Wolf Haas Verteidigung derMissionarsstellung
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Wolf Haas Verteidigung derMissionarsstellung
Nr. 8 | 30. September 2012 Peter von Matt Zur Literaturlandschaft Schweiz | Wolf Haas Verteidigung der Missionarsstellung | Robert Garland Hannibal | Jenny Erpenbeck Aller Tage Abend | Cees Nooteboom Briefe an Poseidon | Paul Widmer Minister Hans Frölicher | Weitere Rezensionen zu David Mitchell, Peer Steinbrück, Leo Trotzki, Matthias Zschokke u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese Die goldene Lesezeit beginnt Entdecken Sie jetzt die Herbst-Bestseller! <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NTGysAAApZpLUg8AAAA=</wm> buch | gebunden Mark Twain Meine geheime Autobiographie buch | gebunden Ken Follett buch | gebunden Roger Willemsen buch | gebunden Richard Ford chF 39.90 chF 32.90 chF 34.90 Winter der Welt Momentum Kanada chF 66.90 buch | gebunden Julie Otsuka Wovon wir träumten chF 25.90 cD | buch cecilia bartoli | Donna Leon Mission / himmlische Juwelen chF 49.90 Service pur: schnell und zuverlässig geliefert Sie können auf Rechnung einkaufen einfach und mobil bestellen 14 Tage Rückgaberecht www.buch.ch Alle Preise inkl. MwSt. und ohne Gewähr. <wm>10CFWMsQ6EMAxDv6iV4zSlISNiQwyn27sg5vv_6Vo2Bku2_OzjCMt4tO3nd_-EAMWSWGFrYW6ZS41GZpQl4BRCuArpSlW8-ATxqtA-mQRPlD4MR1E7Wx1hPvS5huXfdf8BGwLGhoAAAAA=</wm> Inhalt Fünf Jahre Bücher am Sonntag und kein Ende Peter von Matt (Seite 14). Illustration von André Carrilho Mit dieser Nummer, liebe Leserin, lieber Leser, feiern wir ein kleines Jubiläum. Am 7. Oktober 2007 erschien die erste Ausgabe von «Bücher am Sonntag»: mit Alexander Solschenizyn auf dem Titelbild und einem Essay von Hugo Loetscher, der auf Barcelonas Ramblas flanierend für uns katalonische Neuerscheinungen besprach. Heute, fünf Jahre und dreiundfünfzig Nummern später, streift Manfred Papst mit Peter von Matt durch die Schweizer Literaturlandschaft. Was hat sich in dieser Zeit verändert? We lche Orchideen entfalten neu ihre Pracht, welche Brennnesseln und Schmarotzerpflanzen säumen den We grand? (siehe Interview Seite 14). Der Name Peter von Matts steht dieses Jahr zusammen mit vier weiteren auf der Nominationsliste für den Schweizer Buchpreis: Sibylle Berg, Ursula Fricker, Thomas Meyer und Alain Claude Sulzer. Wir stellen ihre We rke in einer Kurzkritik vor (Seite 13). Daneben finden Sie wie immer einen bunten Strauss von Rezensionen aktueller Erzählungen, Briefromane, Krimis und Feuilletons – von Erpenbeck bis Nooteboom, von Mitchell bis Zschokke. Und natürlich von Sachbüchern aus Politik, Kultur, Philosophie und Wissenschaft. Die We lt der Literatur präsentiert sich nicht als Magerwiese, sondern wieder mal als farbig blühender Herbstgarten. Schön, so soll es auch in Zukunft sein! Urs Rauber Belletristik Kolumne 4 Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung 17 Charles Lewinsky David Mitchell: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kurzkritiken Sachbuch Von Simone von Büren 7 Fritz Rudolf Fries: Der Weg nach Oobliadooh 8 Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend 9 Cees Nooteboom: Briefe an Poseidon Von Andreas Nentwich Das Zitat von Joseph Addison 17 Franziska Rogger, Madeleine Herren-Oesch: Inszeniertes Leben Von Kathrin Meier-Rust Georg Brunold: Traumberuf Von Michael Holmes 29 Joseph Jurt: Frankreichs engagierte Intellektuelle Von Urs Bitterli Ruedi Weidmann: Swissair Souvenirs Von Roberto Zimmermann 30 Robert Service: Trotzki Von Reinhard Meier Das amerikanische Buch Bob Woodward: The Price of Politics Von Stefana Sabin Von Urs Rauber Von Klara Obermüller Von Geneviève Lüscher Agenda Von Kathrin Meier-Rust 31 Das ist Oper. Das Opernhaus Zürich in der Ära Pereira, 1991–2012 10 Rainald Goetz: Johan Holtrop Von Sieglinde Geisel 11 Anton Kuh: Jetzt können wir schlafen gehen! Von Martin Zingg Céline Delavaux: Kunst, die Sie nie sehen werden Von Gerhard Mack 12 Matthias Zschokke: Der Mann mit zwei Augen Von Bruno Steiger 13 E-Krimi des Monats Jim Thompson: In die finstere Nacht Von Christine Brand Benedikt von Tscharner: Inter Gentes Wilhelm Schmid: Unglücklich sein Sachbuch 20 Gianluigi Nuzzi: Seine Heiligkeit Ve ranstaltungshinweise Von Geneviève Lüscher Von Patricia Arnold Philippe Reichen: Härte, Herz und Humor 21 Ben Moore: Elefanten im All Von Robert Gast 23 Jean-François Bergier: Wilhelm Tell Von Urs Rauber Von Kathrin Meier-Rust 24 Richard Sennett: Zusammenarbeit Von Ina Boesch Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben 25 Daniel Friedrich Sturm: Peer Steinbrück Eckart Lohse, Markus Wehner: Steinbrück Ursula Fricker: Ausser sich 26 Rea Brändle, Mario König: Huggenberger Von Regula Freuler Von Manfred Papst Interview 14 Peter von Matt, Germanist und Schriftsteller Sennentuntschi am Paradeplatz Von Manfred Papst Agenda Oktober 2012 Von Pascal Hollenstein 13 Alain Claude Sulzer: Aus den Fugen Von Regula Freuler Bestseller September 2012 Belletristik und Sachbuch Kurzkritik Schweizer Buchpreis Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse Von Manfred Papst 18 Robert Garland: Hannibal 22 Paul Widmer: Minister Hans Frölicher Von Manfred Papst Von Andreas Mink Von Gerd Kolbe Von Markus Schär MIRCO TONIOLO / ROPI 6 Von Sandra Leis Charles Duhigg: Die Macht der Gewohnheit Christoph von Marschall: Der neue Obama Von Tobias Kaestli 27 Blaine Harden: Flucht aus Lager 14 Von Martin Walder 28 John Freely: Platon in Bagdad Von André Behr Cees Nooteboom stellt Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Hier in Venedig, April 2012 (Seite 9). Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Daniela Salm, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Te lefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman Der österreichische Autor Wolf Haas mobilisiert die Massen. An die Buchpremiere seines neuen Werks «Verteidigung der Missionarsstellung» pilgerten 2500 Menschen Verliebt in Zeiten der Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung. Hoffmann & Campe, Hamburg 2012. 239 Seiten, Fr. 31.90. Von Sandra Leis Wer nicht dabei war, kann sich die Buchpremiere im Internet auf Youtube anschauen: Wolf Haas läuft agil in hellen Jeans und dunklem T-Shirt mit einem Mikrofon in der Hand von Bühnenrand zu Bühnenrand, erzählt auswendig und in rastloser Sprache die Geschichte von Benjamin Lee Baumgartner, seinem tragikomischen Helden. Der Sohn eines Hopi-Indianers und eines bayerischen Flowerpower-Mädchens aus Simbach am Inn verliebt sich in London unsterblich in eine Hamburger-Verkäuferin und versucht, sie nach allen Regeln der Kunst zu betören. Rund zwanzig Minuten lang baut Wolf Haas immer wieder neue Spannungsbögen auf, schaut kein einziges Mal ins Buch, sondern nimmt allein sein Publikum ins Visier, um schliesslich zu verkünden: «Jetzt beginnt die Lesung.» Wolf Haas Zu diesem Behuf setzt er sich auf einen Stuhl, liest aus einem Kapitel, das von einem Schriftsteller erzählt, der eng mit Baumgartner befreundet ist und unverkennbare Ähnlichkeiten aufweist mit dem realen Wolf Haas. Seit seinen Brenner-Krimis und seinem Roman «Das Wetter vor 15 Jahren», einer Liebesgeschichte in Form eines Interviews zwischen einer Literaturkritikerin und einem Autor namens Wolf Haas über sein neues Werk, ist Wolf Haas in Österreich eine Art Volksheld zum Anfassen. Wenn er einen neuen Roman ankündigt, dann strömen die Massen: Die Ur-Lesung von «Verteidigung der Missionarsstellung» lockte kürzlich laut Veranstalter 2500 Menschen in den grossen Hof des hippen Wiener Museumsquartiers. Und das, obwohl Autor Haas in Interviews immer wieder sagt: «Die meisten Romane sind ja so fad, weil sich in ihnen alles so schön fügt. Eine gewisse Ungefügtheit ist da schon reizvoller.» Will heissen: So charmant, heiter und selbstironisch Wolf Haas schreibt, einfach zu verstehen sind seine Texte nicht. Sie sind bei näherer Betrachtung oft abgründig oder satirisch überhöht und stets gespickt mit sprachwissenschaftlichen und philosophischen Betrachtungen. Haas, der zum Thema «Die sprachtheoretischen Grundlagen der Konkreten Poesie» promoviert hat, ist ein gewiefter Visualisierer, der mit allerlei typografischen Elementen zu experimentieren weiss. KLAUS FRITSCH Abscheu gegen Reiseliteratur Geboren 1960 in Maria Alm im österreichischen Bundesland Salzburg, wurde Wolf Haas mit zehn Jahren Gymnasiast eines katholischen Privatinternats. Er studierte Linguistik, arbeitete in Südwales als Universitätslektor und schliesslich in Wien als Werbetexter. 1996 veröffentlichte er mit «Auferstehung der Toten» seinen ersten Kriminalroman. Es folgten bis 2009 sechs weitere Bücher mit dem ungewöhnlichen Detektiv Simon Brenner. Dreimal erhielt Wolf Haas den begehrten Deutschen Krimipreis. Im Jahr 2006 erschien sein Interviewroman «Das Wetter vor 15 Jahren». 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 Wenn Baumgartner in London plötzlich in die falsche Richtung läuft und irgendwo um die Ecke biegt, so macht das der Text auch grafisch. Wenn Baumgartner sich 18 Jahre später in Peking ein zweites Mal verliebt und mit der Angebeteten im Lift steckt, fährt der Text Seite für Seite von oben nach unten mit. Und wenn ein PaisleyMuster plötzlich bedeutsam wird, so bringt der Text die Form zu Papier. Sätze wie etwa das Antinomie-Problem des polnischen Mathematikers Tarski liest man tatsächlich quer, weil die Buchstaben quer über die Seite laufen. Dann sind einzelne Wörter plötzlich übergross geschrieben, oder Textblöcke werden so klein, dass selbst die Lupe nicht mehr weiterhilft. Ins Absurde beziehungsweise vollends Unverständliche kippt Haas in den Kapiteln, die in China spielen – und das nicht bloss deshalb, weil der Held sich Der Protagonist im neuen Roman von Wolf Haas verliebt sich immer dann, wenn eine Seuche die Welt heimsucht. Metroszene in Mexico City 2009 während der Schweinegrippe. verliebt und von der Vogelgrippe heimgesucht wird. Mehrere Seiten sind auf Chinesisch verfasst, so dass der Unkundige beim besten Willen kein Wort versteht. Das allerdings ist die erklärte Absicht des Autors: Anstelle dürftiger Beschreibungen, die versuchen, die Exotik Chinas zu skizzieren, schreibt er auf Chinesisch. «Indem man es nicht versteht, versteht man es gerade richtig», gab Wolf Haas dem österreichischen Nachrichtenmagazin «Profil» zu Protokoll und fügte erklärend hinzu: «Ich verabscheue Reiseliteratur und Romane, in denen exotische Welten präsentiert werden. Das Vogelgrippe Eine kurze Ve rteidigung der Missionarsstellung liefert schliesslich die holländische Übersetzerin, in die sich Baumgartner in Peking verliebt. Die beiden unterhalten sich darüber, dass es für eine normale Sache oft gar keine Wörter gibt, sondern ausschliesslich für die Ausnahme. Beispielsweise benenne man nur die Ausnahme als Kreisverkehr, eine eckige Kreuzung sei einfach eine Kreuzung. Doch keine Regel ohne Ausnahme – Missionarsstellung sei das Wort für «Normalbumsen», sagt die Holländerin und bricht eine Lanze für «die einfache Innigkeit» dieser ihrer Ansicht nach zu Unrecht unterschätzten Sexualpraktik. MIGUEL TOVAR / AP Kommt ohne Sexszenen aus kommt wahrscheinlich daher, dass ich aus einem Touristenort stamme und schon immer eine extreme Allergie dagegen hatte, wenn Touristen meinten, sie könnten nach drei Tagen den Einheimischen erklären, wie ihr Dorf funktioniere.» Auffallend im Roman «Verteidigung der Missionarsstellung» ist auch eine andere stilistische Eigenheit: die Klammerbemerkung. Darin hält der Autor fest, was fehlt – beispielsweise «Hier noch London-Atmosphäre einbauen», einen Ghostwriter beauftragen oder nach dem Vorbild der Helene Hegemann Passagen aus dem Internet «her- unteraxoloteln». Natürlich führt er all diese Regie-Anweisungen nie aus, denn der Leser kann sie sich ja selbst im Kopf zurechtlegen. Nur: Worum geht es dem 51-jährigen Wolf Haas eigentlich im sogenannten Ganzen, wenn er denn überhaupt ein solches im Sinn hat? Mit Sicherheit nicht um die Ve rteidigung der Missionarsstellung. Das ist ein genialer Buchtitel, mit dem er, der viele Jahre als We rbetexter gearbeitet hat, die Leser rudelweise in sein Buch lockt. Konkret ist es der Titel eines Gedichts, das der Schriftsteller im Roman verfasst hat; über den Inhalt schweigt sich der Roman leider aus. Der Roman kommt ganz ohne Sexszenen aus, doch geht es im Buch andauernd um das Thema – um den mal vergnüglichen, mal beschwerlichen We g dorthin sozusagen. Ums Umgarnen und um die Diskrepanz zwischen dem, was man denkt, und dem, was man sagt. Bei Baumgartner kommt das hinzu, was er als seinen «grössten Fehler» bezeichnet: Er verliebt sich immer nur dann, «wenn eine Seuche dabei ist, die We lt auszurotten». Er macht sie alle durch – die Rinderseuche, die Vogel- und die Schweinegrippe und zum Schluss auch noch die durch den Ehec-Erreger verursachte Durchfallerkrankung. Gibt es bloss eine Zeitgleichheit zwischen Seuche und selbstvergessenem Liebestaumel? Oder nicht doch viel eher eine Kausalität? Hat Baumgartner die Seuchen auf sich gelenkt und als «Winkelried» oder «Leibwächter für die ganze We lt» gewissermassen abgefangen? Oder war es gerade umgekehrt, und er hat die Seuchen ausgelöst? Fragen über Fragen, die zu beantworten Wolf Haas tunlichst vermeidet. Die We lt ist viel zu kompliziert, als dass es einfache Antworten gäbe. Gewiss, so heisst es im Roman mehrfach, sei nur so viel: Oft würden erfundene Dinge wahr klingen und wahre erfunden. Zum Beispiel die Herkunft von Benjamin Lee Baumgartner: Jeder, der ihn sieht, erkennt sofort die Ähnlichkeit mit dem Indianer im Film «Einer flog über das Kuckucksnest». Doch gegen Ende des Romans erklärt Baumgartners esoterische Mutter ziemlich glaubhaft, sie habe dem Buben die Geschichte mit dem Indianer-Vater nur aufgetischt, weil der Kleine so verrückt nach Indianern gewesen sei. ● 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 VISIPIX Belletristik Der deutsche Forscher Philipp Franz von Siebold beobachtet das Einlaufen eines holländischen Schiffes auf Dejima. Er ist in Begleitung seiner japanischen Frau. Um 1825. Roman David Mitchells opulentes We rk spielt um 1800 auf der japanischen Insel Dejima und schildert das Leben eines jungen holländischen Kaufmanns Macht der Dolmetscher David Mitchell: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt, Hamburg 2012. 714 Seiten, Fr. 28.50. Von Simone von Büren David Mitchell versteht es wie wenige andere, in seinen Romanen das Leben in seiner ganzen unbändigen Fülle und die We lt in ihrer lärmenden Vielseitigkeit literarisch zu fassen. So spannt sein preisgekrönter «Wolkenatlas» den Bogen von den britischen Pazifik-Kolonien über die Zwischenkriegszeit in Belgien ins Kalifornien der 1970er-Jahre und weiter in eine futuristische Diktatur. Nun legt der Brite, der mit seinen vier Romanen bereits drei Mal für den ManBooker-Preis nominiert worden ist, überraschenderweise einen chronologisch im Präsens erzählten historischen Roman vor. «Die tausend Herbste des Jacob de Zoet» spielt hauptsächlich auf der Insel Dejima vor Nagasaki um 1800. Die auf Pfählen errichtete Fläche, «gut zweihundert Schritte lang und etwa achtzig Schritte breit», war damals ein Stützpunkt der Niederländischen Ostindien-Kompanie, dem einzigen Handelspartner des abgeschotteten Japans der Edo-Zeit. Mit der ihm eigenen Erzählenergie entwirft der 43-jährige Autor vor dem Hintergrund der «Ewigkeit der Langeweile», die zwischen den Ankünften von Handelsschiffen Dejima erfasst wie 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 eine Krankheit, die Lebensgeschichten und Beziehungen der niederländischen Beamten und japanischen Dolmetscher, der malaiischen Sklaven und englischen Kapitäne. Er siedelt den Roman in einer Zeit weltpolitischer Umwälzungen an, von denen die europäischen Nichtsnutze auf Dejima allerdings wenig Ahnung haben: In Japan kommen Zweifel an der Politik der Abschottung auf, die Niederlande sind nur noch «eine Bühne mit tanzenden Marionetten am Gängelband von Paris», und die Niederländische Ostindien-Kompanie sieht sich von den skrupellosen Engländern ebenso bedroht wie von der Korruption in den eigenen Reihen. Turbulente Geschichten Auf eben diese Korruption soll der junge holländische Kaufmann Jacob de Zoet die Geschäftsbücher prüfen. Eifrig macht sich der Rotschopf, von den Japanern «Dazūto» genannt, daran, die unlauteren Geschäfte seiner Kollegen zu enthüllen und zu durchkreuzen. Er will befördert werden, um möglichst schnell jenes Geld zu verdienen, das er braucht, um zuhause seine Geliebte heiraten zu können. Doch als er sich weigert, einen Betrug seines Vorgesetzten zu vertuschen, wird er degradiert. Und seine Lebenspläne geraten weiter durcheinander, als er sich in die junge Hebamme Orito verliebt, die – nachdem er ihr ein Niederländisch-Wörterbuch schenkt – spurlos verschwindet. Während Jacob auf Dejima festsitzt, führt der Erzähler uns ins Innere Japans. Dort wird Orito Opfer eines dubiosen Kults, wagt eine Thriller-reife Flucht aus einem abgelegenen Schrein und wird von Samurais fast gerettet. Wir erfahren etliches von der tragischen Liebe eines Dolmetschers, von geheimen Friedhöfen, von mysteriösen grauen Katzen und vom Giftmord an einem mächtigen Würdeträger. Zur Titelfigur kehren wir erst wieder zurück, als ein von Gicht geplagter englischer Kapitän vor Nagasaki seine Kanonen in Stellung bringt. Diese Exkurse ins Innere Japans sind solid recherchiert, spannend, vielfältig und interessieren dennoch weniger als die Passagen über Dejima, die undichte Stelle Japans. «Verschliessung ist Japans Schutz vor der Aussenwelt. Das Land will nicht verstanden werden», sagt Jacob, der schlau genug ist, sich die Sprache und die gesellschaftlichen Codes seiner Handelspartner anzueignen. Übersetzung ist der Gegenpol zu dieser Ve rschliessung. Sie ist – wie Dejima – Tor zur We lt. Deshalb sind im Roman die Dolmetscher allgegenwärtig. Denn Sprache bedeutet Macht, ein falsches Wort kann brüskieren, ein unsorgfältig übersetzter Satz ökonomische Ve rluste nach sich ziehen. Brillant erforscht Mitchell, der selber in Japan gelebt hat und mit einer Japanerin verheiratet ist, anhand der aussergewöhnlichen historischen Situation die Tücken und Chancen interkultureller Roman Der DDR-Erstling von Fritz Rudolf Fries ist wieder greifbar Wäre er doch abgehauen! Berlin 2012. 