the Dawn of Romanticism, Oxford 2000.
122 Susan Richardson, Art. New York, in: MGG, Sachteil, Bd. 7 (1997), Sp. 153 – 161, hier
Sp. 157 f.
123 Battistini war immerhin als junger Anfänger zweimal, 1881 und 1889, in Südamerika:
Jacques Chuilon, Mattia Battistini. King of Baritones and Baritone of Kings, Lanham,
MD 2009, S. 320.
124 Das Folgende nach John Rosselli, The Opera Business and the Italian Immigrant
Community in Latin America, 1820 – 1939. The Example of Buenos Aires, in: Past &
Present 127. 1990, S. 155 – 182.
125 Hochqualifizierte italienische Chorsänger wurden um 1900 an den großen Opernbühnen des Auslands angestellt, die sich spezielle italienische Chöre leisteten. Vgl. John
Rosselli, Singers of Italian Opera. The History of a Profession, Cambridge 1992, S. 207.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
121
schen Komponisten gespielt, aber alles wurde unterschiedslos auf Italienisch
gesungen, von in Italien ausgebildeten Sängern unter italienischen Dirigenten
und Managern und in Kostümen und Bühnenbildern, die oft komplett aus
Italien importiert wurden. Neben den wenigen großen Stars traten zahlreiche
Künstler auf, die schlecht bezahlt an italienischen Provinztheatern fünfmal in
der Woche auf der Bühne standen und den Umstand nutzten, dass die
argentinische Hauptsaison in die Zeit der sommerlichen Theaterferien Italiens
fiel. Das Publikum verteilte sich auf zwei Arten von Häusern: In den
vornehmen und teuren Theatern dominierte die spanisch sprechende kreolische Oberschicht, durchsetzt mit Angehörigen der britischen und deutschen
Kaufmannschaft. Ein italienisches Publikum vorwiegend plebejisch-kleinbürgerlichen Charakters sammelte sich hingegen in Theatern mit niedrigeren
Eintrittspreisen, in denen es turbulent wie in Italien zuging.126 Auch erstklassige Sänger wie die Sopranistin Luisa Tetrazzini (1871 – 1940) traten hier auf.
Tetrazzini zog sogar mit einer eigenen Truppe durch Südamerika und stand
dort öfter auf der Bühne als an der Met.127
Wann wurde die Welt außerhalb des Atlantik in die Musikermigration
einbezogen? Darüber fehlt es noch an Studien. Ein früher musikalischer
Globetrotter war der belgische Geigenvirtuose Ovide Musin (1854 – 1929), der
Japan, China, Niederländisch-Ostindien, Neuseeland und Australien besuchte.128 Dass Australien nach der Jahrhundertwende eine Rolle zu spielen begann,
war hauptsächlich das Verdienst der großen Primadonna Nellie Melba, der
Tochter eines von Schottland nach Melbourne ausgewanderten Bauunternehmers, die von London oder New York aus immer wieder in ihr Heimatland
zurückkehrte und sich dort für den Aufbau des Musiklebens einsetzte.129 Der
erste pianistische Weltstar, der Pole Ignacy Paderewski (1860 – 1941), Historikern als kurzzeitiger (Januar bis Dezember 1919) Ministerpräsident und
Außenminister der Republik Polen bekannt, durchquerte mehrmals Europa
und die USA und besuchte mit dem für ihn unentbehrlichen großen Tross, also
Flügel, Ehefrau, Kammerdienern, Sekretär, Manager, Klavierstimmer und über
126 Rosselli, Opera Business, S. 168 ff.
127 Zur Biographie und künstlerischen Charakterisierung von Sängerinnen und Sägern an
der „langen“ Jahrhundertwende vgl. Jens Malte Fischer, Große Stimmen. Von Enrico
Caruso bis Jessye Norman, Stuttgart 1993, zu Tetrazzini ebd., S. 65 – 67.
128 Malou Haine, Les voyages autour du monde du violiniste Ovide Musin de 1872 1908,
in: Bulletin des Muses Royaux d’Art et d’Histoire 71. 2000, S. 281 – 298.
129 Die Standardbiographie ist John Hetherington, Melba. A Biography, Melbourne 1995;
daneben Ann Blainey, I am Melba. A Biography, Melbourne 2008. Das wichtigste
Ereignis für die Weltgeltung der australischen Musiklebens dürfte aber erst die
Eröffnung des Opernhauses in Sydney 1973 gewesen sein. Melbas Ruhm als australischer Weltstar setzte sich später in der Sopranistin Joan Sutherland (1926 – 2010) fort,
die seit 1959 regelmäßig im Ausland auftrat.
122
Jürgen Osterhammel
hundert Koffern auch Südafrika, Australien und Neuseeland; auf seiner
weitläufigsten Tournee gelangte er 1904 bis nach Tasmanien.130
Das war eine Ausnahme. Vor den zwanziger, im Grunde vor den sechziger
Jahren, als der Luftverkehr das Fernreisen erleichterte, lagen Japan, China und
Ozeanien, außerhalb des Radius des internationalen Tourneebetriebs. Wenn
einmal eine Zelebrität wie im Sommer 1925 der österreichische, damals in
Berlin lebende Geiger Fritz Kreisler (1875 – 1962) Australien und Neuseeland
besuchte (1923 war er bereits in China gewesen), war dies von großer
Medienaufmerksamkeit begleitet und wurde zu einem Ereignis in der
Geschichte des Musiklebens dieser Länder.131 Der Komponist und Pianist
Sergej Prokofjev reiste im Mai 1918 von Russland über Japan in die USA, hatte
dabei aber nur flüchtigen Kontakt mit japanischen Musikern.132 Der irische
Tenor John MacCormack (1884 – 1945), dessen Ruhm auf dem Höhepunkt
seiner Laufbahn demjenigen Enrico Carusos (1873 – 1921) nahekam, besuchte,
durch Nellie Melba animiert, dreimal Australien und gastierte 1926 in China
und Japan – in China in der segregierten Welt der von Westlern dominierten
Vertragshäfen wie Shanghai, in der allerdings Eintritt zahlende Chinesen
zunehmend auch zu Aufführungen europäischer Musik Zutritt hatten.133
Charakteristisch für das Reiseverhalten musikalischer Prominenter um die
Jahrhundertwende ist die Auftrittsgeschichte des größten männlichen Gesangsstars der Epoche, Enrico Caruso. Zwischen 1895 und 1920 gastierte der
reisefreudige neapolitanische Tenor in ganz Europa von Palermo bis Glasgow
und von Lissabon bis St. Petersburg, in fast jeder nordamerikanischen Großund Mittelstadt, in Buenos Aires, Montevideo, Rio de Janeiro und Mexico
City,134 aber nur ein einziges Mal, als zweiundzwanzigjähriger Nobody, in
Kairo, wo seit der Eröffnung des Opernhauses 1869 italienische Impresarii das
Musiktheater kontrollierten.135 Niemals war Caruso an anderen Orten des
130 Adam Zamoyski, Paderewski, London 1982, S. 116 – 119; Richard K. Liebermann,
Steinway and Sons, New Haven, CT 1995, S. 108 – 115.
131 Anne-Marie H. Forbes, The Local Impact of an International Celebrity. Fritz Kreisler in
Australia, in: Musicology Australia 31. 2009, S. 1 – 16.
132 David Nice, Prokofiev. From Russia to the West, 1891 – 1935, New Haven, CT 2003.
S. 146.
133 Ausführliche Biographie auf der Homepage der MacCormack Society, http://
www.mccormacksociety.co.uk/. Zur sozialen und musikalischen Segregation in Shanghai vgl. Joys Hoi Yan Cheung, Chinese Music and Translated Modernity in Shanghai,
1918 – 1937, Diss. University of Michigan 2008, S. 79 ff.; auch Melvin u. Cai, Rhapsody in
Red, S. 39.
134 Liste seiner sämtlichen Auftritte in Michael Scott, Caruso. Die Jahrhundertstimme,
München 1993, S. 285 – 349. Es gibt erst wenige solcher Register ganzer Auftrittskarrieren, vgl. etwa für den bedeutendsten Belcanto-Bariton um die Jahrhundertwende:
Chuilon, Mattia Battistini, S. 317 – 385.
135 Scott, Caruso, S. 37. Zur Oper in Kairo vgl. Adam Mestyan, From Private Entertainment
to Public Education? Opera in the Late Ottoman Empire, 1805 – 1914. An Introduction,
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
123
Orients. Ganze Orchester begannen noch später zu reisen. Die Berliner
Philharmoniker unternahmen ihre weiteste Vorkriegsreise 1899 nach Russland. Schon 1895 waren sie nach Wien gekommen; die Wiener Philharmoniker
erwiderten den Besuch erst 1918. Nach dem Ersten Weltkrieg gastierten
europäische Orchester zunächst in Lateinamerika, nicht vor dem Zweiten
Weltkrieg auch in Asien. Die Wiener Philharmoniker fuhren 1956 erstmals
nach Japan, 1959 nach Indien, 1973 nach China.136
VI. Technische Tonträger. Die Trennung von Klang und Person
Die Pariser Weltausstellung von 1889 war ein in ganz Europa beachtetes und
daher reich dokumentiertes Ereignis. Sie setzte die Musikwelt Klängen aus, die
nicht länger ohne Bedenken als „primitiv“ oder „barbarisch“ abgetan werden
konnten. Zu exakt derselben Zeit machte die Medienentwicklung erstmals
Töne aus der Ferne in Europa hörbar. In Fortsetzung früheren Nachdenkens
darüber, wie unsichtbare und flüchtige Schallwellen sichtbar und konservierbar gemacht werden könnten, erfand Thomas Alva Edison, damals bereits ein
bekannter Konstrukteur telegraphischer Apparate, den Phonographen. Im
Dezember 1877 gelang erstmals die Aufnahme und Wiedergabe von Schall
durch ein Gerät, das akustische Schwingungen über einen Griffel auf eine mit
Zinnfolie überzogene rotierende Walze übertrug.137 Ab 1888 war die Grundtechnologie für einen ausgereiften und serienmäßig herstellbaren Phonographen verfügbar, der nunmehr beschreibbare Wachszylinder und einen
Elektromotor verwendete. Der neue Apparat, den Edison zunächst als
Diktiergerät für den Bürogebrauch verstanden hatte, war transportabel. Im
Prinzip konnte man nun überall in der Welt Klänge sammeln, sie speichern
und sie an anderen Orten und zu anderen Zeiten wiedergeben. Die technische
Weiterentwicklung über das Grammophon, die elektromagnetische Aufzeichin: Sven Oliver Müller u. a. (Hg.), Oper im Wandel der Gesellschaft. Kulturtransfers und
Netzwerke des Musiktheaters im modernen Europa, Wien 2010, S. 263 – 276; Adam
Mestyan, „A Garden with Mellow Fruits of Refinement“. Music Theatres and Cultural
Politics in Cairo and Istanbul, 1867 – 1892, Diss. Central European University Budapest
2011, Kap. 5; El-Shawan, Western Music and Its Practitioners in Egypt, S. 144; Flores,
Offenbach in Arabien.
136 Herta u. Kurt Blaukopf, Die Wiener Philharmoniker. Welt des Orchesters, Orchester der
Welt [1986], Wien 1992, S. 280 u. S. 284; Herbert Haffner, Die Berliner Philharmoniker.
Eine Biographie, Mainz 2007, S. 61 u. S. 69.
137 David L. Morton Jr., Sound Recording. The Life Story of a Technology, Baltimore, MD
2004, S. 5 – 10, die beste technologiegeschichtliche Einführung; daneben der Klassiker
Roland Gelatt, The Fabulous Phonograph, 1877 – 1977, London 19772. Zu Deutschland
umfassend: Stefan Gauß, Nadel, Rille, Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und
des Grammophons in Deutschland, 1900 – 1940, Köln 2009.
124
Jürgen Osterhammel
nung und die Glanzzeit der Vinylschallplatte in den 1960er Jahren bis zur
Digitaltechnik bereicherte die akustischen und kommerziellen Möglichkeiten,
änderte aber nichts am Grundprinzip der maschinellen Trennung des Klangs
von seinen menschlichen Produzenten.
Noch bevor der Phonograph zur Aufnahme europäischer Kunstmusik genutzt
wurde, erkannten experimentelle Tonpsychologen und Ethnologen sein
Potenzial. Die frühesten Aufzeichnungen der Gesänge nordamerikanischer
Indianer mit einem Edison-Phonographen datieren aus dem Jahre 1890.138
Bereits wenige Jahre später liefen breit angelegte Aufnahmeprojekte in den
USA und in den europäischen Kolonien an.139 1886 hatte der Philosoph,
Psychologe und Musikforscher Carl Stumpf (1848 – 1936) die empirische
Erforschung nichteuropäischer Musik angeregt.140 1904 veröffentlichten
Stumpfs Schüler Erich Moritz von Hornbostel (1877 – 1935) und Otto
Abraham (1872 – 1926) einen bahnbrechenden Aufsatz mit dem Titel „Über
die Bedeutung des Phonographen für die Vergleichende Musikwissenschaft“.141 Die erste wichtige Sammlung technisch fixierter Klänge wurde
1899 eingerichtet, das Wiener Phonogramm-Archiv. 1900 gründeten Stumpf
und von Hornbostel ein Phonogramm-Archiv in Berlin, das Hornbostel leitete,
bis er 1933 in die Emigration gezwungen wurde.142 Nun war eine wahrhaft
universale, zugleich naturwissenschaftliche Methoden nutzende Musikwissenschaft möglich geworden, die den abendländischen Kanon innerhalb
größerer Zusammenhänge relativierte, auch wenn manche ihrer Vertreter
unter evolutionstheoretischen Prämissen Europa einen gewissen Entwicklungsvorsprung zubilligten. Sie setzte der okzidental orientierten, geistesgeschichtlich, werkanalytisch und biographisch vorgehenden Musikgeschichte,
prominent vertreten durch Hugo Riemann (1849 – 1919) in Leipzig,143 ein
138 Schriftliche Aufzeichnungen sind etwas älter. Zu einer wichtigen Quelle wurde die
Leipziger Dissertation des Amerikaners Theodore Baker, „Über die Musik der
nordamerikanischen Wilden“, die z. B. Edward McDowell zu „indianischen“ Kompositionen anregte. Vgl. Wild, Lieder der nordamerikanischen Indianer, S. 20 – 23. Einige
der aufzeichneten Gesänge stammten aber aus den Hymnenbüchern christlicher
Missionare: S. 28 u. S. 34.
139 Burkhard Stangl, Ethnologie im Ohr. Die Wirkungsgeschichte des Phonographen, Wien
2000, S. 67; Timothy Day, A Century of Recorded Music. Listening to Musical History,
New Haven, CT 2000, S. 233, dort das Datum 1889; Erica Brady, A Spiral Way. How the
Phonograph Changed Ethnography, Jackson, MS 1999.
140 Jobst Fricke u. Albert Wellek, Art. Stumpf, (Friedrich) Carl, in: MGG, Personenteil,
Bd. 16 (2006), Sp. 228 – 231, hier Sp. 228.
141 Zeitschrift für Ethnologie 36. 1904, S. 222 – 233, auch in: Hornbostel Opera Omnia,
Bd. 1, hg. v. Klaus P. Wachsmann u. a., Den Haag 1975, S. 183 – 222.
142 Ein kleiner Teil der Bestände dieser Archive ist heute auf CD zugänglich, etwa in der
Serie „Historische Klangdokumente“ des Berliner Phonogramm-Archivs.
143 Vgl. Alexander Rehding, Hugo Riemann and the Birth of Modern Musical Thought,
Cambridge 2003.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
125
völlig neues wissenschaftliches Konzept entgegen, das sich methodisch an die
vergleichende Sprachwissenschaft anlehnte und Forschungstechniken der
Verhaltensbeobachtung und des exakten Messens nicht verschmähte. Fachpolitisch und institutionell vermochte sich der umfassende Ansatz von
Stumpf, Hornbostel und Sachs allerdings nicht gegen die eurozentrische
Prägung des Faches durchzusetzen.144
Ab ungefähr der Jahrhundertwende konnten Live-Darbietungen von Musik
aller Art aufgezeichnet, gesammelt, archiviert und durch wiederholtes Abspielen studiert werden. Erstmals ließ sich nun unverschriftlichte Musik auf
ein Speichermedium bannen. Die alte Abhängigkeit von unzureichenden
Notationssystemen war damit gebrochen. Authentische Phonogramme von
„Naturvölkern“, wie es damals hieß, wurden keineswegs zu Objekten westlicher Massenkultur.145 Aber Komponisten, die an der authentischen Musikproduktion der „Anderen“ interessiert waren, konnten sich fortan den
Originalklängen viel unmittelbarer nähern als ihre Vorgänger, die auf
notwendig unvollkommene Transkriptionen angewiesen waren. Es muss
jedoch eingeräumt werden, dass sich die meisten von ihnen der neuen
Möglichkeiten mit großer Zurückhaltung bedienten. Als Puccini 1920 mit der
Arbeit an der Partitur seiner Oper „Turandot“ begann, bestand die Grundlage
für seine akustischen Eindrücke vom Osten nicht in phonographischen
Aufnahmen, sondern in einer Spieldose, die ein italienischer Diplomat aus
China mitgebracht hatte.146 Zwar rückten der Phonograph und sein Nachfol144 Ein Grundtext ist Erich Moritz von Hornbostel, Die Probleme der vergleichenden
Musikwissenschaft [1905], in: Hornbostel Opera Omnia, Bd. 1, S. 247 – 270. Zur schwachen fachlichen Verankerung und der Unterbrechung der vergleichenden Forschungsrichtung vgl. Pamela M. Potter, Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und
Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs, Stuttgart 2000,
S. 219 – 224. Gute allgemeine Überblicke: Braun u. Finscher, Einleitung, S. 42 – 51; Dieter
Christensen u. a., Art. Musikethnologie, in: MGG, Sachteil, Bd. 6 (1997), Sp. 1259 – 1291;
Bruno Nettl u. Philip V. Bohlman (Hg.), Comparative Musicology and Anthropology of
Music. Essays on the History of Ethnomusicology, Chicago 1991; Vanessa Agnew, The
Colonialist Beginnings of Comparative Musicology, in: Eric Ames u. a. (Hg.), Germany’s
Colonial Pasts, Lincoln, NE 2005, S. 41 – 60; Hansjakob Ziemer, Homo Europaeus
Musicus. Musikwissenschaftler, Musik und kulturelle Identität im ersten Drittel des 20.
Jahrhunderts, in: Lorraine Bluche u. a. (Hg.), Der Europäer – ein Konstrukt. Wissensbestände, Diskurse, Praktiken, Göttingen 2009, S. 33 – 57, hier S. 38 – 48.
145 Etwas anderes ist die ebenfalls mit der Schallplatte verbundene Entwicklung der
Kategorie „ethnic music“. Vgl. etwa William Howland Kenney, Recorded Music in
American Life. The Phonograph and Popular Memory, 1890 – 1945, New York 1999,
S. 65 – 87.
146 Kii-Ming Lo, „Turandot“, S. 325; Über die breitere westliche Rezeption der chinesischen
Melodie „Molihua“, die Puccini so faszinierte, vgl. Chen Tzu-Kuang, Chinesische Kultur
in der westlichen Musik des 20. Jahrhunderts. Modelle zur interkulturellen Musikpädagogik, Frankfurt 2006, S. 68 – 89.
126
Jürgen Osterhammel
ger, das Grammophon, die Vision eines Archivs von „Weltmusik“ in den
Horizont des Realisierbaren, doch waren die Folgen dieser buchstäblichen
Horizonterweiterung für die europäische Kunstmusik einstweilen keineswegs
dramatisch. Wenn nicht gerade Komponisten – wie die jungen Ungarn Bla
Bartk (1881 – 1945), Zltan Kodly (1882 – 1967) und Lszl Lajtha
(1892 – 1963) in Ungarn, Rumänien, der Türkei, auf dem Balkan und in
Nordafrika oder der Australier Percy Grainger (1882 – 1961) im englischen
Lincolnshire147 – selbst mit Aufnahmegeräten ins ethnographische Feld zogen,
blieb die Chance, dass nichteuropäische Musik oder auch europäische
Volksmusik in den Prozess musikalischer Schöpfung eingeschmolzen werden
würden, relativ gering. Auch nach dem doppelten Realitätsschub der technischen Reproduktion und der Live-Aufführung nichteuropäischer Musik in
Europa stellten nur eine kleine Zahl wichtiger Komponisten, etwa der Pole
Karol Szymanowski (1882 – 1937), die Herausforderung durch das musikalisch
Andere in den Mittelpunkt ihrer kreativen Arbeit.
Einen ganz anderen globalen Effekt löste die neue Technik samt ihrer
industriellen Verwertung dadurch aus, dass Musik über käufliche Abspielgeräte und Tonträger ins häusliche Wohnzimmer geholt werden konnte. Auch die
Dokumentation europäischer Kunstmusik wurde nun möglich. Manche der
ganz frühen Tondokumente sind so undeutlich, dass sie noch nicht einmal die
Aura des Authentischen verströmen, so etwa eine Aufnahme vom Klavierspiel
des alten Johannes Brahms, festgehalten kurz vor seinem Tod am 3. April 1897.
Aber schon wenig später wurden technisch wesentlich bessere Aufnahmen
möglich. Die frühesten Gesangsaufnahmen, die einen Originalklang erahnen
lassen, stammen aus den Jahren ab 1902. Damals traten neben Jungstars wie
Enrico Caruso mit seinen ersten Aufnahmen in Mailand im April 1902 auch
einige Sängerveteraninnen und -veteranen des 19. Jahrhunderts, die noch mit
Wagner oder Verdi zusammengearbeitet hatten, im reiferen Alter vor den
Aufnahmetrichter : so etwa Adelina Patti (1843 – 1919), Lilli Lehmann
(1848 – 1929) oder Francesco Tamagno (1850 – 1905).148 Der Geiger Joseph
Joachim (1831 – 1907), der bereits mit dem 1847 verstorbenen Felix Mendelssohn-Bartholdy konzertiert hatte und mit Clara Schumann und Johannes
Brahms befreundet gewesen war, kam 1903 ins Studio und dokumentierte eine
Spieltechnik, die bald darauf als antiquiert betrachtet wurde.149 Aufnahmen
147 Vgl. Katie Trumpener, Bla Bartk and the Rise of Comparative Ethnomusicology.
Nationalism, Race Purity, and the Legacy of the Austro-Hungarian Empire, in: Ronald
Radano u. Philip V. Bohlman (Hg.), Music and the Racial Imagination, Chicago 2000,
S. 403 – 434; Bob van der Linden, Percy Grainger and Empire. Kipling, Racialism, and all
the World’s „Folk Music“, in: British Music 32. 2010, S. 13 – 24.
148 Scott, Caruso, S. 92 – 97; Gelatt, Fabulous Phonograph, S. 114 – 116.
149 Daniel Leech-Wilkinson, Recordings and Histories of Performance Style, in: Nicholas
Cook u. a. (Hg.), The Cambridge Companion to Recorded Music, Cambridge 2009,
S. 246 – 262, hier S. 251; zur Dokumentation Joachims und anderer Geiger um 1900 vgl.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
127
von passabler technischer Qualität – bei Pianisten seit etwa 1905 auch durch
Lochstreifenklaviere möglich – schufen, unterstützt durch allmählich sinkende Preise, mit der Zeit einen Massenmarkt für „klassische“ Musik.150
Nicht nur in Europa und Nordamerika fanden Aufnahmen westlicher Musik
Interessenten. Die „talking machine“, wie es lange Zeit offiziell hieß, ein Gerät,
das sogar die Stimmen von Toten auszuspucken vermochte, wurde überall als
ein Wunder bestaunt. In China wie in Indien, Ländern mit einem potenziell
riesigen Publikum, lösten Phonograph und Grammophon eine Medienrevolution aus. Die amerikanischen und europäischen Grammophon-Gesellschaften nahmen diese beiden Märkte von einem frühen Zeitpunkt an ins Visier. Sie
verkauften Wiedergabegeräte und Wachswalzen beziehungsweise Schallplatten mit Opernarien, gesungen von Stars wie Melba oder Caruso, oder kurzen
Instrumentalstücken, die im Westen aufgenommen wurden. Schon ab 1889/90
wurden Abspielgeräte in Shanghai und Japan zum Kauf angeboten.151 Die
Kundschaft fand sich unter einer wachsenden Mittelschicht in den großen
Städten Indiens und Chinas. Das Grammophon im Wohnzimmer und Carusos
Tenorstimme, wie sie aus einem riesigen Schallhorn drang, wurden zu
Emblemen eines neuen, „modernen“, zum Westen offenen Lebensstils.
Zu einem frühen Zeitpunkt schickten die großen Gesellschaften Aufnahmetechniker in die Länder des Ostens, um einheimische Musik in asiatischen
Umgebungen aufzuzeichnen. Schon 1902 entsandte Gramophone & Typewriter Limited den jungen Fred Gaisberg (1873 – 1951), einen klangtechnisch
versierten und diplomatisch geschickten Pianisten, der wenige Monate zuvor
in Mailand die ersten Aufnahmen Carusos realisiert und überall in Europa
Sängertöne eingesammelt hatte, auf eine große Asienreise. Gaisberg und sein
Team erhielten den Auftrag, örtliche – etwa tatarische, indische, burmesische
oder chinesische – Musik aufzuzeichnen und kommerziell verwertbar zu
machen.152
Dies hatte mit den wissenschaftlichen Interessen der frühen Ethnomusikologen wenig zu tun. Vielmehr ging es darum, einheimische Märkte für
Schallträger mit „nationaler“ indischer oder chinesischer Musik zu erschlieMark Katz, Capturing Sound. How Technology Has Changed Music, Berkeley, CA 2004,
S. 85 – 97.
150 Vgl. den Überblick über die technische Erschließung des Repertoires bei Day, A Century
of Recorded Music, Kap. 2. Ein breiterer kultursoziologischer Ansatz bei David
Suisman, Selling Sounds. The Commercial Revolution in American Music, Cambridge,
MA 2009. Vgl. auch Gauß, Nadel; Andre Millard, America on Record. A History of
Recorded Sound, Cambridge 20052.
151 Andreas Steen, Zwischen Unterhaltung und Revolution. Grammophone, Schallplatten
und die Anfänge der Musikindustrie in Shanghai, 1878 – 1937, Wiesbaden 2006, S. 69,
eine vorbildliche Studie zur globalen Schallplattengeschichte.
152 Ebd., S. 58 ff.; Farrell, Indian Music and the West, S. 114 – 119; Pekka Gronow u. Ilpo
Saunio, An International History of the Recording Industry, London 1998, S. 11 f.
128
Jürgen Osterhammel
ßen; auch die Bewohner amerikanischer Chinatowns wurden bereits als
Kunden ins Visier genommen. Da Leute wie Gaisberg so gut wie nichts über
asiatische Musik wussten und umgekehrt indische oder chinesische Musiker
völlig unvorbereitet vor der neuen Technik standen, war dieses Unternehmen
mit allen nur denkbaren Anfangsschwierigkeiten behaftet. Aber bald wurde
klar, dass ein neues Kapitel der auditiven Kulturgeschichte begonnen hatte.
