Raus Führungskrise - Willigis Jäger Stiftung

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Raus Führungskrise - Willigis Jäger Stiftung
Raus
3
aus der
Führungskrise
Innovative Konzepte
integraler Führung
Hans Wielens | Paul J. Kohtes (Hrsg.)
Vorwort: Zukunftstrend integrale Führung?: Hans Wielens
6
I. Werte: Neue Aspekte integraler Führung
1. Die zweite kopernikanische Wende: Willigis Jäger
4
18
2. Wert finden, Wert schätzen, Wert schöpfen:
Prof. Dr. Barbara Mettler-v.Meibom
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3. Presencing: Führung oder die Fähigkeit,
aus der sich anbahnenden Zukunft zu handeln: Ute Thumm
4. Co-Creative Leadership: Dr. Alexander Schieffer
40
52
5. Ritter des Lichts – Tradierte Wertesysteme und persönliche
Glaubensprinzipien als moderne Wegweiser zu authentischer
und nachhaltiger Führungsqualität:
Christoph Nahrholdt und Lars Ch. Stricker
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6. Nachhaltiger Geschäftserfolg mit authentischem Management –
oder Das Resonanzprinzip und die zentrale Rolle des „Fühlens“:
Claude Keller
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7. Der Kategorienfehler in der Führung: Symptome sind „weich“,
Gedanken sind „hart“: Prof. Dr. Wolfgang Berger
96
8. Führungsprinzip Achtsamkeit – Der behutsame Weg zum Erfolg:
Dr. Dieter F. Hinze
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9. STUFEN zum Erfolg – Ein innovatives bildungs- und
gesellschaftspolitisches Konzept: Prof. Dr. Hardy Wagner
120
II. Sinn: Integrale Beratungswege
1. Appreciative Inquiry – der positive Weg der Veränderung:
Dr. Matthias zur Bonsen
132
2. Authentisch Beraten: Stefan Sedlacek
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3. Strukturaufstellungen, eine „integrale“ und nützliche
Analyse- und Problemlösungsmethode: Rolf Lutterbeck
4. Authentisches Feng Shui – Mehr Erfolg, Harmonie und
Achtsamkeit im Geschäftsleben: Nicole Zaremba
170
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III. Identität: Integrale Coachingkonzepte
1. Integrales Coaching: Guido Fiolka
182
2. Coaching aus dem „Inner Sense“ heraus: Brigitte van Baren
196
3. Samurai-21: Mentales Einzelcoaching
für Führungskräfte: Ulrich Nitzschke
214
4. Präsenz in der Führung – und ein Coachingprozess
für Achtsamkeit im Geschäftsleben: Ludger Beckmann
5
226
5. Leben wir unser Potenzial! – Der Direktzugang, um eine
integral-authentische Führungskraft zu sein: Roland Rausch
240
6. „Do“-ing Leadership – Zen und Aikido für Führungskräfte:
Liane Marquardt und Finn Hummel
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7. Horse Assisted Education:
Pferde im Managementtraining: Gerhard J. Krebs
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8. NIKITA, die Menschenflüsterin – Natürliches Leadership-Coaching mit
Pferden – zügellos, ehrlich und unmittelbar: Stephan G. Meyer
272
IV. Change: Begleitung in Veränderungsprozessen
1. Das Kind liegt im Brunnen. Wege hinein und hinaus.
Ein Trialog: Dr. Regina Mahlmann
282
2. Der Organisationskompass als holistisches Führungsinstrument –
Erfahrungen am Beispiel eines Visionsprozesses: Dr. Isabella Klien
3. Rhythm a System – rhythmische Interventionen
in Veränderungsprozessen: Andreas Terhoeven
298
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4. Aktivierung persönlicher Veränderungskompetenzen – Umsetzung
in unternehmerischen Kontexten: Hannelore Schnellbügel
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5. Werte als Erfolgsfaktor im Veränderungsmanagement:
Dr. Dieter Brenken
336
6. Integratives Projektmanagement – Ein Ansatz zur Erhöhung
der Effizienz bei der Implementierung von Projekten:
Dr. Gerald Gary und Dietmar Simon
350
7. Das große Spiel des Lebens: Adelheid Engst und Inga Walther
Zu guter Letzt: Management als die Kunst, Erfolg zuzulassen: Paul J. Kohtes
366
378
„Jedes neue Problem verlangt von uns, nach inneren
Ressourcen zu suchen, mit denen wir es meistern können,
und neue Strategien des Überlebens und der Weiterentwicklung
zu erlernen.“
(Bertrand Piccard)
6
VORWORT:
ZUKUNFTSTREND
INTEGRALE F ÜHRUNG ?
Bei der integralen Führung geht es um
eine ganzheitliche Sicht der Wirklichkeit,
also um eine Sicht, die nicht nur die äußere Welt mit ihren „facts and figures“ beachtet, sondern auch die innere Welt der
Menschen, nämlich Geist, Seele und Gefühle und damit die Identität der Mitarbeiter und die Identität des Unternehmens.
