Wolf Haas Verteidigung derMissionarsstellung

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Wolf Haas Verteidigung derMissionarsstellung
Nr. 8 | 30. September 2012
Peter von Matt Zur Literaturlandschaft Schweiz | Wolf Haas Verteidigung
der Missionarsstellung | Robert Garland Hannibal | Jenny Erpenbeck Aller
Tage Abend | Cees Nooteboom Briefe an Poseidon | Paul Widmer Minister
Hans Frölicher | Weitere Rezensionen zu David Mitchell, Peer Steinbrück,
Leo Trotzki, Matthias Zschokke u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese
Die goldene Lesezeit beginnt
Entdecken Sie jetzt die Herbst-Bestseller!
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Inhalt
Fünf Jahre Bücher
am Sonntag
und kein Ende
Peter von Matt
(Seite 14).
Illustration von
André Carrilho
Mit dieser Nummer, liebe Leserin, lieber Leser, feiern wir ein kleines
Jubiläum. Am 7. Oktober 2007 erschien die erste Ausgabe von «Bücher
am Sonntag»: mit Alexander Solschenizyn auf dem Titelbild und einem
Essay von Hugo Loetscher, der auf Barcelonas Ramblas flanierend für
uns katalonische Neuerscheinungen besprach. Heute, fünf Jahre und
dreiundfünfzig Nummern später, streift Manfred Papst mit Peter von
Matt durch die Schweizer Literaturlandschaft. Was hat sich in dieser
Zeit verändert? We lche Orchideen entfalten neu ihre Pracht, welche
Brennnesseln und Schmarotzerpflanzen säumen den We grand? (siehe
Interview Seite 14).
Der Name Peter von Matts steht dieses Jahr zusammen mit vier
weiteren auf der Nominationsliste für den Schweizer Buchpreis: Sibylle
Berg, Ursula Fricker, Thomas Meyer und Alain Claude Sulzer. Wir
stellen ihre We rke in einer Kurzkritik vor (Seite 13).
Daneben finden Sie wie immer einen bunten Strauss von Rezensionen
aktueller Erzählungen, Briefromane, Krimis und Feuilletons – von
Erpenbeck bis Nooteboom, von Mitchell bis Zschokke. Und natürlich
von Sachbüchern aus Politik, Kultur, Philosophie und Wissenschaft.
Die We lt der Literatur präsentiert sich nicht als Magerwiese, sondern
wieder mal als farbig blühender Herbstgarten.