Für asiatische Musiker öffneten sich neue Tätigkeitsfelder und Märkte jenseits
fürstlicher oder staatlicher Patronage; generell hob sich ihr sozialer Status.
Ausübende, die diese kurzen Formate meisterten, profitierten von den neuen
Möglichkeiten, während die früher hoch angesehenen Meister traditionaler
Formen ins Hintertreffen gerieten.153 Neue überlokale Stars stiegen auf, so etwa
die Sängerin Gauhar Jan (ca. 1875 – 1930), die Vertreterin eines Stils, den man
im indischen Zusammenhang als „light classical“ bezeichnen könnte.154 Die
Hierarchie der Wertschätzung musikalischer Gattungen verschob sich. Lange
fassten Grammophonseiten maximal viereinhalb Minuten Musik. Ebenso wie
dies in Europa die typische Opernarie begünstigte, so traten in asiatischen
Ländern knappe Liedformen vor ausgedehnten instrumentalen Improvisationen in den Vordergrund.
Neue Konzepte von dem, was „indische“ oder „chinesische“, also „nationale“
Musik sei, wurden nun diskutiert. Das Konzept solcher „nationalen“ Musik
verdankte seine Existenz überhaupt erst dem Zusammenfluss von frühem
Nationalismus und der Technologie und Ökonomie massenhaft produzierten
Klangs. Westliche Technik und westliche Geschäftsmethoden ließen Traditionen einer rein indigenen Musik wieder aufleben oder gar erst entstehen. Und
von Anfang an stand der Anspruch herausfordernd im Raum, die „seriöse“
europäische Kunstmusik sei der zivilisierte und allgemeine Maßstab aller
Dinge, die lokale Musik hingegen partikulare Folklore.155
153 Für China vgl. Steen, Zwischen Unterhaltung und Revolution; Andrew F. Jones, Yellow
Music. Media Culture and Colonial Modernity in the Chinese Jazz Age, Durham, NC
2001, S. 53 – 72; für Indien: Farrell, Indian Music and the West, S. 111 – 143; Stephen P.
Hughes, The „Music Boom“ in Tamil South India. Gramophone, Radio and the Making
of Mass Culture, in: Historical Journal of Film, Radio and Television 22. 2002,
S. 445 – 473. Über Nationalismus und Musikpolitik vgl. Janaki Bakhle, Two Men and
Music. Nationalism in the Making of an Indian Classical Tradition, Oxford 2005 (diesen
Hinweis verdanke ich Harald Fischer-Tin); Pamela Moro, Constructions of Nation and
the Classicisation of Music. Comparative Perspectives from Southeast and South Asia,
in: Journal of Southeast Asian Studies 35. 2004, S. 187 – 211.
154 Farrell, Indian Music and the West, S. 118 – 120. Vgl. auch die Bemerkungen von Peter
Manuel im Booklet zu einer CD mit indischen Grammophonaufnahmen ab 1906:
Vintage Music from India. Early Twentieth-century Classical and Light-classical Music,
Rounder Records 1993. Für weitere Erläuterungen danke ich Anil Bhatti.
155 So, etwas übertreibend, Karl Miller, Talking Machine World. Selling the Local in the
Global Music Industry, 1900 – 1920, in: Anthony G. Hopkins (Hg.), Global History.
Interactions Between the Universal and the Local, Basingstoke 2006, S. 160 – 190.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
129
VII. Schluss
Um 1930 waren Grundmuster eines globalen Musikmarktes entstanden.
Genauer gesagt, waren es mindestens zwei Märkte: Erstens gab es nun eine
Topographie des Opern- und Konzertbetriebs, die sämtliche Kontinente
umfasste und die durch die Mobilität international agierender Musiker
zusammengehalten und verwoben wurde. Zweitens führte die frühe Nutzung
der Phonographie durch grenzüberschreitend tätige Konzerne dazu, dass
konservierter Klang jene Kunden und Hörer erreichen konnte, denen der
Zugang zu Aufführungen fehlte. Diese Entlokalisierung von Vokal- und
Instrumentalklängen machte europäische Töne in Asien oder brasilianische
Töne in Nordamerika wahrnehmbar. Als Folge der medialen Revolution
auditiver Reichweiten stellt sich die Frage nach der ästhetischen Entgrenzung
von Musik, also nach der fortdauernden Stabilität des kulturellen Komplexes
„europäische Musik“. Die Antwort darauf muss nahe an die Gegenwart heran
führen. Im Verlauf musikalischer Globalisierung nahm die Bedeutung ferner
Ursachen und Einflüsse zu. Europäische Musik, die in neue kulturelle und
soziale Zusammenhänge verpflanzt wurde, erfuhr dabei nur geringe Veränderungen. Die Partituren wurden nicht in einer solchen Weise indigenisiert,
wie sich umgekehrt westliche Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts
Freiheiten mit östlichem Material genommen hatten. Heute werden überall auf
der Welt die Werke der westlichen Kunstmusik getreu nach den Notentexten
aufgeführt. Das auch in Europa erst im 20. Jahrhundert – etwa durch die
Proben- und Dirigierpraxis Toscaninis – verbindlich gewordene Ideal der
Texttreue wird sorgsam beachtet. Die Aufführungstechniken sind im Prinzip
überall dieselben. Koreanische Geiger gehen mit ihren Instrumenten in der
derselben Weise um wie ihre westlichen Kollegen. Die gesamte soziale
Konfiguration, die sich im 19. Jahrhundert um „klassische“ Musik gelagert
hatte, wurde im Paket mit dieser Musik in außereuropäische Länder exportiert,
damit zugleich auch meist der in Europa übliche Kanon von „großen Werken“.
Opernhäuser funktionieren in aller Welt nach denselben Mechanismen. In
öffentlichen Konzerten in Tokyo oder Shanghai werden dieselben Verhaltensnormen und Rituale beachtet wie in Europa oder Nordamerika.
Während der etwa vier Jahrhunderte ihrer Existenz und mindestens bis zur
Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich die europäische Musik, zunehmend von der
Kirche emanzipiert und seit Beethoven und den ihn fördernden Kritikern die
„absolute“ Instrumentalmusik an die Spitze der kulturellen Hierarchie
stellend, als ein relativ hermetischer kultureller Komplex erwiesen. Die
europäische Expansion in der Welt durch Handel und Eroberung, Reisen und
Mission hat an dieser grundsätzlichen Tatsache wenig geändert, der Exotismus
die Musikgeschichte bereichert, aber nicht revolutioniert.156 Bis zum Ende des
156 Das könnte auch an der erstaunlich begrenzten Rezeption des Jazz in der „ernsten“
Musik vor etwa 1950 gezeigt werden.
130
Jürgen Osterhammel
19. Jahrhunderts blieb die Bekanntschaft mit nichteuropäischer Musik
begrenzt und dem Zufall überlassen. Obwohl zeitweise, insbesondere in
Frankreich, Anleihen bei nichteuropäischen musikalischen Idiomen gemacht
wurden, unterlagen diese stets einer radikalen Verwestlichung und blieben an
der dekorativen Oberfläche der musikalischen Textur. Sie wurden niemals so
weit einbezogen, dass sie im Stande gewesen wären, die Harmonien, Rhythmen und Formschemata, welche die westliche Tradition definierten, außer
Kraft zu setzen.
Um 1890 wurde erstmals eine gegenstandsnahe Kenntnis nichteuropäischer
Musik technisch möglich. Ungefähr gleichzeitig mit der für die europäische
Kunst folgenreichen Rezeption japanischer Holzschnitte oder afrikanischer
Plastik schien die Entdeckung des Ostens und des Südens einen Weg aus der
Krise der westlichen Musik im Zeitalter einer überreifen Spätromantik zu
weisen. In musikgeschichtlich beispiellosen Umfang wurde frische Inspiration
außerhalb der ästhetischen Sphäre des Westens gesucht. Die Jahre um die
Jahrhundertwende von 1900, als Debussy, Mahler, Puccini, Richard Strauss
(„Salom“, 1905) oder Igor Stravinskij in seiner Ballett-Periode vor dem Ersten
Weltkrieg sich mit dem Exotischen in seiner orientalischen ebenso wie in
seiner folkloristischen Gestalt ernsthaft auseinandersetzten, bildeten, gleichzeitig mit der Zeit des Hochimperialismus, den Extrempunkt ästhetischer
Inklusion. Lawrence Kramer hat die bedenkenswerte Vermutung geäußert, der
– nicht nur musikalische – Exotismus sei im Zeitalter der Kolonialwaren und
des Transfers großer Mengen asiatischer und afrikanischer objets d’art in die
Museen und bürgerlichen Salons des Westens eine Form des Konsums des
Fremden gewesen.157 Allerdings wirkte der Exotismus nicht traditionsbildend,
und nach 1918 wurde in Europa das Konsumklima rauer. Die klassische
Moderne jenseits der Spätromantik, wie sie Arnold Schönberg und seine
Zweite Wiener Schule, der strenge Stravinskij der Nachkriegszeit oder
Komponisten wie Bla Bartk und der franko-amerikanische Individualist
Edgar Varse (1883 – 1956) schufen, wurde weder auf Inklusion (Exotismus)
noch auf Pluralismus (dem Programm einer multikulturellen Weltmusik)
aufgebaut. In der musikalischen ebenso wie der musiktheoretischen Sprache
der künstlerischen Revolution erlebte die Selbstbezogenheit der großen
europäischen Tradition eine Art von Wiederauferstehung.158 Allerdings ging
dies zumindest in den zwanziger Jahr da und dort mit dem Willen einher,
durch einen möglichst weit gefassten Musikbegriff künstlerisch zur Versöh-
157 Lawrence Kramer, Consuming the Exotic. Ravel’s „Daphnis et Chlo“, in: ders.,
Classical Music and Postmodern Knowledge, Berkeley, CA 1995, S. 201 – 225, bes. S. 204.
158 Zur Rezeption afrikanischer Musik (die in diesem Beitrag unbeachtet bleiben muss) vgl.
Florian Carl, Was bedeutet uns Afrika? Zur Darstellung afrikanischer Musik im
deutschsprachigen Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Münster 2004.
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Globale Horizonte europäischer Kunstmusik
131
nung der Völker beizutragen, so etwa 1927 in der Frankfurter Ausstellung
„Musik im Leben der Völker“.159
Der Klassikerkanon und seine soziale Einbettung zeigen eine in der neuzeitlichen Kulturgeschichte seltene Stabilität und Konsistenz. Westliche Musik hat
die Welt „kolonisiert“ und sich dabei wenig verändert. Neuansätze lassen sich
erst nach dem Zweiten Weltkrieg beobachten. Zum ersten Mal fanden
Komponisten wie der Japaner Tōru Takemitsu (1930 – 1996) und die Koreaner
Isang Yun (1917 – 1975) und Nam June Paik (1932 – 2006)160 Zugang zum
Pantheon „ernster“ Musiker von globaler Geltung. Noch berühmter waren und
sind asiatische Interpreten westlicher Klassik wie der indische Dirigent Zubin
Mehta (geb. 1936), der Cellist Yo-Yo Ma (geb. 1955), ein in Paris geborener
Sohn chinesischstämmiger Eltern, oder der aus der Mandschurei stammende
Pianist Lang Lang (geb. 1982). In den 1950er Jahren besuchte der Violinvirtuose Yehudi Menuhin (1916 – 1999) Indien und fand sich mit dem SitarMeister Ravi Shankar (geb. 1920) zu einer engen künstlerischen Partnerschaft
zusammen. Der Höhepunkt ihres gemeinsamen Musizierens war 1966 erreicht, als sich Shankar und Menuhin zu öffentlicher Improvisation trafen.161
Eine andere Neuheit der letzten Jahre ist das Konzept der „Weltmusik“, ein
spätes Echo auf Goethes Programm der „Weltliteratur“. Es baut auf Ideen auf,
die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Erich Moritz von Hornbostel und
anderen Pionieren der Musikethnologie formuliert worden waren: eine
Abflachung kultureller Hierarchien, ein strikter ästhetischer Relativismus,
für den jede Musikkultur von gleichem Wert ist, Verzicht auf eine teleologische
Konstruktion der Musikgeschichte und die Freiheit, mit hybriden Formen und
Idiomen zu experimentieren.162 Mit der Erschöpfung der Avantgarde ist die
große Tradition westlicher Musik als kreativer Prozess möglicherweise (im
Sinne Richard Taruskins) an ihr Ende gelangt. Dem steht die ungebrochene
weltweite Beliebtheit der „großen“ Werke aus der europäischen Vergangenheit
gegenüber. Weltmusik lässt solche Musealisierung zu. Sie selbst ist keine
eigene Musiksprache oder Musikkultur, sondern ein allgemeiner Rahmen, der
alle Arten musikalischer Äußerung mit Legitimität versieht. Kritiker wenden
freilich ein, dass ein solch multikulturelles Generalkonzept die Besonderheit
159 Hansjakob Ziemer, Die Moderne hören. Das Konzert als urbanes Forum, 1890 – 1940,
Frankfurt 2008, S. 239 – 255; ders., Homo Europaeus Musicus, S. 48 – 52.
160 Paik ist auch als Videokünstler bekannt.
161 Peter Lavezzoli, The Dawn of Indian Music in the West, New York 2006, S. 43 – 64.
162 Vgl. Philip V. Bohlman, World Music at the „End of History“, in: Ethnomusicology 46.
2002, S. 1 – 32; auch ders., World Music. A Very Short Introduction, Oxford 2002;
Jonathan Stock, Peripheries and Interfaces. The Western Impact on Other Cultures, in:
Nicholas Cook u. Anthony Pople (Hg.), The Cambridge History of Twentieth-century
Music, Cambridge 2004, S. 18 – 39. Wie neu für die Musikwissenschaft das Konzept der
„Weltmusik“ ist, zeigt sich daran, dass MGG es erst im Supplementband von 2008
berücksichtigte (Artikel von Max Peter Baumann, Sp. 1078 – 1097).
132
Jürgen Osterhammel
lokalen Musikmachens dann verschleift, wenn es den little traditions nicht
gelingt, die Aufmerksamkeit transnationaler Medienkonzerne zu finden.163 So
stellt sich genau hundert Jahre nach der Niederschrift von Max Webers Skizze
zur Musiksoziologie erneut die damals formulierte Frage nach dem Schicksal
lokaler und „exotischer“ Musikformen im Zeitalter der „rapiden Ausbreitung
der europäischen Kultur“ (Erich Moritz von Hornbostel) und des „Kapitalismus“ (Max Weber).164 Die Antwort dürfte ambivalenter ausfallen als die
düsteren Prognosen am Fin de sicle: Der globale Medienkapitalismus hat die
„universelle Bedeutung und Gültigkeit“ (Weber) der europäischen Kunstmusik zum erfolgreichen Geschäftsprinzip erhoben und zugleich mit dem
Konzept einer pluralisierten „Weltmusik“ einen Markt für zahllose Sonderbedürfnisse geschaffen, für Avantgarde und lokale Folklore, für Mozart und
Madonna.
Prof. Dr. Jürgen Osterhammel, Universität Konstanz, Fachbereich Geschichte
und Soziologie, Postfach 6, D-78457 Konstanz
E-Mail: juergen.osterhammel@uni-konstanz.de
163 Vgl. etwa das Themenheft „Indigenous Peoples, Recording Techniques, and the
Recording Industry“ der Zeitschrift The World of Music 49. 2007.
164 Hornbostel, zit. nach Braun u. Finscher, Einleitung, S. 50.
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Zeitmaschine Oper
Die Macht des historischen Erbes der Oper am Ende
des 20. Jahrhunderts
von Sarah Zalfen*
Abstract: A broad range of buildings and formal contexts of behaviour were developed in past centuries in order to perform and perceive music adequately. This article
focuses on the way in which music was institutionalised, and refers in particular to the
attempted reforms of opera houses in the late twentieth century. The operatic repertoire, the opera house as social space, and the opera as an arena of political performance show that the processes by which music was institutionalised do not follow a
linear pattern of alternating change and consolidation. Instead, they produce institutional effects which can be described as feedback loops, oscillating between
historically habitualized practices, with their sets of norms and rules, and the new and
continually changing configurations in which they find expression.
I. Die Institutionalisierung des Ephemeren
Die Bedeutung der Kunstmusik in der Kultur Europas ist nicht zuletzt ein
Produkt ihrer Institutionalisierung. Musik braucht Institutionen, Musik
schafft Institutionen, und Musik erhält Institutionen. Orchester, Opernhäuser
und Konzerthallen, Musikvereine, Kapellen und freie Ensembles, Abonnements, Clubs und Plattenlabels bilden die Orte der Aufführung und Überlieferung von Musik und oft auch ihrer Speicherung. Um diese Funktionen zu
erfüllen, sind in den vergangenen Jahrhunderten ebenso zahllose Bauten zur
Darbietung von Musik entstanden wie formale Kontexte, um die angemessene
Aufführung und Rezeption von Musik zu organisieren und zu praktizieren.
Doch wie verläuft dieser Prozess der Institutionalisierung? Und wie trägt die
Kunstform Musik zu der charakteristischen Art ihrer Institutionalisierung
bei? Das sind die beiden zentralen Fragen, die in diesem Beitrag diskutiert
werden sollen.
Dabei wird ein erweiterter Institutionenbegriff verwendet, der sich nicht auf
die Untersuchung von Institutionen als zweckbezogene Einrichtungen beschränkt, zu denen unter anderem Musikrecht, Tarifverträge, Musikverlage
und Konzertagenturen, also alle Instanzen gehören, die an der Produktion,
* Für sachkundige Lektüre und konstruktive Hinweise danke ich Sabine Hering, Sven
Oliver Müller, Jürgen Osterhammel und Iris Törmer.
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 133 – 157
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
134
Sarah Zalfen
Verbreitung, Rezeption und Verarbeitung von Musik mitwirken.1 Es soll auch
geprüft werden, welche von der Musik beziehungsweise der musikalischen
Aufführung selbst erzeugten Verhaltensformen und Vorstellungen sozialer
Wirklichkeit als Elemente der Institutionenbildung definiert werden können.2
Für diesen Zugang spricht der gängig gewordene Ansatz, Institutionen als
Regelsysteme zu verstehen, die soziales Verhalten und Handeln durch ihre
normative Geltung koordinieren und konditionieren. Praktiken und Wissen
verfestigen sich in wiederholten, habitualisierten Handlungen und hegen
dynamische soziale Prozesse in erlernbaren Erwartungen, Ordnungen, Ritualen und Vorschriften ein. Damit werden sie gesellschaftlich und überzeitlich
wirkungsmächtig. „Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte
Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede
Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution.“3 So
lautet die berühmte Definition von Peter L. Berger und Thomas Luckmann.
Wie passt dieser Ansatz zum scheinbar ephemeren Charakter der Musik, die
im Hier und Jetzt entsteht und im nächsten Moment vergangen ist? Musik
erklingt und verklingt im gegenwärtigen Augenblick, sie ist eine – beinahe –
ausschließlich an ihre performative Ausführung gebundene Kunst und daher
der ständigen Erneuerung und der immer wieder vollzogenen Vergegenwärtigung unterworfen. Sie ist weniger als etwas Aufgeführtes zu verstehen denn
als eine Aufführung (performance),4 welche die Vergangenheit, in der die
Musik entstanden ist, mit der Gegenwart verbindet. Damit rückt nicht die
Musik als Text, sondern als eine soziale Praxis in den Fokus – der Vergangenheit ebenso wie einer jeweiligen Gegenwart. Institutionalisierung wird
durch eine ständige Erneuerung der durch die Aufführung der Musik
vergegenwärtigten Vergangenheit hergestellt und interpretativ stabilisiert.5
1 Arnold Jacobshagen, Musikgeschichte als Institutionengeschichte, in: ders. u. Frieder
Reininghaus (Hg.), Musik und Kulturbetrieb. Medien, Märkte, Institutionen (= Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Bd. 10), Laaber 2006, S. 145 – 149, hier S. 149.
2 Art. Organisation/Institution, in: Helga de la Motte Haber u. a. (Hg.), Lexikon der
Systematischen Musikwissenschaft, Laaber 2010, S. 359.
3 Peter L. Berger u. Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt 1970, S. 58.
4 Nicholas Cook, Between Process and Product. Music and/as Performance, in: Music
Theory Online. The Online Journal of the Society for Music Theory 7. 2001, S. 2; Vgl.
Erika Fischer-Lichte, Performativität und Ereignis, Tübingen 2003; dies., Ästhetik des
Performativen, Frankfurt 2004.
5 Freilich unterliegt grundsätzlich auch das (Sprech)theater diesen performativen
Kriterien. Es weist jedoch zwei fundamentale Unterschiede auf: Der eine basiert auf
dem Umstand, dass der Text eines Theaterstücks, anders als der Notentext einer
Partitur, auch ohne seine dramatische Form als Drama rezipiert werden kann; die Musik
verlangt fasst immer die Interpretation, um in ihrem Charakter erkennbar zu werden.
Zweitens gilt für die soziale Reichweite des institutionalisierten Ereignisses einer
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Zeitmaschine Oper
135
Dieser Grundgedanke soll anhand von Auseinandersetzungen verfolgt werden,
mit denen die institutionellen Veränderungen der Oper an zahlreichen Orten
Europas am Ende des 20. Jahrhunderts einhergingen. Die vielfältigen Opernformen, die im 18. und 19. Jahrhundert entstanden, erfuhren in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte organisatorische Vereinheitlichung: Die Hofopern, die städtischen und privaten Opernhäuser, die
reisenden Opernensembles und Festopern – sie endeten spätestens nach 1945
fast ausnahmslos in der Obhut des Staates. Das finanzielle Risiko ihres Betriebs
wurde vom Fürstenhof auf die Gesamtgesellschaft verteilt, das Musiktheater
durch eine kulturpolitische Regulierung in neue Legitimationszusammenhänge gestellt.6 Den Opernbetrieb sicherten fortan hohe Subventionen,
gestützt durch einen politisch begründeten Bildungsauftrag, der den Zugang
aller Schichten der Bevölkerung zur Oper gewährleisten sollte.
Nach 1980 wurde diese Neuformierung der Oper jedoch auf die Probe gestellt –
ein Vorgang, der am Beispiel der Opernhäuser dreier europäischer Musikmetropolen (Paris, Berlin und London) dargestellt werden soll. In diesen drei
Städten, wie auch an zahlreichen anderen Opernhäusern Europas zu jener Zeit,
wurden umfassende Reformen konzipiert und teilweise auch umgesetzt, die
darauf abzielten, die Einrichtungen den ökonomischen Restriktionen ebenso
wie den sozialen Herausforderungen und den Maßstäben der kulturellen
Produktion der Gegenwart anzupassen. Es galt der Pluralisierung der sozialen
und kulturellen Bedürfnisse des Publikums Rechnung zu tragen, das Marktversagen des Opernbetriebs zu kompensieren und die etablierten Institutionen des Musiktheaters inmitten der Ästhetik, Omnipräsenz und Schnelligkeit
der Medialisierung zu behaupten.7
Auch andere Instanzen des Kulturbetriebs mussten sich in diesem Zeitraum
Reformen unterziehen, sich verändern und anpassen. Doch keine musikalische Gattung oder Kunstform wies in dieser Zeit so sichtbar Beharrlichkeit und
Schwerfälligkeit, feste Rituale, etablierte soziale Räume und prestigereiches
Wissen auf wie die Oper. Die Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung der
Theater- oder Musiktheateraufführung, dass zwar Bauten für Theater, Tanz und Musik
sich parallel und ihn ihrem Aufbau sehr ähnlich entwickelt haben. Doch die spezifische
Übertragung der Theatralität der Bühne auf den Zuschauerraum – die in der obligaten
Königs- oder Fürstenloge als Teil des performativen Akts oder als Blickpunkt des einzig
idealen Betrachtes gipfelt, die wiederum Ausgangspunkt für die soziale Funktion des
Zuschauerraums ist – ist für die Oper spezifisch. Vgl. Ulrike Haß, Das Drama des
Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005.
6 Vgl. Rudolf Klinger, Braucht der Staat die Oper? Braucht die Oper den Staat?, in:
Politische Studien 48. 1998, S. 76 – 82; Bernard Bovier-Lapierre, Die Opernhäuser im
20. Jahrhundert, in: Jacobshagen u. Reininghaus, Musik und Kulturbetriebe,
S. 231 – 256, hier S. 248.
7 Vgl. Sarah Zalfen, Staats-Opern? Der Wandel von Staatlichkeit und die Opernkrisen in
Berlin, London und Paris am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien 2011, S. 17 – 23.
136
Sarah Zalfen
geplanten Opernreformen auftraten, und die Hartnäckigkeit, mit der sich die
Oper diesen zu widersetzen vermochte, verweisen auf die Stabilität der
historischen Schichten ihrer institutionellen Geschichte. Diese Widerständigkeit macht deutlich, dass die Institution Oper sich keinesfalls darin erschöpft,
einen Betrieb zu repräsentieren, der als juristische Person in einem Gebäude
untergebracht ist, von einer künstlerischen und technischen Spitze verwaltet
wird und zahlreiche Beschäftige dafür entlohnt, allabendlich ein Produkt auf
die Bühne zu bringen, für dessen Konsum andere Menschen Geld ausgeben.
Dieser Betrieb, der auf den ersten Blick die „eigentliche“ Institution Oper
darstellt, bildet nur die Hülle jener wirkungsmächtigen Regelsysteme, die sich
in ihrem Inneren institutionalisiert haben.
Diese Regelsysteme beginnen dort, wo sich in Form einer Partitur aus Noten
und Text ein Werk behauptet und dann als Kunstform mit Musik, Gesang und
Bühnengeschehen aufgeführt wird. Die sich wiederholenden Aufführungen
und ihre technischen und organisatorischen Bedingungen sowie die kommunikativen und repräsentativen Bedürfnisse der Rezeption schaffen den
Rahmen, in dem das Werk gespielt wird. Sie institutionalisieren sich im
Opernhaus, und zwar zugleich als Gebäude und als Organisationsform. In
diesem Rahmen manifestiert sich die Oper schließlich als ein kultureller
Typus, der als kollektive Errungenschaft eine Projektionsfläche für Identifikation und Ablehnung schafft und als Ereignis wiederum neue spezifische
Praktiken der Rezeption und Kommunikation hervorbringt, die ihrerseits
neue Ästhetiken und Rahmenbedingungen erschaffen.8 In diesem Kreislauf,
der als Institutionalisierung der Musik bezeichnet werden kann, findet ein
ständiger Transfer vergangener Ästhetiken, Strukturen und Praktiken in die
jeweilige Gegenwart und zugleich eine Anpassung an die Veränderungen der
(sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen) Umwelt statt.