Gerade aus dem Umgang mit sich selbst
und dem Umgang mit anderen ergeben
sich häufig die stärksten destruktiven Ursachen für mangelnden unternehmerischen Erfolg. Die Einbeziehung von Sinn
und Werten führt dazu, dass Mitarbeiter
so angesprochen und geführt werden,
dass sie ihr volles Engagement, ihre Kreativität und Ausdauer zur Entfaltung bringen und dadurch effektiver werden. Integrale Führung umfasst folgende Dimensionen:
1. die innere individuelle Dimension,
d. h. die Intentionalität, das innere
Potenzial, die persönliche Identität:
Werte, Motivation, Selbstvertrauen,
Kreativität, Authentizität, Wahrhaftigkeit und Integrität;
2. die innere kollektive Dimension, d. h.
die Unternehmens- und Führungskultur;
3. die äußere individuelle Dimension,
d. h. die fachlichen Kompetenzen, das
sichtbare Verhalten und Verhaltensänderung, die allgemeinen Fähigkeiten und die Erhaltung der körperlichen Gesundheit;
4. die äußere kollektive Dimension, d. h.
die Optimierung von Prozessen und
Strukturen unter Beachtung von Selbstorganisationsansätzen.
Wahrscheinlich sind es zwei Aspekte,
die das Thema „Integrale Führung“ in den
Fokus der Aufmerksamkeit lenken werden. Auf der einen Seite ist es die Suche
der Kapitaleigner und Unternehmensführer nach nachhaltiger wirtschaftlicher
Exzellenz, die die Bereitschaft erhöht, sich
für neue Konzepte und ganzheitliche Betrachtungen der für die Unternehmen relevanten Wirklichkeit zu öffnen. Auf der
anderen Seite sind es die Mitarbeiter und
Führungskräfte, die gern ihr gesamtes
Potenzial in ihrer Arbeit nutzen möchten,
um zu besseren Arbeitsergebnissen zu
Vorwort
kommen. Integrale Führung strebt nach
unternehmerischer Exzellenz unter Beachtung der Verantwortung für die Mit-, Umund Nachwelt, weil nur so nachhaltig gute
wirtschaftliche Ergebnisse erreicht werden können.
Viele Führungskräfte leiden heute unter dem Zwiespalt, dass sie sich zu integrem und authentischem Verhalten, respektvollem Umgang miteinander, Fairness und Kooperation, Vertrauen und
verlässlichen Werten hingezogen fühlen,
im beruflichen Umfeld aber von Sachzwängen umgeben sehen, hinter denen
sich oft Egoismus und Rücksichtslosigkeit
verbergen. Sie können sich dann auch
nicht dem weitverbreiteten mechanistischen Steuerungswillen und der Selbstbedienungsmentalität widersetzen. Häufig fehlt es an Kraft und Selbstvertrauen,
die innere Sehnsucht in die tägliche Berufswelt einzubringen. Führungskräfte sehen sich der Gefahr ausgesetzt, belächelt
und missverstanden zu werden und deswegen nicht erfolgreich sein zu können.
Manche flüchten dann in Zynismus und
verharren – nicht selten ängstlich – im
kräftezehrenden Zwiespalt zwischen privatem Wunsch und beruflichem Leben.
Angesichts der permanenten und offensichtlich immer größer werdenden Gefahren für das Erreichen langfristig guter
wirtschaftlicher Ergebnisse, werden wir in
der Wirtschaft nach Wegen suchen müssen, der Führungs- und Unternehmenskultur wieder die ihr gebührende herausragende Stellung einzuräumen, um auch
Zukunftstrend integrale Führung?: Dr. Hans Wielens
die inneren, die seelischen Kräfte der Führungskräfte und Mitarbeiter für das Erreichen wirtschaftlicher Exzellenz zu aktivieren. Das wird über ein neues Bewusstsein –
ein stärker ganzheitlich orientiertes bewusstes Sein – erreicht werden können,
wenn dieses von einer stärkeren Mitverantwortung für die Mit-, Um- und Nachwelt geprägt ist.
Die Wirtschaftsgeschichte macht
deutlich, dass erfolgreiches Unternehmertum und erfolgreiche Marktwirtschaft mit
einem werteorientierten und zuverlässigen Verhalten einhergingen. Der „königliche“ Kaufmann und die Devise „my word
is my bond“ waren die existenznotwendigen Grundlagen einer innovativen arbeitsteiligen Wirtschaft. Heute scheinen viele
vergessen zu haben, dass Adam Smith der
Verfasser zweier Hauptwerke war, nicht
nur des bekannten Werkes „Der Wohlstand der Nationen“, sondern auch des
für das Funktionieren von Wirtschaft
wichtigen Buches „Theorie der ethischen
Gefühle“. Eine Rückbesinnung auf den
„Sinn“ des Wirtschaftens ist erforderlich.
Für Ludwig Erhard war noch klar, dass
„dieser Sinn in der Verbesserung der
Existenzbedingungen der Menschen liegt,
in der Steigerung der Entfaltungsmöglichkeiten des menschlichen Lebens“.
In verschiedenen Bereichen ist gegenwärtig deutlich zu spüren, dass sich neue
Entwicklungen in der Unternehmensführung anbahnen, die sich zu einem Zukunftstrend ganzheitlich orientierter Führung verdichten können:
7
8
1. Viele Unternehmensleiter und Aufsichtsräte haben sich schon längst auf
die Suche nach neuen Werten gemacht, nach – wie es neudeutsch
heißt – corporate governance und
social corporate responsibility, nach
Compliance-Ansätzen, Ethik-Kodices
usw. Noch ist kein ganzheitliches Konzept erkennbar und manche Regelwerke erscheinen als Aneinanderreihung von Geboten und Verboten,
die zudem die Tendenz haben, immer
wieder weitere Vorschriften anstelle
eines neuen Bewusstseins zu generieren. Doch es gibt auch Integritätsansätze, die Unternehmen pragmatisch
für ein ethisches Verhalten zu sensibilisieren versuchen, um ein Gesamtverhalten der Mitarbeiter zu erreichen,
das wenige Prinzipien in den Vordergrund stellt, wie z. B.: Ehrlichkeit, das
Einhalten von Versprechen, Fairness,
Respekt vor anderen, Mitgefühl, Integrität und persönliche Verantwortung.
