166 IV. Das Pfarrhaus des Barock Das Amtshaus und die Reform

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166 IV. Das Pfarrhaus des Barock Das Amtshaus und die Reform
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IV. Das Pfarrhaus des Barock
Das Amtshaus und die Reform der absolutistischen Staatsverwaltung: ein Bautyp im
Dienst der gesellschaftlichen Hierarchisierung
Goethes Gartenhaus spielte unbestreitbar eine zentrale Rolle in der Formfindung
des bürgerlichen Wohnhauses in Deutschland im 20. Jahrhundert. Doch die genauere Untersuchung zeigte auch, dass die daran beteiligten Architekten weitere Vorbilder aus einem ganzen Spektrum von Baugattungen verarbeiteten. Neben Wohn-,
Garten-, Weinberg-, und Forsthäusern trat ausgerechnet die doch sehr spezifische
Nutzung der Pfarrhäuser wiederholt in Erscheinung. Zudem planten oder bauten die
Reformarchitekten Schultze-Naumburg, Tessenow, Ostendorf und Schmitthenner
Pfarrhäuser ihrer Gegenwart.
1. Zusammenhang Pfarrhaus - Walmdach
Zwar lenkt keine übermäßige Häufung von Pfarrhäusern den Blick zwingend auf diese Bauaufgabe. Doch ist man einmal auf diese Fährte aufmerksam geworden, liefert
bereits die oberflächliche Betrachtung des ländlichen historischen Baubestandes
Hinweise auf einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Bauform des
Walmdachhauses und seiner Nutzung als Pfarrhaus. Die systematische Analyse
führt zu einem überraschenden verallgemeinerbaren Ergebnis: Ländliche Pfarrhäuser sind an ihrem Walmdach erkennbar. Nähert man sich einem intakten dörflichen Ortsbild, so identifiziert man die Kirche natürlich bereits aus der Entfernung
anhand ihres Turmes. Und in der Regel erhebt sich in unmittelbarer Nähe der Kirche
ein einzelnes hohes Walmdach: das Pfarrhaus. Alle umgebenden Bauernhäuser
haben aus den bereits erwähnten Gründen Sattel- oder Krüppelwalmdächer.205
236 Kalbensteinberg (Bayern)
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Für den Reisenden früherer Jahrhunderte, sei er Tourist, Händler, Handwerker oder
Bote, war das auf den ersten Blick erkennbare Haus des Ortsgeistlichen somit ein
Orientierungspunkt, um in einem kleineren Ort, der vielleicht nicht einmal ein Rathaus besaß, den ersten Ansprechpartner für viele die Gemeinde betreffende Angelegenheiten zu finden. Als oft einzige amtliche und intellektuelle Autorität eines Dorfes
hatte der Pfarrer auch soziale Kompetenz für in Not geratene Reisende, als es noch
keine Polizeistation gab. Das Pfarrhaus bot unter Umständen Übernachtungsmöglichkeiten, wo kein Gasthaus existierte.206 Und der Pfarrer war das Sprachrohr des
Landesherrn für obrigkeitliche Erlasse zur sonntäglich versammelten Gemeinde.207
Umgekehrt war das Pfarrhaus die Anlaufstelle für Gemeindemitglieder in allen zivilrechtlichen Angelegenheiten von heutigen Standesämtern oder Einwohnermeldestellen208 und kompetenter Vermittler zu anderen Ämtern. Der Pfarrer besaß oft die
einzige Bibliothek im Ort, war zumeist der einzige Bezieher einer Zeitung und damit
Anlaufpunkt in allen kulturellen und aktuellen Fragen.209 Bei ihm trafen auch die
Neuigkeiten aus dem Weltgeschehen ein. Das Pfarrhaus gehörte also zu den
wichtigsten Bezugspunkten im Gemeinwesen des Alltags.
Weiterhin bot das Pfarrhaus auch Logis für den Bischof oder andere geistliche
Würdenträger auf ihren Inspektions- und sonstigen Reisen. Im Zuge des prunkliebenden Barock entwickelte sich das Pfarrhaus zu einem kleinen Palais von
maßvoller aber bestimmter Repräsentation.
Für die heutige Denkmalpflege oder Ortsgeschichte muss ein betont hohes Walmdach in Kirchennähe somit als Hinweis gelten, dass es sich um das frühere Pfarrhaus handelt. Insofern das Pfarrhaus heute noch als solches genutzt wird, ist diese
Identifizierung natürlich überflüssig. Doch oft hat die Kirche ältere Pfarrhäuser verkauft, um an anderer Stelle modernere Gebäude zu errichten.
2. Gründe für das Vergessen
Einmal vergegenwärtigt, erscheint diese Erkenntnis leicht offensichtlich und banal.
Dennoch ist sie alles andere als ein Allgemeingut der Baugeschichte. Die Gründe für
die Verkennung des Walmdachs als einer ganz normalen Dachform wie jede andere
auch sind vielschichtig. Zunächst offenbart sich die Besonderheit dieses Daches nur
im Idealfall des weitgehend unverändert aus dem 18. Jahrhundert erhaltenen Ortsbildes, während die starke Bautätigkeit des 19. und 20. Jahrhunderts in vielen Fällen
die ursprüngliche Prägnanz dieses Zusammenhangs zwischen Form und Funktion
verwässert hat. Wie für alle Bauwerke gilt, dass Kriegszerstörung und Feuersbrünste
der letzten 200 Jahre den ursprünglichen Bestand dezimierten. Ebenso wie die natürliche Alterung und Beseitigung unbrauchbarer oder infolge des zunehmenden
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technischen Fortschritts unkomfortabler Häuser.
Weiterhin tritt das Walmdachpfarrhaus als Phänomen nur in ganz bestimmten Regionen auf, so dass Bewohnern anderer Gebiete dieser Zusammenhang weitgehend
fremd blieb. Außerdem gibt es im 18. Jahrhundert durchaus noch weitere Baugattungen mit Walmdächern, wie die bereits eingeführten Gartenhäuser und andere.
Zum großen Teil stehen sie zwar nicht in unmittelbarer Nähe der Kirche, doch das
muss beim Pfarrhaus auch nicht zwingend der Fall sein. Alle diese Ursachen führen
dazu, dass sich die Signifikanz des Walmdachhauses aus heutiger Sicht relativiert
hat.
3. Einschränkungen der These
Vor der Beweisführung mit ausgewählten Beispielen und der Untermauerung mit
statistischen Erhebungen wollen wir jedoch zunächst die unserer Grundthese
widersprechenden Einschränkungen genau erläutern. In diesem Kontext soll die
Gültigkeit des Walmdachs als Erkennungsmerkmal des Pfarrhauses als regionaler
Regelfall und überregionaler Sonderfall erkennbar werden, wobei sich die Grenzen
der Verallgemeinerbarkeit abzeichnen.
3.1. Chronologische Einschränkung
Zunächst ist die chronologische Eingrenzung von Bedeutung. Die markante Bauperiode der Walmdachpfarrhäuser erstreckt sich von ca. 1700 bis 1840, wobei der
Schwerpunkt deutlich auf dem 18. Jahrhundert liegt. Diese als barocker Zeitausdruck zu charakterisierende Bautradition zeigt keine Veränderungen in der Zeit des
Rokoko und adaptiert mühelos stilistische Merkmale des Klassizismus. Sie wird im
19. Jahrhundert weitergeführt und ebbt um die Jahrhundertmitte ab. Orte, die während dieser Zeitspanne von ungefähr 150 Jahren keine Pfarrhausprojekte realisieren, bewahren ältere Bautypen oder bauen erst später neu und weichen damit von
unserer Regel ab. Gleichwohl wird die folgende Analyse eine ausgesprochene
Baukonjunktur für Pfarrhäuser in dieser Epoche belegen. Aus der zeitlichen Eingrenzung ergibt sich die ebenso naheliegende wie zentrale Frage, weshalb der
Bautyp mit dieser Dachform gerade zu Beginn des 18. Jahrhunderts aufkommt.
Auch seine Verbindung mit einer spezifischen Nutzung und Bedeutung muss im
Zusammenhang der Zeit um 1700 gesucht werden. Obwohl der stilistische und
technische Wandel wie ein natürlicher Prozess die Architekturgeschichte prägt, ist
auch nach konkreten Ursachen zu suchen, weshalb sich diese Bautradition wieder
verliert.
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3.2. Geographische Einschränkung
Weiterhin ist eine Einschränkung zur geographischen Verbreitung zu formulieren.
Diese kann keine klaren Grenzen ziehen, sondern nur relativieren. Denn es gibt
keine gleichmäßige Verteilung der Pfarrhäuser mit Walmdach auf deutschprachigem
Gebiet. Die schwerpunktmäßige Untersuchung ergab Regionen mit evidenter Häufigkeit dieser Pfarrhäuser und andere, in denen sie überhaupt nicht vorkommen.
Regionen mit gelegentlicher Verbreitung sind ebenfalls zu beobachten. Sie fallen
jedoch mit der höchst unvollständigen Erfassung der Baudenkmale durch die Denkmalbehörden verschiedener Bundesländer zusammen. Hier kommt das Problem
zum Tragen, dass sich ältere Denkmalkataloge auf die höhere Baukunst der sakralen und fürstlichen Bauaufgaben konzentrieren und bei der bürgerlichen Architektur
nur hervorstechende Werke erfassen. Die Alltagsarchitektur – zu der die Pfarrhäuser
zählen, obwohl sie zumeist in den Aufgabenbereich der Kirchen und Landesherren
fielen – blieb bis in die Nachkriegszeit hinein weitgehend unberücksichtigt.
Zwischenzeitlich hat sich der Denkmalbegriff gewandelt. Die Katalogisierung aller
Baudenkmale nach erweiterten Kriterien in der 1983 gestarteten Reihe "Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland" wurde bislang nur in Bayern mit einer
vorläufigen Liste durchgeführt.210 In den meisten Bundesländern ist gerade ein
Bruchteil der Landkreise bearbeitet, so dass über diese Hilfsmittel keine flächendeckende Erhebung durchgeführt werden kann.211 Für Frankreich existiert die nach
Départements gegliederte Reihe "Collection Le Patrimoine des Communes de
France". Auch sie liegt noch nicht vollständig vor. Die einzige systematische Untersuchung zur Gattung der Pfarrhäuser erschien jüngst für ein Teilgebiet NordrheinWestfalens einschließlich eines niedersächsischen Landkreises, wo unser Bautyp
allerdings eine nur marginale Rolle spielt.212 Ihre Recherche zu den ökonomischen,
sozialen, kulturellen und bauorganisatorischen Rahmenbedingungen liefert gleichwohl wertvolle verallgemeinerbare Hinweise und bestätigt Beobachtungen, die für
andere Regionen gemacht wurden. Aus der damit eindeutig feststellbaren Uneinheitlichkeit der regionalen Dichte der Walmdachpfarrhäuser erwächst die Frage nach
den konfessionellen, konjunkturellen, künstlerischen, politischen oder sonstigen
Ursachen dafür.
3.3. Typologische Einschränkung
Eine typologische Einschränkung relativiert die Ausschließlichkeit der Anwendung
des Bautyps in den definierten Bedingungen. Das heißt, selbst in Regionen mit
hohem Verbreitungsgrad und innerhalb des festgestellten Zeitraums wurden auch
Pfarrhäuser mit allen anderen in ihrer Zeit üblichen Dachformen errichtet, also mit
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Sattel-, Krüppelwalm- oder Mansarddächern. Daraus kann jedoch nicht die Frage
entwickelt werden, warum sich der Bautyp nicht durchsetzte, denn eine gewisse
Streuung der Bauweisen ist in allen Themenbereichen der Architekturgeschichte der
Normalfall. Auch hier gilt die alte Erkenntnis: Die Ausnahme bestätigt die Regel.
Dafür wird von Interesse sein, ob sich statistisch eine prozentuale Relation der
verschiedenen Dachformen aufstellen lässt oder in welchem Zeitraum eine neu ins
Spiel kommende Konstruktion wie das Mansarddach eine Rolle spielt. Wir fragen
sozusagen nach der Hitliste auf der Beliebtheitsskala.
3.4. Gattungsspezifische Einschränkung
Die letzte Einschränkung relativiert die eindeutige Bindung des Typs an die Baugattung. Obwohl die Anwendung des Walmdachs für die Nutzung als Pfarrhaus
herraussticht, ist festzustellen, dass auch verschiedene andere Häuser im gleichen
Ort und aus der gleichen Bauzeit Walmdächer haben können. Hauptsächlich darin
liegt die Ursache, weshalb der Stellenwert des Walmdachbautyps als Besonderheit
und Bedeutungsträger nicht eindeutig erkannt wurde. In dieser gelegentlichen Uneindeutigkeit seines Auftretens liegt die Ansicht begründet, es handle sich um eine
Bauart wie jede andere auch. Diese nunmehr formulierte Einschränkung wirft die
Frage auf, welche anderen Häuser ebenfalls Walmdächer erhielten, für welche Nutzung sie ursprünglich gebaut wurden und ob ein Zusammenhang zwischen ihnen
und den Pfarrhäusern bestand. Die Zielrichtung wird hier schon deutlich: Auch die
anderen Walmdächer zeichnen sich als Erkennungszeichen für Gebäude mit amtlichen Nutzungen ab oder sind als Statussymbole für Bewohner mit offiziellen oder
offiziösen Funktionen anzusehen. Sie sind alle unter der Baugattung der Amtshäuser zusammenzufassen, zu denen letztlich – entgegen unserer heutigen Auffassung
– auch die Pfarrhäuser zählen. Denn nicht nur in Ländern, in denen der Fürst zugleich oberster Geistlicher war, wie bei den Fürstbischöfen von Bamberg, Würzburg
oder Speyer, kann der Pfarrer gewissermaßen als Amtmann des Staatsapparats
gelten.
4. Pfarrhäuser in Bayern
4.1. Datenmaterial
Die Erfassung der Baudenkmale in Deutschland ist im bundesweiten Vergleich in
Bayern am weitesten vorangeschritten. Für jeden Landkreis ist ein Einzelband
vorgesehen. Doch aufgrund der schlechten finanziellen Ausstattung der Denkmalbehörden stockt dieses für die Forschung wichtige Vorhaben seit den 90er Jahren.
Umso verdienstvoller erscheint die Leistung der bayerischen Denkmalämter,
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1985-86 für alle sieben Regierungsbezirke und die Stadt München eine – wenn auch
nur stichwortartige, so doch vorläufig vollständige – Denkmalliste veröffentlicht zu
haben. Diese Vorarbeit nach Regierungsbezirken wird in keinem anderen Bundesland verfolgt. Dieser glückliche Umstand ermöglichte eine statistisch repräsentative
Erhebung aller als Baudenkmale klassifizierten Walmdachhäuser einerseits und aller
ebensolchen Pfarrhäuser (unabhängig von ihrer Dachform) andererseits in einem
fest umrissenen Gebiet.
Zu jedem Gebäude aufgelistet werden in der Regel Adresse, Nutzung und gegebenenfalls ursprüngliche Nutzung (soweit bekannt), Datierung, Architekt (soweit
bekannt), Geschosszahl, Dachform, Konstruktionsart (z. B. Fachwerkbau oder
Sandsteinquader), besondere Merkmale (z. B. Mittelrisalit, Ecklisenen, geohrte
Rahmungen oder verschiefertes Obergeschoss etc.) sowie bei Pfarrhäusern die
Konfession und das Patronat der zugehörigen Kirche. Da diese Bände keine Abbildungen enthalten, kann keine Überprüfung oder Erfassung weiterer Merkmale durch
Augenschein vorgenommen werden. Die nachfolgenden auch für Bayern bislang nur
vereinzelt vorliegenden Landkreisbände sind ausführlicher. Sie erfassen teilweise
weitere Gebäude, die in den Bänden der Regierungsbezirke noch nicht aufgenommen sind, und nennen weitere bauliche Merkmale, vor allem die Achsenzahl (allerdings uneinheitlich: z. T. nur die Achsen der Hauptfassade, gelegentlich auch mit
Abweichung von Erd- und Obergeschoss, z. B. "5:4 Obergeschossfenster", in der
Regel aber die Achsenzahl von Breit- und Schmalseite, z.B. "5:3 Achsen"). Die in
diesen Bänden zu vielen Gebäuden gezeigten Abbildungen ermöglichen je nach
Ansicht, also zu einem Bruchteil der Bauwerke, die Erfassung weiterer Details.
Natürlich wurden nicht alle erhaltenen Pfarrhäuser als Denkmale klassifiziert. Gelegentlich wurden Häuser wegen anderer Merkmale zu Denkmalen ernannt, aber nicht
als Pfarrhäuser erkannt. In einigen Fällen bietet jedoch bereits die Adresse (wie
etwa "Kirchplatz 3", "Pfarrgasse 5" oder "Am Friedhof 1") bzw. eine Hausnummer in
unmittelbarer Nachbarschaft zur aufgelisteten Kirche den mit hoher Wahrscheinlichkeit begründeten Anlass, sie als Pfarrhäuser zu klassifizieren und in die Statistik
mit aufzunehmen. Zumal, wenn sie als einziges Walmdachhaus eines Ortes geführt
werden.
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4.2. Fehlerquote der Datenerfassung
Einige Einschränkungen sind zu erläutern, um sich eine gewisse, in diesen Daten
enthaltene Fehlerquote zu vergegenwärtigen:
a) In den Regierungsbezirksbänden ist der Dachtyp zwar meistens genannt, aber
nicht immer, weshalb die betreffenden Objekte nicht in die Statistik einfließen
können.
b) Gelegentlich schleichen sich Fehler ein, die erst bei Abbildungen in den Landkreisbänden deutlich werden, durch Kenntnis anderer Quellen oder persönliche
Überprüfung.213 Aufgrund der Vielzahl der an der Erstellung der Liste beteiligten
Denkmalpfleger schwankt auch die Aufmerksamkeit für bestimmte Objekte, wechseln manche Begriffe und die Datierungsweisen.
c) So zeigte sich unter Zuhilfenahme anderer Quellen und persönlicher Funde, dass
Pfarrhäuser nicht immer in ihrem historischen Denkmalwert erkannt wurden, die
Liste also nicht als vollständig betrachtet werden kann.214
d) Weiterhin begegnen wir unterschiedlichen Bezeichnungen für dieselbe Nutzung
(z.B. Benefiziatenhaus, Kuratorenhaus oder Kaplanshaus, wenn ein untergeordnetes Kirchenamt den Pfarrer ersetzt; Dekanat, Propstei oder Prälatur, wo ein
übergeordnetes Amt die Rolle des Pfarrhauses einnimmt).
e) Die jahrgenauen Datierungen beruhen teils auf Inschriften am oder im Gebäude.
Wenn das Haus nicht als mit der Jahreszahl "bezeichnet" erwähnt wird, muss von
anderen schriftlichen Quellen (originale Bauakten, spätere Umbaupläne, die das
Erbauungsjahr verzeichnen oder Ortsgeschichten) ausgegangen werden.
Bei den Inschriften an den Gebäuden (zumeist eine Jahreszahl im Steingewände
über der Eingangstür oder im Bogen des Kellereingangs, gelegentlich auch am Pfosten oder Torbogen der Hofeinfahrt oder im Holz der Innentreppe) ist Vorsicht geboten. Meistens wurde das Haus in einer einzigen Bauphase errichtet, so dass die
Jahreszahl das eindeutige Erbauungsjahr wiedergibt. In manchen Fällen erfolgte der
Pfarrhausneubau aber auf den Grundmauern oder Sockelgeschossen älterer Häuser, so dass die Jahreszahl über dem Kellereingang das Erbauungsjahr des Vorgängerbaus wiedergeben sein kann. In anderen Fällen dokumentiert die Inschrift
eine Generalsanierung oder Instandsetzung nach Beschädigung, wobei das äußere
Erscheinungsbild mit zeittypischen Stilmerkmalen modernisiert worden sein kann,
jedoch die Grundsubstanz des Hauses und damit sein Erbauungsjahr älter ist. Reparaturbedürftig waren häufig die Dächer, weshalb gelegentlich auf einem ursprüng-
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lichen Satteldachhaus bei der Erneuerung im 18. Jahrhundert ein Walmdach errichtet wurde.215 Ebenso kann auf einem ursprünglich stattlichen barocken Pfarrhaus
das hohe Walmdach bei seiner Modernisierung im 19. Jahrhundert durch ein flaches
unscheinbareres Walmdach oder sogar ein Satteldach ersetzt worden sein.216 In
einzelnen Fällen beweisen verschiedene Inschriften am selben Gebäude diese
Vorgehensweise.217 Im Bewusstsein dieses leichten Streufaktors und der Annahme
der Korrektheit der meisten exakten Datierungen betrachten wir dieses Datenmaterial als aussagekräftig für unsere Analyse. Lediglich bei den Walmdachpfarrhäusern
mit angeblichem Erbauungsjahr im frühen 17. oder sogar 16. Jahrhundert ist Skepsis an der Eindeutigkeit des Datums angebracht. Diese Angaben dürfen zur Bestimmung des ältesten Walmdachpfarrhauses (im konkreten Fall wäre das 1556) nicht
herangezogen werden. Auch die 13 mit Jahreszahl bezeichneten Pfarrhäuser aus
der Mitte des 17. Jahrhunderts sind höchst zweifelhaft. Allenfalls elf Gebäude aus
den 80er und 90er Jahren könnten als Vorläufer der einsetzenden Entwicklung in
Erwägung gezogen werden. Hier wären jedoch genauere Objektuntersuchungen
erforderlich.
Die Vielzahl der grob geschätzten Datierungen schwankt von der Angabe zweier
Jahrhunderte, was entweder bedeuten kann, dass eine genauere Eingrenzung nicht
möglich war, oder dass deutlich Bauteile aus verschiedenen Bauphasen erkennbar
sind. Weiterhin werden Datierungen auch nach einzelnen Jahrhunderten geschätzt,
nach der Einteilung in Jahrhundertviertel, -drittel, nach Jahrzehnten oder mit Formulierungen wie "frühes -", "spätes 18. Jahrhundert" oder "wohl um 1730". Die kanonisierte kunsthistorische Einteilung nach den Vierteln "Um 1700" (= 1690-1710),
"erste Hälfte 18. Jahrhundert" (=1710-1740), "Mitte 18. Jahrhundert" (=1740-1760),
"zweite Hälfte 18. Jahrhundert" (=1760-1790) entwickelt eine gewisse Fehlerstreuung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Abschnitte von zwei Jahrzehnten mit
Abschnitten von drei Jahrzehnten abwechseln, und dass im Zweifelsfall psychologisch leicht auf eine Jahrhundertmitte geschätzt wird. So kommt ein "um 1750"
häufiger vor als ein willkürlicher erscheinendes "um 1740" für ein mit ausgeprägten
barocken Details versehenes Haus. Auch die häufige Datierung "um 1800" muss
kritisch unter Vorbehalt gesetzt werden, denn die Prägung durch die zuvor geschilderte Vorgeschichte dieses Zeitbegriffs dürfte gelegentlich dazu geführt haben, ein
etwas nüchternes Haus unseres Typs in diesen Zeitraum einzuordnen, obwohl es
auch früher entstanden sein kann.
Somit ergibt sich ein Problem mit der Vergleichbarkeit der verschiedenen Datierungen. Wir behalfen uns damit, zunächst nur die exakten Datierungen in eine Skala
einzusetzen und die daraus analysierten Erkenntnisse zum Einsetzen und Abflauen
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der Walmdachpfarrhaus-Baukonjunktur und zu Schwerpunktbauphasen zu analysieren. Diese verglichen wir mit den Erkenntnissen, die aus einer Skala mit den nur
grob erfolgten Datierungen hervorgehen.218 Eine dritte, noch ungenauere Skala
diente der Analyse der Datierungen nach Jahrhunderten. Der Vergleich der verschiedenen Skalen miteinander und das Einordnen der exakten Datierungen in die Skala
nach Jahrhundertvierteln219, sowie anschließend das Einordnen beider Werte in die
Skala nach Jahrhunderten ergab, dass die sich abzeichnenden Bauphasen, ob en
gros oder en détail, übereinstimmende Kurven ergaben. Die mit exakten Datierungen, also weniger Zahlenmaterial bestückte Skala erwies sich trotz des möglichen
Zufallsfaktors als genauso zuverlässig wie die mit größeren Zahlenmengen geführten Skalen der Grobdatierungen. Die differenzierteren Pendelausschläge der Skala
mit exakten Datierungen können folglich mit hoher Wahrscheinlichkeit als zuverlässige Daten zur Baukonjunktur gelten.