350 Seiten, Fr. 45.90. Von Andreas Nentwich Anfang der 60er-Jahre: Ein Heisssporn halbspanischer Herkunft schreibt in der Ostberliner Akademie der Wissenschaften einen Roman. Dann, 1966, erscheint das Buch, im Westen allerdings nur. Denn es ist halbstark und verspielt. Unsolidarisch mit der Arbeiterklasse. Sein Utopia tönt wie ein Jubellaut aus der Trompete Dizzy Gillespies: «Oobliadooh» von Fritz Fries. So nannte sich Fritz Rudolf Fries damals, der in zwei, drei Romanen auf kaleidoskopische Weise von sich geschrieben hat, so, dass er nicht er, sondern ein Hallraum vieler Literaturen ist und mit allem, was er liebt, sozusagen ein Leib und ein Geist. In «Oobliadooh» ist er ein Freundespaar, etwas mehr der eine, Arleq, als der andere, Paasch. Man meditiere über die Namen, denn wie etwas oder einer klingt, sagt immer schon viel in diesem Buch, einem Hymnus auf das Leben als musikalische Improvisation. Und wie seine Musik anhebt! Wie sich da das verbrannte Dresden aus spanischem Lie- Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag Foto: © Jane Sobel Klonsky Und noch auf ganz andere Weise rückt der begnadete Erzähler Sprache in den Vordergrund: in den poetischen Beschreibungen, die sich durch Dialoge, Handlungen und Gedanken winden und diese dauernd unterbrechen. Viele dieser Einschübe erinnern in ihrer Verknapptheit an Haikus: «Dampf steigt aus einer Wasserschüssel; das Rasiermesser blitzt im Sonnenlicht.» Als Gegenstück dazu gibt es lange, dichte Listen genauster Beobachtungen: «Möwen und Krähen zanken sich auf dem First des Gartenhauses. Im Garten sind die cremeweissen Rosen und roten Lilien schon am Verblühen. An der Landpforte wird Brot angeliefert.» Auf wunderbare Weise gelingt es Mitchell so, uns das verschlossene Japan zu «übersetzen» und es gleichzeitig auf Distanz zu halten, indem er den Erzähler beschreibend von aussen auf die Dinge schauen lässt. Dadurch versetzt er uns in Jacobs Situation auf Dejima: Ganz nah an Japan und doch nicht Teil davon; bis zum Taumel umgeben von dessen Gerüchen und Geräuschen und doch auf Distanz gehalten. ● <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0tzQwMwEA06RQTg8AAAA=</wm> Foto: © Christian Kaufmann Ganz nah an Japan besgeplänkel und Montmartre-Sehnen als flimmerndes Canalettobild erhebt – dieses Luftschiffertreiben steht einzig da über den moralischen Schwarzwäldern der Nachkriegsliteratur! Und wie dann die zwei alles heitere Irresein, dessen sie fähig sind, gegen die Verkarstung in Kleinfamilie und sozialistischer Planerfüllung aufbieten! Arleq, der sich romantisch verzehrt nach der schönen Antifaschistentochter Isabel, und der dennoch ein Wendiger ist, anders als der trockene Paasch, an dem eine deutsche Brigitte klebt, schwanger, verheult und organisiert, dem’s nicht hilft, dass er säuft, nichts fürchtet und auf dem Klavier den Himmel von Oobladiooh aufreisst. Dieser Roman hat die Streichelhaut der Jugend und ihren kompromisslosen Zynismus. In coolen Nebenbemerkungen erledigt er eine trostlose Diktatur, die von Kleinbürgern mit faschistischer DNA getragen wird, eine prophetischere Absage an die DDR ist nicht denkbar. Hätte nur nicht dieser Spielfritz als Pedro Hagen ein Dutzend Jahre für die Stasi gespitzelt, mit dem weltfremden Hochmut der Verachtung, nur um Spanien zu sehen! Wäre er doch abgehauen! Im Westen hätte er, Jahrgang 1935, ein Alphatier der skeptischen Generation sein können. ● Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag Fritz Rudolf Fries: Der Weg nach Oobliadooh. Die andere Bibliothek, *unverbindliche Preisempfehlung Kommunikation. Er beschreibt übersetzerische Gratwanderungen, kulturelle Codes und sprachliche Nuancen. Er nutzt das komische Potential von Fehlern, Missverständnissen und radebrechenden Akzenten. Seine raffinierte Spracharbeit macht den Text so unterhaltsam wie anspruchsvoll. <wm>10CFWLMQ6DQAwEX-TTes82OC4RHaJA9NdEqfP_KoSOYpuZ2W0rb7i3rPu5HqWAueiUCCtPb5yiemaL2QtJJZQvBYNm-cgFmtHRxz8RpFCHQngJG7NxXN-8GR3Rvu_PD4N1MAV_AAAA</wm> 736 Seiten Leinen sFr 35.90* Wer bin ich und: Bin ich viele? Über die bizarren und gefährlichen Spielarten des Lebens und der Liebe. »Das Enfant terrible des hemmungslosen Erzählens.« Frankfurter Allgemeine Zeitung 240 Seiten Leinen sFr 28.90* Frankfurter Rotlicht und Buchmesse: Ein verschwundenes Mädchen und eine Morddrohung gegen einen Autor. Und mittendrin Privatdetektiv Kayankaya. »Große Krimi-Kunst.« Spiegel online 304 Seiten Leinen sFr 29.90* Auch als Diogenes Hörbuch Liebesgeschiche, Thriller, Zeitreise und eine andere Art, die Welt zu sehen: Martin Suters neuer Bestseller. »Herrlich verrückt und wunderbar leicht.« Brigitte 432 Seiten Leinen sFr 32.90* Der neue Krisen-Krimi von Griechenlands Krimi-Papst. 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman In einem grossartigen neuen Buch erzählt Jenny Erpenbeck eine wohltuend kurze Jahrhundertgeschichte Leben als Konjunktiv Gleich in den ersten Zeilen von Jenny Erpenbecks neuem Roman wird ein Säugling begraben, und «alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten». Der Roman beginnt also mit dem Tod der Hauptfigur und erzählt, was aus dem Kind, einem Mädchen, das da unter der Erde lag, hätte werden können, wenn ihm der frühe Tod erspart geblieben wäre. So wird im Roman eine Lebensgeschichte im Konjunktiv entworfen. Sie führt aus einem galizischen Städtchen über Wien und Moskau nach Ostberlin – und droht immer wieder mit dem Tod der Protagonistin zu enden. Aber: «Am Ende eines Tages, an dem gestorben wurde, ist längst nicht aller Tage Abend.» So setzt das Erzählen immer wieder da an, wo der Tod verhindert worden ist, weil das Schicksal vom Zufall mitbestimmt wird: «Alles hätte aber auch anders kommen können.» Dieser Satz, der refrainartig wiederholt wird, strukturiert gewissermassen die Handlung, denn er erlaubt jedes Mal wieder die Weitererzählung der (Lebens)Geschichte. Der Tod ist also kein Tod. Der Säugling überlebt den Krippentod; die junge Frau stirbt einen Liebestod (Buch I) und überlebt ihn dann doch; die Erwachsene wird zum Opfer der stalinistischen Säuberungen (Buch II) und wird gerettet; die sozialistische Heldin in Ostberlin erliegt einem banalen Alltagsunfall (Buch III) und kommt doch durch. «Irgendein Tod wird schon auch dann der Tod sein.» Tatsächlich stirbt die Protagonistin in Erpenbecks Roman schliesslich doch noch, aber erst als alte Frau, die das Jahrhundert miterlebt hat. So weht durch diesen wohltuend kurzen Roman ein lang anhaltender epischer Atem: Das Leben, das immer wieder zu Ende zu gehen scheint und immer wieder weitererzählt wird, besteht aus vielen Leben und schlägt viele Wege ein, so dass nicht nur individuelle Sehnsüchte (nach Liebe und nach Zugehörigkeit), sondern auch historische Ereignisse – von den Pogromen an der Peripherie des k.-&-k.-Reichs über die mörderische Verfolgung durch die Nationalsozialisten und die stalinistischen Säuberungen bis zur DDR-Diktatur – fiktional gestaltet werden. Erpenbeck erzählt eine Lebensgeschichte aus Lebensgeschichten und rekapituliert ein Jahrhundert. Als leitmotivischer roter Faden dient ihr eine Goethe-Gesamtausgabe, die Pogrom, Vertreibung, Krieg, Plünderung übersteht, mehrmals verkauft und dann am Ende der Handlung in einem Antiquariat entdeckt – und wegen der leichten Beschädigung des neunten Bandes nicht gekauft wird. Diese beschädigte und doch ganz gebliebene Goethe-Ausgabe steht Knaus, München 2012. 282 Seiten, Fr. 28.40, E-Book 19.40. NORBERT MICHALKE / AGENTUR FOCUS Von Stefana Sabin Eine der kraftvollsten Stimmen der deutschen Literatur der Gegenwart: Jenny Erpenbeck, 45, in ihrer Wohnung in Berlin, 2009. Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0tzSwsAAAdsVl2Q8AAAA=</wm> <wm>10CFWMoQ6AMBBDv-iWXrcxjpNkjiAIfoag-X_FhkM0aZvXbpvngE9r3c96uAIpixbDPHu2HOhqDIUOoxLKRckUk8F-sEBtiohtMAITauuGUXqXUHoYD22sMYXnul_tnP4cfQAAAA==</wm> 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 für das beschädigte Leben, von dem der Roman handelt, und für das beschädigte Jahrhundert, das die Romanhandlung chronologisch einrahmt. Wie alle grossen Schriftsteller spinnt Erpenbeck um das einzelne Leben, das im Zentrum des Romans steht, ein engmaschiges Netz aus allgemeinen fiktionalen und fiktionalisierten Ereignissen, die dieses Leben und die Handlung mitbestimmen. Denn Jenny Erpenbecks Thema ist das Ineinandergreifen einerseits von persönlichem und geschichtlichem Erleben, andererseits von Lebensund Zeitgeschichte. Dabei gelingt es der Autorin, die Lebenstragödie und das politische Drama in konzentrierten und ruhigen Sätzen zu verknüpfen: «War Lenin vielleicht, als sie den Tee holen ging, noch ein Klassiker, und als sie mit der Tasse in der Hand zurückkam, schon ein Verbrecher?» Indem sie ohne aufwendige Bilder und ohne spektakuläre Szenen auskommt, ist Jenny Erpenbeck Minimalistin; aber indem sie einen ganz spezifischen Stil pflegt und einen grossen narrativen Bogen schlägt, ist sie eine ganz und gar epische Erzählerin – eine der kraftvollsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. ● Prosa Der Niederländer Cees Nooteboom beglückt seine Leser mit federleichten Aufzeichnungen und Briefen an den Meeresgott Poseidon Gibt es Gott etwa doch? überall Erinnerungen mitgebracht. Jetzt, so hat man den Eindruck, finden die grossen Reisen weniger auf der Landkarte als vielmehr im Kopf statt: dort, wo die Gedanken hausen und die Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Was ist der Mensch? ist eine davon. Was hat es mit diesem endlichen, begrenzten Leben auf sich? eine andere. Nooteboom wird nächstes Jahr 80 Jahre alt. Es ist Zeit, über Alter und Tod nachzudenken, über Zeit und Vergänglichkeit – und auch über jenen Gott, an den er einst glaubte. Ein anderer hätte seine Cees Nooteboom: Briefe an Poseidon. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp, Berlin 2012. 190 Seiten, Fr. 28.50, E-Book 20.70. Von Klara Obermüller Wie in aller Welt kommt ein Autor des 21. Jahrhunderts dazu, Briefe an den griechischen Meeresgott Poseidon zu schreiben? Cees Nooteboom hat es getan und dabei wohl selbst geahnt, dass sein Unterfangen erklärungsbedürftig ist. Also erzählt er, wie alles begann: wie er in einer Münchner Buchhandlung auf Texte von Sándor Márai stiess, wie er einen Platz zum Lesen suchte, sich schliesslich auf dem Viktualienmarkt niederliess und nach einer Weile entdeckte, dass das Lokal, in dem er sass, nach dem griechischen Meeresgott benannt war. Alles nur Zufall? Oder doch vielleicht ein Zeichen von irgendwo her? Nooteboom beschliesst, den Wink ernst zu nehmen und dem Gott fortan in unregelmässigen Abständen Briefe zu schicken: «kleine Wortsammlungen», wie er es nennt, «die von meinem Leben berichten». Überlegungen vielleicht dem Tagebuch anvertraut oder ähnlich wie Chateaubriand, auf den im Buch verwiesen wird, eine Art «Mémoires d’Outre-Tombe» geschrieben. Nooteboom hingegen fasst seine Reflexionen in Briefe. Er braucht das Gegenüber, um seine Gedanken an der potentiellen Widerrede zu schärfen. Er braucht die Zwiesprache, obwohl ihm klar ist, dass er im Grunde Monologe hält. «Natürlich weiss ich, dass ich Briefe an niemanden geschrieben habe», lautet der letzte Satz des Buches. «Doch was ist, wenn ich morgen auf dem Felsen einen Dreizack finde?» Dieses kleine Peut-être ist Nooteboom wichtig. Aus ihm beziehen die Briefe an den Gott ihre innere Dynamik. Es lässt den Zweifel zu, den der Skeptiker Cees Nooteboom bekanntlich für die menschlichste aller Glaubensformen hält. Kein Wunder also, dass der Autor sich vor allem mit Fragen an den Meeresgott wendet: mit Fragen, die sich, wie es in einem der Briefe heisst, fast ausnahmslos um das «Schicksal von Göttern und Menschen» drehen. Nooteboom ist in der griechischen Mythologie zu Hause, aber er ist auch katholisch geprägt, wie man aus früheren Äusserungen von ihm weiss. Heute, so gesteht er, spielt sich sein Leben ohne Götter ab. Die Fragen aber sind geblieben, die Suche nach «Antworten auf die Fragen ohne Antwort» hält an. Was bedeuten Götter uns Menschen? Was bedeuten wir Menschen ihnen? Und wie ist es, ein Gott zu sein, zu dem niemand mehr betet? «Wir hätten nie von Euch lassen dürfen», schreibt Cees Nooteboom und bringt sein Heimweh nach Göttern zum Ausdruck. Flaschenpost von der Insel Bewegende Lektüre BRANDON BOURDAGES / PRISMA Die Texte, die nun, von Helga van Beuningen wie immer makellos übersetzt, auch auf deutsch vorliegen, lassen bald vergessen, welchen Umständen sie sich verdanken. Sie stehen für sich und bedürfen keiner Rechtfertigung. Cees Nooteboom, dem Weltenerkunder, der im Winter in Amsterdam und im Sommer auf Menorca lebt, ist mit den «Briefen an Poseidon» ein kleines Meisterwerk gelungen, das sich liest wie die Flaschenpost eines einsamen Inselbewohners: Botschaften, die mit keiner Antwort mehr rechnen. 23 Mal wendet der Autor sich an den fernen Gott. Und dazwischen eingestreut finden sich Skizzen und Aufzeichnungen, die alles und nichts zum Auslöser haben. Es kann ein Stein sein, der am Wegrand lag, Seetang, der im Wasser treibt, der Flügel eines toten Vogels, das Muster auf einer bröckelnden Mauer, aber auch ein Foto in der Zeitung oder Bilder in einem Museum irgendwo auf der Welt. Im Anhang des Buches sind diese «Auslöser» abgebildet. Aber es bedürfte dieser Belege eigentlich nicht. Man hat die Zeichen längst vor seinem inneren Auge erkannt und folgt dem Autor nur allzu gern auf seinen einsamen Streifzügen. Nooteboom ist zeit seines Lebens viel gereist und hat von Nooteboom weiss um die Paradoxie seiner einseitigen Korrespondenz. Er unterhält sich mit Poseidon, als ob es ihn noch immer irgendwo gäbe, und ist doch gleichzeitig überzeugt, dass Götter Fiktionen sind und die Geschichten von ihnen «ein Gedicht, das von euch zu handeln schien, die ganze Zeit jedoch nur von uns handelte». Das klingt sehr aufgeklärt und ist es auch. Und doch hält Nooteboom ein klein wenig Raum für den Zweifel offen. Oder, besser vielleicht, für jenen Anflug von Heimweh nach den Göttern, der ihn angesichts ihrer Abbilder manchmal befällt. «Wir hätten nie von euch lassen dürfen», heisst es einmal. Denn wir sind zu unvollkommen geschaffen für die Abstraktion. Wir brauchen Bilder, die uns das Unerklärliche näher bringen. Indem Nooteboom sich mit dem Gott unterhält, gibt er ihm etwas von seiner realen Präsenz zurück. Es ist dieser schmerzliche Widerspruch, der die Lektüre seiner Aufzeichnungen so bewegend macht. ● 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Rainald Goetz unternimmt den Ve rsuch, den Aufstieg und Fall eines Wirtschaftsbosses zu erzählen – und scheitert Unterwegs im Volltrottelmodus Rainald Goetz: Johan Holtrop. Suhrkamp, Berlin 2012. 342 Seiten, Fr. 28.50. Von Sieglinde Geisel JENS RÖTZSCH / OSTKREUZ So wie sie nach dem Fall der Mauer den We nderoman herbeisehnte, hofft die Literaturkritik seit ein paar Jahren auf den Roman zur Finanzkrise. Rainald Goetz’ neuer Roman sieht aus, als wäre er ein solcher, und so wurde er von den Meinungsführern des Literaturbetriebs bereits vor Erscheinen als eines der wichtigsten Bücher des Herbsts gehandelt. Mit der Wirtschaft und der Literatur allerdings ist es so eine Sache: Seit dem 1998 verstorbenen amerikanischen Autor William Gaddis, der sein Geld als PR-Berater eines Konzerns verdiente, hat wohl kaum ein Schriftsteller die Sphäre der Chefetagen aus eigener Anschauung näher kennengelernt. Auch Rainald Goetz dürfte in seinem Schlüsselroman eine We lt beschreiben, die er nur aus den Medien kennt. Als Vorbild für seine Titelfigur Johann Holtrop, des- sen Aufstieg und Untergang der Roman schildert, dient der ehemalige Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff, eine bewährte Ikone des Bösen in der Wirtschaft; andere Gestalten aus den Jahren 1998 bis 2010 treten unverschlüsselt auf, so etwa Gerhard Schröder. Johann Holtrop ist ein CEO, wie wir ihn uns vorgestellt haben: immer in Bewegung, immer auf der Flucht, getrieben von der Gier nach Geld, ein «Entscheidungshysteriker», dessen Menschenkenntnis «durch überwertige Egoorientierung auffallend schwach ausgeprägt war». Die Nullerjahre haben ihn um einige zig Millionen Euro reicher gemacht, «ihm aber die Ehre als Mensch entrissen», so heisst es am Ende. Goetz ist ein Autor, der seine Figuren verrät, «lauter gleiche, sinnlos laute Männer, im Volltrottelmodus ihrer Grossmännlichkeit» – nur in Ausnahmefällen entstammen solche Kommentare dem Kopf einer Figur. Ununterbrochen sagt uns Goetz, wie seine Figuren sind, doch gerade deshalb sind sie nicht. «Er wusste gar nicht, wie das geht, im Dialog mit Thomas Middelhoff, früherer VorstandsVorsitzender von Bertelsmann, dient dem Autor Rainald Goetz als Vorbild für die Bösen; der Geschäftsmann hier 2001 im Flugzeug. seinem Ich zu leben» – heisst es über Holtrop. Denunziatorisches Schreiben erzeugt fast immer schwache Literatur: Wie soll der Leser sich auf Figuren einlassen, aus denen sich der Autor nichts macht? Seitenlang lässt dieser seinen Holtrop in der verbalen Ödnis von Aufsichtsratssitzungen hocken («Holtrop war auf das Gespräch gut vorbereitet, hatte verschiedene Zielvorgaben für unterschiedliche Gesprächsverlaufsmöglichkeiten definiert, Minimalzielvariante, Ve rhandlungsmasse, Optimum»); der Turbo-Manager verhandelt mit Chinesen, rast mit Firmenjet und Dienstwagen durch die We lt, hat nebenbei eine Frau und vier Kinder, wie es sich gehört. Auf die Pornos im Pay-TV des Hotelzimmers verzichtet Holtrop. «Er interessierte sich zwar auch für Sexualität, aber auch für die dem entgegenstehenden Empfindungen der Scham.» Womit wir bei der Sprache wären. Milde ausgedrückt, zeichnet sich Goetz’ Sprache dadurch aus, dass ihre Mittel dem Gegenstand nicht angemessen sind. Das Zögern des geschassten Managers Thewe vor einem Schluck aus dem Flachmann liest sich beispielsweise so: «Nach einer Zeit des Widerstands gegen die Anwesenheit des Gedankens der Möglichkeit dieses nächsten Schlucks schaute Thewe wieder auf die Uhr.» Zur Munition, mit der Goetz seinem bisschen Wirklichkeit zu Leibe rückt, gehören Genitivketten, kaum überblickbare endlose Schachtelsätze sowie neue Worte: «absolutistischer Karrierismus», «Bodenständigkeitsverblödetheit», «ausserbüroliche Wirklichkeiten». Hier spricht der Wille zum Wilden, Radikalen, Nervösen, doch das Sprachberserkertum greift nicht, es ist nur peinlich. Vielleicht soll die kaputte Sprache uns die «Kaputtheit» (ein Leitwort des Romans) dieser unserer We lt in aller Grellheit vor Augen führen. Was dabei herauskommt, ist allerdings nicht Stil, sondern Gewalt an der Sprache. Und diese tut einem beim Lesen weh. ● Die Nominierten Vielen Dank für das Leben, Sibylle Berg, Hanser Verlag Ausser sich, Ursula Fricker, Rotpunktverlag Das Kalb vor der Gotthardpost, Peter von Matt, Hanser Verlag Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse, Thomas Meyer, Salis Verlag Aus den Fugen, Alain Claude Sulzer, Verlag Galiani Berlin <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0Nzc1sgAAJJiexQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWMoQ7DMAwFv8jRs5Nn1wucyqqCadykKt7_oyljA8fu7jgmG3489_O9v6YCg6IRtG0y2Sx8aloL-kTCDWoPhUXfRo8_X6DpHb2WI0iBl0LMRVmDLLV1qFWD7XPdX3IaDaKAAAAA</wm> 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 Feuilleton Der jüdisch-österreichische Autor Anton Kuh (1890–1941) war ein brillanter Kopf Begnadeter Schnorrer aus Wien Anton Kuh: Jetzt können wir schlafen gehen! Zwischen Wien und Berlin. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Walter Schübler. Metroverlag, Wien 2012. 238 Seiten, Fr. 28.40. Von Martin Zingg «Was ist ein Kaffeehausliterat? Ein Mensch, der Zeit hat, im Kaffeehaus über das nachzudenken, was die anderen draussen nicht erleben.» Anton Kuh, der dieses legendäre Bonmot geprägt hat, war ein «Kaffeehausliterat» – und mehr als nur das. Und natürlich war er aus Wien. Menschen seiner Statur und Wesensart konnten wohl nur in Wien gedeihen, der Stadt, der er bereits 1917 «Operettenvertrottelung» attestierte. In Wien wurde Anton Kuh 1890 geboren, als Sohn einer deutsch-jüdischen Prager Familie, hier wurde er schon früh bekannt und berüchtigt als streitbarer Feuilletonist. Vor allem aber war er berühmt als «Sprechsteller», wie Kurt Tucholsky ihn nannte, als einer, der atemberaubende Stegreifvorträge halten konnte. Der Sprachvirtuose soll mit seinen freien, assoziationsgesättigten Reden ganze Säle gefüllt haben. Daneben, auch das wird in vielen Anekdoten überliefert, war er ein begnadeter Schnorrer, einfallsreich aus permanenter Geldnot. Wenn er gelegentlich einer gewissen «Schreibfaulheit» geziehen wurde, pflegte er mit dem Satz zu replizieren: «Die wenigsten wissen, dass auch das Nichtschreiben die Frucht langer und mühseliger Arbeit ist.» Anton Kuh war begabt mit grosser polemischer Energie und politischer Weitsicht. Auf intensive und sehr wortreiche Weise war er beispielsweise verfeindet mit Karl Kraus, der anderen Grösse auf dem Wiener Feuilletonparkett. Die beiden blieben einander auch dann in inniger Feindschaft verbunden, als Kuh es in Wien nicht mehr aushielt und nach Berlin übersiedelte. 1926 zog Kuh in die andere Metropole, um «in Berlin unter Wienern statt in Wien unter Kremsern zu leben». Natürlich blieb er auch hier ein Wiener, er blieb vor allem ein äusserst kritischer und witziger Geist, ein unbestechlicher Chronist jener turbulenten Jahre, die er nicht nur als Zaungast verfolgte, sondern mit einer rhetorischen Verve kommentierte, die noch heute begeistern kann. «Jetzt können wir schlafen gehen!» heisst eine Sammlung von Feuilletons, die Walter Schübler kompiliert und kommentiert hat. Darin wird deutlich, wie genau Anton Kuh die Physiognomie seiner Zeit schon sehr früh erkannt und mit oft beissender Schärfe beschrieben hat. «Der Deutsche und sein Hut» etwa ist der harmlose Titel eines Feuilletons: Auf vier Seiten skizziert Kuh anhand der Kopfbedeckung das Europa der Nachkriegszeit, aus dem schon bald ein Vor- kriegseuropa werden wird. 1933 wird der «Linksler, Exzedent, Schmutzfink der Aufrichtigkeit», wie er sich selber sieht, Berlin verlassen müssen. Es verschlägt ihn kurz zurück nach Wien, öfter und länger nach Paris und London, später nach New York. Man könnte ihn seitenlang zitieren, diesen wunderbaren Anton Kuh. Etwa die Auskunft, die er 1927 der «Literarischen Welt» gab, als er nach seinem Nachleben befragt wurde: «Es gibt nur eine Form zu überleben – nämlich die, dass die Leute das Gefühl haben, das Eigentliche und Wesentliche, das mit einem gestorben sei, könne in keine Nachrufformel gefasst werden. Es kann sich nur in der von Mann zu Mann gehenden Legende erhalten.» Als er dies schrieb, hatte Anton Kuh noch vierzehn Jahre zu leben. Und nach seinem Tod in New York, 1941, reichte es lange Zeit nicht einmal zur Legende. Überlebt hat er, mehr unerkannt als gelesen, in einigen Anthologien. Walter Schübler, der Herausgeber dieses wunderbaren Auswahlbandes, plant nun eine Biografie des Autors und eine Werkausgabe. Beides ist überfällig. «Anton Kuh, Aufmischer aus Wien. Mensch gewordener Nerv. Zerplatzender Intellekt», wie eine Zeitung 1920 schrieb, bleibt unbedingt lesenswert, das belegt auch dieser Band. ● Vermisste Kunst Zerstört, geraubt, verschollen Zum Glück schläft der junge Hirtenbub, den der französische Rokoko-Meister François Boucher im 18. Jahrhundert gemalt hat. Leicht berauscht vom Alkohol, gewärmt von der Sonne, kann er sich in paradiesische Gefilde träumen, während sein Bild ein schreckliches Schicksal erleidet. Eine junger Elsässer raubte es 1996 aus dem Museum von Chartres. Der 30-Jährige war ein fanatischer Kunstliebhaber und stahl sich in sechs Jahren an 174 Orten 239 Werke zusammen. Im November 2001 wurde er in Luzern gefasst. Bevor die Werke zurückgegeben werden konnten, warf sie die Mutter des Täters in den RheinRhone-Kanal, manche zerschnitt sie und steckte sie in einen Müllschlucker. Der Schaden belief sich auf mehrere Millionen Euro. Unter den unwiederbringlichen Bildern war auch die bukolische Szene Bouchers. Sie ist eines von zahlreichen Kunstwerken, von denen wir Kenntnis haben, die uns aber nicht zugänglich sind. Einige wurden zerstört, manchmal mit viel öffentlicher Aufmerksamkeit wie die BuddhaStatuen von Bamian, andere verändert. Oder sie gelten als verschollen. Oder sie sind in Privatbesitz, und man darf hoffen, sie doch einmal zu sehen. Céline Delavaux hat vom antiken Diskuswerfer bis zu einer Skulptur Henry Moores Fälle gesammelt und erzählt mit ihnen auch eine Geschichte verfehlter Leidenschaften. Dass Cézannes «Knabe mit der roten Weste» in die Sammlung Bührle heimgekehrt ist, erfüllt uns mit grosser Freude. Gerhard Mack Céline Delavaux: Kunst, die Sie nie sehen werden. Prestel, München 2012, 192 Seiten, 120 Farbabbildungen, Fr. 37.90. 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Belletristik Roman Der Schweizer Matthias Zschokke erzählt von einem Sonderling, der uns Seite um Seite mehr ans Herz wächst Himmeltraurig schönes Ende Matthias Zschokke: Der Mann mit den zwei Augen. Wallstein, Göttingen 2012. 244 Seiten, Fr. 28.40, E-Book 19.40. «Der Mann mit den zwei Augen.» Was für ein Buchtitel! Bei Poe würde man sich auf jemanden gefasst machen, der lediglich aus einem Augenpaar besteht. Doch wir lesen keine Horrorstory aus dem neunzehnten Jahrhundert, wir lesen Zschokke, und da ist alles ein klein wenig komplizierter. Oder einfacher, schöner, befremdlicher, wie man will. Bereits auf den ersten Seiten wird klar, dass besagter Mann zwar tatsächlich über zwei Augen verfügt, daneben aber ein ganz gewöhnliches menschliches We sen männlichen Geschlechts ist. Ein Mann ohne Namen freilich. Ein einziges Mal kommt die Ahnung auf, dass er ganz gerne Bob heissen würde, im Übrigen wird er durchweg als «der Mann mit den zwei Augen» bezeichnet. In einem telefonisch nach Osteuropa durchgegebenen Signalement kündigt er sich so an: «…ich komme im Mantel, in einem sandfarbenen, und in der linken Hand halte ich voraussichtlich einen kleinen sandfarbenen Koffer. Ich bin durchschnittlich gross, habe durchschnittlich kurzes, sandfarbenes Haar.» Es ist nicht nur die eigene, es ist ebenso die Haarfarbe seines Friseurs – und die Frau, mit der er während vieler Jahre in innigster Fremdheit zusammengelebt hat, darf man sich «der Einfachheit halber am besten auch gleich sandfarben vorstellen». Erotische Grenzerfahrung Der Selbstmord dieser Frau steht am Anfang des Buches, das sich in der Folge in zwei zeitlich verschobenen Erzählsträngen entfaltet. Rapportiert wird zum einen der Aufenthalt in der geradezu unwahrscheinlich dubiosen Kleinstadt Harenberg, wohin der Mann sich mehr aus existenzieller Erschöpfung denn aus Trauer über den Tod der Geliebten abgesetzt hat. Das Städtchen scheint aus wenig mehr als einem Rotlichtviertel zu bestehen. Tägliche Anlaufstelle für den Mann ist die Bar von Rosaura. Rosaura ist es, die ihn unter Einsatz aller weiblichen Mittel von seinem «Cafard» erlöst, mit ihr philosophiert er über seinen Mangel an echten Gefühlen und seinen Wunsch, «für sich selbst gehalten zu werden». Ebenso tief ist seine Sehnsucht nach dem Überschreiten der eigenen Limiten. Auch hierzu verschafft ihm Rosaura den notwendigen Kontakt, was zu einer ebenso drastisch wie kalt geschilderten erotischen Grenzerfahrung führt. In Harenberg hält der Mann sich sein vergangenes Leben als Gerichtsreporter in der Hauptstadt vor Augen. Diese in12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 CHARLY RAPPO / ARKIVE.CH Von Bruno Steiger Der 57-jährige Berner Matthias Zschokke lebt seit 1980 als Schriftsteller und Filmemacher in Berlin (Aufnahme 2010). geniös platzierten Einschübe machen den grössten Te il des Buches aus. Imaginiert wird immer wieder das Zusammensein mit der geliebten Frau. Auch sie hat keinen Namen, und zum vertraulichen Du ist es nie gekommen. «Sie Hauch, Sie Lüftchen, Sie leichte Brise»; mit solchen Worten leitet er seine Ansprachen an die Gefährtin ein. Auf einen Dialog mit den Menschen seiner Umgebung mag er sich nicht einlassen, er beschränkt sich auf bühnenreife Deklamationen, in welchen er vorab seinen Widerwillen gegen alles Ungewöhnliche zum Ausdruck bringt. Ve rstörenderweise ist es nun gerade das normale Alltagsleben, das sich in seiner Sicht der Dinge regelmässig zur Groteske verzerrt. In diesen Passagen kommt Zschokkes unbestechlicher, immer leicht schielender Blick auf die We lt zu seiner schönsten Ausgestaltung. In einer heiteren Schwebe Es ist ein Blick, der ständig zwischen Entgeisterung und Empörung schwankt. Darin könnten die zwei Augen des Mannes ganz banal als ein lachendes und ein weinendes ausgemacht werden. Doch mit solch wohlfeilen Doppelspurigkeiten begnügt sich Zschokke nicht. Erbarmungslos hält er an einer Unentschiedenheit fest, die sich auf irgendeine Ve reinbarkeit von Gegensätzen nicht einlassen mag. Dass diese grundsätzliche Indifferenz eine gespielte, letztlich nur gemimte ist, macht den immensen Reiz der Prosa aus. Zschokkes Protagonist traut weder seinen beiden Augen noch dem, was sie erblicken. Getrieben vom Ve rdacht, alles zu Sehende sei eine perverse Abart von nichts, muss er seinem Bild der We lt jenen Willen zur schiefstmöglichen Interpretation entgegensetzen, der es ihm erlaubt, seinen genuinen Unmut noch in der unverfänglichsten Situation zu manifestieren. Dabei verbindet er mit seinem Genörgel weder eine Kritik noch irgendeine moralisch-ethische Vision; es geht allein um den Nachweis, dass die Ve rhältnisse just so zweifelhaft sind, wie er sie haben möchte. Dass einem der arme Kerl – als «Empfindungsalbino» bezeichnet er sich selbst – von Satz zu Satz sympathischer wird, gehört zu den zahlreichen Rätseln eines Romans, der alles Geschehen in einer beklemmend heiteren Schwebe hält. Das hat zur Folge, dass man das Buch geradezu gierig verschlingt und mit stetig zunehmendem Jubel feststellt, dass dem Autor in keiner We ise daran gelegen ist, irgend einen seiner Erzählanlässe auch nur annähernd auf den Punkt zu bringen. Mit «Der Mann mit den zwei Augen» ist Matthias Zschokke ein schlankweg hinreissendes, in seiner Art einzig dastehendes Prosakunstwerk gelungen. Es mag nicht unbedingt in die heute angesagte Hochleistungsschriftstellerei passen. Umso mehr sieht man sich gehalten, in das zwiefache «Hurra!» einzustimmen, mit dem das Buch sein himmeltraurig schönes Ende findet. ● E-Krimi des Monats Profikiller gerät in Paranoia Kurzkritiken Schweizer Buchpreis Alain Claude Sulzer: Aus den Fugen. Roman. Galiani, Berlin 2012. 230 Seiten, Fr. 27.40, E-Book 25.90. Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse. Roman. Salis, 2012. Fr. 34.90, E-Book 15.90. Marek Olsberg ist ein Starpianist. Doch der hektische Musikbetrieb setzt ihm zu, und eines Abends beendet er in der Berliner Philharmonie seine Karriere abrupt. Kurz vor dem Ende von Beethovens Hammerklaviersonate klappt er den Flügel zu: Das war’s. Um dieses dramatische Ereignis herum drapiert der Basler Erzähler Alain Claude Sulzer sein neues Buch. Es erzählt von einem Dutzend Konzertbesuchern, deren Leben durch den Abbruch der Gala tangiert wird. Da sind Vertreter von Schickeria und Geldadel, aber auch etwa der Kellner Lorenz, ein gescheiterter Mathematikstudent, der in einer Potsdamer Villa unversehens zum Dieb wird. Alain Claude Sulzer verwebt die einzelnen Schicksale geschickt, indem er in kurzen Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven erzählt, ohne je den Fokus zu verlieren. Ein klug komponiertes, zutiefst musikalisches Buch. Manfred Papst Mordechai «Motti» Wolkenbruch ist ein orthodoxer Zürcher Jude Mitte zwanzig, eine Schickse ist eine attraktive, nichtjüdische Frau, und «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» ist der erheiternde Erstling des Zürcher Texters und Künstlers Thomas Meyer (*1974), der selbst jüdischen Glaubens und mit einer Schickse verheiratet ist. Hauptfigur ist Motti, Student und Teilzeitkraft in der Versicherungsfirma seines Vaters sowie von seiner Mutter Gepeinigter. Diese will Motti unbedingt unter die Haube bringen. Doch Motti liebt heimlich eine Schickse. Er wagt die Emanzipation, was nicht ohne Folgen bleibt. Wer in Zürichs Kreis 3 lebt, glaubt in dem mit jiddischen Ausdrücken gespickten Text seine orthodoxen Nachbarn zu erkennen. Autor Meyer sagt, die Geschichte frei erfunden zu haben, jedoch von Büchern und Beobachtungen inspiriert worden zu sein. Regula Freuler Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben. Roman. Hanser, München 2012. 400 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 20.40. Ursula Fricker: Ausser sich. Roman. Rotpunkt, Zürich 2012. 255 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 20.40. «Vielen Dank für das Leben» ist der siebte Roman der seit 1996 in Zürich lebenden Weimarerin. Sie teilt einiges mit der Hauptfigur dieses Buches, einem Hermaphroditen/Intersexuellen namens Toto, u. a. die Herkunft und die alkoholkranke Mutter. Toto wird 1966 in der DDR geboren und als Bub definiert (später tritt er als Frau auf). Von Geburt an lieblos behandelt, wird Toto zum absoluten Einzelgänger, der eigentlich nur Gutes tun will. Er wird auf heimtückische Art krank gemacht und stirbt. – «Vielen Dank für das Leben» ist ein furios geschriebenes Plädoyer für Andersartigkeit. Sein Stilmittel ist in erster Linie die Ironie, die man aus bisherigen Texten der Autorin kennt und die mit fortschreitender Lektüre immer schwerer erträglich ist. Was beeindruckt, ist die radikale Einsamkeit, mit der das Buch unterlegt ist. Regula Freuler Die 1965 in Schaffhausen geborene Erzählerin Ursula Fricker interessiert sich für Menschen in Extremsituationen. In ihrem dritten Roman, «Ausser sich», erzählt sie von einem Architektenpaar in Berlin, das heftig an seiner Karriere arbeitet, sich insgeheim aber auch ein Kind wünscht. Doch dann erleidet Sebastian, der Mann, während eines Staus auf der Autobahn plötzlich eine Hirnblutung. Er überlebt, wird aber zum Pflegefall. Für seine Frau Katja, die IchErzählerin, ist nichts mehr wie zuvor. Geduldig sorgt sie für ihren Mann – in der steten Ungewissheit darüber, was er überhaupt noch mitbekommt. Sie widmet sich ihm bis zur völligen Erschöpfung und beginnt, sich selbst zu vernachlässigen. Ein quälendes, aber auch intensives, starkes Buch, das zeigt, wie wir den Wert des Lebens erst erkennen, wenn dieses gefährdet ist. Manfred Papst Jim Thompson: In die finstere Nacht. Aus dem Amerikanischen von Gunter Blank und Simone Salitter. Heyne, München 2012. Fr. 14.90, E-Book 10.90. «Das Problem mit dem Töten ist, dass es so leichtfällt. Man kommt an einen Punkt, an dem man es fast ohne nachzudenken tut. Man tut es quasi, statt nachzudenken.» Geschrieben wurden die drei Sätze in den Fünfzigerjahren. Verfasst hat sie einer, der 1977 starb. Erst jetzt ist der tiefschwarze Krimi «In die finstere Nacht» auch auf Deutsch erschienen. Der amerikanische Autor Jim Thompson reisst einen mit seiner fesselnden Schreibe mit in einen Abgrund, in den man eigentlich nicht einmal hineinblicken möchte, und er lässt einen mitfiebern mit jemandem, dem man in seinen schlimmsten Träumen nicht begegnen wollte: mit Charlie Bigger, genannt Little Bigger, Auftragskiller von Beruf. Der Ich-Erzähler ist klein, brutal und paranoid, ein monströser Antiheld und Soziopath, der sich hinter einer perfekten Fassade versteckt, bis er sein Spiel so weit treibt, dass er direkt in den Wahnsinn schlittert. Bigger hat von einem New Yorker Gangsterboss den Auftrag gefasst, einen kleinkriminellen Belastungszeugen aus dem Weg zu räumen. Keine grosse Sache, könnte man meinen, für einen Profikiller, der sich nicht einmal mehr an die Zahl seiner Opfer erinnern kann. Doch was wie eine klassische NoirGeschichte beginnt, entwickelt sich rasch zum Psycho-Thriller. Bigger zieht als Untermieter im Haus des künftigen Opfers ein. Er verführt dessen Ehefrau und spielt seine Rolle, um ein ganzes Dorf zu blenden – und fühlt sich alsbald selbst von allen und jedem getäuscht. Seine Wachsamkeit wird erst zu Misstrauen und dann zur Paranoia. In seinem langen Warten auf den richtigen Moment verfällt Little Bigger zunehmend, körperlich und geistig. Man leidet mit ihm, bis er schliesslich im Irrsinn ertrinkt. Zugegeben, es ist eine Sünde, in einem Buch als Erstes das Ende zu lesen – und eine noch grössere, hier und jetzt ein Wort über den Schluss zu verlieren. Doch es geht nicht anders. Denn der Schluss ist aussergewöhnlich, abrupt, etwas verwirrend und sehr endgültig. Das Tempo steigert sich ins kaum Erträgliche, bis sich die Story zerschmettert und im wörtlichen Sinne nichts mehr übrig bleibt. Das letzte Kapitel besteht aus einem einzigen Satz. Fast scheint es, als habe sich Jim Thompson nicht schnell genug der eigenen Geschichte entledigen können, die beides ist: faszinierend und zutiefst abstossend zugleich. Von Christine Brand ● 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Interview Der Germanist Peter von Matt steht mit seinem Essayband «Das Kalb vor der Gotthardpost» auf der Shortlist für den Schweizer Literaturpreis. Im Gespräch äussert er sich zur Gegenwartsliteratur und zu Problemen der Kulturförderung. Interview: Manfred Papst Sennentuntschi am Paradeplatz Bücher am Sonntag: Herr Professor von Matt, seit fünf Jahren gibt es die Beilage «Bücher am Sonntag», seit fünf Jahren gibt es auch den Schweizer Buchpreis. Nehmen wir dieses doppelte Jubiläum zum Anlass, die Schweizer Literatur der letzten Jahre ein wenig unter die Lupe zu nehmen. Ist die Generation der jüngeren Schweizer Autorinnen und Autoren aus dem übermächtigen Schatten von Frisch und Dürrenmatt herausgetreten? Peter von Matt: Was heisst da Schatten? Sonne sollte es heissen! Die Schweizer Autorinnen und Autoren haben von den zwei Berühmten gewaltig profitiert. Dank ihnen wurde die Schweizer Literatur im ganzen Sprachraum ein Thema. Es gab eine hohe Aufmerksamkeit für neue Namen. Eine Zeitlang rissen sich die deutschen Verlage förmlich um junge Schweizer. Peter von Matt Der 1937 geborene Schweizer Germanist Peter von Matt zählt zu den bedeutendsten Vertretern seines Fachs. Mit Büchern wie «Liebesverrat», «Verkommene Söhne, missratene Töchter», «Die Intrige» und «Das Wilde und die Ordnung» hat er weit über Fachkreise hinaus gewirkt. Von Matt war von 1976 bis 2002 Ordinarius für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich. Im Frühjahr 2012 ist bei Hanser sein neues Buch, «Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz» erschienen (368 Seiten, Fr. 29. 