Bisher wird allerdings nur unzureichend erkannt, dass die Unternehmenskultur vor allem geprägt, also
nicht nur gepredigt, sondern gelebt
werden muss, und zwar vom Topmanagement, und dass es innerhalb des
Topmanagements vor allem die Aufgabe der Vorstandsvorsitzenden und
Unternehmenseigentümer ist, sich um
eine integrale Führungs- und Unternehmenskultur zu kümmern.
2. Nach der jüngsten Gallup-Studie sind
im Durchschnitt nur 13 % der Mitarbeiter in deutschen Unternehmen
wirklich engagiert und fühlen sich
emotional mit ihrem Unternehmen
verbunden, wobei allerdings die Unterschiede von Firma zu Firma recht
groß sind. Das ist eine erschreckend
niedrige Zahl. Verantwortlich wird dafür häufig das Führungsverhalten gemacht. Beklagt wird die mangelnde
Anerkennung für gute Arbeit, das
Desinteresse an dem Menschen im
Mitarbeiter und an dessen persönlicher Entwicklung. Inzwischen ist jedoch durch vielfältige wissenschaftliche Untersuchungen (u. a. durch die
Bertelsmann AG, die Bertelsmann-Stiftung etc.) nachgewiesen worden, dass
der unternehmerische Erfolg eng an
das wirkliche Engagement der Mitarbeiter gekoppelt ist. Die aus dem geringen emotionalen Engagement für
die Unternehmen resultierenden Kosten sind enorm hoch. Sie werden von
Gallup auf 260 Mrd. Euro jährlich veranschlagt. Bedeutender sind vielleicht
noch die „opportunity costs“, also die
nicht genutzten unternehmerischen
Chancen, weil sie die „responseability“ der Unternehmen gegenüber
den neuen Herausforderungen, also
die Anpassungsfähigkeit mindern und
damit die Zukunftsfähigkeit gefährden. Deutlich erkennbar ist, dass in
diesem Bereich ein großes ungenutztes Potenzial liegt und dass über eine
Vorwort
verbesserte Führungskultur die unternehmerische Effizienz und Effektivität
nachhaltig erhöht werden können.
Erstaunlich ist, dass sich in den in
Europa häufig geschmähten amerikanischen Unternehmen 29 % der Mitarbeiter voll engagiert und emotional
eingebunden fühlen. Das sind mehr
als doppelt so viele wie in Deutschland. Daraus ergibt sich ein deutlicher
Wettbewerbsvorteil für die amerikanische Wirtschaft. Allerdings ist auch
festzustellen, dass in amerikanischen
Unternehmen – trotz der spektakulären negativen Auswüchse – dem
Aspekt einer langfristig effektiven
Führungskultur größere Aufmerksamkeit gewidmet wird als bei uns. So sind
z. B. Hunderte von Unternehmen von
„Servant Leadership“ geprägt – dem
Gedankengut „Führen ist Dienen“, das
von Robert Greensleaf (AT&T und später Professor an verschiedenen amerikanischen Universitäten) entwickelt
wurde. Viele amerikanische Unternehmensleiter bekennen sich zu der spirituellen Dimension des Menschen und
zu der Notwendigkeit, diese Dimension auch in das unternehmerische Leben zu integrieren. Wegweisende Gedankenanstöße an die Wirtschaft gehen auch von amerikanischen Universitäten und Philosophen (z. B. Ken
Wilber) aus. Insbesondere die Eliteuniversität MIT in Boston mit den Professoren Peter Senge (Leiter des MIT
Center for Organizational Learning,
Zukunftstrend integrale Führung?: Dr. Hans Wielens
Gründer von SoL – Society for Organizational Learning – und Autor des
Buches The Fifth Discipline: the Art
and Practice of the Learning), Fred
Kofman (Mitarbeiter und Kollege von
Peter Senge und später Gründer und
Präsident der Beratungsgesellschaft
Axialent sowie Autor des Buches
Meta-Management) und dem aus
Deutschland stammenden Otto C.
Scharmer (Autor des Buches Presencing) steht hierbei in vorderster
Reihe.
3. Selbst eine so erfolgreiche Unternehmensberatungsgesellschaft wie
McKinsey spürt offensichtlich, dass sie
ihre Führungsposition im Beratungsbereich nicht halten kann, wenn sie
ausschließlich bei ihren bewährten
rein rationalen Führungs- und Managementinstrumenten verbleibt. Weltweit
ist ein vorsichtiger Wandel erkennbar.
Die Themen emotionale und spirituelle Intelligenz sowie Sinnfragen werden nicht mehr außen vor gelassen.
Um die auch für McKinsey „relevante“
Wirklichkeit zu sehen, betrachtet man
nicht mehr nur die rein rational zugänglichen Bereiche, sondern bedient
sich der integralen Theorie und des
Vier-Quadranten-Zugangs von Ken
Wilber. Offensichtlich ist die Erkenntnis gereift, dass der erarbeitete Wettbewerbsvorsprung sich nur verteidigen lässt, wenn man – bei weiterer
Fokussierung auf den rationalen Bereich – ergänzend spirituelle Aspekte
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in die eigene Unternehmensphilosophie und in die Beratung integriert.