Den Denkmallisten haben wir weiterhin die exakten Datierungen von Pfarrhäusern
mit anderen Dachformen entnommen und auf die Skala mit exakt datierten Walmdachpfarrhäusern übertragen, um periodisch unterschiedliche Bauphasen der Dachtypen beweisen zu können und um im Gegenschluss sicher zu gehen, dass die
Verwendung der Dachtypen nicht gleichmäßig parallel, also vollkommen beliebig
verlief, was bedeutet hätte, dass dem Walmdach eben doch keine besondere Bedeutung zukäme. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Addition der exakten Datierungen
von allen Pfarrhäusern auf einer gemeinsamen Skala – ohne Unterscheidung der
Dachform – spiegelt die Konjunkturphasen des Pfarrhausbaus insgesamt wieder.
Trotz dieser Begrenzung auf eine einzige Baugattung kann die Analyse ernst zu
nehmende Hinweise auf die allgemein gültigen Schwankungen der Baukonjunktur
vom 17. bis zum 19. Jahrhundert liefern. Selbst wenn man diese spezifische Erhebung als Quelle für die allgemeine wirtschaftliche Prosperität dieses Zeitraums nicht
gelten lassen wollte, ist ihre Aussagekraft als Indikator für ein Ausbauprogramm der
Verwaltungsstrukturen und damit für eine beabsichtigte Modernisierung des Staatswesens am Beispiel der nachweisbaren Investition in neue Amtshäuser zwingend.
Zur Zählung der Pfarrhäuser rechnen wir weitere Nutzungsbezeichnungen hinzu, die
der gleichen oder einer vergleichbaren Nutzung entsprechen, nämlich Pfarramt,
Pfarrhof, Messnerhaus, Kaplanshaus/Kaplanei, Küsterhaus, Kooperatorenhaus220,
Kuratenhaus221, Dekanat/Dekanei222, Superitendentur223, Benefiziatenhaus224,
Propstei225, Prälatenhaus/Prälatur226, Abtshaus227 und Gemeindehaus228. Nicht in
den bayerischen Listen, jedoch in denen anderer Bundesländer finden sich weiterhin
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die Nutzungsbezeichnungen Pastorenhaus/Pastorat (z. B. im Rheinland und in
Westfalen auch für den katholischen Priester), Äbtissinnenhaus, Kapitelhaus229,
Kanonikatshof/Kanonikerhaus230, Dom- oder Chorherrenhaus, Kurie/Curia231,
Archidiakonat232, Priorat233 und Rektorat234. Vereinzelt findet sich unser Bautyp
auch für Priesterhäuser anderer Konfessionen, so als Rabbinerhaus235, Haus des
Vorstehers der Wiedertäufergemeinde236 oder als Haus des Erzoberlenkers der
Christengemeinschaft237. Auch diese Nutzungen finden sich außerhalb Bayerns, so
dass sie die folgende Zählung nicht betreffen.
Alle diese Bezeichnungen zeigen die Verwendung unseres Bautyps für das Wohnhaus des obersten Geistlichen eines Ortes und lassen sich zu den Amtshäusern des
Klerus rechnen. Weitere Institutionen der Kirche finden sich in Gestalt unseres Bautyps, die sich jedoch nicht zu den Pfarrhäusern zählen lassen: Hospiz/ Pilgerhospiz,
Spital, Stiftshaus, Almosenhaus, Armenhaus, Kantorat238 und die von der Kirche
erbauten Schulhäuser.
Somit ergibt sich für Bayern die Zahl von 793 Walmdachpfarrhäusern. Darunter sind
69 eigene Zuschreibungen, die in den Denkmallisten geführt, jedoch nicht als Pfarrhäuser erkannt wurden. Von den 623 mit Konfession aufgeführten Pfarrhäusern sind
84% katholisch. Die anderen 101 evangelischen Pfarrhäuser sind keine zu vernachlässigende Größe, weshalb der Bautyp auf jeden Fall nicht als katholisch-barocker
oder gar gegenreformatorischer Bauausdruck angesehen werden kann.
Bei den grob nach Jahrhunderten datierten Häusern fällt auf, dass mit 77 die weit
überwiegende Zahl auf das 18. Jahrhundert geschätzt wurde, gegen fünf für das 17.
und 13 für das 19. Jahrhundert. Hinzu kommen 21 für die kombinierte Datierung
17./18. Jahrhundert und 22 für das 18./19. Jahrhundert, die die Waagschale noch
weiter für das 18. Jahrhundert einpendeln.
Bei den nach Jahrhundertvierteln datierten Häusern fällt zwar die höchste Zahl von
46 auf die "erste Hälfte" des 19. Jahrhunderts, doch das 18. dominiert auch hier in
der Summe.
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237: Bauphasen der Pfarrhäuser in Bayern nach den jahrgenauen Datierungen in „Denkmaltopographie
Bundesrepublik Deutschland“ (DT)
238: Bauphasen nur der Walmdachpfarrhäuser in Bayern nach den jahrgenauen Datierungen in DT
4.3. Indikator für Baukonjunktur
Die Kurvenanalyse der 459 jahrgenau datierten Walmdachpfarrhäuser, ergänzt
durch die exakt datierten Pfarrhäuser mit anderen Dachformen, ergibt folgende Beo-
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bachtungen: Eine leichte Bauaktivität erfolgt zwischen 1600 und 1625 fast ohne
Walmdachanteil (dabei sind möglicherweise irreführende Jahresinschriften an den
vereinzelten Walmdachhäusern zu bedenken). Diese lässt bis 1640 wieder nach und
setzt in den 40er Jahren vollkommen aus. Ein vereinzeltes Anklingen überwiegend
evangelischer Pfarrhäuser und nur mit Satteldächern erfolgt ab den 50er Jahren.
Erst um 1670 verstärkt sich die Bauaktivität239 und zeigt einen deutlichen Aufschwung in den 90er Jahren, erstmals mit einem kleinen Anteil an Walmdachhäusern.
Nach einem Einbruch kurz nach 1700240 erfolgt ein rasanter Anstieg241, der bis 1715
paritätisch von Sattel- und Walmdächern bestritten wird. Vereinzelt treten erste
Krüppelwalmdächer auf, ab 1710 die ersten Mansarddächer. Ab 1716 setzt eine
eindeutige Dominanz der Walme ein, bei konstant bleibendem Anteil der Satteldächer. In den 30er Jahren ist die Dominanz der Walme vollkommen, und ab 1736
geht der Anteil der Satteldächer immer weiter zurück. Auch die Krüppelwalme spielen durchgehend eine nur marginale Rolle. Allgemein ist eine Baukonjunktur von
1705 bis 1740 mit Höhepunkt um 1730 zu beobachten. Kurz nach 1740 erfolgt
wieder ein Einbruch242, um gegen 1750 wieder höchste Margen zu erreichen. Eine
gute gleichmäßige Bauaktivität kennzeichnet die 60er bis 90er Jahre des 18. Jahrhunderts mit einem nennenswerten Anteil an Mansarddächern von ca. einem Viertel
der Gesamtleistung. Ab 1795 lässt ihr Anteil jedoch wieder nach, um gegen 1810
vollständig zu verschwinden.
Die Zeit um 1800 ist durch eine Flaute geprägt, mit einem kurzen Aufflackern um
den Jahrhundertwechsel selbst. Erst gegen 1810 erfolgt nochmals ein Anstieg, der
von Walmen dominiert und von Krüppelwalmen unterstützt wird. Während Walme
von 1805 bis 1825 deutlich zurückgehen, füllen Krüppelwalme die Lücken zu einem
verhaltenen Konjunkturniveau auf. Ein erneuter Anstieg ohne dezidierte Höhen von
1825 bis 1840 ist wieder den Walmen zu verdanken (wobei fast nur noch flache unscheinbare Walme gebaut werden). Ab 1835 treten keine Krüppelwalme mehr in Erscheinung. Ein starker Einbruch um 1845 wird bis 1860 wieder etwas aufgefangen,
doch dann ist im Pfarrhaussektor nur noch eine marginale Aktivität zu beobachten.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts läßt diese Kurvenanalyse jedoch keine hinreichend zuverlässigen Beobachtungen zur allgemeinen Baukonjunktur zu, weil wir die
eindeutig als historistisch beschriebenen und neuen Bautypen folgenden Pfarrhäuser nicht in das Schema aufgenommen haben. Darüber hinaus werden die klerikalen
und hoheitlichen Bauaktivitäten größtenteils durch die privaten Investitionen des
bürgerlichen Unternehmertums abgelöst.
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239-240: Verhältnis der Dachformen der Pfarrhäuser in Bayern von 1700 bis 1873 nach den jahrgenauen Datierungen in DT
Trotz des stark selektiven Datenmaterials lässt sich eindeutig feststellen, dass unser
Bautyp mit hohem Walmdach von 1700 bis 1810/20 Konjunktur hat und diese Bautradition bis ca 1840 mit flachen Walmen weitergeführt wird. Weiterhin zeigt sich,
dass Satteldachpfarrhäuser keine vergleichbare Rolle spielen und dass Mansarddachpfarrhäuser als temporäre Erscheinung innerhalb dieses Zeitraums bzw. mit
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Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem kleinen Prozentsatz dem Walmdach die Aufgabe streitig machen, Bedeutung zu signalisieren, jedoch ohne es ablösen zu können. Nimmt man Mansard-, Sattel- und Krüppelwalmdächer zusammen, so erreichen sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
einen Anteil von ungefähr einem Drittel gegenüber zwei Dritteln Walmdächern.
Zählt man dieser Auswertung der exakt datierten Häuser noch die grob datierten
Walmdächer hinzu, dann verschiebt sich das Ergebnis hin zu einem enormen Übergewicht der Walmdächer und hin zum 18. Jahrhundert, mit einer Spitze in dessen
erster Hälfte: nach einem steilen Anstieg nach 1700 bildet sich eine Spitze um 1730.
Die Kurve beschreibt eine leichte Kuppel bis 1800, dann erfolgt ein sanfter Abstieg
bis 1850. Um 1860 ist wieder das Niveau von 1700 erreicht. Alle exakten und groben
Datierungen zusammenaddiert ergibt sich ein Verhältnis der Walmdächer zwischen
17., 18. und 19. Jahrhundert von 49:500:233 oder gekürzt 1:10:5.
4.4. Aufriss- und Grundrissbildung
Eine weitere statistisch auswertbare Zahlenmenge bietet die Erfassung der Fensterachsen anhand der Angaben in den Landkreisbänden. Hier konnte die Disposition
von 268 Walmdachpfarrhäusern erfasst werden, was Rückschlüsse auf die Grundrissbildung erlaubt, denn die Achsenzahl gibt Auskunft über die Relation von Breitund Schmalseite. Die Bandbreite reicht von 3:2 über 8:5 bis 10:4 Achsen. Der absolute Favorit ist die 5:3-Variante mit 23%. Sie kann damit als Grundmodell für unseren
Haustyp gelten. Alle Häuser mit fünfachsiger Breitseite zusammen betragen sogar
59%, gefolgt von den Vier- und Sechsachsern mit jeweils 10%, den Siebenachsern
mit 9% und den Dreiachsern mit 7%. Für die Schmalseite erwiesen sich drei Achsen
als Ideallösung mit 40%, gefolgt von vier Achsen mit 21% und zwei Achsen mit 15%.
Die Rangfolge der obersten Plätze ist: 5:3 (61 Häuser), 5:4 (39 Häuser), 5:2 (22
Häuser) und 4:3 (17 Häuser), 5:5 (11 Häuser) sowie 3:3 und 6:3 (jeweils 9 Häuser).
Überträgt man diese Vorlieben auf ein Grundrissschema, dann zeigt sich, dass die
ersten sechs Positionen zum Vier-Felder-Grundriss mit mittigem Erschließungsflur
passen. Er lässt sich wie ein Modulsystem erweitern, aus dem der Sechs-FelderGrundriss mit oder ohne Mittelflur sowie die U-förmige Raumordnung um eine Eingangshalle herum hervorgehen. 243
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241: Grundrissschemata
Nicht gezählt haben wir den Anteil der Stockwerke, denn das zweistöckige Pfarrhaus
ist der eindeutige Regelfall. Dreistöckige Pfarrhäuser sind selten und einstöckige
Bauten kommen so gut wie nicht vor. Die Tatsache, dass auch die kleineren dreiachsigen Pfarrhäuser quantitativ auf den hinteren Rängen platziert sind, zeigt einen
bestimmten Mindestraumbedarf, bzw. einen für Pfarrhaushalte geltenden grundsätzlichen Lebens- und Repräsentationsstandard. Goethes Gartenhaus entspricht
daher nicht dem in der Praxis vorherrschenden Standardtyp, sondern gewissermaßen dem Grundtyp als theoretischem kleinstem Ausgangspunkt des Modulsystems.
Eine überraschende und weitreichende Grundcharakteristik erbrachte erst die persönliche Inaugenscheinnahme der Pfarrhäuser: im Regelfall ist die Rückseite asymmetrisch gestaltet. Die Anlage von Tür und Fenstern erfolgt dort nach rein funktionalen Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit. Die Analyse von weiteren, in der Sekundärliteratur zugänglichen Pfarrhausgrundrissen bestätigt diese Beobachtung, der wir
bereits bei Goethes Gartenhaus244 oder dem Jagdhaus Gabelbach245 begegneten.
Tatsächlich wurde diese Eigenart von den Verfassern der Denkmallisten vollkommen ignoriert. Sie wirft ein neues Licht auf die "Entdeckung" funktionalistischer
Prinzipien im 20. Jahrhundert und auf das ritualisierte Spiel mit Asymmetrien bei den
Architekten der traditionalistischen Moderne. Die weit verbreitete Schwarz-WeißMalerei von der starren unpraktischen Regelmäßigkeit barocker Repräsentationsarchitektur im Gegensatz zu den nutzungsorientierten Neuerungen der Moderne
muss damit relativiert werden. Die Praxis des Fassadenaufbaus nach den Erfordernissen des Innenraums hat tatsächlich eine längere Tradition. Sie bekommt durch
die punktuelle Anwendung an den exponierten Pfarrhäusern einen gestalterischen
Aspekt, der die bewusste Wahrnehmung stärker herausfordert, als es die ebenso
181
funktions-orientierten aber "banaleren" Bauernhäuser bewirken.246 Gelegentlich
können Achsenordnungen mit asymmetrischen Teilbereichen auch an der Vorderseite vorkommen, wie wir es bereits an Körners Weinberghaus oder Rousseaus Les
Charmettes beobachten konnten. Doch eine totale Unregelmäßigkeit erlaubte man
sich nur an der Rückseite. Demnach wurde deutlich zwischen dem ordentlichen
Erscheinungsbild der Schau- bzw. Straßenseiten und der von der Öffentlichkeit
abgewandten privateren Seite unterschieden.
Nun stellt sich die Frage, ob durch die Ordnung der Vorderseite Nachteile in der
Nutzung der Innenräume in Kauf genommen wurden. Die Grundstruktur des angewandten Grundrisstyps ermöglicht jedoch eine durchaus sinnvolle Belichtung der
größeren Zimmer mit dem regelmäßigen Fensterabstand. Das Achsensystem steht
also der Funktionalität in diesem Bereich nicht im Wege. Wo Küche, Abort, Treppenhaus oder kleine Kammern räumliche Differenzierungen des Grundrisses erforderten, damit Verschiebungen des Achsensystems mit sich brachten und weniger oder
kleinere Fensteröffnungen erwünscht waren, wurden diese Raumfunktionen in den
rückwärtigen Bereich des Hauses eingeplant. Diese Disposition achtet dann allerdings nicht auf die Himmelsrichtung und günstige Besonnung. Bei vielen Pfarrhäusern bietet sich auf dem Areal des Kirchhofs allerdings genügend Spielraum für die
freie Ausrichtung. Oft findet man eine auf den Eingang der Kirche hin orientierte
Hauptfassade. Da die Kirchen üblicherweise geostet sind und ihr Eingang dann
meistens im Westen liegt, kann die Eingangsseite des Pfarrhauses mit den Hauptwohnräumen dann ebenfalls nach Westen oder Süden zeigen. Wie schon erwähnt,
ist unser Typgrundriss aber auch flexibel genug, um den Eingang mit der Schaufassade auf die Schmalseite zu legen.
Auch kleine Kellerfenster sind eine Notwendigkeit, die auf der Rückseite zur Asymmetrie beitragen können. Hier kommt eine weitere Besonderheit der Pfarrhäuser
zum Tragen: ihre teilweise Unterkellerung, die oft jedoch nicht vollständig unter der
Erde liegt, sondern als Halbgeschoss emporragt und damit zur stattlichen Höhe des
Baus beiträgt. Das erhöhte Erdgeschoss vermittelt dann zusätzlich eine distinguierte
Position gegenüber den ebenerdig zugänglichen Bauernhäusern. Oft führt eine zweiläufige Treppe zum Eingang hinauf. Ihr über dem Straßenraum thronender Podest
verschafft dem Hinaustretenden gleichsam einen herrschaftlichen Auftritt in die
Öffentlichkeit. Unter dem Podest, also unmittelbar unter der Eingangstür, findet sich
häufig der Kellerzugang. Immer wieder fanden sich Beispiele für die Ausnutzung
eines abfallenden Geländes zur Anlage des Kellers, um den aufwändigen Erdaushub zu minimieren. Da in der Regel nicht die gesamte Grundfläche unterkellert
wurde, sondern nur ein Teil davon, ergibt sich die Asymmetrie, die sich mit den
182
Kellerfenstern an der Fassade abzeichnet und offensichtlich zu einer bewussten
freien Komposition des Aufrisses Anlass bot. Besonders auffällig ist diese Gestaltung, wenn der Keller nicht in die Erde abgesenkt, sondern in eine Hälfte des Erdgeschosses gelegt ist. Dies kann der Fall sein, wenn der hohe Grundwasserspiegel
wegen eines nahen Bachlaufs eine Unterkellerung verhindert. Eine separate Eingangstür zu diesem Keller (damit die Materialien nicht durch den Wohnungsflur
transportiert werden müssen), geschlossene Wandflächen und kleine Belüftungsfenster kennzeichnen diesen Bereich und bedingen ein gestalterisches Gesamtkonzept der betreffenden Fassade.
4.5. Geographische Verbreitung
Aus der geographischen Auswertung der Standorte der Walmdachpfarrhäuser lässt
sich erkennen, dass es zunächst eine recht gleichmäßige Streuung auf dem Gebiet
des heutigen Bundeslandes Bayern gibt. Mit Ausnahme von Starnberg hat jeder
Landkreis mindestens einen, meistens jedoch mehrere Standorte aufzuweisen. Über
dieser Grundstruktur lässt sich eine Verdichtung beobachten, die sich in einem breiten diagonalen Streifen vom Nordwesten des Regierungsbezirks Schwaben über
das gesamte Mittelfranken (mit Ausnahme des Landkreises Nürnberger Land) und
Oberfranken erstreckt und auch das südliche Unterfranken mit einbezieht. Auch in
den nördlichen und westlichen Gebieten des Regierungsbezirks Oberpfalz finden
sich Häufungen.
Dass im südlichen Niederbayern, in Oberbayern und dem im Süden des Regierungsbezirks Schwaben liegenden Allgäu eine geringere Dichte von Walmdachpfarrhäusern zu finden ist, lässt sich mit den im schneereichen Voralpenland traditionell
gebräuchlichen schwachgeneigten Dachformen erklären. Wir registrieren hier tatsächlich vermehrt flachgeneigte Walmdächer, die sich folglich nicht mehr so deutlich
von ihrer Umgebung absetzen können und daher seltener verwendet werden. Ausnahmen wie das Pfarrhaus am Weißensee bei Füssen sind dennoch zu beobachten.
Hinweise zur Erklärung der übrigen Ballungszentren liefert die Berücksichtigung der
zerstückelten Landesherrschaften während der unsere Häuser betreffenden Bauphase. Nur der Regierungsbezirk Niederbayern, der größte Teil von Oberbayern und
die Oberpfalz gehörten bis Ende des 18. Jahrhunderts zum Kurfürstentum Bayern.
Die anderen Teile waren in verschiedenste, teilweise nicht zusammenhängende
kleinteilige Besitzungen aufgeteilt.
183
242: Verbreitung der Walmdachpfarrhäuser in Bayern
Nehmen wir das Beispiel des Regierungsbezirks Mittelfranken, so gehörte damals
sein größter Teil zum zu Preußen zählenden Fürstentum Brandenburg-Ansbach.
Beträchtliche Besitzungen hatten die freien Reichsstädte Nürnberg und Rothenburg.
Auch Windsheim verfügte als freie Reichsstadt über eigene Ländereien. Mitten im
Hoheitsgebiet von Brandenburg-Ansbach lagen zudem Besitzungen des Fürstentums Hohenlohe, des Bistums Eichstätt und einzelner Reichsritterschaften. Dass
beinahe ganz Mittelfranken um 1750 evangelisch war und sich hier auch viele der
erfassten evangelischen Pfarrhäuser finden, bestätigt unsere These von der konfessionsungebundenen Verwendung der Walmdachpfarrhäuser.247
Auch in Oberfranken – um 1750 etwa zur Hälfte evangelisch – findet sich die Erklärung für diese Konfessionsbindung in der dortigen Lage des Fürstentums Branden-
184
burg-Bayreuth (wie Brandenburg-Ansbach zur fränkischen Linie von Preußen/
Hohenzollern gehörig) und eines Teils des Herzogtums Sachsen-Coburg. Die
katholischen Teile Oberfrankens waren im Wesentlichen Besitzungen des Bistums
Bamberg.
Der Regierungsbezirk Schwaben – als letztes Beispiel – zeigt um 1750 nur kleine
evangelische Einsprengsel durch die Besitzungen der freien Reichsstädte Augsburg,
Ulm, Kaufbeuren und Nördlingen. Den größten Anteil am katholischen Gebiet hält
das Bistum Augsburg. Unter anderem sind aber auch beträchtliche Landesteile im
Besitz des Kurfürstentums Bayern, des Fürstentums Pfalz-Neuburg, der Abteien
Ottobeuren und Irsee sowie der Grafschaften Öttingen im Norden und Rothenfels im
Süden westlich der Iller.
Wenn man sich diese Vielfalt an Landesherrschaften vergegenwärtigt, wird klar,
dass man den Pfarrhausbau nicht als Ergebnis einer zentral geplanten kirchlichen
oder weltlichen Verwaltung auf einem politisch einheitlichen Territorium sehen darf.
Einer höheren Pfarrhausdichte begegnen wir eher in Gebieten mit kleinteiligen Strukturen, wo auch zerstückelte, nicht zusammenhängende Teile von derselben Herrschaft verwaltet werden mussten. Wahrscheinlich nötigte gerade diese geographische Erschwernis der Gebietsverwaltung zum Aufbau regionaler Verwaltungsstützpunkte.
In manchen geistlichen Territorien kann eine leicht höhere Pfarrhausdichte beobachtet werden, wie zum Beispiel im Bereich der Bistümer Passau und Freising mitten im
kurbayerischen Territorium, oder eine hohe Dichte im Bistum Bamberg. Andererseits
stechen aber die Bistümer Eichstätt oder Besitzungen der Bistümer Mainz (westliches Unterfranken um Aschaffenburg) und Fulda (nördliches Unterfranken um
Hammelburg) mit auffallend wenigen Walmdachpfarrhäusern heraus. Und südlich
des Bistums Würzburg (Landkreis Kitzingen) findet sich eine hohe Pfarrhausdichte
gerade auf den evangelischen Territorien freier Grafschaften und der brandenburgischen Gebiete. Wie überhaupt die Fürstentümer Brandenburg-Ansbach und
Brandenburg-Bayreuth, letzteres mit weit verstreuten Territorien, eine sehr hohe
Dichte aufweisen. Die Initiative zum Bau der Walmdachpfarrhäuser erfolgt also
unabhängig von weltlichen oder geistlichen Landesherrn. Sie ist auch nicht an die
Grenzen einzelner Herrschaftsgebiete mit ursächlichen Traditionen, Einflüssen,
Vorbildern oder Bauordnungen gebunden, sondern stellt eine übergreifende, wenngleich regionale Zeiterscheinung dar. Gebietsgewinne, wie die seit 1777 mit Bayern
vereinigten Gebiete der Kurpfalz (Rheinland-Pfalz), Pfalz-Neuburg, Pfalz-Sulzbach,
Jülich und Berg (letztere in Nordrhein-Westfalen), können zum Ausbau der Verwaltungsstrukturen geführt haben, so wie andererseits die Säkularisation der geistlichen
185
Territorien anlässlich des Reichsdeputationshauptschlusses im Jahre 1803 für
Bayern eine Saturierung mit bereits existierenden Pfarrhäusern in den neu hinzugewonnenen Territorien bedeutete.