90). Die verstreut erschienenen Beiträge aus zwei Jahrzehnten werden vom grossen Klammer-Essay «Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt» zusammengehalten. 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 Seither konnte sich ein Schriftsteller hier ganz anders entwickeln als etwa in der Zwischenkriegszeit. Und man darf nicht vergessen, dass die zwei Berühmten auch viel taten für junge oder abgedrängte Autoren. Man spricht aber immer von den zwei Riesen, die alle andern zu Zwergen machen. Das ist ein Problem unserer Öffentlichkeit. Diese denkt in Goldmedaillen und Nobelpreisen, der Rest ist Güsel. Federer oder gar nichts. Was wir aber brauchen, ist eine blühende und wuchernde Literaturlandschaft. Talente wollen ein Biotop. Das haben wir heute tatsächlich. Und noch immer finden die Bücher von Schweizern eine wache Aufmerksamkeit auch in Deutschland. Sie glauben wirklich, dass sich die Deutschen für die Schweiz und für ihre literarische Produktion interessieren? Mehr jedenfalls als die Österreicher. Erstaunlich viele Deutsche sind stolz darauf, SchweizKenner zu sein. Aber natürlich besitzen die Deutschen mit ihrer jüngeren Geschichte geradezu ein Bergwerk von literarischen Stoffen und Themen. Denken Sie nur an die WendeRomane, die Ossi-Wessi-Konflikte. Solches fehlt uns. Die wuchtigen Plots liegen hier nicht auf der Strasse. Und da weicht man dann gerne auf Introspektionsgeschichten aus, Schema: ich und mein Innenleben. Macht aber meistens die Geiss nicht feiss. Das heisst, dass die Schweiz zu langweilig ist für aufregende Literatur? In der Sache ist sie es nicht. Aber es fehlen vielleicht die literarischen Muster und Modelle, um die brisanten Konfliktzonen der heutigen Schweiz künstlerisch zu erfassen. Dürrenmatts Verfahren der Steigerung ins Groteske ist nicht wiederholbar. Frischs gnadenloses Sezieren der bürgerlichen Lebensillusionen setzte ein entsprechendes Bürgertum voraus, solide, machtbewusst und traditionsfixiert. Das gibt es nur «Das Stück, das uns übermorgen den Atem verschlägt, kennt niemand, keiner kann es voraussagen. Plötzlich ist es da, und alles ist anders.» noch in Randzonen. Von dort aus wird allerdings immer noch auf Frisch geschossen: nostalgische Folklore. Die wirtschaftliche Macht ist heute globalisiert. Wir leben unter der Diktatur der «Märkte», einer Diktatur ohne Gesicht. Die «Märkte» sind heute das, was einst für die Menschen die Geister und Gespenster waren. Vielleicht brauchen wir Autoren, die neue Geistergeschichten schreiben – Sennentuntschi am Paradeplatz. Also ist unsere Literatur der Gegenwart grundsätzlich nicht gewachsen? Das darf man nicht sagen. Die Schöpferkraft ist unberechenbar. Das Stück, das uns übermorgen den Atem verschlägt, kennt niemand, keiner kann es voraussagen und kein Informatiker kann es extrapolieren. Das ist das Ungeheuerliche an der Kunst. Plötzlich ist sie da, und alles ist anders. DAN CERMAK «‹Das beste Buch› ist ein absurder Begriff. Es gibt keine absolute Qualitätsskala für Bücher», sagt der Germanist Peter von Matt. 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Interview DAN CERMAK duziere deshalb selbstverliebt an den Bedürfnissen des Publikums vorbei. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf? Das ist ein sehr komplexes Problem. Die pauschalen Lösungsvorschläge taugen nichts. Es gibt die darwinistische Position: We r gut ist, setzt sich durch und prosperiert; wer nicht gut ist, säuft eben ab und soll sich verziehen. Als Beispiele werden stets Frisch und Dürrenmatt vorgebracht. Aber Dürrenmatt war lange auf die Unterstützung seiner Freunde angewiesen, war auch ein Genie im Anpumpen, und für Frisch war das freie Amerikajahr durch die Rockefeller-Stiftung 1951/52 die Befreiung. Hier entstand die Urform des «Stiller». Auch Gottfried Keller hätte den «Grünen Heinrich» und die Seldwyler Novellen ohne das Stipendium der Zürcher Regierung nie geschrieben. Was die Schweiz für die Literatur ausgibt, ist ein Göttibatzen verglichen mit den Ausgaben allein für die Milchproduktion, obwohl man ja auch bei dieser sagen könnte: We r gut ist, setzt sich durch. Peter von Matt, emeritierter Literaturprofessor, am 12. September 2012 in der Nähe seiner Wohnung in Dübendorf. Welche Werke sind Ihnen in den letzten Jahren besonders aufgefallen? Ich kann nicht alles lesen und habe auch keine Lust dazu. Wie es ein Buch schafft, auf die Dauer die andern zu überragen, ist immer noch ein Geheimnis. Es wurden neue Selektionsverfahren erfunden: die jährlichen Buchpreise in Frankfurt, in Leipzig und in Basel. Diese Jahrespreise sind nützlich, weil sie Aufmerksamkeit schaffen. Sie sind aber auch eine Gefahr. Sie verkürzen die Aufmerksamkeitsstrecke. Was nicht sofort aufstrahlt, fällt durch die Latten. Wie lange hat ein «Ulysses» gebraucht, wie lange ein «Mann ohne Eigenschaften», bis der Rang erkannt wurde! Man sollte irgendwann auch Preise für längere Strecken schaffen, einen Jahrzehntpreis zum Beispiel, verliehen in jedem Jahr mit einer Null am Schluss, für die faszinierendsten We rke der letzten zehn Jahre. Das wäre durchaus einen Ve rsuch wert. Und aufregend. An welche Bücher denken Sie denn? Bei jedem Namen, den ich nenne, kommt mir ein anderer in den Sinn, der die Nennung ebenso verdient. Es gibt ja keine absolute Qualitätsskala für Bücher. Die Illusion, dass es das gebe, wird durch die Jahrespreise leider gefördert. «Das beste Buch» ist ein so absurder Begriff wie «das beste Tier». Aber es passiert mir von Zeit zu Zeit, dass ich beim Lesen denke: Dieses Buch sollte länger bleiben. Es sollte die Chance haben, ein paar Jahre diskutiert zu werden. Bitte nennen Sie uns doch Namen. Um zwei Beispiele von mehreren herauszugreifen: Im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts sind erschienen «Pomona» von Gertrud Leutenegger und «Muster aus Hans» von Eleonore Frey, zwei Romane, die von unheimlichen Grenzsituationen und Grenzexistenzen erzählen. In einer eigenartigen Mischung von Diskretion und Unverblümtheit übersetzen sie private Lebenswirklichkeit in starke Bilder. Ein autistisches Kind wächst bei Frey in den Rang einer wildautonomen Existenz, zerstörter Leib und zer16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 störte Liebe werden bei Leutenegger in eine magische Spannung gesetzt zur alljährlich wiederkehrenden Herrlichkeit der Früchte. Beides ist mir lange nachgegangen. Das Bundesamt für Kultur hat in Konkurrenz zum Schweizer Buchpreis, der in Basel verliehen wird, einen neuen Preis ausgelobt, der alle vier Landessprachen berücksichtigen soll. Kann das funktionieren, oder sind politische Entscheide programmiert? Man hätte den «Grossen Preis der Schweizerischen Schillerstiftung», so hiess er eigentlich, «Die Schweiz braucht eine vielfältige Literaturlandschaft. Wer diese will, muss auch ein paar Brennnesseln und Schmarotzerpflanzen in Kauf nehmen.» nicht liquidieren dürfen. Er war der Schweizer Büchnerpreis, eine Krönung für wenige, aber bis in die frühen Neunzigerjahre ein Schlüsselereignis unserer Kultur. Dann hat man ihn irgendwie zerfallen lassen. Die Medien haben ihn nur noch lustlos begleitet. Zum Te il wussten sie gar nicht mehr um seine Bedeutung. Dass man ihn bei seiner letzten Ve rleihung auf zwei Autoren aus der Deutschen und der Italienischen Schweiz aufgeteilt hat, war ein deutliches Zeichen, dass von nun an der Proporz regiert. Gewiss haben ihn beide verdient, Bichsel und Orelli, aber grosse Preise erfordern den Mut zur Entscheidung. Das gibt ihnen den Glanz. Ich habe gelesen, dass man sich für den neuen Preis bewerben könne. Das wäre deprimierend. Oft hört man den Vorwurf, die Schweizer Gegenwartsliteratur werde von der öffentlichen wie privaten Kulturförderung verhätschelt und pro- Und die anderen Pauschallösungen? Sie laufen auf eine offene oder versteckte Lebensrente hinaus. Das geht auch nicht. Und das gibt es auch nicht. Das Einkommen der Schriftsteller setzt sich heute sehr unterschiedlich zusammen. Die staatliche Förderung ist ein Faktor unter vielen. Ein wichtiger Te il sind die Lesungen. Daneben gibt es die journalistische Arbeit und private Förderung durch Stiftungen, auch handfeste Berufsarbeit anderer Art oder durch die Lebenspartner. Ein Honigschlecken ist es nie. Wichtig ist: Das Land braucht eine vielfältige Literaturlandschaft. Ohne Literatur und Kunst fehlt der Schweiz eine Hirnhälfte. Und wer diese Landschaft will, muss eben auch ein paar Brennnesseln und da und dort eine Schmarotzerpflanze in Kauf nehmen. We nn wir unsere Parlamente wählen, halten wir es ja auch so. In den vergangenen Jahren haben in der Schweiz Mundart-Autoren wie Pedro Lenz, Guy Krneta und andere viel Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Ist das eine Chance, oder besteht die Gefahr der Provinzialisierung? Dieser Erfolg ist wesentlich verbunden mit der Performance. Seit dem Aufkommen der PoetrySlams haben sich die szenischen Präsentationen von Literatur vervielfacht. In Deutschland ist die Lyrik heute stark damit verknüpft. Die Dialektautoren setzen in der Performance stark auf die akustischen Reize der Mundart. Die Te ndenz, diese zu forcieren, ist unverkennbar. Ich nenne das den Totemügerli-Effekt, in Anspielung auf Hohlers Geniestreich. Oft dichtet mehr der Dialekt als die Dichter. Aber es hat immer herausragende Mundarttexte gegeben in der Schweiz, es gibt sie auch heute. Provinz ist das nicht. Gibt es in der heutigen Schweizer Gesellschaft mit ihrem Kulturangebot überhaupt noch einen Platz für Lyrik? Das Interesse ist da. Viele lesen und lieben Gedichte. Aber die Lyrik ist das Stiefkind im Literaturbetrieb. Es gibt bei uns keine öffentliche Erwartung auf den neuen Gedichtband. Auch wenig Möglichkeiten zur Präsentation und Diskussion. Die Frauenfelder Lyriktage sind eine tapfere Ausnahme. Dabei hat die Schweiz zur deutschen Lyrik We sentliches beigetragen. Aber es bessert. In Tages- und Wochenzeitungen erscheinen vermehrt Gedichte. Namen wie Raphael Urweider, Lisa Elsässer, Jürg Halter oder Katharina Lanfranconi, nicht zuletzt auch Nora Gomringer, die Tochter des grossen Eugen, beweisen, dass das Gedicht lebt und sich nicht unterkriegen lässt. l Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese GAËTAN BALLY / KEYSTONE Lesen ist für den Geist, was Freiübungen für den Körper sind. Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Soeben ist im Unionsverlag sein neues Buch «Bühne frei!» erschienen, das er mit Bruno Hitz herausgegeben hat. Kurzkritiken Sachbuch Franziska Rogger, Madeleine HerrenOesch: Inszeniertes Leben. NZZ Libro, Zürich 2012. 379 Seiten, Fr. 52.90. Georg Brunold: Traumberuf. Erzählung vom Journalistenleben. Echtzeit, Basel 2012. 219 Seiten, Fr. 29.–. Leander Tomarkin war ein begnadeter Hochstapler. Der 1895 in Zürich geborene Sohn eines immigrierten russischen Mediziners verstand es meisterhaft, sich als genialen Erfinder und Forscher, Arzt und Menschheitsbeglücker auszugeben, seine Pülverchen als Wundermittel zu verkaufen und viel Geld amerikanischer Investoren in diversen Konkursen zu versenken – ohne je auch nur ein Gymnasium oder Studium absolviert zu haben. Ob ein letztlich bedeutungsloser Pleitier und Bluffer die akribische Entzauberungs-Arbeit von zwei renommierten Schweizer Historikerinnen wirklich verdient, mag man sich zwar fragen. Doch die detektivische biografische Erforschung Tomarkins, seines weitverzweigten Beziehungsnetzes und seines leichtgläubigen Publikums, stellt zweifellos dar, was die beiden Autorinnen anstrebten: ein aufwendiges Lehrstück historischer Wahrheitsfindung. Kathrin Meier-Rust Georg Brunold, 59, war von 1987 bis 1995 Redaktor und Afrika-Korrespondent der NZZ, später Redaktor beim «Du». Seit 2005 lebt er als freier Autor, Übersetzer und Essayist mit seiner afrikanischen Frau und zwei Kindern in Nairobi. In seinem mit 10 000 Bänden gefüllten Haus an der Mvuli Road war auch schon Hans Magnus Enzensberger zu Gast. Brunolds Reportagen aus dem arabischen Raum und Afrika sind brillante Erzählstücke, die in acht Sprachen übersetzt wurden. Und sein Reportagenband «Nichts als die We lt» (2009) war ein Bestseller. Nun legt er eine Art Autobiografie mit Notizen über den Medienzirkus vor, der von «hochkultivierten Eitelkeiten, Eifersüchteleien und Neid» lebe. Treffende, selbstironische und oft ätzende Beobachtungen eines Autors, der von seinen Kollegen als «Schwieriger» beschrieben wird und sich etwas häufig selber zitiert. Urs Rauber Benedikt von Tscharner: Inter Gentes. Staatsmänner, Diplomaten, Denker. Editions Penthes, Genf 2012. 400 S., Fr. 18.–. Wilhelm Schmid: Unglücklich sein. Eine Ermutigung. Insel, Berlin 2012. 103 Seiten, Fr. 12.90. 35 Porträtskizzen bedeutender Schweizer Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben hat der ehemalige Botschafter Benedikt von Tscharner in seinem Lexikon gesammelt. Es umfasst nicht nur Diplomaten, sondern auch Staatsmänner, politische Denker und Autoren. «Jede Auswahl ist willkürlich», schreibt der Autor, und so finden sich bekannte Namen, wie Henry Dunant, Denis de Rougemont, Carla Del Ponte – aber auch weniger bekannte wie Emer de Vattel, Gustave Moynier oder Max Huber. Auf jeweils wenigen Seiten wird das We sentliche eines Lebenslaufes zusammengefasst, eine Bleistiftskizze zeigt den Kopf des Porträtierten, einige Bücherhinweise bilden den Schluss jedes Kapitels. Ein lehrreiches Nachschlagewerk über Schweizer, die für die guten Beziehungen zwischen den Völkern – «inter gentes» – gearbeitet haben. Geneviève Lüscher Endlich. Nach Dutzenden von Büchern und Ratgebern zum Glücklichsein erscheint ein Buch über das ganz normale Unglücklichsein. Und das vom AlltagsPhilosophen Wilhelm Schmid, dem wir mehrere kluge Bücher über Glück und Lebenskunst verdanken. Doch nun wendet er sich ab von der «Diktatur des Glücks» unserer Zeit und den ebenso masslosen wie illusionären Ansprüchen, die sie nährt. Dass Luxus ein vergeblicher Ve rsuch ist, Glück materiell zu zementieren, dass nicht Zufriedenheit, sondern letztlich immer Unzufriedenheit zum Aufbruch führt und damit ins Glück; dass Melancholie eine «Seinsweise der Seele» ist, die zum Menschen gehört und vor allem: dass kein Glück je Sinn ersetzen kann – wir wissen es eigentlich. Doch Wilhelm Schmid sagt uns die schlichte Wahrheit ganz besonders schön, erfahrungssatt und eindringlich. Kathrin Meier-Rust Joseph Addison … und zwei und drei und vier und auf und ab und auf und ab, und dann Anlauf und mit Grätsche über die nächste Metapher! Sehr schön! Und jetzt runter und durch das Wortgestrüpp robben! Vorsicht, nicht an den Neologismen hängen bleiben! Schön auf der Satzspur bleiben und nicht schlapp machen, sonst verordne ich euch eine Extrarunde «Finnegans Wake». Brav, sehr brav. Und jetzt alle tief durchatmen und zur Erholung in ganz lockerem Joggingtempo durch das Nebensatzlabyrinth. Und Konjunktion und Konjunktion und … Was ist denn mit Ihnen los, Hugentobler? Was sagen Sie? Über einen Druckfehler gestolpert? Mit solchen Ausreden müssen Sie mir nicht kommen! Sie wissen ja nicht mal, wie man Analphabet buchstabiert! Und legen Sie endlich Ihre nordischen Wanderstöcke weg, wir lesen doch hier nicht Hamsun! Und jetzt – Achtung, Abschnitt! Nicht darüber stolpern! – wieder Te mpo aufnehmen und mit Vollgas durch die nächste Landschaftsbeschreibung! Ja, ich weiss, ich bin ein Sklaventreiber, aber Sie werden mir dankbar dafür sein, glauben Sie mir. Die Stelle, die jetzt kommt, ist so was von langweilig, da sind Sie froh, wenn Sie sich nicht allzu lang damit … Hugentobler! Sie schummeln ja! Sie haben zwei ganze Zeilen übersprungen! Mindestens zwei Zeilen! Das ist doch hier kein Arztroman, wo es nicht so drauf ankommt! Wir trainieren hier für die Eidgenössische Literatur-Tour! Hier beisst man sich durch! Von der Stirne heiss rinnen muss der Schweiss! Oder wollen Sie den ganzen Ve rein blamieren? Was? Zu anstrengend? Dann warten Sie mal ab bis nächste Woche! Da steht Schopenhauer auf dem Trainingsplan. Da werden vielleicht Ihre Synapsen japsen! Auf den Muskelkater in Ihren unterentwickelten Hirnzellen können Sie sich schon mal einstellen. Also, Hugentobler, noch einmal zurück und diesmal keinen einzigen Buchstaben auslassen. Die anderen dürfen am Kapitelende schon mal mit den Dehnungsübungen beginnen. Und linke Hirnhälfte und rechte Hirnhälfte, und noch mal links und rechts, links und rechts, und jetzt zur Entspannung an gar nichts denken! Aha, das kann er, der Hugentobler, im An-gar-nichts-Denken ist er ein ausgesprochenes Naturtalent. Also dann, bis zum nächsten Mal, und zwar bitte pünktlich und mit aufgeschlagenen Büchern. Und Sie, Hugentobler, probieren es vielleicht besser mit Makramee! 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Antike Wie eine Schlacht in Nordafrika über das Schicksal Europas entschied: Bei Zama im heutigen Tunesien verlor der Karthager Hannibal gegen die römischen Legionen unter Scipio Rom im Würgegriff Robert Garland: Hannibal. Das gescheiterte Genie. Zabern, Darmstadt 2012. 160 Seiten, Fr. 28.90. Von Geneviève Lüscher «Hannibal ante portas!» – Hannibal steht vor den Toren, gemeint ist: vor den Toren Roms. Dieser Schreckensschrei, ausgestossen von den Stadtrömern, subsummiert, was Italien Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. in Panik versetzte: die Feldzüge des Karthagers Hannibal. Noch nie war die Stadt am Tiber durch ein fremdes Heer belagert worden. Rom, die Weltmacht, hatte im Gegenteil bis anhin nur expandiert, war selber in fremde Gebiete eingedrungen und hatte sie zu Kolonien gemacht. Nun drohten ihr Schmach und Untergang. Es sollte nicht so weit kommen, der grosse Feldherr, später Vorbild Napoleons und Lieblingsheld von Sigmund Freud, machte einen entscheidenden Fehler. Robert Garland, Altertumswissenschafter an der Colgate Universität in New York, hat eine Biografie Hannibals vorgelegt, die nun auch auf Deutsch erschienen ist. Garland ist allerdings weder Hannibal-Spezialist noch Militärhistoriker, wie er im Vorwort selber bekennt. Er habe kein Buch mit neuen Forschungsergebnissen für die Fachwelt Hannibal (247–183) Hannibal wird 247 vor Christus, mitten im Ersten Punischen Krieg gegen Rom, in Karthago geboren. Erst 26-jährig übernimmt er den Oberbefehl über die karthagische Armee und zettelt 218 den Zweiten Punischen Krieg an. Im gleichen Jahr zieht er mit seinem Heer, darunter 37 Kriegselefanten, von Spanien aus über die französischen Alpen nach Italien und schlägt die Römer bei Cannae. Im Jahr 211 steht er vor den Toren Roms. Der Krieg verlagert sich nach Nordafrika, wo Hannibal 202 in der Schlacht bei Zama unterliegt. Es ist das Ende des Zweiten Punischen Krieges. Die nächsten zwanzig Jahre ist er auf der Flucht und entzieht sich der Gefangennahme im Jahr 183 durch Selbstmord. 