Frieden versus Gerechtigkeit? - Zeitschrift für Internationale

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Frieden versus Gerechtigkeit? - Zeitschrift für Internationale
Frieden versus Gerechtigkeit?
Zur Aussetzung der Ermittlungen gegen Omar Hassan al-Bashir nach Art. 16 IStGH-Statut
Von Rechtsreferendarin Elisa Hoven, Berlin*
Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes
(IStGH) gegen den sudanesischen Präsidenten Omar Hassan
al-Bashir stellt einen Meilenstein für die Entwicklung des
Völkerstrafrechts dar. Erstmals in der Geschichte des IStGH
wird Anklage gegen ein amtierendes Staatsoberhaupt erhoben. In den Reihen der afrikanischen Staaten mehrt sich
jedoch die Kritik an einer Strafverfolgung al-Bashirs. Unter
Berufung auf die Notwendigkeit einer Ausreise al-Bashirs zu
Friedensgesprächen missachten die Nachbarstaaten den
Haftbefehl und fordern vom Sicherheitsrat eine Aussetzung
der Untersuchungen. Art. 16 des Römischen Statutes (IStGHStatut) legitimiert den Sicherheitsrat zu einem Aufschub der
Strafverfolgung im Falle einer internationalen Friedensbedrohung. Mangels eines Präzedenzfalles sind Voraussetzungen und Folgen von Art. 16 bislang nicht abschließend geklärt.
Die Unterbrechung der Ermittlungen durch den Sicherheitsrat stellt einen empfindlichen Eingriff in die Unabhängigkeit des Gerichtshofes dar. Sie birgt zudem die Gefahr
einer politischen Instrumentalisierung des internationalen
Strafrechts.
Art. 16 IStGH-Statut räumt dem Frieden Vorrang vor der
Durchsetzung individueller Gerechtigkeit ein. Die Entscheidung für eine Aussetzung stellt damit einen Grundgedanken
des Völkerstrafrechts, das auf der Idee des „peace through
justice“ beruht, in Frage. Wird Gerechtigkeit als Garant für
dauerhaften Frieden verstanden, sind strenge Anforderungen
an eine Anwendung von Art. 16 IStGH-Statut zu stellen.
The arrest warrant issued by the International Criminal
Court (ICC) against Sudanese President Omar al-Bashir for
war crimes, genocide and crimes against humanity in Darfur
is a significant milestone for international criminal law. For
the first time in the history of the ICC, a sitting head of state
is charged under the Rome Statute.
Referring to the importance of bilateral peace talks, the
African Union urges the UN Security Council to suspend the
indictment of al-Bashir. Art. 16 of the Rome Statute (ICCStatute) allows the Security Council to prevent the court from
investigating or prosecuting a case in the event of threat to
the peace. As there exists no precedence, the legal requirements and consequences of Art. 16 ICC-Statute have not yet
been clarified.
A deferral of investigations contains the risk of political
interference with the Court’s independence. By giving peace
* Die Autorin arbeitete im Rahmen ihrer völkerstrafrechtlichen Promotion als Legal Assistant an den Extraordinary
Chambers in the Courts of Cambodia. Sie studierte am Lauterpacht Center for International Law in Cambridge und am
War Crimes Studies Center an der Universität Berkeley.
Derzeit ist sie als Rechtsreferendarin am Kammergericht
Berlin im Auswärtigen Amt beschäftigt. Der Beitrag gibt
allein die Ansichten der Autorin wieder.
priority over justice, Art. 16 ICC-Statute calls into question a
fundamental idea of international criminal law, the concept
of „peace through justice“. Since lasting peace can only be
achieved by the means of justice and authentic reconciliation,
a Security Council suspension under Art. 16 ICC-Statute has
to remain an exception.
I. Einführung
Art. 16 des Römischen Statuts legitimiert den Sicherheitsrat
zur Aussetzung von Ermittlungen und Strafverfolgung in
Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs. Voraussetzung für eine Intervention des Sicherheitsrates ist die Annahme einer Bedrohung des Weltfriedens oder der internationalen Sicherheit nach Kapitel VII UN-Charta. Der Fall des
sudanesischen Präsidenten Omar Hassan al-Bashir könnte
erstmalig Anlass für den Aufschub einer eingeleiteten Untersuchung bieten. Die anstehende Unabhängigkeitserklärung
des Südsudans stellt die Region vor politische und wirtschaftliche Herausforderungen. Angesichts der von der Afrikanischen Union erhobenen Forderung nach einer Aufhebung des
Haftbefehls gegen al-Bashir wird der Sicherheitsrat ein Vorgehen nach Art. 16 IStGH-Statut zu erwägen haben.
Im Februar dieses Jahres beantragte auch Kenia einen
Aufschub der Ermittlungen durch den IStGH.1 Nachdem es
im Zuge der Wahlen 2007/2008 in Kenia zu Gewaltausbrüchen gekommen war, hatte der Chefankläger des IStGH Ermittlungen gegen sechs ehemalige Regierungsmitglieder
eingeleitet.2 Unabhängig von seiner prozessualen Einkleidung ist der Antrag an den Sicherheitsrat jedoch inhaltlich
nicht auf eine Aussetzung nach Art. 16 IStGH-Statut gerichtet. Die Forderung Kenias stützt sich nicht auf eine Bedrohung des internationalen Friedens, sondern verfolgt die Herstellung von Komplementarität. Eine Unterbrechung der
Verfahren soll Kenia Zeit geben, Maßnahmen zur Durchführung einer nationalen Strafverfolgung einzuleiten. Im Falle
einer wirksamen Ahndung der Verbrechen durch innerstaatliche Gerichte wäre eine Zuständigkeit des IStGH nach dem
Grundsatz der Komplementarität, Art. 17 Abs. 1 lit. a IStGHStatut, gesperrt.3 Der Sicherheitsrat wird sich daher nur am
Rande mit den Anforderungen des Art. 16 IStGH-Statut aus1
Siehe hierzu in der Presse: Gault, On Kenya and Statefunded Defences of ICC Accused, Legal Frontiers v.
6.2.2011, abrufbar: http://www.legalfrontiers.ca/2011/02/onkenya-and-state-funded-defences-of-icc-accused/ (zuletzt abgerufen am 13.4.2011).
2
Die Pre-Trial Chamber bestätigte das Ersuchen des Anklägers zur Einleitung von Ermittlungen, ICC (Pre-Trial Chamber II), Decision Pursuant to Article 15 of the Rome Statute
on the Authorization of an Investigation into the Situation in
the Republic of Kenya v. 31.3.2010 – ICC-01/09. Am
15.12.2010 beantragte Chefankläger Ocampo bei Gericht die
Ladung von sechs Personen.
3
Werle, Völkerstrafrecht, 2. Aufl. 2007, S. 102.
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einandersetzen müssen. Gleichwohl zeigen die Bemühungen
Kenias erneut die Notwendigkeit einer klaren rechtlichen
Einordnung von Art. 16 IStGH-Statut.
Nicht zuletzt offenbart sich die Bedeutung des Sicherheitsrates für die Praxis des internationalen Strafrechts gegenwärtig im Libyen-Konflikt. Am 26. Februar 2011 verabschiedeten die Mitgliedstaaten einstimmig die Resolution
1970 (2011) und überwiesen die Situation in Libyen an den
IStGH. Der Konsens über die Anrufung des Gerichtshofes
zeigt eine Tendenz des Sicherheitsrates, auf internationale
Konflikte mit den Mitteln strafrechtlicher Sanktion zu reagieren. Da der Sicherheitsrat dem IStGH eine besondere Rolle
als Instrument der Friedenssicherung beimisst, werden sich
künftig vermehrt Fragen nach dem Verhältnis der Institutionen sowie den Gefahren einer Politisierung des Gerichtshofes
stellen.
Mit der Möglichkeit zur Aussetzung einer internationalen
Strafverfolgung gewährt Art. 16 IStGH-Statut dem Sicherheitsrat bedeutenden Einfluss auf die Arbeit des Gerichtshofs.
Unter Berufung auf den globalen Frieden ist der Sicherheitsrat dazu ermächtigt, eine Fortführung der Ermittlungen zumindest zeitweilig zu verhindern. Eine entsprechende Resolution setzt sich in Widerspruch zur grundlegenden Entscheidung der Staatengemeinschaft für die Verfolgung völkerstrafrechtlicher Verbrechen. Durch den Rückgriff des Sicherheitsrates auf Art. 16 IStGH-Statut treten damit zwei wesentliche
Ziele der UN-Charta in Konflikt: Frieden und Gerechtigkeit.