Schön, so soll es auch in Zukunft sein! Urs Rauber
Belletristik
Kolumne
4
Wolf Haas: Verteidigung der
Missionarsstellung
17 Charles Lewinsky
David Mitchell: Die tausend Herbste des
Jacob de Zoet
Kurzkritiken Sachbuch
Von Simone von Büren
7
Fritz Rudolf Fries: Der Weg nach Oobliadooh
8
Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend
9
Cees Nooteboom: Briefe an Poseidon
Von Andreas Nentwich
Das Zitat von Joseph Addison
17 Franziska Rogger, Madeleine Herren-Oesch:
Inszeniertes Leben
Von Kathrin Meier-Rust
Georg Brunold: Traumberuf
Von Michael Holmes
29 Joseph Jurt: Frankreichs engagierte
Intellektuelle
Von Urs Bitterli
Ruedi Weidmann: Swissair Souvenirs
Von Roberto Zimmermann
30 Robert Service: Trotzki
Von Reinhard Meier
Das amerikanische Buch
Bob Woodward: The Price of Politics
Von Stefana Sabin
Von Urs Rauber
Von Klara Obermüller
Von Geneviève Lüscher
Agenda
Von Kathrin Meier-Rust
31 Das ist Oper. Das Opernhaus Zürich in der Ära
Pereira, 1991–2012
10 Rainald Goetz: Johan Holtrop
Von Sieglinde Geisel
11 Anton Kuh: Jetzt können wir schlafen gehen!
Von Martin Zingg
Céline Delavaux: Kunst, die Sie nie sehen
werden
Von Gerhard Mack
12 Matthias Zschokke: Der Mann mit zwei Augen
Von Bruno Steiger
13 E-Krimi des Monats
Jim Thompson: In die finstere Nacht
Von Christine Brand
Benedikt von Tscharner: Inter Gentes
Wilhelm Schmid: Unglücklich sein
Sachbuch
20 Gianluigi Nuzzi: Seine Heiligkeit
Ve ranstaltungshinweise
Von Geneviève Lüscher
Von Patricia Arnold
Philippe Reichen: Härte, Herz und Humor
21 Ben Moore: Elefanten im All
Von Robert Gast
23 Jean-François Bergier: Wilhelm Tell
Von Urs Rauber
Von Kathrin Meier-Rust
24 Richard Sennett: Zusammenarbeit
Von Ina Boesch
Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben
25 Daniel Friedrich Sturm: Peer Steinbrück
Eckart Lohse, Markus Wehner: Steinbrück
Ursula Fricker: Ausser sich
26 Rea Brändle, Mario König: Huggenberger
Von Regula Freuler
Von Manfred Papst
Interview
14 Peter von Matt, Germanist und Schriftsteller
Sennentuntschi am Paradeplatz
Von Manfred Papst
Agenda Oktober 2012
Von Pascal Hollenstein
13 Alain Claude Sulzer: Aus den Fugen
Von Regula Freuler
Bestseller September 2012
Belletristik und Sachbuch
Kurzkritik Schweizer Buchpreis
Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche
Reise in die Arme einer Schickse
Von Manfred Papst
18 Robert Garland: Hannibal
22 Paul Widmer: Minister Hans Frölicher
Von Manfred Papst
Von Andreas Mink
Von Gerd Kolbe
Von Markus Schär
MIRCO TONIOLO / ROPI
6
Von Sandra Leis
Charles Duhigg: Die Macht der Gewohnheit
Christoph von Marschall: Der neue Obama
Von Tobias Kaestli
27 Blaine Harden: Flucht aus Lager 14
Von Martin Walder
28 John Freely: Platon in Bagdad
Von André Behr
Cees Nooteboom stellt Fragen, auf die es keine Antwort
gibt. Hier in Venedig, April 2012 (Seite 9).
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan Zweifel Produktion Daniela Salm, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Te lefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Roman Der österreichische Autor Wolf Haas mobilisiert die Massen. An die Buchpremiere seines neuen
Werks «Verteidigung der Missionarsstellung» pilgerten 2500 Menschen
Verliebt in Zeiten der
Wolf Haas: Verteidigung der
Missionarsstellung. Hoffmann & Campe,
Hamburg 2012. 239 Seiten, Fr. 31.90.
Von Sandra Leis
Wer nicht dabei war, kann sich die Buchpremiere im Internet auf Youtube anschauen: Wolf Haas läuft agil in hellen
Jeans und dunklem T-Shirt mit einem
Mikrofon in der Hand von Bühnenrand
zu Bühnenrand, erzählt auswendig und
in rastloser Sprache die Geschichte von
Benjamin Lee Baumgartner, seinem tragikomischen Helden. Der Sohn eines
Hopi-Indianers und eines bayerischen
Flowerpower-Mädchens aus Simbach
am Inn verliebt sich in London unsterblich in eine Hamburger-Verkäuferin und
versucht, sie nach allen Regeln der
Kunst zu betören. Rund zwanzig Minuten lang baut Wolf Haas immer wieder
neue Spannungsbögen auf, schaut kein
einziges Mal ins Buch, sondern nimmt
allein sein Publikum ins Visier, um
schliesslich zu verkünden: «Jetzt beginnt die Lesung.»
Wolf Haas
Zu diesem Behuf setzt er sich auf
einen Stuhl, liest aus einem Kapitel, das
von einem Schriftsteller erzählt, der eng
mit Baumgartner befreundet ist und unverkennbare Ähnlichkeiten aufweist mit
dem realen Wolf Haas. Seit seinen Brenner-Krimis und seinem Roman «Das
Wetter vor 15 Jahren», einer Liebesgeschichte in Form eines Interviews zwischen einer Literaturkritikerin und
einem Autor namens Wolf Haas über
sein neues Werk, ist Wolf Haas in Österreich eine Art Volksheld zum Anfassen.
Wenn er einen neuen Roman ankündigt,
dann strömen die Massen: Die Ur-Lesung von «Verteidigung der Missionarsstellung» lockte kürzlich laut Veranstalter 2500 Menschen in den grossen Hof
des hippen Wiener Museumsquartiers.