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 geschrieben, sondern eine Lebensbeschreibung für das breite Publikum. Das erklärt beispielsweise, warum er sich bei der Beschreibung des berühmten Alpenübergangs mit den Kriegselefanten nicht in den vielen Spekulationen über den Wegverlauf verliert, sondern den roten Faden – das Leben seiner Figur von der Wiege bis zur Bahre – immer schön im Auge behält. Und dieses Leben «voller unübertroffener Triumphe und kolossaler Fehltritte», ein Beispiel «grandiosen Versagens», hat den Biografen schliesslich so fasziniert, dass er am Schluss «in Ehrfurcht vor ihm» gestanden sei. Allerdings, und damit beginnt Garland seine Quellenkritik, gebe es so gut wie keine sicheren Kenntnisse über den Mann Hannibal. Er hinterliess selber keine Schriften, und die besten Quellen stammen aus der Hand der beiden römischen Historiker Livius und Polybius, die selbstverständlich Partei waren und hauptsächlich von den Auseinandersetzungen mit Rom berichteten. Archäologische Funde sind spärlich. Feldherr mit Bildung Hannibal wurde als Kind einer der bedeutendsten punischen Familien 247 v. Chr. in Karthago geboren. Bereits sein Vater Hamilkar war Feldherr, hatte allerdings gegen die Römer im Ersten Punischen Krieg verloren. Hannibal genoss eine gute Erziehung, sprach neben seiner semitischen Muttersprache, dem Phönizischen, fliessend Griechisch und weniger fliessend Latein und angeblich etwas Keltisch. Über sein Aussehen wird gerätselt: Eine Silbermünze trägt sein undeutliches Porträt, und in Neapel existiert ein vorgeblich Hannibal darstellender Marmorkopf, der aber gemäss neueren Forschungen aus der Renaissance stammen könnte. Hannibal heiratete eine Spanierin namens Imilce; von Nachkommen ist nichts bekannt. Das durch die Phönizier gegründete Karthago, heute in Tunesien, war eine wohlhabende Stadt, einer der wichtigsten Handelsstützpunkte am Mittelmeer. Es kontrollierte unter anderem Nordafrika, Südspanien und Sizilien, das im Ersten Punischen Krieg an die Römer verloren ging. Über Politik und Verwaltung sowie die sozialen Strukturen Die legendäre Alpenüberquerung mit den Kampfelefanten im Hannibals m Jahr 218 v. Chr. verhalf Hannibal zu unvergänglichem Ruhm. weiss man wenig. Laut Aristoteles soll die Regierungsform eine Mischung aus Monarchie, Oligarchie und Demokratie gewesen sein. Es war jedenfalls der Senat, der Hannibal 221 v. Chr. zum Heerführer wählte, das Volk hat die Wahl bestätigt. UNIVERSAL HISTORY ARC / PRISMA Grossartig gescheitert Hannibal zog nach Spanien, um dort den karthagischen Einfluss zu festigen und auszuweiten. Unweigerlich kam es zur Konfrontation mit den Römern, die dort einige Legionen stationiert hatten. Hannibal beschloss, Rom anzugreifen. Für die Küstenstadt Karthago wäre ein Angriff mit der Flotte naheliegend gewesen, aber der findige Heerführer liebte die Überraschung und wählte einen anderen We g: von Südspanien entlang der Küste nordostwärts, dann über die Alpen! Hannibal liess die Flotte während seines ganzen Italienfeldzuges links liegen, nach Garland «einer der Hauptgründe für sein Scheitern». Der Zug über die Alpen im späten Herbst des Jahres 218, dazu noch mit 37 Kriegselefanten, war ein kluger Schachzug, dem auch die römischen Historiker später uneingeschränkte Bewunderung zollten. Nicht nur die logistischen Probleme müssen gewaltig gewesen sein – Nahrung für die Soldaten, die Reittiere und Elefanten, Unwegsamkeit im Gebirge, Überfälle durch lokale Stämme, We tterunbill –, Hannibal meisterte alle mit Bravour. Der genaue We g Hannibals ist nicht bekannt, sechs verschiedene Pässe kommen für den Übergang in Frage. We lches der richtige war, ist noch heute Gegenstand vieler Diskussionen und Untersuchungen im Gelände. Entscheidende Hinweise – Elefantenknochen oder mindestens punisches Kriegsgerät – sind bis heute nicht gefunden worden. Für die 1500 Kilometer lange Strecke von Spanien bis in die Poebene brauchte der Heerführer etwa fünf Monate, er verlor viele Männer, die Elefanten sollen jedoch alle überlebt haben. Mit dieser Alpenquerung wurde der Stoff für zahlreiche Legenden geboren – Robert Garland hat dem Thema des Nachlebens ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Römer waren schockiert über die Richtung, aus der sie angegriffen wur- den, und über die Schnelligkeit, mit der Hannibal sich fortbewegte. Siegreich zog der punische Feldherr durch Italien. Warum er an Rom vorbeizog, obwohl er es vermutlich hätte einnehmen können, darüber wird unter Militärhistorikern noch heute gestritten. Es war sein grösster Fehler, hier verpasste er die einmalige Chance, die Macht Roms entscheidend zu schwächen, wenn nicht gar zu brechen. Der Zweite Punische Krieg dauerte insgesamt 15 Jahre. Hannibals Heer schrumpfte, der Nachschub aus Karthago blieb aus, ausseritalische Kriegsschauplätze wurden wichtiger, zudem wendete sich das Blatt zugunsten der Römer: Sie siegten unter Scipio in Spanien. Schliesslich führte der römische Feldherr 204 v. Chr. seine Legionen nach Nordafrika. Hannibal musste reagieren und schiffte seinerseits ein, obwohl der karthagische Senat ihn als Feldherrn abgesetzt hatte. Bei Zama, westlich von Karthago, kam es im Jahr 202 schliesslich zur alles entscheidenden Schlacht zwischen Scipio und Hannibal, dessen Heer vollständig aufgerieben wurde. Die Zukunft der Mittelmeerwelt war entschieden, Rom wurde Grossmacht: «Es ist zu einem guten Te il Hannibals Niederlage bei Zama zu verdanken, dass wir heute Erben der griechischen und römischen Kultur sind», schreibt Garland. Wir würden sonst statt Französisch oder Italienisch eher eine semitische Sprache sprechen … Von nun an wird das Bild von Hannibals Leben in den Schriftquellen immer verschwommener, schreibt Garland. Er wurde Politiker in seiner Heimatstadt Karthago und zeigte dabei laut seinem Biografen «unglaubliche Energie, Klugheit und Treue». Er reformierte Gesetzgebung und Finanzen der Stadt. Der römische Senat jedoch forderte seinen Kopf, und so war Hannibal den Rest seines Lebens auf der Flucht. Sein We g führte über Kreta nach Armenien und Kleinasien, wo er sich in Libyssa, 30 Meilen östlich von Istanbul, im Jahre 183 mit 62 Jahren vergiftete. «Die Tragik seines Lebens», meint Robert Garland am Schluss seines leicht lesbaren und lesenswerten Buches, bestehe darin, «dass er nicht auf der Höhe seines Ruhmes verstarb.» l 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Vatikan Gestohlene Briefe decken Intrigen und Machtkämpfe in der katholischen Kirche auf Beschwipste Jungfrauen zum Nachtisch geheimen Briefe aus dem Schreibtisch von Papst Benedikt XVI. Piper, München 2012. 416 Seiten, Fr. 29.90. Von Patricia Arnold In Italien wurde das Buch von Gianluigi Nuzzi sofort ein Bestseller. 250 000 Exemplare gingen innerhalb von drei Monaten über den Ladentisch. Das ist sehr viel in einem Land, in dem wenig gelesen wird. Die Italiener sind vertraut mit den Gerüchten über Intrigen und Korruption im Vatikan, schliesslich liegt der Kirchenstaat mitten in Rom. Zudem gilt die Allianz zwischen italienischen Politikern und geistlichen Würdenträgern als «unheilig». In seinem Buch veröffentlicht der Journalist und Autor Gianluigi Nuzzi nun Dokumente, die diese Kumpanei schwarz auf weiss belegen und manche vatikanische Heimlichkeit aufdecken. Umgekehrt gilt aber auch: Bei italienischen Affären und Skandalen mischt die katholische Kirche immer irgendwie mit. Das gilt vor allem für die päpstlichen Banker, die für den reibungslosen Transfer der üblichen Bestechungsmillionen sorgen. Seite um Seite finden sich Belege für unehrenhafte Ve rwicklungen und komplizenhaftes Ve rhalten beider Seiten. Doch die vielen Namen und Fakten können den Leser auch leicht überfordern. Er verliert irgendwann den Überblick und fragt sich: We r klüngelt hier eigentlich mit wem und wozu? Unterhaltend sind dagegen die amüsanten Einblicke in das Privatleben des Papstes, leider gibt es davon zu wenige. «Beschwipste Jungfrauen» taufte Benedikt XVI. sein Lieblingsdessert: das sind weiche, in Alkohol getränkte Muffins. Meistens jedoch, so Nuzzi, nimmt der Oberhirte ausgesprochen karge Mahlzeiten zu sich; Gäste lädt er nur selten dazu ein. Pannen und Peinlichkeiten überschatten das Pontifikat des deutschen Theologieprofessors Joseph Ratzinger. Dabei ist es vor allem der Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone, dem immer wieder unverzeihliche Fehler unterlaufen. So hatte dieser seinerzeit versäumt, den Heiligen Vater über den Lefebvre-Bischof Richard Williamson aufzuklären, so dass Benedikt XVI. die Exkommunikation des Bischofs aufhob, obwohl Williamson in einem Fernsehinterview vehement den Holocaust geleugnet hatte. Papst Benedikt XVI. mit seinem Kammerdiener Paolo Gabriele (vorne links), 12. November 2008. ROPI Gianluigi Nuzzi: Seine Heiligkeit. Die In persönlichen Briefen an Benedikt XVI. beklagten sich Geistliche bitter über Entscheidungen des Kardinalstaatssekretärs und forderten sogar dessen Entlassung. Joseph Ratzinger hält jedoch an seinem wichtigsten Mitarbeiter in der Ve rwaltung der katholischen Kirche fest. Er versetzte auf Anraten Bertones sogar einen Geistlichen, der Ve rschwendung und Korruption im Kirchenstaat aufgedeckt hatte. Der Betroffene selbst wollte weiter im Vatikan arbeiten und nicht in die USA abgeschoben werden. Seinem Informanten, der ihm wie in einem Spionagethriller Kopien der geheimen Dokumente aus dem päpstlichen Arbeitszimmer zusteckte, gab Nuzzi den Decknamen «Maria». Nur ein sehr kleiner Kreis engster Ve rtrauter hat ungehindert Zutritt zu den Privaträumen des Papstes. Einer von ihnen war bis zu seiner Ve rhaftung im Frühjahr der Kammerdiener Paolo Gabriele. We gen Diebstahls muss er sich zurzeit vor vatikanischen Richtern verantworten. We r die Komplizen des Butlers waren, verrieten bislang weder der Vatikan noch Nuzzi. «Maria», so schreibt der Journalist, wollte sich mit ihrem Geheimnisverrat von dem «unerträglichen Gefühl der Komplizenschaft» mit all jenen befreien, die schweigen, obwohl sie wüssten, dass im Vatikan krumme Dinge gedreht würden. Warum aber greift der Papst, der ja schon mehrfach seinen Willen zur Reform der Kurie bekundet hat, jetzt nicht durch? Auf diese wichtige Frage gibt der Autor keine Antwort, und auch der Vatikan schweigt. ● Politik Alt Bundesrat Merz ist eine spannendere Persönlichkeit als in der neuen Biografie vorgestellt Ein Leben und ein Jahr des Schreckens Philippe Reichen: Härte, Herz und Humor. Hans-Rudolf Merz. Eine Biografie. Appenzeller Ve rlag, Herisau 2012. 303 Seiten, Fr. 48.–. Von Pascal Hollenstein Die autorisierte Biografie ist im Grunde ein Unding: We der erlaubt sie eine ungeschminkte und kritische Würdigung eines Lebens von aussen, noch gewährt sie Einblicke in das Innenleben des Porträtierten. Die Biografie über alt Bundesrat Hans-Rudolf Merz, die am 21. September erschienen ist, zeigt dieses Problem geradezu exemplarisch. Zwar schildert der Autor durchaus faktenreich das Leben des ehemaligen FDPMagistraten aus Herisau und das Buch kann damit als Gedankenstütze dienen. 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 Wirklich Neues hingegen erfährt der Leser kaum. Hans-Rudolf Merz bleibt in dem We rk merkwürdig blass und emotionslos, Kritik am oder gar Selbstkritik des Porträtierten fehlen vollständig. Einige besonders unangenehme Punkte werden gar schlicht übergangen. So fehlt, um nur ein Beispiel zu nennen, jede Auseinandersetzung mit der Frage, ob Merz im Abstimmungskampf um die Unternehmenssteuerreform womöglich nicht die ganzen finanziellen Folgen für die Staatskasse genannt oder gekannt hat. Das Drama um die Schweizer Geiseln in Libyen, die Rettung der UBS sowie Merz' Herzstillstand, die zusammen genommen sein «annus horribilis» bilden, werden zwar pflichtgemäss ab-, aber eben nicht gründlich aufgearbeitet. Als er noch Bundesrat war, hat Merz die Autorisierung des Buches mit der etwas merkwürdigen Begründung verweigert, der Te xt sei zu sehr auf seine Person fokussiert. Pünktlich zu seinem 70. Geburtstag diesen Herbst und mit gebührendem Abstand zur Bundesratszeit hat der Herisauer nun doch sein Placet gegeben. Der Autor, der als We stschweiz-Korrespondent beim «Tagesanzeiger» arbeitet, hätte wohl besser auf dieses offizielle Gut zum Druck verzichtet, denn er hat es sich letztlich mit dem Ve rzicht auf jede kritische Auseinandersetzung erkauft, ohne Merz dafür näher zu kommen. Das ist nicht nur für die Leserschaft des Buches bedauerlich, sondern auch für Hans-Rudolf Merz selber. Dieser ist im wahren Leben eine interessantere und spannendere Persönlichkeit, als sie auf den vorliegenden 303 Seiten präsentiert wird. ● Weltall Der Astrophysiker Ben Moore beschreibt Geschichte und Zukunft des Universums Wenn die Sonne erlischt Ben Moore: Elefanten im All. Unser Platz im Universum. Kein & Aber, Zürich 2012. 384 Seiten, Fr. 29.90. Das We ltall kann einem schon Angst machen. Entstanden in einem gewaltigen Feuerball, dehnt es sich immer weiter aus. In ferner Zukunft wird die Sonne erloschen sein, genauso wie alle anderen Lichter am Himmel. Die Menschheit ist nur kurze Zeit Zaungast dieses Spektakels. Überträgt man das Lebensalter des Universums auf einen Erdtag, dann existiert der Mensch seit gerade einmal einer Sekunde. Und in nicht einmal zwei Stunden wird die Sonne so heiss brennen, dass sie Leben auf der Erde unmöglich macht. Höchste Zeit, die Geschichte des Universums zu schreiben und sich endlich den grossen Sinnfragen zu widmen! Genau das will «Elefanten im We ltall», das Buch des Astrophysikers Ben Moore. Mit Hilfe von Supercomputern simuliert der 1966 geborene Brite an der Universität Zürich die Ve rgangenheit und Zukunft des Universums. Nun hat er die wichtigsten Erkenntnisse seiner Zunft zusammen mit seinen persönlichen Überlegungen zur Rolle der Menschheit niedergeschrieben. Faszination der Galaxien Auf 384 Seiten schildert der Autor nicht nur die Evolution des Kosmos. Er rollt auch all jene Fragen auf, die sich aus der wundersamen Existenz der Erde am Rande einer von hundert Milliarden Galaxien ergeben: We lche Bestimmung hat die Menschheit im Universum? Ist das Leben auf der Erde einzigartig? Es sind Fragen, die Moore begeistern, seit ihn sein Vater, ein Förster, als Kind mit in den Wald nahm. Dass Moore auch heute noch naturverbunden ist, zeigen kurze Erzählungen aus seinem Leben, die er jedem der elf Kapitel vorschiebt. Dort schildert er sich als abenteuerlustigen Freikletterer, der E-Gitarre in einer Rockband spielt und bei jeder Gelegenheit in der Kneipe über die grossen Rätsel des Universums diskutiert. So spart Moore auch in seinem Buch jene Fragen nicht aus, die nach dem dritten oder vierten Bier aufkommen. Etwa wenn er eine Abhandlung über den freien Willen schreibt, sich über Religion wundert oder seine Auffassung vom Sinn des Lebens ausbreitet. Leider werden diese Exkurse in ihrer Kürze der Komplexität ihres Themas selten gerecht. So wirkt beispielsweise sein Umgang mit Glaubensfragen wie eine hastig produzierte Skizze der Argumente amerikanischer Star-Atheisten wie Richard Dawkins oder seines Physiker-Kollegen Lawrence Krauss. Auch sonst verirrt sich Moore regelmässig auf Nebenschauplätze. Etwa wenn er immer wieder die Sichtweise BERND KOCH / ASTROFOTO Von Robert Gast Noch leuchten die Himmelskörper: Sternstrichspuren um den nördlichen Himmelspol (Langzeitaufnahme). eines von zahlreichen altgriechischen Philosophen bemüht, oder von einem physikalischen Effekt so fasziniert ist, dass er ihm die nächsten Seiten widmet. So verliert der Leser immer wieder den roten Faden aus dem Blick. Das ist schade, denn andere Passagen wissen durchaus zu fesseln. Etwa wenn er nachzeichnet, wie Forscher zu der Erkenntnis gelangt sind, dass Gruppen von Galaxien in den Tiefen des Alls von einer unsichtbaren, «dunklen» Materie zusammengehalten werden. Auch wenn er die Entstehung des Universums aus dem Volumen einer Kaffeetasse beschreibt, gelingt es ihm, die Faszination hinter den Naturwissenschaften greifbar zu machen. Ausserirdische Intelligenz Durch die Überfrachtung des Buches fehlt ihm jedoch der Raum, allen spannenden naturwissenschaftlichen Aspekten seiner Geschichte die angemessene Tiefe zu verleihen. Das ist insbesondere dann ärgerlich, wenn Moore plötzlich vom «potentiellen Energiefeld» des Vakuums spricht oder mit für Laien befremdlichen Elementarteilchen («Gluonen») um sich wirft, ohne derartige Fachbegriffe angemessen zu erläutern. Auch seine Auseinandersetzung mit der Möglichkeit ausserirdischen Lebens wird dem Anspruch einer tiefschürfenden We lterklärung nicht gerecht. Die Kernfrage der Suche danach streift er nur oberflächlich: Wie könnte es von der Erde aus gelingen, Ökosysteme auf fernen Planeten nachzuweisen? Das ginge nur, indem man die Atmosphären der vielversprechensten der etwa 800 bisher entdeckten «Exoplaneten» analysiert. Bisher ist das nicht möglich, aber in den letzten Jahren geplante We ltraumteleskope könnten ab den 2020er- Jahren dazu in der Lage sein. Sie sollen den Nachweis erbringen, dass sich auch in den Atmosphären fremder We lten Sauerstoff, Wasserdampf und Methan finden. Aber selbst damit ist intelligentes Leben noch nicht nachgewiesen. Umso mehr überrascht es, dass Moore die Existenz von einer «Milliarde Planetensysteme mit geeigneten Bedingungen für die Entwicklung von intelligentem Leben» postuliert. Statt die Disziplin der Exobiologie mit derselben Sorgfalt wie sein eigenes Forschungsthema zu beschreiben, versteigt er sich in Science-Fiction-Fantasien. Von durch Kernexplosionen beschleunigten Raumschiffen ist da die Rede, von Anti-Materie-Antrieben und We ltraumreisenden, die für Jahrhunderte eingefroren werden. Sicher, träumen ist erlaubt. Aber wenn man wenige Kapitel später Menschen aufgrund ihres Glaubens an Dinge belächelt, für die es keine Beweise gibt, sollte man den Boden wissenschaftlicher Tatsachen zu seiner Argumentationsgrundlage machen. Sonst wird aus einem Buch, das die faszinierende Geschichte des Kosmos hätte nacherzählen können, ein nur mässig überzeugender Ve rsuch, selbige zu deuten. ● «Herzerfrischend und sympathisch unorthodox.» Hessischer Rundfunk <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0tzQ0MAMATgjG9w8AAAA=</wm> <wm>10CFWMMQ6EMAwEX-Ro13ZCTEpEhyhO16dB1Pf_6hI6ii12NJrjaDnh2baf3_3TCHgWLkGUxlySLzpgTVqtIZQK6kp38yj5pQsYxWB9KoIQZaeLQ9w66zg6A4P5DP6u-w8q7LDofwAAAA==</wm> Urs Schaub Der Salamander Ein Tanner-Kriminalroman 360 Seiten, gebunden, 36.80 Limmat Verlag 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Geschichte Der umstrittene Botschafter Hans Frölicher vertrat die Schweiz während des Krieges in Nazideutschland. Trotz seines Anpassungskurses hat er seine Aufgabe erfüllt Verhielt sich richtig in Berlin, aber falsch in Bern Paul Widmer: Minister Hans Frölicher. Der umstrittenste Schweizer Diplomat. NZZ Libro, Zürich 2012. 