Auch in der betrieblichen Struktur eines Opernhauses sind viele Reminiszenzen an seine Geschichte zu finden. Doch bilden diese nicht die eigentliche
Institution im oben definierten Sinne. Sie repräsentieren vielmehr die
Organisation, die aus den institutionalisierten Formen der musikalischen
Aufführung und dem Ereignis Oper hervorgegangen ist. Beispielhaft wird dies
an der Kostenstruktur von Opernhäusern deutlich, welche als Inbegriff der
institutionellen Probleme der Oper gilt:9 War die Oper um die Mitte des
19. Jahrhunderts noch ein geeignetes Unternehmen, um einen Impresario
reich zu machen, wurde sie 100 bis 150 Jahre später mit bis zu 85 Prozent ihrer
Ausgaben von der öffentlichen Hand subventioniert. Betrachtet man die
Hintergründe dieser Entwicklung, so wird deutlich, dass Kosten- und
8 Vgl. Silke Leopold u. Dörte Schmidt, Art. Oper, in: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in
Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik (fortan MGG),
Supplement-Band, Kassel 20082, S. 623 – 646.
9 Vgl. Manfred Jochum u. Isolde Schmid-Reiter (Hg.), Teure Kunstform Oper? Musiktheater im neuen Jahrtausend. Strategien und Konzepte, Innsbruck 2006.
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Zeitmaschine Oper
137
Finanzierungsstrukturen nicht die unmittelbare Eigenart der Institution Oper
bilden, sondern eher eine Konsequenz der spezifischen musikalischen Prozesse der Vergegenwärtigung durch ihre Aufführung und ihren Konsum sind.
Für die Analyse der Kostenstruktur der Oper kann das als „Baumolsche
Kostenkrankheit“ berühmt gewordene Theorem zugrunde gelegt werden, das
die amerikanischen Ökonomen William J. Baumol und William G. Bowen 1966
aufgestellt haben. Dieses besagt, dass die generelle Entwicklung der Arbeitsprozesse und der Preise die Kosten des Musiktheaterbetriebs in die Höhe
getrieben haben, ohne dass ausgleichende Effizienzsteigerungen möglich
waren.10 Die Beobachtungen der beiden Wirtschaftswissenschaftler zeigen,
dass die Steigerung der Produktivität im Laufe des 20. Jahrhunderts die
Arbeitskosten, aber auch die Produktion von Waren generell hat steigen lassen.
Inflationsbereinigt seien deswegen die meisten Produkte billiger, die der
darstellenden Künste jedoch teurer geworden. Verliefen die Produktivitätsentwicklungen in der Musik ähnlich wie in der Landwirtschaft, so hat es Hans
Abbing pointiert zusammengefasst, dann würden heute nicht mehr vier
Musiker ein Haydn-Quartett spielen, sondern nur einer täte dies und das im
doppelten Tempo.11 Verdis „Gefangenenchor“ lässt sich ebenso wenig einfach
halbieren wie die Orchesterbesetzung von Richard Strauss’ „Elektra“; eine
Bravourarie kostet noch immer die gleiche Kraft wie zum Zeitpunkt der
Uraufführung, und auch an modernen Schnürböden hängen immer noch
weitgehend handgefertigte Kulissen.
Das heißt: die unveränderte Art und Weise, in der Musik im Theater
dargeboten und rezipiert wird – nämlich live, in festgelegten, meist großen
Besetzungen, auf professionellem Niveau, in angemessenen Gebäude –
interferiert mit den Veränderungsprozessen, die andere Wirtschaftsbereiche
durchlaufen haben und unterscheidet sich daher signifikant von deren
Entwicklung.12 Sie ist an die Oper als Aufführung gekoppelt, nicht an die
10 Vgl. William J. Baumol u. William G. Bowen, Performing Arts. The Economic Dilemma.
A Study of Problems Common to Theatre, Opera, Music and Dance, New York 1966;
aktueller und zu einzelnen Aspekten und Ländern vgl. Clemens Hoegl, Das ökonomische Dilemma. Musik um welchen Preis? in: Jacobshagen u. Reininghaus, Musik und
Kulturbetrieb, S. 166 – 177.
11 Hans Abbing, Why are Artists Poor? The Exceptional Economy of the Arts, Amsterdam
2002, S. 150.
12 Der Blick auf die Entwicklung während des 20. Jahrhunderts demonstriert, wie rasant
die Kosten seit seinem Beginn gestiegen sind und macht deutlich, warum das staatliche
Finanzierungssystem gegen Ende des Jahrhunderts an seine Grenzen gestoßen ist: An
der Pariser Oper etwa hat sich das Budget für die Mitarbeiter zwischen den 1880er
Jahren und den 1980er Jahren inflationsbereinigt mehr als vervierfacht, während die
Zahl der Beschäftigten zurückgegangen ist. Der Zuschuss an die Londoner Opernhäuser
stieg, ebenfalls unter Berücksichtigung der Inflation, allein zwischen 1950 und 1987 fast
um das Neunfache. Vom Beginn der öffentlichen Musiktheaterförderung in Deutsch-
138
Sarah Zalfen
besonderen politischen, sozialen oder geographischen Rahmenbedingungen,
denen diese Aufführung unterliegt. Wie die Kostenstruktur, so sind die
meisten Formationen und Verfahren in der Oper nur Ausdruck der institutionalisierten Musik. Sie sind als Organisation die Träger, welche zur Erhaltung
ihrer Legitimation die institutionellen Strukturen regeln und reproduzieren.13
Die betriebliche Hülle der Oper verleiht ihnen eine prinzipielle Stabilität, sagt
aber über die spezifischen Formen der Institutionalisierung in ihrem Inneren
wenig aus.
Anhand drei unterschiedlicher Formen der Institutionalisierung von Musik
sollen im Folgenden institutionalisierte „Atavismen“ untersucht werden, das
heißt am Ende des 20. Jahrhunderts präsente historische Entwicklungsmomente, auf welche die Reformen der Oper gestoßen sind. Damit soll erhellt
werden, wie deren institutionellen Entwicklungsprozesse verlaufen sind und
welche Folgen sie hatten. Zunächst wird die Institutionalisierung von Musik
im Prozess der Repertoirebildung betrachtet: Es wird gefragt, aus welchen
Praktiken sich die Maßstäbe abgeleitet haben, welche Opern in den „Kanon“
eingehen sollten und welche nicht. Hier steht das Repertoire als kulturpolitisches Instrument der Berliner Opernlandschaft nach der deutschen Vereinigung im Vordergrund (II). Im Anschluss daran rückt der soziale Raum Oper
als ein zentraler Ort der Habitualisierung in den Blick: Es wird gefragt, welche
Merkmale innergesellschaftlicher Machtbeziehungen sich in der Oper erfassen
und abbilden lassen. Anhand der Renovierung des Londoner Opernhauses
Mitte der 1990er Jahre wird dieser Aspekt beispielhaft erörtert (III). Es folgt
schließlich die Betrachtung der Oper als Herrschaftsinstitution: Warum
können auch Staatsoberhäupter im späten 20. Jahrhundert von den in der
monarchischen Repräsentationskunst Oper angelegten Strategien der Selbstdarstellung profitieren? Dies wird am Beispiel des Neubaus der Opra-Bastille
in Paris in den 1980er Jahren und ihrer Einweihung zur Zweihundertjahrfeier
der Französischen Revolution verdeutlicht (IV). Besondere Aufmerksamkeit
liegt dabei jeweils auf dem Vexierspiel zwischen den Diskussionen und
Problemen am Ende des 20. Jahrhunderts und den verschiedenen historischen
Schichten, auf denen Oper bis heute basiert. Auf diese Weise werden die
zeitlichen Bezüge sichtbar, die durch die Institution Oper hergestellt werden
und die sich oftmals über mehrere Jahrhunderte spannen.
land im Jahr 1889 bis 1975 wuchsen die Ausgaben der Operntheater um das
neuntausendfache in Relation zum Lebenshaltungsindex. Vgl. Maryvonne de Saint
Pulgent, Le syndrome de l’Opra, Paris 1991, S. 47 und S. 136; Francis Donaldson, The
Royal Opera House in the Twentieth Century, London 1988, sowie Forschungsinstitut für
Musiktheater Universität Bayreuth (Hg.), Strukturprobleme des Musiktheaters in der
Bundesrepublik Deutschland, Thurnau 1978, S. 283.
13 Vgl. John W. Meyer u. Brian Rowan, Institutional Organizations. Formal Structure as
Myth and Ceremony, in: American Journal of Sociology 83. 1977, S. 340 – 363.
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Zeitmaschine Oper
139
II. Das Repertoire
Repertoirebildung ist ein Prozess der Typisierung, der sich über die gesamte
Operngeschichte erstreckt; die Berufung auf ein Repertoire zeigt die Regelungsfunktion, die von dieser institutionalisierten Form der Musik ausgeübt
wird.
Vierzig Jahre lang entwickelten sich im geteilten Berlin Kunst und Kultur
thematisch und organisatorisch parallel. Nach der Wiedervereinigung galt es
deshalb in den 1990er Jahren, die getrennten Kulturlandschaften zusammenzuführen und „hauptstadttauglich“ zu machen. So auch die drei Opernhäuser,
von denen die Staatsoper Unter den Linden im Osten und die Deutsche Oper
im Westen jeweils den Status des führenden Hauses in der Stadt für sich
beanspruchten, während das dritte Haus, die Komische Oper, seinen Platz
dazwischen finden musste. Diese drei Opern erschienen von politischer Seite
nicht mehr finanzierbar, es sei denn, sie konnten ihre Einzigartigkeit beweisen.
Die schien vor allem deswegen nicht gewährleistet, weil die Opernhäuser sich
in ihrem gespielten Repertoire weder von anderen großen Opernhäusern noch
voneinander unterschieden. Doppelte oder sogar dreifache Produktionen
zahlreicher Mozart-, Wagner-, Verdi- und Puccini-Opern beflügelten in der
Presse eine lebhafte „Doubletten“- und „Tripletten“-Diskussion. Die Welt etwa
schrieb: „Nicht auszudenken, was da an Synergien und sinnvollem Nebeneinander möglich wäre. Abgestimmte und ergänzte Spielpläne, ein reiches
Musikleben, das seine Ressourcen bündelt und stärkt, statt sie durch sinnlose
Doubletten zu verschleudern.“14
Die um die Lösung dieses öffentlich diskutierten Problems bemühten
Kulturpolitiker setzten auf das Prinzip der Profilierung und zielten damit in
erster Linie auf die Frage nach dem „richtigen“ Repertoire der Opernhäuser.
Für die drei Opern wurden Profile gezeichnet, die den jeweilig gewünschten
Aufgabenbereich formulierten. Diese Profile waren nichts anderes als Zuweisungen eines bestimmten Repertoireausschnittes. Die Staatsoper sollte – so die
ursprüngliche Idee – das klassische und moderne Repertoire abbilden, die
Deutsche Oper als „Bürgeroper“ das „große“ Repertoire des 19. Jahrhunderts
repräsentieren. Die Komische Oper sollte sich mit „leichten“ Opern von
Mozart bis Smetana einen eigenen Platz schaffen.15 Ein konkurrierendes
kulturpolitisches Papier konzipierte die Staatsoper als prädestinierten Ort für
das vorklassische, klassische und frühe romantische Belcanto-Repertoire,
während die Deutsche Oper das Repertoire des 19. Jahrhunderts und der
Moderne zu spielen hatte; die Komische Oper konzipierte man als Bühne für
14 Die Welt, 6. 12. 1999, S. 29.
15 Friedrich Dieckmann u. a., Überlegungen zur Situation der Berliner Theater. Textfassung von Ivan Nagel. Berlin, 6. 4. 1991(aus dem noch nicht archivierten Bestand der
Senatsverwaltung für Wissenschaft und Kultur, Berlin).
140
Sarah Zalfen
Spieloper und Operette.16 Die Konzepte setzten sich vielfach von der gängigen
Praxis an den drei Opern ab, missachteten mitunter sogar die musikalischen
Kompetenzen der berufenen künstlerischen Leitungen. Der ausgewiesene
Wagner-Experte Daniel Barenboim beispielsweise sollte nun die Staatsoper als
ein Haus der Vor- und Frühklassik leiten und das spätromantische Repertoire
der Deutschen Oper überlassen.
Was hier wirksam wurde, war weniger der persönliche Geschmack der
agierenden Kulturpolitiker als die Folge der stärksten Form der Institutionalisierung von Musik – die der Kanonisierung oder Repertoirebildung. Durch
diese Form der Institutionalisierung werden bestimmte Stücke aus „der
Ahistorizität in den geschichtlich fundierten Kanon tradierungswürdiger
kultureller ,Werke‘ erhoben“.17 Damit gehen Wertungs- und Normierungsprozesse einher, die an spätere Generationen weitergegeben, gegebenenfalls
variiert und wiederum tradiert werden. Dieser Prozess setzt als strenge
Typisierung Maßstäbe dafür,18 was in Opernhäusern gespielt, in Opernführern
besprochen und auf Tonträgern eingespielt werden soll. Das Repertoire ist also
das Anerkannte und mithin in dadurch institutionalisiertem Wissen (zum
Beispiel in den Opernführern) Berechenbare. Es reglementiert das kulturelle
Wissen und die Musikbetriebe einer Gesellschaft.
Der Prozess der Kanonisierung hat die Spielpläne Europas von der Mitte des
19. Jahrhunderts an bis heute stärker geprägt als irgendein Komponist oder ein
musikalischer Stil. Denn „jede Repertoirebildung bedeutet den Verzicht aufs
Neue“.19 Schätzungen gehen davon aus, dass seit der „Erfindung“ der Oper um
1600 weit über 50.000 Opern geschrieben worden sind.20 In der Mitte des 20.
Jahrhunderts bildete davon etwa ein Promille, also etwa 500 Werke, das
Repertoire der Opernhäuser rund um die Welt.
16 Senatsverwaltung für Wissenschaft und Kultur, Maßnahmen zur Bühnenstrukturreform (Teil 2), Berlin, 12. 10. 2000 (aus dem noch nicht archivierten Bestand der
Senatsverwaltung für Wissenschaft und Kultur, Berlin).
17 Ralf von Appen u. a., Pop zwischen Historismus und Geschichtslosigkeit. Kanonbildung
in der Populären Musik, in: Beiträge zur Popularmusikforschung 36. 2008, S. 25 – 49.
18 Das aus dem Griechischen stammende Wort „Kanon“ bedeutet „Maßstab“ und
bezeichnete ursprünglich die zur Bibel zusammengefassten heiligen Texte.
19 Werner Braun, Die Musik des 17. Jahrhunderts, Wiesbaden 1981 (= Neues Handbuch
der Musikwissenschaft, Bd. 4), S. 303.
20 Vgl. Rudolf Kloiber u. a., Handbuch der Oper, Kassel 19855, S. XVII. Die Oper – als
Musik im unmittelbaren Bühnengeschehen – wurde, so die gängige Auffassung, an der
Wende zum 17. Jahrhundert von der Künstlergruppe Camerata Fiorentina beim
Versuch erfunden, die griechische Tragödie wiederzubeleben. Die historischen Entwicklungen hinter dieser zur Legende gewordenen Entstehungsgeschichte stellen sich
etwas vielschichtiger dar : Vgl. Leo Karl Gerhartz, Oper. Aspekte der Gattung, Berlin
1983, S. 11 – 17.
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141
Diese Herausbildung eines Kanon, im Verlauf dessen sich „große“ und
„klassische“ Kunst von unbedeutenden Werken trennen ließ und die „Genies“
von den Kleinmeistern oder vergessenen Komponisten geschieden wurden,
erfolgte in der Oper seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Es kam zu einem „shift
in musical taste from a preference for contemporary music to a preference for
works by dead masters“.21 Während die Spielpläne zuvor fast ausschließlich
zeitgenössische Musik zeigten und alte Stücke vernachlässigten, hatte sich das
Bild bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vollständig umgekehrt. Die Oper war zu
einem Museum geworden, das einem festen Gefüge musikalischer Werke und
kultureller Werte huldigte. Neben der dadurch gewährleisteten Berechenbarkeit des Opernbesuchs provozierte diese Verengung des Repertoires auch
Kritik. Beispielhaft dafür steht Adornos Polemik gegen die „Versteinerung“
des Repertoires im amerikanischen Opernbetrieb: „Schrumpfte in Amerika
das gesamte gängige Opernrepertoire zu kaum mehr als fünfzehn Titeln,
darunter Donizettis ,Lucia di Lammermoor‘, zusammen, so bestätigte das die
Petrifizierung.“22
Die Kritik an der Verengung der Spielpläne führte zu einer Welle von
„Ausgrabungen“ und „Wiederentdeckungen“, die dazu beitragen sollten, die
festgefahrene Institution des Repertoires in Bewegung zu bringen. Die
Beliebtheit des „Standardrepertoires“ wurde dadurch allerdings nicht berührt.
Deutlich wurde dies zuletzt an der konzertierten Aktion verschiedener
Fernsehsender und Zeitungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als durch eine
Abstimmung unter dem Publikum die „schönste Oper aller Zeiten“ gekürt
werden sollte. Das Millionenpublikum (das sich schließlich für „La Traviata“
von Giuseppe Verdi entschied) durfte von vorneherein nur aus dreißig Opern
auswählen.23
Das Ausmaß der Macht dieser Institution, die das Repertoire bildet und die
Spielpläne und kulturpolitischen Konzepte so „selbstverständlich“ prägt,
ebenso wie der dahinter verborgene Institutionalisierungsprozess erschließen
sich erst in der historischen Rückschau. In der neu entstehenden Oper des 17.
und 18. Jahrhunderts war die Variabilität und Funktionalität der Stücke das
maßgebliche Gütekriterium, nicht ihr absoluter Wert und auch nicht ihr
spezifischer Charakter. Situationsangepasste Bearbeitungen und Arrangements bildeten in ästhetischer, sozialer und ökonomischer Hinsicht die Basis
des Musiklebens. Das musikalische Konsumbedürfnis verlangte keine Kunst
21 David Clay Large u. a. (Hg.), Wagnerism in European Culture and Politics, Ithaca, NY
19852, S. 29.
22 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen,
Frankfurt 1975, S. 129.
23 Ausgewählt nach den Besucherzahlen der vergangenen zehn Spielzeiten, die jährlich in
der Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins erhoben werden; vgl. die Broschüre des
Programms, http://www.die-schoensten-opern-aller-zeiten.de/theater/pdf/schoenste_
opern_daten.pdf.
142
Sarah Zalfen
für die Ewigkeit, sondern neues musikalisches Material, das für vielerlei
Anlässe und Räume – Kirchen und Klöster, höfisches Zeremoniell und
fürstliche Feste, Theater und die wachsende Zahl von Opernhäusern –
eingesetzt werden konnte.24 Der Komponist war weder die zentrale Figur,
welche die Beachtung und Bewunderung des Publikums erhielt, noch der
ökonomische Profiteuer seiner Arbeit. Die Autorenschaft spielte mithin in der
Musik erst spät überhaupt eine Rolle, dann aber, nach 1800, entwickelte sie sich
zum bestimmenden Merkmal.25 Mit dem Autor entstand das Werk als
schriftliche Fixierung und als Schöpfungsakt.26 Noch bevor diese zu Beginn
des 20. Jahrhunderts auch zu den Grundpfeilern des Urheberrechts wurden,
bedingten sie eine Würdigung und Überhöhung bestimmter Autoren und
ihrer Stücke. Die damit einhergehende Typisierung und normative Aufladung
der Musik mündete im Kanon „großer“ Musik.
Die Formung eines Repertoires, das schon im 19. Jahrhundert die Bezeichnung „klassisch“ erhielt, erfolgte vor allem als gesellschaftliche Bewertungsstrategie, als eine Definition kultureller Größe und als eine Antwort auf
kulturelle Herausforderungen.27 In einer Zeit immenser Veränderung und
Beschleunigung, die auch für die ästhetische Entwicklung nicht ohne Folgen
blieb, war die Repertoirebildung ein Garant für die kulturellen Werte. Das
Repertoire bildete eine Orientierungshilfe, die der Bewunderung des Bekannten Recht gab, neue Werke zu bewerten möglich machte, Wissen strukturierte
und Geschmack kultivierte. Diese Herausbildung von Maßstäben war nicht
nur Aufgabe der Fachleute und der Kritiker, sondern unterlag auch der
Dynamik der allabendlichen Rezeption.28 Der „Maßstab“ des Kanons oder
Repertoires war eine Folge der Typisierung von Musik und wurde als
24 Vgl. Lorenzo Bianconi u. Thomas Walker, Production, Consumption and Political
Function of 17th Century Opera, in: Christian Kaden u. Karsten Mackensen (Hg.),
Soziale Horizonte von Musik. Ein kommentiertes Lesebuch zur Musiksoziologie, Kassel
2006, S. 60 – 69.
25 Vgl. Leopold u. Schmidt, Oper, S. 636; Laurenz Lütteken, Art. Werk/Opus, in: MGG,
Supplement-Band, Sp.1102 – 1114, hier Sp. 1107.
26 Die komplizierte Aushandlung, „wer wann und auf welcher Grundlage die Rechte an
Aufführungen einer Oper innehat, führt dazu, dass man Partituren immer deutlicher die
Eigenschaft zuspricht, das integrale Werk verbindlich festzulegen“, Leopold u. Schmidt,
Oper, S. 638 f. Die Partitur avancierte zum wichtigsten Überlieferungs- und Speichermedium und deshalb auch zur Repräsentanz des Werks an sich.
Vgl. auch Sieghart Döhring, Von der Inszenierung zur Regie. Die Aufwertung des
Szenischen in der Geschichte der Oper, in: Gerhard Brunner u. Sarah Zalfen (Hg.),
Werktreue. Was ist Werk, was Treue? Wien 2011, S. 37 – 56.
27 Vgl. Sven Oliver Müller, Analysing Musical Culture in Nineteenth-Century Europe.
Towards a Musical Turn? in: European Review of History 17. 2010, S. 833 – 857.
28 Vgl. Ders., Die Gesellschaft macht die Musik. Das Opern- und Konzertpublikum in
Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, Habil. Universität Bielefeld 2011, S. 307.
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143
erlernbares Instrument der Systematisierung selbst zu einem Mittel der
Typisierung. Das betrifft die Entwicklung der Oper in Deutschland ebenso wie
in anderen europäischen Staaten.29
Von der im Repertoire institutionalisierten Bewertung der Musik sind heute
keine Aufführung und kein Musikbetrieb frei. Sie bildet ein Regelsystem, weil
dieses als Ordnungskategorie auf zahlreiche Entscheidungen, Prozesse und
Strukturen einzuwirken vermag. Dies gilt etwa für die Spielplangestaltung, in
der ein einziges Experiment stets mit ein oder zwei Werken des Standardrepertoires aufgewogen werden muss, um den Opernetat in der Balance zu
halten; in der Ausbildung von Sängerinnen und Sängern, die sich alle in
bestimmten Rollen schulen, um auf großen Opernbühnen singen zu können;
in den Karrieren von Opernstars, die ihren internationalen Ruhm auf nur
wenigen, aber eben publikumsübergreifend bekannten Partien aufbauen
können. Die Bedeutung des Repertoires schlägt sich handfest in Aufführungsund Besucherzahlen nieder, in der Spielplangestaltung wie in den Platteneinspielungen.
Auch im eingangs erörterten Opernleben im Berlin der 1990er Jahre behauptete sich die Institution des Standardrepertoires besser als der kulturpolitische
Wille zu einem innovativ profilierten Repertoire. Gerade dadurch, dass es die
„Klassiker des Repertoires“ spielte, konnte ein Opernhaus seinen Status als
bedeutendes Theater behaupten. Augenfällig wurde aber auch hier die
Orientierungsfunktion, die man dem Repertoire beziehungsweise einer
bestimmten Aufteilung des Repertoires beimaß. Es sollte die Opernhäuser
mit Etiketten versehen, von denen die kulturpolitischen Akteure sicher sein
konnten, dass sie das Musikpublikum zu decodieren vermochte. Auf diese
Weise wollten sie Zuordnungen treffen, Erwartungen bedienen, Regeln für die
Gestaltung des gesamtstädtischen Opernspielplans schaffen und dem Publikum die Orientierung nach bekannten Maßstäben in der Kulturlandschaft
erleichtern. Dazu bildete das Repertoire als historisch institutionalisierte
Form der Kategorisierung und Bewertung von Musik einen geeigneten
Bezugspunkt.
29 In der Musikgeschichte hat ein bestimmtes Repertoire oftmals sogar die Struktur des
Darbietungsrahmens Oper geprägt. Das britische Royal Opera House Covent Garden
beispielsweise nannte sich im 19. Jahrhundert „Italian Opera House“, was für die
Dominanz des italienischen Repertoires und die internationale Ausrichtung der
Spielplangestaltung stand. Die Opra Comique in Paris verwies im Namen bereits
darauf, dass hier ein anderes, damals moderneres Repertoire zu erwarten war, vgl.
Sieghart Döhring u. Sabine Henze-Döhring, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert,
Laaber 1997.
144
Sarah Zalfen
III. Sozialer Raum
In der Oper haben sich spezifische Praktiken in Form eines sozialen Raums
institutionalisiert, der als Regelsystem bis in die Gegenwart hinein Verhaltensund Kommunikationsformen der Opernbesucher vorgibt.
1997 schloss das Royal Opera House Covent Garden in London für zwei
Spielzeiten die Pforten. In einem seit bereits zwanzig Jahren geplanten Umbau
sollte das Haus saniert, technisch modernisiert und zugänglicher gemacht
werden. Zur großen Überraschung der Opernleitung brachten die Umbauzeiten eine massive Verunsicherung des Publikums mit sich. Als das Haus nach
einem prachtvollen Galaabend am 14. Juli 1997 schloss, war für die Zeit des
Umbaus kein alle technischen und künstlerischen Bedürfnisse abdeckendes
Ersatzhaus gefunden worden. Daher kam es zur Aufteilung des Spielplans auf
verschiedene alternative Spielstätten: Das Royal Ballet musste in eine alte
Konzerthalle im entlegenen Stadtteil Hammersmith ziehen, die Oper bespielte
unter anderem das Theater im Barbican Centre, einem modernen Kulturzentrum der 1980er Jahre aus Waschbeton nahe der Londoner City sowie das
South Bank Centre. Wie sich bald zeigen sollte, hatten der ständige Ortswechsel und der fehlende würdige Rahmen katastrophale Auswirkungen auf die
Gunst der Zuschauer : „The exile era lacked glamour and the public voted with
its feet.“30 Die Auslastungszahlen sanken schnell und deutlich; die Einnahmen
blieben weit hinter den kalkulierten Erwartungen der Finanzplanung zurück.
Für die Presse war die Ursache des Phänomens deutlich: „Audience’s loyalty
clearly lay with the crimson velvet and gilt of the house in Covent Garden“,
stellte etwa der Independent fest.31 Auch der Guardian erkannte: „the rich go to
Covent Garden to be seen at Covent Garden, to throng in the Crush Bar, to
enjoy the spirit of the place“, und zog daraus den Schluss: „That is why
audiences have collapsed now that the Royal Opera is using other London
venues.“32 Vor der ersten Premiere in der neuen Spielstätte in Hammersmith
wurde in der Presse polemisch vor den Gefahren, welche der umbaubedingte
Umzug in gewisse Stadträume Londons auch für das Publikum barg, gewarnt:
In dieser Gegend könne allzu fragiles Schuhwerk ebenso gefährdet sein wie
kostbarer Schmuck. Ein prominenter Londoner Herrenausstatter befürchtete
sogar grundsätzlich „another down-grading of the great tradition of the night
out at Covent Garden, one of the last bastions where a white tie can be worn“.33
Die damit zum Ausdruck gebrachte Besorgnis zielte nur augenscheinlich auf
die Kleidung der Zuschauer, vor allem aber auf das dahinter stehende Ritual in
dem sozialen Raum, den eine Opernaufführung bildet und im späten
30
31
32
33
Norman Lebrecht, Covent Garden. The Untold Story, London 2000, S. 429.