Hierzu wurde ein „white paper“ von
führenden externen und internen Experten entwickelt. Um der Bedeutung
des Themas „Achtsamkeit in der Führung“ für eine bessere Bewältigung
der Zukunftsentwicklung auf die Spur
zu kommen, wurde gemeinsam mit
der schon erwähnten SoL ein Forschungsvorhaben „Illuminating the
Blind Spot: Leadership in the Context
of Emerging Worlds“ betrieben. An
dieser Studie wirkten bedeutende Persönlichkeiten mit: W. Brian Arthur,
Jonathan Day, Joseph Jaworski, Michael Jung, Ikujiro Nonaka, Otto C.
Scharmer und Peter M. Senge. Heute
ist es keine Überraschung mehr, anerkannten spirituellen Lehrern bei Ausund Fortbildungsveranstaltungen für
McKinsey-Mitarbeiter zu begegnen.
Auch McKinsey hat erkannt, dass
ohne die Aktivierung der inneren Kräfte und der eigentlichen Identität (sowohl individuell bei den Führungskräften als auch kollektiv bei den Unternehmen) elementar wichtige Ressourcen für die Zukunftsbewältigung unerschlossen bleiben.
4. Der Autor des Führungsklassikers „Die
7 Wege zur Effektivität“, Steven R.
Covey, hat inzwischen herausgefunden, dass er seine bisherigen 7 Erfolgswege um die Kraft einer neuen
Dimension bereichern kann. In seinem
neuesten Werk „Der 8. Weg – Mit Ef-
fektivität zu wahrer Größe“, den man
seinem Inhalt nach auch mit „Integrale Führung“ hätte betiteln können,
empfiehlt er den Führungskräften,
ihre innere Stimme zu entdecken und
andere dazu zu inspirieren, die ihre zu
finden. Covey zeigt einen Weg zur
ganzheitlichen Entfaltung der Persönlichkeit.
5. Die Personalberatungsgesellschaft
Spencer Stuart stellt in ihrer Studie
„Employability und Querdenkertum“,
die aufgrund von Tiefeninterviews mit
Führungskräften im Jahre 2005 entstanden ist, fest, dass das Thema Spiritualität den Führungskräften auf den
Nägeln brennt. Für die Befragten war
es in hohem Maße wichtig, dass es
mehr gibt als die eigene Ratio. Die Ursachen für die schwache Innovationskraft Deutschlands – so die Untersuchung – lägen weniger am Mangel an
gestaltungsfreudigem Personal als
vielmehr an der Zementierung der Prozesse in den Unternehmen. Unter
„Kompetenz“ verstehe man in den
Unternehmen häufig nur Können und
formale Qualifikation, während ein
moderner Kompetenzbegriff das
ganzheitliche Potenzial einer Führungskraft zu beachten habe, wenn
die Führungskraft in unerwarteten
und komplexen Situationen erfolgreich wirken solle.
6. Der Zukunftsforscher Matthias Horxx
hat in einer seiner jüngsten Studien
(2005) einen „Selfness-Trend“ diagno-
Vorwort
stiziert, der seiner Meinung nach den
„Wellness-Trend“ ablösen wird. Der
künftig geforderte Menschentypus sei
selbstwirksam, steuere seine Entwicklung selbst, könne in größeren Zusammenhängen denken, könne gut mit
Vielfalt und Andersartigkeit umgehen
und verfüge über eine gereifte Persönlichkeit.
7. Die DGFP (Deutsche Gesellschaft für
Personalführung e. V.), die sich grundsätzlich stärker mit Führungsinstrumenten befasst, überschreibt ihren
14. Kongress im Jahre 2006 mit dem
Titel „Menschen stärken – Wert(e) bilden“. Zwar wird hier noch auf die
Darstellung der integralen Theorie verzichtet, aber einige ihrer wichtigen
Schlussfolgerungen werden erkannt
und umgesetzt: fair führen, Menschen
in sich, in ihrer gesamten Persönlichkeit stärken, Fähigkeiten entdecken,
Reflexion des eignen Führungsverhaltens, Führung und Werte sind Themen, mit denen sich die Kongressteilnehmer auseinandersetzen.
8. In seiner langjährigen und gründlichen
Analyse wirtschaftlicher Exzellenz, veröffentlicht in dem Buch „Der Weg zu
den Besten“, hat Jim Collins herausgefunden, dass nachhaltige unternehmerische Erfolge weniger durch dramatische Change-Programme und Restrukturierungsmaßnahmen erreicht
werden als vielmehr durch ein sehr
beständiges, konsequentes, auf Exzellenz ausgerichtetes Verhalten und
Zukunftstrend integrale Führung?: Dr. Hans Wielens
Führen. Beim Weg zur Exzellenz von
Unternehmen gab es keine durchschlagende Einzelmaßnahme, kein gigantisches Programm, keine großartige Innovation, keinen plötzlichen Umschwung, kein Wunder. Der Prozess
ähnelte eher einem riesigen Schwungrad, das sich immer in dieselbe Richtung dreht und mit jeder Umdrehung
an Schwung gewinnt. Begleitet wurden nachhaltige Erfolge jedoch in aller
Regel von einer Kultur der Wachheit
gegenüber den Realitäten und einer
Kultur der Disziplin. Bemerkenswert
ist auch die phänomenologische Beschreibung der erfolgreichen Führungspersönlichkeiten durch Collins:
Sie sind still, leistungswillig bis zur
Selbstaufgabe, zurückhaltend, ja fast
schüchtern – eine paradoxe Mischung
aus Bescheidenheit, was ihre Person
angeht, und professioneller Willenskraft in allen Belangen des Geschäftslebens. Sie holen sich die „richtigen“
Mitarbeiter an Bord und geben ihnen
die „richtigen“ Positionen. Sie besitzen und fördern eine Kultur der Disziplin, eine unternehmerische Kultur
von Freiheit und Verantwortung, in
der die Führungskraft extreme Mühen
auf sich nimmt, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Geld und
Gewinne sind für sie so wichtig wie
Blut und Wasser in einem gesunden
Körper, aber sie sind nicht das „Wesentliche“ des Unternehmens, sondern entscheidend ist die explizite und
über die Zeit konsistente Einbindung
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zentraler Werte, wie z. B. Achtung vor
dem Individuum und Verantwortung
für das Umfeld, in dem das Unternehmen tätig ist. Die zentralen Werte und
Zielsetzungen werden bewahrt, die
Strategien und Praktiken den sich verändernden Verhältnissen angepasst.