Die Annahme, den Frieden durch den Verzicht auf internationale Strafverfolgung wahren zu können, kehrt das Konzept
der völkerstrafrechtlichen Gerichtsbarkeit um. Der Entwicklung individueller strafrechtlicher Verantwortung liegt die
Vorstellung von Gerechtigkeit als notwendige Bedingung
langfristigen Friedens zugrunde.4
Nachfolgend sollen zunächst die politischen und rechtlichen Hintergründe der aktuellen Diskussion über Art. 16
IStGH-Statut erörtert werden. Die Auslegung von Anforderungen und Konsequenzen einer Aussetzung erfolgt unter
Berücksichtigung der Zuständigkeitsverteilung auf internationaler Ebene. Die Probleme einer kompetenziellen Überschneidung von Exekutiv- und Judikativfunktionen gebieten
hierbei ein restriktives Verständnis der Norm. Abschließend
soll die Berufung auf den Weltfrieden als Legitimationsgrundlage für einen Aufschub von Ermittlungen hinterfragt
werden. Im Rahmen einer Bestimmung des Verhältnisses von
Frieden und Gerechtigkeit gilt es, allgemeine Parameter für
eine Anwendung von Art. 16 IStGH-Statut zu entwickeln.
II. Die Forderung nach einer Anwendung von Art. 16
IStGH-Statut
1. Der Erlass des Haftbefehls gegen al-Bashir
Berichte über gravierende Menschenrechtsverletzungen in
der westsudanesischen Region Darfur veranlassten den Sicherheitsrat am 31.3.2005 zur Anrufung des IStGH. Mit der
Resolution 1593 (2005) unterbreitete der Sicherheitsrat dem
4
Arnold, Der UN-Sicherheitsrat und die strafrechtliche Verfolgung von Individuen, 1999, S. 177.
Ankläger die Situation in Darfur auf Grundlage von Art. 13
lit. b IStGH-Statut. Am 14.7.2008 beantragte der Chefankläger des IStGH, der Argentinier Luis Moreno-Ocampo, einen
Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Omar alBashir. Die Vorverfahrenskammer bestätigte die Vorwürfe
der Kriegsverbrechen sowie der Verbrechen gegen die
Menschlichkeit und erließ am 4.3.2009 Haftbefehl. Im Juli
2010 erweiterte das Gericht den Haftbefehl um den Tatbestand des Völkermordes an den ethnischen Gruppen der Fur,
Masalit und Zaghawa.
Mit der Anklage von Präsident al-Bashir muss sich erstmalig in der Geschichte des IStGH ein amtierender Staatschef für die Begehung völkerstrafrechtlicher Verbrechen
verantworten. Der Haftbefehl des Gerichts dokumentiert die
bedeutende Entwicklung von Prämissen und Zielen des Völkerrechts.5 Galt einst die staatliche Souveränität als oberstes
Prinzip internationalen Handelns, ließen die Erfahrungen des
Zweiten Weltkrieges den Ruf nach einer Stärkung der Menschenrechte laut werden.6 Vor dem Hintergrund der veränderten Ansprüche an das Völkerrecht treten Souveränität und
Immunität zunehmend hinter dem Bedürfnis eines wirksamen
Menschenrechtsschutzes zurück. Individuelle Verantwortung
für internationale Verbrechen gilt damit unabhängig von
einem politischen oder militärischen Rang des Täters. Art. 27
IStGH-Statut formuliert diesen Gedanken nunmehr ausdrücklich.
Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut lautet: „Immunitäten oder
besondere Verfahrensregeln, die nach innerstaatlichem Recht
oder nach dem Völkerrecht mit der amtlichen Eigenschaft
einer Person verbunden sind, hindern den Gerichtshof nicht
an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit über eine solche
Person.“
Der IStGH verfügt über keine exekutive Instanz zur
Durchsetzung seiner Haftbefehle, sondern ist auf die Kooperation der Staaten angewiesen.7 Da das Statut des Gerichtshofes kein Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten vorsieht,
ist seine Auslieferung zwingende Voraussetzung für das
Verfahren (Art. 63 IStGH-Statut). Derzeit erscheint eine
Überstellung al-Bashirs an den IStGH indes mehr als fraglich. Im Juli 2009 verabschiedete die Afrikanische Union eine
Resolution, in der sich die Staaten auf eine kollektive Missachtung des Haftbefehls gegen al-Bashir einigten.8 Ein Besuch al-Bashirs in Kenia Ende August 2010 blieb daher ohne
Folgen.
5
Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2008,
S. 229.
6
Kunig, in: Dupuy/Fassbender/Shaw/Engel (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung, Common Values in International
Law, Festschrift für Christian Tomuschat, 2006, S. 377
(S. 378).
7
Vgl. zur Problematik: Apuuli, JICJ 2006, 179 (186).
8
Decision on the meeting of African States Parties to the
Rome Statute of the International Criminal Tribunal (ICC),
Doc.Assembly/AU/13(XIII), S. 2; im Internet abrufbar unter:
http://www.africa-union.org/root/au/Conferences/2009/ july/summit/decisions/ASSEMBLY%20AU%20DEC%20243
%20-%20267%20(XIII)%20_E.PDF (Stand: 13.4.2011).
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Die Haltung der Afrikanischen Union reflektiert eine generelle Unzufriedenheit einer Mehrheit der afrikanischen
Staaten mit der Arbeit des IStGH.9 Dem Gerichtshof wird
vorgeworfen, seine Ermittlungen ausschließlich auf Afrika zu
konzentrieren und politisch heikle Situationen wie in Israel
oder dem Irak zu umgehen. Tatsächlich betreffen alle fünf
vom IStGH untersuchten Situationen Konflikte in afrikanischen Gebieten. Die Kritik lässt jedoch unberücksichtigt, dass
die Situationen in Uganda, Kenia, der Demokratischen Republik Kongo sowie der Zentralafrikanischen Republik von den
Tatortstaaten selbst an den Gerichtshof überwiesen wurden.
In der Begründung ihrer Resolution beruft sich die Afrikanische Union auf die Notwendigkeit bilateraler Friedensverhandlungen zur Beilegung des Darfur-Konflikts. Der ausstehende Haftbefehl hindere al-Bashir an einer Ausreise zu
Gesprächen mit den betroffenen Nachbarstaaten und verzögere den Friedenprozess im Sudan.10 Die Nichtbeachtung des
Haftbefehls erscheint aus völkerrechtlicher Perspektive nicht
unbedenklich. Eine Verweigerung der Festnahme al-Bashirs
könnte einer rechtlichen Pflicht der Staaten zur Auslieferung
entgegenstehen.
2. Die Pflicht der Staaten zur Auslieferung von al-Bashir
In der Entscheidung über den Haftbefehl gegen al-Bashir
setzte sich die Vorverfahrenskammer des IStGH nur am Rande mit dem Problem seiner Vollstreckung durch die Staaten
auseinander.11 Die Kammer stellt fest, dass die politische
Rolle al-Bashirs keinen Einfluss auf die Jurisdiktion des
IStGH habe.12 Wesentliches Ziel des IStGH sei es, ein Ende
der Straflosigkeit internationaler Verbrechen zu gewährleisten. Die Ausnahme staatlicher Führungspersonen von einer
Strafverfolgung liefe dem Zweck der völkerstrafrechtlichen
Gerichtsbarkeit sowie der eindeutigen Aussage des Art. 27
IStGH-Statut zuwider.
Die Frage nach einer Pflicht der Staaten zur Auslieferung
wird hierdurch indes nicht beantwortet. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass die Einschränkung des völkergewohnheitsrechtlich geltenden Immunitätsprinzips durch Art. 27
IStGH-Statut unmittelbar nur für die Vertragsstaaten gilt.13
Drittstaaten können durch die Regelungen des IStGH-Statuts
nicht gebunden werden. Eine Pflicht zur Auslieferung ist
daher für Tatortstaat, Drittstaat und Vertragsstaat differenziert zu bestimmen.
9
Oette, JICJ 2010, 345 (357).
Oette, JICJ 2010, 345 (360).
11
ICC (Pre-Trial Chamber I), Decision on the Prosecution's
Application for a Warrant of Arrest against Omar Hassan
Ahmad Al Bashir v. 4.3.2009 – ICC-02/05-01/09 (Prosecutor
v. al-Bashir), Rn. 41-45, abrufbar unter: http://www.icccpi.int/iccdocs/doc/doc639096.pdf (zuletzt abgerufen am ?).
12
„Bashir’s official position has no effect on the Court’s
Jurisdiction over the present case.“ (ICC [Pre-Trial Chamber
I], Decision on the Prosecution's Application for a Warrant of
Arrest against Omar Hassan Ahmad Al Bashir v. 4.3.2009 –
ICC-02/05-01/09 [Prosecutor v. al-Bashir], Rn. 41, abrufbar
unter: http://www.icc-cpi.int/iccdocs/doc/doc639096.pdf).