5. Amtshaus und Walmdach
5.1. Amtshausgattungen
Bevor wir weitere geographische, wirtschaftliche und politische Kriterien zur Klärung
hinzuziehen, müssen wir verdeutlichen, was die Walmdachpfarrhäuser mit der allgemeinen Verwaltungsthematik zu tun haben. Dabei hilft uns wiederum die Liste der
bayerischen Denkmäler. Filtert man sämtliche Gebäude heraus, die mit Walmdächern gebaut wurden, so erhält man auf den ersten Blick ein Kaleidoskop aller nur
erdenklichen Nutzungen. Erst wenn man sie zu Sachgruppen ordnet, kristallisiert
sich ihr gemeinsamer Nenner heraus. Wir konstatieren Ämter im engeren Sinn (57),
Bauten der kommunalen Verwaltung (49), der Jagd- und Forstverwaltung (78), der
herrschaftlichen Versorgung (18), der Justiz (21), der Finanzverwaltung ("Fiskus")
(118) und des Klerus (17 ohne die bereits zu den Pfarrhäusern gerechneten Bezeichnungen).
Bei den Ämtern begegnet man den Bezeichnungen Amtshaus, Amtshof, Oberamtshaus, Amtmannshaus, Beamtenhaus und Amtsknechtshaus.
Zur kommunalen Verwaltung rechnen: Gemeindekanzlei, Pflegeamtshaus248, Pfleghaus, Spitalpflegerhaus, Spitalverwaltung, Spitalversorgungshaus, Stadtschreiberhaus, Wegmacherhaus, Fährhaus, Schultheißenhof 249, Verwalterhaus, Gutshaus,
Gutsverwaltung, (Ober-)Vogtshaus/Vogtei250, Landsassengut251, (herrschaftlicher)
Ansitz, Herrenhaus und Herrensitz. Nicht mitgezählt haben wir die zahlreichen Rathäuser mit Walmdächern, denn oft handelt es sich bei ihnen um Bauten, die erst
später zu Rathäusern umfunktioniert wurden.
Zu den Bauten der Jagd- und Forstverwaltung zählen: Forsthaus, Forstamt, Forstdienststelle, Försterhaus, Wildmeisterhaus, Jägerhaus, Jagdhaus und Jagdschlösschen252.
Zur herrschaftlichen Versorgung rechnen wir: Ökonomie, Meierhof253, Hofmeisterei,
Schweizerhaus254, Schlachthof, (Kloster-)Schafhof, Wagnerei, Kutscherhaus,
Fohlenhof, Gärtnerhaus, Falknerei, Menagerie255, Kloster- und Schlosswirtschaft
und "Taferne".
Bauten der Justiz begegnen wir mit: Pfleggericht, Amtsgericht, Richterhaus, Richterstock, Gerichtshalterhaus, Klosterrichterhaus, gutsherrschaftliches Gericht, Gefängnisgebäude und Fronfeste.
186
Der Fiskus tritt direkt in Erscheinung mit: Finanzamt, Rentamt256, Rentamtmannshaus, Zollamt, Zollhaus und Mauthaus257. Weitere Gebäude stehen mit indirekten
Steuern und Abgaben in Verbindung: Zehnthof, Kastenamt258, Kastenhof, Kastenhaus, Kastnerhaus, Kornkasten, Brauhaus, Mühle, Weingut, Keller259, Sommerkeller, Fischerhaus, Fischmeisterhaus, Schmalzwaage, Salinenverwaltung, Hallgebäude, Hammerhaus260, Hammerhof, Hammergut, Hammerwerk, Hammerschloss, Hammermühle, Hammerschmiede, Eisenhammer, Eisenamtshaus, Bergmeisterhaus, Bergamt und Brechhaus261.
Zu den bereits genannten Bauten des Klerus262 kommen noch hinzu: Schwesternwohnhaus, Hospiz, Chorknabenhaus, klösterliches Waschhaus, Armenhaus und
Almosenstiftung. Nicht genau erfasst haben wir die Zahl der Schulhäuser, die ebenfalls häufig Walmdächer haben. Teilweise unterstehen sie der kommunalen Verwaltung. Oft werden sie aber auch von der Kirche bezahlt, stehen unter ihrer Aufsicht
und liegen in der Nähe oder sogar auf dem Areal des Kirchhofs. Die Lehrer wurden
dann zum Kirchenpersonal gerechnet und von der Kirche versorgt. Sie waren
zugleich Messner, Kantor und oft auch Dorfschreiber.263
Während die Jagd- und Forsthäuser teilweise zur Verwaltung und teilweise zur herrschaftlichen Versorgung gezählt werden könnten, haben wir sie ebenso wie die
Bauten der Justiz oder des Fiskus separat aufgelistet, um ihre mit einer hohen Zahl
einhergehende Sonderfunktion herauszustellen. Aus dem Verwaltungsaufbau und
den Zuständigkeiten der damaligen Amtmänner ergibt sich eine weitreichende Überschneidung fiskalischer, juristischer und exekutiver Aufgaben. Wenn wir nun die
meisten dieser Nutzungsbezeichnungen unter der Rubrik der Amtshäuser zusammenfassen können, so bleiben doch einzelne Nutzungen – etwa die Schulhäuser –
im engeren Sinn des Amtsbegriffs außen vor. Ein gemeinsames Merkmal ist dennoch, dass ihre Funktionen oder die Tätigkeit ihrer Bewohner mit einer hoheitlichen
Aufgabe (wie dem Unterrichtswesen), einer herrschaftlichen Erlaubnis (wie der Salzgewinnung und Eisenerzeugung, dem Mahlen und vor allem dem Abwiegen der
Feldfrüchte) oder einem Privileg in Verbindung stehen (etwa dem Jagd- und
Fischereirecht), also einen offiziellen Anspruch vermitteln. Bei einem Armenhaus,
einem Pilgerhospiz oder einem Spital signalisiert das Walmdach, dass es sich um
Stiftungen handelt, die von einer offiziellen Seite gefördert werden. Die Stärkung der
Wirtschaftskraft im Interesse des Souveräns war auch verbunden mit der Ausbildung
eines aufgeklärten Wohlfahrtsstaats. Damit einher ging die Förderung des Kranken-,
Wohlfahrts- und Schulwesens und die Ausstattung dieser Einrichtungen mit Sonderrechten. Sonderrechte können Befreiungen sein, konkret von Steuern und Abgaben.
187
243: Armenhaus, Günzhofen (Bayern)
244: Spital, Laupheim (Baden-Württemberg)
Damit wäre auch wieder eine Verbindung zum Fiskus hergestellt: Nicht nur Häuser
von Personen, die Steuern erlassen, eintreiben oder kontrollieren, können mit dem
Walmdach als Hoheitszeichen gekennzeichnet sein, sondern auch Häuser, in denen
Naturalabgaben gesammelt werden (Kornkasten, Sommerkeller, Zehnthof), weiterhin Häuser, in denen mit Steuern belegte Waren hergestellt werden, deren Betreiber
also das Privileg bzw. die Pflicht haben, Steuern zu erheben (Brauhaus, Gasthaus
mit Braurecht, Kelterei, Mühle, Hallgebäude, Fischerhaus, Gebäude der Erzgewinnung und Metallverarbeitung sowie Zoll- und Mauthäuser an Straßen, Flüssen,
Landes- oder Stadtgrenzen, womit auch die Walmdächer auf Stadttoren erklärt
werden können).
245: Stadttor, Börsch (Elsaß)
246 Stadttor, Angermünde (Brandenburg)
188
Auf Mühlen, Keltereien, Brauhäusern aber auch auf kleinen Backofengebäuden lag
zudem ein Bann- und Zwangsrecht, d. h. man durfte nur in diesen Einrichtungen die
entsprechende Leistung vornehmen lassen, denn ihre Maße und Gewichte waren
amtlich geeicht und wurden regelmäßig überprüft. Auch konnte der Landesherr so
die Einnahmen kontrollieren. Wegen der Bedeutung der Grundnahrungsmittel für die
Bevölkerung bestand zuweilen auch ein besonderer Rechtsschutz für diese Bauten:
Die Landfriedensordnungen zählten die Mühlen zu den befriedeten Orten, was sie
vor Gewalteinwirkung in Kriegszeiten schützen sollte.264
Ebenso betroffen sind Häuser von Personen, die besondere Rechte ausüben oder
kontrollieren (Vögte, Landsassen, Schultheiße, Richter, Kastner, Förster, Jäger,
Schleusenwärter), aber auch Häuser, deren Bewohner per Dekret das Privileg der
Steuerfreiheit genießen. Von Steuerzahlungen befreit ist pauschal der Adel (Schlösser, Hofgüter, herrschaftliche Versorgungseinrichtungen) und der Klerus (vom Abtshaus bis zum Klosterwaschhaus)265, aber auch weitgehend die Beamtenschaft und
alle Staatsdiener (von den Räten über die Verwalter von Hofgütern bis zu Stadtschreibern und Amtsknechten)266, zuweilen die Juden ("Judenhäuser", Synagogen267), gemeinnützige Einrichtungen (Spitäler, Waisenhäuser etc), das Militär (Kasernen) und militärpflichtige Ritterschaften (Herrenhäuser etc).268 Dabei gibt es viele
regionale Sonderfälle und Einzelregelungen. Stadtneugründungen, in denen Bürger
angeworben werden sollen, können befristet steuerbefreit sein, wie zum Beispiel
Sankt Georgen bei Bayreuth. Auch das Postwesen zählte zu den öffentlichen Diensten und unterlag Privilegien, die sich in den mit Poststation und Pferdehof verbundenen Gasthäusern mit Walmdach widerspiegeln.269
In diesem Zusammenhang wird die Parallelität deutlich, dass der Pfarrer nicht nur
eine Person ist, die das Privileg der Steuerfreiheit genießt, die keine sonstigen
Abgaben oder Frondienste leisten muss und von der Einquartierung mit Soldaten
befreit ist, sondern auch Steuern eintreibt, nämlich die Zehntabgabe. Pfarrhaus oder
Speichergebäude auf dem Areal des Pfarrhofes dienen demnach auch als Zwischenlager für diese Naturalabgaben, die zum großen Teil dem Landesherrn
zustehen.270
Nun kann es aber nicht das Ziel der Walmdachverwendung gewesen sein, Häuser
zu kennzeichnen, deren Bewohner steuerbefreit sind. Dieses Privileg ist nur eines
von verschiedenen Indizien für den besonderen rechtlichen Status oder auch nur
das soziale Prestige. Bei unserer Forschung begegneten wir allerdings keiner
schriftlichen Verfügung, die in einem konkreten Herrschaftsbereich für bestimmte
Nutzungen ein Walmdachgebot oder für alle Übrigen ein Walmdachverbot vorgeschrieben hätte. Dabei sind die fürstlichen Bauordnungen in unserer Periode an
189
247: Synagoge, Baisingen (Baden-Württemberg)
248-250: Projekt für Synagoge mit Judenschule, Heiligenstadt (Bayern) 250: Erdgeschoss
251-252: Waisenhaus, Hamm (Westphalen)
252: Erdgeschoss
190
exemplarischen Beispielen gut erforscht.271 So müssen wir von einem unausgesprochenen Konsens in der Baupraxis ausgehen, der sich in seiner Tendenz, jedoch
nicht mit ausnahmsloser Eindeutigkeit zeigt. Er schlägt sich auch in den zeitgenössischen Bauhandbüchern nieder.272
5.2. Bürgerliche Beamtenschaft
Gelegentlich verzeichnen die Denkmallisten auch noch weitere gewöhnliche Wohnhäuser mit Walmdächern, denen keine besondere Nutzung zugeschrieben werden
kann. Wir können für diese Fälle von zwei Erklärungsmöglichkeiten ausgehen: Zum
einen kann es sich um Wohnhäuser von ehemaligen Amtsträgern handeln, wie zum
Beispiel beim Haus des Bürgermeisters von Bremen, dessen Amtssitz zwar das
Rathaus ist, der seinen Status aber auch in seinem Wohnsitz manifestiert. Daraus
wird auch deutlich, dass die Dachform kaum in einer Bauordnung reglementiert
werden konnte, denn die Erben eines Bürgermeisterwohnhauses konnten natürlich
nicht veranlasst werden, das Dach auszuwechseln, wenn der Bewohner nicht mehr
die gleiche Amtsfunktion ausübte. So dürften viele heute normal erscheinende
Walmdachhäuser auf die Autorität, Funktion und gesellschaftliche Stellung ihres
253: Wohnhaus des Bürgermeisters, Bremen
Erbauers hinweisen. Ein Ziel der kostspieligen Verwendung des Walmdachs war
demnach die Abgrenzung einer Elite vom übrigen Volk, die sich auch im in dieser
191
Epoche aufkommenden Begriff der "Distinktion" äußert. Interessanterweise beobachten wir bei diesem Erkennungszeichen die Egalisierung der alten und neuen
Eliten, nämlich des Adels und Klerus einerseits und des Beamtenapparats andererseits, der sich aus niederem Adel und Bürgern zusammensetzte und die einzige
Möglichkeit für das Bürgertum darstellte, in den Amtsadel aufzusteigen.273 Dieser
soziale Aufstieg wurde von den Regenten sogar gezielt gefördert – insbesondere in
Bayern – , um den Einfluss des konkurrierenden Hochadels zu minimieren und in
diesem Sinne auch die absolutistische Herrschaft zu sichern.274
5. 3. Hierarchisierung der Gesellschaft
Der zweite Aspekt der normalen Walmdachhäuser ohne besondere Zuordnung liegt
in der allmählichen Herausbildung der neuen bürgerlichen Kultur, wie wir sie im
ersten Kapitel beschrieben haben. Auch diese Tendenz bestätigt sich in den
Bauhandbüchern des späten 18. Jahrhunderts mit ihren Beispielen für Wohn- und
Gartenhäuser.275 Der Hintergrund einer Tätigkeit im Öffentlichen Dienst, also einer
Anstellung bei Hofe oder bei herrschaftlichen Behörden zeichnete sich bereits bei
den Beispielen der Häuser von Rousseau, Goethe, Körner und Wieland ab.276 Der
Zusammenhang zwischen den Amtshäusern im engeren Sinne, den Wohnhäusern
von Amtsträgern und den rein bürgerlichen Wohnhäusern legt die Vermutung nahe,
dass sich diese bürgerliche Gesellschaft primär aus den Kreisen der Beamtenschaft
heraus entwickelte. Die historisch-soziologischen Untersuchungen zum Bürgertum,
zur Beamtenschaft und zu Verwaltungsstrukturen der frühen Neuzeit bestärken
diese Vorstellung weitgehend.277 So zeigt beziehungsweise bestätigt sich anhand
unseres Bautyps, dass dieses Bürgertum eng mit dem etablierten Herrschaftssystem und seinem Staatsapparat verbunden ist. Es steht in seinen Diensten, ist von
ihm abhängig und wirkt im eigenen Interesse an der weiter differenzierenden
Ausgestaltung dieser gesellschaftlichen Gliederung mit. Vergegenwärtigt man sich
die formalen Gesichtspunkte des Walmdachhauses, die es von anderen Haustypen
absetzt, so kann man feststellen, dass dieses Bürgertum sich deutlich vom Bauernstand und der städtischen Gesellschaft der Handwerkszünfte distanziert, und dafür
die Nähe der etablierten Eliten anstrebt. Die Vorstellung einer Emanzipation des
Bürgertums ist demnach nicht im Sinne einer Befreiung von den absolutistischen
Machtverhältnissen und im Gleichschritt mit egalisierenden oder sogar revolutionären Tendenzen ihrer Zeit zu interpretieren, sondern scheint sich vielmehr in
einer verfeinerten Hierarchisierung der Gesellschaft niederzuschlagen. Das Amtsbürgertum richtet sich eine eigene gesellschaftliche Stellung ein, die es vom dritten
Stand emporhebt, die es an den Herrschaftsapparat bindet und den etablierten
Eliten annähert. Damit erhält das Amtsbürgertum einige Privilegien, die zuvor dem
192
ersten und zweiten Stand vorbehalten waren.278 In gewisser Weise tritt das Amtsbürgertum in Konkurrenz zu Adel und Klerus. Anfänge dieses gesellschaftlichen
Prozesses lassen sich bis ins späte Mittelalter zurückverfolgen, doch seinen deutlichen baulichen Niederschlag findet er erst in unserer Periode ab dem Ende des 17.
Jahrhunderts. Die repräsentative Verbreitung dieser Amts- und Bürgerhäuser kann
als Zeichen für die allmähliche Verwirklichung dieses Prozesses zu einer gesellschaftlichen Realität angesehen werden.
5.4. Modernisierung des Staatswesens
Diese gesellschaftliche Veränderung erfolgt zugleich im Interesse der Regenten und
vollzieht sich in diesem Zeitraum umso leichter, weil die Regenten den ursprünglichen Gegensatz zwischen Absolutismus und Aufklärung überwinden und in die
Symbiose eines aufgeklärten Absolutismus überleiten. Dem Aspekt der Hierarchisierung der Gesellschaft (unter dem wir die nicht eindeutig abgrenzbaren Tendenzen
der Differenzierung des dritten Standes einerseits und der Egalisierung der Eliten
andererseits zusammenfassen) tritt die erklärte Absicht der Monarchen hinzu, den
Staatsapparat zu modernisieren und damit ihre Herrschaft zu sichern. Diese Modernisierung zielte in erster Linie über die Förderung des Merkantilismus sowie die
Hebung des Lebensstandards und des Bildungsniveaus der Bevölkerung auf die
Steigerung des Steueraufkommens und damit der finanziellen Einnahmen. Diesem
Zweck diente der Ausbau der Verwaltungsstrukturen und die personelle Aufstockung
der Beamtenschaft, um die Steuern und Abgaben vor dem Hintergrund eines beträchtlichen Bevölkerungswachstums effektiver erheben zu können.279 Selbst der
Ausbau der Verkehrs- und Kommunikationswege (Postwesen) verfolgte nicht nur die
langfristig angelegte Perspektive, die Infrastruktur zu stärken, sondern auch den
Transitverkehr über das eigene Territorium zu leiten und Zolleinnahmen daraus zu
erzielen.280 Die Rent-, Maut- und Zollhäuser an Straßen, Brücken und Flüssen dienten diesem Zweck. Zerstückelte Territorien und vielfältige Grenzverläufe machten die
Vermehrung der Kontrollstellen notwendig. Überdies profitierte der Staatshaushalt
von den Einkünften der Bürger am Speditionswesen, an der Bewirtung der Reisenden, der Versorgung der Pferde und Reparatur der Fuhrwerke etc. Von großer Bedeutung war für Bayern die Kontrolle des Getreide- und Fleischexports, das Produktions- und Handelsmonopol auf Salz und die Förderung der Metallverarbeitung.281
Holz diente nicht nur als zentraler Energieträger. Die Forstwirtschaft verwaltete es
als Rohstoffreserve und Finanzquelle.282 Und gerade in diesen Wirtschaftszweigen
beobachten wir die Errichtung von Walmdachhäusern für Verarbeitungsbetriebe und
Kontrollorgane. Das Walmdachhaus erscheint somit im Kontext merkantilistischer
Wirtschaftspolitik. Das allgemeine Bevölkerungswachstum im 18. Jahrhundert 283 ist
193
einer der Anschübe für einen Ausbau der Verwaltung und der Beamtenschaft, so
dass die Ausweitung des öffentlichen Dienstes als ein Kennzeichen des absolutistischen Zeitalters zu sehen ist. Rauh 284 gibt für die Zeit von 1749 bis 1799 eine
nachweisliche Verdoppelung des Behördenpersonals am bayerischen Hof auf 2200
Personen an, schätzt aber den Zuwachs mitsamt der Unterbehörden auf eine Versechsfachung. Durch die Selbstverwaltung der einzelnen Dienststellen wusste die
Staatsleitung allerdings selbst nicht, wieviele Bedienstete die Verwaltung umfasste
und wie viel die Außenbeamten der Unterbehörden verdienten bzw. wieviel sie unberechtigt einbehielten. Diverse Reformversuche zur Kontrolle scheiterten an der
Verschleppung und Verschleierung durch die Beamtenschaft selbst.285
Der Ausbau dieser Verwaltungsstrukturen kommt wiederum dem Interesse des
gebildeten Bürgertums sehr entgegen. Denn im Unterschied zum alten Adel, der die
höchsten und damit oft nur repräsentierenden Posten der Verwaltung für sich beanspruchte, durchliefen die Kinder des höheren Amtsbürgertums eine akademische
Ausbildung, für die in den tatsächlich ausführenden Ebenen des Beamtenwesens
ein standesgemäßes Berufsfeld mit lukrativen Einnahmequellen und teils erblichen
Posten bestand.286 Da die Zünfte auf ihren restriktiven Bestimmungen und Besitzständen beharrten und die merkantilistischen Bestrebungen behinderten, wurde der
Staatsdienst zu einer der wenigen Alternativen für junge gebildete Bürgerliche und
nachgeborene Adelssöhne. Die ökonomische Entwicklung zeigt parallel dazu die
Stagnation der alten Handels- und Gewerbestädte und die Prosperität der teils neu
angelegten Residenzstädte.287 Somit erscheint der im 18. Jahrhundert im Zuge der
Aufklärung in vielen Ländern erfolgte Modernisierungs- und Liberalisierungsschub
als ein vom Staat beziehungsweise dem Fürsten eingeleiteter Impuls, an dem das
Bürgertum wenig initiative Beteiligung hatte. Gleichwohl profitierte das Amtsbürgertum erheblich davon und trug die Entwicklung als reaktive Kraft mit. Nachdem die
ersten komfortablen und ansehenssteigernden Amtshäuser aufgetaucht waren,
dürfte sich ein Dominoeffekt eingestellt haben: Die Amtmänner werden wie die
klerikalen Zehntherren288 im eigenen Interesse für moderne Neubauten aktiv
geworden sein.
Möglicherweise sind diese baulichen Zeugnisse im heutigen Bayern ein Zeichen für
einen sorfältig vorangetriebenen und auf langfristige Ergebnisse zielenden Reformprozess, der mit beträchtlichen Investitionen in die Infrastruktur einherging. Allerdings kamen nach den Territorialneuordnungen von 1803 und 1815 die Erlöse gar
nicht mehr denjenigen Regenten und Landesherren zugute, die die Reform initiiert
hatten. Der bürgerlichen Beamtenschaft wurde eine wesentliche Rolle bei der Vollendung des absolutistischen Staates zugesprochen289: Anstelle der alten feudalen
194
Anarchie habe sie zu einem einheitlichen Untertanenverband mit wirtschaftlicher
Kraft im Dienste des Staates beigetragen und der Zentralgewalt zu einer Stärkung
gegen die provinziellen und ständischen Kräfte verholfen. Der sich etwa ab 1740
etablierende aufgeklärte Absolutismus habe im Interesse einer höheren Effizienz der
Verwaltung, die Bürokratie als technisches Machtmittel ausgebaut. Die reformfähigen Monarchien seien dadurch gefestigt gewesen und hätten im Gegensatz zur
reformunfähigen französischen Monarchie keine Revolution erleiden müssen. Die
Walmdachamtshäuser könnten folglich nicht nur einen Modernitätsaspekt verkörpern, sondern aus der Beteiligung an der absolutistischen Systemsicherung heraus
für die Landbevölkerung auch ein subtiles Unterdrückungssymbol an Stelle der
früheren Feudalburgen dargestellt haben. Ob sie im Rückblick auch die Bedeutungsebene einer Antirevolutionsarchitektur berühren, lässt sich nicht verallgemeinern.