The Independent, 2. 11. 1997.
The Guardian, 10. 11. 1997, S. 14.
Jeremy Hackett, zitiert nach The Times, 26. 7. 1997.
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145
20. Jahrhundert nur an wenigen Orten noch ein solch mächtiger Faktor war
wie in London.
Was macht ein Opernhaus zu einem sozialen Raum, und warum handelt es sich
dabei um eine Form der Institutionalisierung von Musik? Der im Buchhandel
unserer Tage erhältliche Opernführer „Oper für Dummies“ warnt den
ungeübten und verunsicherten Opernneuling gleich auf der ersten Seite:
„Tatsächlich sind viele der Opernsnobs sehr glücklich darüber, dass Sie nicht
alles verstehen. Sie wünschen sich ihre Oper als einen exklusiven Club, eine
Eliteeinheit und einen heiligen Tempel.“34 Ein anderes Einführungswerk,
„Opera: A Crash Course“, verspricht dem Erstbesucher einer Oper kompetente
Hilfestellung, das dort omnipräsente „miasma of social snobbery“ zu
durchdringen.35 Diese Beispiele ließen sich zahlreich erweitern. Sie alle
zeigen: Wo Vorurteile gegen die Oper laut werden, steht in der Regel nicht ihre
ästhetische Eigenart, sondern ihre soziale Funktion im Vordergrund. Was die
Oper in diesem Diskurs eint, ist also weniger die musikalische oder ästhetische
Formensprache als ihr institutionalisierter sozialer Kontext: das Spektakel,
dessen exponierte Räumlichkeit und dessen informell geregeltes Zeremoniell.
Gilt die Oper als ein Teil der „klassischen“ Kultur oder „Hochkultur“, so
verweist diese Bezeichnung weniger auf die Werke selbst, als vielmehr auf die
Art und Weise, wie sie sich als kultureller Typus im oben genannten Sinne
verfestigt hat.36
Die klassifizierende soziale Wirkung, die die Oper auf ihre Besucher und
Nichtbesucher auszuüben scheint, kennzeichnet sie als einen sozialen Raum
im Sinne Pierre Bourdieus.37 Der Raumbegriff veranschaulicht nicht nur die
situative oder generelle Ordnung, in der sich die Mitglieder einer Gesellschaft
über die Grundlagen ihres Zusammenlebens verständigen können. Er verdeutlicht auch, wo und warum in einer Oper die zentralen zur Institutionalisierung führenden Habitualisierungen und Typisierungen von Darbietungs-,
Konsum- und Umgangsformen des Musiklebens stattfinden. Der soziale Raum
ist eine kommunikativ erzeugte symbolische Form, durch die gesellschaftliche
Strukturen hervorgebracht und handhabbar werden, etwa als soziales Beziehungsgefüge oder als Hierarchisierung, das heißt durch Kohäsion und
Distinktion von Gruppen.38
34 David Pogue u. a., Oper für Dummies, Weinheim 1998, S. 1.
35 Stephen Pettitt, Opera. A Crash Course, London 1998, S. 2.
36 Vgl. Ken Hirschkop, The Classical and the Popular. Musical Form and Social Context, in:
Christopher Norris (Hg.), Music and the Politics of Knowledge, London 1989,
S. 283 – 304; John Shepherd, Music and Social Categories, in: Martin Clayton, u. a.
(Hg.), The Cultural Study of Music. A Critical Introduction, New York 2003, S. 69 – 79.
37 Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen“. LeÅon sur la leÅon, Frankfurt 1991.
38 Vgl. zur hier verwendeten Kategorie des Raumes jenseits von Bourdieu auch Brigitta
Hauser-Schäublin u. Michael Dickhardt (Hg.), Kulturelle Räume, räumliche Kultur. Zur
Neubestimmung des Verhältnisses zweier fundamentaler Kategorien menschlicher
146
Sarah Zalfen
Das bestimmende Kennzeichen im sozialen Raum ist die Position, die etwas
oder jemand darin einnimmt, und die Bedeutung, die damit transportiert
wird. Durch die im sozialen Raum stattfindende „Inkorporierung der
objektiven Strukturen“39 kann ein Opernhaus dazu dienen, eine sozial
strukturierte Institution zu schaffen oder zu unterstreichen. Das heißt, ihr
architektonisch und ornamental geschaffener Raum (die „objektive Struktur“)
dient einem bestimmten rituellen Verhalten und Abläufen, die einem kulturell
determinierten Muster folgen, das sich die Besucher durch den auch
körperlich stets wiederholten Vollzug (der „Inkorporierung“) aneignen,
stabilisieren und durch Habitualisierung und Typisierung perpetuieren. Die
im Inneren einer Oper versammelten Menschen positionieren und erkennen
sich an den typisierten Merkmalen: daran, wo sie sitzen, wie sie auftreten und
wie sie gekleidet sind. Sie tragen dazu bei, die institutionalisierte Ordnung des
Opernereignisses hervorzubringen, die sie als zunächst heterogene Menge
wiederum strukturiert sowie durch eine Standardisierung ihre Verhaltensformen homogenisiert.40 Dabei ist der Umstand besonders bemerkenswert, dass
das Verhalten in der Oper kein durch hoheitliche Instanzen reglementiertes
oder fixiertes ist, sondern von den Besuchern selbst geschaffen, erhalten und
weiter getragen wird.
Der innerhalb der Oper gebildete soziale Raum, der den Kern sowohl der
Institution „Oper“ birgt und zugleich auch der zentrale Ort der Institutionalisierungsprozesse ihrer Rezeptionsformen ist, lässt sich an den architektonischen Voraussetzungen und den darin transportierten Traditionen verdeutlichen. Er beginnt am Eingang des Gebäudes: Zumeist in originaler oder
nachempfundener barocker oder klassizistischer Pracht, entheben Opernhäuser ihre Besucher dem Alltag und zugleich auch den alltäglichen Kommunikationsformen. Eingangshallen und Treppenaufgänge, edle Gesteine und
Dekormaterialien sowie eine festliche Beleuchtung schaffen einen Zustand der
„Liminalität“ (Victor Turner) und damit den rituellen Übergang in eine eigene
Welt und deren Ordnungsprinzipien.41 Diese Prinzipien setzen sich im
Auditorium fort: Die Anordnung der Plätze im Parkett und in den Rängen und
Logen mit ihren unterschiedlichen Sicht- und Sichtbarkeitsverhältnissen
Praxis, Münster 2003, S. 30; Kathrin Groh u. Christine Weinbach, Zur Genealogie des
politischen Raumes der Demokratie, in: dies. (Hg.), Zur Genealogie des politischen
Raums. Politische Strukturen im Wandel, Wiesbaden 2005.
39 Bourdieu, Sozialer Raum, S. 17.
40 Vgl. Bruce A. McConachie, New York Operagoing, 1825 – 50. Creating an Elite Social
Ritual, in: American Music 6. 1988, S. 181 – 192, bes. S. 190.
41 Liminalitätbeschreibt nach Victor Turner die Schwellenphase in einem Ritual, welche
das Individuum seiner normalen sozialen Ordnung enthebt, vgl Victor Turner,
Liminalität und Communitas, in: Andra Belliger u. David J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 1998, S. 251 – 262.
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147
bestimmen die soziale Schichtung des Publikums entsprechend der jeweils
erworbenen Eintrittskarten.
Die Architektur der historischen Opernsäle segmentiert das Publikum mithin
nach Prestige beziehungsweise finanzieller Potenz und konstituiert damit ein
räumliches Bild der Sozialstruktur des Publikums. Das Publikum wiederum
agiert durch den Einsatz von Kapital, Wissen, Kleidung, Sprache und so weiter
im Rahmen des räumlichen Abbildes und trägt so zur Manifestation des
Regelsystems innerhalb des sozialen Raums bei. Damit wird nicht nur ein
gegenwartsbezogenes Abbild der unterschiedlichen finanziellen und kulturellen Ressourcen der Besucher geschaffen, sondern auch ein Bild der
gesellschaftlichen Ordnungsmuster zur Entstehungszeit der Gebäude:
Eine Hofoper – das zeigt schon ein flüchtiger Blick in den Zuschauerraum des 17. oder 18.
Jahrhunderts – ist eben auch hierin ein Spiegel der höfischen Gesellschaft gewesen, mit
klarer Rang- beziehungsweise Kleiderordnung und einem unverrückbaren Zeremoniell.42
Alle späteren Zuschauergenerationen nahmen und nehmen deshalb bei ihrem
Besuch Räume ein, welche für das Musikpublikum einer bestimmten historischen Epoche und ihrer politischen und sozialen Ordnung geschaffen
worden sind (etwa die Logen für die Aristokratie). Durch den Einsatz von vor
allem ökonomischem Kapital lässt sich heute ein Platz an einem jener Orte im
Opernhaus erwerben, die im 18. oder frühen 19. Jahrhundert nur durch Rang
und Herkunft zugänglich waren. Zugleich wird dadurch im allabendlichen
Vollzug die feudale Ordnung symbolisch in die Gegenwart übertragen. Dieser
performative, als eine Art von Rückkoppelung vorstellbare Prozess unterstützt
die spezifische Dynamik, mit welcher der soziale Raum Oper zur Institution
wird.
Die in der Regel in den 1960er bis 1980er Jahren eingeführten Abonnements
und Freundes- und Förderkreise reproduzieren und verfestigen damit früher
habitualisierte Verhaltensformen. Sie bieten eine vordefinierte Position im
sozialen Raum und schaffen Gruppierungen, mittels derer sich der Einzelne
positionieren kann, selbst wenn die ursprünglichen Verfahren der Typisierung
gar nicht mehr praktiziert werden. Der 1962 gegründete Freundeskreis der
Londoner Royal Opera macht die dazu dienliche Segmentierung deutlich: Er
schuf ein bis in die 1990er Jahre gültiges Mehrklassensystem, das die Besucher
des Hauses in outer circle (die normalen aber regelmäßigen Besucher), inner
circle (den Freundeskreis) und Drogheda circle (die besonders wohlhabenden
oder mit der Oper gut vernetzten Patrone) einteilte.43 Die Vertreter der
einzelnen Gruppen durften zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihre Karten
erwerben, hatten Zugang zu unterschiedlichen Pausenfoyers und verfolgten
die Geschehnisse auf der Bühne aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
42 Ingrid Scheurmann, Szenenwechsel. Eine Kulturgeschichte der Oper und der Berliner
Staatsoper Unter den Linden, Bonn 1998, S. 19.
43 Vgl. Lebrecht, Covent Garden, S. 197.
148
Sarah Zalfen
Wenn nicht gravierende Brüche die Tradierung der institutionalisierten
musikalischen Räume unterbrochen haben, übertrugen und übertragen
gerade die sozialen Räume die historischen Gesellschaftsordnungen durch
die Rückkoppelung auf die zeitgenössischen Besucher. Mit der Übernahme der
Opernhäuser durch den Staat erfolgte allerdings die politische Steuerung auch
auf der Ebene der sozialen Räume. An zahlreichen Orten kam es in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem kulturpolitisch hergestellten Bruch, der
darauf zielte, die Oper durch Subventionen und Kontrolle der Eintrittspreise
für alle Menschen zu öffnen und sie damit zu „demokratisieren“. Die
Zugänglichkeit zur Oper oder die „Oper für Alle“ avancierte zu einem
zentralen kulturpolitischen Programmpunkt.44
Zudem sollten überall dort, wo neue Opernhäuser erbaut wurden, die
Zuschauerräume demokratischer und die Häuser auch baulich transparenter
werden. Die Spuren des feudalen Erbes und damit der hermetische und elitäre
Charakter, der bis dahin in den Opernbauten unangetastet überlebt hatte,
sollten aus der Oper verschwinden. Das Konzept der architektonischen
Demokratisierung zeigte sich etwa in den Neubauten der Deutschen Oper
Berlin (1961) und der Opra de la Bastille (1989): Das Publikum saß nun in
langen mit gleichem Gestühl ausgestatteten Sitzreihen, die an die Stelle der
Logen und schmalen Ränge getreten waren, und verfügte ausnahmslos über
einen guten Blick auf die Bühne. Die Kunst, nicht mehr die Präsentation der
Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Statusgruppen, sollte im Fluchtpunkt der Zuschauerblicke liegen.45
In London fand dieser Bruch nicht statt, weder architektonisch noch
kulturpolitisch. Das 1858 erbaute Royal Opera House Covent Garden, das
weitgehend nach dem Vorbild des abgebrannten Vorgängerbaus aus dem Jahr
1809 entstand, blieb unverändert und behielt auch die hierarchische Segmentierung des Publikums bei.46 Die Zuschauer waren nach wie vor in das
gestaffelte Gerüst einer dreirangigen Hufeisenform eingebunden. Über dem
Parkett (stalls) erheben sich die teuren und oftmals exklusiven Plätze, das
Hochparkett sowie die unteren Ränge, die sich in unterschiedlich stark
voneinander separierte Logen (boxes) gliedern. Der dritte, hoch oben liegende
Rang wird weit nach hinten durch das „amphitheatre“, ein rund sechshundert
Plätze umfassendes zweites Sitzplateau, erweitert – die billigen Plätze. Bereits
44 Vgl. Zalfen, Staats-Opern? S. 200 – 209; Hilmar Hoffmann, Die Oper wurde sozialisiert.
Keine Domäne gesellschaftlicher Elite, in: Lothar Romain (Hg.), Zwischen Oper und
Kulturladen, Bonn 1978, S. 77 – 87.
45 Der erste Bau, der diese die Theaterarchitektur der Moderne prägende Idee und Struktur
hat, war freilich bereits Richard Wagners Festspielhaus in Bayreuth, eröffnet im Jahr
1876.
46 „The (most) reserved response from the body of the house stems from its seat
allocation.“ Clive Bournsnell, The Royal Opera House Covent Garden, London 1982,
S. 202.
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149
an den Eingangstüren entschied sich bis zum Umbau 1997, zu welcher
„Preisklasse“ die Zuschauer gehörten, da die Plätze des dritten Rangs nicht
durch den eleganten Haupteingang, sondern nur über die hinteren, schlichten
Treppenhäuser des Theatergebäudes zugänglich waren.
Weiterhin blieb nach 1945 auch in London zwar die öffentliche Musikförderung beibehalten, die während des Zweiten Weltkrieges eingesprungen war,
um mit dem Kulturbetrieb die Moral der Menschen an der Heimatfront zu
stärken. Anders als auf dem europäischen Kontinent, musste aber der größte
Teil des Etats weiterhin durch eigene Einnahmen gesichert werden. Daher
blieb der Opernbesuch ein Privileg der Oberschicht und als solcher fest in
ihren Ritualen verankert.
Zahlreiche Demokratisierungsprogramme versuchten vergeblich mit dem
institutionalisierten sozialen Raum in der Oper zu brechen: Ab dem Ende der
1980er Jahre galt etwa eine preiswert zugängliche Veranstaltungsreihe bereits
als das Maximum der sozialen Öffnung der Royal Opera. Damals wurde für
eine Woche das Interieur – und damit auch die geschlossene Atmosphäre des
Opernraums – aufgelöst und den Zuschauern für wenige Pfund die Möglichkeit geboten, die Aufführungen auf einem Stehplatz im leer geräumten Parkett
zu genießen.47 Um den Zugang zu den Kunstgenüssen für die breiten
Bevölkerungsschichten noch weiter zu öffnen, veranstaltete das Opernhaus
ab 1995 Live-Übertragungen direkt vor dem Gebäude, insbesondere von
Galavorstellungen mit bekannten Stars. Auf der Covent Garden Plaza kamen
tatsächlich Tausende zusammen, um auf einer großen Leinwand zu verfolgen,
was im Inneren nur ein vergleichsweise kleiner privilegierter Kreis genießen
konnte. Eine wirksame Auflösung der institutionalisierten Form der Oper kam
dabei nicht zustande. Die räumliche Nähe zum „Original“ blieb nur denen
vorbehalten, die sich im Inneren beziehungsweise in der „echten“ Vorstellung
befanden. Die Besucher der Extraveranstaltungen wurden eben nicht Teil
dessen, was das Besondere am Opernbesuch ausmachte. Bourdieus Konzeption des sozialen Raums bestätigend, veranschaulicht hier die objektive
Distanz zwischen den Publika drinnen und draußen deren deutlich vollzogene
soziale Trennung.48 Die Veranstaltungen betonten die Nichtzusammengehörigkeit der Publikumsgruppen weit mehr als ihr gemeinsames Erleben.
Mithin bestand das zentrale Problem zur Zeit des Opernumbaus darin, dass
die dem Londoner Opernereignis innewohnende Institution des sozialen
Raums plötzlich fehlte und die Aufführungen dadurch dekontextualisiert
worden waren. Zuvor war es leichter möglich, den gültigen Regeln (typisierten
Verhaltensformen, Kleidungsstilen und Kommunikationsformen) einer
Opernaufführung zu folgen – so man sie denn kannte. Die Loslösung des
47 Vgl. Jeremy Isaacs, Never Mind the Moon. My Time at the Royal Opera House, London
2001, S. 258 f.
48 Vgl. Bourdieu, Sozialer Raum, S. 16.
150
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Opernereignisses von einem bestimmten Raum, an dessen Regeln das
Publikum sich bisher orientiert hatte, stellte viele Besucher vor neue
Herausforderungen: „Getting dressed for a spot of corporate entertainment
used to be so easy – bun on a tux, shove a few sparklers around the lady wife’s
swan-like neck and then just sit it out in gilded splendour“,49 karikierte die
Times diese Sorge. Die Abwesenheit der spezifischen in der Räumlichkeit des
Opernhauses festgeschriebenen Institution wurde nicht zuletzt deshalb zu
einem Problem, weil sich zeigte, dass ein Teil des Publikums auf die Kunst der
Oper gerne verzichtete, wenn sie nicht den gewohnten gesellschaftlichen
Rahmen bot. Ohne die typisierten Strukturen der bekannten Oper – die urbane
Covent Garden Plaza, die roten Sessel, Logen und exklusiven Pausensalons –,
ohne die Möglichkeit der Selbstvergewisserung, dass man in das Royal Opera
House ging, war manchen Zuschauern der Opernbesuch nichts mehr (oder
erheblich weniger) wert.
IV. Herrschaftstheater
Opernaufführungen zeigen eine habitualisierte und institutionalisierte Verschränkung von Musikkonsum und Herrschaftsrepräsentation, die mitunter
stärker wirkt als die modernen architektonischen Rahmenbedingungen, in
denen sie stattfindet.
Unmittelbar nach dem „historischen“ Wahlsieg der Sozialisten 1981 kündigte
der neue französische Präsident FranÅois Mitterrand ein großes Städtebauprogramm an, darunter ein neues Opernhaus an der Place de la Bastille. Mit
dem Bau sollte das monarchische Symbol von Kultur und Macht in das Pariser
„Volksviertel“ und an den Ursprungsort des modernen französischen Nationalbewusstseins getragen werden. Die Inauguration der Oper am Vorabend
des 14. Juli 1989, der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution,
wurde ein theatralisches Spiel zwischen Tradition und Moderne. Die demokratische Architektur, ein massiger, aber transparenter Bau, der einen 2.700
Plätze umfassenden Saal ohne Logen, Ränge, Goldornamente und roten Samt
umschloss, wurde mit dem hoheitlichen Anspruch verknüpft, ein vom
Präsidenten für „sein“ Volk erdachtes Opernhaus prachtvoll zu repräsentieren.50 Zwischen Militärdefilee, Parade, Gala-Diner und Volksball bildete die
Eröffnung der Oper ein hervorragend eingepasstes Element.51 Die Feier
49 The Times, 26. 7. 1997.
50 Vgl Frdrique Jourdaa, A l’pera aujourd’hui. De Garnier Bastille, Paris 2004; Saint
Pulgent, Le syndrome de l’Opra; Jean-Pierre Biojout (Hg.), Les insolites de l’Opra
Bastille, Paris 2000.
51 Vgl. Jean-Nol Jeanneney, Le Bicentenaire de la Rvolution FranÅaise. Rapport du
Prsident de la Mission du Bicentenaire au Prsident de la Rpublique sur les activits de
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veranschaulichte pointiert, wie der institutionalisierte Akt einer Operngala
durch sein spezifisches musikalisches Zeremoniell seiner Tradition verhaftet
blieb, ohne auf Erneuerung zu verzichten.
Für 19 Uhr war die Gala angesetzt. Auf dem Programm stand ein nur gut
einstündiges Potpourri aus Ballettszenen und großen Arien, die fast ausschließlich von französischen Komponisten des 19. Jahrhunderts stammten.52
Die eigentliche Inszenierung des Ereignisses fand jedoch nicht auf der Bühne
statt. Wie die Tageszeitung Le Monde beobachtete, gab es zwei Spektakel:
„premier, le concert sur la scne; mais bien sr le deuxime dans la salle,
autour de Monsieur FranÅois Mitterrand“.53 In der Eröffnungszeremonie
zeigte sich das Potenzial der Oper, einen Raum zu formieren, in dem das
Erscheinen und Erklingen auf der Bühne auch die Theatralität im Zuschauersaal legitimierte.
Die geladenen Zuschauer erhielten wegen der strengen Sicherheitsvorschriften
für die Staatsgäste bereits Stunden vor Beginn der Vorstellung Einlass in das
Gebäude; das die Straßen säumende Volk wurde weiträumig durch Abriegelung fern gehalten. In einem langen Zug schwarzer Limousinen kamen
schließlich die Staatsgäste vorgefahren und nahmen mit ihren Begleitungen
auf der mittleren Terrasse des ersten Ranges Platz. Zuletzt betrat FranÅois
Mitterrand mit seiner Frau Danielle den Saal, um sich, alle anderen in der
Reihe zum Aufstehen nötigend, zu seinem Platz in der Mitte der ersten Reihe
dieser Terrasse zu begeben – genau an jene Stelle, wo in den meisten
Opernhäusern zuvor die Königsloge lag, die aber hier architektonisch nicht
einmal mehr angedeutet war. Der amerikanische Präsident George Bush saß
bereits auf dem Platz daneben. Die Staatsgäste saßen gestaffelt um Mitterrand
herum. Helmut Kohl und Margaret Thatcher waren Plätze abseits in der
zweiten Reihe zugewiesen worden.
Die Sitzordnung transportierte eine für alle sichtbare Ordnung, die sich von
den üblichen runden Tableaus politischer Bauwerke der Demokratie deutlich
unterschied. Die Kamerabilder des live übertragenen Ereignisses zeigten
während dieses Ablaufes, wie alle Anwesenden im Saal sich erhoben und dem
cet organisme et les dimensions de la clbration. La Documentation FranÅaise, Paris
1990.
52 Auszüge aus „Faust“ und „Romo et Juliette“ von Charles Gounod, „Dinorah“ und „Le
Pardon de Ploermel“ von Giacomo Meyerbeer, „Thais“, „Herodiade“ und „Werther“ von
Jules Massenet, „Alceste“ von Christoph Willibald Gluck, „Samson et Dalila“ von
Camille Saint-Sans, „Carmen“ von Georges Bizet und „La Damnation de Faust“ von
Hector Berlioz. Damit wies das Programm erstaunliche Ähnlichkeit mit dem der
Eröffnung des Palais Garnier auf, das Frdrique Patureau als ein „banales“ Potpourri
aus Opern von Auber, Meyerbeer, Halvy, Rossini und ein paar Ballettszenen beschreibt;
vgl. Frdrique Patureau, Le Palais Garnier dans la socit parisienne, 1875 – 1914, Lige
1991, S. 22.
53 Le Monde, 15. 7. 1987.
152
Sarah Zalfen
imaginären Zentrum des Raumes im ersten Rang zugewendet applaudierten.
Mitterrand nahm diese Akklamation winkend entgegen, um dann selbst in den
Applaus einzustimmen. Die „Marseillaise“ wurde gespielt, und das musikalische Spektakel auf der Bühne konnte beginnen.
„L’Opra est une des dernires manations de l’Ancien Rgime, d’un tat
monarchique fond sur le pouvoir centralis“,54 hatte das Magazin Actualit
kurz zuvor noch geurteilt. Und genau dieser „pouvoir centralis“ wurde durch
die Eröffnungsfeierlichkeit räumlich präsentiert und repräsentiert. Die Platzwahl, der Gang zum Präsidentensitz und die huldigende Geste im Kreise der
hohen politischen Gäste, vor allem aber die Hinwendung der Blicke der
Anwesenden hin und – vom Parkett aus – hoch zum zentralen Ort im Raum
schufen einen Prozess der Vergegenwärtigung von Macht, der sich über die
zeitgenössische Architektur und ihren antihierarchischen Duktus hinweg
setzte. Mit einer Analogie verwies die Beschreibung in Le Monde auf die
Bezüge beziehungsweise die Herkunft dieses Zeremoniells hin: „Tous ces
personnages autour du Prsident de la Rpublique qui apparaissent sur les
belles vagues arrondies des galeries comme Jupiter et Juno des opras
baroques.“55
FranÅois Mitterrand vermochte sich bei diesem Festakt ebenso wie die
Londoner Oberklasse auf das fest in der Architektur und im Aufführungszeremoniell der Oper verankerte Fundament beziehen. Denn, ob Hof- oder
Staatsoper – deren exponierte Baulichkeiten galten stets auch als Bühnen für
Herrschaftstheater. Im historischen Rückblick zeigt sich, dass in eben dieser
Funktion das konstitutive Moment zwischen Oper und politischer Macht liegt,
das über Brüche und Systemwechsel hinweg tradiert und institutionalisiert
worden ist.
Die noch 1989 zum Ausdruck kommende Funktion von Opernhäusern und
Opernaufführungen, durch Raum, Ausstattung und rituelle Dramaturgie das
Erscheinen auf der Bühne mit dem im Zuschauersaal in Einklang zu bringen,
hat sich bereits in der Frühzeit der Oper herausgebildet. Sie verweist auf die
Herkunft der Kunstform, die ihre kommunikative Wirkung gerade aus der
Kombination ihrer alle Sinne ansprechenden Darbietungen im Rahmen
besonderer Anlässe zog.56 Insbesondere die Opernspektakel der Barockzeit,
die den Aufstieg der Gattung begleiteten, dienten keineswegs der reinen
54 Actualit, 1986 (Datum unbekannt, Dossier Opra Bastille 1986, Bibliothque de
l’Opra, Paris).