Meine Lebenserfahrung hat mich gelehrt,
dass wir sich anbahnende Entwicklungen
auch in der unmittelbaren Umgebung
entdecken können, wenn wir aufmerksam
hinschauen. Gute Erfahrungen habe ich
mit dieser Einstellung während meines
Berufslebens machen können durch
Wettbewerbsausschreibungen für die Gestaltung öffentlicher Plätze (in dem Buch
„Projekt Platzgestaltung – ein Plädoyer für
mehr Menschlichkeit im öffentlichen
Raum“) und für die Umwidmung alter Gebäude (in dem Buch „Neues Leben in alten Gebäuden“), mit denen wir jeweils
vorbildliche Lösungen ausfindig machen
wollten. Selbst die kundigsten Experten
waren von der Vielfalt großartiger und
bereits realisierter Lösungen, die man
eher im Ausland als im Inland vermutet
hatte, überrascht.
Insofern lag der Gedanke nahe, auch
für den Bereich der Unternehmensführung nach integralen Konzepten in der
Praxis von Unternehmensberatern und
Coaches zu forschen. Eine Diskussion im
Kuratorium der von mir gegründeten
StiftungAuthentischFühren ergab Ermutigung und Unterstützung für ein PersonalSymposium, auf dem wir nicht selbst die
Redner bestimmen, sondern über eine
Ausschreibung (call for papers) gewinnen
wollten. Wir luden daher Unternehmensberater und Coaches ein, zukunftsorientierte Vorschläge bezüglich der von ihnen
erprobten integralen Beratungs- und
Coachingkonzepte zu unterbreiten. Die
Resonanz auf unseren Aufruf war außerordentlich positiv und brachte wesentlich
mehr spannende und innovative Vorschläge zum Vorschein, als wir erwartet hatten.
Die Beiträge in diesem Buch machen das –
bei aller Unterschiedlichkeit – deutlich.
Einer Jury aus drei aktiven Unternehmensleitern, zwei ehemaligen Unternehmensleitern und einem Wissenschaftler
oblag die Auswahl der besten Vorschläge.
Den Mitgliedern der Jury bin ich sehr
dankbar für ihre zeitraubende ehrenamtliche Unterstützung. In der Jury mitgewirkt haben:
Burkhard Graßmann, Mitglied des
Vorstands von T-Online Intern. AG,
Paul J. Kohtes, Gründer der
Beratungsgesellschaft für PR und
Corporate Communications PLEON
Kohtes & Klewes und Gründer der
Identity Foundation,
Dr. Wendelin Küpers, der an der
Fernuniversität in Hagen forscht und
lehrt und zusätzlich Lehrbeauftragter
an den Universitäten St. Gallen und
Innsbruck ist,
Dr. Dirk Püschel, Mitinhaber der
Firma AkuTech und Geschäftsführer
des AK Ken Wilber,
Vorwort
Thomas Terhaar, Mitglied des
Vorstands der Deutsche Bank
Bauspar AG,
Dr. Hans Wielens, Vorstandsvorsitzender der Deutsche Bank Bauspar
AG i. R., Honorarprofessor der Westfälischen Wilhelms-Universität
Münster und Leiter der
StiftungAuthentischFühren.
Dank für guten Rat und wichtige Hinweise schulde ich vielen weiteren Persönlichkeiten, darunter Herrn Dr. Thomas Altmann.
Die Artikel dieses Buches bieten eine
Fundgrube für spannende Anregungen,
die Führungs- und Unternehmenskultur in
den eigenen Unternehmen in Richtung
Nachhaltigkeit und Exzellenz zu verändern. Den Autoren des Buches bin ich dafür sehr dankbar. Dabei übersehe ich keineswegs, dass es noch weitere großartige
Beiträge von Autoren hätte geben können, die unseren Aufruf nicht erfahren
haben oder ihm nicht gefolgt sind. Das
Buch gibt somit lediglich einen Ausschnitt
aus der im deutschsprachigen Raum vorhandenen Wirklichkeit wieder.
Aufgrund der guten Resonanz und der
wirklich innovativen Konzepte und aufgrund der rasanten Entwicklung auf diesem Gebiet stellt sich die Frage, ob man
nicht künftig alle zwei Jahre ein weiteres
Symposium organisieren sollte, um dadurch den Führungskräften aus der Wirtschaft einen jeweils noch repräsentative-
Zukunftstrend integrale Führung?: Dr. Hans Wielens
ren Überblick über die besten integralen
Beratungs- und Coachingkonzepte zu geben. Trotz der steigenden Zahl integral
denkender und handelnder Führungskräfte wird es noch geraume Zeit dauern, bis
eine hinreichend kritische Menge vorhanden ist, um die Kultur in den Unternehmen durch dieses Gedankengut zu prägen. Viele Hindernisse – insbesondere weil
sich bei den Anbietern nur schwer die
„Spreu vom Weizen“ trennen lässt – stehen dem noch entgegen. Mit einer „Biennale Integrale Führung“ und einer Vernetzung der an dem Thema interessierten
Führungskräfte könnte ein Beitrag geleistet werden, eine Führungskultur zu entwickeln, die in unserer – häufig von chaotischen Zuständen geprägten – Welt die
„Lebendigkeit“ von Unternehmen stärkt.
