Ernst Ludwig Kirchner: expressiver Ausdruck des Erlebten
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Ernst Ludwig Kirchner: expressiver Ausdruck des Erlebten
Ernst Ludwig Kirchner: expressiver Ausdruck des Erlebten Wer Kunstwerke aus der Biografie ihres Schöpfers erklärt, wird ihnen kaum gerecht. Gemälde sind keine Belege persönlicher Befindlichkeiten, sie sind autonome Schöpfungen. Bei dem Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner ist das nicht anders. Und doch hängen hier Werk und Leben besonders eng zusammen. „Liegender Akt vor Spiegel“, 1909/10, Öl auf Leinwand, 83,3 x 95,5 cm, Brücke-Museum Berlin 72 NeuroTransmitter _ 12.2009 NEURO T RANSMITTER-Galerie „Liebespaar“, 1909, Öl auf Leinwand, 150 x 100 cm, Privatsammlung Courtesy Galerie Henze & Ketterer AG Wichtrach/Bern K „Spielende nackte Menschen“, 1910, Öl auf Leinwand, 77 x 89 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Pinakothek der Moderne, München, Leihgabe aus Privatbesitz irchners Leben (1880 –1938) war überschattet von Krankheit, die letztlich zum Freitod führte. Einerseits war der Gründer der Dresden/Berliner Expressionistengruppe „Brücke“ voller Vitalität, Selbstbewusstsein und Lebenslust. Andererseits brauchte er intensive psychiatrische Behandlung. Posthum stellte Paracelsus-Medaillenträger Prof. Albert Schretzenmayr die Diagnose einer endogenen manisch-depressiven Erkrankung mit starker Somatisierung [Deutsches Ärzteblatt. 1983; 29: 17– 20]. Seinerzeit hingegen war das Krankheitsbild offenbar nicht präzise zu fassen. Das lag auch an Kirchner, der seine Beschwerden geradezu inszenierte; im Ersten Weltkrieg etwa hungerte er sich krank, um aus dem Heer entlassen zu werden. Die Kriegserfahrung stilisierte Kirchner dann zum Auslöser seiner Krankheit. Dabei hatten sich zuvor schon Ängste und Depressionen geäußert und hatte er zu trinken begonnen, zeitweise Absinth in großen Mengen. Phasen der Abhängigkeit von Barbituraten und Morphium folgten. Nicht aber die Krankheit bestimmte seine Werke; die Verbindung von Kunst und Leben ist eine andere. Das zeigt momentan die exzellent bestückte Kirchner-Retrospektive im Salzburger Museum der Moderne. Man könnte Kirchner, der kein Theoretiker oder Konzeptualist war, einen expliziten Maler des Lebens nennen. Sein Thema war der Mensch, seine Umgebung, seine Beziehungen. Er verarbeitete das konkrete Leben, und zwar durchaus sein eigenes. Eine wichtige Rolle spielte die Erotik. Dabei ging es Kirchner um mehr als um Stellungnahmen zum Genre des Aktes. Er zeichnete nackte Menschen nicht nur unverfänglich als Modelle, sondern auch beim Liebesakt. Und ist darin nicht so sehr Voyeur als vielmehr Protagonist (etwa in „Liebespaar“): „Oft stand ich mitten im Coitus auf, um eine Bewegung, einen Ausdruck zu notieren.“ Symptomatischer lässt sich kaum ausdrücken, dass Kunst unmittelbar aus dem Leben genommen werden soll. Entsprechend waren Kirchners wichtigste Modelle seine Frauen. In einem Werk, das sich auf die „Venus“ des Renaissancemalers Lucas Cranach d. Ä. bezieht, gab er etwa Dodo wieder, die für ihn die „erste Frau“ war. Er stellte sie in NeuroTransmitter _ 12.2009 Journal „Selbstbildnis mit Mädchen“, 1914/15, Öl auf Leinwand, 60 x 49 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie unverblümter Nacktheit, mit demonstrativ zur Schau gestelltem Geschlecht dar. Die „erste tiefe Liebe des Frauenleibes [ist] in dieses Bild gekommen“, konstatierte Kirchner. (Dodo ist auch der „Liegende Akt vor Spiegel“.) Einen Schlüssel fürs Verständnis seiner Kunst liefert die Salzburger Ausstellung mit Kirchners selten gesehenen Fotografien. Sie interessieren weniger als Vorstudien denn als Dokumentation jener Situationen, die Kirchner ins Bild brachte. Die Fotos zeigen, dass man sich im Freundeskreis gern nackt bewegte, beim gemeinsamen Bad in der Natur, aber ebenso im Alltag von Atelier und Wohnung. Nacktheit wurde gelebt, nicht nur auf der Suche nach Ursprünglichkeit, sondern auch als freizügige Sexualität. Die Fotos von Kirchners Wohnateliers zeigen, dass er Ruhebereiche eingerichtet und unmissverständlich mit Nackten und Liebespaaren dekoriert hatte. Und in seinen Selbstbildnissen erscheint oft ein Mädchenkopf – die Frau spukte Kirchner im Kopf herum. Als „das erste intuitive Gestalten des Erlebnisses auf der Fläche“ beschrieb er sein Malen. Damit schuf er überindividuelle Bilder der Erfahrungswelt seiner Epoche; berühmt sind seine hochexpressionistischen Stadtbilder, deren Deformierungen die hektisch-nervöse Erregtheit des modernen Stadtlebens ausdrücken. Später versuchte Kirchner seine Malerei zu verändern, fortzuentwickeln. Dabei verfiel er – in jenen Bildern, in denen er nicht das Leben in den Davoser Bergen umsetzte (dort lebte er seit 1917) – in einen Formalismus, der oft wenig glücklich wirkt. Er suchte erkennbar nach Stabilisierung seiner Bildsprache. Diese Stabilisierung aber konnte Kirchner als Künstler wie als Person nicht wirklich finden. Thomas Miesbach, München Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner“ bis zum 14. Februar 2010 im Museum der Moderne Mönchsberg, Mönchsberg 32, 5020 Salzburg/Österreich www.museumdermoderne.at 73