261 Seiten, Fr. 52.90. Der Zürcher Fabrikantensohn Hans Frölicher (1887–1961) amtierte von 1938 bis 1945 als Schweizer Gesandter (Botschafter) in Berlin – auf dem «delikatesten diplomatischen Posten, den die Schweiz je zu vergeben hatte». Er hatte die von den Achsenmächten eingekreiste neutrale Schweiz in ihrer aussenpolitisch schwierigsten Phase zu vertreten – bei einem unberechenbaren Nachbarn, dessen Drohungen, Nadelstichen und Erpressungen weder mit markigen Widerstandsparolen noch diplomatischen Gesten beizukommen war. Der Historiker Paul Widmer, heute Schweizer Botschafter beim Heiligen Stuhl, leitete in den 1990er-Jahren die Berliner Aussenstelle der Schweizerischen Botschaft in Deutschland (der Hauptsitz lag damals noch in Bonn) – und zwar «im gleichen Büro, in welchem fünfzig Jahre vorher Minister Hans Frölicher gesessen hatte». Der genius loci hat Frölichers Nachfolger offenbar inspiriert: Widmer legt eine ebenso gründliche wie pointierte, sowohl kritische als auch differenzierte Monografie vor, die sehr fair in ihrem Urteil ist und erst noch gut lesbar. Widmer hat bereits mehrere Publikationen zur Schweizer Diplomatie und Aussenpolitik verfasst, darunter das Standardwerk «Die Schweiz als Sonderfall» (2007) sowie das heute vergriffene Buch «Die Schweizer Gesandtschaft in Berlin» (1997). In seinem neuen Buch stellt er das Handeln von Botschafter Frölicher in das komplexe Geflecht von persönlichen Eignungen, beruflichen Aufgaben, Staatsräson und heiklen Zeitumständen im Zentrum des Dritten Reiches. Er würdigt Frölichers Wirken mit dem Wissen des Insiders und der professionellen Distanz des Historikers. Er wollte den Tiger reiten Frölicher sei als Person grundehrlich, nobel und verschwiegen gewesen. Sein Manko war, dass er in der direkten Begegnung mit Hitler und anderen Nazigrössen deren Gefahrenpotenzial unterschätzte, ihren verbalen Beteuerungen glaubte und seine kritische Haltung verlor. Er überschätzte seine Möglichkeiten, für das Land das Beste herauszuholen: «Er wollte den Tiger reiten». Erst Ende 1940 gewann er eine realistischere Einschätzung. Sympathien für den Nationalsozialismus allerdings – wie ihm Max Frisch vorwarf – habe er nie gehabt. 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 PRIVATARCHIV Von Urs Rauber Der Schweizer Diplomat Hans Frölicher (fünfter von rechts) mit seiner To chter Hélène beim Schweizerischen Wohltätigkeitsverein in München, 25. November 1938. In seinem «nachhaltigen Anpassungskurs» ging Frölicher sogar soweit, den deutschen Wünschen folgend die Einführung einer Pressezensur in der Schweiz sowie die Absetzung der Nazikritischen Chefredaktoren der NZZ (Willy Bretscher) und des «Bund» (Ernst Schürch) zu verlangen. Anpasserisch verhielt sich Frölicher auch gegenüber dem deutschen Vorschlag vom Herbst 1938, den Visumszwang für deutsche Juden einzuführen. Damit habe er «ein erhebliches Verschulden an der Einführung des Judenstempels auf sich geladen». Erst nach der Wannsee-Konferenz, an der die Naziführung die Judenvernichtung beschloss, prangerte Frölicher den Antisemitismus an und verhalf in den beiden letzten Kriegsjahre 1200 Juden zur Aufnahme in der Schweiz. Auf der Positivseite sind die mit Deutschland abgeschlossenen Wirtschaftsabkommen zu verbuchen, die das Überleben der Schweiz sicherten, auch wenn sie gleichzeitig Konzessionen an Deutschland bedeuteten: Clearing-Kredite, Goldkäufe, Waffenexporte. Diese Konzessionen sind in der Nachkriegszeit bis zum Bergier-Bericht (2002) oft in allzu simpler Schwarzweiss-Manier verurteilt wurden. Die These, dass die Schweiz damit den Krieg verlängern half, widerlegt Widmer mit Zahlen: Die schweizerischen Rüstungslieferungen ans Dritte Reich machten weniger als 0,1 Prozent der deutschen Kriegskosten aus. Zudem bezog die Schweiz 1939 bis 1944 mehr Waren von den Achsenmächten, als sie dorthin lieferte. «Die Wirtschaftskonzessionen waren ziemlich wichtig für Deutschland, und sie waren überlebensnotwendig für die Schweiz – und nicht umgekehrt.» In der Öffentlichkeit wurde Hans Frölicher nach seiner Rückkehr aus Berlin 1945 bald zum Sündenbock für die Appeasement-Politik des Bundesrates. Vor allem Edgar Bonjour ging in seiner «Geschichte der Schweizerischen Neutralität» (1970–1975) sehr hart mit ihm ins Gericht. Doch Paul Widmer weist nach, dass sich Bonjour weitgehend auf eine Rechtfertigungsschrift Max Waibels – «eine Geschichtsklitterung» – abstützte, die Originalakten des Berliner Botschafters jedoch überhaupt nicht konsultiert hat. Der Basler Historiker habe einem Hang zur «dramatischen Darstellung» gefrönt. Eine Neubewertung Frölichers fand interessanterweise durch drei Literaten Neuauflage Jean-François Bergier über Wilhelm Tell Der Mann auf dem Fünfliber Jean-François Bergier: Wilhelm Tell. Realität und Mythos. Römerhof, Zürich 2012. 492 Seiten, Fr. 47.90. Von Kathrin Meier-Rust Bis Anfang der 1970er-Jahre gab es im Kanton Zürich eine gesetzliche Vorschrift, nach der jede Gymnasialklasse einmal eine Aufführung von Schillers «Wilhelm Tell» gesehen haben musste, das Schauspielhaus hatte das Stück dafür ständig bereitzuhalten. Heute, da selbst die hitzigen Diskussionen um den Nationalhelden historisch geworden sind, mutet das schon fast kurios an. Die postheroische Gesellschaft duldet, wie Peter von Matt nicht ohne Hohn konstatiert, nur noch das Heidi als nationale Symbolfigur. Wer trotzdem erfahren möchte, was es auf sich hat mit unserem ironie-geplagten Nationalhelden, dem steht dafür Jean-Francois Bergiers vergriffener «Wilhelm Tell» zur Verfügung, den der Römerhof Verlag nun neu auflegt. Bergier hatte das Buch im Vorfeld der 700-Jahr-Feier von 1991 geschrieben und auch als eine Art versöhnliche Antwort verstanden auf die Polemik der Jahrzehnte davor. Er wollte damit «den Teufelskreis durchbrechen, in den Tell – als historische oder legendäre Gestalt – seit langem durch die Mythisierung geraten ist.» Um dies zu tun, legte er die historische Umwelt der Figur offen. Bergier bietet im Grunde zwei Bücher in einem: zunächst eine liebevolle Darstellung der sogenannten Befreiungstradition – neben der Wilhelm Tell-Episode also auch Rütlischwur und Burgensturm –, ihrer Entstehung im 15. und 16. Jahrhundert und ihrer Quellen, die in verdienstvoller Weise breit zitiert werden, so etwa das volkstümliche «Bundeslied» von 1477. Dem folgt die Darstellung von Rezeption, Mythisierung und politischen Instrumentalisierung Tells – von links wie von rechts – vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, samt dem tatsächlich schon seit 250 Jahren (!) erbittert statt: Christoph Geiser (ein Enkel Frölichers) in seinem familiengeschichtlichen Roman «Brachland» (1980) sowie Thomas Hürlimann und Urs Widmer in ihren Theaterstücken «Der Gesandte» (1991) und «Frölicher – ein Fest» (1992). Alle drei relativierten das Scherbengericht über Frölicher in unterschiedlicher Weise und stellten die Frage, ob Frölichers Anpassungskurs nicht die bessere Form des Widerstandes war als die bedingungslose Abwehr der Schweizer Armee. Politik der Anpassung Gemäss Paul Widmer betrieb Hans Frölicher «keine heldenhafte Diplomatie, sondern eine auf Anpassung bedachte, in ihrem Kern auf das nackte Überleben der Schweiz ausgerichtete Politik». Aber war diese Politik auch schädlich? Nein, meint der Autor: «Er verhielt sich richtig in Berlin, aber falsch in Bern.» Frölichers Tragik bestand darin, dass er die Rolle des korrekten Diplomaten zu sehr verinnerlicht hat, weil er schlicht glaubte, nur mit freundlichen Gesten die existenzielle Bedrohung vom Land abwenden zu können. Hier wird Widmers Studie unversehens aktuell: Wie weit können/dürfen/ sollen Schweizer Diplomaten, aber auch die Landesregierung Konzessionen an (wirtschaftlich) übermächtige Nachbarn machen? Zum Beispiel im Steuerstreit mit den USA, Deutschland und Frankreich? Oder in der Auseinandersetzung mit der OECD um das Bankgeheimnis und damit schweizerischem Recht? Wer den Schweizer Gesandten bei den Nazis der «Anpassung» bezichtigt, muss sich fragen, wie weit er heute selbst bereit ist, Schweizer Recht unter ausländischem Druck zu beugen. ● geführten Streit um die historische Wahrheit der Geschehnisse. Bergier selbst kommt im Laufe seiner Arbeit zur Überzeugung, dass zwar die Apfelschuss-Szene ohne Zweifel eine aus dem Norden eingeführte Legende ist, dass aber Wilhelm Tell, Rütli-Bund und Burgensturm «sich zu natürlich und zu vollkommen in die Geschichte einfügen, um völlig frei erfunden zu sein». Diese Geschichte nun bildet den Hauptteil des Buches. Der Spezialist für Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Alpenraumes ist hier in seinem Element. Ebenso an- wie beschaulich greift er weit aus in die römische und karolingische Zeit, schöpft aus dem Vollen, wenn er die Verkehrswege über die Alpen vergleicht, den wirtschaftlichen Aufschwung der Waldstätte durch die Erschliessung des Gotthards im 13. Jahrhundert schildert, die Lebensweise der Bevölkerung und die Macht-Interessen des lokalen und regionalen Adels. Das alles wird ausführlich und flüssig beschrieben – das Buch hat keinen wissenschaftlichen Apparat und richtet sich an eine allgemeine Leserschaft. Umso dringlicher hätte man sich eine kritische Einführung dieser Neuauflage im Lichte der neuesten historischen Erkenntnisse etwa eines Roger Sablonier gewünscht. Tell, für dessen Existenz es keinen einzigen Beleg gibt und der doch bis heute unser Fünffrankenstück ziert, findet beim welschen Historiker eine überraschende Sympathie, mehr noch: eine ganz unakademische Wärme. Indem er das grosse historische Umfeld heranzieht, um einen ursprünglichen Kern der Befreiungstradition samt realem Menschen Tell für wahrscheinlich zu erklären, schlägt der Historiker eine Brücke zwischen naiv-treuherzigem Volksglauben und unerbittlichem historischen Wahrheitsanspruch. Ein Versöhnungsangebot, mit dem die überlang heroisierte, gründlich verspottete und schliesslich in der Scham-Ecke der politischen Rechten abgestellte Gründungsgeschichte vielleicht endlich ihren rechtmässigen Platz finden kann. ● neue bücher bei hier + jetzt Der Modeberg – einst und jetzt Im Bild mit der Schweizer Geschichte Der Klassiker auf neuem Stand Rigi Mehr als ein Berg Adi Kälin, mit Bildern von Gaëtan Bally 288 Seiten, 281 Abb., gebunden mit Schutzumschlag Fr. 68.–, € 54.– <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NzMwMAcAuUJg2Q8AAAA=</wm> Schweizer Geschichte im Bild Thomas Maissen 292 Seiten, 425 Abb., gebunden, Fr. 78.–, € 60.– hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH Postfach, ch-5405 Baden, Tel. +41 56 470 03 00 Bestellungen per E-Mail: order@hierundjetzt.ch <wm>10CFXLoQ6EQAyE4SfqZqa77dKrvOAIguDXEDTvr-BwJ8b8-WZZ0grefed1n7ck0EzYHehpYUW7J0NLN0-EUkH9EE2Vk-ufFzC8oo6fEYQoByE1BG3YZOM5x9vao8t1nDc8Y1PYgAAAAA==</wm> Das Hotel in den Alpen Die Geschichte der Oberengadinger Hotelarchitektur ab 1860 Isabelle Rucki 320 Seiten, 300 Abb., gebunden Fr. 89.–, € 69.– Vom Kulturkampf zur Konkordanz Das historische Dilemma der CVP Zwischen katholischem Milieu und bügerlicher Mittepartei Urs Altermatt 264 Seiten, gebunden Fr. 49.–, € 39.– www.hierundjetzt.ch 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Kulturphilosophie Der Soziologe Richard Sennett analysiert, wie Menschen in einer von Ungleichheit und Konkurrenz geprägten Gesellschaft zusammenarbeiten Dialog statt Dialektik nung nach für eine optimale Zusammenarbeit braucht. Dialog bedeutet Ve rständnis für einander entwickeln, sich der eigenen Perspektive bewusst werden und aufmerksam zuhören. Das Beispiel des Neuen Museums macht darüber hinaus Sennetts Definition von Zusammenarbeit deutlich: Kooperation ist eine «handwerkliche Kunst». Unbestritten beherrscht Sennett auch in seinem neuen Buch das Handwerk des erzählenden Sachbuchautors. Mit seiner einfachen und bilderreichen Sprache schreibt er bewusst für den «allgemeinen Leser», der den üblichen Soziologenjargon nicht dechiffrieren kann, geschweige das will. Gern greift er in seinen Büchern auf autobiografische Erfahrungen zurück, etwa seine Jugend in der Sozialsiedlung Cabrini Green in Chicago oder seine (unfallbedingt abgebrochene) Karriere als Cellist. Mit Bedacht wählt er seine Metaphern, holt Ve rgleiche aus dem Alltag, aus der Musik, der Kunst und eben der Architektur. Beeindruckend die Vielfalt an Beispielen aus den Gesellschafts- und Naturwissenschaften, es gibt fast keinen Richard Sennett: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Hanser, Berlin 2012. 416 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 22.90. Von Ina Boesch Als gelungenes Beispiel für dialogisches Denken nennt Richard Sennett den Umbau des Neuen Museums in Berlin durch David Chipperfield. INTERFOTO Seit der Wiedereröffnung des Neuen Museums Berlin pilgern täglich Hunderte von Touristen zur Museumsinsel – um sich an der Büste der Nofretete zu erfreuen oder an einer Meisterleistung zeitgenössischer Architektur. Der in London und New York lehrende Starsoziologe Richard Sennett hat es eher mit der Architektur als mit der ägyptischen Kunst. In seinem neuen Buch widmet er viele Seiten dem Architekten David Chipperfield und dessen gelungenem Neu- und Umbau des Neuen Museums, das nach der Bombardierung im Zweiten We ltkrieg während Jahrzehnten in Trümmern lag. Nach der Wiedervereinigung stellte sich die Frage, ob es in alter Pracht wieder hergestellt, einem Neubau weichen sollte oder ob es eine dritte Option gab, die vom Trauma dieses Gebäudes erzählte. Chipperfield entschied sich für letzteres: für eine glanzvolle Mischung aus Neu und Alt. Dieses Beispiel aus der Architektur ist eines von vielen, das Sennett in seinem Buch anführt, um – wie bereits in «Der flexible Mensch» oder «Handwerk» – Antworten auf seine Schlüsselfrage zu finden: Wie können Menschen, die sich sozial, ethnisch oder in ihrer We ltanschauung unterscheiden, in einer von Ungleichheit, Konkurrenz und Gegensätzen geprägten Gesellschaft zusammenleben und -arbeiten. Seine Diagnose: Wir sind dabei, die Kooperationsfähigkeit einzubüssen, die wir für eine komplexe Gesellschaft brauchen. Sein Rezept: Dialog statt Dialektik. Für Sennett verkörpert Chipperfields architektonischer Streich von gleichzeitigem Reparieren und Herstellen das dialogische Denken, das es seiner Mei- Bereich, den er auslässt. Er schreibt ebenso über die Sozialen Netzwerke wie über Max Webers Arbeitsethik, über die moderne Unternehmenskultur wie über Theater, Narzissmus oder Angst, über das chinesische Beziehungsnetz Guanxi wie über die Höflichkeit in der Renaissance. Gerade in dieser Fülle von Ausflügen in alle möglichen Gefilde liegt eines der Probleme dieses zweiten Bandes der Homo-Faber-Trilogie: Sie verführt den Autor zum mäandernden Erzählen, wobei das Dickicht immer undurchdringlicher und die Sicht auf die relevante Fragestellung und interessante Antworten allmählich verdeckt wird. Irritierender als dieser Erzählgestus ist jedoch sein Fokus. Indem Sennett für mehr Dialog plädiert, appelliert er in erster Linie ans Individuum. Was man von einem Soziologen und einem nach wie vor bekennenden Linken angesichts der strukturellen Probleme von mangelhafter Zusammenarbeit erwartet, sind jedoch auch gesellschaftspolitische Lösungen. Leider tangiert er diese auf den über vierhundert Seiten nur am Rand. ● Rotpunktverlag. »Bei all dem Dunklen und Schweren das Ursula Fricker ihren Lesern zumutet, fragt man sich, warum es in diesem Roman dennoch so hell aus den Sätzen herausleuchtet. Es liegt daran, dass ›Ausser sich‹ im Grunde eine Liebesgeschichte ist.« <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0twQyAHutpR4PAAAA</wm> <wm>10CFWMMQrEMAwEXySzkr0WisqQLqQ4rncTUt__q4vTpVgYlmH2PVnwbN2O7_ZJBRpFPW5IBot5Tw0rzp4Iawa1RYlOZ8XLF2j0ijqmIwixNpSCNsEihtos3B8IL7_z-gPqTKQSgAAAAA==</wm> Foto: Ekko von Schwichow Christine Lötscher, Tages-Anzeiger 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 Ursula Fricker Außer sich Roman NOMINIERT! 256 Seiten, gebunden, 4. Auflage 2012 isbn 978-3-85869-470-6, Fr. 29.– Deutschland Gleich zwei neue Biografien schildern Peer Steinbrücks Karriere «Sabbel nicht so ein Zeug!» Daniel Friedrich Sturm: Peer Steinbrück. Biografie. Dtv, München 2012. 298 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 15.90. Eckart Lohse, Markus Wehner: Steinbrück. Biografie. Droemer/Knaur, München 2012. 