13
Williams/Sherif, JCSL 2009, 71 (83).
10
In der Resolution 1593 (2005) beschloss der Sicherheitsrat, „dass die Regierung Sudans und alle anderen Parteien des
Konflikts in Darfur gemäß dieser Resolution mit dem Gerichtshof und dem Ankläger uneingeschränkt zusammenarbeiten und ihnen jede erforderliche Unterstützung gewähren
müssen, und wenngleich er anerkennt, dass den Staaten, die
nicht Vertragspartei des Römischen Statuts sind, keine Verpflichtung nach dem Statut obliegt, fordert er alle Staaten und
zuständigen regionalen und anderen internationalen Organisationen nachdrücklich zur uneingeschränkten Zusammenarbeit auf“.
Kapitel VII UN-Charta legitimiert den Sicherheitsrat,
Immunitäten zur Herstellung des internationalen Friedens
aufzuheben.14 Als Adressat der Resolution ist der Sudan gem.
Art. 24, 25 UN-Charta somit unmittelbar zur Auslieferung alBashirs und einer umfassenden Kooperation mit dem IStGH
verpflichtet.15 Die sudanesische Führung hat jedoch bereits
deutlich gemacht, einer entsprechenden Aufforderung nicht
nachkommen zu wollen.16 Mit einer Überstellung al-Bashirs
durch den Sudan an den IStGH ist angesichts seiner Funktion
als Staatspräsident folglich nicht zu rechnen.
Durch die Überweisung an den IStGH in Resolution 1593
(2005) hat der Sicherheitsrat den Gerichtshof dazu ermächtigt, die Verantwortlichen völkerstrafrechtlicher Verbrechen
zur Rechenschaft zu ziehen. Die Legitimation zu einer umfassenden Strafverfolgung beinhaltet notwendig die Aufhebung der Immunität staatlicher Funktionsträger.17 Wenngleich der implizite Ausschluss von Immunität gegenüber
allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen Wirkung entfaltet, wird hierdurch die Frage nach einer Auslieferungspflicht
der Drittstaaten nicht beantwortet. Eine völkerrechtliche
Pflicht zur Zusammenarbeit mit dem IStGH kann für einen
Drittstaat mangels vertraglichen Konsenses nicht aus Art. 86
IStGH-Statut hergeleitet werden. Auch Resolution 1593
(2005) begründet keinen Kooperationszwang für Staaten, die
das IStGH-Statut nicht ratifiziert haben. Nichtvertragsstaaten
werden in der Resolution lediglich zu einer Zusammenarbeit
mit dem Gerichtshof aufgefordert. Die Formulierung – im
englischen Originalwortlaut „urges“ – grenzt den Appell an
eine Unterstützung des IStGH klar von einer normativen
Verpflichtung ab. Ambos ist folglich darin zuzustimmen, dass
insoweit „allenfalls von einer Befugnis, nicht aber einer
Pflicht zur Kooperation, insbesondere zur Festnahme von Al
Bashir“18 auszugehen ist. Nachbarstaaten wie Libyen können
eine Auslieferung al-Bashirs unter Berufung auf die Immunität des Staatsoberhauptes daher verweigern.
Ungleich schwieriger gestaltet sich die Verantwortung der
IStGH-Vertragsstaaten für eine Vollziehung des Haftbefehls.
14
Vergleiche hierzu ICTY, Decision on Preliminary Motions
v. 8.11.2001 (Prosecutor v. Milosevic), Rn. 28-34; Williams/
Sherif, JCSL 2009, 71 (79).
15
Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 3. Aufl.
2011, § 8 Rn. 77.
16
Siehe beispielsweise Darcq, Sudan Tribune v. 18.12.2008
(www.sudantribune.com/spip.php?article29615).
17
Kreicker, ZIS 2009, S. 351.
18
Ambos (Fn. 15), § 8 Rn. 77.
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Eine Mehrheit der afrikanischen Staaten, unter anderem die
Nachbarländer Kenia, Tschad, Uganda und die Zentralafrikanische Republik, haben das IStGH-Statut ratifiziert. Eine
Pflicht zur Auslieferung ist in der Literatur umstritten und
wird teilweise unter Berufung auf Art. 98 Abs.1 IStGH-Statut
abgelehnt.19 Hiernach darf der Gerichtshof kein Überstellungsersuchen stellen, „das vom ersuchten Staat verlangen
würde, in Bezug auf die Staatenimmunität oder die diplomatische Immunität einer Person entgegen seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu handeln, sofern der Gerichtshof
nicht zuvor die Zusammenarbeit des Drittstaats im Hinblick
auf den Verzicht auf Immunität erreichen kann.“
Art. 98 IStGH-Statut steht somit im Widerspruch zum generellen Ausschluss von Immunität in Art. 27 IStGH-Statut.20
Die Aufhebung des Schutzes vor Strafverfolgung gilt unmittelbar für Funktionsträger von Vertragsstaaten. Da die Staaten mit Zustimmung zum Statut auf das Bestehen von Immunitäten verzichtet haben, können sie sich im Verhältnis zueinander nicht auf Art. 98 IStGH-Statut berufen. Art. 98 Abs.1
IStGH-Statut soll daher allein einen Konflikt zwischen divergierenden völkerrechtlichen Handlungspflichten gegenüber
Drittstaaten vermeiden. Ist ein Staat dem IStGH-Statut nicht
beigetreten, gelten für seine Amtsinhaber die Regeln der
personalen Immunität unabhängig von der abweichenden
Bestimmung in Art. 27 IStGH-Statut.21 Solange die Immunität des Staatschefs nicht aufgehoben wird, können sich die
Vertragsstaaten auf das Verbot einer Auslieferung berufen.
Gaeta zieht hieraus den Schluss, dass auch die Unterzeichner
des IStGH-Statuts nicht zur Festnahme al-Bashirs verpflichtet
seien.22
Die gegenteilige Argumentation knüpft an der Bindungswirkung der Sicherheitsratsresolution an.23 Zunächst könnte
die Resolution als Grundlage einer höherrangigen Pflicht zur
Auslieferung verstanden werden.24 Wenngleich die Resolution nicht unmittelbar an die Vertragsstaaten adressiert ist,
ließe sich ihre Verpflichtung aus einem Umkehrschluss herleiten. Von einer rechtlichen Verantwortung zur ausnahmslosen Kooperation werden nach dem Wortlaut allein Drittstaaten ausgenommen. Gegenüber den Vertragsstaaten könnte die
Resolution hiernach einen umfassenden Auftrag zur Gewährleistung der internationalen Strafverfolgung begründen.
Überzeugender erscheint indes die Annahme eines Immunitätsverzichtes i.S.d. Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut. Zwar
hat der Sudan die Immunität al-Bashirs nicht aufgehoben.
Aufgrund der Sicherheitsratsresolution wäre er hierzu jedoch
verpflichtet gewesen. Mit Art. 98 IStGH-Statut sollen zwischenstaatliche Konflikte über die Anerkennung von Immunitäten vermieden werden. Angesichts der eigenen völkerrechtlichen Verpflichtung zur Überstellung al-Bashirs dürfte
sich der Sudan gegenüber einem Vertragsstaat nicht auf die
19
Gaeta, JICJ 2009, 315 (329).
Hierzu ausführlich Bosch, Immunität und internationale
Verbrechen, 2004, S. 141ff.
21
Gaeta, JICJ 2009, 315 (328).
22
Gaeta, JICJ 2009, 315 (329).
23
Williams/Sherif, JCSL 2009, 71 (87 f.).
24
Williams/Sherif, JCSL 2009, 71 (87).
20
Immunität des Staatspräsidenten berufen.25 Ein Widerspruch
völkerrechtlicher Pflichten besteht für den ausliefernden
Vertragsstaat hiernach nicht. Die Resolution des Sicherheitsrats verdrängt insoweit eine entgegengesetzte Verpflichtung
von Drittstaaten zur Wahrung von Immunität.26 Die Aufhebung der Immunität durch den Sicherheitsrat kann einem
Verzicht nach Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut daher gleichgestellt werden.
3. Die Notwendigkeit einer Reaktion des Sicherheitsrates
Nach der hier vertretenen Ansicht haben die Vertragsstaaten
des IStGH-Statuts den Haftbefehl gegen al-Bashir zu vollziehen. Unabhängig vom Bestehen einer rechtlichen Auslieferungspflicht wird das Verfahren gegen al-Bashir ohne ihren
Willen zur Kooperation langfristig scheitern. Daher ist es
entscheidend, sich mit den Hintergründen der Resolution der
Afrikanischen Union auseinanderzusetzen.
