Musikwelt
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Musikwelt
Für die Musikkultur ist das Radio unverzichtbar, so ein Ergebnis der ARD-Studie zur E-Musik aus dem Jahr 2005. Immerhin 19 Prozent der Befragten hören mindestens einmal in der Woche Klassische Musik. Das Radio vermittelt dabei nicht nur Musik als Kulturträger, vielmehr bietet es Abwechslung, überraschende Bezüge und die Chance, Neues zu entdecken. So können Sendungen zu ganz unterschiedlichen Themenstellungen Hörer für Klassische Musik begeistern. paziergänge in Bayreuth« (berühmte, oft ungehaltene Stimmen zum Besuch des Festspielorts), »Eine unglaubliche Menge Flöhe und Wanzen« (zu den Widrigkeiten auf Mozarts Konzertreisen), »Komm in die Gondel« (Komponisten und Dichter in Venedig): Das sind Titel und Themen, wie sie in »Klassik: Musikwelt« oder »Klassik: Akzente« im Nordwestradio angeboten werden. Die Welt der klassischen Musik ist immer wieder überraschend und neu zu entdecken. Bekannten und weniger bekannten Tönen, Komponisten und Musikern zu begegnen, Geschichten zu erzählen und die Verknüpfung zur Gegenwart herzustellen, das macht den Reiz aus, solche Sendungen zu gestalten. Nordwestradio als Heimat musikjournalistischer Sendungen ist das gemeinsame Kulturprogramm von Radio Bremen und NDR für Bremen und den Nordwesten Niedersachsens. Es trat im November 2001 an die Stelle der allein von Radio Bremen gestalteten Kulturwelle Bremen Zwei. Im früheren Bremen Zwei gab es wöchentlich das »Musikfeuilleton«, das ich redaktionell verantwortete. Auch die heutigen musikjournalistischen Sendungen berichten am Abend beispielsweise über Konzerte, Konzertereignisse, Premieren, Festspiele, Neuerscheinungen auf dem Buch- oder CD-Markt. Musikwelt »Klassische« Reisen in die Welt des Hörens Von Hans-Peter Raiß Die Sendestrecke von »Klassik: Akzente« am Abend ist 115 Minuten lang, muss deshalb anders strukturiert werden. Sie als Magazin zu gestalten ist zwar vorstellbar, würde aber enorm viel Geld kosten, das nicht zur Verfügung steht. Um nämlich den schnelleren Wechsel von Beiträgen, Musik und Moderation eines Magazins von 55 Minuten Dauer auf 115 Minuten zu übertragen, müsste die doppelte Anzahl von Berichten eingekauft werden. Außerdem wären mehr Telefongespräche mit Autoren zu führen, Überspieltermine für deren Beiträge zu vereinbaren oder Schneidetermine zu organisieren, damit ein Magazin von zwei Stunden realisiert werden kann. Also musste ich die Dramaturgie jener Sendung am Abend ändern, sie gleichsam verlangsamen. Das funktioniert mit Elementen eines Features. Diese Form erlaubt es, das Material in länger dimensionierten Abschnitten auszu breiten, zugleich aber so aufzubereiten, dass die Binnenstruktur jener Abschnitte für den Hörer vielfältig und abwechslungsreich wird, dass er im besten Falle also gar nicht merkt, wie die Zeit vergeht. Der Autor im Studio Der Sendeplatz bestimmt die Dramaturgie Das ehemalige »Musikfeuilleton« hatte die Struktur eines Magazins. Innerhalb dieser Sendezeit von 55 Minuten platzierte ich fünf Beiträge und einen aktuellen Nachrichtenteil. Die Beiträge waren eine Mischung aus Vorproduktionen – von freien Mitarbeitern fertig geliefert – und Live-Telefongesprächen, verbunden durch Musiken von etwa drei Minuten Dauer. 48 Artikel ARD-JAHRBUCH 07 Der ganz besondere Sound von Mallorca Voraussetzung dafür ist freilich Material in Fülle. Dazu gehören Interviews zum ausgewählten Thema, Geräusche (Atmos) aller Art, ebenso wie beispielsweise Gedichte, Brief- oder Romanpassagen. Einiges davon gibt es im Archiv, vieles habe ich selbst aufgenommen oder gesammelt. Wenn von Chopin auf Mallorca die Rede ist, seinem Urlaub, den er dort mit George Sand im Winter 1838/39 verbrachte, müssen mallorquinische Vögel zwitschern, einheimische Winde durch die Klostermauern von Valldemossa wehen und mittelmeerische Wellen rauschen. Das klingt selbstverständlich authentischer, oder? Görlitz, hier in der TV-Reihe »Fremde Nachbarn« Landschaften und kleinere Städte haben ihren spezifischen Sound, ebenso wie große Metropolen. Für Görlitz ist das grobe Kopfsteinpflaster in den zumeist engen Straßen, sind die Hallenhäuser der ehemaligen Tuchmacher typisch, die Gespräche der polnischen Passanten, die von der anderen Seite der Lausitzer Neiße in den deutschen Teil jener Stadt herüberkommen. Weimar in Thüringen, die ehemalige Residenz von J. S. Bach, Franz Liszt, von Goethe und Schiller, z. B. in der Größe vergleichbar mit Görlitz, Weimar klingt anders, trotz des Kopfsteinpflasters, das es auch hat. Denn jene Stadt ist luftiger, hat breitere Straßen, in denen der Schall von den Häuserfassaden anders reflektiert wird, weicher. Und Madrid? Madrid ist abermals eine vollkommen andere akustische Welt. In meinen Features über diese Orte bzw. Städte und deren Musiktheater, Orchester, Dirigenten, Generalmusikdirektoren, Intendanten, Musikjournalistische