Denn in Preußen und Österreich, die hinsichtlich Verwaltungsreformen als sehr
fortschrittlich gelten, findet sich keine so auffällige bauliche Darstellung beziehungsweise Selbstdarstellung der Beamtenschaft wie in anderen Ländern. Während zum
Beispiel Preußen die unmittelbaren Einnahmen für Militär und Kriegführung verwendete, kommen für Frankreich mehrere Faktoren für die Inexistenz vergleichbarer
hoheitlicher Amtshäuser in Frage. Zum einen lagen auch hier Schwerpunkte der
Staatsausgaben auf dem Militär, insbesondere Festungs-, Kasernen- und Flottenbau. Zum anderen wurden die Rechte zur Steuereinnahme und Amtsausübung an
den Adel verkauft, was sich in einer ungleich größeren Zahl von Schlössern und
Herrenhäusern als Amtssitzen niederschlägt. Darüber hinaus sind Luxuskonsum,
Misswirtschaft und Korruption im Ancien Régime Legende.290
Auch Sachsen werden chaotische Verhältnisse und inkonsequente Wirtschaftspolitik
attestiert.291 Dort finden sich tatsächlich kaum vergleichbare Amts- und Pfarrhäuser.
Dafür sind auf für den Hof angefertigten Landschaftsveduten auffällige Garten- und
Weinberghäuser mit Walmdächern dargestellt. Sie dienten der Beaufsichtigung der
Weinberge, doch auch für festliche Gelegenheiten, wie das "Berg- und Lusthaus
Hoflößnitz", das vom Kurfürst als Wohnsitz während der Weinlese genutzt wurde,
und markieren dekorativ die Aussichtspunkte der malerischen Landschaft im Umfeld
der Residenzstadt Dresden.292 Ein vergleichbarer gleichermaßen dekorativer wie
repräsentativer Einsatz von Walmdachhäusern ist uns aus der Hofkunst anderer
Residenzen nicht bekannt.
Das Fehlen von Walmdachamtshäusern in Württemberg lässt sich mit der dortigen
außergewöhnlich starken Stellung der Landschaft und der daraus resultierenden
Opposition dieser Ständevertretung mit dem Herzog erklären. Hier wurde die Erhöhung finanzieller Belastungen und damit der Ausbau einer effektiven Finanzver-
195
waltung erfolgreich behindert.293
Bei allen fiskalischen, ordnungspolitischen und folglich machtsichernden Partikularinteressen der Landesherren bleiben dennoch Aspekte des Allgemeinwohls bei
diesen Baumaßnahmen unverkennbar:
"Der aufgeklärte Absolutismus trieb bereits Innenpolitik auf den Gebieten der Wirtschaft,
der Landwirtschaft, der Polizei im weitesten Sinne, des Gesundheitswesens sowie des
Schul- und Bildungswesens, nicht nur im Interesse des Dynasten und seines Hauses,
sondern auch im Interesse des «bien être du plus grand nombre». [...] Ohne die Verstärkung der Zentralgewalt gegenüber den provinziellen und ständischen Kräften wären
weder die Reformen des aufgeklärten Absolutismus noch die späteren der deutschen
Reformzeit möglich gewesen."294
5.5. Prestige der Fürsten
Ein weiterer Aspekt der Baumotivation der Fürsten liegt in der Absicht, das Ideal der
stringenten gesellschaftlichen Ordnung in einer ästhetischen Ordentlichkeit und annähernden Einheitlichkeit des Erscheinungsbildes der staatlichen Institutionen zu
visualisieren. Forderungen nach Regelmäßigkeit, Ebenmaß, Symmetrie, wohlgereimte Verhältnisse der einzelnen Teile und Einklang mit dem Ganzen durchziehen
das Bauschrifttum des 18. Jahrhunderts.295 Doch mit dem Bau der Residenzstädte
ist auch eine entsprechende Suggestion der Untertanen und eine Beeindruckung
befreundeter oder konkurrierender Herrscher beabsichtigt. So wollen manche
Fürsten mit dem ordentlichen, einheitlichen Erscheinungsbild der Institutionen ihres
Staatswesens ihr Ansehen steigern. Sie suchen ihr Prestige in einer corporate
identity ante letteram.
Charakteristische ästhetische Vorlieben des Barock sind die Breitenlagerung der
Baukörper und die Horizontalität der Gliederungselemente. Sie finden ihren Niederschlag in der Vorliebe der Traufenständigkeit, die in der sogenannten Firstschwenkung weitreichende Konsequenzen für den Städtebau hatte. So wurden selbst alte
giebelständige Stadthäuser bei passender baulicher und finanzieller Gelegenheit mit
neuen traufenständigen Dächern versehen, die sich zu gemeinsamen Dachflächen
mit ihren Nachbargebäuden vereinheitlichen sollten. Gerade das Walmdach entspricht dieser Vorliebe für die Horizontale durch seine ringsum laufende Traufe, die
durch Ausgestaltung eines Gesimses noch betont werden kann. Allerdings lassen
sich diese ästhetischen Kategorien nicht in schriftlichen Quellen nachweisen, obwohl
detaillierte Untersuchungen zu Bauverordnungen des 18. und 19. Jahrhunderts vorliegen, nämlich in Kurhessen, dem Hochstift Speyer, dem hohenzollerschen Franken
und mit Schwerpunkt auf süddeutsche Residenzstädte, also auch zu Gebieten, die
196
wir als Walmdachschwerpunkte erkannt haben.296
Die Baugesetzgebung des 18. Jahrhunderts beschäftigt sich primär mit den Erfordernissen der Feuersicherheit. So zieht ein Verbot von Stroh- und Schindeldächern
zugunsten von Ziegel- und Schieferdächern die Propagierung stabilerer Dachkonstruktionen nach sich, die diese schwereren Dachdeckungen überhaupt tragen
können. Die Vorschrift für liegende Dachstühle hat das Verschwinden alter Rofenwalmdächer zur Folge. Die Ableitung der Dachlasten auf die Außenmauern bei
liegenden Dachstühlen macht wiederum stabile, vorzugsweise massiv gemauerte
Wände notwendig.297 Das Verhindern von Feuersbrünsten verfolgt dabei auch nicht
nur humanitäre Ziele, sondern soll den Holzverbrauch durch regelmäßig notwendige
Wiederaufbaumaßnahmen eindämmen und die langen Steuerausfälle bei darniederliegenden Dörfern und Städten verhindern. So erklären sich auch Massivbaugebote,
Steuererleichterungen und Bauholzreglementierungen.298 Holzzuteilungen erfolgten
zuweilen nur, wenn zumindest das Erdgeschoss in Stein und nur das Obergeschoss
in Fachwerk errichtet wurde.299
Dass der Markgraf von Bayreuth Schindeldächer verbot, weil er sie hässlich fand,
durfte laut Anweisung nicht als Begründung angegeben werden. Die Feuersicherheit
war hier ein vorgeschobenes Argument.300 Auch wurde die These erhoben, dass die
Feuersicherheit als Argument übertrieben wurde, um die wirtschaftlichen Ziele der
Obrigkeit durchzusetzen, denn die Manufakturen, Salinen, Berg- und Hüttenwerke
hatten einen solchen Holzbedarf, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine
regelrechte Energiekrise entstand.301
Die hoheitlichen Bauten hatten natürlich Vorbildcharakter, so dass die Fürsten bei
ihren eigenen Bauten, also gerade auch den Amtshäusern mit ihrer Breitenwirkung
auf dem Land vorausgingen. Die Hofarchitekten und offiziellen Landbaumeister sorgten für die Umsetzung der Direktiven und prüften andere Bauvorhaben. So forderten
die Bauämter auch herrschaftliche Bauherren auf, ihre Bauten massiv zu errichten.302 Gebäude an Hauptstraßen, wichtigen Plätzen und von dort aus sichtbaren
Stellen mussten den Fürsten zur Genehmigung vorgelegt werden.303 Gleiches galt
vereinzelt für die Bauten der Kirche und des Landadels.304 Dabei kann jedoch keine
Reglementierung bestimmter Haustypen nachgewiesen werden.305 Die verfassten
Baurichtlinien galten zudem nur für Bauernhäuser und einfachste Alltagsarchitektur,
nicht für herrschaftliche Bauten, die wie gesagt dem direkten Einfluss der Fürsten
oder ihrer Baubevollmächtigten unterlagen. So erklärt sich, dass sich die Verbreitung
unseres Bautyps nicht über schriftliche Anordnungen nachverfolgen lässt. Vielmehr
ist von einer mündlichen Überlieferung und der Weiterreichung von Modell- oder
Referenzentwürfen auszugehen.
197
Trotz dieses Bestrebens nach Einheitlichkeit, wiederkehrender und wiedererkennbarer Ordnung offenbart sich eine zentrale Eigenschaft unseres Bautyps: Die
Häuser sind zwar alle ähnlich, aber nie genau gleich. Es lässt sich kein exaktes
Duplikat beobachten, keine präzise zweite oder mehrfache Realisierung eines vorgegebenen Bauplans. Die Anpassung an Ort und Lage, die Berücksichtigung von
lokalem Material und Raumprogramm, sowie die Freiheiten und Vorlieben der
Architekten und Handwerker machen jeden Bau zu einem individuellen Werk.
Wie bei den weltlichen Bauherren werden die Bauaktivitäten der Kirche aus der
gleichen Motivation heraus erfolgt sein, nämlich über die komfortablen Pfarrhäuser
mit ihren Nebengebäuden effiziente Wirtschaftsorganismen zu schaffen. Diese sollten dadurch einerseits befähigt sein, sich angemessen selbst zu versorgen, und
andererseits im Interesse der Zehntherren gewährleisten, dass die vielfältigen
Naturalabgaben und Einnahmen in ihrem weitläufigen ländlichen Einzugsgebiet
effizienter gesammelt und weitergeleitet wurden. Die seit dem Mittelalter durch
rationelle Wirtschaftsführung überlegenen Klöster könnten hierzu eine Vorbildrolle
ausgeübt haben. Obwohl die weltlichen Amtshäuser zahlenmäßig in keinem Verhältnis zu den Pfarrhäusern als geistlichen Amtshäusern stehen, kann keine Aussage über eine Vorreiterrolle der weltlichen Fürsten oder der Kirchenfürsten gemacht
werden. Dennoch bleibt die Modernität dieser Pfarrhäuser als einzelne Funktionsbauten ebenso wie als Teil eines komplexen Verwaltungsorganismus für ihre Zeit
eindeutig feststellbar.
5.6. Pfarrer als Amtmänner
Der Zusammenhang zwischen Amtshäusern und Pfarrhäusern besteht nicht nur auf
einer mehr oder weniger zufälligen formalen Ebene des äußeren Erscheinungsbildes, sondern ist auch organisatorisch begründet. So erklärt Brandmüller306 zumindest für die kurbayerische Verwaltung das Interesse an funktionierenden Pfarreien, denn ihre eigene Organisation war, wie beschrieben, nicht flächendeckend.
Sie förderte die Ordnungsmaßnahmen des niederen Kirchenwesens und bediente
sich zur Durchsetzung vieler staatlicher Anliegen der Pfarreiorganisation. "Weil die
Landgerichte von zahlreichen Immunitätsbezirken unterbrochen waren, sollten die
Pfarrer herangezogen werden. Die Pfarrer sind von den landesherrlichen Behörden
wie Verwaltungsorgane betrachtet worden und deswegen in der Mandatsgesetzgebung sehr präsent."307 So sehr ein Vergleich zwischen den Verhältnissen im
überwiegend katholisch geprägten Bayern und dem protestantischen Schweizer
Kanton Zürich unter Vorbehalt stehen muss, so können die Ausführungen von
Gugerli doch Hinweise auf allgemeine Gepflogenheiten geben. Die amtlichen Aufgabenbereiche der Pfarrer dürften innerhalb der Schweiz, die auch im 18. Jahr-
198
hundert zahlreiche katholische Kantone aufwies, nicht allzu sehr differiert haben und
können daher auch für Deutschland Anhaltspunkte liefern. Gugerli schreibt:
"Selbst im normalen Gottesdienst waren Staat und Kirche sichtbar verknüpft. Die
Kanzel diente nicht nur der Verkündung und Erläuterung christlicher Glaubensinhalte,
sondern war auch ein wichtiges Informations- und Propagandainstrument der Obrigkeit. Ihre Funktion bestand nicht zuletzt in der Vermittlung und Durchsetzung obrigkeitlicher Normen. [...] Ehe-, Sitten-, Kleider-, Weide-, Holzfrevel-, Feuerungs-, Münz-,
Handels-, Seuchen-, Militär- und andere Mandate wurden von den Pfarrern von der
Kanzel verlesen. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung im Gottesdienst gerügt.
Übeltäter wurden unter die Kanzel gesetzt und mussten eine Strafpredigt vor versammelter Gemeinde über sich ergehen lassen. [...] Für Erlasse der Regierung bestand
Vorlesungspflicht, genau wie für die vom Staat aufgesetzten kirchlichen Ordnungen.
Die Ambivalenz pfarrherrlicher Amtspflichten im staatskirchlichen Sozialgefüge
entsprach der doppelten Ausrichtung des Wächteramtes, einerseits als polizeilicher
Aufsichtsdienst und kirchliche Sittenkontrolle, andererseits aber auch als Wächter
über den Staat, über seine Funktionäre auf der Landschaft und in der Stadt. Der
Pfarrer des Alten Zürich war keineswegs fern jeder Politik, wie dies Greiffenhagen für
Deutschland behauptet."308
Der Vorbildanspruch des Pfarrhaushalts bezog sich nicht nur auf seine moralische
Instanz, die den Priestern nahelegte, ihr ganzes Leben und Umfeld danach auszurichten, "daß sie in Kleidung, Benehmen, Rede und in allem nur Würde, Sittsamkeit
und Gottesfurcht zur Schau tragen. Auch kleine Sünden, die an ihnen groß seien,
sollen sie meiden, damit ihr Tun allen Achtung einflöße."309 Der Pfarrer, sein Haushalt und das Pfarrgut wurden auch gezielt von der Obrigkeit benutzt, um neue
Techniken, Anbaumethoden und Pflanzen in der Bevölkerung zu verbreiten. So
wurden Pastoren in Preußen zur Pflanzung von Obst- und Maulbeerbäumen angehalten. In anderen Regionen führten die Pfarrhäuser Aborte, später Wasserklosetts,
Blitzableiter, Drei-Felder-Wirtschaft, Kartoffeln, Klee und Mais in den ländlichen
Alltag ein.310
Die Pfarrhäuser der Zürcher Landschaft hatten nicht nur einen durch Ratserlasse
betriebenen Vorbildcharakter zur Verbreitung moderner Bautechniken wie der
Fachwerkkonstruktion und des liegenden Dachstuhls. Besonders die mindestens 40
neu erbauten Pfarrhäuser des 18. Jahrhunderts wurden als modern, städtisch und
bürgerlich interpretiert. Das Pfarrhaus fungierte dort auch als Trendsetter bürgerlicher Familienkultur mit getrennten Schlafzimmern für Eltern, Kinder und Gesinde
oder der Anzahl an beheizten Stuben. Da die Zürcher Pfarrfamilien sich aus dem
städtischen Bürgertum rekrutierten, wo das Pfarramt der standesgemäßen Versor-
199
gung von Söhnen hoher Magistraten diente, sind sie – laut Gugerli – Interessenvertreter der Obrigkeit auf dem Land gewesen und hätten als Prominenz im Dorf
systematisch symbolisch fixierte Selbstdarstellungsmodi verwendet. So habe sich
die soziale Distinktion innerhalb einer sich verbürgerlichenden Gesellschaft zementiert. Nicht zuletzt durch die Hauslehrertätigkeit zur Überbrückung der Wartezeit auf
eine Pfarrstelle seien die Werte und Normen des protestantischen pfarrherrlichen
Milieus an Oberschichtkinder vermittelt worden und haben damit zur Entstehung
einer bürgerlichen Öffentlichkeit beigetragen.311
Der Pfarrer ist also nicht nur in manchen Aufgaben und Tätigkeiten in die Rolle eines
Amtmanns eingebunden worden, vielmehr wurde dem Pfarrhaus in der Kombination
mit dem sich absetzenden Walmdach auch ein Bedeutungsgehalt gegeben, der es
mit den Amtshäusern gleichsetzte. Mit der Ordnung ausstrahlenden Regelmäßigkeit
des Aufrisses und der Auffälligkeit des Walmdachs bewegt sich das Pfarrhaus auf
der gleichen distinktiven Ebene wie die entsprechenden Forsthäuser oder Rentämter
und fällt mit ihnen unter den Oberbegriff der Amtshäuser. Gerade in der fünfachsigen Standardvariante sind viele Rentämter, Pfarr-, Forst- und Rathäuser nicht
voneinander zu unterscheiden. Größere Ämter der Zentralverwaltungen treten
dagegen in größeren Dimensionen mit mehr Fensterachsen und gelegentlich drei
Stockwerken in Erscheinung.
Dass neben den Pfarrhäusern auch Abtshäuser, Prälaturen, Priorate, Propsteien,
Kanonikerhäuser usw. nach dem gleichen Baumuster beziehungsweise auch in den
größeren Dimensionen einer Zentralverwaltung errichtet wurden, kann als Folgeerscheinung der klerikalen Verwaltungsintensivierung gesehen werden.312 Die Domherren, Kanoniker, Äbte und Äbtissinnen, die in alten Klosteranlagen und Domkapitelhäusern untergebracht waren, entwickelten ebenfalls ein Verlangen nach solch
komfortablen Wohnhäusern mit modernen Grundrissen und Installationen, wie sie
den Landpfarrern auf der untersten Hierarchieebene zuteil wurden. Indem sich diese
Vorsteher der Abteien und Mitglieder der Domkapitel nun von ihren Mitbrüdern und
Mitschwestern in separaten Bauten räumlich distanzierten und statusmäßig distinguierten, können diese Walmdachhäuser als Anzeichen für eine zusätzliche Hierarchisierung der Gesellschaft, nämlich innerhalb des Klerus, gesehen werden. Selbst
wo die oft hochadeligen Äbte, Äbtissinnen und Prälaten bereits in früheren Jahrhunderten besser untergebracht gewesen waren als die gewöhnlichen Mönche und
Ordensschwestern, tritt die Distinktion nun unübersehbar in Erscheinung.
200
6. Pfarrhausverbreitung in Europa
Analysiert man die Verbreitung der Pfarrhäuser mit Walmdach in weiteren Gebieten,
so muss man berücksichtigen, dass die Funde nicht wie im Falle Bayerns auf einer
gleichmäßigen Erfassung eines Denkmalbestandes beruhen. Die Erfassung nach
der "Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland" deckt nur verhältnismäßig
wenig Landkreise ab.313 Ältere Denkmalreihen beachteten diese Gebäude nur in
Einzelfällen, so dass zusammen mit der Literatur über einzelne Baumeister und
regionale baugeschichtliche Darstellungen sowie über zufällige Abbildungen in
touristischer Literatur und persönliche Erkundungen nur ein lückenhaftes Bild gezeichnet werden kann. Dennoch können einzelne Schwerpunkte der Verbreitung und
der Nichtverbreitung mit Sicherheit benannt werden.
Folgende deutliche Schwerpunkte zeichnen sich ab: allgemein Süddeutschland,
neben Bayern die Region Oberschwaben südlich der Donau und der Bodenseeraum. Weiterhin die Oberrheinische Tiefebene: ab der Burgundischen Pforte im
Süden, rechtsrheinisch die badischen Gebiete vom Breisgau bis zum Kraichgau
(östlich bis in den Raum Pforzheim), linksrheinisch das französische Elsass (vom
Sundgau bis weit in die Vogesen) – dort allein 114 Häuser314 – und die Pfalz
(westlich bis zu den Ausläufern des Hunsrück). Eine lockerere Verbreitung finden wir
in der Region Hohenlohe zwischen Odenwald und Ries. Ebenso in Mitteldeutschland
vom Raum Frankfurt/Darmstadt bis zur Wetterau als nördlichstem Fortsatz der Oberrheinischen Tiefebene sowie im Raum Köln und dem Bergischen Land. Einzelne
Gruppierungen fanden sich in den Gegenden um Göttingen und Braunschweig.
Darüber hinaus können wir in jedem Bundesland einzelne Funde nachweisen. So
gut wie keine Pfarr-häuser mit Walmdach finden sich auf dem Gebiet des Herzogtums Württemberg (Altwürttemberg bis 1803), im großteils erfassten Westfalen mit
Sauerland und Münsterland, in Brandenburg-Preußen und in den von der "Denkmaltopographie" erfassten Landkreisen von Niedersachsen mit der Lüneburger Heide,
die ungefähr mit dem ehemals zu Hannover gehörenden Herzogtum Lüneburg übereinstimmen. Im europäischen Ausland konnten wir Häufungen im heute in Polen liegenden Schlesien nachweisen (37 Häuser)315, in der Schweiz in den Kantonen Bern
und Waadt (71 Häuser)316, in Frankreich in der Normandie (22 Häuser)317 und der
Bretagne (28 Häuser)318 sowie in Belgien in den Regionen Brabant, Hainaut und
Namur (14 Häuser)319 .Vereinzelte Beispiele fanden sich in verschiedenen Regionen
der Niederlande320, in Frankreich in der Auvergne, in Burgund und an der Loire, in
England in den Grafschaften Hampshire, Gloucestershire und Staffordshire321, in
wieteren Schweizer Kantonen322, in Österreich in Kärnten, in Slowenien323, in
Tschechien324, in Rumänien in Siebenbürgen325 sowie auf den französischen Inseln
201
254: Verbreitung der Walmdachpfarrhäuser in Deutschland und den Nachbargebieten (unvollständiger Forschungsstand)
202
Martinique in der Karibik und Réunion im Indischen Ozean.326 Insgesamt kommen
wir auf eine beweiskräftige Anzahl von über 1300 Walmdachpfarrhäusern.
Angesichts dieses länderübergreifenden Phänomens eines Bautyps für diese
bestimmte Nutzung drängt sich verstärkt die Frage nach dem Ursprung und dem
Verbreitungsweg des Bauplans auf. Doch können wir keinen Architektennamen,
keinen Kirchenfürsten als Auftraggeber, keinen Bauort und keine Jahreszahl zur
Identifizierung des Initialbaus nennen, den andere kopiert haben könnten. Auch kein
Autor eines bestimmten überallhin verbreiteten Architekturbuchs lässt sich präzisieren, der diesen Hausentwurf mit der Pfarrhauseignung in Verbindung gebracht
haben könnte.327
Tatsache ist, dass die regionalen Bauweisen in den verschiedenen Ländern auf
dieses Baumuster übertragen wurden. So findet sich die in der Normandie typische
Fachwerkbauweise mit diagonaler Zimmerung im Unterschied zum alemannischen
Fachwerk, wie wir es im Elsass finden, oder der wieder anderen Fachwerkbauweise
der nordöstlichen Regionen mit orthogonaler Struktur von Holstein über Brandenburg bis Schlesien. Ebenso wurde der Bautyp in Ziegelmauerwerk mit hohen Fenstern in den Niederlanden und Großbritannien ausgeführt, wie er verputzt in Bruchoder Haustein in anderen Gebieten anzutreffen ist. Proportionsvorlieben oder Dachüberstände zeigen die regional üblichen Variationen, wie wir sie in Kapitel 1 bereits
angesprochen haben.
7. Lebensbedingungen und Einkommensverhältnisse der Pfarrer
In wenigen Einzelfällen wurden die Abläufe konkreter Bauvorhaben anhand schriftlicher Unterlagen aufgearbeitet und die Anteile des Pfarrers, des Zehntherrn und des
Architekten oder Bauunternehmers an der Planung, Gestaltung und Finanzierung
beschrieben. Daraus und aus den wenigen Falluntersuchungen über die Lebensbedingungen, insbesondere die Einkommensverhältnisse der Pfarrer geht hervor, dass
die Parameter in kleinsten regionalen Rahmen, ja sogar von Pfarrei zu Pfarrei so
unterschiedlich waren, dass keine verallgemeinerbaren Schlüsse gezogen werden
können.328 Leider existiert keine Untersuchung über den Alltag katholischer Pfarrer
in einem der Gebiete, die uns aufgrund der verbreiteten Uniformität der Pfarrhäuser
verallgemeinerbare Lebensbedingungen vermuten lassen können, wie zum Beispiel
in Bayern329, Baden oder in der Pfalz. Falluntersuchungen liegen ausgerechnet über
die protestantische Pfarrerschaft in Regionen vor, die unseren Pfarrhaustyp nicht
übernommen haben, wie dem pietistischen Württemberg330, Westfalen331 oder
203
255: Pfarrhaus, Hundsbach (Elsaß)
257: Pfarrhaus, Villers-sur-Mer (Normandie)
256: Pfarrhaus, Ramstall Ridware ( Staffordshire)
258 Pfarrhaus, Ploëzal (Bretagne)
259: Benefiziatenhaus, Bad Wimpfen im Tal (Baden-Württemberg)
260: Pfarrhaus, Münsingen (Schweiz)
Niedersachsen332. Die Verhältnisse im Elsass333 und der Schweiz334 unterliegen jeweils ganz eigenen Bedingungen, so dass wir nur ein paar exemplarische Beispiele
aufgreifen können.