55 Le Monde, 17. 7. 1987.
56 Nolle Grme, La tradition politique des fÞtes. Interpretation et appropriation, in:
Alain Corbin u. a. (Hg.), Les usages politiques des fÞtes au XIXe–XXe sicles, Paris 1994,
S. 15 – 23. „Daß sich Kulturen in ihren Festen und Feiertagen nicht nur manifestieren,
sondern auch begründen und tradieren“, betont Thomas Macho, Fest, Spiel und
Erinnerung. Zur Gründungsgeschichte moderner Feste, am Beispiel der Salzburger
Festspiele, Salzburg 2006, S. 5.
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Zeitmaschine Oper
153
Erbauung und Unterhaltung oder der Demonstration einer luxuriösen
Verschwendungssucht. „Vielmehr belegen Korrespondenzberichte etwa der
europäischen Diplomatie […], in welchem Maß diese Inszenierungen eine
politische Sprache führten und in diesem Sinne genuiner und unverzichtbarer
Teil der offiziellen Politik des Hofes waren.“57
Die Inszenierung des Herrschers im Zuschauerraum der Oper entsprach dabei
in der Regel der für die Frühzeit der Oper typischen Bühnensprache der
Allegorien und Verherrlichung. Beide Darstellungsformen waren eng miteinander verwoben, etwa am Hofe des französischen Königs Ludwig XIV. – so eng,
dass der König selbst als Darsteller auf der Opernbühne auftrat.58 Oder in
Berlin, wo Friedrich II. in seiner Hofoper meist statt in der Königsloge
unmittelbar hinter dem Orchester auf einem „Thron von Menschen“, vor allem
seines Militärs saß, um die Vorstellung mit zu dirigieren. Einen „palais
enchanteur et magique“ nannte er sein Opernhaus und verwies damit sowohl
auf jene die Realität verzaubernde Aura der Oper wie auf deren Funktion als
Bauwerk und Bollwerk der Macht.59
Die sich in der Opernaufführung herstellende Verbindung zwischen dem
Repräsentationssubjekt, seiner ornamental hervorgehobenen Loge und dem
von dort aus beobachteten Spektakel auf der Bühne ist das zentrale Element
der dritten Ebene der Institutionalisierungsprozesse der Oper : der Institutionalisierung von Herrschaft. Diese Ebene wurde, wie auch die beiden zuvor
dargestellten, durch den performativen und repetitiven Charakter der musikalischen und theatralen Aufführung verfestigt; sie bestimmte die zeremonielle Habitualisierung des Opernbesuchs von Seiten sowohl des Publikums als
auch der gekrönten Häupter oder Repräsentanten des Staates. Dadurch, dass
die Herrscher erst dann erschienen, wenn das gesamte Publikum versammelt
war, zogen sie die Blicke symmetrisch auf sich. Die durch den Raum
vorgegebene Struktur wurde durch die Körper, die Bewegungen und die
visuelle Kommunikation der Beteiligten nachgebildet und dann durch ein
Ritual in eine eigene symbolische Form überführt, die Ausdruck und
Anerkennung der abgebildeten Ordnung war.
Auch als sich die unmittelbare Verknüpfung mit den Höfen durch die
zunehmende Autonomie der Opernhäuser aufgelöst hatte und die theatrale
Huldigung des Herrschers auf der Bühne ihren Bezug zum realen Machtzen57 Uta Hengelhaupt, Die große Inszenierung als Repräsentation des Staates. Frühe
Opernprojekte am Wiener Kaiserhof. Vortrag zur Eröffnung der Tage Alter Musik in
Bamberg (Die Habsburger und die Musik), unveröff. Ms. Bamberg 2006; Vgl. auch Silke
Leopold, Höfische Oper und feudale Gesellschaft, in: Udo Bermbach u. Wulf Kunold
(Hg.), Der schöne Abglanz. Stationen der Operngeschichte, Berlin 1991, S. 65 – 82.
58 Vgl. Fritz Reckow, Die Inszenierung des Absolutismus. Politische Begründung und
künstlerische Gestaltung höfischer Feste im Frankreich Ludwigs XIV. (= Erlanger
Forschungen, Reihe A, Bd. 60), Erlangen 1992.
59 Vgl. Scheurmann, Szenenwechsel, S. 62 u. S. 80.
154
Sarah Zalfen
trum verlor, blieb die Mittelloge (in einigen Häusern auch die Proszeniumsloge) der typisierte und typische Ort, an dem sich auch jene Machthaber in
Szene setzen konnten, die den Fürsten und Königen historisch folgten. Wo alte
Zuschauersäle erhalten wurden, blieb „der Platz in der vormaligen Königsloge
nicht leer“, wie Ingrid Scheurmann am Berliner Beispiel erläutert hat:
Nunmehr erwartete man hier Persönlichkeiten wie Friedrich Ebert und Feldmarschall von
Hindenburg, später dann Walter Ulbricht, Erich Honecker und Leonid Breschnew, Richard
von Weizsäcker und Roman Herzog, um nur einige zu nennen. […] So richten sich die Blicke
der Zuschauer auch weiterhin erwartungsvoll auf die Plätze in der Mitte des ersten Ranges.60
In den Opernhäusern, in denen kein baulich hervorgehobener Balkon mehr
vorhanden war, hob man – wenn es die Anwesenheit entsprechender Gäste
erforderte – jene Plätze, an denen im traditionellen Opernhausschema die
Königsloge lag, mit Schmuckelementen, Baldachinen oder Girlanden hervor.
So entstand ein Punkt der Orientierung im sozialen Raum des Auditoriums,
dessen Ordnung nicht allein durch die Anordnung des Publikums zueinander,
sondern auch durch dessen Nähe oder Distanz zur Loge des Herrschers
aufrechterhalten wurde.
Am Vorabend der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution in Paris
erwies sich die institutionalisierte Zentralität und Theatralität des Ortes der
Macht als wirksamer als der moderne Theaterbau. Das Ritual um FranÅois
Mitterrand kreierte ein imaginäres Bild einer alten Oper, die durch das
Zeremoniell gewissermaßen über den neuen Saal projiziert wurde, ohne dass
sich dessen egalisierende Struktur selbst wirklich veränderte. Das Verhalten
der Besucher wurde wesentlich durch den rituellen Nachvollzug inkorporierter beziehungsweise habitualisierter tradierter Verhaltensmuster geprägt; der
Applaus, das sich Erheben und sich Zuwenden gegenüber dem im imaginierten Brennpunkt des Saales Platz nehmenden Präsidenten zeigten sich als
Anerkennung und Umsetzung der alten Institution in einem neuen äußeren
Rahmen.
Nicht der unmittelbare Zusammenhang von Gebäude oder Raum zum
Präsidenten, sondern die Re-Inszenierung im Rahmen der Opernaufführung,
die auch ohne geeignete räumliche Vorgabe einer bestimmten Ordnung folgte,
vergegenwärtigte die in diesem Ritual verankerte Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten. Die symbolische Form der höfischen Oper blieb im
kulturellen Gedächtnis als „institutionell bedingte Geformtheit, durch [ihre]
Zeremonialität charakterisiert“61 bestehen und vermittelte und verstärkte den
Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
60 Scheurmann, Szenenwechsel, S. 84 f. Vgl. auch Michael Forsyth, Bauwerke für Musik.
Konzertsäle und Opernhäuser, Musik und Zuhörer vom 17. Jahrhundert bis zur
Gegenwart, München 1992.
61 Jessica Cohen u. Denise Langenhan, Steuerung durch Symbole, in: Gerhard Göhler u. a.
(Hg.), Weiche Steuerung. Studien zur Steuerung durch diskursive Praktiken, Argu-
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Zeitmaschine Oper
155
V. Resümee: Unzeitgemäße Institutionen?
Die politischen Versuche am Ende des 20. Jahrhunderts die Institution Oper zu
reformieren, scheiterten gewissermaßen an einem Missverständnis: Das
Bemühen Kosten zu senken, administrative Verflechtungen aufzulösen und die
Zugänglichkeit der Häuser zu verbessern, stieß auf manifeste, im Inneren
dieses organisatorischen Rahmens institutionalisierte Ordnungen, die als
Bestandteile oder Folgen des „Problems“ erkannt wurden, aber bei näherem
Hinsehen ihren Ursprung bilden. Die Annahme, dass die „Oper an sich“ das
Verhalten ihrer Besucher lenke und den Entscheidungsträgern Orientierungsmaßstäbe vermittele, erwies sich als unzutreffend. Es waren vielmehr
zahlreiche in ihrer Geschichte herausgebildete, durch ihren performativen
Ereignischarakter habitualisierte und in der gesellschaftlichen Kommunikation typisierte Merkmale, die sich als institutionalisierte Schichten in jedem
einzelnen Opernhaus wie im kulturellen Typus der Oper verfestigt haben.
Die Beispiele der drei dargestellten Opern sollten deutlich werden lassen, dass
es sich bei diesen Institutionalisierungsprozessen der Musik um keine lineare
Entwicklung der abwechselnden Verfestigung und Veränderung handelt.
Vielmehr wurden institutionelle Effekte erkennbar, die als Rückkoppelung
bezeichnet werden können: als Interferenz zwischen den früheren Formen des
habitualisierten Handelns und Verhaltens sowie den daraus hervorgegangenen Regeln und Normen und den im Zuge der fortschreitenden Institutionalisierung veränderten Formen, in denen sie sich ausdrücken.
Dieser bei den Opern beispielhaft deutlich gewordene Effekt der Rückkoppelung erfordert, wo er wirksam wird, Institutionalisierung nicht als Addition
historischer Entwicklungen zu betrachten, sondern als deren Tradition
beziehungsweise Tradierung, in dem Sinne, wie Murray Edelman sie konzipiert hat: als Konstruktionen der Vergangenheit in der und für die Gegenwart.62 Sie sind nicht die Vergangenheit selbst, sondern Bezugnahmen der
Gegenwart auf eine aktuell relevante Historizität. Aus ihnen erwächst die
institutionalisierte Ordnung einer als sinnhaft wahrgenommenen Welt, ganz
unabhängig davon, ob die Ordnung in formal verrechtlichten Normen, als
kollektiv anerkannte informelle Prinzipien oder als gelebte Praktiken des
Musiklebens erscheinen.63
mente und Symbole, Baden-Baden 2009, S. 138 – 188, hier S. 152; vgl. auch Beate Binder,
Eine Hauptstadt wird gebaut, in: Erika Fischer-Lichte (Hg.), Wahrnehmung und
Medialität, Tübingen 2001, S. 177 – 196.
62 Vgl. Murray Edelman, Constructing the Political Spectacle, Chicago 1988, S. XV.
63 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines
Theorieprogramms, Göttingen 2000, S. 33; Werner Heinrichs, Kulturpolitik und
Kulturfinanzierung. Strategien und Modelle für eine politische Neuorientierung der
Kulturfinanzierung, München 1997, S. 48 f.
156
Sarah Zalfen
Diese Weise der Vergegenwärtigung zeigt sich in der kulturpolitischen
Reproduktion des Repertoires und dessen Kanonisierung. Sie findet sich
aber auch in all den die historische Gesellschaftsordnung rekonstruierenden
Verhaltensweisen des Publikums. Schließlich wird sie in der symbolischen
Form der höfischen Opernhäuser deutlich, die auf Grund ihrer Habitualisierung auch jenseits ihrer architektonischen Gestaltung weiter bestehen und
wirkungsmächtig bleiben. Stets wird eine Verbindung zwischen Geschichte
und Gegenwart sichtbar, welche frühere Regelwerke und Verhaltensformen
überträgt und weiterträgt. Die dahinter stehenden Prozesse und die davon
ausgehenden Wirkungen mögen auf den ersten Blick weitgehend „außermusikalischen“ Charakter haben und die Kunst der Oper beziehungsweise die
Musik selbst außer Acht lassen. Für sie alle ist jedoch die Musik ein
konstitutiver Bestandteil. Denn Musik ist eine Zeitmaschine – so ließe sich eine
Beobachtung der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte abwandeln:
Alles, was sie zum Klingen bringt, verwandelt sie in Gegenwart.64 Umgekehrt
ist die Interpretation ebenso wie die Rezeption von Musik niemals zeitlos,
sondern stets mit der Deutung von etwas Vergangenem verwoben.
Durch diesen paradoxen Charakter schafft die Musik einen Nexus zwischen
ihrer Entstehungszeit, der Gegenwart und der Rezeptionsgeschichte. Der
performative Ausdruck, an den der Fortbestand einer Musik gekoppelt ist,
bedingt strukturell Wiederholungen und formiert damit alle bestimmenden
Handlungen und Praktiken in ihrem Umfeld. Daher gilt für sie Victor Turners
Feststellung: „Cultural performances are not simple reflectors or expressions
of culture or even of changing culture but may themselves be active agencies of
change“.65 Als Kunstwerk entwickelt und verändert sich die Oper zwar unter
bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen, aber als kultureller Kanon und
als Repertoire wird sie selbst eine Institution und eine Rahmenbedingung für
das Wissen und die kulturelle Praxis einer Gesellschaft. Die Musik lässt
Typisierungen, neue Wissensbestände und Praktiken entstehen, die als
Institutionen an die nächste Generation übermittelt werden und in der Regel
eher Reformbemühungen bestimmen als ihnen unterliegen.66
Kanonisierung, Zuschauerrituale und repräsentative Staatsakte institutionalisieren sich als Prozess der Vergegenwärtigung und werden auch als solche
tradiert. Sie zeigen, dass mit der performativen Verbindung von Geschichte
und Gegenwart einer weitgehend atavistisch gewordenen Kunstform auch die
historisch entstandenen Räume und Praktiken, die sich im Laufe der
Geschichte dieser Kunst gebildet haben, vergegenwärtigt werden können.
64 Erika Fischer-Lichte, Was ist eine „werkgetreue“ Inszenierung? Überlegungen zum
Prozess der Transformation eines Dramas in eine Aufführung, in: Erika Fischer-Lichte
(Hg.), Das Drama und seine Inszenierung, Tübingen 1985, S. 37 – 49, hier S. 37.
65 Victor Turner, Anthropology of Performance, New York 1988, S. 24. Vgl. auch Cook,
Music as Performance.
66 Vgl. Berger u. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion, S. 79.
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Zeitmaschine Oper
157
Die auf diesem historischen Fundament entstandenen Institutionen der Musik
erweisen sich daher als stabiler, als es die Konzepte eines „demokratisierten“,
staatlich organisierten Kulturbetriebs vorsehen.
Die institutionalisierten Prozesse der Musik, wie sie an drei ausgewählten
Beispielen verdeutlicht wurden, erweisen sich also als wenig anpassungsfähig.
Zwar steigen neue Opernstars auf und erobern, wie zuletzt Anna Netrebko,
auch die Medien. „Digitale“ Konzerthallen und „Public Viewing“ unterziehen
das Zuschauerzeremoniell einer modernen Eventlogik, und in den Königslogen sitzen längst nicht mehr nur die Mächtigen des Staates, sondern auch
prominente Unternehmer und Medienpersönlichkeiten. Doch verändern diese
Neuerungen die musikalische Aufführung kaum, denn sie führen – anders als
es der Aufstieg der Rock- und Popmusikkultur gezeigt hat – zu keinen
signifikanten neuen Habitualisierungen. Auch eine Netrebko bedient die
Repertoire-Erwartungen ihres Publikums, bei einer „Aida auf Schalke“ spielt
auch das Publikum „große Oper“,67 und die modernen Mächtigen genießen in
der Opernloge den Nimbus des Monarchen, freilich ohne dadurch in den
Verdacht der antidemokratischen Gesinnung gerückt zu werden.
Kurt Westphal hat 1928 zur Dominanz der Musik der Romantik pointiert
formuliert: „Wir beherrschen das 19. Jahrhundert noch nicht; es beherrscht
zum großen Teil uns.“68 Am Ende des 20. Jahrhunderts hat sich dies bestätigt.
Auch kulturelle und soziale, politische und ökonomische Veränderungen
unterliegen im Zweifelsfall der Macht der Gewohnheit, die in zahlreichen
Momenten des Musiklebens festgeschrieben ist.
Dr. Sarah Zalfen, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Lentzeallee 94,
D-14195 Berlin
E-Mail: zalfen@mpib-berlin.mpg.de
67 Im Jahr 2001 fand in der Gelsenkirchener Fußballarena eine großformatige AidaProduktion statt, von welcher der Westdeutsche Rundfunk u. a. berichtete: „Pinguingleich bevölkerten Hunderte von schwarzbefrackten Männern die Wege, im Schlepptau
den weiblichen Anhang, der sich nicht minder in Schale geschmissen hatte. Nur hier
und da war im Getümmel auch ein blauweißes Schalke-Trikot zu entdecken.“ Zitiert
nach Zalfen, Staats-Opern, S. 220 f.
68 Kurt Westphal, Das neue Hören, in: Melos 7. 1928, S. 352 – 354, hier S. 354.
Diskussionsforum
„Eine Welt“
Globales Interdependenzbewusstsein und die
Moralisierung des Alltags in den 1970er und 1980er Jahren
von David Kuchenbuch*
Abstract: In the 1970s and 1980s, Western European and American concepts of the
global changed profoundly. The article illustrates this by tracing discourses on global
interdependency in this period. From the late 1960s onwards, ideas about the “limits
of growth” prompted efforts by experts and supranational organisations to solve
economic, environmental and social problems on a global scale. But these endeavours
also prompted a countercultural criticism of the ideology of growth, development and
progress, as well as of materialism and ethnocentrism, which was heavily influenced
by the notion of “One World”. A “glocal” ethic emerged which considered Western
consumer practices and living standards in global terms.
I. Diskurse über „Welt“ als Thema der Zeitgeschichte
Seit einigen Jahren befasst sich die Zeitgeschichtsforschung vermehrt mit
geografischen Imaginationen, realen Landschaften und sozialen Räumen. Der
Raum ist in der Geschichtswissenschaft en vogue, das zeigt schon das
Leitthema des Historikertags 2004 – „Kommunikation und Raum“ – oder auch
das (eher metaphorische) Motto des Kongresses 2010 – „Über Grenzen“. Ob
das Konzept der Situiertheit in den Postcolonial Studies im Zentrum steht oder
die Standortgebundenheit der Produktion wissenschaftlichen Wissens im
Labor :1 Die Rede vom spatial turn ist seit einigen Jahren kaum zu überhören,2
die Rehabilitierung der in Deutschland nach 1945 lange Zeit desavouierten,
* Der vorliegende Aufsatz hätte ohne ein großzügiges Forschungsstipendium des
Deutschen Historischen Instituts in Washington, D.C. 2010/11 und die Diskussionen
mit den Mitarbeitern und Stipendiaten dort nicht entstehen können. Sehr profitiert hat
der Text zudem von den Anregungen von Thomas Etzemüller, Timo Luks und Anette
Schlimm, aber auch von den Vorschlägen der Redaktion und der anonymen Gutachter
von Geschichte und Gesellschaft. Ihnen allen sei dafür herzlich gedankt.
1 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger u. a., Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur,
in: ders. u. a. (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997,
S. 7 – 21.
2 Zur Rede vom turn aufschlussreich Doris Bachman-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2010.
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 158 – 184
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
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„Eine Welt“
159
weil zuvor völkisch ideologisierten Kategorie „Raum“ ist selbst bereits
historisiert worden.3 Schließlich hat die historiografische Beschäftigung mit
dem Raum durch eine soziologische Raumtheoriedebatte neue Impulse
erhalten.4 Der Raum und seine veränderliche kulturelle und soziale Verfasstheit sind aber nicht nur Thema der Geschichtswissenschaft, die Frage nach
dem Raum ist auch zum heuristischen Werkzeug eines der Hauptgeschäfte der
Historiker geworden: des Periodisierens. Insbesondere bei der Auseinandersetzung mit dem Übergang von der – je nach Standpunkt – schweren oder
Hochmoderne zur flüchtigen, reflexiven oder Postmoderne wird dem Wandel
von Raumgrenzen und Raumvorstellungen große Bedeutung beigemessen. So
scheint sich die Zäsur hin zur Welt „nach dem Boom“ in den 1970er und 1980er
Jahren auch an Veränderungen festmachen zu lassen,5 die die geografischen
Koordinatensysteme, die räumlichen Selbstverortungen (oft auch mental
maps) von Individuen und Gesellschaften betreffen.6 Mit diesen Transformationen des Raums – beziehungsweise durch sich verändernde Räume – im
letzten Drittel des zurückliegenden Jahrhunderts kann allerdings ungeheuer
viel gemeint sein. So ist etwa ein Ende der „Territorialisierung“ beobachtet
worden, also ein Bedeutungsverlust der Kopplung Nationalstaat/Territorium
zugunsten von trans- und supranationalen Konstellationen;7 aus kultur- und
mediengeschichtlicher Sicht wird die „Enträumlichung“ der Lebensentwürfe
und -erfahrungen in der virtuellen oder auch Netzwerkgesellschaft diagnostiziert und auf alltags- und sozialgeschichtlicher Ebene das Auseinanderdriften von Ortsbezug und Identität in den von multiplen, „hybriden“ Zugehörigkeiten geprägten postkolonialen Migrationsgesellschaften angeführt. In
allen Daseinsbereichen, so scheint es, gerät seit einigen Jahrzehnten das
überkommene, hierarchische Verhältnis von Zentren und Peripherien ins
Fließen – ob auf den multiethnisch besetzten Baustellen der Ölmetropolen im
Nahen Osten oder in den digitalen Sozialräumen des web 2.0. Zugleich
überwölbt diese komplexen, teils auch widersprüchlichen Entwicklungen ein
3 Vgl. Werner Köster, Die Rede über den „Raum“. Zur semantischen Karriere eines
deutschen Konzepts, Heidelberg 2002. Zuletzt auch Christof Dipper u. Lutz Raphael,
„Raum“ in der Europäischen Geschichte. Einleitung, in: JMEH 9. 2011, S. 27 – 41.
4 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt 2001; Markus Schroer, Räume, Orte,
Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt 2006.
5 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel u. Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die
Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.
6 Vgl. in diesem Sinne zuletzt Niall Ferguson u. a. (Hg.), The Shock of the Global. The
1970s in Perspective, Cambridge, MA 2010; Geoff Eley, End of the Post-war? The 1970s
as a Key Watershed in Europea History, in: JMEH 9. 2011, S. 12 – 17. Vgl. auch Ulrich
Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in:
JMEH 5. 2007, S. 5 – 21, bes. S. 19.
7 Vgl. Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History. Alternative
Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105. 2000, S. 807 – 831.
160
David Kuchenbuch
Makroprozess: die sogenannte Globalisierung, die Grenzen überschreitende
Verflechtung der Wirtschaftsprozesse, von Kommunikation, Kulturen und
sozialen Beziehungen, von Sinnbezügen, Identitäten und Erfahrungen.8 Auf
der einen Seite verzeichnet die Forschung also eine zunehmende Differenzierung und Dynamisierung der alltäglichen Raumdeutungen, -aneignungen, ja,
-produktionen (Henri Lefebvre), der sehr heterogenen sozio-kulturell erzeugten Räume. Auf der anderen Seite entsteht ein gewissermaßen supraterritorialer Raum, wenn nicht sogar eine Weltgesellschaft (Niklas Luhmann),9 für
die es kein Außen und keine Anderen mehr zu geben scheint, was sich in der
politischen Rhetorik der sogenannten global governance, in Begriffen wie
„Weltinnenpolitik“ widerspiegelt.10 Gerade die Bezugnahme auf die Welt hat
aber selbst eine Geschichte –11 und im Folgenden will ich einen Aspekt dieser
Geschichte genauer betrachten. Es gilt zu zeigen,
wie historisch variabel, wie brüchig, wie heterogen und wie lokal […] Vorstellungen der
Einheit, Gesamtheit und Geschlossenheit der Welt sind und wie eng sie an spezifische
Akteurinnen und Akteure sowie deren Praktiken gebunden sind. Globalgeschichte als
Raumgeschichte zu fassen bedeutet demnach, eine Kulturgeschichte der Globalität zu
8 Zu diesem Konzept als einer neuen „großen Erzählung“ kritisch: Heiner Goldinger, Die
Mär von der Globalisierung. Morphologie einer Täuschung, in: Historische Anthropologie 18. 2010, S. 306 – 320. Zum zirkulären Charakter mancher Globalisierungstheorie aufschlussreich: Justin Rosenberg, The Follies of Globalisation Theory. Polemical
Essays, London 2000. Vgl. außerdem Matthias Middell, Der Spatial Turn und das
Interesse an der Globalisierung in der Geschichtswissenschaft, in: Jörn Döring u.
Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und
Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 103 – 123. Als Überblick über die Positionen
siehe Jürgen Osterhammel u. Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung,
München 2007, bes. S. 7 – 27.
9 Zum Topos „Weltgesellschaft“ Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft,
Frankfurt 1998; Georg W. Oesterdiekhoff, Entwicklung der Weltgesellschaft, Münster
2005; Rudolf Stichweh, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt 2000.
Vgl. auch Alexander Schmidt-Gernig, Ansichten einer zukünftigen „Weltgesellschaft“.
Westliche Zukunftsforschung der 60er und 70er Jahre als Beispiel einer transnationalen
Expertenöffentlichkeit, in: Hartmut Kaelble u. a. (Hg.), Transnationale Öffentlichkeiten
und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt 2002, S. 393 – 422.
10 Vgl. Ulrich Beck, Nachrichten aus der Weltinnenpolitik, Frankfurt 2010.
11 Vgl. zur Geschichte des Weltbegriffs Hermann Braun, Welt, in: Otto Brunner u. a. (Hg.),
Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in
Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 433 – 510. Als philosophische Annährung an die
Geschichte des Globalismus Peter Sloterdijk, Sphären II. Globen, Frankfurt 1999.
Stärker kultur- und medienwissenschaftlich Ulrike Bergermann u. a. (Hg.), Das
Planetarische. Kultur, Technik, Medien im postglobalen Zeitalter, München 2010,
S. 17 – 42.
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„Eine Welt“
161
schreiben, die der häufig unkritisch angenommenen Universalität globaler Referenzen ihre
historische Partikularität entgegenhält.12
Konkret beschäftige ich mich im Folgenden mit der Semantik des Ausdrucks
„Eine Welt“. Ich will zeigen, dass dieser Begriff im letzten Drittel des 20.
Jahrhunderts eine wichtige Bezugsgröße lokaler Handlungsimperative und
-muster bestimmter sozialer Gruppierungen in den „westlichen“ Gesellschaften war. Dabei geht es mir auch darum, zu verdeutlichen, dass die Rede von der
Einen Welt nicht nur auf bestimmte Raumvorstellungen, auf eine zeitweilig
verbreitete imaginary landscape schließen lässt, sondern dass sich an ihrem
Beispiel auch veranschaulichen lässt, wie solche Vorstellungen als framings das
Handeln der Menschen im Raum beeinflussen und dieses gewissermaßen
formatieren. Das gilt es näher zu erläutern. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass
der Ausdruck Eine Welt in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts zwei eng verwandte, aber doch unterschiedliche Bedeutungen hatte.