Unter Berufung auf die Gefahr einer weiteren Destabilisierung der Region hat die Afrikanische Union den Sicherheitsrat wiederholt zu einer Aussetzung der Ermittlungen
nach Art. 16 IStGH-Statut aufgefordert.27 Der Sicherheitsrat
lehnt eine formale Befassung mit dem Antrag der Afrikanischen Union auf eine Anwendung von Art. 16 IStGH-Statut
im Fall al-Bashirs bislang ab. Die Afrikanische Union sei
kein Mitglied des Sicherheitsrates und daher nicht ermächtigt, den Sicherheitsrat mit einer Rechtsfrage zu befassen.
Die Enttäuschung afrikanischer Staaten über die fehlende
Berücksichtigung ihrer Forderungen nach einer befristeten
Unterbrechung der Ermittlungen ist ein wesentlicher Grund
für die Verweigerung einer Zusammenarbeit. In der Resolution vom Juli 2009 formulierte die Afrikanische Union die
Untätigkeit des Sicherheitsrates als maßgebliches Motiv für
die kollektive Entscheidung gegen eine Vollstreckung des
Haftbefehls.28 Auf der Versammlung in Kampala im Juli
2010 bekräftigte die Afrikanische Union ausdrücklich ihre
Kritik: „The Assembly […] expresses its disappointment that
the United Nation Security Council (UNSC) has not acted
upon request by the African Union to defer the proceedings
initiated against President Omar Hassan El-Bashir of the
Republic of The Sudan in accordance with Art. 16 of the
Rome Statute of ICC which allows the UNSC to defer cases
for one year and reiterates its request in this regard. Reiterates
25
Williams/Sherif, JCSL 2009, 71 (87 f.).
Kreicker, ZIS 2009, S. 351; Ambos (Fn. 15), § 8 Rn. 77;
Papillon, ICLR 2010, 284; Akande, JICJ 7 (2009), 340.
27
Akanda/Plessis/Jalloh, An African expert study on the
African Union concerns about articla 16 of the Rome Statute
of the ICC, 2010, S. 7 (im Internet abrufbar unter:
http://www.iss.co.za/uploads/PositionPaper_ICC.pdf [zuletzt
abgerufen am 13.4.2011]).
28
Decision on the meeting of African States Parties to the
Rome Statute of the International Criminal Tribunal (ICC),
Doc.Assembly/AU/13(XIII), S. 2, abrufbar unter:
http://www.africa-union.org/root/au/Conferences/2009/ july/summit/decisions/ASSEMBLY%20AU%20DEC%20243
%20-%20267%20(XIII)%20_E.PDF (zuletzt abgerufen am
13.4.2011).
26
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its Decision that AU Member shall not cooperate with the
ICC in the arrest and surrender of President El-Bashir of The
Sudan“29
In einem Änderungsvorschlag zu Art. 16 IStGH-Statut
fordert die Afrikanische Union für den Fall der Untätigkeit
des Sicherheitsrates eine Ermächtigung der Generalversammlung zur Entscheidung über eine Aussetzung des Verfahrens.30
Um völkerstrafrechtliche Verbrechen wirksam verfolgen
zu können, ist der IStGH auf die Kooperation der Staaten
angewiesen. Ein Vollzug des Haftbefehls gegen al-Bashir
wird ohne seine Auslieferung durch die Nachbarländer kaum
durchzuführen sein. Die Unterstützung der Staaten ist zugleich wesentliche Bedingung für die Legitimation des
IStGH. Unabhängig von einer formalen Antragstellung sollte
sich der Sicherheitsrat daher mit der Forderung der Afrikanischen Union nach einer Anwendung von Art. 16 IStGHStatut beschäftigen. Ein entsprechendes Verfahren könnte
auch von Nigeria eingeleitet werden, das derzeit Mitglied im
Sicherheitsrat ist. Im Zusammenhang mit der Situation im
Südsudan wäre zudem an eine Aussetzung des Haftbefehls
als Zugeständnis im Interesse einer friedlichen Konfliktlösung zu denken. Es besteht folglich Anlass, die rechtlichen
Bedingungen eines Aufschubes nach Art. 16 IStGH-Statut
näher zu untersuchen.
III. Die Anforderungen an eine Aussetzung nach Art. 16
IStGH-Statut
Die Anwendung von Art. 16 IStGH-Statut wirft eine Vielzahl
rechtlicher Fragen auf. Ein Rückgriff auf die Rechtsprechung
völkerstrafrechtlicher Gerichte gibt bislang keine Antworten.
Weder an den ad hoc-Tribunalen noch im Rahmen hybrider
Gerichtsbarkeit existiert eine vergleichbare Regelung zur
Intervention in die Ermittlungen der Anklage.31 Auch am
IStGH liegt kein Präzedenzfall für die Aussetzung einer eingeleiteten Strafverfolgung vor.
Die Unsicherheit im Umgang mit Art. 16 IStGH-Statut
zeigte sich bereits in der Diskussion um die von den USA
eingebrachte Resolution des Sicherheitsrates 1422 (2002).
Die Resolution vom 12.7.2002 stellte die Angehörigen von
Nicht-Vertragsstaaten für die durch den Sicherheitsrat genehmigten Operationen zeitweilig von einer Gerichtsbarkeit
des IStGH frei.32 In der Literatur wurde deutliche Kritik an
der Vereinbarkeit einer generellen Immunitätsregelung mit
Art. 16 IStGH-Statut geäußert.33 Angesichts des politischen
29
Assembly/AU/Dec.296(XV), Decision on the progress
report of the Commission on the implementation of decision,
Assembly/AU/dec.270 (xiv) on the Secon Ministerial Meeting of the Rome Statute of the Internaitonal Criminal Court
(ICC), Juli 2010.
30
Akanda/Plessis/Jalloh (Fn. 23), S. 12.
31
Heilmann, Die Effektivität des Internationalen Strafgerichtshofes, 2006, S. 162.
32
Security Council Resolution 1422 (2002) v. 12.7.2002,
UN. Doc. S/RES/1422 (2002).
33
Stahn, EJIL 2003, 85; Zimmermann/Scheel, Vereinte Nationen 2002, 137 (142).
Bedürfnisses nach einem Ausschluss der Gerichtsbarkeit
seien die rechtlichen Voraussetzungen der Norm nicht hinreichend überprüft worden.34 Um den Vorwurf einer politischen
Aushebelung des Römischen Statuts – zugunsten wie zulasten al-Bashirs – zu vermeiden, muss die Auslegung von Art.
16 IStGH-Statut nach rechtlichen Maßstäben erfolgen. Hierbei wird insbesondere das Verhältnis des Sicherheitsrates als
politisches Organ zur unabhängigen Gerichtsbarkeit des
IStGH zu berücksichtigen sein.
1. Die Rolle des Sicherheitsrates
a. Resolution nach Kapitel VII UN-Charta
Art. 16 IStGH-Statut lautet: „Richtet der Sicherheitsrat in
einer nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen
angenommenen Resolution ein entsprechendes Ersuchen an
den Gerichtshof, so dürfen für einen Zeitraum von 12 Monaten keine Ermittlungen und keine Strafverfolgung auf Grund
dieses Statuts eingeleitet oder fortgeführt werden; das Ersuchen kann vom Sicherheitsrat unter denselben Bedingungen
erneuert werden.“
Bedingung für eine Aussetzung nach Art. 16 IStGHStatut ist ein entsprechendes Ersuchen des IStGH durch Resolution des Sicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Charta.
Das Ersuchen des Sicherheitsrats ist – trotz der insoweit
wenig eindeutigen Formulierung – für den Gerichtshof verbindlich. Ein Aufschub von Verfahren ist zu erwägen, wenn
die Strafverfolgung durch den Gerichtshof eine unmittelbare
Bedrohung für den Frieden oder die internationale Sicherheit
darstellt (Art. 39 UN-Charta).
Bei der Beurteilung einer globalen Konfliktsituation
kommt dem Sicherheitsrat ein weitreichender Einschätzungsspielraum zu.35 In der Literatur wird teilweise von einem
freien Ermessen des Sicherheitsrates im Rahmen der Anwendung von Art. 39 UN-Charta ausgegangen.36 Combacau geht
so weit, eine Friedensbedrohung nicht nach objektiven Kriterien zu bestimmen, sondern konstitutiv an die Entscheidung
des Sicherheitsrates zu binden. Eine Friedensbedrohung liege
vor, wenn der Sicherheitsrat sie zu einer solchen erkläre.37
Die Annahme eines unbegrenzten Beurteilungsspielraums
schließt eine Überprüfung von Art. 39 UN-Charta als Vor34
Neusüß stellt insbesondere das Vorliegen der Voraussetzung einer internationalen Friedensbedrohung in Frage, Neusüß, Legislative Maßnahmen des UN-Sicherheitsrates im
Kampf gegen den internationalen Terrorismus, 2008, S. 129,
130.