In instabilen Zeiten gilt es, die in Unternehmen vorhandenen Selbstorganisationskräfte zu nutzen, um kreative Lösungen für neue Ordnungen zu ermöglichen.
Jedes neue Problem verlangt sowohl von
Führungskräften selbst als auch von Unternehmen, nach inneren Ressourcen zu
suchen, mit denen sie es meistern können, und neue Strategien des Überlebens
und der Weiterentwicklung zu erlernen.
Führung bedeutet dann weniger, präzise
Anweisungen zu erteilen, als vielmehr
sinnvolle Impulse für ein Kreativität ermöglichendes Klima zu geben. Die Führungskraft muss sich die Fähigkeit „zum
Spielen“ erwerben und sich zum evolutionären Gestalter entwickeln, der die Flexibilität im Unternehmen erhöht, eine Kultur
des Vertrauens und des Experimentierens
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schafft, Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Offenheit für neue Ideen
fördert und dadurch für das Unternehmen
die Optionen erhöht, verschiedenartigen
zukünftigen Herausforderungen besser
begegnen zu können. Was heute mehr
denn je gebraucht wird, aber in der Unternehmenskultur meist nicht verankert ist,
ist eine „irritierende Autorität“, die Gewohntes in Frage stellt, Unsicherheiten
wahrnimmt und Aufmerksamkeit bündelt.
Solange jedoch Unternehmenskulturen
solch irritierende Führung nicht zulassen
und unterstützen, ergeben sich unfruchtbare Konflikte – ein solches Verhalten
wird dann als Angriff auf bestehende
Hierarchien und Strukturen verstanden.
Ihnen, verehrte Leser und Leserinnen,
wünsche ich nicht nur Freude und Anregungen beim Lesen der spannenden Beiträge. Lassen Sie sich bestärken auf Ihrem
Weg, ein besseres Führungsverhalten –
allerdings ohne jeglichen missionarischen
Eifer – selbst umzusetzen: mit Ausdauer
und der durchsetzungsfähigen Geduld
des guten Beispiels. Leisten Sie Ihren praktischen Beitrag für eine lebenswertere
Wirtschaftswelt, für mehr Kreativität, Offenheit, Selbstverantwortung und für
nachhaltige wirtschaftliche Exzellenz. Den
im Unternehmen angewandten und bewährten Führungsinstrumenten kann eine
neue Dimension der Wirkungskraft verliehen werden, wenn wir die emotionale,
soziale und spirituelle Intelligenz voll in
das unternehmerische Leben einbeziehen.
Darin liegt die größte Herausforderung,
um zu wirklicher unternehmerischer Exzellenz zu gelangen. Jede Führungskraft
und jedes Unternehmen haben das
Potenzial, wahre Größe zu erreichen,
wenn sie ihr inneres Feuer entfachen und
sich leidenschaftlich engagieren. Bedenkenswert für das eigene Vorgehen ist dabei aber auch der Rat von Thich Nath
Than: „Macht euch keine Sorgen, wenn
die Menschen um euch herum nicht ihr
Bestes tun, sorgt euch nur darum, dass ihr
eure Sache gut macht. Wenn ihr euer Bestes tut, dann ist das der sicherste Weg,
diejenigen, die um euch sind, daran zu
erinnern, ihr Bestes zu tun.“
Gerne und dankbar werden wir Anregungen von Ihnen, verehrte Leserinnen1
und Leser, aufgreifen, um unser Anliegen,
die Führungs- und Unternehmenskultur,
stärker in Richtung unternehmerische Exzellenz zu entwickeln und voranzutreiben. Nehmen Sie Kontakt zu uns auf und
senden Sie uns Ihre Anregungen per
E-Mail.
Zum Abschluss möchte ich mich herzlich beim Verlag J. Kamphausen für die
konstruktive und freundschaftliche Zusammenarbeit bei der Herausgabe dieses
Buches und der Schriftenreihe bedanken,
insbesondere bei dem Verleger Joachim
Kamphausen und bei Annegret Torspecken.
Sao Rafael im April 2006
Hans Wielens
Vorwort
StifungAuthentischFühren
Deitersweg 33 / 48159 Münster
info@authentisch-fuehren.de
www.authentisch-fuehren.de
Die Beiträge in diesem Buch geben
die Meinung der Autoren wieder und
nicht in jedem Fall die Meinung der
StiftungAuthentischFühren oder die
der Herausgeber.
Zukunftstrend integrale Führung?: Dr. Hans Wielens
1
Wir haben in den nachfolgenden
Artikeln auf die separate Benennung
der beiden unterschiedlichen Geschlechter verzichtet, um der Lesbarkeit nicht den Fluss zu nehmen,
möchten jedoch ausdrücklich darauf
hinweisen, dass sich sowohl die
Damen als auch die Herren angesprochen fühlen mögen.
15
Wir bitten um Beachtung der Anzeigen am Ende des Buches.