Und das, obwohl Autor Haas in Interviews immer wieder sagt: «Die meisten
Romane sind ja so fad, weil sich in ihnen
alles so schön fügt. Eine gewisse Ungefügtheit ist da schon reizvoller.» Will
heissen: So charmant, heiter und selbstironisch Wolf Haas schreibt, einfach zu
verstehen sind seine Texte nicht. Sie
sind bei näherer Betrachtung oft abgründig oder satirisch überhöht und
stets gespickt mit sprachwissenschaftlichen und philosophischen Betrachtungen. Haas, der zum Thema «Die sprachtheoretischen Grundlagen der Konkreten Poesie» promoviert hat, ist ein gewiefter Visualisierer, der mit allerlei typografischen Elementen zu experimentieren weiss.
KLAUS FRITSCH
Abscheu gegen Reiseliteratur
Geboren 1960 in Maria Alm im österreichischen Bundesland Salzburg, wurde
Wolf Haas mit zehn Jahren Gymnasiast
eines katholischen Privatinternats. Er
studierte Linguistik, arbeitete in
Südwales als Universitätslektor und
schliesslich in Wien als Werbetexter.
1996 veröffentlichte er mit
«Auferstehung der Toten» seinen ersten
Kriminalroman. Es folgten bis 2009
sechs weitere Bücher mit dem
ungewöhnlichen Detektiv Simon Brenner.
Dreimal erhielt Wolf Haas den begehrten
Deutschen Krimipreis. Im Jahr 2006
erschien sein Interviewroman «Das
Wetter vor 15 Jahren».
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
Wenn Baumgartner in London plötzlich
in die falsche Richtung läuft und irgendwo um die Ecke biegt, so macht das der
Text auch grafisch.
Wenn Baumgartner sich 18 Jahre später in Peking ein zweites Mal verliebt
und mit der Angebeteten im Lift steckt,
fährt der Text Seite für Seite von oben
nach unten mit. Und wenn ein PaisleyMuster plötzlich bedeutsam wird, so
bringt der Text die Form zu Papier. Sätze
wie etwa das Antinomie-Problem des
polnischen Mathematikers Tarski liest
man tatsächlich quer, weil die Buchstaben quer über die Seite laufen. Dann
sind einzelne Wörter plötzlich übergross geschrieben, oder Textblöcke werden so klein, dass selbst die Lupe nicht
mehr weiterhilft.
Ins Absurde beziehungsweise vollends Unverständliche kippt Haas in den
Kapiteln, die in China spielen – und das
nicht bloss deshalb, weil der Held sich
Der Protagonist im
neuen Roman von
Wolf Haas verliebt
sich immer dann,
wenn eine Seuche
die Welt heimsucht.
Metroszene in Mexico
City 2009 während
der Schweinegrippe.
verliebt und von der Vogelgrippe heimgesucht wird.
Mehrere Seiten sind auf Chinesisch
verfasst, so dass der Unkundige beim
besten Willen kein Wort versteht. Das
allerdings ist die erklärte Absicht des
Autors: Anstelle dürftiger Beschreibungen, die versuchen, die Exotik Chinas zu
skizzieren, schreibt er auf Chinesisch.
«Indem man es nicht versteht, versteht
man es gerade richtig», gab Wolf Haas
dem österreichischen Nachrichtenmagazin «Profil» zu Protokoll und fügte
erklärend hinzu: «Ich verabscheue Reiseliteratur und Romane, in denen exotische Welten präsentiert werden. Das
Vogelgrippe
Eine kurze Ve rteidigung der Missionarsstellung liefert schliesslich die holländische Übersetzerin, in die sich Baumgartner in Peking verliebt.
Die beiden unterhalten sich darüber,
dass es für eine normale Sache oft gar
keine Wörter gibt, sondern ausschliesslich für die Ausnahme. Beispielsweise
benenne man nur die Ausnahme als
Kreisverkehr, eine eckige Kreuzung sei
einfach eine Kreuzung. Doch keine
Regel ohne Ausnahme – Missionarsstellung sei das Wort für «Normalbumsen»,
sagt die Holländerin und bricht eine
Lanze für «die einfache Innigkeit» dieser ihrer Ansicht nach zu Unrecht unterschätzten Sexualpraktik.