35
Buchwald, Der Fall Tadič vor dem Internationalen Jugoslawientribunal im Lichte der Entscheidungen der Berufungskammer vom 2. Oktober 1995, 2005, S. 115; Higgins, AJIL
1970, 1 (16).
36
Pauer, Die humanitäre Intervention, Militärische und wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen zur Gewährung der Menschenrechte, 1995, S. 86; Gowlland-Debbas, Collective Responses to Illegal Acts in International Law, United Nations
Action in the Question of Southern Rhodesia,1990, S. 453.
37
Combacau, Le pouvoir de sanction de l’O.N.U, etude theorique de la coercition non militaire, 1974, S. 100.
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aussetzung von Art. 16 IStGH-Statut aus. Unterliegt der Sicherheitsrat bei der Ausübung seiner Kompetenzen keinen
materiellen Vorgaben, fehlt ein rechtlicher Maßstab zur Bewertung der Resolution. Die Gewährleistung freien Ermessens wird insbesondere mit Wortlaut und Systematik der UNCharta begründet. Der Verzicht auf eine normative Definition
der Friedensbedrohung belege eine Überantwortung der Begriffskonkretisierung auf den Sicherheitsrat.38 Das Fehlen
einer Legaldefinition rechtfertigt jedoch keinen freien Beurteilungsspielraum des Normadressaten. Vielmehr gilt es, den
unbestimmten Rechtsbegriff im Wege der Auslegung zu
präzisieren.39 Dem Sicherheitsrat ist insoweit ein erheblicher
Ermessensspielraum zu gewähren; dessen Grenzen werden
jedoch durch den telos des Art. 39 der UN-Charta gezogen.
Die Kritik an der Resolution 1422 (2002) knüpfte sich
maßgeblich an das Fehlen einer hinreichenden Darlegung der
globalen Friedensbedrohung.40 Eine Aussetzung der Strafverfolgung von al-Bashir sollte sich daher auf eine genaue Analyse der politischen Situation im Sudan stützen. Werden
laufende Friedensverhandlungen durch eine aktive Ermittlungstätigkeit des Gerichts vereitelt, sind die Voraussetzungen von Kapitel VII UN-Charta grundsätzlich gegeben. Eine
Gefährdung des internationalen Friedensprozesses kann insbesondere für den Fall angenommen werden, dass maßgebliche Verhandlungsführer durch ausstehende Haftbefehle an
der Ausreise gehindert sind.41
Einschränkend zu berücksichtigen ist die Grundentscheidung des IStGH für eine Verfolgung amtierender Staats- und
Regierungschefs. Der Gedanke ausnahmsloser Strafverfolgung darf nicht im Wege einer weiten Auslegung der normativen Anforderungen umgangen werden. Anderenfalls bestünde in künftigen Konflikten die Gefahr, dass eine Zusicherung individueller Immunität zur Bedingung für Friedensgespräche gemacht würde. Um eine negative Präzedenzwirkung
zu vermeiden, muss der Sicherheitsrat die Voraussetzungen
der Resolution konkret begründen.
b) Aussetzung bei Überweisung nach Art. 13 lit. b IStGHStatut
Die Situation in Darfur wurde dem Ankläger des IStGH auf
Grundlage von Art. 13 lit. b IStGH-Statut durch Resolution
des Sicherheitsrates 1593 (2005) unterbreitet. Es stellt sich
daher die Frage, ob der Sicherheitsrat trotz einer vorherigen
Zuweisung der Situation zu einer Aussetzung nach Art. 16
IStGH-Statut legitimiert ist.
Die Möglichkeit eines Rückgriffs auf Art. 16 IStGHStatut wird vereinzelt unter Hinweis auf eine Parallele zur
38
Krökel, Die Bindungswirkung von Resolutionen des Sicherheitsrats und der Vereinten Nationen gegenüber Mitgliedstaaten, 1977, S. 69.
39
Bienk-Koolman, Die Befugnis des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen zur Einsetzung von ad hoc-Strafgerichtshöfen, 2009, S. 109.
40
Zimmermann/Scheel, Vereinte Nationen 2002, 137 (142).
41
Heilmann (Fn. 27), S. 163.
Rechtslage an den ad hoc-Tribunalen verneint.42 Triffterer
argumentiert, dass die Überweisung einer Situation nach Art.
13 lit. b IStGH-Statut der Errichtung eines ad hoc-Tribunals
durch den Sicherheitsrat vergleichbar sei. Es könne keinen
Unterschied machen, welcher Instrumente sich der Sicherheitsrat zur Gewährleistung internationaler Strafverfolgung
bedient. Die weiteren Kompetenzen des Sicherheitsrats im
Rahmen des gerichtlichen Verfahrens seien daher rechtlich
analog zu beurteilen. Da die Statuten der ad hoc-Tribunale
einen Aufschub von Ermittlungen nicht vorsehen, müsse eine
Aussetzung der Strafverfolgung im Falle eines Vorgehens
nach Art. 13 lit. b IStGH-Statut entsprechend ausgeschlossen
werden.43
Die Annahme einer Analogie zu den ad hoc-Tribunalen
überzeugt jedoch nicht. Mit der Entscheidung für eine Überweisung an den IStGH eröffnet der Sicherheitsrat den Anwendungsbereich des Römischen Statuts. Das Statut regelt
die Befugnisse der beteiligten Organe abschließend und lässt
keinen Raum für eine Analogie. Nach Wortlaut und Zielrichtung von Art.16 IStGH-Statut ist ein Aufschub des Verfahrens unabhängig von einer früheren Überweisung durch den
Sicherheitsrat zulässig.44 Bereits aus der Formulierung der
Norm ergibt sich keine Differenzierung zwischen den Alternativen der Verfahrenseinleitung. Mit der Möglichkeit zur
Aussetzung von Ermittlungen sollte dem Sicherheitsrat ein
wirksames Mittel zur Auflösung von Konflikten zwischen
internationaler Strafverfolgung und globaler Friedenswahrung an die Hand gegeben werden. Im Falle einer tatsächlichen Bedrohung des Weltfriedens durch die Ermittlungen des
IStGH kann eine Intervention des Sicherheitsrates nicht nach
Maßgabe der gerichtlichen Zuständigkeit zu beurteilen sein.
Eine Aussetzung der Strafverfolgung wird durch die Unterbreitung einer Situation nach Art. 13 lit. b IStGH-Statut
nicht per se ausgeschlossen. Gleichwohl setzt sich der Sicherheitsrat mit dem Ersuchen um einen Aufschub der Strafverfolgung dem Vorwurf der Inkonsequenz aus. Hat der
Sicherheitsrat die Resolution zur Einleitung von Ermittlungen
auf eine Gefahr für den internationalen Frieden gestützt,
würde er ihre Unterbrechung nunmehr unter Berufung auf
dieselben Gründe fordern müssen. Um den Anschein einer
Umgehung rechtlicher Anforderungen zu vermeiden, sollte
ein Ersuchen nach Art. 16 IStGH-Statut die Änderung der
Sachlage umfassend darlegen.
c) Die Beschränkung der Aussetzung auf eine Einzelperson
Die Diskussion über eine Unterbrechung der Strafverfolgung
bezieht sich ausschließlich auf die Person al-Bashirs. Die
Annahme einer Beeinträchtigung von Friedensverhandlungen
trägt eine umfassende Aussetzung von Ermittlungen im
Rahmen des Darfur-Konfliktes erkennbar nicht. Es bedarf
daher der Feststellung, ob Art. 16 IStGH-Statut die Möglich-
42
Bergsmo/Pejic, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the
Rome Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl.
2008, Art. 16 Rn. 24.
43
Bergsmo/Pejic (Fn. 38), Art. 16 Rn. 24.
44
Heilmann (Fn. 27), S. 165.
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keit eines Aufschubes für den einzelnen Angeklagten vorsieht.
Nach dem Wortlaut des Art. 16 IStGH-Statut dürfen in
Folge eines Ersuchens durch den Sicherheitsrat „keine Ermittlungen und keine Strafverfolgung aufgrund dieses Statuts
eingeleitet oder fortgeführt werden“. Bereits terminologisch
richtet sich die „Strafverfolgung“ gegen einen individuell
verfolgten Angeklagten. Der Begriff der „Ermittlungen“ wird
in Art. 53 IStGH-Statut konkretisiert und bezieht sich ebenfalls ausdrücklich auf konkretisierte Sachverhalte („der Täter“, „dem Verbrechen“).