204
7.1. Schweiz
Eine Darstellung über Berner Pfarrhäuser führt uns anhand dieses protestantischen
Schweizer Kantons in die Besonderheit des evangelischen Pfarrerstands, der eine
Familie unterhält. Diese Pfarrhäuser hatten für Frau, Kinder und gegebenenfalls
sogar Elternteile einen größeren Raumbedarf als die katholischen Pfarrhaushalte,
unterscheiden sich jedoch in der baulichen Ausführung nicht. Allerdings kann man in
der Schweiz häufiger dreigeschossige Pfarrhäuser beobachten. Wie für die Schweiz,
so wird auch für Württemberg berichtet, dass neben Knechten und Mägden auch ein
Vikar im Haus untergebracht ist.335 Betont wird die gesellschaftliche Stellung der
akademisch gebildeten und in der Regel dem städtischen Patriziat entstammenden
Pfarrer, die ihre Ehefrauen auch aus diesen Kreisen mit ihrem Anspruch auf größere
Bequemlichkeit und standesgemäße Repräsentation auf das Land mitbrachten. Emil
Bloesch schreibt in seiner Geschichte der schweizerischen reformierten Kirchen:
"Das Bestreben der Obrigkeit ging dahin, ganz dem Wesen der Staatskirche entsprechend, die Autorität der kirchlichen Beamten auch durch ihre äußere gesellschaftliche Stellung zu erhöhen, sie durchaus als Vertreter höherer Gewalt dem
Volke gegenüber, als Organe der Staatshoheit und des Staatszweckes, als Respektspersonen betrachten zu lassen".336 Obwohl Bloesch diese Charakterisierung
für das 16. Jahrhundert formuliert, kann die Tendenz zur Autorität und Hoheitlichkeit
der Pfarrhäuser auch für die folgenden Jahrhunderte Gültigkeit beanspruchen. Das
eine zentralistische herrschaftliche Repräsentationsabsicht voraussetzende "Wesen
einer Staatskirche" kann jedoch nur noch auf Länder übertragen werden, die – wie
die Schweiz unmittelbar nach der Reformation – eine Konfession als mit dem regierenden Fürstenhaus verbundene Staatsreligion praktizieren. Neben den geistlichen
Fürstentümern der mächtigen Bischofssitze trifft dies insbesondere für das Kurfürstentum Bayern337 und die Königreiche Österreich und Frankreich zu.338
Bedeutsam für das Raumprogramm eines Pfarrhofs ist die Art der Einkünfte der
Pfarrer. Sie bestanden für das Beispiel des Kantons Bern nur zu einem geringen Teil
aus Bargeld. Ein wesentlicher Teil wurde über die Bewirtschaftung des zur Pfarrei
gehörenden Pfrundguts bestritten, also der Gärten, Felder, Wiesen, Obstwiesen und
gegebenenfalls Waldstücke, die der Pfarrer wie eine Art Herrenbauer auf eigene
Kosten möglichst geschickt zu bewirtschaften hatte. Weiterhin bezog er Zehntabgaben von den Höfen des ihm zugewiesenen Bezirks in Form von Naturalabgaben aus
der Land- und Viehwirtschaft. Das Pfrundgut gehörte einem oder mehren geistlichen
oder weltlichen Grundherren, den sogenannten Zehntherren oder Kollatoren, die das
Kollaturrecht ausübten, das heißt den Pfarrer ernannten, den größten Teil der Zehntabgaben von den Bauern einnahmen und im Gegenzug für den baulichen Unterhalt
205
der Kirche und des Pfarrhauses zuständig waren.339 So gehörte zum Pfarrhof
" [...] fast überall eine geräumige Scheune, meist mit angebauten Stallungen und ein
Speicher oder Ofenhaus [...] Es ist selbstverständlich, dass ein solcher Pfarrer-Gutsbesitzer Hilfskräfte für seine Landwirtschaft benötigte, besonders dann, wenn er sich
auch etwa eine Kuh oder ein Pferd hielt, welches ihn auf seinen seelsorgerischen
Gängen über Land trug. Deshalb wiesen einige Pfarrscheuern auch noch eingebaute
Knechtkammern auf [...]".340
Allerdings ist die Ausstattung der Pfarreien je nach Umfang des Pfrundguts und der
Zehnteinahmen – abhängig von Größe und Wohlstand der Gemeinde – sehr unterschiedlich. Ein breites Spektrum reicht von reichen bis ärmlichen Pfarreien, regelrechten Strafpfarreien. Zum wirtschaftlichen Tätigkeitsumfang zitiert Lerber eine
Quelle, wonach ein Pfarrer als "Geistlicher, Bauer und Händler mit landwirtschaftlichen Produkten"341 bezeichnet wird. Bei einem Pfarrhaus mit Pfrundeinkommen
aus Reben wird ein Kelterraum im Keller vermerkt und die Berechtigung des Pfarrers, im Keller das Produkt seiner Pfrundreben auszuschenken.342 Auch für den
protestantischen Kanton Zürich berichtet Gugerli von Pfarrern mit Wein- oder Viehhandel, die Kostgänger aufnahmen, Spekulationsgeschäften nachgingen und sich
sogar als Kreditgeber und -vermittler betätigten.343
Hinsichtlich der Sitte, im Pfarrhaus Reisende zu beherbergen schreibt Lerber:
"Aber nach und nach riss leider in manchen Dörfern die Unsitte ein, dass die Pfarrer zu
Wirten wurden. Aus dem gemeinnützigen Tun wurde so ein einträgliches Geschäft.
Deshalb wurde den Geistlichen schon vor der Reformation, dann besonders nachher, das
Wirten verboten, was aber nicht überall durchschlagenden Erfolg hatte. [...] Im 18. Jahrhundert , als das Bereisen unserer Schweizer Berge Mode wurde, stellten sich mitunter
auch vornehme oder sonstwie bedeutende Ausländer in den Pfarrhäusern ein. So findet
sich in einem alten Zivilstandsrodel von Abläntschen z. B. die Notiz, das Pfarrhaus habe
im Jahre 1752 den hohen Besuch des Engelländischen Lord de Sacville, Sohn des berühmten Duc d'Orset, des damaligen Vicekönigs von Irland erhalten. Das Pfarrhaus von
Lauterbrunnen darf sich dagegen rühmen, einem König aus dem Reiche des Geistes
Unterkunft gewährt zu haben, nämlich Goethe auf seiner Schweizer Reise mit Herzog
Carl August von Sachsen-Weimar."344 Auch aus Westfalen wird berichtet, dass König
Friedrich Wilhelm III. von Preußen 1821 im Pfarrhaus von Dinker übernachtete.345
Lerber erwähnt eine für die weitere politische Entwicklung einschneidende Veränderung der Lebensverhältnisse der Schweizer Pfarrer und der Besitzverhältnisse
der Pfarrhäuser, die sich eigentlich auf die Baupraxis hätten auswirken müssen:
206
"Mit der Revolution und ihren Auswirkungen auch für unser Land fielen die Zehnten dahin;
aber in vielen Gemeinden bestand die Pfarrbesoldung zum größten Teil aus Zehnten.
Durch ihren Wegfall geriet manche Pfarrfamilie, die aus dem Ertrag eines kleinen Pfrundgutes nicht leben konnte, in bittere Not. [...] 1804 wurde dann die Finanzfrage neu geordnet. Jetzt zog der Staat die Kirchengüter zur Hauptsache an sich, um sie als Treuhänder
zu verwalten und die Pfarrbesoldung zu übernehmen wie bisher den Unterhalt der Pfarrhäuser und des Kirchenchores. Bei dieser Gelegenheit sind die Besoldungen ausgeglichen worden. In einer Reihe von Gemeinden übergab der Staat das Pfarrhaus und das
Chor der Gemeinde gegen eine Abfindungssumme."346
7.2. Bayern
Für die katholischen Pfarrer in Bayern stellt sich eine vergleichbare Einkommenssituation dar, bestehend aus dem Widdum genannten Pfrundgut, das "bisweilen
verpachtet, in der Mehrzahl der Fälle aber wohl in eigener Regie bewirtschaftet
wurde."347 Weiterhin waren sie "Nutznießer des ganzen oder doch eines Teils des
dörflichen Zehnts". Darüber hinaus nahmen die Pfarrer Gebühren von den Gemeindemitgliedern für jede über die kanonisierten kirchlichen Feiern hinausgehende liturgische Verrichtung wie Taufen, Trauungen, letzte Ölungen, Aussegnungen, Sondergottesdienste usw. Sie erhielten persönlich die gespendeten Opfergelder von
Hochzeiten, Leichenfeiern und bestimmten Festtagen sowie Naturalleistungen, die
auf bestimmten Grundstücken und Höfen lasteten. Laut Beck waren die Pfarrer dadurch in eine materielle Interessenslage des Dorflebens eingebunden, aus der auch
häufig Konflikte mit der auf korrekte Gegenleistung bedachten Gemeinde und den
um die Einnahmen konkurrierenden Zehntherren oder auch Benefiziaten hervorgingen. So kann auf ein Bedürfnis der Pfarrer geschlossen werden, ihre eben nicht
unangreifbare Autorität durch äußerliche – auch architektonische – Zeichen zu einer
Respekt einfordernden Aura zu manifestieren. Beck berichtet auch von einem jahrzehntelangen Streit zwischen einer Gemeinde und ihrem Zehntherrn, dem Kloster
Wessobrunn, das gegen seine Verpflichtung die Kirche vernachlässigte, die Einsetzung eines Pfarrers verweigerte oder im Gegenzug versuchte, der Gemeinde die
Kosten für ein Pfarrhaus aufzubürden. Schließlich weigerte es sich sogar aus eigenem Interesse an der Lenkung der Pilgerströme, dort ein von Bürgern gestiftetes
Benefizium zuzulassen.348
Es gab auch Streitigkeiten verschiedener Zehntherren untereinander, wie sie aus
dem Bistum Speyer bezeugt sind, wo der Fürstbischof über zehn Jahre mit einer
Äbtissin, deren Kloster ein Drittel des Zehnten einnahm, um die finanzielle Beteiligung am Pfarrhaus von Neuthard kämpfte, dessen Neubau und Fertigstellung sich
entsprechend hinzog.349
207
Die Klagen über ruinöse Gebäude bilden eine kontinuierliche Begleitmelodie der
lokalen Pfarrhausgeschichte. Die Priester hatten in ihrer Abhängigkeit von anderen
Instanzen oft einen schweren Stand, zumal in ärmlichen Regionen, wie am Beispiel
Westfalens in Kapitel IV. 9.5. zu sehen. Teils mussten sie in ihren Eingaben aber
auch gehörig übertreiben, um einen Entscheidungsprozess zu beschleunigen oder
einen akzeptablen Kompromiss zu erzielen. Doch auch gegenteilige Beschwerden
der Zehntherren über die exzessive Baulust der Pfarrer sind beispielsweise aus dem
Elsass überliefert; wir gehen darauf in Kapitel IV. 9. 1. ein.
Der Fall des bayerischen Pfarrhauses in Steinekirch – nach der Denkmalklassifikation das bedeutendste Pfarrhaus im Landkreis Augsburg – zeigt noch eine weitere
Variante des Interessenkonflikts: Bei einer Bauvisitation im Jahre 1792 wurden dort
der große Aufwand und die "überflüssigen Verzierungen" gerügt, mit denen der
Baumeister "seine eingebildete Kunst der Welt vor Augen legen und sich zu größeren Arbeiten empfehlen wolle".350
Während die Züricher Landgeistlichen als "Topverdiener"351 innerhalb des Dorfes
gekennzeichnet wurden, sollen die Landpfarrer in Hessen oft in unvorstellbarer
Armut gelebt haben.352 Bei den evangelischen Pastoren in Westfalen und Niedersachsen herrschten bescheidene bis ärmliche Lebensumstände mit einer weitgehend auf Selbstversorgung ausgerichteten Haushaltsführung.353 Einsparungen
werden auch im Hinblick auf das kostspielige Studium der Pastorensöhne oder die
Aussteuer der Töchter vorgenommen. Die Pfarrhäuser unterscheiden sich hier in der
Regel nicht von den Bauernhäusern. Erwähnenswert ist die mehrfach den Pfarrhöfen zugeordnete Einrichtung eines Pfarrwitwenhauses für die Witwe des Vorgängers, der auch der Ertrag von bestimmten Ländereien der Gemeinde zukam.354
Ähnliche Verhältnisse werden für die Mark Brandenburg geschildert, wo der Pfarrer
den 30. Teil des Zehnten erhielt, aber die Aufgabe hatte, den Zehnten einzubringen,
ihn vom Feld abzuholen oder vom "Pfarrbauern" abholen zu lassen und seine
Menge zu kontrollieren.355 Auch dort unterscheiden sich die Pfarrhäuser meistens
nicht von den Bauernhäusern oder fallen sogar durch ihre spärlichen Dimensionen
und nüchterne Gestaltung heraus. Erwähnt wird die relativ häufige Zerstörung der
Pfarrhäuser im 17. Jahrhundert durch Feuersbrünste als Problem für die
Zehntherren und Gemeinden (in konkretem Beispiel alle 20 bis 30 Jahre)356. Dieser
Umstand kann auch für andere Herrschaftsgebiete als Anlass angenommen werden,
Pfarrhäuser in moderner feuersicherer Massivbauweise zu propagieren. Dies bestätigt sich in den Einzelfallstudien zu fürstlichen Bauordnungen.357
208
7.3. Württemberg
Für Württemberg wird die Baulast für Pfarrhäuser als "staatliche Aufgabe" angegeben, die vom "Kirchengut" getragen wurde.358 Hier galten bescheidenere Lebensverhältnisse für Pfarrer, die im 18. Jahrhundert schlechter besoldet gewesen seien
als die Geistlichen in anderen Ländern.359 Auch ihre hoheitliche Rolle wird mit der
von Sittenrichtern über Verstöße des Lebenswandels und von Visitatoren zur Kontrolle von kommunaler Verwaltung, Schule und Armenwesen angegeben. Als
Staatsdiener seien sie jedoch weit weniger Sprachrohr des Fürsten gewesen. Zu
den Privilegien zählten wiederum Steuerfreiheit sowie Befreiung von Frondienst,
Militärdienst und Einquartierung. Die Pfarrbesoldung mit einem festen Geldbetrag
und Naturalleistungen aus dem Kirchengut unterschied sich jedoch von allen anderen deutschen Ländern. Letztere wurden von Verwaltern eingeliefert. Als starke
Belastung wurde die Aufgabe gesehen, die übrigen Zehntabgaben einzuziehen.
Daraus resultierten Streitigkeiten mit den Bauern und finanzielle Aufwendungen,
wenn der Pfarrer sie deshalb selbst einfahren musste.360 Erst die neuen, großzügigeren Pfarrhäuser der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren mit ihrem Raumprogramm für die Unterbringung von Vikar und Gesinde konzipiert. Etwa die Hälfte
aller Pfarrhäuser wurde in diesem Zeitraum neu errichtet, nachdem die Vorgängerbauten häufig als alt, baufällig und nicht mehr zu reparieren bezeichnet wurden und
Wohnräume nur im Obergeschoss boten, weil das Erdgeschoss mit Ställen und
Lagerräumen der Pfrundgutbewirtschaftung diente.361
Insgesamt wird deutlich, dass die Einkommensverhältnisse sich nicht unmittelbar auf
das Erscheinungsbild des Pfarrhauses auswirken. Der allgemeine Wohlstand einer
Region oder eines Landes wirkt sich durchaus auf die Gestaltung der Pfarrhäuser
aus, so wie eine ertragsschwache Gemeinde die Investitionsfreude des baupflichtigen Zehntherrn gebremst haben dürfte. Das tatsächliche Einkommen des Pfarrers
und sein individueller Raumbedarf stehen jedoch nicht zwingend in einem Verhältnis
zu seinem Wohnhaus. Sein Drängen nach Reparatur, Renovierung oder Neubau
konnte lange ignoriert werden. Genauso konnte die Bereitschaft zur Verwaltungsreform einer Kirchenbehörde oder der Repräsentationswille eines Zehntherren einem
armen Kaplan zu einem prächtigen Bau verhelfen. Andererseits finden sich aber
auch einzelne Beispiele, die unseren Bautyp in allen anderen als stattlichen Maßen
umsetzen. Sie erscheinen gerade in Regionen, in denen der Pfarrerstand als eher
ärmlich lebend dokumentiert ist und in denen der Bautyp kaum Verbreitung fand.
Diese kleinen Pastorenhäuser belegen, dass die durch Kombination von Aufriss und
Dachform entstehende Typcharakteristik auch in bescheidenster Ausführung als Signal für eine besondere Bedeutung erkennbar blieb.
209
Wir müssen also von dem vereinfachten Rückschluss Abstand nehmen, dass das
Haus direkt etwas über seinen Bewohner oder Erbauer aussagt. Elementar ist der
Umstand, dass der Nutzer, für dessen Bedarf das Haus errichtet wird, meistens nicht
der Erbauer ist, der es bezahlen muss. Man kann im Regelfall von gegensätzlichen
Interessen ausgehen, denn der Nutzer will alles möglichst schön und groß, der Erbauer hingegen möglichst wenig bezahlen müssen. Die Ausnahme tritt ein, wenn der
Zahlungspflichtige sich von seiner Großzügigkeit einen Ansehensgewinn verspricht,
sei es, dass er den Landeskindern oder ausländischen Besuchern seine ökonomische Potenz und Modernität beweisen oder dem lieben Gott seine christliche
Pflicht-erfüllung vermitteln will. Der Bau eines auffälligen Pfarrhauses kann auch
eine Manifestation des Erfolgs eines Zehntherren sein, der sich mit einem Konkurrenten um ungeklärte Zehntrechte gestritten hatte.362 Oder der geistliche Zehntherr
benützt bestimmte Pfarrhäuser als Domizil auf Reiserouten, die er regelmäßig unternehmen muss.363 Das erklärt den stattlichen Neubau bestimmter Pfarrhäuser im
Gegensatz zu anderen, die nicht an den bevorzugten Wegstrecken liegen, oder
eben nicht in der günstigen Etappenentfernung einer Tagesreise. Noch komplizierter
werden die Verhältnisse, wenn – wie im Speyerer Beispiel – der eine beteiligte
Zehntherr modernisieren und repräsentieren, der andere jedoch sparen möchte.
8. Bauvorgang am Fallbeispiel der Normandie
Die Interessenvermengung, ihre Wahrnehmung durch die Zeitgenossen und deren
Lösungsversuche werden in einer Studie über den Pfarrhausbau in der Normandie
besonders deutlich.364 Leider existiert keine Untersuchung zu deutschen Gebieten,
die eine Aussage zur Vergleichbarkeit der konkreten Verhältnisse im Bauwesen
zulässt. Möglicherweise war die zentrale Bauverwaltungspraxis mit ihren Kontrollmechanismen in Frankreich tatsächlich fortschrittlicher.
Als Hauptunterschied zu vielen deutschen Ländern besteht in Frankreich die Zahlungspflicht der politischen Gemeinde (im Unterschied zur Kirchengemeinde) für
Reparatur und Neubau des Pfarrhauses, des Kirchenschiffs und der Friedhofsmauern. Im Durchschnitt wird ein Beteiligungsverhältnis an den Kosten von zwei
Dritteln Grundeigentümern und einem Drittel Pächter und unfreien Bauern angegeben; Waldeigentümer sind davon befreit. Das heißt, dass je nach Besitzverhältnissen ein Grundherr einen Teil mitbezahlt. Zur Baulast gehörten in früheren Zeiten
sogar das Mobiliar des Pfarrhauses sowie Ställe, Scheunen und Nebengebäude, die
jedoch ab Mitte des 18. Jahrhunderts ausgeschlossen wurden. Ein Pferdestall wurde
gelegentlich zur Baulast gerechnet, wenn der Pfarrer zur Seelsorge Pferd und gege-
210
benenfalls Wagen benötigte. Die Umfassungsmauern um Haus, Hof und Garten
zählten auf jeden Fall zur Baupflicht der Gemeinde.
Interessanterweise durfte der Pfarrer bei Interesse an über den Grundbedarf hinausgehenden Bauteilen oder Nebengebäuden diese selbst finanzieren. Unklar bleibt die
Nutzung der Nebengebäude angesichts des in Frankreich ausdrücklich herrschenden Verbots für Pfarrer, Landwirtschaft und Handel zu betreiben.365 Trotzdem wurden auch hier Zehntabgaben erhoben, und überliefert ist auch die Missachtung der
Verbote.
Grundlegend für das Verhältnis zwischen Pfarrer und Gemeinde ist hier, dass der
Pfarrer für die Pflege seines Hauses zuständig ist und die Gemeinde ihn dabei
überwacht, weil sie die aus der Vernachlässigung erwachsenden Reparaturen
zahlen müsste. Besteht nun doch Reparatur- oder Baubedarf, so meldet der Pfarrer
dies dem Bischof oder seinen geistlichen Beamten anlässlich ihrer regelmäßigen
Visitation. Wohlwollende Unterstützung seiner Bauwünsche erhält der Pfarrer von
der Gemeinde natürlich dann, wenn der Grundherr aufgrund seines Anteils am
Grundbesitz der Gemeinde das meiste oder alles bezahlen muss. Die Kirche meldet
den Baubedarf anschließend dem königlichen Intendanten, einer Art Provinzgouverneur. Der Intendant besichtigt daraufhin mit einem Architekten, einem Bauunternehmer und einem Vertreter der Gemeinde den Altbau und beschließt unter fachlichem
Rat die zu ergreifenden Maßnahmen. Anschließend wird das Bauvorhaben nach
Ankündigung öffentlich versteigert: von einer angesetzten Höchstsumme ausgehend
wird der Auftrag an denjenigen vergeben, der sie am tiefsten unterbietet. Dieser
muss kein professioneller Bauunternehmer sein, sondern kann auch ein bekannter
Geschäftsmann sein, der mit dieser Unternehmung Geld verdient, indem er entsprechend mit Subunternehmern, Handwerkern und Materialeinkauf kalkuliert. Es
kann sogar der Pfarrer selbst als Bauunternehmer auftreten. Er hat dann die Möglichkeit, die ihm zugeschlagene Bausumme zu überschreiten und auf eigene Kosten
"sein" Haus aufwendiger zu errichten. Wiederum wacht die Gemeinde über die
Ausführung, denn sie will und muss nicht für den laufenden Unterhalt von Bauteilen
geradestehen, die der Pfarrer aus eigenem Interesse errichten ließ. Pfarrer und
Gemeinde kontrollieren gemeinsam den Bauunternehmer, damit aus Profitgründen
keine minderwertige Ausführung erfolgt, die später Reparaturen verursachen könnte.
Und der Intendant erwirkt im Interesse der Gemeinde oder des zahlungspflichtigen
Zehntherrn über den Versteigerungsmodus eine möglichst kostengünstige Bauausführung.
Diese ausgefeilte Handhabung des Bauprozesses zum Ausgleich der diversen gegenläufigen Eigeninteressen aller am Bau beteiligten oder betroffenen Parteien setzt
211
eine gewisse Standardisierung und damit einen Grundkonsens voraus, was zum
Pfarrhaus gehört und wie es ausgeführt werden sollte. Denn das ist die schriftliche
Grundlage der vertraglich bindenden Bauausschreibung. Sie reicht zwar bis zur
Festlegung, dass die beiden ersten Antrittsstufen der Treppe in Stein auszuführen
sind oder nennt den Fußbodenbelag im Erdgeschoss, aber das Walmdach ist,
wenngleich eine häufig angewendete, so doch keine zwingende Dachform.
Immerhin ergibt der Durchschnittswert der besagten Studie ein Haus für einen Junggesellen mit Haushälterin (andere Darstellungen rechnen noch einen Knecht hinzu)
von etwa 200 m2, bei 15 Metern Länge und 6 Metern Breite, mit zwei Etagen auf
einem Drei-Felder-Grundriss mit mittigem Erschließungsflur. Im Erdgeschoss befinden sich auf der einen Seite die Küche, auf der anderen Seite ein Salon. Im Obergeschoss sind zwei Zimmer mit kleinen abgetrennten Kabinetten. Die Besonderheit
der Pfarrhäuser der Normandie im Unterschied zu denen im deutschsprachigen
Raum besteht in ihrer geringeren Tiefe, die genau die Breite eines Raumes umfasst.