MIGUEL TOVAR / AP
Kommt ohne Sexszenen aus
kommt wahrscheinlich daher, dass ich
aus einem Touristenort stamme und
schon immer eine extreme Allergie dagegen hatte, wenn Touristen meinten,
sie könnten nach drei Tagen den Einheimischen erklären, wie ihr Dorf funktioniere.»
Auffallend im Roman «Verteidigung
der Missionarsstellung» ist auch eine
andere stilistische Eigenheit: die Klammerbemerkung. Darin hält der Autor
fest, was fehlt – beispielsweise «Hier
noch London-Atmosphäre einbauen»,
einen Ghostwriter beauftragen oder
nach dem Vorbild der Helene Hegemann Passagen aus dem Internet «her-
unteraxoloteln». Natürlich führt er all
diese Regie-Anweisungen nie aus, denn
der Leser kann sie sich ja selbst im Kopf
zurechtlegen.
Nur: Worum geht es dem 51-jährigen
Wolf Haas eigentlich im sogenannten
Ganzen, wenn er denn überhaupt ein
solches im Sinn hat? Mit Sicherheit nicht
um die Ve rteidigung der Missionarsstellung. Das ist ein genialer Buchtitel, mit
dem er, der viele Jahre als We rbetexter
gearbeitet hat, die Leser rudelweise in
sein Buch lockt. Konkret ist es der Titel
eines Gedichts, das der Schriftsteller im
Roman verfasst hat; über den Inhalt
schweigt sich der Roman leider aus.
Der Roman kommt ganz ohne Sexszenen aus, doch geht es im Buch andauernd um das Thema – um den mal vergnüglichen, mal beschwerlichen We g
dorthin sozusagen. Ums Umgarnen und
um die Diskrepanz zwischen dem, was
man denkt, und dem, was man sagt. Bei
Baumgartner kommt das hinzu, was er
als seinen «grössten Fehler» bezeichnet:
Er verliebt sich immer nur dann, «wenn
eine Seuche dabei ist, die We lt auszurotten». Er macht sie alle durch – die Rinderseuche, die Vogel- und die Schweinegrippe und zum Schluss auch noch
die durch den Ehec-Erreger verursachte
Durchfallerkrankung. Gibt es bloss eine
Zeitgleichheit zwischen Seuche und
selbstvergessenem Liebestaumel? Oder
nicht doch viel eher eine Kausalität? Hat
Baumgartner die Seuchen auf sich gelenkt und als «Winkelried» oder «Leibwächter für die ganze We lt» gewissermassen abgefangen? Oder war es gerade
umgekehrt, und er hat die Seuchen ausgelöst?
Fragen über Fragen, die zu beantworten Wolf Haas tunlichst vermeidet. Die
We lt ist viel zu kompliziert, als dass es
einfache Antworten gäbe. Gewiss, so
heisst es im Roman mehrfach, sei nur so
viel: Oft würden erfundene Dinge wahr
klingen und wahre erfunden. Zum Beispiel die Herkunft von Benjamin Lee
Baumgartner: Jeder, der ihn sieht, erkennt sofort die Ähnlichkeit mit dem
Indianer im Film «Einer flog über das
Kuckucksnest». Doch gegen Ende des
Romans erklärt Baumgartners esoterische Mutter ziemlich glaubhaft, sie habe
dem Buben die Geschichte mit dem Indianer-Vater nur aufgetischt, weil der
Kleine so verrückt nach Indianern gewesen sei. ●
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
VISIPIX
Belletristik
Der deutsche Forscher Philipp Franz von Siebold beobachtet das Einlaufen eines holländischen Schiffes auf Dejima. Er ist in Begleitung seiner japanischen Frau. Um 1825.
Roman David Mitchells opulentes We rk spielt um 1800 auf der japanischen Insel Dejima und
schildert das Leben eines jungen holländischen Kaufmanns
Macht der Dolmetscher
David Mitchell: Die tausend Herbste des
Jacob de Zoet. Aus dem Englischen von
Volker Oldenburg. Rowohlt, Hamburg
2012. 714 Seiten, Fr. 28.50.