Kritik an der Beschränkung des Aussetzungsersuchens
auf eine Person gründet sich auf einen Vergleich zu Art. 13
lit. b IStGH-Statut.45 Hiernach ist der Sicherheitsrat ausschließlich ermächtigt, regionale Konfliktsituationen („situations“) an den Gerichtshof zu überweisen. Eine Zuweisung
individueller Einzelfälle („cases“) ist ihm hingegen untersagt.
Wird Art. 13 lit. b IStGH-Statut als Spiegelbild zu Art. 16
IStGH-Statut verstanden, könnte eine entsprechende Kompetenzgrenze für die Aussetzung von Verfahren angenommen
werden. Unterstützt wird diese Argumentation durch einen
Verweis auf Art. 2 des Relationship Agreements zwischen
dem IStGH und den Vereinten Nationen, in dem die Vereinten Nationen den Gerichtshof als unabhängiges Justizorgan
anerkennen.46
Art. 2 des Agreements lautet: „1. The United Nations recognize the Court as an independent permanent judicial institution which, in accordance with articles 1 and 4 of the Statute, has international legal personality and such legal capacity
as may be necessary for the exercise of its functions and the
fulfillment of its purposes. […] 3. The United Nations and
the Court respect each others status and mandate.“
Mit einer Aussetzung im Einzelfall würde der Sicherheitsrat erheblichen Einfluss auf die konkrete Strafverfolgung als
originäre Entscheidung des Anklägers ausüben. Eine Intervention zugunsten eines einzelnen Angeklagten sei mit der
institutionellen Selbständigkeit des IStGH nicht zu vereinbaren.47
Die Argumentation verkennt jedoch, dass Art. 16 IStGHStatut bereits eine grundsätzliche Entscheidung für die Legitimität von Eingriffen in die Arbeit des Gerichtshofes trifft.
Gesteht das Statut des IStGH dem Sicherheitsrat eigene Befugnisse zu, kann die Ausübung der übertragenen Zuständigkeiten keinen generellen Kompetenzkonflikt begründen.
Im Interesse der gerichtlichen Unabhängigkeit erscheint
ein einzelfallbezogenes Ersuchen weniger eingriffsintensiv
als eine Aussetzung der gesamten Situation. Soll Art. 16
IStGH-Statut den Charakter einer Ausnahmevorschrift behalten, erscheint eine Rechtfertigung der Maßnahme für den
individuellen Einzelfall sogar vorzugswürdig. Nach richtiger
Ansicht kann daher eine Aussetzung gemäß Art. 16 IStGH-
45
Ciampi, JICJ 6 (2008), 885 (889).
Negotiated Relationship Agreement between the International Criminal Court and the United Nations, 4.10.2004,
ICC-ASP/3/Res.1.
47
Ciampi, JICJ 6 (2008), 885 (889).
46
Statut auf das Verfahren gegen eine Einzelperson beschränkt
bleiben.48
d) Die Rolle des Sicherheitsrates unter dem Blickwinkel der
Gewaltenteilung
Die Rolle des Sicherheitsrates im System der internationalen
Strafgerichtsbarkeit erscheint gleichwohl nicht unproblematisch. Unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung ist der
Einfluss eines politischen Exekutivorgans auf die Untersuchungen durch ein unabhängiges Gericht kritisch zu sehen.
Zwar existiert im internationalen Recht, das sich außerhalb
des organisatorischen Gefüges staatlicher Strukturen realisiert, keine klare Aufgabenverteilung auf feste Legislativ-,
Judikativ- und Exekutivinstanzen.49 Hintergrund der Forderung nach Gewaltenteilung ist jedoch nicht allein die differenzierte Institutionalisierung der Gewalten, sondern zugleich
die Idee einer Gewaltentrennung. Nach ihrem historischen
Ursprung war es wesentliches Ziel der gewaltengeteilten
Rechtsordnung, eine Akkumulation hoheitlicher Gewalt
durch Übertragung ihrer Inhalte auf unterschiedliche Organe
zu verhindern.50 Mit der Trennung legislativer, exekutiver
und judikativer Befugnisse sollte ein System gegenseitiger
Kontrolle geschaffen werden, das eine wechselseitige Begrenzung der rechtlichen Machtausübung sicherstellen konnte.51 Dem widerspricht die Befugnis des Sicherheitsrates,
Ermittlungen des IStGH ohne Zustimmung der Anklagebehörde auszusetzen. Eine vergleichbare Einflussnahme exekutiver Instanzen auf ein gerichtliches Verfahren erscheint im
deutschen Recht nicht denkbar.
Art. 16 IStGH-Statut entstand aus dem Bedürfnis der Vertragsstaaten, den Einfluss des IStGH politisch zu begrenzen.52
Die Sorge um eine Aufgabe nationaler Souveränität und eine
Prädominanz der Strafverfolgung gegenüber dem Schutz
internationaler Beziehungen waren Grundlage für die Aussetzungskompetenz des Sicherheitsrates. Die Entscheidung für
Art. 16 IStGH-Statut ist zu respektieren. Unter dem Blickwinkel der Gewaltentrennung müssen die Anforderungen an
ein Ersuchen des Sicherheitsrates jedoch eng ausgelegt werden.
2. Der zeitliche Rahmen einer Aussetzung
Die Aussetzung von Ermittlungen und Strafverfolgung kann
zunächst für einen Zeitraum von zwölf Monaten erfolgen.
Wenngleich der Wortlaut insoweit nicht eindeutig ist, steht es
dem Sicherheitsrat frei, einen kürzeren zeitlichen Rahmen zu
bestimmen.53 Nicht abschließend geklärt ist die Frage des
48
Bergsmo/Pejic (Fn. 38), Art. 16 Rn. 11.
Knoops, Theory and Practice of International and Internationalized Criminal Proceedings, 2005, S. 344. Hierzu ausführlich de Wet, NILR 2000, 181 (195-197).
50
Möllers, Gewaltengliederung, Legitimation und Dogmatik
im nationalen und internationalen Rechtsvergleich, 2005,
S. 68 m.w.N.
51
Magill, Virginia Law Review 2000, 1127 (1148 ff.).
52
Paulus, EJIL 2003, 843 (853).
53
Bergsmo/Pejic (Fn. 38), Art. 16 Rn. 21.
49
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Fristbeginns. Während teilweise auf das Datum der Sicherheitsratsresolution zurückgegriffen werden soll, wird von
anderer Seite das offizielle Eingangsdatum bei Gericht für
maßgeblich erachtet.54 In der Praxis wird der Sicherheitsrat
selbst den Beginn der Unterbrechung in der Resolution festlegen.
Nach Ablauf von zwölf Monaten kann die Aussetzung
durch eine Resolution des Sicherheitsrats um ein weiteres
Jahr verlängert werden. Es wird teilweise vertreten, Art. 16
IStGH-Statut erlaube lediglich die einmalige Verlängerung
der Unterbrechung.55 Der Wortlaut des Statuts gibt indes
keinen Anhaltspunkt für eine entsprechende Beschränkung
der Befugnisse des Sicherheitsrates. Die Möglichkeit einer
Verlängerung besteht theoretisch beliebig oft, muss jedoch
stets den Anforderungen in Kapitel VII UN-Charta genügen.56 Nicht vereinbar mit den Voraussetzungen des Art. 16
IStGH-Statut wäre hingegen eine automatische Erneuerung
der Resolution ohne eigenständige Begründung.
IV. Die rechtlichen Folgen einer Aussetzung nach Art. 16
IStGH-Statut
Das Ersuchen des Sicherheitsrats ist für den Gerichtshof
verbindlich. Konkrete Richtlinien zum Umgang mit den Folgeproblemen einer Aussetzung enthält Art. 16 IStGH-Statut
jedoch nicht.57 Dabei wirft die Unterbrechung von Ermittlungen und Strafverfolgung Fragen nach der Reichweite ihrer
rechtlichen Wirkung sowie der Behandlung laufender Verfahren auf. Mangels expliziter Regelungen muss eine Antwort unter Berücksichtigung des Normzwecks sowie der
Verfahrensziele internationaler Strafgerichtsbarkeit gefunden
werden.
1. Welche Folgen hat eine Aussetzung für den Haftbefehl?
Mit dem Aufschub der Ermittlungen gegen al-Bashir soll in
erster Linie die Aufhebung des Haftbefehls erwirkt werden.
Im IStGH-Statut existiert jedoch keine Vorschrift, die im
Falle einer Unterbrechung nach Art. 16 IStGH-Statut die
Aussetzung eines bestehenden Haftbefehls anordnet.
Nach Sinn und Zweck von Art. 16 IStGH-Statut folgt das
Bestehen des Haftbefehls dem Fortgang des Verfahrens.
Werden die Untersuchungen gegen al-Bashir vorläufig ausgesetzt, gilt der Haftbefehl für den festgesetzten Zeitraum als
suspendiert.