Dadurch werden an den Schmalseiten kaum Fenster benötigt. Bei den Aufrissen
überwiegt die dreiachsige Variante mit einer Vorliebe für Symmetrie und ausgewogene Proportionen. Trotz der beträchtlichen Unterschiede bei Zahlungspflicht,
Grundriss und Bauprogramm ohne ausgeprägte landwirtschaftliche Tätigkeit bleibt
festzustellen: Der Bautyp ist der gleiche.
In den Beschwerdebriefen, die anlässlich der Einberufung der Generalstände zu
Beginn der Französischen Revolution verfasst wurden, beklagt die Bevölkerung
vielfach ihre Baupflicht und fordert, dass die Pfarrer und Grundherren, welche den
Zehnten einnehmen, dafür auch die Pfarrhäuser bezahlen sollten (also wie in
Deutschland). Ein Beispiel bringt die Problematik deutlich zur Sprache:
"Unsere Deputierten werden auch darlegen, wie drückend für die Gemeinden die Verpflichtung ist, die Pfarrhäuser auf ihre Kosten zu bauen, und wieviel Missbrauch damit einhergeht.
Man ist beinahe bei jedem Pfarrwechsel verpflichtet, die Pfarrhäuser neu zu erbauen. Die
Architekten, die von den Gemeinden mit der Baubesichtigung beauftragt werden, sind an
Neubauten interessiert. Zu diesem Mittel deklarieren sie beim kleinsten Defekt ein Bauwerk
als schlecht, das noch hundert Jahre überdauern könnte. Und der armselige Familienvater,
212
der nicht die Mittel hat um sein Haus zu flicken, wird gezwungen, mindestens die Einkünfte
eines Jahres zu opfern, um einen Palast für seinen Pastor bauen zu lassen."366
Andere Beschwerdebriefe ergreifen allerdings auch Partei für die Pfarrer, die je nach
Pfarrei manchmal in Armut leben, und fordern für sie eine angemessene Besoldung.
Während der hohe Klerus in Reichtum schwelgt, hat die starke Inflation die unveränderte Besoldung der Pfarrer minimiert. Der "Zehnt" beträgt in Frankreich im Durchschnitt 1/13 bis 1/33 der besteuerten Erzeugnisse. Davon geht ein Viertel bis eine
Hälfte an den hohen Klerus. Auf ein bis zwei Drittel seiner Einkünfte werden allein
die Kosten des Pfarrers für ein Pferd mit Stallknecht veranschlagt.367 Dass die
finanzielle Situation des französischen Pfarrklerus im Durchschnitt wesentlich
schlechter war als in anderen Ländern, verdeutlicht auch ein königliches Dekret von
1768, das jedoch durch Verschleppung in der klerikalen Bürokratie erst ab 1780
tatsächlich umgesetzt wurde. Es beauftragt die Bischöfe, die Zehntherren anzuweisen, die Auszahlungen an die Pfarrer exakt nach dem Gegenwert festgelegter
Getreidemengen vorzunehmen. Damit sollte das Einkommen der Pfarrer von der
Geldentwertung unabhängig gemacht werden.368
9. Regionale politische Ursachen für die Verbreitung
9. 1. Elsass
Eine außergewöhnliche Situation besteht im Elsass. Obwohl seit dem Westfälischen
Frieden und den Eroberungen Ludwigs XIV. 1648/1681/1697 sukzessive zu Frankreich gehörend, hat der König zum Teil die alten Rechtsformen und Freiheiten belassen. De jure bleibt das Elsass bis zur Französischen Revolution ein Teil des Heiligen
römischen Reiches deutscher Nation.369 Die Kollaturrechte ausländischer Fürsten
und Abteien, die Einkünfte der Pfarrer und die Baupflichten der Zehntherren bleiben
somit wie in den übrigen deutschen Ländern bestehen.370 Doch die Archivalien
dokumentieren zunehmende Streitfälle zwischen Pfarrern und Zehntherren aufgrund
einer günstigen Position der Pfarrer. Die Pfarrer verlangen Reparaturen und Neubauten, während die Zehntherren diese verweigern und sich über die Pfarrer
beschweren, die kleinste Reparaturen absichtlich vernachlässigen, um die Zehntherren nach massiven Bauschäden zu Neubauten zu zwingen. Interessanterweise
behält zum Beispiel das schweizerische evangelische Domkapitel in Basel seine
umfangreichen Besitzungen im französischen, vormals habsburgischen Oberelsass,
hat also Kollaturrechte in den dortigen katholischen Pfarreien und unterliegt der
örtlichen französischen Rechtsprechung auf der Grundlage deutscher Rechtstitel.
213
Auch der protestantische Herzog von Württemberg besitzt hier einige Kollaturrechte.
Der Fürstbischof von Straßburg und der Intendant des Königs müssen in den Streitigkeiten häufig schlichten und entscheiden oftmals zu Gunsten der Pfarrer. Dies
erfolgt absichtlich zum Vorteil der Gemeinden, weil diese Steuern zahlen, während
die ausländischen Grundherren nur Kapital abziehen. Angesichts der überhand
nehmenden Beschwerden ruft das königliche Regionalparlament in seiner Funktion
als Gerichtshof die streitenden Parteien auf, ihren Verpflichtungen zum Unterhalt
und Neubau nachzukommen.371 Die Bereitschaft der Basler Zehntherren, schließlich
nachzugeben, scheint mit den Interessenverstrickungen mit der französischen Krone
zusammen zu hängen: Die helvetische Konföderation ist mit Frankreich verbündet,
Ludwig XIV. bezieht zahlreiche Söldnerbataillone der Schweizer Garde, und Basel
profitiert von den beträchtlichen Einkünften aus dem wohlhabenden Elsass. So
nimmt man hin, dass der französische König sich die neuen, zunächst skeptischen
Untertanen zu Freunden macht, in dem er ihre Partei ergreift, wo es ihn nichts
kostet.
Eine Reihe königlicher Erlasse erhöht allmählich den Druck auf die Zehntherren.372
So kommt das Elsass zu einer besonderen Dichte repräsentativer Pfarrhäuser. Denn
jedes Beispiel macht Schule und weckt Begehrlichkeiten bei der übrigen Pfarrerschaft. Ein an den König gerichteter Beschwerdebrief der einheimischen Zehntherren, "der Grafen, Barone und Edelmänner, die den Adel des Oberelsass bilden",
illustriert, bei allem Vorbehalt gegenüber der berechnenden Übertreibung jeder der
Parteien, das baulustige Klima dieser Region:
"Die Errichtung der Pfarrhäuser wird zu einer unerträglichen Belastung für die Zehntherren. Die elsässischen Pfarrer und Rektoren, die sich an einem Einkommen von 800 bis
6000 Livres erfreuen, haben als Maßstab für ihre Behausungen nur mehr oder weniger
prachtvolle Vorstellungen. Es ist nur ihr Geschmack, der den Architekten anleitet und den
Plan bestimmt, alle wollen großartige Häuser haben, und es bleibt an den Zehntherren,
ihre Vergnügungen zu bezahlen. [...] Und anstelle einer einfachen angemessenen Behausung, wie sie das Edikt von 1695 vorschreibt, zwingt man sie, den Pfarrern nicht nur
Herrenhäuser zu bauen, sondern auch noch Scheunen, Stallungen und Remisen, das
ganze Zubehör, das der Luxus verlangt und wozu die Bequemlichkeit verleitet, was den
Pfarrern jedoch nicht zusteht und wozu die Zehntherren niemals verpflichtet waren."373
Wenn ein Zehntherr nicht die geforderten Baumaßnahmen genehmigte, konnte es
ihm hier sogar passieren, dass der Pfarrer diese selbst vorfinanzierte und die Kosten
anschließend gerichtlich einklagte.374 Königliche Erlasse zur Einführung verbindlicher Maßstäbe für bescheidene einstöckige Bauten fanden selbst in den nicht mehr
214
so prosperierenden Zeiten Ludwigs XVI. ganz offensichtlich keinen Nachhall.375
Solch eine vom Hauptinspektor der Brücken und Straßen entworfene und vom
Intendanten der Justiz, Polizei und Finanzen gegengezeichnete Planvorgabe von
1773 entspricht in Grund- und Aufriss unserem Grundtyp, der jedoch schon längst
etabliert ist und somit zweistöckig, in seinen breiteren Dimensionen und besserer
Ausstattung weiter angewendet wird – Königsbefehl hin oder her.
Nachdem die Forderungen der Pfarrer immer massiver wurden und sie die
Einbehaltung des Zehnten als Druckmittel einsetzten, schlossen sich einige
Zehntherren sogar zu einem Kartell zusammen, um ihre Interessen besser zu
vertreten.376 Die mit Streitfällen überschüttete "Verwaltung der Brücken und
Straßen", eine aus dem militärischen Ingenieurcorps hervorgegangene Behörde,
richtete daraufhin 1780 das Corps der Inspektoren der öffentlichen und kommunalen
Bauten im Elsass ein. Deren amtlich bestellte Architekten entschieden fortan über
die Bauunternehmungen.377
Schließlich sahen auch die klerikalen Zehntherren angesichts der von ihnen finanzierten pfarrherrlichen Noblesse nicht mehr ein, selbst in düsteren Gemäuern des
Mittelalters zu wohnen und errichteten sich nun ebenfalls solch komfortable und
repräsentative Wohnhäuser.378 Der Umzug der Dominikanerabtei Murbach aus
ihrem engen Vogesental in das zur sonnigen Rheinebene geöffnete Guebwiller und
die Säkularisierung in ein weltliches Ritterstift entsprang diesem Wunsch des nunmehrigen Fürstabts und der anderen elf hochadeligen Kanoniker nach der komfortorientierten und distinguierten Lebensweise des Barock. Der Bau der neuen Stiftskirche wurde sogar mehrmals unterbrochen, um die Kanonikerhäuser fertigzustellen.
Neben dem Abtsschloss und zwei pfarrhausartigen Stiftsgebäuden mit Walmdach
wird die Kirche vom Haus des Großdekans und drei weiteren palaisartigen,
dreigeschossigen, aber dennoch typkonformen Kanonikerhäusern umkränzt.379
262-263: Kanonikerhaus, Guebwiller (Elsaß)
Eingangs- und Gartenseite
215
Eine vergleichbar eindrucksvolle Reihung bilden die drei gleichartigen typgerechten
Kanonikerhäuser gegenüber der Abteikirche in Neuviller-les-Saverne. In ihnen
wohnten nach der Verbannung Napoleons 1815 der ehemalige Kriegsminister und
Maréchal de France Henri Clarke und andere hohe Offiziere der Grande Armée.
264: Kanonikerhäuser, Neuviller-les-Saverne
(Elsaß)
Ein weiterer Aspekt für die leichte Durchsetzung der Bauwünsche gegenüber den
klerikalen Zehntherren liegt auch in der Kooperation regelrechter Klerikerdynastien
begründet, die für das Elsass angegeben werden. So vereinfachte sich die Vergabe
lukrativer Pfarrstellen oder die Freigabe von Baumaßnahmen deutlich, wenn der
Kandidat unter den Kanonikern des Zehntherren einen Onkel hatte oder vom zwischenzeitlich aufgestiegenen ehemaligen Pfarrer protegiert wurde, bei dem er sein
Vikariat absolviert hatte.380
Noch eine Besonderheit der elsässischen Verhältnisse könnte die Verwendung des
Walmdachs gefördert haben. Möglicherweise entsteht hier, wenn auch nicht mit
letzter Sicherheit ein Ausgangspunkt für die Walmdachverbreitung in Deutschland,
so doch zumindest eine besonders auffällige Konzentration, deren eindrucksvolles
Vorbild die Verbreitung auf andere Regionen begünstigt haben dürfte. Als Rekatholisierungsmaßnahme bestimmt Ludwig XIV., dass in jedem evangelischen Ort, in dem
mindestens sieben katholische Familien leben, eine katholische Pfarrei eingerichtet
wird. Weil die Zehntabgaben dieser Gemeinden bereits an den protestantischen
Pfarrer vergeben sind, erhält dieser katholische Pfarrer ein direktes Gehalt vom
König. Er hat damit den Sonderstatus eines königlichen Pfarrers, eines sogenannten
"curé royal". Der zuständige Bischof schlägt den Pfarrer vor, doch er wird vom König
ernannt, vertreten durch den Intendanten. Aber auch alle normalen Pfarrer, die ein
hier Benefizium genanntes Pfrundgut erhalten, müssen vor dem "Conseil Souverain
d'Alsace", dem vom Adel dominierten Regionalparlament mit Gerichtsfunktion, ihren
Amtseid auf den König schwören.381 Der Pfarrer gehört damit wie die französischen
Offiziere in den Garnisonen, die Provinzgouverneure und Intendanten zu den könig-
216
lichen Amtmännern. Deren Häuser repräsentieren die Hoheit der französische
Monarchie mit einem "Distinktion" anstrebenden palais- oder herrenhausartigen
Erscheinungsbild. Da hier auch keine Ausländer mehr für das Pfarramt zugelassen
werden, verbindet sich mit dieser gegenreformatorischen Maßnahme auch eine
sprachliche und kulturpolitische Indoktrination.382 Trotz dieser privilegierten Stellung
und obwohl der elsässische Klerus als der reichste von Frankreich gilt, scheint die
Besoldung der königlichen Pfarrer so bescheiden gewesen zu sein, dass auch von
Armut gesprochen wurde.383 Allerdings gelten die besonderen Bedingungen für die
elsässischen Pfarrer erst seit Erlassen von 1675 (Vereidigung) und 1685 (königliche
Pfarrer). Die Erholung von den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges dauert
auch hier fast ein halbes Jahrhundert, zumal das Elsass nur nach und nach unter
französische Herrschaft gerät und erst ab 1710 endgültig befriedet ist. So setzt die
Bautätigkeit für die repräsentativen Walmdachpfarrhäuser erst ab 1700 ein, mit einer
Schwerpunktphase von den 20er bis zu den 80er Jahren.
9.2. Preußen
Politische und religiöse Ursachen verbinden die Häufung der Typ-Pfarrhäuser in
Schlesien mit ihrer Nichtverbreitung in Preußen. Zwar waren die Pfarrer in Preußen
auch in hoheitliche Aufgaben der sittlichen Disziplinierung der Untertanen, der Führung von Populationslisten und dem Beiwohnen bei Steuerkommissionen eingebunden, doch ist auch eine pauschale Geringschätzung des geistlichen Standes durch
das Herrscherhaus dokumentiert.384 Wilhelm I. ließ klerikale Bauanfragen ab 1723
systematisch ablehnen und die gerühmte Toleranzpolitik seines Sohnes Friedrich II.
geht mit einer Indifferenz in Konfessionsfragen einher, die nicht nur das Ansehen der
Geistlichkeit in Preußen schwinden ließ, sondern ihr anscheinend auch keine baulichen Zuwendungen gewährte, sondern harsche Abweisungen erteilte. Einem Diakon, der sich 1751 um eine vakante Pfarrstelle bewirbt, geht der allerhöchste Bescheid des Königs zu,
"daß die Aposteln in denen ersten Zeiten von ihren Gemeinden und Kirchen keine Revenues
noch Tractamente gehabt, sondern bei ganz kümmerlichem Auskommen gelehret und gepredigt hätten; dahero er als ein treuer Nachfolger derselben die ihm anvertraute Gemeinde
nicht bloß um eitlen Gewinnst oder seiner Verbesserung halber verlassen müsse."385
Die amtliche Verschleppung der Baumaßnahmen des Pfarrhauses von Veltheim im
unter preußischer Herrschaft stehenden Fürstentum Minden in Westfalen gipfelte
sogar in dessen Einsturz.386 Bei aller institutioneller Modernität, die dem preußischen Staatswesen für die Zeit der Aufklärung zugeschrieben wird, hat die Konzentration der Ausgaben auf Militärwesen, Kriegsführung und Schlossbauten offenbar
217
bewirkt, dass sich die Reorganisation der Verwaltung weder in weltlichen noch
geistlichen Verwaltungsbauten niederschlug.387
In Schlesien (heute Polen und teilweise Tschechien) hingegen hatten die Habsburger
nach dem Dreißigjährigen Krieg rigide Rekatholisierungsmaßnahmen durchgeführt
und die gleichwohl weiterbestehenden evangelischen Bevölkerungsteile am
Kirchenbau gehindert. Als Friedrich II. 1740-1742 Schlesien erobert, gewährt er den
noch während des ersten Schlesischen Krieges vorstelligen Vertretern der Protestanten Religionsfreiheit. So setzt ab 1742 eine Neubauwelle evangelischer "Bethäuser" in der Form provisorischer Fachwerkbauten ein. Nur wenige dieser schlichten turmlosen Saalbauten sind erhalten.388 Doch eine ungewöhnliche, zwischen 1748
und 1752 entstandene Stichsammlung dokumentiert 164 der 1742 bis 1749 erbauten
Kirchen, nebst ihren zugehörigen "Predigerhäusern".389 Diese sind nicht
ausschließlich, doch in vielen Fällen mit Walmdach erbaut und folgen alle im Aufriss
unserer Typbauweise mit drei bis fünf Achsen und dem bereits festgestellten Repertoire an Symmetrien und punktuellen Asymmetrien. Durchweg erfolgte eine einfache
Konstruktion im für Schlesien typischen orthogonalen, schwarzen Holzständer-Fachwerk. Über Pfrundsystem, Kollaturrechte oder Baulasten in Schlesien existieren keine
Untersuchungen. Für diese Pfarrhaus-Baukonjunktur auf preußischem Hoheitsgebiet
scheint jedoch keine friderizianische Reformationspolitik verantwortlich zu sein.
Dieses laisser-faire ermöglichte den evangelischen Gemeinden einfach, mit eigenen
finanziellen Mitteln ihren Glaubensnotstand zu beheben.
265: Katholische Kirche, Pfarrhaus und evangelisches Bethaus, Rabißau (Polen)
218
9.3. Pfalz
Nach den Zerstörungen des pfälzischen Erbfolgekrieges 1688 und teilweiser französischer Besetzung bis 1797 steht die Pfarrhausdichte in der Pfalz im Zusammenhang mit dem Wiederaufbaubedarf und erklärter Rekatholisierungspolitik.390 Teils
Territorium der Bistümer Speyer, Mainz und Worms, gliedert sich das zerstückelte
Gebiet außerdem in das Kurfürstentum der Pfalz und das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken. Während unserer primären Pfarrhausbauphase fällt die weltliche Pfalz
1742 an das oberpfälzische Fürstentum Pfalz-Sulzbach, das 1777 auch die bayerische Kurwürde erbt, so dass alle Teile mit Bayern vereinigt werden. Daraufhin
werden vor allem Pfalz-Neuburg, die Oberpfalz und der Raum Fulda rekatholisiert,
was einen vermehrten Pfarrhausbau erwarten lässt. Im Zuge der Französischen
Revolution fällt die linksrheinische Pfalz an Frankreich und 1815 wieder zurück an
Bayern. Die rechtsrheinische Pfalz wird 1803 auf Baden und Hessen-Darmstadt
aufgeteilt und liegt heute großteils in Baden-Württemberg.
9.4. Württemberg
Die fast vollständige Inexistenz von Walmdachpfarrhäusern in Alt-Württemberg
kann nur von der äußerlicher Selbstdarstellung abgeneigten pietistischen Glaubensausrichtung des Protestantismus abgeleitet werden. Diesen Umstand unterstützt
noch die Ausbildung einer besonderen, "Honoratioren" genannten bürgerlichen
Oberschicht, die der Beamtenschaft, dem adeligen Hofleben und französischen Umgangsformen distanziert begegnete und aus deren Kreisen sich die württembergische Pfarrerschaft rekrutierte.391 Zudem besaß der Herzog selbst in den meisten
Pfarreien das Kollaturrecht und die Besoldungspflicht. Die gesellschaftliche Struktur
des Pfarrerstandes soll sich hier weg von der privilegierten Herrenstellung hin zu
Seelsorge und Lehrtätigkeit verlagert haben. Das 18. Jahrhundert in Württemberg
kennzeichnet somit eine Akzentverlagerung von der Hierarchie auf die Diakonie.392
Wenn unser Bautyp gelegentlich in Grund- und Aufriss angewandt wurde, dann nur
mit Sattel- oder Krüppelwalmdach. Eine Häufung von Walmdachpfarrhäusern um
Heilbronn herum erklärt sich durch die Gebietszugehörigkeit zum Deutschen Orden.
Die Deutschordensritter verwendeten diesen Bautyp häufig für Komtureien, Schulen,
Amts- und Pfarrhäuser in ihren Gebieten.393
Hinsichtlich der territorialen Zugehörigkeit muss auch beim 1803/05 an Württemberg
gefallenen Oberschwaben berücksichtigt werden, dass es durchweg in kleinteilige
Besitztümer zerstückelt war. Große Anteile sind geistliche Besitzungen namhafter
Abteien (Zwiefalten, Marchtal, Weingarten, Schussenried, Roth an der Roth etc.), so
219
dass von einer selbstbewussten klerikalen Bauaktivität wie in Bayern ausgegangen
werden kann. Sie wurden zum Reichsdeputationshauptschluss 1803 säkularisiert.
Große Gebietsanteile waren habsburgisch und gehörten zum unzusammenhängenden "Vorderösterreich", das nach der österreichischen Niederlage in Austerlitz an
Württemberg und Baden aufgeteilt wurde. So bestand hier zuvor ein besonderer
Bedarf nach Verwaltungsstützpunkten. Möglicherweise wurde auch eine Katholisierungspolitik betrieben. Die bekannten Verwaltungsreformen Österreichs unter
Maria Theresia oder die sogenannte josephinische Pfarrregulierung in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Ziel, einen zentralistisch geleiteten Einheitsstaat und die Pfarrer als besoldete Staatsbeamte zu etablieren, lassen sich jedoch in
Österreich selbst oder in Schlesien vor der Eroberung durch Preußen nicht mit einer
dezidierten Amts- oder Pfarrhausdichte nach unserem Bautyp belegen.394
9.5. Westfalen
Eine systematische Analyse zu rund 600 nordwestdeutschen Pfarrhäusern belegt,
dass unser Bautyp in den behandelten Gebieten nur selten vorkommt, in manchen
Regionen wurde kein einziges Beispiel angeführt. Die Pfarrhaushalte sind dort so
stark an den landwirtschaftlichen Betrieb gebunden, dass beide Konfessionen die
lokale Bauernhausform des niederdeutschen Hallenhauses übernehmen, das Wohnund Wirtschaftsteil mit breiten Längsdielen als Wageneinfahrt unter einem Dach
vereint. Querdielenhäuser, die Wohn- und Wirtschaftsteil wenigstens auf zwei Haushälften aufteilen, werden für Pfarrhäuser erst ab 1765 und sogar noch bis 1850
errichtet. Mit einem stark retardierenden Faktor kommen erst gegen Ende des 18.
Jahrhunderts von Stall und Scheune getrennte Wohnhäuser in Gebrauch395, in
Teilgebieten sogar erst um 1830396. Doch auch hier überwiegen schlichte Fachwerkbauten mit Sattel- oder häufiger Krüppelwalmdach.
So weicht auch die erstellte Baudatenkurve von unserer für Bayern entwickelten
Kurve ab, was auf andere Kriegsereignisse, insbesondere den Siebenjährigen Krieg,
zurückzuführen ist, doch auch auf eine generell schwache ökonomische Aktivität.
Der Anstieg der Pfarrhausneubauten in der Mitte und zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird auf einen Nachholbedarf und auf neue Pfarreien zurückgeführt, die
durch Zuwanderung von Arbeitskräften nötig wurden. Als Ursache für die unterschiedliche Entwicklung der Bautypen kann allgemein eine geringere ökonomische
Leistungsfähigkeit dieser Gegend gelten. Die hier mitbehandelte Lüneburger Heide
wird als eine der ärmsten Regionen Deutschlands bezeichnet. Erwähnenswert ist
dieser Untersuchungsraum vor allem deshalb, weil hier die Baupflicht bei der
Gemeinde liegt, wie wir es in der Normandie und wohl in ganz Frankreich – das
Elsass ausgenommen – vorfinden, es uns aber in deutschen Gebieten sonst noch
220
nicht begegnete.