Magazine Komponisten, Spielpläne, Sängerinnen und Sänger, über deren Kulturpolitik, deren Dichter und andere Heroen fließt dieser lokal-spezifische Sound ein. Das freilich ist nur ein Moment der Gestaltung. Literarische und musikantische kommen dazu. Musik trifft Politik: von Eisler, Barenboim u. a. Seit meiner Studienzeit interessiere ich mich für jenen Punkt, da Musik und Politik zusammenstoßen. Großes Thema ist, selbstverständlich, die Weimarer Republik mit ihrer Asphaltkultur, mit Hanns Eisler, dem Brecht und seinen hilfreichen und klugen Ko-Autorinnen; mit Kurt Weill, Arnold Schönberg und Berthold Goldschmidt oder Theo Mackeben, Werner Richard Heymann und Erik Charell; 1933 dann der politisch und kulturell verheerende zivilisatorische Absturz des Reichs durch Emigration, Vernichtung, Weltkrieg, Flucht, Vertreibung; in meinen Sendungen die Suche nach den Spuren von Vertriebenen, Verfemten, Zurückgekehrten, Getöteten, Verstorbenen. Musik und Politik verschmelzen auch im West-Eastern Divan Orchestra, das der argentinisch-israelische Dirigent Daniel Barenboim 1999 gemeinsam mit dem in Palästina geborenen Schriftsteller Edward W. Said gründete. Es besteht aus jungen israelischen, palästinensischen und arabischen Musikerinnen und Musikern. Unübersehbar auch in der Person von Kurt Masur, der sich als Gewandhauskapellmeister öffentlich für friedliche Gespräche zwischen Bevölkerung und Regierenden einsetzte, als die Montagsdemonstrationen im Leipzig der früheren DDR zur Massenbewegung wurden. Daniel Barenboim und Mariam Said eröffneten 2006 die Tour des West-Eastern Divan Orchestra in Sevilla. ARD-JAHRBUCH 07 49 Yehudi Menuhin bei der Probe für ein Konzert im Rahmen des MDR MUSIKSOMMERs 1997 Bewundernswert zudem die große Geste des Star-Geigers Yehudi Menuhin. Er war nach 1945 der erste jüdische Musiker, der wieder auf deutschem Boden Konzerte gab, und wurde deshalb, so erzählte er mir, von anderen jüdischen Kollegen ausgegrenzt. Das sind Beispiele für Persönlichkeiten mit einer reichen, spannen den, ungewöhnlichen Biografie. Material für viele außergewöhnliche Radio-Stunden. So entstehen interessante, informative und radiophone Sendungen, deren Mosaiksteine ich sowohl auf Dienstreisen als auch während privater Unternehmungen sammele. Freilich auch durch viel Lesen. Berge von Büchern – Informationen aus dem Internet sind mit großer Vorsicht zu behandeln – stapeln sich dann auf meinem Redaktionsschreibtisch, versehen mit Lesezeichen und endlosen Bleistiftmarkierungen. Wer von unseren Haus-Sprechern/Sprecherinnen könnte diese oder jene Passage lesen, um sie als Zitat in der Sendung zu verwenden? Ist der Informationsgehalt eines Abschnitts überhaupt so essenziell, dass er als Zitat taugt? Das sind Fragen, die ich mir in dieser Arbeitsphase oft stelle. und »da wird sein der rechte Friede«. Doch in jenem Abschnitt der Sendung erschien mir die etwa zwölf Minuten dauernde Kantate als zu lang. Ich verwendete deshalb nur deren Eingangsrezitativ bis zu der Textstelle, da es heißt: »Der Fürste dieser Welt, / Der deiner Seele nachgestellt /«, setzte daran – durch einen harten Schnitt – Geräusche von rollenden Panzern und Kanonenschüssen, außerdem eine kurze positive Stellungnahme von Präsident George W. Bush zum Irakkrieg, gekontert von Altkanzler Gerhard Schröders ausführlich begründetem »Nein«. Enden ließ ich diese Collage mit den beiden Schlussakkorden des Rezitativs aus Bachs Kantate. So konnte ich in etwas mehr als einer Minute akustisch und semantisch das Thema Frieden darstellen. Davon fertigte ich drei Varianten, eine schloss z. B. mit einer Kadenz aus Arvo Pärts »Da pacem Domine«, welche die Funktion von Kapitelüberschriften innerhalb der Sendung bekamen. Gemischt und hergestellt werden die Bestandteile einer Sendung nicht etwa innerhalb von einem oder mehreren Tagen im Hörspielstudio mit Produktionsstab plus Regisseur, dafür hat eine kleine Anstalt wie Radio Bremen nicht genügend Kapazitäten, sondern in vielen kleinen Schritten und Terminen. Ihr Entstehungsprozess ist also immens aufwändig. Und dabei sein muss ich als Redakteur immer, kann nichts delegieren. Manchmal freilich wär’s hilfreich. Als Redakteur bin ich längst mein eigenes Team, sozusagen eine Ich-AG: Ideenlieferant, Autor, Realisator, Interviewer, Moderator, Musikzulieferer, Telefonzentrale und einiges mehr. Sehr arbeits- und zeitintensiv, aber im Grunde ideal. Hans-Peter Raiß Radio Bremen, Musikredakteur beim Nordwestradio von Radio Bremen und NDR Ein Thema sucht seine Musik Das Problem, wie ich das Thema »Frieden« akustisch erfahrbar machen kann, beschäftigte mich in der Vorbereitung für eine dreistündige Sendung zum Totensonntag. Ich könnte J. S. Bachs Kantate »Der Friede sei mir dir« spielen. Ist in jedem Fall gute Musik, und der Kantatentext erzählt vom »ängstlichen Gewissen« 50 Artikel ARD-JAHRBUCH 07