Von Simone von Büren
David Mitchell versteht es wie wenige
andere, in seinen Romanen das Leben in
seiner ganzen unbändigen Fülle und die
We lt in ihrer lärmenden Vielseitigkeit literarisch zu fassen. So spannt sein preisgekrönter «Wolkenatlas» den Bogen von
den britischen Pazifik-Kolonien über die
Zwischenkriegszeit in Belgien ins Kalifornien der 1970er-Jahre und weiter in
eine futuristische Diktatur.
Nun legt der Brite, der mit seinen vier
Romanen bereits drei Mal für den ManBooker-Preis nominiert worden ist,
überraschenderweise einen chronologisch im Präsens erzählten historischen
Roman vor. «Die tausend Herbste des
Jacob de Zoet» spielt hauptsächlich auf
der Insel Dejima vor Nagasaki um 1800.
Die auf Pfählen errichtete Fläche, «gut
zweihundert Schritte lang und etwa
achtzig Schritte breit», war damals ein
Stützpunkt der Niederländischen Ostindien-Kompanie, dem einzigen Handelspartner des abgeschotteten Japans der
Edo-Zeit.
Mit der ihm eigenen Erzählenergie
entwirft der 43-jährige Autor vor dem
Hintergrund der «Ewigkeit der Langeweile», die zwischen den Ankünften
von Handelsschiffen Dejima erfasst wie
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
eine Krankheit, die Lebensgeschichten
und Beziehungen der niederländischen
Beamten und japanischen Dolmetscher,
der malaiischen Sklaven und englischen
Kapitäne.
Er siedelt den Roman in einer Zeit
weltpolitischer Umwälzungen an, von
denen die europäischen Nichtsnutze auf
Dejima allerdings wenig Ahnung haben:
In Japan kommen Zweifel an der Politik
der Abschottung auf, die Niederlande
sind nur noch «eine Bühne mit tanzenden Marionetten am Gängelband von
Paris», und die Niederländische Ostindien-Kompanie sieht sich von den skrupellosen Engländern ebenso bedroht
wie von der Korruption in den eigenen
Reihen.
Turbulente Geschichten
Auf eben diese Korruption soll der junge
holländische Kaufmann Jacob de Zoet
die Geschäftsbücher prüfen. Eifrig
macht sich der Rotschopf, von den Japanern «Dazūto» genannt, daran, die unlauteren Geschäfte seiner Kollegen zu
enthüllen und zu durchkreuzen. Er will
befördert werden, um möglichst schnell
jenes Geld zu verdienen, das er braucht,
um zuhause seine Geliebte heiraten zu
können. Doch als er sich weigert, einen
Betrug seines Vorgesetzten zu vertuschen, wird er degradiert. Und seine Lebenspläne geraten weiter durcheinander, als er sich in die junge Hebamme
Orito verliebt, die – nachdem er ihr ein
Niederländisch-Wörterbuch schenkt –
spurlos verschwindet.
Während Jacob auf Dejima festsitzt,
führt der Erzähler uns ins Innere Japans.
Dort wird Orito Opfer eines dubiosen
Kults, wagt eine Thriller-reife Flucht
aus einem abgelegenen Schrein und
wird von Samurais fast gerettet. Wir erfahren etliches von der tragischen Liebe
eines Dolmetschers, von geheimen
Friedhöfen, von mysteriösen grauen
Katzen und vom Giftmord an einem
mächtigen Würdeträger. Zur Titelfigur
kehren wir erst wieder zurück, als ein
von Gicht geplagter englischer Kapitän
vor Nagasaki seine Kanonen in Stellung
bringt.
Diese Exkurse ins Innere Japans sind
solid recherchiert, spannend, vielfältig und interessieren dennoch weniger als
die Passagen über Dejima, die undichte
Stelle Japans. «Verschliessung ist Japans
Schutz vor der Aussenwelt. Das Land
will nicht verstanden werden», sagt
Jacob, der schlau genug ist, sich die
Sprache und die gesellschaftlichen
Codes seiner Handelspartner anzueignen. Übersetzung ist der Gegenpol zu
dieser Ve rschliessung. Sie ist – wie Dejima – Tor zur We lt. Deshalb sind im
Roman die Dolmetscher allgegenwärtig.
Denn Sprache bedeutet Macht, ein falsches Wort kann brüskieren, ein unsorgfältig übersetzter Satz ökonomische
Ve rluste nach sich ziehen.