Dieser Faktor geringerer finanzieller Möglichkeiten als bei Zehntherren mag das
Ausbleiben repräsentativer Architekturformen und die Integration in den Bauernhauskonsens erklären. Er ist verbunden mit einer wohl auch geringeren Bereitschaft
der Pfarrer, sich gegen die Baupflichtigen durchzusetzen, da sie mehr Verständnis
für deren Situation aufbrachten oder sich mit ihnen identifizierten. Zudem bestand
ein direkteres Abhängigkeitsverhältnis vom einvernehmlichen dörflichen Zusammenleben. Regional kommen sogar Eigenaufwendungen der Pfarrer selbst hinzu.397 So
kann der Wirtschaftsteil des Pfarrhauses Bauaufgabe der Gemeinde sein, während
der Wohnteil durch den Pfarrfonds bestritten wird, eventuell auch durch Kreditaufnahme zu Lasten der zukünftigen Einnahmen aus dem Pfrundgut, auch bis in die
Zeit der Nachfolger des Pfarrers hinein.398 Gleichwohl sind zahlreiche Auseinandersetzungen und gerichtliche Streitfälle dokumentiert. Sie treten jedoch unabhängig
vom Wohlstand der Gemeinden auf und sind folglich auch als eines der wenigen
Druckmittel der Gemeinde vor dem Hintergrund anderer Konflikte zu verstehen.
Die vielfältigen Interessenlagen illustriert ein Streitfall von 1825, bei dem der Schultheiß einer benachbarten, doch anteilig baupflichtigen Gemeinde die Neubaupläne
mit der Begründung ablehnt: "Indem der Pfarrer wohnt wie wir, kann er sich weit
besser in des Volkes Sayn und Weben hineindenken und fühlen, als wenn er von
einem eleganten Palais aus seine Gemeinde beherrschte."399 Dagegen beklagt der
Kirchen- und Schulvorstand den Zustand des alten Pfarrhauses, "weil sich kein
qualifizierter Geistlicher zur Annahme unserer Pfarrei verstehen will."400 Ein ordentliches Pfarrhaus liegt also auch durchaus im Interesse der Gemeinde. Während in
manchen Kontroversen der Pfarrer Restbaumaßnahmen um des lieben Friedens
willen aus eigener Tasche finanziert, kommt es bei einer widerspenstigen Gemeinde
1791 einmal sogar zu amtlicher Zwangsvollstreckung von Baugerätschaft und Zugvieh, bei der der Amtmann verjagt wird, worauf dieser bei der fürstlichen Regierung
die Vollstreckung durch ein Militärkommando vorschlägt.
Zum spezifischen Raumprogramm der Pfarrhäuser listet diese Untersuchung ein bis
zwei Zimmer für eine Haushälterin in katholischen Häusern auf (was den Raumbedarf einer evangelischen Pfarrfamilie aufwiegt), ferner Räume für eine Magd oder bis
zu vier Personen zur landwirtschaftlichen Tätigkeit auch bei evangelischen Pfarreien. Ein Fremdenzimmer wird hier primär für Amtsbrüder legitimiert, auf deren
häufigen Besuch zwecks geistigen Austauschs der intellektuell im dörflichen Milieu
oft isolierte Pfarrer angewiesen war. Weiterhin wird eine Studierstube als pfarrhäusliches Spezifikum diskutiert, die in diesen reinen Bauernhaustypen vielleicht notwendiger war, weil die intensiv für Hausarbeiten genutzte Wohnstube in Stall- und Kü-
221
chennähe kein ruhiges Arbeiten zuließ.401 Erstmals ist im späten 18. Jahrhundert die
Einrichtung einer Konfirmandenstube dokumentiert, wenngleich der Katechismusunterricht oder die katholische Sonntagsschule für gewöhnlich in der Kirche abgehalten wurde, die im Winter allerdings unbeheizt war.402
Es lassen sich also verschiedene Grundbedingungen und Voraussetzungen für
einen allgemeinen Neubaubedarf oder eine besondere Ausdrucksabsicht mit den
Bauformen unseres Bautyps in den unterschiedlichen Gebieten feststellen. Was
jedoch in der einen Region als Ursache für die Einheitlichkeit der Walmdachpfarrhäuser in Frage kommt, bestätigt sich in einer anderen Region mit ähnlichen Parametern widerum nicht. Ob Krieg oder Frieden, Wohlstand oder Armut, Katholizismus
oder Reformation, weltliche oder geistliche Dominanz, restriktive oder tolerante
Politik – eine eindeutige Antwort finden wir in den soziologischen, geographischen
oder politischen Bedingungen des 18. Jahrhunderts nicht. Auch die Kirchen- und
Alltagsgeschichte bietet nur Hinweise auf einzelne lokale Zusammenhänge, aber
keine verallgemeinerbare Erklärung. Hinsichtlich dieser Quellen gilt es aber auch zu
beachten, dass das ganze Umfeld der hehren Welt des Glaubens durch eine Idealisierung der Frömmigkeit in der Literatur der Romantik, aber auch in der Geschichtsschreibung vieler klerikaler Kirchenhistoriker geprägt ist. Dem gegenüber steht eine
tendenzielle Dramatisierung der tatsächlichen Verhältnisse in den zeitgenössischen
Beschwerdeschriften, Gesuchen und Gerichtsakten.
Vielleicht findet sich im Zuge folgender Forschungen ein gemeinsamer Nenner als
Erklärung. Doch bei dem derzeitigen Kenntnisstand erscheint das Phänomen der
Verbreitung dieses Bautyps als Paradigma seiner Epoche, als ein unbewusst erzeugter gestalterischer Konsens.
10. Analyse an ausgesuchten Beispielen
10.1. Vier-Felder-Grundriss
Das Pfarrhaus in Abtsgmünd in Baden-Württemberg zeigt exemplarisch die Praktikabilität des Vier-Felder-Grundrisses. Im Erdgeschoss ist er mit, im Obergeschoss
ohne durchgehenden mittigen Erschließungsflur variiert. Zugleich lässt sich am
Unterschied zwischen Eingangs- und Rückseite beobachten, wie die fünfachsige
und die dreiachsige Fassadengestaltung mit dem Innenraum korrespondieren
können.
Die Eingangs- und die westliche Schmalseite werden durch die Ausschmückung mit
Horizontalgesims und Kapitellen als Schauseiten hervorgehoben, während die beiden übrigen Seiten desselben Gebäudes nur mit Lisenen ohne Kapitelle als sekun-
222
266-275: Pfarrhaus Abtsgmünd (Baden-Württemberg)
272-274: Keller, Erdund Obergeschoss
275: Gartenseite
223
där gewichtet sind. Die Rückseite führt die Nutzung des Geländeabfalls zur Anlage
des Kellereingangs vor Augen und dokumentiert den bewussten Einsatz asymmetrischer Gestaltung als Reaktion auf eine irreguläre Ausgangslage403. Die Eingangsseite erhält eine repräsentative Betonung der Mittelachse, auch durch das Zwerchhaus, das die Zugänglichkeit des Dachstuhls verbessert. Die typische, nur teilweise
erfolgte Unterkellerung bedingt die separate Führung der Kellertreppe, die ansonsten unter der Haupttreppe hätte verlaufen können. Es finden sich aber auch viele
Beispiele, wo die Haupttreppe genau an dieser Stelle, also rechtwinklig zum Mittelflur in einem eigenen Raumkompartiment angelegt ist.404 An den Schnitten lässt sich
die Konstruktion des liegenden Dachstuhls mit den Aufschieblingen ablesen, die den
charakteristischen geschwungenen Dachfuß verursachen.
10. 2. Originale Baupläne
Der originale Bauplan zum Pfarrhaus von Dahenfeld in Baden-Württemberg von
Georg Philipp Wenger aus dem Jahr 1758 illustriert die zeitgenössische Darstellungsweise des gleichen fünfachsigen Grundtyps. Die Treppe ist hier parallel neben
den schmalen Mittelflur gelegt. Ungelenk ist die Seitenfassade in Verzerrung gezeichnet. Möglicherweise aus Gründen der Blattaufteilung ist die Seitenfassade mit
dem rundbogigen Kellerzugang auf der falschen Seite wiedergegeben. Denn die
Kellerfenster an der Eingangsfassade deuten auf eine Teilunterkellerung der rechten
Haushälfte hin, so dass auch die Kellertreppe sinnvoll unter der Haupttreppe
224
276: Pfarrhaus, Dahenfeld
(Baden-Württemberg)
verlaufen würde. Die seitlich des Obergeschossgrundrisses dargestellte Scheune ist
nicht etwa am Haus angebaut, damit ist ihre Lage im Grundstück gekennzeichnet
(gestrichelte Linien), also hinter dem Haus. Auch hier hat die Blattaufteilung auf dem
teuren und daher ökonomisch verwendeten Pergament bewirkt, dass der Obergeschossgrundriss die Position der Scheune teilweise überdeckt. Die karierte Fläche
im Erdgeschoss stellt den Plattenbelag zur Aufstellung eines Herdes dar und kennzeichnet damit die Küche.405 Daneben ist ein gemauerter Backofen mit seiner ovalen Innenwand eingezeichnet. Ein solcher Backofen findet sich in einigen Originalplänen und ist ein Hinweis für den ausgesprochen hohen technischen Standard der
Pfarrhäuser. Weiterhin sieht man die Ofenstellen in den "Stuben", die immer von
außerhalb der Räume befeuert werden, nämlich von der Küche, dem Flur oder
einem extra angelegten Stichgang. Im Gegensatz dazu sind die "Kammern"
225
unbeheizt. Aborte befinden sich auf beiden Etagen hinter der Treppe. Ihre kleinen
Fenster verleihen der Rückseite ihre Asymmetrie. Diese wird noch durch eine kleine
Öffnung in der Küche ergänzt, möglicherweise zur Belüftung einer schrankartigen
Speisekammer.406
In der Anordnung der Dachgauben, der Wahl der Dachneigung sowie der Ausführung
von Eingangstreppe, Sockel und Horizontalgesims zeigt dieser Entwurf auffällige
Detailähnlichkeiten mit dem Musterentwurf von Balthasar Neumann.
277 Balthasar Neumann: 3 Pfarrhausentwürfe
Doch weitere erhaltene Beispiele von unprofessionell gezeichneten Pfarrhausplänen
nach dem gleichen fünfachsigen Typ legen nahe, dass lokale Baumeister ein als
Grundplan verbreitetes oder durch Anschauung von Bauwerken bekanntes älteres
Vorbild kopierten, ohne diese konkreten Details zu übernehmen.407 Mit dem Pfarrhaus von Dahenfeld gemeinsam haben diese Entwürfe aber durchweg die geohrten
Rahmungen der Fenstergewände, was ebenfalls auf ein anderes Vorbild hindeutet.
In der Ausführung ist die Vielzahl dieser einfachen Pfarrhäuser jedoch allenfalls mit
unprofilierten, steinernen Gewänden ausgestattet und besticht – ohne Gesimse oder
Eckrahmungen – durch die reine Proportionierung und die harmonisch ausgemittelte
Verteilung der Öffnungen auf der Wandfläche.408
226
278 Pfarrhaus, Behlingen (Bayern)
279 Pfarrhaus, Lauterbach (Bayern)
Nur bei größeren Pfarrhäusern mit stattlichen Pfründen findet sich das ganze Repertoire barocker Fassadengestaltung: von der Eckquaderung über Schlusssteine,
Brüstungskartuschen, Festons, Pilaster, Risalite, giebelbekrönte Eingangsportale,
volutenflankierte Zwerchgiebel, balustergeschmückte Treppengeländer bis zu Wappentafeln usw.409 Stichbogenfenster können zur Akzentuierung wahlweise im Erdoder Obergeschoss eingesetzt werden. Interessanterweise finden diese häufig in
Frankreich Verwendung, insbesondere im Elsass, jedoch vergleichsweise selten in
Deutschland.
227
280 Pfarrhaus, Rumersheim (Elsaß)
228
10.3. Technischer Standard: Aborte
Bemerkenswert für den Standard der Pfarrhäuser ist, dass nahezu alle Originalpläne
die für ihre Zeit überaus modernen Aborte als Originalbestand innerhalb des Hauskörpers dokumentieren. Meistens verfügt jede Etage über einen Abort, der als
Locus, Privé, Privet, geheime Gemächer oder Secret bezeichnet wird410. Gelegentlich sind zwei Löcher im Sitzbrett eingezeichnet, das heißt der Abort bietet sogar
zwei Sitzgelegenheiten nebeneinander, was eine von der Antike und dem Mittelalter
überkommene intensive und kommunikative Nutzung belegt.411 Bei den elsässischen Pfarrhäusern findet sich der Abort durchweg in einem schmalen, über beide
Stockwerke reichenden Anbau am Haus, möglicherweise, um die Sickergrube
außerhalb der Fundamente anlegen zu können.412 Während der Abort der oberen
Etage immer vom Haus aus erschlossen wird, ist der Abort im Erdgeschoss oft nur
von außen zugänglich. Diese Isolierung vom Innenraum könnte auf Hygienevorstellungen oder Geruchsvermeidung zurückgeführt werden. Sie ermöglicht die
Benutzung aber auch Personen, die in Nebengebäuden untergebracht sind, ohne
dass sie das Pfarrhaus betreten müssen. In der Besonderheit dieser elsässischen
Baugewohnheit, ebenso in der Verwendung von Stichbogenfenstern, offenbart sich
der lokale Einfluss französischer Bauweisen. Dabei waren die Architekten häufig
keine Franzosen oder Elsässer, sondern kamen – wie zu dieser Zeit weit verbreitet –
aus Graubünden, Tirol oder Vorarlberg. Wie zum Beispiel Johann Caspar Bagnato
erhielten sie eine Ausbildung als Militärbaumeister in unterschiedlichen Armeen und
führten Aufträge beiderseits des Rheins aus. Das beweist, dass sie nicht konstant
Lösungen gemäß der Tradition ihres Herkunftslandes, ihrer Ausbildung oder ihrem
neuesten Kenntnisstand anwendeten, sondern den lokal verschiedenen Bauvorstellungen Folge leisteten.
281
Pfarrhaus, Saint Cosme
(Elsaß)
Kellereingang, Eingang
und Abortanbau
282
Kanonikerhaus, Guebviller
(Elsaß)
Abortanbau
229
10.4. Nationale Besonderheiten: Niederlande und Belgien
Nationale Besonderheiten der Bauweisen und Fassadengestaltung finden sich auch
in den Niederlanden und Belgien. Im ganzen Benelux-Raum herrscht die Bauweise
mit unverputztem Ziegelmauerwerk vor. Die in allen Regionen Europas gelegentlich
anzutreffende höhere Ausführung des Erdgeschosses als Hauptwohngeschoss und
ihre damit einhergehende Fassadengewichtung mit höheren Erdgeschoss- und
niedereren Obergeschossfenstern wird insbesondere in den Niederlanden zu einem
starken Kontrast gesteigert: Die durch eigentümlich niedere Brüstungshöhen betont
hochformatigen Erdgeschossfenster werden mit quadratischen Obergeschossfenstern kombiniert. Bei dieser nicht unvorteilhaften Variante der Typgestaltung wirkt
das Obergeschoss durch die kleineren Fensterformate leichter, und die Vertikalbetonung des Erdgeschosses wird durch das neutral ausgerichtete Obergeschoss
pointiert in die Horizontale von Traufe und First übergeleitet. Beim von Van Gogh
gemalten Pfarrhaus in Nuenen wird diese Akzentuierung noch durch die Beschränkung der Klappläden auf das Erdgeschoss gesteigert. In den Niederlanden weit
verbreitet sind kräftig ausgestaltete Dachgesimse, oft als Kranzgesims nach palladianischem Vorbild – eine Bauweise, die sich von hier auch nach England und von
dort weiter nach Nordamerika verbreitet hat. Das rote Ziegelmauerwerk wir dabei
gern mit einem weißen Anstrich der Holzbauteile, also des Gesimses und der Fensterrahmen, kontrastiert.
283
Pfarrhaus, Nuenen (Niederlande) Gemälde von Vincent van Gogh, 1885
284 Pfarrhaus, Wakkerzeel (Belgien)
In Belgien begegnet man dagegen regelmäßig der Fassadengliederung mit Sockelund Stockwerksgesimsen, auf denen die Fenster sitzen. Wie in Frankreich wird hier
im Gegensatz zu niederländischen Gepfolgenheiten das Ziegelmauerwerk mit Fenstern mit Hausteingewänden kombiniert. Nur in Belgien hat sich zudem die Gewohnheit verbreitet, die Fenstergewände entweder in der Horizontalen oder in der Verti-
230
kalen mit durchgehenden Hausteinbändern zu verbinden. Die Fenster eines Stockwerks sind dann bei der horizontalen Betonung über ihre Stürze und Fensterbänke
miteinander verbunden, ohne dass diese Bänderungen wie Gesimse vor das Mauerwerk ragen. Bei der vertikalen Betonung werden die Fenster einer Achse über ihre
seitlichen Gewände miteinander verbunden. Eine belgische Besonderheit ist weiterhin die Ausführung der seitlichen Fenstergewände in einem Wechsel von Ziegelmauerwerk und Hausteinen. Im gleichen Rhythmus kann eine Eckquaderung aus
einzeln in das Ziegelmauerwerk eingefügten Hausteinen dazu kommen. Auch kann
bei Stichbogenfenstern der Sturz in diesem Materialwechsel gemauert sein.
10.5. Weitere Grundrissvarianten
Weitere Beispiele des Standardgrundrisstyps finden sich mit zweiläufiger Treppe an
der Rückwand, als Abschluss des Mittelflurs.413
Bei einer häufig anzutreffenden Alternative zum Standardtyp ist der Eingang an die
Schmalseite verlegt, so dass der Mittelflur nicht die Breite, sondern die Länge des
Hauskörpers durchquert.414 Die vom Standardtyp bekannte fünfachsige Gliederung
der Längsseite mit Eingang in der Mittelachse wird zuweilen auch auf diese Schmalseite als Schauseite übertragen.415
285 Pfarrhaus, Hemmingen (Baden-Württemberg)
286-291 Pfarrhaus am Weißensee, Füssen (Bayern)
Als Beispiel dient uns das für die Rezeption im 20. Jahrhundert so wichtige Pfarrhaus am Weißensee bei Füssen im Allgäu. Es wurde in der ersten Hälfte des 18.
Jahrhunderts als Fischhaus des Füssener Klosters Sankt Mang erbaut, diente den
Äbten auch als Sommersitz und wurde mit der Einsetzung eines ständigen Pfarrvikars 1766 unter Leitung Franz Karl Fischers zu einem Pfarrhaus umgebaut. Ein
über die Hausbreite reichender Saal im Obergeschoss (heute in drei Räume unterteilt) und das durch die größere Raumhöhe und größere Fenster als Hauptgeschoss
charakterisierte obere Stockwerk verweisen auf die Nutzung als komfortabler
231
Sommersitz mit Blick auf den See und die Ammergauer Berge. Dezente Repräsentation vermittelt die Schnittzeichnung bei der Deckengestaltung des Flurs im Erdgeschoss und der zweiflügeligen Korbbogentür zum Saal. Der quadratische Grundriss
entwickelt eine großzügig durch zwei Bögen abgeteilte quer zum Flur liegende
Treppe. Dreiachsige Eingangsseite und vierachsige Längsseite sind symmetrisch
gegliedert, wohingegen die anderen Seiten durch zusätzliche Abortfenster und
geschlossene Wandflächen bei Abort und Speisekammer die bekannten asymmetrischen Fassaden ausbilden. Dennoch wurde auch bei diesen Fassaden Wert auf
eine gewisse Regelmäßigkeit gelegt, wie am schrägen Gewände des unteren
Abortfensters ablesbar ist. Das Grundwasser erlaubte offensichtlich keine Unterkellerung. Dafür ist neben der Speisekammer ein kleiner Raum um vier Stufen tiefer
gelegt und als Keller ausgewiesen.
289 Obergeschoss
290 Obergeschoss
232
Der quadratische Grundriss bedingt, dass es faktisch keine "Schmal-" und "Längsseite" im Aufriss gibt. Somit wird die gestalterische Bedeutung des Walmdachs im
Gegensatz zu einem Zeltdach deutlich, denn das Dach allein gibt dem Haus die
eindeutige Breitenlagerung einer Seite und erzeugt damit eine Richtung im landschaftlichen oder städtebaulichen Kontext.416 Von entscheidender Bedeutung für die
Wirkung der Breitenlagerung ist die Länge des Firstes. Offensichtlich beträgt seine
Länge in der Regel ungefähr wenigstens die Hälfte der Trauflinie. Aus diesem Grund
mussten beim Pfarrhaus am Weißensee unterschiedliche Dachneigungen für
Giebel- und Traufseite konstruiert werden, was seine eigentümliche Wirkung ausmacht. Die Angaben in der Literatur schwanken von 54 und 69 bis 53 und 70 Grad
und ergeben beim Nachmessen der wiedergegebenen Bauaufnahme 49 und 63
Grad. Die Maßstabstreue der Planrekonstruktionen und ihre Verkleinerungen unterliegen allerdings einem Streufaktor. Sollte jedoch für die Giebelseite 53 Grad stimmen, dann wäre sie möglicherweise vom pythagoreischen Dreieck abgeleitet. Wand
und Dach sind zwar nicht exakt, doch annähernd gleich hoch. Die differenzierte
Proportionierung wird neben den unterschiedlichen Fensterhöhen durch die Zentrierung der Fenstergruppen bestimmt, so dass die Fenster, bedingt durch die
Klappläden, untereinander einen geringeren Abstand halten als zur Hausecke.
Außerdem ist der Abstand der Erdgeschossfenster zueinander größer als derjenige
der Obergeschossfenster. Das heißt die Obergeschossfenster sind unwesentlich
breiter. Nur an der Breitseite wird dies durch die Abstände der Klappläden richtig
deutlich. Bemerkenswert, wenn auch genauso unauffällig ist die asymmetrisch über
der Eingangsfassade platzierte Schleppgaube.
Wegen seiner ausgewogenen Proportionierung, der Wirkung des Hauskörpers im
Verhältnis zur Dachfläche und den hierzu förderlichen Details wie den bündig außen
liegenden Fenstern oder dem schmalen Putzgesims als Übergang zur Dachtraufe
wurde dieses Gebäude in der Literatur des 20. Jahrhunderts mehrfach als vorbildlich
233
gerühmt.417 Die Proportionsanalyse ergibt ein ausgefeiltes System sich wiederholender Maße418, wie wir es bereits bei Goethes Gartenhaus, dem Jagdhaus Gabelbach und dem Gartenhaus von Schloss Buchholz festgestellt haben419. Einige
dieser Maße finden sich nicht nur an der Fassade, sondern auch im Grundriss
wieder. Sie sind jedoch für die Außenwirkung und für innere funktionale Gesichtspunkte vollkommen unerheblich.
Eine Erklärung für diese Methode wäre daher, dass nicht unbedingt ein akademisch
geschulter Architekt mathematische Idealmaße auf einem Plan abzirkelt, sondern
dass Baumeister oder Bauhandwerker eine überlieferte Praxis der Bauabmessung
vornehmen: Mit einer Schnur werden bestimmte praktische Teillängen auf dem
Boden des Bauplatzes abgeteilt.420 Nehmen wir die Hauslänge von 12,40 m als
vorgegeben an, so wurden die Maße 1/2 und 1/4 dieser Länge abgeleitet und auf
verschiedenste Bauteile übertragen. Eine Schnur mit Knoten an den gewünschten
Punkten dient zur Bestimmung und Überprüfung der Maurerarbeiten auf der Baustelle. Die Praxis auf der Baustelle bedingt die Differenzierung, dass manche Abstände von der Außenseite der Mauern aus gemessen wurden und andere von der
Innenseite der Mauern aus. Bei den ersten Markierungen auf dem Boden des Bauplatzes kann eine Wand auch direkt auf der Markierung hochgezogen werden, so
dass als Messpunkt der Wandmittelpunkt erscheint. Insbesondere für die mit diesen
Grundmaßen übereinstimmenden Raumproportionen des Inneren ist zu berücksichtigen, dass die Außenwand im Erdgeschoss dicker ist als im Obergeschoss421.
Dass manche Raumdimensionen im Obergeschoss dennoch präzise mit diesen
Maßen übereinstimmen, kann als Beweis für die Anwendung dieser Methode gelten.