Darüber hinaus steht es dem Sicherheitsrat frei, im Rahmen der Resolution zu Art. 16 IStGH-Statut Regeln zur praktischen Durchführung des Aufschubes („procedural and evidentary implications“) zu bestimmen.58 Eine vollständige
Aufhebung des Haftbefehls ohne zeitliche Begrenzung auf
den Rahmen von zwölf Monaten dürfte mit den Kompetenzen des Sicherheitsrates allerdings nicht vereinbar sein.
Art. 16 IStGH-Statut legitimiert den Sicherheitsrat aus54
Bergsmo/Pejic (Fn. 38), Art. 16 Rn. 21.
Hierzu Bergsmo/Pejic (Fn. 38), Art. 16 Rn. 25.
56
Bergsmo/Pejic (Fn. 38), Art. 16 Rn. 25.
57
Bergsmo/Pejic (Fn. 38), Art. 16 Rn. 20.
58
Heilmann (Fn. 27), S. 167.
schließlich zu temporären Eingriffen in die Arbeit des Gerichtshofs.
2. Welche Befugnisse hat das Gericht während der Aussetzung?
Auf Ersuchen des Sicherheitsrates dürfen Ermittlungen und
Strafverfolgung weder eingeleitet noch fortgeführt werden.
Eine ausnahmslose Einstellung der gerichtlichen Tätigkeit
fordert Art. 16 IStGH-Statut indes nicht. Im Interesse eines
rechtsstaatlichen Verfahrens wird dem Gerichtshof zugestanden, einzelne Maßnahmen zum Schutz von Opfern und Zeugen zu treffen. Dem Ankläger sollen insbesondere die Befugnisse nach Art. 54 Abs. 3 lit. f IStGH-Statut erhalten bleiben,
soweit sie notwendige Regelungen zur Gewährleistung der
Vertraulichkeit von Informationen oder den Schutz von Personen betreffen.59
Eine Kompetenz des Anklägers zur Sicherung von Beweismitteln besteht nach Aussetzung des Verfahrens hingegen nicht. Eine hierauf gerichtete Initiative Belgiens war auf
der Staatenkonferenz in Rom erfolglos geblieben.60 Die Entgegennahme von Zeugenaussagen oder beweiserheblichen
Dokumenten dürfte dem Ankläger daher untersagt sein. Dem
Sicherheitsrat bleibt es unbenommen, in der Resolution hiervon abweichende Regelungen zu treffen.
3. Wie wirkt sich eine Aussetzung auf die Darfur-Situation
aus?
Die Aussetzung der Strafverfolgung gegen eine Einzelperson
führt grundsätzlich zu keiner Beschränkung der Ermittlungen
in einer untersuchten Situation. Fraglich ist jedoch der Umgang mit Beweismitteln, denen Bedeutung für das ausgesetzte Verfahren zukommt.
Aufgrund der politischen und personellen Zusammenhänge im Sudan ist es wahrscheinlich, dass die Untersuchung der
Darfur-Situation zur Erlangung von Informationen über die
Rolle al-Bashirs führen wird. Die Untersagung sämtlicher
Ermittlungen im Umfeld al-Bashirs ließe sich mit der gebotenen umfassenden Aufarbeitung des Konfliktes im Sudan
nicht vereinbaren. Eine solche Beeinträchtigung der übrigen
Verfahren ist keine zulässige Folgewirkung eines Einzelfallersuchens nach Art. 16 IStGH-Statut. Anderenfalls könnte die
Untersuchung einer Situation bereits durch den Aufschub
einer individuellen Strafverfolgung faktisch verhindert werden. Dies würde über den Regelungsinhalt der für den Einzelfall begründeten Resolution hinausgehen.
Eine Grenze ist dort zu ziehen, wo die Intensität der Ermittlungen dem Ziel der Resolution zuwiderläuft oder eine
bewusste Umgehung der Aussetzung zu befürchten steht.
Ermittlungen sind daher weder mittelbar noch unmittelbar
gegen die fragliche Person zu richten. Untersuchungen im
Rahmen der Darfur-Situation dürfen nicht als Vorwand für
eine Beweiserhebung im Fall al-Bashir dienen. Eine Befragung von Zeugen mit dem Ziel der Informationsgewinnung
55
59
Bergsmo/Pejic (Fn. 38), Art. 16 Rn. 20.
UN Doc. A/Conf.183/C.1/L.59, Bureau Proposal v. 10.7.
1998, S. 13.
60
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für das Verfahren gegen al-Bashir würde einen Verstoß gegen Art. 16 IStGH-Statut darstellen.
Der Ankläger darf das Ziel der Friedenssicherung durch
die Untersuchung der Situation nicht gefährden. Seine Ermittlungen müssen die durch den Sicherheitsrat gezogenen
Grenzen in Inhalt und Ausmaß einhalten. Beweiserhebungen
dürfen daher nicht in einem Umfang durchgeführt werden,
der dem Zweck der Resolution zuwiderläuft. Die Untersuchungen der Anklagebehörde unterliegen insoweit einer Erforderlichkeitskontrolle. Informationen über eine Beteiligung
al-Bashirs sind dann als unzulässig anzusehen, wenn sie für
das konkrete Verfahren nicht tatsächlich notwendig erscheinen.
Darüber hinaus statuiert Art. 16 IStGH-Statut kein Beweisverwertungsverbot. Während der Aussetzung von dritter
Stelle ermittelte Beweise können bei Fortsetzung des Verfahrens verwendet werden. Mit dem Aufschub der Strafverfolgung sollen die Belastungen durch fortlaufende Ermittlungen
für einen konkreten Zeitraum ausgesetzt werden. Die Maßnahme ist temporär ausgerichtet und intendiert keine langfristige Einschränkung der gerichtlichen Arbeit. Mit der Wiederaufnahme der Strafverfolgung gilt der von Art. 16 IStGHStatut berührte Zielkonflikt zwischen Frieden und Gerechtigkeit als beendet. Es bestehen somit keine rechtlichen Gründe,
die materielle Wahrheitsfindung durch Beweisverwertungsverbote zu erschweren.
V. Frieden versus Gerechtigkeit? – Plädoyer für eine
restriktive Anwendung von Art. 16 IStGH-Statut
Die Entscheidung über eine Aussetzung der Strafverfolgung
nach Art. 16 IStGH-Statut stellt den Sicherheitsrat vor die
grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Frieden und
Gerechtigkeit. Chefankläger Moreno-Ocampo schreibt hierzu:
„International justice, national justice, search for the truth,
peace negotiations can and must work together; they are not
alternative ways to achieve a goal”.61
Die Überzeugung von einer wechselseitigen Bedingtheit
der Prinzipien ist auch Grundlage der Chicago Principles on
Post-Conflict Justice.62 Die vom International Human Rights
Law Institute unter Vorsitz von Cherif Bassiouni entwickelten Richtlinien für den Umgang mit Post-Konflikt-Gesellschaften setzen die Herstellung von Gerechtigkeit für den
Friedensprozess voraus.63 Frieden und Gerechtigkeit verhalten sich hiernach komplementär; ein Wiederaufbau rechtsstaatlicher Strukturen erfordert die konsequente Ahndung
begangener Verbrechen. Dem folgend beinhalten bereits die
ersten Prinzipien einen Auftrag zur Strafverfolgung: „1. States
61
Ocampo, in: Ambos/Large/Wierda (Hrsg.), Building a
Future on Peace and Justice: The International Criminal
Court, S. 9 (12).
62
Bassiouni/International Human Rights Law Institute, The
Chicago Principles on Post-Conflict Justice, 2007, im Internet abrufbar unter:
http://www.concernedhistorians.org/content_files/file/to/213.
pdf (zuletzt abgerufen am 13.4.2011).
63
Bassiouni/International Human Rights Law Institute
(Fn. 62) S. 11.
shall prosecute alleged perpetrators of gross violations of
human rights and humanitarian law. 2. States shall respect the
right to truth and encourage formal investigations of past
violations by truth commissions or other bodies.”
Die Vereinbarung von Frieden und Gerechtigkeit war
nicht zuletzt Thema der Nürnberger Konferenz im Juni 2007.
Den Schlusspunkt des Kongresses bildete eine Erklärung der
Veranstalter Deutschland, Finnland und Jordanien zur notwendigen Komplementarität der Grundsätze.64 In der Präambel erkennen die Regierungen an, dass „Frieden, Gerechtigkeit, Menschenrechte und Entwicklung Herzstücke der internationalen Gemeinschaft sind, dass sie miteinander verwoben
sind und sich gegenseitig stärken“. Eine langfristige politische Stabilität sei zu erreichen, wenn die Ursachen von Konflikten gerecht und konstruktiv betrachtet würden. Die Forderung nach Gerechtigkeit dürfe daher keine Frage des „Ob“,
sondern nur des „Wann“ und „Wie“ sein.