Einerseits bezeichnete er die kulturelle, die historische, die soziale und
ökonomische Interdependenz der Bewohner des Planeten Erde und damit
verbunden ihre wechselseitige moralische Verantwortung füreinander – das
Schlagwort war „One world to share“.13 Anderseits verwies er aber auch auf die
Tatsache, dass die Erde eine begrenzte Entität ist, die als finites, gerecht zu
verteilendes Gut aufgefasst werden musste, wenn nicht sogar als Ressource –
hier lautete die Formel eher „One world only“.14 Dieser doppelte Sinngehalt des
Begriffs, so meine erste These, bildete sich erst gegen Anfang der 1970er Jahre
wirklich breitenwirksam heraus. Zugleich, das ist die zweite, wichtigere These,
veränderte die Einsicht in die Interdependenzen in Einer Welt, die der Begriff
markierte, ganz wörtlich die politisch-moralische Orientierung vieler im
weitesten Sinne gesellschaftlich engagierter Menschen im „Westen“, in Europa
und Nordamerika.15 Zentraler Aspekt dieser Veränderung war, dass der
geografische Sinnraum und die von diesem geprägten politischen Praktiken
12 Iris Schröder u. Sabine Höhler, Welt-Räume. Annäherungen an eine Geschichte der
Globalität im 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Welt-Räume. Geschichte, Geographie und
Globalisierung, Frankfurt 2005, S. 9 – 47, hier S. 12.
13 Vgl. etwa Shridath Ramphal, One World to Share. Selected Speeches of the Commonwealth Secretary-General, 1975 – 9, London 1979.
14 Vgl. z. B. One World Only. Industrialisation and Environment: An International Forum
under the Auspices of the Friedrich Ebert Stiftung, Tokyo 25.11. – 1.12.1973, o. O. 1973.
15 Natürlich ist bei dieser geografischen Kategorie Vorsicht geboten – einerseits angesichts
des grenzüberschreitenden Probleme, um die es den „Entdeckern“ der „Einen“, der
interdependenten Welt ging, und anderseits angesichts des teils dezidiert antinationalistischen Charakters der Eine Welt-Rhetorik – also auch angesichts ihrer Positionierung außerhalb etwa der bewährten Oppositionen von Ost und West, Nord und Süd etc.
Dennoch, das soll das Folgende zeigen, ist es plausibel, die Eine Welt als lokales
Sinnstiftungsmuster in den kapitalistischen westeuropäischen und nordamerikanischen Gesellschaften dieser Zeit zu untersuchen.
162
David Kuchenbuch
vieler Menschen auseinanderrückten, und zwar insbesondere in der sogenannten undogmatischen Linken, im alternativen Milieu,16 der Gegenkultur,
aber auch in manchen kirchlichen Kreisen sowie im „Helfermilieu“ humanitärer think tanks und NGOs. Mit der Welt, der Erde, ja sogar mit der Weltkarte
oder dem grafisch allgegenwärtigen Globus im Blick verlagerte sich für diese
Akteure im Laufe der 1970er und 1980er Jahre die politische Praxis ins eigene
Leben, in den lebensweltlichen Nahbereich also, und zwar oft in Form der
Problematisierung der eigenen alltäglichen Konsummuster.
Diesen Umorientierungsprozess will ich versuchsweise – und bei bewusster
Umdeutung dieses Begriffs – als „Glokalisierung der Moral“ bezeichnen.17 Der
Bereitschaft, den individuellen, lokalen Alltag zur sinnstiftenden Größe „Welt“
in Bezug zu setzen, will ich mich dabei auch ausgehend von der Vermutung
annähern – und das ist eine dritte, eher implizite These –, dass die Semantik
der Einen Welt letztlich bis in die Gegenwart hinein viele Lebensentwürfe im
transatlantischen Zusammenhang prägt, wenn auch in abgewandelter Weise.
Dass die Erhaltung des Planeten, globale Gerechtigkeit und Alltagshandeln
zusammenhängen, ist heute – insbesondere als Imperativ, nachhaltig zu
agieren –18 eine bewusstseinsbestimmende Gewissheit, zudem eine, deren
Infragestellung als zynisch oder naiv gilt und über deren Genese entsprechend
selten gesprochen wird.
Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt – ausgehend von einem kurzen
Überblick über die Verwendung des Begriffs Eine Welt im Wandel – die
wissens- und mediengeschichtlichen Rahmenbedingungen der Thematisierung von „Welt“ gegen Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre
beleuchten. Es sollen bestimmte Krisendiagnosen beschrieben werden, die
sich auf planetarische Grenzen und Interdependenzen bezogen, sowie Strategien des „planet management“ durch Politiker und Experten, die Reaktionen
auf diese Krisenwahrnehmung darstellen (II). Daran anschließend will ich
zeigen, dass sowohl die Beobachtung globaler Prozesse und Abhängigkeiten
als auch die Antwort der Experten darauf eine fundamentale Kritik am
16 Vgl. zu dieser Kategorie zuletzt die Beiträge in Sven Reichardt u. Detlef Siegfried (Hg.),
Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa, 1968 – 1983, Göttingen 2010.
17 Vgl. Roland Robertson, Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und
Zeit, in: Beck, Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 192 – 220. Der Glokalisierungsbegriff, der eigentlich der Managementtheorie entstammt, ist ausgesprochen vage. Oft
bezeichnet er fast dasselbe wie „Globalisierung“, nur dass er stärker auf die Multidimensionalität der Wirkungen etwa einer Verdichtung von Kommunikation abhebt –
beispielsweise auf den paradox anmutenden Effekt, dass die Globalisierung vermehrt
lokale Identitätsstiftungen hervorruft. Von „Glokalisierung der Moral“ ist im Folgenden
daher nur dann die Rede, wenn es um den Imperativ „think globally, act locally“ geht.
18 Vgl. dazu Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines
Begriffs, München 2010.
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„Eine Welt“
163
entfesselten Fortschritts-, Planungs- und Entwicklungsdenken provozierten,
die in die skizzierte Tendenz mündete, das eigene Handeln – unter Bezugnahme auf die Welt – zu problematisieren (III). Abschließend sollen diese
Befunde mit Blick auf die erwähnte Forschung zu den 1970er und 1980er
Jahren als Umbruchszeit diskutiert werden (IV), wobei auch die Frage gestellt
werden soll, inwieweit die „glokale Moral“ auf bestimmte gegenwärtig
beobachtete Veränderungen voraus weist. Dazu gehören insbesondere die
viel diskutierte Fragmentierung klassischer Solidargemeinschaften in der
„Postmoderne“ sowie – und damit verbunden – die zunehmende Bedeutung
einer projektförmigen „Arbeit am Selbst“, wie sie der oft zitierte „neue Geist
des Kapitalismus“ heute vermeintlich ausschöpft.19
II. „Raumschiff Erde“. Wissenschaftliche Krisendiskurse und
supranationales planet management in den 1960er und
1970er Jahren
Ausdrücke wie Eine Welt, One World oder ungeteilte Welt – eigentlich ja
Tautologien – entstanden nicht erst in den 1970er Jahren. Sie wurden jedoch im
letzten Drittel des 20. Jahrhunderts häufiger verwendet, und es lässt sich ein
Wandel ihrer Bedeutung und der diskursiven Kontexte, in denen sie auftauchten, feststellen.20 Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs kamen sie nur
19 Vgl. Luc Boltanski u. ðve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006.
20 Diese Beobachtung stützt sich auf eine Durchsicht der Kataloge der Library of Congress
und der Staatsbibliothek zu Berlin hinsichtlich der Vorkommenshäufigkeit der Lexeme
„one world“ und „eine Welt“, also der unmittelbaren Kookkurrenz der Wörter „one“
und „world“ beziehungsweise „eine/einer/einen“ und „Welt“ in Buch-, Reihen- und
Zeitschriftentiteln und -untertiteln im 20. Jahrhundert. Verzeichnet wurden Erstauflagen, beziehungsweise bei Reihen und Zeitschriften das Ersterscheinungsjahr. Hier wird
nicht der Anspruch einer lückenlosen korpusgestützten Erfassung erhoben – zumal die
Repräsentativität von Bibliothekskatalogen mit Blick auf gesellschaftliche Diskurse
zweifelhaft ist. Dennoch zeigt die Stichprobe einen Anstieg der Anzahl dieser Lexeme im
Deutschen und im Englischen ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, mit einer Spitze in
den 1990er Jahren: Während „one world“ zwischen 1900 und 1964 52 Mal auftaucht (mit
einer Häufung – 24 Titel – unmittelbar nach Erscheinen von Wendell Willkies „One
World“ in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre), findet die Phrase sich 1965 bis 2000 in
101 Titeln, wobei die Spitze in den 1990er Jahren liegt (34 Titel). Schwieriger stellt sich
die Zählung angesichts der verschiedenen Bedeutungen des Artikels „eine“ für
deutschsprachige Veröffentlichungen dar – hier ist eine gewisse Interpretation unumgänglich. Indizien dafür, dass der Begriff mit den Konnotationen „ganze“, „geeinte“
beziehungsweise „einzige“ Welt verwendet wurde, sind hier der zusätzliche bestimmte
Artikel („Die eine Welt“) oder die Großschreibung („Eine Welt“). In dieser Weise
164
David Kuchenbuch
vereinzelt zur Anwendung; kurz vor und nach 1945 dann vor allem bei der
Erörterung einer friedlichen, durch die Vereinten Nationen stabilisierten
Nachkriegsordnung – etwa in dem gerade im US-amerikanischen Diskurs
nahezu sprichwörtlichen Buch „One World“, das der ehemalige republikanische Präsidentschaftskandidat Wendell Willkie 1943 veröffentlichte.21 Willkies
Bestseller – die Beschreibung seines Flugs um die Welt im Jahr zuvor, der ihn
unter anderem in den Nahen Osten, nach Indien und China geführt hatte –
befürwortete einen entschieden anti-isolationistischen Kurs in der amerikanischen Außenpolitik. Willkie beschrieb seine Treffen mit Politikern alliierter
Staaten, aber auch Zufallsgespräche mit deren Bürgern und zeichnete dabei
das Bild einer durch moderne Verkehrsmittel geschrumpften Erde. Sein
Reisebericht antizipierte durchaus hellsichtig ein Ende des Kolonialismus, vor
allem jedoch entwarf er eine Zukunft des Wohlstands,22 der durch freien
Handel zwischen Industrienationen geschaffen und durch eine Art „Weltföderalismus“ garantiert werden sollte – Themen, die bis in die 1960er Jahre
hinein die Eine Welt-Semantik bestimmen sollten.23 Im selben Zeitraum
erscheint der Begriff zwischen 1900 und 1964 in lediglich 9, zwischen 1965 und 2000 in
60 Titeln (davon in den 1990er Jahren 33).
21 Vgl. Wendell Willkie, One World, London 1943; deutsch: Unteilbare Welt, Stockholm
1944. Vgl. auch William George Carr, One World in the Making. The United Nations,
Boston 1946; Eliot Grinnell Mears, A Trade Agency for One World, New York 1945;
Ernest Minor Patterson (Hg.), Looking Toward One World, Philadelphia 1948; Ralph
Barton Perry, One World in the Making, New York 1944; Gordon Donald Hall, The Hate
Campaign against the U. N. One World under Attack, Boston 1952.
22 Victoria De Grazia scheint sich implizit auf Willkie zu berufen, wenn sie mit dem
heuristischen Begriff „One Worldism“ eine Haltung bezeichnet, die die weltweite
Verbreitung der Konsumgesellschaft nach amerikanischem Vorbild befürwortet. Mit
„One Worldism“ meint sie den Gedanken bestimmter US-Ideologen der Nachkriegszeit,
dass Wünsche und Bedürfnisse der Menschen – etwa hinsichtlich besserer materieller
Lebensbedingungen, Freizeit, Komfort – weltweit prinzipiell identisch sind: Victoria de
Grazia, Irresistible Empire. America’s Advance through Twentieth-Century Europe,
Cambridge 2005, S. 210.
23 In den 1950er und 1960er Jahren verwendeten zudem verschiedene indische Autoren
den Begriff wiederholt im Zusammenhang mit Forderungen nach einer teils regelrecht
autokratischen „Weltregierung“. Vgl. z. B. Sudhir Bera, A Dream for One World,
Kalkutta 1976; Shankar Dev, One World. One Government, New Delhi 1974; Swami
Madhavtirtha, One World Government, Based on Field Theory, o. O. 1954; Guru Prasad
Mohanty, One World. Why, How and When, o. O. 1965. Vgl. außerdem Arnold Toynbee,
One World and India, Kalkutta 1960. Erwähnt werden muss an dieser Stelle auch die
Reaktivierung dieser Semantik unter negativen Vorzeichen seit den 1990er Jahren:
Unter rechtsradikalen US-amerikanischen Aussteigern kursieren Verschwörungstheorien, die sich auf ein „One-World-Government“ richten, das vermeintlich auf die
Abschaffung der amerikanischen Freiheitsrechte dringt. Das ähnelt manchen Äußerungen prominenter „Islamkritiker“, etwa Ayaan Hirsi Alis, die Barack Obama
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„Eine Welt“
165
erschienen die Begriffe Eine Welt und One World allerdings auch vielfach in
kirchlichen Kontexten. Im Mittelpunkt standen dabei die ökumenische
Bewegung und die Herausforderungen der Dekolonisierung, etwa die Absicht,
Kontakte zu den Kirchen in den neuen Staaten zu stiften – wobei teils durchaus
ein missionarischer Ton anklang.24 Nicht selten transportierte der Begriff Eine
Welt während des Kalten Krieges zudem Kritik an der Aufteilung der Welt in
politische Blöcke und fasste die Forderung in ein Schlagwort, die Mauern
zwischen Ost und West, zwischen der „freien“ „ersten“ und der „zweiten“ Welt
einzureißen beziehungsweise die Barrieren abzubauen, die die blockfreie
„dritte“ Welt umgrenzen.25 Oft ging es dabei implizit um den drohenden
Atomkrieg, der ja erstmals in der Geschichte die Vernichtung der ganzen Welt
nicht nur zum rhetorischen Topos, sondern zur konkreten Naherwartung
machte und damit die Weltbevölkerung zur potentiellen Schicksalsgemeinschaft, die vor der Alternative stand: „Eine Welt oder keine“.26
Für die Jahre ab ca. 1965 lässt sich dann nicht nur ein – bis in die 1990er Jahre
anhaltender – Anstieg der Zahl von Publikationen verzeichnen, die die Eine
Welt im Titel führen, sondern zudem ein veränderter Gebrauch der Formulierung beobachten. Sie bleibt verbunden mit den Themen Ökumene,
Weltregierung und Kernwaffenkritik, erscheint nun jedoch auch in Verbindung mit Topoi wie der Überbevölkerung und der Ressourcenknappheit, der
Umweltverschmutzung, den Problemen der sogenannten „Entwicklungsländer“ und der sozialen Ungerechtigkeit des Gefälles zwischen Norden und
Süden; in den 1980er Jahren taucht sie überdies in den Slogans und
angesichts seiner Politik der demonstrativen Öffnung gegenüber „dem Islam“ als naiven
„One Worlder“ bezeichnet, der, so Hirsi wörtlich, dem „Sieg des Westens im Kampf der
Zivilisationen“ im Weg stehe: vgl. Ayaan Hirsi Ali, How to Win the Clash of Civilizations,
in: Wall Street Journal, 18. 8. 2010, http://online.wsj.com/article/SB10001424052748703
426004575338471355710184.html.
24 Vgl. etwa Francis Clement Capozzi, One World and One God. A Twentieth Century
Homily, Boston 1945; Olive L. Johnson u. Frances M. Nall, One Church for One World,
New York 1951; Norman Victor Hope, One Christ, One World, One Church. A Short
Introduction to the Ecumenical Movement, Philadelphia 1953; Henry E. Kolbe, One
World under God, Nashville o. J. [1963]; Lesslie Newbigin, A Faith for this One World?,
London 1961; Albert Theodore, Christian Responsibility in One World, New York 1965.
Zu den Herausforderungen der Dekolonisierung vgl. beispielsweise Clarence Tucker
Craig, One God, One World. The Bible and Our Expanding Faith, New York 1943;
Foreign Missions Conference of North America, One World in Christ. A Program of
Advance in Foreign Missions, Columbus, Ohio 1948; William Richey Hogg, One World,
one Mission, New York o. J. [1960]; International Student Missionary Convention, One
Lord, One Church, One World. A Missionary Compendium, Chicago 1958.
25 Vgl. zur Entstehung dieser Einteilung zuletzt Christoph Kalter, Die Entdeckung der
Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich, Frankfurt 2011.
26 Vgl. Ossip Kurt Flechtheim, Eine Welt oder keine?, Frankfurt 1964; Dexter Masters u.
Katharine Way (Hg.), One World or None, New York 1946.
166
David Kuchenbuch
Veröffentlichungen der Friedensbewegung auf. Die Eine Welt durchzieht nicht
nur verschiedenste Diskurse – sie liegt auch quer zu sehr verschiedenartigen
Sprecherpositionen und Kommunikationssituationen. Politiker und Politik
beratende Experten, Vertreter supranationaler Gremien und kirchlicher
Organisationen führen sie im Munde, aber auch, wie eingangs angedeutet,
Akteure aus der gesellschaftskritischen counter culture.
Diese interdiskursive Konjunktur der Rede von der Einen Welt lässt sich
zunächst auf die Tatsache zurückführen, dass gerade für Europäer vermehrt
Gelegenheit bestand, mit Menschen aus anderen Erdteilen in Kontakt zu
kommen – zu nennen sind hier die Anwerbung von „Gastarbeitern“, der
Massentourismus und auch die Wanderungsbewegungen in Folge der Dekolonisierung. Auffällig ist aber auch, dass der Ausdruck zu einem Zeitpunkt an
Resonanz gewann, als der Planet wissenschaftlich und medial auf neue Weise
sichtbar gemacht geworden war. Gegen Ende der 1960er Jahre verbreiteten die
Massenmedien erstmals vergleichsweise scharfe (farb-)fotografische Draufsichten des Planeten aus dem All – sie waren im Zuge der amerikanischen
Apollo-Expeditionen entstanden. Die Rezeption dieser Bilder war von Beginn
an von Texten begleitet, die die auratische Schönheit des geometrisch
perfekten „Erdballs“, vor allem aber die Fragilität des „blauen Planeten“ und
die kollektive Verantwortung aller Menschen für dessen Erhalt thematisierten
– wobei nicht selten der Begriff One World fiel. Solche Interpretationen
standen durchaus in Verbindung mit dem strategischen Versuch der amerikanischen Kalten Krieger, ihr ursprünglich rein militärisches Raketenprogramm zu einer „Menschheitsmission“ umzudeuten – was durch den Hinweis
auf die weltumspannende Gemeinschaft all jener Menschen beglaubigt wurde,
die die Mondlandung am Fernseher mitverfolgt hatten. In seiner Wirkung
kaum zu unterschätzen ist aber auch ein Narrativ, das bereits kurz nach der
Veröffentlichung der Bilder lanciert wurde: Es war die Rede von der
„Selbstbegegnung der Erde“.27 In den Erfahrungsberichten der Astronauten
ließ sich oft lesen, diese hätten auf ihrer Reise weniger den Mond erobert als
vielmehr die Erde entdeckt. Für die NASA selbst hätten Fotografien des
Planeten ursprünglich geringe Priorität besessen. Der Astronautenblick
machte die Erde als begrenzte physikalische Entität sichtbar, wenn nicht gar
als rührend schutzlose Heimat aller Menschen. Zugleich ließ er sich aber auch
als Abkehr vom fortschrittssicheren Blick auf die endlose frontier des Alls
interpretieren.28
27 Vgl. Günther Anders, Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge, München
1970, bes. S. 89 – 97.
28 Die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Apollo 8-Aufnahme „Earthrise“ (1968)
und des Apollo 17-Bildes „Whole Earth“ (1972) sind gut erforscht. Es kann davon
ausgegangen werden, dass sie insbesondere die entstehende amerikanische Umweltbewegung entscheidend prägten. Auf dem ersten Earth Day 1970 etwa ließen sich
Erdfotografien kaum übersehen. Seit den 1970er Jahren sind sie auf ungezählten
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„Eine Welt“
167
Die große Aufmerksamkeit, die den Erdfotografien gezollt wurde, zeigt
zumindest eins: Die synoptische Perspektive der Mondfahrer aufs Weltganze,
beziehungsweise die Deutung ihrer Bilder als Repräsentationen der Einen, der
zusammenhängenden, endlichen Welt leuchtete vielen Menschen ein. Es
bestand, so scheint es, eine Wechselwirkung zwischen der Karriere dieser
Bilder und der Entstehung eines neuen Problembewusstseins, das der
Diffusion wissenschaftlicher Interdependenzkonzepte in gesellschaftliche
Debatten, gerade auch der Gegenkultur, der 1970er Jahre folgte. Es liegt auf
der Hand, dass die Rezeption der Fotografien vom Planeten mit einer
spätestens ab Mitte des Jahrzehnts kaum zu überhörenden Diskussion über
globale limits und Grenzwerte zusammenhing. Deren Thema waren einerseits
Wachstumsgrenzen, aber auch – und damit verbunden – die Notwendigkeit
einer individuellen Selbstbegrenzung. Meines Erachtens lassen sich grob zwei,
unmittelbar aufeinander folgende Stränge dieser Debatte unterscheiden. Zum
einen prägte der Topos „globale Interdependenz“ Diskurse von Akteuren, die
vergleichsweise optimistisch auf die planvolle Bewältigung grenzüberschreitender Probleme drängten. Zum anderen verband sich mit der Einsicht in die
weltweiten wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisse aber auch eine wesentlich fundamentalere Kritik am Fortschrittsmodell der „westlichen Gesellschaften“ – darum soll es in Abschnitt III. gehen.
Erstens war bereits in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eine ganze Reihe von
im weitesten Sinne ressourcenökonomischen, teils neo-malthusianischen
Prognosen zur „Tragfähigkeit“ des Planeten erarbeitet worden,29 also zu den
„natürlichen“ Grenzwerten von Bevölkerungsentwicklung, agrarischer Produktion und Welternährung. Diese Prognosen widmeten sich Fragen der
technischen Optimierbarkeit des „Systems Erde“ und entsprachen damit noch
ganz dem Denkstil der Kybernetik und Futurologie des zu Ende gehenden
„Jahrzehnts von Planbarkeit und Machbarkeit“.30 Die Abbildungen unterstriPostern, Buttons, T-Shirts und Buchumschlägen abgebildet worden. Vgl. Robert Poole,
Earthrise. How Man First Saw the Earth, New Haven, CT 2008. Die gewählten Bilder
gehorchten in ihrer Komposition teils alten Gestaltungstraditionen. Oft wurde zusätzlich mittels Bildbearbeitung die Singularität des belebten, vor dem schwarzen Nichts des
Alls schwebenden Planeten herausgestrichen: vgl. Denis Cosgrove, Contested Global
Visions. One-World, Whole-Earth, and the Apollo Space Photographs, in: Annals of the
Association of American Geographers 84. 1994, S. 270 – 294. Vgl. außerdem ders.,
Apollo’s Eye. A Cartographic Genealogy of the Earth in the Western Imagination,
Baltimore 2001; Horst Bredekamp, Blue Marble. Der Blaue Planet, in: Christoph
Markschies u. a. (Hg.), Atlas der Weltbilder, Berlin 2011, S. 367 - 375 sowie Robin Kelsey,
Reverse Shot. Earthrise and Blue Marble in the American Imagination, in: New
Geographies 4. 2011, S. 10 – 16.
29 Vgl. Sabine Höhler, „Carrying Capacity“. The Moral Economy of the „Coming
Spaceship Earth“ in: Atenea XXVI. 2006, S. 59 – 74.
30 Zu Prognostik, Kybernetik und Planungseuphorie in den 1960er Jahren Gabriele
Metzler, „Geborgenheit im gesicherten Fortschritt“. Das Jahrzehnt von Planbarkeit und
168
David Kuchenbuch
chen in diesem Kontext, wie dringend nötig eine Beschäftigung mit den
Bedingungen war, die hergestellt werden mussten, um ein dauerhaftes
Überleben im „spaceship earth“ (so die bezeichnende, weil technizistische
Metapher für den Planeten) zu sichern.31 Auf den Umschlägen einer ganzen
Reihe von populär aufbereiteten, teils regelrecht alarmistisch betitelten
Büchern prangten hochsymbolische Bearbeitungen der Apollo-Fotografien,
die diesen Handlungsbedarf unterstrichen: der Planet als kleine Kugel in
Menschenhänden, als fragiles Ei, als Murmel am Abgrund, in Ketten gelegt. Als
visuelle Repräsentation der physikalischen Begrenztheit der Erde und der
Abhängigkeit ihrer Bewohner von ihr und von einander – aber auch der jüngst
wissenschaftlich entdeckten biologischen „Systeme“ Ökosystem und Biosphäre – versinnbildlichten Ansichten des Planeten also die fast zum Schlagwort
gewordenen „Grenzen des Wachstums“.32 Sie untermauerten die Naherwartung, dass der globale, der Systemkollaps angesichts der „Menschheitskrise“,33
also des exponentiellen Wachstums von Wirtschaft, Konsum und Weltbevölkerung bei einer gleichzeitig bloß linear zunehmenden Effektivität der
Ressourcenausnutzung, kurz bevor stehe. Gerade die düstersten jener Szenarien, die eine M.I.T.-Forschergruppe um Dennis und Donella Meadows im
Auftrag des Club of Rome am computergestützten „Weltmodell“ errechnet
hatten, lassen sich als Synthesen verschiedener zu dieser Zeit virulenter
Krisendiagnosen betrachten – Diagnosen ökologischer, ökonomischer und
Machbarkeit, in: Matthias Frese u. a. (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher
Aufstieg. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003,
S. 777 – 797; Alexander Schmidt-Gernig, Das „kybernetische Zeitalter“ – Zur Bedeutung
wissenschaftlicher Leitbilder für die Politikberatung am Beispiel der Zukunftsforschung
der 60er und 70er Jahre, in: Stefan Fisch u. Wilfried Rudloff (Hg.), Experten und Politik.
Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004,
S. 349 – 368; sowie die Beiträge in Michael Hagner u. Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt 2008.
Vgl. außerdem Heinrich Hartmann (Hg.), Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft,
Politik und Gesellschaft seit 1900, Frankfurt 2010.
31 Vgl. Barbara Ward, Spaceship Earth, New York 1966; Buckminster Fuller, Operating
Manual for Spaceship Earth, Carbondale 1969. Vgl. zu dieser Figur Sabine Höhler,
„Raumschiff Erde“. Lebensraumphantasien im Umweltzeitalter, in: dies u. Schröder,
Welt-Räume, S. 258 – 281.
32 Damit einher ging eine Art Entmetaphorisierung des Begriffs „Welt“, der oft nicht mehr
eine abstrakte Totalität, sondern eine materielle Realität meinte. Formulierungen wie
„worldwide world“ (Michael Serres, The Natural Contract, in: Critical Inquiry 19. 1992,
S. 1 – 21, hier S. 15) oder „Global Earth“ (Fernando Elichirigoity, Planet management.
Limits to Growth, Computer Simulation, and the Emergence of Global Spaces, Evanston
1999, S. 6) sind nur auf den ersten Blick Tautologien, sie weisen auf Versuche hin, den
Weltbegriff regelrecht zu re-ontologisieren.