Dr. Hans Wielens (Jg. 1939), verheiratet, vier Kinder, leitende Funktionen
im Bankwesen, zuletzt Vorstandsvorsitzender
der Deutsche Bank Bauspar AG, Honorarprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität
Münster. Autor des Buches „Im Brennpunkt:
Geld & Spiritualität – Ist die Krise der materiellen
Welt überwindbar?“, Verlag Via Nova,
Hrsg. der Bücher „Führen und Meditieren“,
Peter Lang-Verlag und „Führen mit Herz und
Verstand“, J. Kamphausen, Gründer und Leiter
der StiftungAuthentischFühren – Zen-Akademie
für Führungskräfte in Münster.
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I. WERTE: Neue Aspekte integraler Führung
Die zweite kopernikanische Wende
Willigis Jäger
17
18
W ILLIGIS J ÄGER :
DIE ZWEITE
KOPERNIKANISCHE
W ENDE
Die Menschen waren einmal fest davon
überzeugt, dass die Erde die Mitte des
Weltalls und der Mensch die Krone der
Schöpfung sei. Es dauerte lange, bis die
Religion zugeben konnte, dass dies nicht
der Wahrheit entspricht. Das war eine
schlimme Kränkung, welche die Kreationisten und Fundamentalisten auch heute
noch nicht verkraftet haben.
Der Mensch der Gegenwart meint,
sein Ich wäre die Mitte seines Menschseins. Astrophysik, Molekularbiologie,
Neuronenforschung belehren uns jedoch
eines Besseren und bestätigen, was die
Weisen seit Jahrtausenden sagen: Es gibt
kein permanentes Ich. Diese Tatsache dem
Menschen von heute nahezubringen, ist
so schwierig, wie damals die Erde aus dem
Mittelpunkt des Kosmos zu heben.
Die Neurobiologie bestätigt uns, was
die Mystiker des Ostens und des Westens
schon lange wussten: Unser Ich ist nur
das Instrument, auf dem ein Bewusstsein
spielt, das jedoch nicht unser IchBewusstsein ist. Wir entdecken, dass unser Ich-Bewusstsein nur eine interessante
Oberfläche ist, unter der kein stabiler IchKern zu finden ist. Wirklichkeit ist nicht
das, was wir sehen und hören, denn wir
können die Welt nur mit den Modellen
wahrnehmen, die unser Gehirn kreiert.
Diese Modelle werden von Erregungsmustern der Neuronenverbände hervorgebracht. Die Nervenzellen können sich
ein Leben lang neu organisieren und damit immer wieder neue Ich-Konzepte hervorbringen. Versagen diese Neuronenverbände ihren Dienst, verschwindet auch
das Ich. Unser Ich gaukelt uns somit eine
Welt vor, die es so gar nicht gibt. Wir kreieren sie erst aufgrund unseres Verstandes
und unserer Sinne.
Dieses Ich ist zweifelsohne eine gewaltige Errungenschaft der Evolution. Wir
haben jedoch zu begreifen, dass wir nicht
das sind, was uns dieses Ich ständig vorsagt. Wir sind zeitloses Leben, das sich für
einige Zeit eingrenzt, das sich im Baum als
Baum, im Tier als Tier und im Menschen
als Mensch offenbart. Dieses zeitlose Leben, das wir sind, zu erfahren, ist der Sinn
aller Religion und aller Spiritualität. Hier
und jetzt offenbart sich in dieser unserer
Struktur eine hintergründige Wirklichkeit.
Ich kann ihr den Namen Gott geben, doch
sie ist etwas ganz anderes als dieser
personale Gott, der uns in unserer Kindheit nahegebracht wurde. Gott ist das,
was sich Augenblick für Augenblick vollzieht. Gott drückt sich in dieser unserer
I. WERTE: Neue Aspekte integraler Führung
menschlichen Struktur im Hier und Jetzt
aus. Wir sind viel mehr, als dieses Ich uns
ständig vormacht. Doch wir sind vernarrt
in unser Ich, obwohl es der Grund für die
Misere darstellt, in die wir uns als Spezies
hineinmanövriert haben.
Wir mussten als Mensch aus der symbiotischen Einheit eines prähominiden tierischen Daseins in ein personales Bewusstsein treten, um ich und du sagen zu können. Kaum waren wir jedoch draußen,
brachte Kain seinen Bruder Abel um. So
ist es bis zum heutigen Tag geblieben. Die
Geschichte unserer Spezies ist eine mörderische Geschichte und sie wird immer
schlimmer. Wir töten nicht nur mit raffinierten Waffen, wir töten mittlerweile mit
Wirtschaftssystemen, Finanzordnungen
und durch „Ressourcen-Klau“. Der Mord
bleibt dann nur auf dem Papier, verbirgt
sich hinter abstrakten Zahlen und beunruhigt uns daher nicht. Wir töten, weil wir
den anderen den eigenen Wohlstand
nicht gönnen. Wir töten, indem wir andere zwingen, unsere Hemden und Anzüge für einen Hungerlohn zu produzieren,
um dann den Gewinn in die eigene Tasche
zu stecken.
Was bringt uns heraus aus dieser Misere? Die Religionen haben es nicht geschafft. Sie waren selbst oft ins Morden
verstrickt. Die Moral des „du sollst“ und
„du musst“ und „du darfst nicht“ brachte
uns nicht wesentlich weiter und wird uns,
wie die Erfahrung zeigt, auch nicht weiterbringen. Nur wenn wir begreifen, dass wir
Die zweite kopernikanische Wende: Willigis Jäger
zuerst Gemeinschaft sind und dann Individuen, wird unser Ich den rechten Platz finden. Nur wenn wir verstehen, dass eine
einzelne Masche einzig im Netz Sinn
macht, wird sich etwas ändern. Nur wenn
wir begreifen, dass unser Ich nicht unser
wahres Wesen ist, sondern nur das Instrument auf dem ein Größeres spielen möchte, werden wir uns anders verhalten. Nur
wenn wir erfahren, dass unser wahres
Wesen hinter dem Ich-Schleier verborgen
liegt, werden wir diese Einheit mit allen
Wesen erfahren und anders handeln.