Die internationale Strafgerichtsbarkeit beruht auf der Idee
eines Zusammenwirkens der Prinzipien. Eine langfristige
Sicherung des Friedens bedarf der Stabilität durch eine rechtliche Aufarbeitung des Konflikts. Gerechtigkeit gegenüber
den Opfern durch die Sanktionierung völkerstrafrechtlicher
Verbrechen ist eine wesentliche Voraussetzung für den erfolgreichen Prozess einer nationalen Aussöhnung. Auf dieser
Überzeugung beruht nicht zuletzt die Kompetenz des Sicherheitsrates zur Überweisung einer Situation an den IStGH.
Kapitel VII UN-Charta legitimiert den Sicherheitsrat zum
Erlass einer Resolution ausschließlich im Falle einer Bedrohung des Weltfriedens. Eine Anrufung des IStGH kann nur
auf Kapitel VII UN-Charta gestützt werden, wenn sie als
adäquates Mittel zur Herstellung globaler Sicherheit anzusehen ist. Heilmann kann daher nicht gefolgt werden, wenn er
die Friedenssicherung durch den Sicherheitsrat in einen Gegensatz zu den Zwecken internationaler Strafverfolgung
stellt:
„Über Art. 16 werden Konflikte zwischen Friedensschaffung und -sicherung (als Aufgabe des Sicherheitsrates) sowie
der Herstellung von Gerechtigkeit (als Aufgabe des IStGH)
gelöst.“65
Eine generelle Gegenüberstellung von Frieden und Gerechtigkeit als divergierende Zielsetzungen von Sicherheitsrat
und IStGH widerspricht damit einem Grundgedanken des
Völkerstrafrechts. Mit Art. 16 IStGH-Statut sollte lediglich
ein Korrektiv geschaffen werden, um im Einzelfall auf Bedrohungen des internationalen Friedens reagieren zu können.
In Krisengebieten können Ermittlungen gegen amtierende
Regierungsmitglieder den Erfolg von Friedensbemühungen
beeinträchtigen. Die Durchsetzung der Strafverfolgung als
Garant einer langfristigen Stabilisierung der Region tritt hier
64
Nürnberger Erklärung zu Frieden und Gerechtigkeit, 2008,
im Internet abrufbar unter:
http://www.auswaertigesamt.de/cae/servlet/contentblob/357838/publicationFile/3484/
NuernbergerErklaerung.pdf;jsessionid=3555AEB6E1B6C2DBFEE34A5C7EEF
CC9D (zuletzt abgerufen am 13.4.2011).
65
Heilmann (Fn. 27), S. 163.
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in Widerspruch zur Notwendigkeit aktueller politischer Verhandlungen. Art. 16 IStGH-Statut begegnet dem Konflikt mit
einem temporären Vorrang der Friedenssicherung durch
Aussetzung der Ermittlungen. Die Vorschrift trifft damit eine
grundsätzlich verhältnismäßige Abwägung zwischen dem
Ziel internationaler Strafverfolgung und dem Bedürfnis nach
einer friedlichen Streitbeilegung.
Gleichwohl muss eine Anwendung von Art. 16 IStGHStatut zurückhaltend erfolgen. Wie bereits erörtert, setzt sich
der Sicherheitsrat mit einem Aufschub der Strafverfolgung
dem Vorwurf der Inkonsequenz aus. Ciampi schreibt:
„Moreover, one cannot help emphasizing the paradox of a
Security Council deferral, given the decision of referral taken
in Resolution 1593 (2005) in relation to the same situation.“66
Einleitung und Aussetzung der Ermittlungen durch den
Sicherheitsrat schließen sich jedoch – auch teleologisch –
nicht aus. Eine veränderte Sachlage im Konfliktgebiet kann
die Neubewertung der Situation und ein Umdenken im Sicherheitsrat erforderlich machen. Eine Grenze ist dort zu
ziehen, wo der IStGH seine Glaubwürdigkeit als unabhängiges Justizorgan zu verlieren droht.67 Angesichts der bestehenden Widerstände gegen den Gerichtshof ist die Wahrung
seiner Integrität von besonderer Bedeutung.68 Eine Intervention des Sicherheitsrates darf nicht den Eindruck erwecken,
dass internationale Gerechtigkeit von dem politischen Willen
einzelner Staaten abhängt. Zwar ist die Aussetzung von Ermittlungen durch den Sicherheitsrat notwendig auch eine
politische Entscheidung. Um den Anschein selektiver Gerechtigkeit zu vermeiden, muss ein Eingriff in die Strafverfolgung des IStGH jedoch auf zwingende Ausnahmefälle
beschränkt bleiben. Die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung des Gerichtshofs erfordert eine restriktive Anwendung von Art. 16 IStGH-Statut. Vor diesem Hintergrund
bedarf eine Aussetzung der Ermittlungen gegen al-Bashir
einer umfassenden und objektiven Bewertung der Situation
im Sudan. Hierbei sollte die Einschätzung Carla del Pontes,
der ehemaligen Chefanklägerin des ICTY, zu Achtsamkeit
mahnen:
„Überall, wo ein Konflikt auftritt, werden Politiker, Diplomaten, Militärkommandeure, Geheimdienstchefs und Experten scheinbar zwingende Argumente für die Umgehung
des Völkerrechts vorbringen.“69
Ebenfalls zu berücksichtigen ist die Möglichkeit einer negativen Präzedenzwirkung. Unter Berufung auf den Fall alBashirs könnten Regierungsmitglieder in ähnlichen Konfliktsituationen Gleichbehandlung durch den IStGH fordern.70
Soll Art. 16 IStGH-Statut den Charakter einer Ausnahmeregelung nicht verlieren, darf der Aufschub internationaler
Strafverfolgung nicht zum Verhandlungsgegenstand zwischen den Staaten werden.71
66
Ciampi, JICJ 6 (2008), 885 (889).
Oette, JICJ 2010, 345 (354).
68
Siehe Zimmermann/Scheel, Vereinte Nationen 2002, 137.
69
Del Ponte, Im Namen der Anklage, 2009, S. 474.
70
Oette, JICJ 2010, 345 (356).
71
Arnold (Fn. 4), S. 177.
67
Oette sieht eine weitere Gefahr in der Reaktion der Anklagebehörde auf die Aussetzung ihrer Ermittlungen.72 Um
einen Aufschub nach Art. 16 IStGH-Statut zu vermeiden,
könnte der Ankläger künftig von einer Strafverfolgung amtierender Staats- und Regierungschefs absehen. Mit einer faktischen Immunität für die Hauptverantwortlichen völkerrechtlicher Verbrechen würde ein wichtiges Ziel der internationalen Strafgerichtsbarkeit unterlaufen.
VI. Fazit
Der Völkerstrafrechtler William Schabas schreibt zur Situation im Sudan:
„I would trade a prosecution of Al Bashir for the promise
of peace in Sudan in a heartbeat.“73
Art. 16 IStGH-Statut ermöglicht es dem Sicherheitsrat,
einen Friedensprozess durch den vorläufigen Verzicht auf
weitere Ermittlungen zu unterstützen. Ein solches Vorgehen
kann im Einzelfall geboten sein, wenn ein bestehender Haftbefehl ernsthafte Bemühungen um eine Konfliktbeilegung
verhindert. Die Anwendung der restriktiv zu behandelnden
Vorschrift erfordert eine gewissenhafte Prüfung ihrer rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen. Der Tausch von
Frieden gegen Gerechtigkeit darf gerade nicht „im Nu“ geschehen, sondern muss das Ergebnis einer sorgsamen Abwägung darstellen. Im Interesse staatlicher Kooperation sollte
sich der Sicherheitsrat mit dem Antrag der Afrikanischen
Union eingehend beschäftigen. Die Entscheidung für eine
Aussetzung der Ermittlungen ist jedoch unabhängig von
politischem Druck der Nachbarstaaten zu treffen. In der notwendigen Diskussion um Art. 16 IStGH-Statut darf nicht
vergessen werden, dass ein Ende der Straflosigkeit erklärtes
Ziel der internationalen Strafgerichtsbarkeit ist. Gerechtigkeit
gegenüber Tätern wie Opfern erscheint als sicherste Grundlage für die Gewährleistung dauerhaften Friedens.
72
Oette, JICJ 2010, 345 (354).
Schabas, African Union Amendment to Article 16 of Rome
Statute Analysed, 31.10.2001, im Internet abrufbar unter:
http://humanrightsdoctorate.blogspot.com/2010/10/africanunion-amendment-to-article-16.html (zuletzt abgerufen am
13.4.2011).
73
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