33 Jay W. Forrester u. Eduard Pestel, Der teuflische Regelkreis. Das Globalmodell der
Menschheitskrise, Stuttgart 1972.
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„Eine Welt“
169
demografischer Art. Das aus diesen Forschungen 1972 hervorgegangene Buch
„The Limits to Growth“ verkaufte sich millionenfach.34 Der „Ölpreisschock“
ein Jahr später schien die Begrenztheit der globalen Ressourcen zusätzlich
unter Beweis zu stellen, auch wenn er tatsächlich eher wirtschaftlichen
Abhängigkeiten geschuldet war, als dass er ein Erreichen der sogenannten peak
oil markierte, also der maximalen Förderrate der weltweiten Mineralölvorkommen.35
Sicherlich ist es möglich, viele Kennzeichen dieses in der jüngeren amerikanischen Forschung sogar als „Shock of the Global“ interpretierten Problembewusstseins bereits früher ausmachen.36 Es ist ohnehin müßig, nach dem
Beginn eines Verständnisses der physischen Welt als Letztreferenz politischer,
wirtschaftlicher oder sozialer Verhältnisse zu fragen. Offenkundig prägte die
Welt das kollektive Imaginäre internationalistischer politischer Strömungen
im 19. Jahrhundert; Globen brachten in Imperialismus und Kolonialismus die
territorialen Machtansprüche der entstehenden Weltmächte zum Ausdruck.37
Der Sinnraum „Welt“ kennzeichnete konkurrierende Konzepte von der
34 Vgl. Donella H. Meadows u. a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s
Project on the Predicament of Mankind, New York 1972. Zur Studie Elichirigoity, Planet
Management; Niels Freytag, „Eine Bombe im Taschenbuchformat“? Die „Grenzen des
Wachstums“ und die öffentliche Resonanz, in: Zeithistorische Forschungen 3. 2006,
http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Freytag-3-2006; Friedemann Hahn,
Von Unsinn bis Untergang. Rezeption des Club of Rome und der Grenzen des
Wachstums in der Bundesrepublik der frühen 1970er Jahre, Diss. Universität Freiburg
2006; Patrick Kupper, „Weltuntergangs-Vision aus dem Computer“. Zur Geschichte der
Studie „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972, in: Jens Hohensee u. Frank Uekötter
(Hg.), Wird Kassandra heiser? Beiträge zu einer Geschichte der falschen Öko-Alarme,
Stuttgart 2003, S. 98 – 111; Elke Seefried, Towards The Limits to Growth? The Book and
its Reception in West Germany and Britain 1972/73, in: German Historical Institute
London Bulletin 33. 2011, S. 3 – 37. Vgl. außerdem Rüdiger Graf, Die Grenzen des
Wachstums und die Grenzen des Staates. Konservative und die ökologischen Bedrohungsszenarien der frühen 1970er Jahre, in: Dominik Geppert u. Jens Hacke (Hg.), Streit
um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik, 1960 – 1980, Göttingen
2008, S. 207 – 228.
35 Rüdiger Graf hat gezeigt, dass das OPEC-Embargo für deutsche Politiker durchaus nicht
als Schock kam: ders., Gefährdungen der Energiesicherheit und die Angst vor der
Angst. Westliche Industrieländer und das arabische Ölembargo 1973/74, in: Patrick
Borman u. a. (Hg.), Angst in den internationalen Beziehungen, Göttingen 2010,
S. 227 – 250.
36 Vgl. Ferguson, The Shock of the Global.
37 Vgl. in diesem Zusammenhang Iris Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt. Globale
Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790 – 1870, Paderborn
2011.
170
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Weltordnung,38 er überformte aber auch die Fortschrittsgewissheit, die aus
den Weltausstellungen und aus den großen Infrastrukturprojekten des späten
19. und frühen 20. Jahrhunderts sprach. Die Welt war seit der Jahrhundertwende die Bezugsgröße verschiedener Bemühungen um Effizienz – etwa um
eine weltweite Standardisierung von Raummaßen, um die Kompatibilität von
Kommunikationstechniken, aber auch um eine vereinheitlichte Weltzeit und
sogar die Weltsprache –39 und sie prägte die Ziele des Missionswesens und den
Gedanken der Weltkirche. Und selbstverständlich trugen die Weltwirtschaftskrise, die beiden Weltkriege mit ihren Flüchtlingsströmen, und, wie eingangs
erwähnt, die Dekolonisierung das ihre zur Bewusstwerdung um den grenzüberschreitenden Charakter gesellschaftlicher Prozesse bei – und um die
Bedeutung internationaler Organisationen und supranationaler Gremien für
deren Regulierung.40 Schon in den 1940er Jahren waren außerdem insbesondere in den USA die Appelle zur Intensivierung des geostrategischen Denkens
lauter geworden. Vermehrt wurde beispielsweise thematisiert, in welch
bedrohliche Nähe die „Achsenmächte“, später dann die Sowjetunion im
Zeitalter der „raumüberwindenden“ Flug- und Raketentechnik gerückt waren,
und damit Gebiete, die noch wenige Jahrzehnte zuvor weit entfernt schienen.
Das wurde auch mit neuen kartografischen Abbildungstypen veranschaulicht,
die durch ihre Verbreitung in Tageszeitungen die öffentliche Debatte – unter
anderem über Willkies „One World“ –41 prägten, und die in gewisser Hinsicht
die Perspektive der Erdfotografien zwei Jahrzehnte später vorwegnahmen.
Veröffentlichungen der 1970er Jahre aber, die die Eine Welt zum Thema hatten,
thematisierten mit Nachdruck die faktische wirtschaftliche, soziale und
ökologische Interdependenz von Problemen in verschiedenen Erdteilen.
38 Vgl. die Beiträge in Sebastian Conrad u. Dominic Sachsenmaier (Hg.), Competing
Visions of World Order. Global Moments and Movements, 1880s–1930s, New York 2007.
39 Dazu ausgezeichnet Markus Krajewski, Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt
2006. Vgl. auch Jo-Anne Pemberton, Global Metaphors. Modernity and the Quest for
One World, London 2001.
40 Vgl. etwa Akira Irye, Global Community. The Role of International Organizations in the
Making of the Contemporary World, Berkeley 2002 sowie die Beiträge in John Boli u.
George M. Thomas (Hg.), Constructing World Culture. International Nongovernmental
Organizations since 1875, Stanford 1999.
41 Das Cover von Willkies Buch zeigt eine Weltkarte von Richard Edes Harrison, der den
Begriff „One World“ 1942 noch auf den geostrategischen Charakter des Kriegs bezogen
hatte: Vgl. Richard Edes Harrison, One World, One War. A Map Showing the Line-Up
and the Strategic Stakes in this the First Global War, o. O. [New York] 1942. Vgl. zu
solchen Visualisierungen Susan Schulten, Richard Edes Harrison and the Challenge to
American Cartography, in: Imago Mundi 50. 1998, S. 174 – 188 sowie Denis Cosgrove u.
Veronica della Ora, Mapping Global War. Los Angeles, the Pacific, and Charles Owens’s
Pictorial Cartography, in: Annals of the Association of American Geographers 95. 2005,
S. 373 – 390.
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„Eine Welt“
171
Globale Risiken erschienen als geteilte Risiken;42 im viel gelesenen sogenannten Brandt-Report etwa, der ab Mitte des Jahrzehnts von einem hochkarätig
besetzten Gremium erstellt worden war, und der als Zusammenschau einer
ganzen Reihe der in den Jahren zuvor diagnostizierten globalen Krisen
betrachtet werden kann, wurde die Welt als ein „fragile and interlocking
system“ verstanden, und man beschwor zugleich die integrative Kraft der
grenzüberschreitenden gemeinsamen Interessen.43 Wie bereits einige viel
gelesene Vorgängertexte, die die Eine Welt im Titel führten,44 empfahl der
Bericht den Abbau von Handelsbarrieren, vor allem aber drängte er auf eine
planerische Bewältigung der planetarischen Probleme durch supranationale
Expertenstäbe – er ist diesbezüglich auch klar als Produkt einer Phase der
relativen Entspannung im Kalten Krieg zu erkennen. Die Optimierung der
globalen Tragfähigkeit mit Blick auf die „Welternährungskrise“,45 die effizientere und zugleich gerechtere Verwaltung der vorhandenen Ressourcen und
die Verbesserung ihrer technischen Ausnutzung, überhaupt die Wiederherstellung des Gleichgewichts verschiedener, dem Anschein nach homologer
Systeme (sozialer, ökonomischer, biologischer Art) verstand man als komplex
miteinander verschränkte Aufgaben. Man war sich einig: Wirtschaftswissenschaftler und Futurologen, die Agronomen der green revolution, also der
wissenschaftsgestützten Ertragssteigerung in der Landwirtschaft, Ernährungs- und Bevölkerungsexperten – sie alle mussten nun konzertiert und
gemeinsam mit der Politik das „stewardship of the earth“ übernehmen.46
Gegen Ende der 1960er Jahre bündelten sich im Begriff Eine Welt Forderungen
42 Die Evidenz dieser Beobachtung lässt sich – etwas später – vielleicht auch am Erfolg von
Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ ablesen, einem Buch, das just im grenzüberschreitenden Charakter bestimmter Risiken ein zentrales Merkmal der angebrochenen
„reflexiven Moderne“ ausmachte: ders., Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere
Moderne, Frankfurt 1986.
43 North-South. A Programme for Survival. Report of the Independent Commission on
International Development Issues, Cambridge, MA 1980, S. 13. Vgl. auch Towards One
World? International Responses to the Brandt Report, hg. v. Friedrich Ebert Stiftung,
London 1981.
44 Zu nennen wären beispielsweise Publikationen vom Vorsitzenden der Standing
Conference on the Second Development Decade, Donald Tweddle, Only One World. A
New Look at Development, London 1975 oder die Taschenbuchausgabe des Abschlussberichts zur Stockholmer United Nations Conference on The Human Environment:
Barbara Ward u. Ren Dubos, Only One Earth. The Care and Maintenance of a Small
Planet, London 1972. Vgl. auch The Stockholm Conference, Only One Earth, London
1972 sowie Barbara Ward u. a. (Hg.), Who Speaks for Earth?, New York 1973.
45 Vgl. Christian Gerlach, Die Welternährungskrise, 1972 – 1975, in: GG 31. 2005,
S. 546 – 585.
46 Ward u. Dubos, Only One Earth, S. 25.
172
David Kuchenbuch
nach einer blockübergreifenden Planung und Kontrolle von Wirtschaft und
Demografie sowie – pejorativ bezeichnet – „ökotechnokratisches“ Denken.47
III. Experten- und Wachstumskritik und die „Glokalisierung
der Moral” ab Mitte der 1970er Jahre
Die Rede von der Einen Welt hatte aber, zweitens, ab etwa 1973 noch eine
weitere, radikalere Implikation, und zwar hinsichtlich der räumlichen Nahbezüge des politisch-moralischen Bewusstseins vieler Menschen im transatlantischen alternativen Milieu. Die Interpretation der Erde als dynamisches
System, als Interdependenzgeflecht, bildete auch die Grundlage einer weniger
offensichtlichen, jedoch langfristig – mit Blick auf die eingangs erwähnte Frage
nach Raumvorstellung und Moral – wirkungsmächtigeren Variante des
Diskurses über „Welt“. Wo nämlich Teil und Ganzes sich wechselseitig
beeinflussten, wo das homöostatische Gesamtsystem Erde, das Gleichgewicht
der „World Dynamics“,48 durch die disproportionale Entwicklung einzelner
Komponenten in akute Gefahr geraten schien, da lag eine Inversion des Blicks
nahe, ein Problematisierung der eigenen Rolle im Weltzusammenhang.
Viele prominente Befürworter der planerischen Bewältigung der planetarischen Krisen – etwa die Ökonomen Kenneth Boulding und Barbara Ward, der
Ernährungswissenschaftler Georg Borgström, der Mikrobiologe Ren Dubos,
der Bevölkerungswissenschaftler Paul R. Ehrlich oder die Verfasser der „Limits
to Growth“-Studie – boten sich als Berater der Politik an. Sie zielten auf eine
Implementierung ihres „Weltwissens“ mit Blick auf die technisch-politische
Lösung der globalen Probleme. Gesellschaftskritische Autoren wie beispielsweise Ernst Friedrich Schumacher griffen nun zwar deren Krisendiagnosen auf
und arbeiteten damit einer Disziplinengrenzen überschreitenden Neuordnung
und Stabilisierung des Diskurses über die Welt zu. Während die Experten aber
allenfalls unterstrichen, es sei wichtig, dass ihre Einsichten beim „Normalbürger“ einsickerten, um diesen zu mobilisieren, demokratisch Druck auf die
politisch Verantwortlichen auszuüben, zogen diese Kritiker durchaus andere
Schlüsse aus der Weltlage. Es ging ihnen darum, ein Problembewusstsein zu
schaffen, das eben nicht nur das planet management im großen Stil zu
legitimieren hatte. Vielmehr sollte es einzelne Menschen dazu bewegen, über
den eigenen Beitrag zur Entstehung der prekären Situation des Planeten
nachzudenken. In den 1970er Jahren lässt sich eine Variante des Eine WeltAppells beobachten, die ein Steuerungsdenken, das erst im All an seine
47 Vgl. Wolfgang Sachs, Satellitenblick. Die Ikone vom blauen Planeten und ihre Folgen für
die Wissenschaft, in: Ingo Braun u. Bernward Joerges (Hg.), Technik ohne Grenzen,
Frankfurt 1995, S. 305 – 346.
48 Jay W. Forrester, World Dynamics, Cambridge, MA 1971.
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„Eine Welt“
173
Grenzen stieß, just als Ursache der Probleme identifizierte, die dieses Denken
zu bewältigen anhob.
Viele Autoren identifizierten das exponentielle Wachstum – weit über die
Bedeutung des Begriffs hinsichtlich von Produktivität und Absatzsteigerung
hinaus – auf einer abstrakten Ebene mit der Hybris der „westlichen Kultur“
schlechthin, mit Technikbegeisterung, Expertokratie, Fortschrittsoptimismus
und Machbarkeitsideologie. Verschiedene Beobachtungen schienen diese
These zu stützten: Spätestens seit Veröffentlichung des von der Weltbank in
Auftrag gegebenen Pearson-Berichts 1969, der die Ideologie der „Entwicklung
durch Wachstum“ zum Teil zurückwies,49 lag auf der Hand, dass die
modernisierungstheoretisch geprägte Entwicklungshilfe und -zusammenarbeit beziehungsweise die „Hilfe zur Selbsthilfe“ in der „Dritten Welt“
gescheitert waren.50 Die Kritik an der „Entwicklung“, die nicht selten als
quasi-kolonialistische Strategie zur Schaffung neuer Absatzmärkte interpretiert wurde, war auch den Imperialismusdiagnosen der Protestbewegung der
späten 1960er Jahre geschuldet – überhaupt hatten Dekolonisierung, „68“ und
der Vietnamkrieg die Aufmerksamkeit für Konflikte in zuvor wenig beachteten
Weltregionen erhöht, aber auch die länderübergreifende Vernetzung politischer Akteure vorangetrieben.51 Zu Beginn der 1970er Jahre wurde aber nun
ganz grundsätzlich festgestellt, dass die „westlichen“ Instrumente einer
„aufholenden Entwicklung“ sich nicht kontextunabhängig anwenden ließen,
ja, dass sie einem Eurozentrismus und naiven Universalismus geschuldet
waren, der endgültig ausgedient hatte.52 Verkürzt dargestellt, markiert diese
Skepsis auch einen intellektuellen Umbruch, in dessen Zuge der Konstruktionscharakter bestimmter, oft dezidiert als westlich apostrophierter Deutungskategorien entdeckt und gerade sprachliche Sinnstiftungsprozesse als
„große Erzählungen“ entlarvt wurden – ein Prozess, der eigentlich bis heute
nachwirkt, mit einiger Verspätung auch in der Historiografie, im Trend zur
49 Mit mehr Literatur Hubertus Büschel, Geschichte der Entwicklungspolitik, Version: 1.0,
in: Docupedia-Zeitgeschichte, 6. 6. 2011, http://docupedia.de/zg/Geschichte_der_Entwicklungspolitik?oldid=75517.
50 Vgl. zu diesem Scheitern, das selbst nur vor dem Hintergrund bestimmter Modernisierungsziele diagnostiziert werden kann: Hubertus Büschel u. Daniel Speich, Einleitung – Konjunkturen, Probleme und Perspektiven der Globalgeschichte von Entwicklungszusammenarbeit, in: dies. (Hg.), Entwicklungswelten. Globalgeschichte der
Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt 2009, S. 7 – 29.
51 Vgl. dazu etwa Martin Klimke, The Other Alliance. Student Protest in West Germany and
the United States in the Global Sixties, Princeton 2009.
52 An dieser Stelle darf auch der Hinweis auf eine weitere Welttheorie dieser Jahre nicht
fehlen, nämlich Immanuel Wallersteins „Weltsystem“, vgl. ders., The Modern WorldSystem. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the
Sixteenth Century, New York 1974. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hans-Heinrich
Nolte, Die eine Welt. Abriß der Geschichte des internationalen Systems, Hannover 1982.
174
David Kuchenbuch
Historisierung von Großkategorien wie „Modernisierung“ oder eben auch
„Entwicklung“.53
Die Gewissheit, die Weltlage verbessern zu können, die aus den Aussagen
vieler Experten und Politiker sprach, schien diese Lage also in den Augen ihrer
Kritiker unfreiwillig zu perpetuieren.54 Es galt eben nicht, globale Missstände
„von oben“ zu korrigieren, auf die „planetarische Wende“ mittels einer
„Weltregierung“ zu reagieren.55 Vielmehr sollten Probleme schrittweise im
Kleinen angegangen werden, durch individuelles Umdenken und durch
persönlichen Verzicht. Den Experten wurde unterstellt, sie neigten dazu, den
Planeten zu trivialisieren. Das glaubte man schon an den Namen mancher
think tanks ablesen zu können, etwa an dem der 1974 vom Agronomen Lester
R. Brown gegründeten NGO Worldwatch.56 Der technokratischen Selbstüberschätzung, die sich auch in der Vereinheitlichung des Planeten im eigentlichen
Wortsinn abzubilden schien, nämlich in der Interpretation des Weltganzen als
steuerbare Entität – auch dafür stand das Bild vom „Raumschiff Erde“ –,
stellten diese Stimmen einen Aufruf zur Revision entgegen. Sie fragten
insbesondere nach dem Sinn jener konsumorientierten Lebensentwürfe, die
aus ihrer Sicht in die globale Krise geführt hatten. Dabei aktualisierten sie
ältere konsumkritische Diskurse mit Blick auf die Weltressourcen.57
Der Kontext dieser Eine Welt-Semantik war also auch das Unbehagen, das viele
Bürger gegenüber einem aus ihrer Sicht rein materialistischen Wirtschaften
empfanden, das sich bloß „mechanisch“ an statistischen Fiktionen wie dem
Bruttosozialprodukt orientierte und dabei „qualitative“ Aspekte des Lebens
53 Die Forschung zusammenfassend Corinna Unger, Histories of Development and
Modernization. Findings, Reflections, Future Research, in: H-Soz-u-Kult, 9. 12. 2010,
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2010-12-001. Vgl. außerdem Gurminder
K. Bhrambra, Rethinking Modernity. Postcolonialism and the Sociological Imagination,
Basingstoke 2009 sowie grundlegend Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe.
Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. Vgl. außerdem die
Themenhefte „Postkoloniale Perspektiven auf ,Entwicklung‘“ von PERIPHERIE 120.
2010, „Writing the History of Development“ des JMEH, 8. 2010 und „Global inequality
and development after 1945“ des Journal of Global History 6. 2011.
54 Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang auch die Kritik am „Missbrauch“ der
Erdfotografien in Empfehlungen zum Management des Planeten: Yaakov Jerome Garb,
The Use and Misuse of the Whole Earth Image, in: Whole Earth Review 45. 1980,
S. 18 – 25; Sachs, Satellitenblick.
55 Vgl. etwa Herbert Gruhl, Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer
Politik, Frankfurt 1975, S. 298 – 305.
56 Vgl. etwa Wolfgang Sachs, The Gospel of Global Efficency. On Worldwatch and Other
Reports on the State of the World, in: International Foundation for Development
Alternatives Dossier 68. 1988, S. 33 – 39.
57 Neuer Popularität erfreuten sich insbesondere die Konsumkritiker John Kenneth
Galbraith, The Affluent Society, Boston 1958; Vance Oakley Packard, Die große
Verschwendung, Düsseldorf 1961.
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„Eine Welt“
175
vernachlässigte. Dieses Unbehagen mündete in die Tendenz, den eigenen
Lebensstandard zu hinterfragen, in eine Moralisierung des eigenen Verbrauchs- und Kaufverhaltens, die dieses zugleich zur Welt als einem Ganzen in
Beziehung setzte.58 Eine steigende Zahl von Entwicklungsskeptikern rückte ab
Beginn der 1970er Jahre nicht nur den angesichts begrenzter Ressourcen
unsinnigen „Wachstumswahn“ und die Umweltverschmutzung in den Fokus –
wenn nicht sogar die dem vorgeblich zu Grunde liegende Manipulation der
Verbraucher.59 Sie brachten diese Phänomene auch in Zusammenhang mit
einer von den wirklichen Bedürfnissen entrückten industriellen Produktion, ja
sogar mit einer bedrohlichen kulturellen Homogenisierung, Technisierung
und Bürokratisierung der westlichen Gemeinwesen. Oft wurde auch beklagt,
dass all dies mit einer Verarmung der Erfahrungen der Menschen in der
„Überflussgesellschaft“ einherging, mit „Entfremdungs“-Phänomenen, die
sogar für Zivilisationskrankheiten verantwortlich gemacht wurden.60 Derartige teils bewusst als konservativ ausgewiesene Um-, und Rückbesinnungsimperative gingen einher mit der Würdigung der Geschichte und Kultur
„nicht-westlicher“, subsistenzorientierter, „frugaler“ Gesellschaften.61 Wo
„Selbstbegrenzung“ auf der Agenda stand – um stellvertretend ein Schlagwort
Ivan Illichs zu nennen –62, da verschränkten sich Demutsbekundungen und
Befreiungsrhetorik. Die 1970er Jahre brachten eine neue Semantik der
Mäßigung hervor. Es galt, einen individuellen Beitrag dazu zu leisten, ein
Wachstum zu stoppen, das sich dem Anschein nach verselbstständigt hatte,
das destruktiv und unersättlich geworden war.
Partizipationsziele beziehungsweise allgemein emanzipatorische Absichten,
ein demonstrativ zur Schau gestellter Altruismus, die Sorge um die Natur,
58 Ronald Inglehart wies in seiner einflussreichen Studie zum Wertewandel in den 1960er
und 1970er Jahren auf die Korrelation zwischen einer „postmaterialistischen“ Haltung
und einem kosmopolitischen Gefühl der Zugehörigkeit zur „world as a whole“ hin,
ders., The Silent Revolution. Changing Values and Polticial Styles among Western
Publics, Princeton 1977, S. 63. Allerdings kritisch zur ungeprüften Übernahme der
Diagnose Ingleharts durch Zeithistoriker : Rüdiger Graf u. Kim Christian Priemel,
Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer
Disziplin, in: VfZ 59. 2011, S. 479 – 508.
59 Barry Commoner, Wachstumswahn und Umweltkrise, München 1971.
60 Vgl. beispielsweise die Beiträge in Hans-Eckehard Bahr u. Reimer Gronemeyer (Hg.),
Brennpunkte. Anders leben – überleben, Frankfurt 1977.
61 So wurde häufig auf das buddhistische Ethos der Selbstgenügsamkeit und des Verzichts
verwiesen, etwa durch Gruhl, Ein Planet wird geplündert, bes. S. 281 – 287; sowie Ernst
Friedrich Schumacher, Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für
Wirtschaft und Technik „Small is Beautiful“, Reinbek 1977.
62 Ivan Illich, Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, Hamburg 1975. Vgl.
auch ders., Die sogenannte Energiekrise oder die Lähmung der Gesellschaft, Hamburg
1976.
176
David Kuchenbuch
Eurozentrismuskritik sowie eine durchaus kulturpessimistisch geprägte
Technik-, Konsum- und Entwicklungsskepsis waren verbunden durch ein
Lager übergreifendes Bild von der Welt, das bald auch in den politischen
Diskurs wiedereingespeist wurde. Erhard Eppler beispielsweise, der seit 1974 –
nach seinem Rücktritt als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit – als Leiter der Grundwertekommission der SPD offiziell für Moralfragen
zuständig war, schrieb im Jahr darauf:
Daß Menschen den Erdball verlassen und auf dem Mond landen können, die wohl
spektakulärste aller Grenzüberwindungen, hat die Menschheit keineswegs beflügelt,
sondern auf sich selbst zurückgeworfen: Im Weltall war nichts zu gewinnen außer der
Einsicht, daß wir auf einen Erdball verwiesen sind, der in seiner Schönheit und Fülle
seinesgleichen sucht, von dem es aber auch kein Entrinnen gibt. […] Die faszinierenden
Fotos vom Raumschiff Erde forderten die Fragestellungen des Klubs von Rom heraus: Was
hält diese Erde aus? Wieviele Menschen kann sie tragen, versorgen mit Rohstoffen, Energie,
Wasser, Nahrung, Raum zur Entfaltung? Daß ein endlicher Erdball kein unendliches
materielles Wachstum zuläßt, ist eine Binsenweisheit. Daß diese Binsenweisheit erst zur
Kenntnis genommen wurde, als ein Computer sie errechnet hatte, ist eine Parodie auf die
Expertengläubigkeit unserer Zeit.
„Verteilungsprobleme“, so Eppler, könnten „nicht mehr durch Wachstum
allein entschärft, geschweige denn gelöst werden“.63
Wo dergestalt zugleich das entgrenzte Wachstum abgelehnt und angesichts
drohender Konflikte um die begrenzten Ressourcen unmittelbarer Handlungsbedarf ausgerufen wurde, verlagerte sich die politische Verantwortung
für die Zukunft unmittelbar auf ein individualmoralisches Terrain. Fast
paradigmatisch für diese Entwicklung ist Frances Moore Lappes bereits 1971
erschienenes Buch „Diet for a Small Planet“, in dem der Verzicht auf eine
ressourcenintensive, fleischreiche Kost direkt als Beitrag zur Rettung der Erde
präsentiert wurde.64 Vermehrt wurde dazu aufgerufen, den „Leuten die Augen
dafür zu öffnen, was von einem Menschen, der im letzten Viertel des 20.
Jahrhunderts lebt, erwartet werden muß und kann, mithin innerhalb bestimmter Grenzen, die letztlich die Grenzen der einen Welt sind“, wie es 1977
in einer Publikation zum „Dialog Nord-Süd“ hieß.65
63 Erhard Eppler, Ende oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen, Stuttgart
1975, S. 9 u. S. 65.