Benediktushof – Zentrum für spirituelle Wege
Das Gesagte hat eine tiefe spirituelle
Bedeutung, aber es sollte auch eine pragmatische Auswirkung besitzen. Die mystische Erfahrung ist nicht nur die nächste
Stufe in der Entfaltung unseres Bewusstseins, sie ist vielleicht auch die letzte Hoffnung für eine menschenwürdige Zukunft
unserer Spezies. Nur sie scheint mir in der
Lage zu sein, Gier, Angst und Egozentrik
zu überwinden, die uns seit Jahrtausenden in grausame Verirrungen und großes
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Leid geführt haben. Unsere Unsicherheit
entspringt einem fatalen Bedürfnis nach
immer mehr Macht und Besitz. Nie hat der
Mensch genug. Im Hintergrund steht die
Angst vor Mächtigeren, vor neuen Ideen,
Glaubenssystemen und Kulturen. All dies
ängstigt und bedroht uns. Wir kapseln
uns ab in einer vermeintlichen Sicherheit.
Das gilt für den Einzelnen ebenso wie für
das Unternehmen. Nur eine tiefere Erfahrung der Wirklichkeit kann diese egoistischen Ängste überwinden und uns zusammenschließen. Wenn diese mystische
Erfahrung der Wirklichkeit wirksam wird,
ändern sich Motive, Erwartungen, Misstrauen und Feindseligkeit. Es schwindet
sen. Es ist die Wahrnehmung, mit allem in
fragloser Gegenwart verbunden zu sein.
Es ist eine Wachheit ganz anderer Art. Es
ist ein Bewusstsein, das als trans-rational
oder a-rational bezeichnet werden muss
und alle Potenzen in sich trägt. Diese Erfahrung besitzt eine unumstößliche und
außerordentliche Qualität. Sie kann verschlossene Tore aufsprengen und für den
Lebensweg unerwartete Konsequenzen
haben. Alle Skepsis kann ihr keinen Abbruch tun. Die Erfahrung mündet in den
Alltag und führt zu unseren Mitmenschen.
Benediktushof – Zendo
die Angst vor den anderen. Das ist das
Fundament für eine bessere Welt. Damit
ändert sich auch einiges im Unternehmer
und im Unternehmen. Sie erkennen, dass
sie ihren Teil zum Ganzen beizutragen
und der Allgemeinheit zu dienen haben.
Spiritualität ist nicht nur eine individuelle
Erfahrung auf dem Sitzkissen, sondern die
Grundlage der Begegnung mit allen We-
I. WERTE: Neue Aspekte integraler Führung
Willigis Jäger wurde 1925 in Hösbach geboren und trat 1946 in die
Benediktinerabtei Münsterschwarzach ein. Nach seinem Theologie- und Philosophiestudium erhielt er 1952 die Priesterweihe. Von 1960 bis 1975 war er als
Bildungsreferent für die kirchlichen Werke Missio und Misereor tätig. Seine
zahlreichen Auslandsaufenthalte führten ihn schließlich nach Kamakura in Japan,
wo er 1975 Schüler des Zen-Meisters Yamada Koun Roshi wurde. 1981 beauftragte ihn sein Meister, die Zen-Lehren weiterzugeben, und er kehrte nach seinem
6-jährigen Aufenthalt in Japan nach
Deutschland zurück.
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1996 erhielt er die Beauftragung als
Zen-Meister der Sanbo-Kyodan-Schule
als 86. Nachfolger von Shakyamuni
Buddha. Von 1983 bis 2001 leitete
Willigis Jäger das Meditationszentrum
St. Benedikt in Würzburg, in dem er Zenund Kontemplationskurse abhielt. Seit
Dezember 2003 ist er spiritueller Leiter
des Seminar- und Tagungszentrums Benediktushof in Holzkirchen bei Würzburg.
Willigis Jäger gilt als einer der bedeutendsten spirituellen Lehrer der
Gegenwart und wurde durch seine zahlreichen Publikationen und Vorträge einer
breiten Öffentlichkeit bekannt. Sein großes Anliegen ist es, die vergessene
Tradition der Mystik wieder in das menschliche Bewusstsein zu bringen.
Benediktushof
Zentrum für spirituelle Wege
Klosterstraße 10 / 97292 Holzkirchen
buero@willigis-jaeger.de
www.willigis-jaeger.de
Die zweite kopernikanische Wende: Willigis Jäger
s. a. Anzeige auf S. 382
Wichtige Veröffentlichungen: Verlag Via Nova: Suche nach dem Sinn des Lebens;
- Suche nach der Wahrheit; - Wohin unsere Sehnsucht führt; - Gesang der Stille,
- 27 Perlen der Weisheit. Herder Verlag: Die Welle ist das Meer; - Kontemplation;
- Die Wiederkehr der Mystik, - Denn auch hier sind Götter; - Aufbruch in ein neues
Land. Verlag Kösel: Der Himmel ist in dir; - In jedem Jetzt ist Ewigkeit;
- Das Leben ist Religion. Theseus Verlag: Das Leben endet nie.