368 Seiten, Fr. 28.90. We r noch nie von Peer Steinbrück gehört oder gelesen hat, stellt sich unwillkürlich die Frage, mit welcher Persönlichkeit der Zeitgeschichte er konfrontiert wird, wenn gleich zwei renommierte Ve rlage im selben Herbst Bücher mit fast exakt dem gleichen Titel veröffentlichen, die sich zudem inhaltlich über lange Passagen zum Ve rwechseln ähneln. Dtv immerhin bequemt sich zu der kurzen Erklärung, Peer Steinbrück werde seit der Ve röffentlichung seines Bestsellers «Unterm Strich» (2010) als Kanzlerkandidat der SPD gehandelt. Aber reicht das für den hohen publizistischen Aufwand? Wird er Kanzlerkandidat? Steinbrück ist noch längst nicht Kandidat, geschweige denn Kanzler. Trotzdem widmen die Autoren von zwei überregionalen Blättern, der Tageszeitung «Die We lt» und der «Frankfurter Allgemeinen», dem Sozialdemokraten und Finanzminister in Angela Merkels Grosser Koalition eine Aufmerksamkeit, die den Eindruck vermittelt, an Steinbrück führe kein We g vorbei. Es mangelt den beiden Büchern auch nicht an Sachverstand und der Liebe zum Detail. Elend lang kommen dem Leser allerdings die Kapitel über die Familiengeschichte der Steinbrücks vor. We nn schon nicht zum Adel, so gehörte mindestens ein Vorfahre zum Geldadel, erfährt man natürlich in beiden Büchern. Urgrossonkel Adelbert Delbrück gründete 1870 in Berlin die Deutsche Bank. Zusammen mit Urgrossvater Hugo Delbrück schuf Adelbert das Seebad Heringsdorf auf der Ostseeinsel Usedom, wo es im 19. Jahrhundert Unternehmer und Politiker hinzog, um auf der Promenade dem Kaiser zu begegnen. We r es ganz genau wissen will, bemühe die FAZ-Autoren Lohse und We hner. «Welt»-Biograf Sturm versichert derweil, dass Steinbrücks Eltern nicht zum Hamburger Grossbürgertum zählten. Günstigen Einfluss hatte – zumal während der Nazi-Zeit – die dänische Ve rwandtschaft. Sohn Peer war ein TIM BRAKEMEIER / EPA Von Gerd Kolbe Finanzminister Peer Steinbrück im Gespräch mit Kanzlerin Angela Merkel am 26. März 2009. schlechter Schüler. Es reichte bei ihm nur zum «Abitur 2. Klasse» an der Staatlichen Handelsschule in der Hansestadt. Doch was sagt das über den Steinbrück von heute? Für einen Finanzminister war es wohl der richtige Bildungsweg. Es dauerte lange, bis der Hilfsreferent Steinbrück seinem heutigen Freund, Gönner und Unterstützer Helmut Schmidt über den We g lief. Und es wäre um Haaresbreite nie dazu gekommen. Es wirkt nachträglich eher komisch, wenn die Autoren schildern, wie der Student Steinbrück, der überzeugte Keynesianer, wegen einer wilden Party in seiner Wohngemeinschaft ein Opfer des Radikalenerlasses der Ära Brandt wurde. Der Ve rfassungsschutz vermutete Kontakte zur «Rote-Armee-Fraktion», das Bauministerium in Bonn versagte ihm daraufhin die Festanstellung. Indes, das Forschungsministerium nahm es nicht so genau. Eine lange Beamtenkarriere konnte beginnen. Mit dem Vorwurf, stets Beamter geblieben und nie wirklich Politiker geworden zu sein, muss sich Steinbrück bis heute herumschlagen. Es habe sich gezeigt, schreiben Lohse und We hner, dass Steinbrück einen «operativen, exekutiven Politikansatz» habe. Er selbst gibt zu, «kein Mann der Legislative» zu sein. Sein Publikum begeistert Steinbrück mit seiner «Kodderschnauze», mit Humor und viel Ironie. We r ihn häufiger erlebt, kennt seine Churchill-Anekdoten auswendig. Mit Vorliebe provoziert er, wie das Beispiel Schweiz zeigt. Als er, als läge das Nachbarland im Wilden We sten, wegen des Steuerstreits die Kavallerie ausreiten lassen wollte, gab es Kritik sogar daheim. Frau Steinbrück, auf die der begabte Selbstdarsteller laut Lohse und We hner gelegentlich hört, mahnte: «Sabbel nicht so ein Zeug!» Altbundeskanzler Gerhard Schröder fand Steinbrücks Rhetorik «sympathisch, aber völlig ungeeignet». Ironie sei in grossen Sälen nicht vermittelbar. Schon vor dem Urnengang 2005 in NordrheinWe stfalen, dem einzigen, in dem sich der damalige Ministerpräsident als Spitzenkandidat zur Wahl stellte und prompt verlor, wurde überlegt, ob er der richtige Bewerber sei. Trotzdem tat Schröder nach seiner eigenen Niederlage alles, um Steinbrück zum Bundesfinanzminister unter Merkel zu machen. In der folgenden We ltfinanzkrise war er sehr erfolgreich. Hierarchisch und autoritär Soll und kann er Kanzler werden? Sturm listet seitenweise Steinbrücks Handicaps auf. Gefolgsleute habe der «Einzelspieler» nicht. Er denke hierarchisch und durchaus autoritär, sei mithin ein untypischer Sozialdemokrat, der soziale Probleme nie erlebt, geschweige denn verinnerlicht habe. Diese Argumentation spricht für ein Nein. Dass Steinbrück kein klassischer Parteipolitiker ist, sehen Lohse und We hner hingegen als Vorteil. Bei der Bundestagswahl in einem Jahr komme es nicht auf die rund 500 000 SPD-Mitglieder an; vielmehr brauche die SPD 13 Millionen Wähler, um zu gewinnen. Darin aber liegt der Denkfehler. Seit Helmut Schmidt haben ausser Schröder noch alle SPD-Kanzlerkandidaten verloren, weil jeweils ein Te il ihrer Mitglieder und Stammwähler am Wahltag zu Hause blieb. ● 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Heimatkunst Der Thurgauer Bauerndichter Alfred Huggenberger (1867–1960) hegte Sympathien für das Dritte Reich. Pech für die SBB, die ihn mit einem Zug ehren wollten Geplante Feier abgesagt Rea Brändle, Mario König: Huggenberger. Die Karriere eines Schriftstellers. Verlag des Historischen Vereins des Kantons Thurgau, Frauenfeld 2012. 448 Seiten, Fr. 48.–. Soll ein Staat die historische Wahrheit erforschen lassen? Die Frage stellte sich für den Bund, als die Schweizer Banken wegen ihres Umgangs mit Geld und Gold der Juden im Zweiten Weltkrieg unter Beschuss gerieten. Und für den Thurgau, als um den einzigen im ganzen deutschen Sprachraum bekannten Dichter, den der Kanton vor Peter Stamm hervorgebracht hat, eine Kontroverse entbrannte: Alfred Huggenberger (1867– 1960) aus Gerlikon bei Frauenfeld, bis Ende des 20. Jahrhunderts in der Schule gelesen, auf Volkstheaterbühnen gespielt und mit Strassennamen gewürdigt, sollte 2007 einen IC-Neigezug gewidmet bekommen. Kurz vor der Zugstaufe samt Nationalratspräsidentin warf die Thurgauer Zeitung die Frage auf, die die SBB mit der Lektüre von Lexikoneinträgen hätten beantworten können: Wie hielt es der im Dritten Reich gefeierte Bauerndichter mit den Nazis? Wenige Tage danach sagten die SBB die Zugstaufe ab – und für die Huggenberger-Freunde trugen seine Kritiker die Schuld daran. Aufgrund der gehässigen Debatte schrieb der Thurgauer Regierungsrat, dem mit Jakob Stark (SVP) ein promovierter Sozialhistoriker angehört, einen grosszügig dotierten Projektauftrag aus, um Leben und Werk von Huggenberger zu erforschen. Unter den 75 Bewerbungen, auch von national bekannten KBTG HU F SCH 51/2 Von Markus Schär Alfred Huggenberger (1867–1960) schrieb Lyrik, Theaterstücke und Heimatromane (undatierte Aufnahme). Namen, setzten sich Rea Brändle und Mario König durch: eine Germanistin und Journalistin, die sich in der Volksliteratur auskennt, und ein Historiker, der für die Bergier-Kommission arbeitete. Was das Autoren-Duo in zweijähriger Fleissarbeit im Nachlass des Dichters und in Archiven von Gachnang (TG) bis Klagenfurt aufspürte, legt es jetzt in einem dicken Buch vor, herausgegeben vom kantonalen Historischen Verein. Indem das Duo akribisch die «Karriere eines Schriftstellers» nachzeichnet, bietet es sowohl den Verehrern als auch den Verächtern von Huggenberger, was diese lesen wollen. Einerseits beeindrucken die Erfolge des Bauerndichters, der sich zwar als Bauer inszenieren liess, aber eigentlich immer nur als Dichter gelten wollte. «Dieses verfluchte Wort: Heimatkunst! Kein grösserer Unsinn wurde je erfunden», spottete er über seinen wichtigsten Kritiker, NZZ-Feuilletonchef Eduard Korrodi: «Entweder ist's Kunst oder Seich.» Auch in Deutschland und Österreich fand Huggenberger begeisterte Leser; der Kleinbauer, der daneben seine Gemeinde als Vorsteher leitete und für den Freisinn im Kantonsparlament sass, konnte vom Schreiben gut leben. Anderseits führten gerade der Erfolg und das Einkommen im Dritten Reich dazu, sich von den Nazis vereinnahmen zu lassen. Er trat 1933 zwei Monate nach den Bücherverbrennungen aus eigenem Antrieb in den Reichsverband deutscher Schriftsteller ein, liess sich 1938 von Reichspropagandaminister Goebbels empfangen und nahm noch im Kriegsjahr 1942 in Konstanz seinen grössten Blut-und-Boden-Preis entgegen. Wie stand Huggenberger tatsächlich zum Dritten Reich? Die Frage bleibt unbeantwortet, denn der alternde Dichter äusserte sich in seinen Briefen und in seinen «Büechli» mit Reiseeindrücken dazu nicht: «Seine Besuche in Deutschland waren nicht getragen von einem Willen zum Wissen, was dieses Volk bewegte», schliessen die Autoren. «Er folgte dem Hunger nach Selbstbestätigung und einem bedenkenlosen Erwerbsstreben.» Das moralische Urteil überlassen sie den Lesern. So zeigt sich inzwischen sogar der Präsident der Alfred-Huggenberger-Gesellschaft versöhnt: «Wenn es die Zugstaufe gegeben hätte, gäbe es dieses Buch nicht.» ● USA Weil Obama die «Yes we can»-Illusion überwunden hat, könnte er die Wiederwahl schaffen Vom Charismatiker zum Realisten Christoph von Marschall: Der neue Obama. Was von der zweiten Amtszeit zu erwarten ist. Orell Füssli, Zürich 2012. 224 Seiten, Fr. 19.90. Von Tobias Kaestli Sein erstes Buch über Barack Obama erschien noch vor dessen Wahl ins Präsidentenamt. Christoph von Marschall sagte den Erfolg voraus. Im jetzt vorliegenden zweiten Buch bleibt er ebenso optimistisch. Der Autor, der als einziger deutschsprachiger Zeitungskorrespondent ständigen Zugang zum Washingtoner Machtzentrum hat, beobachtet den Präsidenten sehr genau. Obama habe in den letzten vier Jahren Eigenschaften aus sich herausgeholt, die vorher ver26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 borgen gewesen seien. Vom charismatischen Idealisten, der stets den Ausgleich suchte, habe er sich zum realistischen Kämpfer weiterentwickelt, der keineswegs in der Illusion des «Yes we can» stecken geblieben sei. Wie schon während des Jahres 2008 hat von Marschall auch in diesem Jahr Obamas Wahlkampftournee hautnah mitverfolgt. Die Beobachtungen, die er seiner Leserschaft mitteilt, beziehen sich vor allem darauf, wie Obamas Auftritte beim Publikum ankommen und medial kommentiert werden und wie Obama und seine Helfer auf republikanische Angriffe reagieren. Es entsteht ein farbiges Bild der Mechanismen der Macht und der Wirkungsweise der Massenmedien. Die Politik der Republikaner und der dahinter stehenden Tea- Party-Bewegung wertet von Marschall als pure Obstruktion, die kein anderes Ziel habe, als Obama von der Macht zu vertreiben, und zwar auch aus rassistischen Gründen. Die Folgen davon zeigt er an den Beispielen der Finanzpolitik und der Gesundheitsreform auf. Von den Niederlagen des Präsidenten spricht der Autor kaum, vielmehr hebt er dessen Fähigkeit hervor, trotz allen Widrigkeiten zu retten, was zu retten ist. Er liefert keine tiefschürfende Analyse, bleibt eher an der Oberfläche. Über Themen wie Guantanamo, Israel, Afghanistan und Iran teilt er nichts Neues mit. Die Aussenpolitik ist fast vollständig ausgeklammert. Trotzdem wagt er die Prognose: Der neue Obama könnte durchaus eine erfolgreiche zweite Amtszeit absolvieren. ● Folter Die dramatische Geschichte eines nordkoreanischen Häftlings, der dem Gulag entronnen ist Im Herzen der Finsternis München 2012. 255 Seiten, Fr. 28.40, E-Book 19.40. Von Martin Walder Eine der Skizzen aus dem Lagerleben, die der Nordkoreaner Shin Dong-Hyuk nach seiner spektakulären Flucht aus dem Gulag angefertigt hat. SHIN DONG-HYUK Die gesammelten Zeugnisse zu KZ und Gulag haben in Europa ihre – auch literarisch radikal beglaubigte – Relevanz. Und anderswo? In Nordkorea existieren offiziell gar keine Straflager, Informationen sind rar. Wie Licht in ein fast hermetisches Dunkel bringen, wo angeblich gar nichts ist? Flüchtlingsberichte sind eine der Quellen. Die Geschichte des Nordkoreaners Shin Dong-Hyuk – Lager-Spross der Verbindung zweier politischer Häftlinge – ist eine besondere: Er gilt als der bisher einzige dort Geborene, dem die Flucht (nach China) gelungen ist. Seit seinem Bericht von 2007 über sein Leben im berüchtigten 15 000 Insassen zählenden Camp 14 nördlich von Pjöngjang und sein mirakulöses Ent- kommen wurde der junge Mann weltweit bekannt und herumgereicht. Ausführlich stand er Red und Antwort – man kann das auch auf Youtube verfolgen. Oder seit neuestem im Buch des Amerikaners Blaine Harden «Flucht aus Lager 14» und im deutschen Dokumentarfilm «Camp 14 – Total Control Zone» von Marc Wiese, der am Filmfestival Locarno das Publikum aufwühlte. Buch und Film, für die später auch ein gemeinsamer Vertrieb geplant ist, ergänzen sich ideal. Der Film führt als Innenschau ins Herz der Finsternis, indem er Shin qualvoll vergegenwärtigen lässt und auch mittels diskreten Anidoc-Szenen (dokumentarisch imaginierte Animation) visualisiert, was sich kaum erzählen lässt: eine Existenz ohne soziale Empathie, ohne moralische Koordinaten. Nach seiner Denunziation von Mutter und Bruder enden diese am Galgen und vor dem Erschiessungspeleton, vor seinen Augen; später wird ihm der Körper des tot auf dem Hochspannungszaun liegenden Fluchtgefährten die lotte sChwarz (1910–1971) dienstmädChen emigrantin sChriftstellerin Annemarie Schwarzenbach Afrikanische Schriften «Fern vom Schutz deS eigenen LandeS» annemarie SchwarzenbachS reportagen auS aFrika <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0tzS0MAAAcyd81g8AAAA=</wm> <wm>10CFWLoQ6EQAwFv6ib98q23bKS4AiC4NdcTt__qwMcYsxkZtu6FTws636uRydQTRjJdvm0omGdqSXMO1KpoM6kRfVo9dULmD5hGncjSFEOUszFODx8XHM-zgKt_D7fP_gQRiGAAAAA</wm> Reportagen – Lyrik – Autobiographisches Mit dem Erstdruck von « Marc» Christiane Uhlig «Jetzt kommen andere zeiten» Lotte Schwarz (1910–1971) Dienstmädchen, Emigrantin, Schriftstellerin 2012. 328 S. 55 Abb. Br. CHF 38 Herausgegeben von Sofie Decock, Walter Fähnders und Uta Schaffers Annemarie Schwarzenbach afrikanische Schriften Reportagen – Lyrik – Autobiographisches Hg. v. Sofie Decock, Walter Fähnders, Uta Schaffers 2012. 334 S. 12 Abb. Geb. CHF 38 Bücher zur Zeit «Jetzt kommen andere zeiten» «FriSche Stimme, Frecher ton» auS dem Leben einer emigrantin und pubLiziStin www.chronos-verlag.ch Christiane Uhlig Luke in die Freiheit öffnen – eine Freiheit in Südkorea und den USA, die Shin im Innern wohl niemals wirklich zu leben vermag. Denn kann einer, um zu überleben, mehr Schuld auf sich laden? Das Buch folgt der Chronologie von Lagerexistenz, Flucht und Orientierungslosigkeit, die Harden aufgrund von Shins Berichten und über Jahre geführten Interviews rekapituliert. Es ist ein Leben, dessen erste Erinnerung eine der rituellen Hinrichtungen zur Abschreckung ist, welcher der Vierjährige beizuwohnen hat. Hier zuckt man in Gedanken an Wilkomirskis erfundene KZAutobiografie in den 1990er-Jahren leise zusammen, ist es doch eine ähnliche erste Erinnerung. Natürlich besteht kein Zusammenhang, doch die Assoziation öffnet viele Fragen zu Shins Autobiografie. Kann sie wirklich wahr sein? Wie soll der Chronist dem begegnen? Erstens dadurch, dass die Unsicherheiten thematisiert werden: Shins Erzählung kennt offensichtlich Korrekturen oder Varianten, zum Beispiel über den Verrat an der eigenen Mutter. Harden rapportiert beide Versionen und erwähnt ähnlich widersprüchliche Aussagen in «einem Dutzend weiterer Gespräche». Danach verfährt das Buch linear, doch die möglichen Abweichungen bleiben im Hinterkopf präsent. Zweitens ist der Autor um innere Logik und Plausibilität bemüht. Drittens rückt das Buch Shins Zeugnis in den Kontext dessen, was man über Nordkorea weiss. Immer wieder werden politische, ökonomische, soziale Zustände dargestellt. Man erfährt so einiges über die Lücken im Herrschaftssystem des Landes, über die unerwartete partielle Durchlässigkeit der Grenze zwischen Nordkorea und China, die Shin auf seiner Flucht unwissend nutzen konnte. Und schliesslich ist Hardens Report von expliziter Nüchternheit; selbst das Ungeheuerlichste wird niemals emotional ausgebeutet. Das Resultat suggeriert eine Glaubwürdigkeit, die den Atem stocken lässt. ● CHRonoS Blaine Harden: Flucht aus Lager 14. DVA, 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Sachbuch Wissenschaft Der Physiker John Freely zeigt, wie viel das Abendland der islamischen Welt verdankt Verschlungene Wege des Wissens John Freely: Platon in Bagdad. Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam. Klett-Cotta, Stuttgart 2012. 388 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 22.90. Von André Behr WORLD PICTURES / PHOTOSHOT Als Newton im 17. Jahrhundert die «Riesen» würdigte, auf deren Schultern er stehen durfte, um «weiter als Descartes sehen zu können», nannte er Koperni- kus, Kepler oder Galilei, sowie viele Griechen der Antike. Arabische Wissenschafter erwähnte er nicht. Diese Sicht dominierte die Lehrmeinung lange. Mittlerweile weiss man auch bei uns mehr über die Leistungen der islamischen Wissenschaften. Dennoch hört man immer wieder, in der Zeit zwischen den alten Griechen und der wissenschaftlichen Revolution sei in den Naturwissenschaften nicht viel passiert. Wer sich über dieses angebliche schwar- Reste einer Moschee in Harran, in der heutigen Türkei. Die Stadt lag an einer alten Karawanenstrasse, auf der einst auch Wissen zirkulierte. ze Wissensloch auch schon gewundert hat, dem sei John Freelys Buch empfohlen. Der 86-jährige Autor aus Brooklyn, der in Istanbul lebt und dort Physik und Wissenschaftsgeschichte lehrte, räumt in seinem stattlichen Werk sehr geduldig mit Vorurteilen unterschiedlichster Couleur auf. Ausgestattet mit einem immensen Faktenwissen beschreibt Freely die Wege und Wandlungen des Wissens, von den ersten Naturphilosophen Ioniens, des klassischen Athen und des hellenistischen Alexandria nach Rom, Konstantinopel, Gondischapur bis ins arabische Bagdad, nach Kairo, Damaskus, ins maurische Spanien, nach Palermo, Paris und Oxford. Das letzte Kapitel ist Harran gewidmet, einer antiken Stadt im Südosten der heutigen Türkei, die an einer alten Karawanenroute von Zentralanatolien bis zum Zusammenfluss von Euphrat und Tigris liegt. In dieser Region trafen astronomische Überlieferungen Mesopotamiens auf die rationale und die okkulte Wissenschaft des hellenistischen Alexandria und wurden dann nach Bagdad weitergegeben. Nicht weit von Harran entfernt befindet sich die syrische Stadt Aleppo, die in ihrer fast 4000-jährigen Geschichte gerade einmal mehr Opfer von Zerstörungswut ist. Von John Freely kann man nicht nur viel über Wissenschaft lernen. Er macht einem auch klar, wie verstrickt und hybrid die Kulturen sind, und wie viel das Abendland der islamischen Welt verdankt, dass nicht mehr Wissen verloren gegangen ist. ● Verhaltensforschung Automatische Handlungen steuern unseren Alltag Wie eine schlechte Angewohnheit umgepolt wird Charles Duhigg: Die Macht der Gewohnheit. Warum wir tun, was wir tun. Berlin Verlag, Berlin 2012. 416 Seiten, Fr. 32.90. Von Michael Holmes Keine seelische Grossmacht wird mehr unterschätzt als die Gewohnheit, welche uns doch hilft, zahllose lebenswichtige Alltagsaufgaben mit einem Minimum an geistiger Anstrengung zu meistern. Sie ist das Immergleiche, das Selbstverständliche, dem wir kaum mehr Beachtung schenken als ein Fisch dem Wasser. Der «New York Times»-Journalist Charles Duhigg widmet sich der Macht der Gewohnheit mit der Neugier eines Geschichtenerzählers, Philosophen und Wissenschafters. Die zentrale These 28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 seines packenden und vergnüglichen Buches besagt, dass jede Gewohnheit aus drei Grundelementen besteht: Wir reagieren auf einen Auslösereiz mit einer Routine, weil wir eine Belohnung erwarten. Banal? Keineswegs! Duhigg belegt anhand von Beispielen aus allen Lebensbereichen, dass sich schlechte Gewohnheiten deutlich leichter und schneller in gute verwandeln lassen, wenn wir ihre Bestandteile identifizieren und gezielt verändern. Die schrittweise Analyse und Umgestaltung automatischer Verhaltensmuster hilft Menschen, weniger zu essen, regelmässig Sport zu treiben und effizienter zu arbeiten. Und das Tüpfelchen auf dem i: Das Erlernen einer segensreichen Schlüsselgewohnheit führt meist zur Ausbildung weiterer positiver Gewohnheiten. Duhigg hat Hunderte Studien und Interviews ausgewertet, deren Ergebnisse sich wie von selbst in sein ebenso schlichtes wie eindrucksvolles Denkgerüst fügen. Er erklärt, wie Selbsthilfegruppen, Kirchgemeinden, Spitäler und soziale Bewegungen schädliche Denk- und Handlungsroutinen überwinden helfen. Zudem belegt er, dass wir uns Tugenden wie Mut, Hilfsbereitschaft und Selbstdisziplin angewöhnen können. Er zeigt aber auch, dass viele Grossunternehmen die Kaufgewohnheiten ihrer Kunden ausspionieren und diese mit viel Geschick und Einfallsreichtum zu manipulieren wissen. Dieses kleine Meisterwerk ist zugleich eine Einführung in die neue Wissenschaft der Gewohnheit, ein mit grosser Sprachkunst gefertigter Erzählband sowie eine überaus praktische Übungsanleitung zur bewussten Gestaltung von Gewohnheiten. ● Debatten In Frankreich nehmen Intellektuelle am öffentlichen Gespräch teil Swissair Das waren noch Zeiten Man verhaftet keinen Voltaire Joseph Jurt: Frankreichs engagierte Intellektuelle. Von Zola bis Bourdieu. Wallstein, Göttingen 2012. 