Es bleibt die Frage, ob die Baumeister und Handwerker darin eine reine Arbeitserleichterung sahen oder ob dem Übertragen der abgeleiteten Maßverhältnisse auf
einzelne Innenräume auch bei diesem einfachen Bauwerk eine Bauphilosophie zur
harmonischen Raumwirkung zugrunde lag.
292-294 Pfarr- und Chorherrenhaus,
Eberhardszell (Baden-Württemberg)
234
Eine weitere Variante findet sich im vermehrt anzutreffenden Sechs-Felder-Grundriss, gewissermaßen durch einen zur Raumbreite geweiteten Mittelflur. In der Regel
dient das mittlere Feld als Eingangshalle mit seitlich darin geführtem Treppenlauf.422
In repräsentativeren Häusern bleibt diese mittlere Eingangshalle frei, und die Treppe
ist im mittleren Feld zur Rückseite hin angeordnet.423 Abschnittsweise können
Längs- und Querflure dieses Grundrissbild differenzieren, um die unabhängige Nutzung der Räume sowie Eingänge von verschiedenen Seiten zu ermöglichen.424
Besonders raumreiche Häuser zeigen Grundrisse mit zwei Vier-Felder-Zonen und
dazwischen liegender Querhalle425 oder werden von einem Längs- und einem Querflur kreuzförmig durchschnittenen426. Die Treppe liegt dabei im hinteren Flurarm. Die
Zimmer sind wie bei einem Bürobau beidseitig des Längsflurs angeordnet.
295-296 Pfarrhaus, Weidenbach (Bayern).
Erdgeschoss
297 Pastorat zu Sankt Jacobi, Münster
(Westfalen). Erdgeschoss
235
So wie die verschiedenartigen Grundrissgruppen vom gängigsten Grundtyp abgeleitet werden können, ergibt sich auch in der Fassadengliederung eine beträchtliche
Variationsmöglichkeit hinsichtlich der unterschiedlichen Größen, Achsrhythmen oder
Asymmetrien. Dabei behält unser Bautyp immer seine erkennbare Charakteristik
und beweist damit seine Flexibilität und Praktikabilität. Trotz der Bandbreite vom
ärmlichen Häuschen bis zum prächtigen Palais wird die gleiche distinktive Bedeutungsabsicht beibehalten. Gerade hier wird deutlich, dass dieser formale Wiedererkennungswert mit einer anderen, beliebigeren Dachform als der des Walmdachs
nicht hätte erzielt werden können. Die Entscheidung für diese komplexe Dachkonstruktion auf dem einachsigen Bremer Pastorenhaus mit seinem auf das Minimum
reduzierten Raumprogramm mag als Extrembeispiel unsere These untermauern.
Der Nachweis prägnanter Beispiele von Pfarrhäusern mit den gängigen Achsenzahlen im Anmerkungsapparat427 macht deutlich, dass die Vorliebe für die dreiachsige Variante im 20. Jahrhundert keine Entsprechung im 18. Jahrhundert findet,
in dem dieser formale Grundtyp relativ selten verwendet wird.
298-301
Pastorat zu Sankt Pauli, Bremen.
Erd- und Obergeschoss
302 Pfarrhaus, Allensbach (Baden-Württemberg)
303 Abtshaus Kloster Birnau (Baden-Württemberg)
236
10.6. Asymmetrie als Gestaltungsansatz
Bei den asymmetrischen Fassaden der Barock-Pfarrhäuser lassen sich verschiedene Gestaltungsstufen analysieren.
Auf einer ersten Stufe wird nur der Achsabstand variiert, so dass die Achsenkonkordanz als Ordnungsfaktor gewahrt bleibt. Diese zaghafte Freiheit erlauben sich die
Baumeister jedoch nicht bei Fassaden mit Eingang in der Mittelachse, sondern nur
bei Fassaden, die durch eine gerade Achsenzahl sowieso schon eine asymmetrisch
platzierte Eingangstür haben. Das Pfarrhaus in Staffelstein zeigt einen engeren Abstand der äußeren linken Achse zur benachbarten Fensterachse, so dass um den
Eingang herum eine gleichmäßig rahmende, gewissermaßen "stabile" Komposition
erhalten bleibt. Das Pfarrhaus in Seefelden dagegen hat einen weiteren Abstand der
äußeren linken Achse und die Eingangsachse als Scheidepunkt, so dass sich die
drei rechten Achsen als in sich asymmetrische Gruppe zusammenschließen. Die
optische Verbindung der Klappläden lässt zudem ungleich lange Reihungen an
Ober- und Erdgeschoss entstehen. Das Pfarrhaus in Triembach-au-Val zeigt genau
den gleichen Aufbau mit zusätzlich asymmetrisch geführter Freitreppe.
304 Pfarrhaus, Staffelstein (Bayern)
305 Pfarrhaus, Seefelden (Baden-Württemberg
306 Pfarrhaus, Triembach-au-Val (Elsaß)
307 Pfarrhaus, Dornburg (Thüringen)
237
Eine Besonderheit ist das Pfarrhaus in Dornburg mit asymmetrischer Eingangstür
trotz ungerader fünfachsiger Fassade. Hier kommen zudem noch drei verschiedene
Achsweiten zum Einsatz statt nur zwei wie bei den vorigen Beispielen. Die Rückseite
des Pfarrhauses in Reichenau-Niederzell zeigt die Kombination von Achsweitenwechseln mit Fenstergrößenvariation durch die Notwendigkeit von Abortfenstern.
308-309 Pfarrhaus, Reichenau-Mittelzell (Baden-Württemberg)
Ein erweiterter Aspekt tritt auf, wenn zum Wechsel der Achsenweiten noch das Ausscheren aus der Achsenkonkordanz hinzu kommt, wie bei der Rückseite des Pfarrhauses in Pürgen. Im Zusammenspiel mit dem leicht abschüssigen Gelände entwickelt diese Fassade eine faszinierende Spannung, denn die komplette Reihe der
Obergeschossfenster ist nach links verschoben, als ob sie die größere Hausmasse
zur Rechten ausgleichen wollte. Fast wie ein Fehler in der Bauausführung ist die
Mittelachse minimal nach rechts verschoben, wohingegen das Dachhäuschen deutlich nach links von der Mitte abweicht. Letzteres würde man sich nun doch auf der
Achse der Tür wünschen ...
310 Pfarrhaus, Pürgen, Bayern
318 Pfarrhaus, Neuviller-les-Saverne (Elsaß)
Eine weitere Stufe ist das vereinzelte Variieren der Fensterformate. An der Rückseite des Pfarrhauses in Neuviller-les-Saverne ist trotz verschiedener Fensterbreiten,
Gesimshöhen, Achsweiten und eines tieferen und rundbogigen Kellereingangs die
238
Achsenkonkordanz beibehalten. Die Rückseite des Pfarrhauses von Saint Martin
besticht durch ausgeglichene Proportionen, obwohl das rechte untere Fenster die
Achsenkonkordanz verlässt, das linke untere Fenster von der Stockwerkskonkordanz abweicht und zwei Kellerfenster das System vollständig durchbrechen.
311-312 Pfarrhaus, Saint Martin (Elsaß)
313-314 Pfarrhaus, Trochtelfingen (Bayern)
Bemerkenswert ist die Rückseite des Pfarrhauses in Trochtelfingen. Auch hier sind
Achsweiten, Achsen- und Stockwerkskonkordanz aufgegeben. Und dennoch bemüht
sich eine paarweise Gruppierung um ein freies Ordungssystem. Das dazwischen geschobene Treppenhausfenster legt dazu sogar seine Sturzhöhe auf die Gesimslinie
der oberen Fenster (In den drei letzten Beispielen beobachten wir "offizielle" Kleinfenster mit einheitlich gestalteten Gewänden und erachten übrige Öffnungen ohne
diese Gewände als nachträglich eingebrochen). Eine unrhythmischere Variante mit
mittigem Treppenhausfenster findet sich bei der Seitenfassade des Beamtenhauses
in Bad Schussenried.
239
317 Beamtenhaus, Bad Schussenried (Baden-Württemberg)
315 Pfarrhaus, Belzig (Brandenburg)
316 Pastorat, Ratzeburg (Schleswig-Holstein)
Der Trick, durch paarweise Anordnung Unregelmäßigkeiten zu harmonisieren, funktioniert auch am Pfarrhaus in Belzig, wo zur unregelmäßigen Fachwerkkonstruktion
noch ein teilweise massiv gemauertes Erdgeschoss mit deutlich aus der Achse gesetztem Fenster hinzukommt. Der Usus, unregelmäßige Erdgeschosse mit gleichmäßig rhythmisierten Obergeschossen zu kompensieren, findet sich auch am Pastorat in Ratzeburg und an der Vorderseite des Pfarrhauses in Saint Martin. Die Rückseite des Pfarrhauses in Rengersdorf gliedert ihre zahlreichen Unregelmäßigkeiten
allenfalls behelfsmäßig mit einer fadenkreuzartigen Bänderung, die bizarr auf dem
Gewände des Hintereingangs aufsitzt. Vollkommen ungleichmäßige Rhythmen und
Achsweiten zeigt das Pfarrhaus in Villé, was aber durch die lapidare und annähernd
gleichmäßige Verteilung der Fenster kaum auffällt.
319-320 Pfarrhaus, Rengersdorf (Sachsen/Oberschlesien)
240
321 Pfarrhaus, Villé (Elsaß)
322 Pfarrhaus, Romillé (Bretagne)
So wenig die rückseitigen Fassaden in den zeitgenössischen Plänen dargestellt
werden oder in der Literatur Erwähnung finden, so deutlich fällt doch auf, dass die
Unregelmäßigkeit immer einer unterschwelligen Gestaltungsabsicht im Sinne einer
die Unordnung bejahenden und gleichwohl ausgleichenden Bearbeitung unterlag.
Man könnte gewissermaßen von einer Ordnung der Unordnung sprechen. Eine
totale Unansehnlichkeit einer Rückseite findet sich lediglich infolge späterer unsensibler Umbauten.
Nur manche Pfarrhäuser in Frankreich (ohne Elsass) weichen von dieser Beobachtung ab. Dort finden sich Bauten, die auch an ihrer Hauptfassade vollkommen unregelmäßige Fensterverteilungen aufweisen, ohne einen Ordnungsgedanken im
Sinne kontrollierter Asymmetrie erkennen zu lassen.428 Die frühe Datierung vieler
dieser Pfarrhäuser auf das 17. Jahrhundert überzeugt, da ihre Steinschnitt des
Mauerwerks und der Gewände verhältnismäßig grob gearbeitet ist. So lässt sich
vermuten, dass der Bautyp des Pfarrhauses mit Walmdach seinen Ursprung in
Frankreich hat, dass um 1700 seine Gestaltung hin zu Ordnung, Regelmäßigkeit
und Präzision entwickelt wurde und dass er mit diesem Erfolgsmodell seine größte
Verbreitung im deutschsprachigen Raum fand.
10. 7. Andere Nutzungen
Das Spektrum der Walmdachverwendung wurde anhand der bayerischen Denkmalliste bereits abgesteckt. Wir führen daher nur noch einige ausgewählte Beispiele mit
ihren Besonderheiten auf, die sich wieder aus dem europaweiten Kontext rekrutieren.
Mit den Pfarrhäusern nahezu identisch sind viele Forsthäuser, auch mit der Anlage
eines Hofes mit Nebengebäuden.429 Während die Größe, Regelmäßigkeit und typgerechte Fünfachsigkeit vieler Forsthäuser auf den hohen Stellenwert der Forstwirtschaft innerhalb der Amtshierarchien hinweist, zeigt sich bei untergeordneten
241
Aufsichtsstellen überwiegend eine kleinere und unregelmäßigere Ausführung der
Amtshäuser (so beim Försterhaus in Wolbeck Abb. 144)430. Größere Dimensionen
mit weniger kompakten Grundrissen und längeren Fassaden, die sich dennoch im
Erscheinungsbild des Typs bewegen, zeigen die Amtshäuser im engeren Sinn.431
Rathäuser bieten eine Bandbreite von großen dreigeschossigen Bauten mit repräsentativen Treppenanlagen432 bis zu den bescheidenen Dimensionen unseres
Typs433. Ihre Walmdächer werden oftmals durch einen Dachreiter als Uhrturm in
ihrer Funktion gekennzeichnet.
323-324 Jägerhaus, Neuensorg
(Baden-Württemberg).
Obergeschoss und Erdgeschoss
326 Amtshaus, Staffelstein (Bayern)
Obwohl ihnen ein anderes Raumprogramm zugrunde liegt, finden wir auch Schulen434 und Waisenhäuser435, die nicht nur auf einem individuellen Baukörper ein
Walmdach als Bedeutungselement tragen, sondern exakt unserem Typ entsprechen. Auch Gasthäuser436 ähneln mit ihrer Gaststube den Anforderungen einer
Schule mit einem oder mehreren Unterrichtsräumen oder den Rathäusern mit einem
kleineren Saal. Alle diese Sonderfunktionen ließen sich jedoch mit den bekannten
Grundrisstypen erfüllen. Häufiger finden sich bei diesen größeren Raumprogrammen
folglich sieben-, neun- und bis zu elfachsige Fassaden.
327 Schule, Lüchow (Niedersachsen)
328 Johann Vogel: Musterplan für ein Rathaus
342 Mühle, Oberschlema (Sachsen)
329-332 Entwurf für ein Brauhaus
242
343 Mühle, Hotton (Belgien)
334-337 Schafstall, Hambühl (Bayern)
339-341 Kelter, Aspach (Baden-Württemberg)
Bei Mühlen437, Brauhäusern438, Keltern439, Schafställen440, Getreidespeichern441
und militärischen Magazingebäuden442 begegnen wir Grundrissen, die die gesamte
Grundfläche einnehmende Räume ohne Zwischenwände benötigen. Zusätzlich zur
hoheitlichen oder fiskalischen Bedeutung könnte das Walmdach bei diesen Nutzungen auch wegen seiner Konstruktion gewählt worden sein. Denn die liegenden Dachstühle leiten die Dachlasten weitgehend oder vollständig auf die Außenmauern ab.
243
Und insbesondere bei einstöckigen Bauten hätte die Aufführung von Giebelwänden
zusätzliche Aussteifungen mit Dachböden erfordert, denn die üblichen steilen Dachschrägen bedingen entsprechend hohe Giebel. Bei Mühlen und Keltern wurde der
durchgehende, auch in den Dachraum hinein offene Raum aber zur Aufstellung der
hohen Pressen, Mahlwerke oder Hammermaschinen benötigt. Die Existenz solcher
Gebäude mit Satteldächern belegt natürlich, dass es konstruktiv auch anders ging.
Doch können wir bei den Gebäuden unseres Typs davon ausgehen, dass sie zu
ihrer Zeit als die moderneren, stabileren oder gegebenenfalls materialsparenderen
Lösungen zur Erreichung bestimmter Ziele eingesetzt wurden. Allerdings wurden
auch die offenen Markthallen des Mittelalters und der frühen Neuzeit wegen der
gleichen Nutzungsanforderung mit hohen, durchgehend offenen Räumen unter
Walmdächern ausgeführt. Nach der Bautradition sind sie aber wie die alten Bauernhaustypen Innengerüstbauten, können also konstruktiv nicht direkt mit unserer moderneren Walmdachkonstruktion gleichgesetzt werden.
338 Entwurf für ein Pulvermagazin, Torgau (Sachsen)
333 Markthalle, Brancion (Burgund)
Während Keltern und Schafställe meist eingeschossig sind, haben Mühlen in der
Regel zwei Stockwerke mit pragmatischer unregelmäßiger Fensterverteilung, die
nicht einer ausgewogen gestalteten Asymmetrie folgt wie bei den Pfarrhäusern.
Magazine und Speichergebäude finden sich zuweilen mit drei Stockwerken und
wieder regelmäßiger Fassadengestaltung. Anstelle der Fenster sind diese Bauten
oft nur mit kleinen Luken versehen. Das gleiche gilt für Amtsgefängnisse.443
Ein oft unmerklicher Schritt ist es von den dem Standardtyp entsprechenden Amtshäusern zu den Wohnhäusern von Amtsinhabern.444 Besonders Wohnhäuser von
Amtspersonen, wie diejenigen des Bürgermeisters von Bremen (Abb. 253)445, des
Obergerichtsverwalters in Ellingen446, des Landrichters in Nidda-Borsdorf447 oder
des Nachrichters in Hemmendorf448, schlagen die Brücke zur Verwendung des
244
Bautyps als bürgerliches Wohnhaus allgemein. Gerade beim Nachrichterhaus – eine
altertümlich mittelhochdeutsche Bezeichnung für den Scharfrichter – verblüfft jedoch
nach unseren heutigen Wertmaßstäben, dass der Henker im Kreis Hameln in einem
gleichartigen Haus wohnt wie der Bürgermeister der mächtigen Hansestadt Bremen.
344 Wohnhaus des Obergerichtsverwalters, Ellingen (Bayern)
345-346 Beamtenhaus, Altshausen (Baden-Württemberg)
Eine besondere Lage, Geschichte und folglich Breitenwirkung hat in diesem Zusammenhang das Wohnhaus des Architekten449 und inoffiziellen Hofbaumeisters Johann Heinrich Endrich, das dieser 1718/20 am Rand der Parkanlage der Eremitage
zu Bayreuth errichtete. Ab 1732 wurde es zum Landhaus oder Schlösschen Monplaisir der Markgräfin Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth erhoben. Ihr Bruder,
König Friedrich II. von Preußen, besuchte sie zweimal in Begleitung Voltaires und
verweilte hauptsächlich in diesem Haus.450 Seine bühnenbildhafte Lage im Park mit
barockisierendem Vorgarten, seine ausgewogenen Maße und Fensterproportionen,
seine Kombination von fünfachsiger Vor- und dreiachsiger Rückseite sowie seine
Regelmäßigkeit in der Ausführung von Eckmauerung, Dachgauben und Kaminen
geben ihm die herausstechende Qualität eines Prototyps.
347 Schloss Monplaisir,
Eremitage Bayreuth (Bayern)
245
348-355 Menageriegebäude bei Schloss Ludwigsburg (Baden-Württemberg)
352 Erdgeschoss
353 Obergeschoss
In einem ähnlichen Kontext steht das Menageriegebäude im Park von Schloss
Ludwigsburg, in alten Stichen auch "Hühnerhaus am Posilippo" genannt451. Es ist als
Aufsehergebäude für Park und Tiergehege überliefert und könnte doch auch als
intime Rückzugsmöglichkeit für Teile der Hofgesellschaft, wenn nicht für den König
von Württemberg selbst, im Rahmen romantisch inszenierter Spaziergänge nach
Vorlage der Schäferidyllen oder nach bürgerlichem Habitus gedient haben. Es ist
246
eines der äußerst raren Beispiele unseres Typs auf dem Gebiet von Alt-Württemberg
und noch dazu in der seltenen dreiachsigen Variante. Weiterhin verblüfft es durch ein
artifiziell unregelmäßig geschichtetes Mauerwerk, das mit schrägen Wänden, einzelnen Ausbuchtungen, verwachsenen Ecken, diagonal versetzten spitzen Bruchsteinen
und einem Dachgesims in Form roher Baumstämme der Regelmäßigkeit seines
Grundplanes diametral entgegensteht. Selbst in ähnlichen romantischen Parkanlagen
und Eremitagen wie Bayreuth, Wörlitz oder dem Hameau von Marie Antoinette in
Versailles ist uns ein in Bauplan und Detailausführung vergleichbarer Bau nicht
bekannt.452 Die Originalität des einen, ungewöhnlich großen Erdgeschossfensters
erscheint trotz des überzeugenden Asymmetrieeffekts zweifelhaft. Auch das linke
hochgesetzte Fenster fällt in Format und Sprossung aus den Konventionen des 18.
und frühen 19. Jahrhundert heraus. Seine Position wird allerdings durch das Kellergewölbe bedingt, das nur an dieser Hausseite liegt und über die Bodenhöhe des
Erdgeschosses hinausragt. Zwischen Keller und Obergeschoss bleibt daher nur ein
niedriger Geräteraum übrig, und das Vorpodest zur Treppe führt vier Stufen erhöht an
diesem Fenster vorbei.
Während in der Wahl der Konstruktionen und Bauausführungen der Amts- und Pfarrhäuser des 18. Jahrhunderts eine bis heute erkennbare Stabilität und Langlebigkeit
als wesentliche Zielsetzung der Bautätigkeit deutlich wird453, belegt das Bauschrifttum des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine noch strengere Holzeinsparung. Zu diesem Zweck wurden die hohen barocken Dächer, insbesondere die
Mansarddächer, kritisiert454 und flachere Dachkonstruktionen propagiert455. Das
schränkte die optische Wirkung, den Erkennungsfaktor und damit den Bedeutungsgrad der Walmdächer erheblich ein und trug zum Abriss der Tradition unseres
Bautyps bei. Die sogenannte Landbaukunst prägte nunmehr noch stärker die Notwendigkeit der Sparsamkeit und Effizienz. Der Aspekt der Selbstdarstellung des
Wohlstands trat in den Hintergrund. Dächer, Dachkonstruktionen, Wandstärken und
Proportionen wurden nicht mehr wegen ihrer mächtigen oder behäbigen Wirkung
ausgewählt, die mit einer nachhaltigen Stabilität einherging.
Mit der Auflösung vieler Kleinstaaten endete in Deutschland die Prestigekonkurrenz
der Kleinfürsten. Die staatliche Selbstdarstellung entfernte sich im 19. Jahrhundert
vom Erscheinungsbild saturierter Palais' und Herrensitze. Der Beamtenapparat
wurde strenger organisiert. Auch im napoleonischen und nachnapoleonischen
Frankreich setzte der Ausbau straffer Verwaltungsstrukturen ein. Er schlug sich dort
in Amtshäusern der Gendarmerie nach unserem Typ nieder, allerdings in bescheidenem Auftritt und ohne Hofwirtschaft der nunmehr zentral besoldeten Beamtenschaft.
247
359 Rathaus, Courtomer (Normandie)
357 Villa (Ile d’Oléron)
Ein Gesetz von 1833 zum Aufbau des Grundschulwesens und der Gemeindeverwaltung (Loi Guizot) bescherte ganz Frankreich eine Bauwelle solcher Rathäuser,
Schulen und kombinierter Schul-Rathäuser (oft mit Wachlokal, Spritzenhaus und
Dienstwohnung) nach unserem Bautyp mit drei bis vier Achsen und halbhohem
Walmdach.456 Sie beeinflussten den bürgerlichen Wohnhausbau ebenso, wie Bauernhöfe mit separatem "bürgerlichem" Wohnhaus bis hin zu kleineren Villen und
Diensthäusern für Direktoren von Fabriken und öffentlichen Einrichtungen. Diese
Häuser sind häufig durch formalen Schematismus, engatmige Proportionen, sowie
eine maschinell perfekte, glatte Steinbearbeitung gekennzeichnet. Trotz regionaltypischer Materialwahl und Gestaltungen in den historistischen Neo-Stilen ergibt sich
dadurch oft ein trockenes Erscheinungsbild.
356 Bauernhaus (Auvergne)
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Wie weit sich der Stellenwert unseres Bautyps vom Ausdruck des Besonderen hin
zum Alltäglichen veränderte, verdeutlicht ein impressionistisches Gemälde von
Alfred Sisley aus dem Jahr 1873. Das Ufer der Seine bei Bougival mit rauchendem
Schornstein im Hintergrund sowie Arbeitspferden und Lastkähnen im Mittelgrund
folgt dem Usus der Impressionisten, bevorzugt Motive aus dem banalen, teils sogar
schäbigen Alltag darzustellen und pittoreske Landschaften oder konventionell
schöne Stadtansichten mit touristisch bedeutsamen Bauwerken zu vermeiden.
Dieses typkonforme Walmdachhaus steht in diesem Gemälde als ehemals nicht
darstellungswürdiges Objekt aus dem Arbeitsumfeld der Stadtränder mit Sägemühlen, Sandgruben oder Verladestationen. In der akademischen Salonmalerie für
die feine Gesellschaft hätte es nichts zu suchen.
Damit blieb die Tradition des Bautyps in Frankreich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhalten. Es gibt jedoch keinerlei Anzeichen, dass sich die deutschen Reformarchitekten durch diese teils regionalistischen, teils historisierenden Bauten zu ihrer
Wiederentdeckung des Walmdachhauses anregen ließen.
358 Alfred Sisley: „Die Flut. Ufer der Seine bei Bougival“, Ölgemälde 1873