64 Frances Moore Lappe, Diet for a Small Planet, New York 1971.
65 H. M. De Lange, Möglichkeiten entwicklungspolitischer Bewußtseinsarbeit, in: Jan
Tinbergen (Hg.), Der Dialog Nord-Süd. Informationen zur Entwicklungspolitik,
Frankfurt 1977, S. 198 – 214, hier S. 210. An dieser Stelle muss betont werden, dass
solche Aussagen auch als Versuche einer Elite gesehen werden können, die in den
internationalistischen Milieus bestimmter NGOs gemachten eigenen Erfahrungen zu
verallgemeinern. Paradigmatisch für solche Lernprozesse ist die Biografie Petra Kellys:
Vgl. etwa Stephen Milder, Thinking Globally, Acting (Trans-)Locally. Petra Kelly and the
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„Eine Welt“
177
Solche Anregungen trafen auf ein handlungswilliges Publikum. Um nur ein
Beispiel zu nennen: Bereits 1972 hatte der norwegische Autor Erik Damman
sein Manifest „Fremdtiden i vre hender“ („Die Zukunft in unseren Händen“)
veröffentlicht, in dem er – unter Berufung auf Illich, auf Schumacher und
andere – angesichts des Ressourcenmangels, der Umweltverschmutzung und
der Armut in der Welt, deren Wurzeln seiner Meinung nach im Kolonialismus
lagen, demonstrativ zur Arbeit an sich selbst aufrief. Die englische Übersetzung hatte den bezeichnenden Untertitel: „What We Can All Do towards the
Shaping of a Better World“.66 Kurze Zeit später gründeten Leser des Buches in
mehreren skandinavischen Ländern eine nach diesem benannte, mitgliederstarke grass roots-Bewegung.67 Deren Aktivisten trafen sich in Form von
Selbsthilfegruppen, um über praktische Möglichkeiten zur Veränderung des
eigenen Alltags zu diskutieren. Sie erprobten Strategien, die bis heute verfolgt
werden, etwa Fair Trade und Carsharing,68 unternahmen aber auch Versuche,
ganz grundsätzlich auf materielle Güter zu verzichten.
Außerdem setzte man darauf, in Kindern und Jugendlichen das Verantwortungsgefühl für die Welt zu stärken. Georg Borgström hatte im Vorwort von
Dammans Buchs geschrieben:
At this crucial turning point in world history, when circumstances make it both inevitable
and indispensable for us Westerners to move out into One World, our own highly
structuralized formal education has prepared us poorly for this essential step.69
Vermehrt beschäftigten sich engagierte Alternativpädagogen mit der Vermittlung des Wissens um die Eine Welt, dem „Teaching about Spaceship Earth“.70
Schüler und Studierende sollten ihren lokalen Standpunkt spielerisch transzendieren und Konzepte wie Interdependenz und Systemhaftigkeit verstehen
66
67
68
69
70
Transnational Roots of West German Green Politics, in: Central European History 43.
2010, S. 301 – 326.
Erik Dammann, The Future in Our Hands. What We Can All Do towards the Shaping of a
Better World [norw. 1972], Oxford 1979. Vgl. auch ders., Revolution in the Affluent
Society, London 1984.
1980 hatte Fremdtiden i vre hender allein in Norwegen 20.000 Mitglieder : vgl. Toralf
Ekelund, Possibilities for Voluntary Reduction of Private Consumption and Change in
Lifestyles, in: International Foundation for Development Alternatives Dossier 19. 1980,
S. 57 – 66.
Hier darf auch der Hinweis auf die „Welt“- beziehungsweise „Eine Welt-Läden“ nicht
fehlen, die Anfang der 1970er Jahre gegründet wurden, wobei zu Beginn noch von
„Dritte Welt-Läden“ die Rede war. Vgl. dazu Konrad J. Kuhn, Fairer Handel und Kalter
Krieg. Selbstwahrnehmung und Positionierung der Fair-Trade-Bewegung in der
Schweiz, 1973 – 1990, Bern 2005.
The Future in Our Hand, S. XII.
Vgl. Teaching about Spaceship Earth. A Role-Playing Experience for the Middle Grades,
New York 1972; David C. King, International Education for Spaceship Earth, New York
1970.
178
David Kuchenbuch
lernen.71 So wurden in den 1970er und 1980er Jahren beispielsweise zahllose
Varianten von trade games entwickelt, die, so der Gedanke, mittels verteilter
Rollen die Multidimensionalität der globalen Interessenkonflikte oder das
Machtgefälle bei der Aushandlung von Preisen für Importgüter einsichtig
machen würden – und zwar als Beitrag zum „,one world‘ development“.72 Im
1973 von Oxfam America publizierten Simulationsspiel „the decision is yours“
wiederum wurde den Schülern regelrecht der Blick des klassischen Entwicklungshelfers ausgetrieben. Sie übernahmen die Rolle von Mitarbeitern einer
NGO in Burkina Faso, die über die Finanzierung verschiedener Hilfsprojekte
zu entscheiden hatten. Nach Spielende wurden sie aufgefordert, darüber zu
diskutieren, ob sie ihre Entscheidung auf „priorities based on your own
cultural values“ gegründet hatten, um sich im Anschluss daran zu fragen, ob
der Lebensstandard der US-Bürger angesichts der „,limits‘ to growth“
überhaupt erstrebenswert sei.73 Immer wieder wurde seitens der Erzieher
auf die Folgen des eigenen Konsums hingewiesen – ob es um Ernährungsweisen ging, um die Folgen unreflektierter Mobilitätsansprüche auf den
Energiemarkt, den Beitrag unfairer Handelsbeziehungen zu Konflikten in
anderen Ländern. Meist wurde angeregt, im eigenen lokalen Umfeld sowohl
nach Indizien solcher Folgen zu suchen als auch nach Ansätzen, diese
Probleme zu lösen. In der Einleitung eines Handbuchs für Erzieher mit dem
Titel „Global Connection. Local Action for World Justice“ wurde 1977 Ren
Dubos mit dem Ausspruch zitiert: „One must think about global problems. But
the only way you can act is locally.“74 Die moralisierende Bemessung des
eigenen Lebensstandards am globalen Maßstab konnte so weit gehen, dass der
Entwicklungsbegriff selbst dahingehend umgedeutet wurde, dass, wie es 1975
in einer westdeutschen Publikation mit dem Titel „Die Eine Welt“ hieß, die
Arbeit am eigenen Problembewusstsein zum eigentlichen „Beitrag zur
Entwicklungshilfe“ wurde.75 Für die Eine Welt-Pädagogen fiel letztlich die
performative Einübung von agency in Eins mit der hochmoralischen Aufforderung, situativ das eigene Handeln zu hinterfragen, es als Input in ein
71 1979 erschien eine vom Club of Rome in Auftrag gegebene Studie „No Limits to
Learning“, die in direkter Anspielung auf die „Grenzen des Wachstums“ das entgrenzte,
also auch lebenslange Lernen zur Voraussetzung der Lösung globaler Probleme erklärte:
Vgl. James W. Botkin u. a., No Limits to Learning. Bridging the Human Gap. A Report to
the Club of Rome, London 1979.
72 Vgl. etwa Nance Lui Fyson, The Development Puzzle. A Sourcebook for Teaching about
the „Rich World/Poor World“ Divide, and Efforts towards „One World“ Development,
o. O. 1974, S. 7.
73 Oxfam America (Hg.), Teaching Towards Global Perspectives, New York 1973, S. 28.
74 Dennis E. Shoemaker, The Global Connection. Local Action for World Justice. A
Development Education Handbook, New York 1977, S. IV.
75 Herta Frenzel, Vorwort, in: dies. (Hg.), Die Eine Welt. Eine Sammlung entwicklungspolitischer Texte zum Spielen, Singen und Erzählen, Wuppertal 1975, S. 9 f., hier S. 9.
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179
komplexes weltweites „System“ zu betrachten. Es ging regelrecht darum,
verantwortungsvolle Individuen zu formen, indem man einen permanenten
Druck zur Selbstprüfung auslöste: Waren die eigenen Wünsche und Bedürfnisse angesichts ihrer wörtlich weit reichenden Konsequenzen im globalen
Interdependenzgeflecht legitim?
Natürlich gab es viele Überlappungen zwischen beiden Varianten des
Weltbezugs, zwischen planetarem Management und Selbstbegrenzungsmoral.
So analysierte beispielsweise der amerikanische Ökonom Bruce Hannon 1975
in seinem Beitrag zur jährlich stattfindenden Limits to Growth-Konferenz
technisch-adminstrative Möglichkeiten, der Energieknappheit mittels Rationierung oder Besteuerung zu begegnen, kam aber dann doch zu dem Schluss:
In the long run, we must become materially poorer to avoid the trauma of a complete and
sudden collapse of the stored energy resource base. […] [T]he question is unanswered as to
whether or not we can muster sufficient altruism to equitably self-impose so pervasive a
restriction.76
Denis Cosgrove differenziert außerdem (nicht ganz trennscharf) zwischen
dem tendenziell technokratischen „One World“-Diskurs und einem eher
esoterischen „Whole Earth“-Diskurs.77 Das Spektrum reichte jedenfalls von
der Kritik an der Ineffizienz der Experten bis hin zu einer Ablehnung der
„abendländischen“ Rationalität schlechthin, die Überlappungen mit der New
Age-Bewegung aufwies. Insbesondere die sogenannte Gaia-Hypothese des
Chemikers James Lovelock – die Annahme also, die Erde sei ein beseeltes
Lebewesen – entwickelte in einem Grenzbereich zwischen Naturwissenschaft
und Esoterik große Resonanz;78 einen Hauch Spiritualität verströmte auch die
oft anzutreffende, beinahe religiöse Dignität suggerierende Großschreibung
des Problemkinds: „Eine“ Welt. Der von einer Gruppe von kalifornischen
Aussteigern um Stewart Brandt herausgegebene „Whole Earth Catalogue“
wiederum (dessen Cover eine der Apollo-Fotografien zierte) war zugleich
radikalliberales politisches Pamphlet, protoökologische Überlebensfibel und
Mailorder-Katalog. Seine Technikemphase und sein do it yourself-Ethos
wurden richtungsweisend für die Tüftlerkultur im späteren Silicon Valley.79
Gegen Ende der 1970er Jahre nahmen im Übrigen auch die Empfehlungen
76 Bruce M. Hannon, Energy, Growth and Altruism, o. O. 1975, S. 24.
77 Vgl. Cosgrove, Contested Global Visions.
78 Vgl. James Lovelock, Gaia. A New Look at Life on Earth, Oxford 1979. Exemplarisch für
die Mischformen: Norman Myers, Gaia. An Atlas of Planet Management, o. O. 1984.
79 Vgl. Andrew G. Kirk, Counterculture Green. The Whole Earth Catalog and American
Environmentalism. Lawrence 2007; Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture.
Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago
2006 sowie Sam Binkley, The Seers of Menlo Park. The Discourse of Heroic
Consumption in the „Whole Earth Catalog“, in: Journal of Consumer Culture 3. 2003,
S. 283 – 313.
180
David Kuchenbuch
vieler Politiker unter dem Eindruck der bottom up-Moralisierung der Einen
Welt eine andere Flughöhe ein als noch wenige Jahre zuvor. Im Vorwort des
eingangs erwähnten Buchs „One World to Share“ des ehemaligen Leiters des
Commonwealth Secretariat, Shridat Ramphahl (er war übrigens auch Mitglied
der Brandt-Kommission), konstatierte Barbara Ward 1979 zwar noch ganz aus
der Makroperspektive des Planers: „The vision of ,earth rise‘ seen by human
beings standing on the moon had its brief impact. Planet earth is a small place.“
Ramphahl selbst gab sich aber hinsichtlich der Lösung der gobalen Probleme
bescheidener : „[T]he true interlocuters might be, indeed, the ordinary decent
people in the North.“80
IV. Von der „Einen Welt“ der 1970er zu den „vielen Welten“
der 1990er Jahre? Zusammenfassung und Ausblick
Das Eine Welt-Denken stellt einen neuen, transnationalen Problematisierungsmodus dar, der sich aus heterogenen Diskursen der späten 1960er Jahre
speiste. Die interdependente Erde war gewissermaßen als „wissenschaftliche
Tatsache“ (Ludwik Fleck) entdeckt worden; das Weltganze erschien als
Systemzusammenhang, als hochdynamische Gesamtheit sich wechselseitig
beeinflussender Entitäten und Prozesse. Diese auch massenmedial verbreitete
neue Sicht löste in vielen Menschen ganz buchstäblich ein UmDenken aus, eine
Art Inversion des eigenen moralischen Fluchtpunkts, ein Hinterfragen des
eigenen Daseins als Normalfall – und damit verbunden die Relokalisierung der
eigenen politischen Handlungsspielräume: die „Glokalisierung der Moral“.
Der Begriff Eine Welt war zwar schon in den Jahrzehnten nach dem Zweiten
Weltkrieg als „Pathosformel“ in Verwendung und markierte einen abstrakten
Sehnsuchtsort oder auch – im Sinne der „Weltgemeinschaft“ – eine imagined
community.81 In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts stieg die Eine Welt
jedoch zur zentralen Größe einer neuen politischen Moral auf, die mit Blick auf
die Selbstverhandlung der „westlichen“ Gesellschaften dieser Zeit interessant
ist.82 Nicht der Staat, nicht die „Führer“ der Völkergemeinschaft, nicht die
80 Ramphal, One World to Share, S. XI u. S. 132.
81 Zur Operationalisierung dieses von Aby Warburg geprägten Begriffs für die Zeitgeschichtsforschung vgl. Martin Sabrow, Pathosformeln des 20. Jahrhunderts. Kommentar
zu Christian Geulen, in: Zeithistorische Forschungen 7. 2010, http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Sabrow-1-2010.
82 Auf die Bedeutung der Dynamisierung von Selbstthematisierungen als Kennzeichen der
„Hochmoderne“ wurde zuletzt wiederholt hingewiesen: vgl. insbesondere Christof
Dipper, Moderne, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25. 8. 2010, http://docupedia.de/zg/Moderne, und Lutz Raphael, Ordnungsmuster der „Hochmoderne“? Die
Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahr-
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„Eine Welt“
181
technisch-wissenschaftliche Elite, sondern der einzelne Bürger war der
Ausgangs- und Endpunkt dieser neuen „glokalen“ Ethik. Für den Ausdruck
Eine Welt galt dabei zeitweilig, was Christian Geulen in einem programmatischen Aufsatz zur Erneuerung der Begriffsgeschichte der Moderne am
Begriff „Umwelt“ zeigt: Es handelte sich um einen „Konsensbegriff“ mit einer
stark „verantwortungsethische[n] Dimension“.83 Dieser Fokus auf das individuelle Handeln stand in Zusammenhang mit den vielschichtigen Prozessen
der Pluralisierung und Liberalisierung der westlichen Gesellschaften in dieser
Zeit, aber auch mit Konzepten wie Partizipation oder active citizenship. Der
Eine Welt-Diskurs der 1970er Jahre exemplifiziert also nicht nur die erwähnte
These vom Ende der Territorialisierung oder beispielsweise den Bedeutungsverlust nationaler Identität in bestimmten Milieus. Gerade der Wandel von
Subjektivität und Moral, der sich in der Rede von der Einen Welt abbildet, passt
zu den Befunden der immer umfangreicher werdenden Forschung zu den
1970er und 1980er Jahren als Umbruchsphase.84 Denn der Aufstieg der
„glokalen“ Ethik, so scheint es, korrelierte auch mit dem Bedeutungsverlust
bestimmter – das 20. Jahrhundert über lange Strecken prägender – politischsozialer Kategorien, ja mit einer Fragmentierung des politischen Bewusstseins
schlechthin. Daniel Rodgers etwa sieht in den 1970er Jahren ein „Age of
Fracture“ einsetzen, das gekennzeichnet ist von der Aufkündigung der
sozialen Solidarität, vom Bedeutungsverlust wohlfahrtspolitischer Institutionen, wenn nicht allgemein von der Aufwertung individueller Initiative.85 Viel
spricht dafür, dass das Eine Welt-Denken nicht bloß Symptom, sondern auch
Faktor einer Verschiebung der ethischen Referenzen insbesondere der
sogenannten undogmatischen Linken war, die diese Prozesse beschleunigte.86
83
84
85
86
hundert, in: ders. u. Ute Schneider (Hg.), Dimensionen der Moderne, Frankfurt 2008,
S. 73 – 91.
Christian Geulen, Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts,
in: Zeithistorische Forschungen 7. 2010, http://www.zeithistorische-forschungen.de/
16126041-Geulen-1-2010.
Vgl. Doering-Manteuffel u. Raphael, Nach dem Boom; Ferguson, The Shock of the
Global; Jeremy Black, Europe Since the Seventies, London 2009; Konrad H. Jarausch
(Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008;
Hans Maier, Fortschrittsoptimismus oder Kulturpessimismus? Die Bundesrepublik
Deutschland in den 70er und 80er Jahren, in: VfZ 56. 2008, S. 1 – 17; Thomas Raithel u. a.
(Hg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den
siebziger und achtziger Jahren, München 2009. Vgl. auch das Forum: The 1970s and
1980s as a Turning Point in European History, in: JMEH 9. 2011, S. 8 – 26, sowie die
Themenhefte von AfS 44. 2004, „Die Siebzigerjahre. Gesellschaftliche Entwicklungen in
Deutschland“ und von Zeithistorische Forschungen 3. 2006 „Die 1970er-Jahre. Inventur
einer Umbruchzeit“.
Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge, MA 2011.
Symptomatisch hierfür ist das hyperliberale Manifest des Gegenkulturtheoretikers
Theodore Roszak, das 1978 ein regelrechtes Ineinsfallen der spirituellen „Bedürfnisse“
182
David Kuchenbuch
Der Bezug auf das Weltganze ließ sozusagen die Mikro- und Makroebene, oder
besser : die Letztbegründung und den Interventionsraum ihres politischen
Handelns auseinander driften. Das Interdependenzbewusstsein kann also als
Teilursache einer Entwicklung betrachtet werden, die das Terrain ihrer
Aktivität nach und nach weg von den Schauplätzen der „heroischen Moderne“
– den meist nationalen, allenfalls internationalistischen Schlachtfeldern des
Klassenkampfs etwa – in die alltägliche Lebenswelt verlagerte.87 Dies öffnete
zugleich Spielräume für neue Allianzen, in der Bundesrepublik etwa für die
äußerst heterogen zusammengesetzten Gründungsgrünen.88
Die hier präsentierte Erzählung ist allerdings nicht als Erfolgsgeschichte zu
verstehen – auch wenn man sie, wie eingangs erwähnt, als Vorgeschichte des
heutigen Nachhaltigkeitsdiskurses betrachten kann. Die „Glokalisierung der
Moral“ beschränkte sich auf eine, allerdings zunehmend einflussreiche,
Minderheit gesellschaftlich engagierter Menschen. Viele gegenläufige Entwicklungen und konkurrierende Deutungsmuster ließen sich anführen. Hier
mag der Hinweis auf die neuen Grenzziehungen genügen, die mit der
europäischen Integration und der damit verbundenen Arbeit an einer
europäischen Identität verbunden waren und sind. Vielleicht muss man in
der langen Sicht sogar von einem Scheitern des Eine Welt-Gedankens an
seinen inhärenten Widersprüchen sprechen. Es ist beispielsweise aufschlussreich, dass die Rede von der Einen Welt oft schon überformt war von
Überlegungen wie jener des amerikanischen Pädagogen Robert Hanvey, der
„global education“ 1976 als Versuch verstand, eine, wie er schrieb, „postmoderne“ Fähigkeit zur „transspection“ zu entwickeln.89 Es ging ihm darum, die
heranwachsende Generation dazu auszubilden, die Relativität des eigenen
Standpunkts ständig mitzureflektieren und so eine unflexible (Hanvey zufolge
„moderne“) Geisteshaltung auszuschließen. Das weist auf einen latenten
Konflikt voraus, der bald klarer hervortreten sollte. Erziehungsziele wie global
awareness und mehr noch „interkulturelle Kompetenz“ standen schließlich
kaum den Erfordernissen eines sich verändernden Kapitalismus, insbesondere
eines zunehmend entgrenzten und sich diversifizierenden Marktes im Weg,
und das, obwohl der Kapitalismus für viele Vertreter des Eine Welt-Gedankens
des Individuums und der Belange „des Planeten“ behauptete: Theodore Roszak, Person/
Planet. The Creative Disintegration of Industrial Society, Garden City, NY 1978.
87 Hier darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Entdeckung des Alltags auch in Verbindung
stand mit einer allgemeinen Aufwertung der „warmen“, intimen, lokalen Gemeinschaften durch die gegenkulturellen Bewegungen der 1970er Jahre: vgl. Sven Reichardt,
„Wärme“ als Modus sozialen Verhaltens? Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte
des linksalternativen Milieus vom Ende der sechziger bis Anfang der achtziger Jahre, in:
vorgänge 44. 2005, S. 175 – 187.
88 Vgl. Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der
Gründungsgrünen, München 2011.
89 Robert G. Hanvey, An Attainable Global Perspective [1976], o. O. 2004, S. 18.
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„Eine Welt“
183
ja die beobachteten Folgen von Konsumismus und Wachstumsorientierung
überhaupt erst verursacht hatte. Polemisch könnte man sagen, dass in den
1980er und 1990er Jahren der „glokale“ Imperativ, eigene Gewohnheiten
kontinuierlich zu hinterfragen, nach und nach von seinen altruistischen
Implikationen entkoppelt worden ist. Die Bereitschaft, die Welt anders zu
sehen, ist identisch mit der Wunschqualität des Gegenwartssubjekts etwa auf
dem Arbeitsmarkt: seiner Anpassungsfähigkeit. Auch das entspricht Befunden der Forschung zur Epoche „nach dem Boom“. Die Postmoderne erscheint
dieser als implizit normative Begleitdiagnose der zunehmenden Flüchtigkeit
und Flexibilität der Lebensstile im neoliberalen Kapitalismus.90
Tatsächlich zeichnet sich in der „glokalen Moral“ ein Trend zu neuen Praktiken
der Subjektivierung ab, die kennzeichnend sind für die Ablösung klassisch
moderner Sinnstiftungsmuster (etwa der wohlfahrtsstaatlichen „Planung“)
durch eine „Kultur des Projekts“, der „Arbeit an sich“, oder gar das
„unternehmerische Selbst“ –91 Entwicklungen, die tendenziell entpolitisierend
wirkten. Der Versuch, globale Systemzusammenhänge aufzudecken, um so die
eigene Verantwortung für eine gerechtere Welt sichtbar zu machen, lief zudem
unfreiwillig auf die Einübung eines gewissen Relativismus hinaus. Wer den
Entwicklungsuniversalismus als eurozentristisch kritisierte, der riskierte
beispielsweise, das dem Eine Welt-Denken ursprünglich zu Grunde liegende
Umverteilungsmotiv zu korrumpieren. Das lässt sich an dem neuen Attribut
ablesen, das der Welt ab Ende der 1980er Jahre vermehrt angehängt wurde.
„One world“ verwies noch auf die Fiktion globaler Gerechtigkeitsstandards;92
eine konsequent relationale, pluralistische Weltsicht aber artikulierte sich am
besten im Schlagwort „many worlds“, mit dem nun auch darauf hingewiesen
werden konnte, dass universelle Menschenrechte angesichts der Vielfalt
ethischer Systeme in verschiedenen Kulturen problematische Größen waren.93
90 Vgl. etwa Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der
Industriemoderne seit 1977, in: VfZ 44. 2007, S. 559 – 581, hier S. 576.
91 Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt 2007; ders., Alle planen, auch die, die nicht planen. Niemand plant, auch
die, die nicht planen. Konturen einer Debatte, in: Mittelweg 36 17. 2008, S. 61 – 79.
92 Vgl. etwa Ralf Dahrendorf, Ohne Titel, in: Towards One World?, S. 204 – 210. „The
promise of One word […] has already induced the partial obliteration of Many Worlds,
the forgetting of histories, and the arrogance of empires“ hieß es in R. B. J. Walker, One
World, Many Worlds. Struggles for a Just World Peace, London 1988, S. 164. Vgl. auch
Wolfgang Sachs, Die eine Welt, in: ders. (Hg.), Wie im Westen so auf Erden. Ein
polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik, Reinbek 1993, S. 429 – 450.
93 Zur Menschenrechtsdebatte der 1970er Jahre vgl. etwa den Bericht zur Freiburger
Tagung Thomas Probert (2010), „A New Global Morality? The Politics of Human Rights
and Humanitarianism in the 1970s“, in: H-Soz-u-Kult, http://www.h-net.org/reviews/
showrev.php?id=31033. Vgl. außerdem die Beiträge in: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.),
Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010;
184
David Kuchenbuch
Ohnehin hatten viele Akteure gegen Mitte der 1990er Jahre – zu einem
Zeitpunkt also, als die Alternativlosigkeit des Kapitalismus angesichts des
Endes der „Systemkonkurrenz“ evident schien – nicht ohne eine gewisse
Verzweiflung festgestellt, dass sie die Bedeutung transnationaler global player
und die Entkopplung von wirtschaftlicher Ausbeutung und „westlicher“
Dominanz unterschätzt hatten. Sie fanden sich nun auf der Seite der Gegner
bestimmter globaler Grenzüberwindungsprozesse wieder, was sich auch in
einer veränderten Semantik wiederspiegelte. So beklagen die jüngsten Veröffentlichungen zur Einen Welt die negativen Effekte der „Globalisierung“ in
Gesellschaften, die nicht auf diese vorbereitet sind: „One World – Ready or not.
The Manic Logic of Capitalism“ lautet der Titel eines Buchs von 1997.94
Dr. David Kuchenbuch, Justus-Liebig-Universität Gießen, Historisches
Institut, Otto-Behaghel-Str. 10, D-35394 Gießen
E-Mail: david.kuchenbuch@geschichte.uni-giessen.de
sowie Jan Eckel, Utopie der Moral, Kalkül der Macht. Menschenrechte in der globalen
Politik seit 1945, in: AfS 49. 2009, S. 437 – 484.
94 William Greider, One World, Ready or Not. The Manic Logic of Capitalism, New York
1997; vgl. auch Peter Singer, One World. The Ethics of Globalization, New Haven, CT
2004 und Thomas Pogge u. a. (Hg.), Gerechtigkeit in der „Einen Welt“, Essen 2009.
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Aus dem Inhalt von Heft 2-2012
Übersetzungen
Herausgeberin: Simone Lässig
Simone Lässig
Übersetzungen in der Geschichte – Geschichte als Übersetzung? Überlegungen zu
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Japanisch – Kundoku – Chinesisch. Zur Geschichte von Sprache und Übersetzung in Japan
Heike Liebau
„Alle Dinge, die zu wissen nöthig sind“. Religiös-soziale Übersetzungsprozesse im kolonialen Indien
Diskussionsforum
Jannis Panagiotidis
“The Oberkreisdirektor Decides Who Is a German”. Jewish Immigration, German Bureaucracy, and the Negotiation of National Belonging, 1953–1990