260 Seiten, Fr. 34.40, E-Book 24.20. Im Mai 1968, als Jean Paul Sartre die Pariser Studenten dazu aufrief, das kapitalistische System zu beseitigen, ging das Gerücht, der Polizeipräfekt habe dem Staatspräsidenten geraten, den Schriftsteller verhaften zu lassen. Darauf habe de Gaulle geantwortet: «On n’arrête pas Voltaire». Die Authentizität dieses Ausspruchs ist nicht erwiesen; aber er illustriert die besondere Rolle, die dem französischen Intellektuellen im politischen Leben seines Landes zukommt. Der Begriff des «Intellektuellen» ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Gebrauch gekommen. Damals gelang es dank dem hartnäckigen Protest von Schriftstellern und Gelehrten, die Rehabilitierung des zu Unrecht der Spionage bezichtigten jüdischen Hauptmanns Dreyfus zu erreichen. Seither sind Frankreichs Schriftsteller und Wissenschafter im Urteil der Öffentlichkeit zu einer moralischen Instanz geworden. Ihre Stellungnahmen, Manifeste und Debatten haben neben der parteipolitischen Auseinandersetzung ihr eigenes Gewicht und bieten dem Staatsbürger eine zusätzliche Orientierungshilfe. In seinem Buch über «Frankreichs engagierte Intellektuelle» gibt der Schweizer Romanist Joseph Jurt eine sehr willkommene Darstellung der Geschichte solcher intellektueller Einmischung. Das Buch beginnt mit Emile Zolas «J’accuse», verweilt eingehend beim intellektuellen Doppelgestirn Jean-Paul Sartre/Raymond Aron und endet mit den modernen «Medienphilosophen» Bernard-Henri Lévy und André Glucksmann. Eine der wichtigen Einsichten, die das Buch vermittelt, betrifft das Beharrungsvermögen der kommunistischen Ideologie im geistigen Leben Frankreichs: Der Hoffnung, mit der Sowjetunion vollende sich, was mit der Französischen Revolution begann, haben sich viele Intellektuelle nicht entziehen können. Das Buch von Jurt ist keine Einführung, sondern setzt Grundkenntnisse der neuesten französischen Geschichte voraus. Es bietet eine kurz gehaltene und gut lesbare, durch eine vorzügliche Bibliografie ergänzte Übersicht. ● Urs Bitterli ist emeritierter Professor für neuere Geschichte der Universität Zürich. SWISSAIR PHOTO AG / STIFTUNG LUFTBILD SCHWEIZ / ETH BIBLIOTHEK Von Urs Bitterli Ad Astra Aero AG und Balair – so hiessen die Vorläuferfirmen der Swissair, wie viele Flugbegeisterte wissen. Dass die Ad Astra Aero und später auch die Swissair in den Anfängen der Linienfliegerei in der Schweiz ihr Geld aber mehrheitlich mit Luftaufnahmen machten, überrascht hingegen. Diese Tatsache ist einer der spannenden Aspekte des Buches «Swissair Souvenirs», das als zweiter Band der Reihe «Bilderwelten. Fotografien aus dem Bildarchiv der ETH-Bibliothek» erschienen ist. Beim Stöbern in dem schön gestalteten Buch mit fast 300 Fotografien erstaunen die vielen Luftaufnahmen von Städten und Landschaften, die vor allem in der Pionierzeit der Fluggesellschaft geschossen wurden. Natürlich fehlen aber auch die noch populäreren fotografischen Eindrücke aus dem «Innenleben» der Airline nicht. Ein Beispiel ist unser Bild, das Flight Attendants – damals hiessen sie noch Stewardessen – etwa 1978 beim Service in einer Boeing 747-257 B zeigt. Was für Zeiten: Auf dem Rolltisch steht ein Braten wie Sonntags zuhause, die Speisen sehen aus, als kämen sie direkt aus einer Hotelküche. Und ein Passagier schmaucht fröhlich seine Pfeife, ohne einen Tadel der Angestellten befürchten zu müssen. Der Band ist eine Wunderkammer der Fluggeschichte und wird AviatikFreaks, die sich für Flugzeugtypen, Wartungsarbeiten oder Uniformen interessieren, ebenso begeistern wie in Nostalgie schwelgende Swissair-Fans. Roberto Zimmermann Ruedi Weidmann: Swissair Souvenirs. Bilderwelten – Fotografien aus dem Bildarchiv der ETH-Bibliothek, Band 2. Scheidegger & Spiess, Zürich 2012. 176 Seiten, Fr. 58.90. 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29 Sachbuch Kommunismus Die schillernde Figur Trotzkis lässt noch immer Kontroversen aufflackern Weder Schmähschrift noch Offenbarung Robert Service: Trotzki. Eine Biografie. Suhrkamp, Berlin 2012. 730 Seiten, Fr. 43.50, E-Book 36.30. Von Reinhard Meier Trotzki, so schrieb einst der britische Historiker Robert Conquest, gehöre der «Glanz der verlorenen Sache». Der neben Lenin am meisten herausragende Führer während der bolschewistischen Revolution war ein brillanter Redner, leidenschaftlicher Publizist, als Kriegskommissar legendärer Kommandant der Roten Armee, im Machtkampf nach Lenins Tod wichtigster Gegner Stalins. Dieser liess seinen Widersacher 1940 im mexikanischen Exil durch einen Agenten mit einem Eispickel erschlagen. Kein Wunder, dass über eine derart schillernde Persönlichkeit der jüngeren We ltgeschichte schon Dutzende von Biografien geschrieben wurden. Robert Service, der britische Autor der jüngsten Publikation in dieser langen Reihe, erhebt den Anspruch, in seinem Buch auch «die verborgenen Aspekte» von Trotzkis Leben «ans Tageslicht zu bringen». Doch dieses Ve rsprechen wird nicht eingelöst, jedenfalls nicht in einem grundsätzlichen Sinne. We r sich durch die über 700 Seiten der Biografie liest, erfährt zwar eine erdrückende Fülle von Details – vor allem was Trotzkis endlose ideologische Streitigkeiten mit seinen wechselnden kommunistischen Rivalen oder Gesinnungsgenossen betrifft. Ein neues Trotzki-Bild kommt bei all dieser Detailhuberei nicht zum Vorschein. Trotzki bleibt der ohne jeden Anflug von Selbstzweifel von seinen marxistischen Anschauungen durchdrungene Kämpfer, der «immer alles besser wusste». Er zögert nicht, Widerstände gegen die Sowjetdiktatur grausam mit «rotem Te rror» zu brechen. Abstrus ist der Vorwurf von 14 offenbar romantisch angehauchten Historikern und Soziologen, bei dieser Biografie handle es sich um eine «Schmähschrift» mit antisemitischer Te ndenz. Sie verweisen auf den Umstand, dass der prominente Sohn des jüdischen Gutsbesitzers David Bronstein auf den ersten 60 Seiten des Buches mit dem jüdischen Vornamen «Leiba» bezeichnet wird. Erst danach wechselt der Autor zum gängigen Rufnamen Leo. Service stützt sich dabei auf einen eher vagen Hinweis in der ersten Fassung von Trotzkis Autobiografie. We shalb dieser jüdische Vorname eine antisemitische Ve runglimpfung sein soll, bleibt schleierhaft. Zumal Service in einem eigenen Kapitel Trotzkis kritisch-distanzierte Einstellung zum Judentum differenziert erläutert. Der Trotzkismus ist seit Jahrzehnten tot. Als phantasieanregender Mythos dürfte die Figur Trotzkis, ähnlich wie jene von Ché Guevara, aber noch länger überdauern. ● Das amerikanische Buch Bob Woodwards ätzende Kritik an Obama Sie waren ein ungleiches Paar, der Präsident und der Oppositionsführer im Repräsentantenhaus. Als Barack Obama und John Boehner im Juli 2011 auf dem «Truman-Balkon» des We issen Hauses zusammensassen, rauchte der Republikaner zu seinem geliebten Merlot eine Zigarette nach der anderen. Obama hielt sich dagegen an NikotinKaugummis und Eistee. Aber immerhin redeten sie nun miteinander, um den Absturz der USA in die Zahlungsunfähigkeit zu verhindern und die staatliche Schuldendecke aufzustocken. Denn noch kurz vorher hatte Obama nicht einmal Boehners Handy-Nummer. MICHAEL REYNOLDS / EPA (Rule and Ruin: The Downfall of Moderation and the Destruction of the Republican Party, Oxford University Press, 2012, 504 Seiten) auf die Radikalisierung der Republikaner zurück. Mit Details wie diesen wird Bob Woodward einmal mehr seinem Ruf als «Prä- Doch diese Unmittelbarkeit verliert rasch an Reiz. Woodward bietet zwar neue Details. Aber seine Geschichte ist im We sentlichen schon bekannt. Der Ex-Raucher und der Kettenraucher konnten sich nicht über eine längerfris30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012 tige Reduzierung der Staatsschulden einigen und nahmen stattdessen zu einem faulen Kompromiss Zuflucht, der Amerika Anfang 2013 erneut an den «fiskalischen Abgrund» führt. Finden sie bis dahin keine dauerhaften Kompromisse, treten die von Obama und Boehner vereinbarten, automatischen Kürzungen auch beim Militär in Kraft. Ein ungleiches Paar: Oppositionsführer John Boehner (links) im Gespräch mit Barack Obama nach einem gemeinsamen Essen am 20. März 2012 in Washington. Autor Bob Woodward (unten). ALEX BRANDON / AP sident des Enthüllungsjournalismus» gerecht. Seit er mit seinem Washington-Post-Kollegen Carl Bernstein die Watergate-Affäre aufgedeckt hat, verfügt kein Reporter über bessere Quellen in der amerikanischen Hauptstadt, als der ehemalige Nachrichtenoffizier in der US-Marine. Nachdem er 2010 in «Obama's Wars» die Kriegsführung des Präsidenten in Afghanistan analysiert hatte, widmet sich Woodward nun in The Price of Politics (Simon&Schuster, 428 Seiten) der Haushaltskrise des letzten Sommers. Wie bei seinen 15 bisherigen Bestsellern schreibt der 69-Jährige erneut aus der Perspektive einer Fliege an der Wand und rekonstruiert das Geschehen hautnah. So lobt die amerikanische Kritik zwar die Fleissarbeit Woodwards. Aber selbst die «Washington Post» vergleicht «The Price of Politics» zu Recht mit einem Film, der nur aus Nahaufnahmen besteht. Woodwards atemlose Nacherzählung gibt dem Leser keinen Kontext zu der in feindselige Lager gespaltenen, politischen Landschaft Amerikas. Diese Entwicklung führen selbst konservative Autoren wie Geoffrey Kabaservice Allerdings macht Woodward deutlich, dass eine längerfristige Lösung der Budget-Krise auch an der Te a-PartyFraktion gescheitert ist, die Boehner jede Steuererhöhung als Ausgleich für Obamas Offerten bei Haushaltskürzungen verweigert hat. Doch seine schärfste Kritik reserviert der Autor für den Präsidenten, den er als arrogant, im politischen Geschäft unerfahren, vor allem aber als introvertiert darstellt. Wie inzwischen aus zahlreichen Quellen bekannt, war Obama unfähig – oder nicht willens –, persönliche Beziehungen zu den wichtigsten Figuren im Kongress herzustellen. Dies gilt nicht nur für die Anfang 2009 noch verunsicherten und gesprächsbereiten Republikaner. Er hielt es auch nicht für nötig, zumindest ein Ve rtrauensverhältnis zu führenden Demokraten wie Harry Reid zu entwickeln. So nahm der demokratische Fraktionschef im Senat nach dem Scheitern der zunächst geheimen Treffen Boehners und Obamas die Zügel in die Hand und handelte den faulen Kompromiss aus. Am Ende dieses Dramas wirkt der Präsident mehr als Zuschauer, denn als Akteur. «The Price of Politics» wirft damit nicht nur ein Schlaglicht auf die von ideologischen Grabenkämpfen blockierte Politik. Woodward legt hier mitten im Wahlkampf eine Chronik des Ve rsagens vor, die selbst Obama-Fans zum Merlot greifen lassen dürfte. Von Andreas Mink ● Agenda Opernhaus Zürich Ära Pereira in Wort und Bild Agenda Oktober 2012 Basel Freitag, 19. Oktober, 19 Uhr DialÄktik: Mundartliteratur zwischen Totenmügerli-Effekt und Weltliteratur. Mit Pedro Lenz, Raphael Urweider, Händl Klaus. Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50. Dienstag, 23. Oktober, 19 Uhr Verena Stössinger: Bäume fliehen nicht. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben). Bern Donnerstag, 11. Oktober, 19.30 Uhr Angela Pradelli: Das Haus des Vaters. Lesung. LibRomania Buchhandlung, Länggasse 12. Info: www.libromania.ch. SUZANNE SCHWIERTZ Hansjörg Schertenleib: Wald aus Glas. Lesung, Fr. 15.– inkl. Apéro. Haupt Buchhandlung, Falkenplatz 14, Tel. 031 309 09 09. Über zwei Jahrzehnte lang hat Alexander Pereira als Intendant die Geschicke des Opernhauses Zürich geprägt. Nun lässt ein opulenter Text-Bild-Band diese Ära Revue passieren. Zum einen werden die Premieren sämtlicher Spielzeiten gewürdigt, zum andern schaut man auch hinter die Kulissen. Ein sechsteiliges Interview von Monika Mertl mit Pereira führt durch das Buch, in dem auch zahlreiche andere Akteure von Cecilia Bartoli und Ruth Berghaus bis zu Nello Santi und Heinz Spoerli zu Wort kommen. In dem nicht gerade übersichtlich, dafür originell gestalteten Buch ist von Kunst und Geld, von Eckpfeilern und Raritäten, von Triumphen und Pannen die Rede. Denise Schmid und Reto Wilhelm haben Texte beigesteuert, die Fotos stammen von Peter Schlegel, Suzanne Schwiertz und dem Bildarchiv des Opernhauses. Unsere Aufnahme zeigt Alfred Muff und Krešimir Stražanac 2012 in Hans Pfitzners «Palestrina». Manfred Papst Das ist Oper. Das Opernhaus Zürich in der Ära Pereira, 1991–2012. Kontrast, Zürich 2012. 412 Seiten, Fr. 57.90. Bestseller September 2012 ANDREAS BODMER Donnerstag, 18. Oktober, 19 Uhr Samstag, 27. Oktober, 19 Uhr 4. Nacht der B-Lesenen mit den Nominierten des Schweizer Buchpreises: Sibylle Berg, Ursula Fricker, Peter von Matt, Thomas Meyer, Alain Claude Sulzer. Lesungen, Fr. 20.–. Kornhausforum, Kornhausplatz 18. www.b-lesen.ch. Zürich Dienstag, 2. Oktober, 20 Uhr Bettina Dyttrich, Pit Wuhrer: Wirtschaft zum Glück. Buchvernissage mit Podium. Fr. 10.–. Theater Neumarkt, Neumarkt 5. Info: www.theaterneumarkt.ch. Dienstag, 9. Oktober, 20 Uhr Sachbuch 1 Diogenes. 296 Seiten, Fr. 29.90. 2 Dtv. 539 Seiten, Fr. 22.90. 3 Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 19.90. 4 Blessing. 352 Seiten, Fr. 29.90. 5 Goldmann. 383 Seiten, Fr. 26.50. 6 Zsolnay. 347 S., Fr. 26.90. 7 Goldmann. 700 Seiten, Fr. 28.90. 8 Kiepenheuer & Witsch. 301 S., Fr. 21.90. 9 Blanvalet. 575 Seiten, Fr. 29.90. 10 Heyne. 463 Seiten, Fr. 29.90. 1 Hanser. 248 Seiten, Fr. 24.90. 2 Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90. 3 Weltbild. 173 Seiten, Fr. 29.90. 4 Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90. 5 C. H. Beck. 207 Seiten, Fr. 29.90. 6 Droemer/Knaur. 425 Seiten, Fr. 23.20. 7 Weltbild. 464 Seiten, Fr. 39.90. 8 Droemer/Knaur. 368 Seiten, Fr. 29.90. 9 Wunderlich. 296 Seiten, Fr. 21.90. 10 Giger. 227 Seiten, Fr. 37.90. Martin Suter: Die Zeit, die Zeit. Jussi Adler-Olsen: Verachtung. Jonas Jonasson: Der Hundertjährige. Jan-Philipp Sendker: Herzenstimmen. Joy Fielding: Das Herz des Bösen. Henning Mankell: Erinnerung an einen schmutzigen Engel. Elizabeth George: Glaube der Lüge. Jean-Luc Bannalec: Bretonische Verhältnisse. Charlotte Link: Im Tal des Fuchses. John Grisham: Verteidigung. Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns. Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens. André Häfliger, Georges Wüthrich: Dölf Ogi – So wa(h)r es! Philippe Pozzo di Borgo: Ziemlich beste Freunde. Gian D. Borasio: Über das Sterben. Rhonda Byrne: The Magic. Lukas Fischer: 1001 Ausflugsziele – Familienspass. Manfred Spitzer: Digitale Demenz. Ildikó von Kürthy: Unter dem Herzen. Gabriel Palacios: Ich sehe dich. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 18.9. 2012. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Douglas Coupland: Marshall McLuhan. Lesung und Diskussion, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Donnerstag, 18. Oktober, 19.30 Uhr Brigitte Kronauer: Was ist schon ein Roman! Zürcher Poetikvorlesung. Fr. 18.– inkl. Apéro. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Seminar der Universität Zürich. Literaturhaus (s. oben). DPA Belletristik Samstag, 20. Oktober, 19 Uhr Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte. Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Donnerstag, 25., bis Sonntag, 28. Oktober «Zürich liest». Bekannte Autorinnen und Autoren lesen in der ganzen Stadt. Programm: www.zuerich-liest.ch. Bücher am Sonntag Nr. 9 erscheint am 28. 10. 2012 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31 Jubiläumsangebot Für Leserinnen und Leser der «NZZ am Sonntag» zum Jubiläumspreis von Fr. 10.– statt Fr. 24.– Scharf beobachtet, spitz gezeichnet Chappattes persönliche Auswahl seiner besten Karikaturen Seit der ersten Ausgabe am 17. März 2002 prägen die Karikaturen von Patrick Chappatte die «NZZ am Sonntag». Im Buch «100 Kari katuren» zeigt er eine persönliche Auswahl seiner Karikaturen» besten Karikaturen der letzten zehn Jahre aus der «NZZ am Sonntag». Sein unverkennbarer Stil kombiniert die Schärfe seiner Beobachtungsgabe mit der Sensibilität seiner zeichnerischen Ausführung. Ob Sarkozy, Merkel oder Blocher: Er arbeitet die Eigenheiten seiner Figuren pointiert aus, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NzIxtgAAYDOZ6g8AAAA=</wm> <wm>10CFWMMQ7CMBAEX3TW7p7tc7gSpYtSIHo3iJr_Vzh0SDvNajTHka3gx30_n_sjCdRmDFUf2bZWFD2HVFAjEXKButEpDZJ_voFbd_i8HEOYfNKNWJt9QV2F9ZHo5fN6fwGogiDmgAAAAA==</wm> Chappatte – 100 Karikaturen aus der «NZZ am Sonntag» 2012, 120 Seiten, 100 farbige Karikaturen. Format 20,5×21 cm, gebunden, ISBN 978-3-03823-783-9 Patrick Chappatte, 1967 in Karachi (Pakistan) als Sohn eines Schweizers und einer Libanesin geboren, ist in Singapur und in der Westschweiz aufgewachsen. Mit 21 Jahren veröffentlicht er erste Karikaturen in der «La Suisse». Heute zeichnet er für die «Herald Tribune», «Le Temps» und die «NZZ am Sonntag». Er hat soeben als erster Europäer den in den USA verliehenen «Thomas-Nast-Preis 2011» gewonnen, der Karikaturisten auszeichnet und im US-Journalismus als prestigeträchtigste Auszeichnung nach dem Pulitzer-Preis gilt. Chappatte lebt mit seiner Familie in Genf. Bestellung Bitte senden Sie mir mit Rechnung: Chappatte – 100 Karikaturen Fr. 10.–* statt Fr. 24.– (zuzüglich Versandkosten Fr. 8.–) für Leserinnen und Leser der «NZZ am Sonntag» ISBN 978-3-03823-783-9 Bestellung per Mail: nzz.libro@nzz.ch mit Vermerk «Jubiläumsangebot» *Angebot nur in der Schweiz gültig, solange Vorrat. Die Lieferung erfolgt innerhalb von 6 Tagen. Name Vorname Firma Strasse/Nr. PLZ/Wohnort Telefon E-Mail Datum Unterschrift Einsenden an: NZZ Libro «Jubiläumsangebot NZZ am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich Tel. 044 258 15 05, Fax 044 258 13 99