Brillant erforscht Mitchell, der selber
in Japan gelebt hat und mit einer Japanerin verheiratet ist, anhand der aussergewöhnlichen historischen Situation die
Tücken und Chancen interkultureller
Roman Der DDR-Erstling von Fritz Rudolf Fries ist wieder greifbar
Wäre er doch abgehauen!
Berlin 2012. 350 Seiten, Fr. 45.90.
Von Andreas Nentwich
Anfang der 60er-Jahre: Ein Heisssporn
halbspanischer Herkunft schreibt in der
Ostberliner Akademie der Wissenschaften einen Roman. Dann, 1966, erscheint
das Buch, im Westen allerdings nur.
Denn es ist halbstark und verspielt. Unsolidarisch mit der Arbeiterklasse. Sein
Utopia tönt wie ein Jubellaut aus der
Trompete Dizzy Gillespies: «Oobliadooh» von Fritz Fries. So nannte sich
Fritz Rudolf Fries damals, der in zwei,
drei Romanen auf kaleidoskopische
Weise von sich geschrieben hat, so, dass
er nicht er, sondern ein Hallraum vieler
Literaturen ist und mit allem, was er
liebt, sozusagen ein Leib und ein Geist.
In «Oobliadooh» ist er ein Freundespaar, etwas mehr der eine, Arleq, als der
andere, Paasch. Man meditiere über die
Namen, denn wie etwas oder einer
klingt, sagt immer schon viel in diesem
Buch, einem Hymnus auf das Leben als
musikalische Improvisation. Und wie
seine Musik anhebt! Wie sich da das verbrannte Dresden aus spanischem Lie-
Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag
Foto: © Jane Sobel Klonsky
Und noch auf ganz andere Weise rückt
der begnadete Erzähler Sprache in den
Vordergrund: in den poetischen Beschreibungen, die sich durch Dialoge,
Handlungen und Gedanken winden und
diese dauernd unterbrechen. Viele dieser Einschübe erinnern in ihrer Verknapptheit an Haikus: «Dampf steigt aus
einer Wasserschüssel; das Rasiermesser
blitzt im Sonnenlicht.» Als Gegenstück
dazu gibt es lange, dichte Listen genauster Beobachtungen: «Möwen und Krähen zanken sich auf dem First des Gartenhauses. Im Garten sind die cremeweissen Rosen und roten Lilien schon
am Verblühen. An der Landpforte wird
Brot angeliefert.»
Auf wunderbare Weise gelingt es Mitchell so, uns das verschlossene Japan zu
«übersetzen» und es gleichzeitig auf Distanz zu halten, indem er den Erzähler
beschreibend von aussen auf die Dinge
schauen lässt. Dadurch versetzt er uns
in Jacobs Situation auf Dejima: Ganz nah
an Japan und doch nicht Teil davon; bis
zum Taumel umgeben von dessen Gerüchen und Geräuschen und doch auf Distanz gehalten. ●
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Foto: © Christian Kaufmann
Ganz nah an Japan
besgeplänkel und Montmartre-Sehnen
als flimmerndes Canalettobild erhebt –
dieses Luftschiffertreiben steht einzig
da über den moralischen Schwarzwäldern der Nachkriegsliteratur! Und wie
dann die zwei alles heitere Irresein, dessen sie fähig sind, gegen die Verkarstung
in Kleinfamilie und sozialistischer Planerfüllung aufbieten!
Arleq, der sich romantisch verzehrt
nach der schönen Antifaschistentochter
Isabel, und der dennoch ein Wendiger
ist, anders als der trockene Paasch, an
dem eine deutsche Brigitte klebt,
schwanger, verheult und organisiert,
dem’s nicht hilft, dass er säuft, nichts
fürchtet und auf dem Klavier den Himmel von Oobladiooh aufreisst. Dieser
Roman hat die Streichelhaut der Jugend
und ihren kompromisslosen Zynismus.
In coolen Nebenbemerkungen erledigt
er eine trostlose Diktatur, die von Kleinbürgern mit faschistischer DNA getragen wird, eine prophetischere Absage
an die DDR ist nicht denkbar. Hätte nur
nicht dieser Spielfritz als Pedro Hagen
ein Dutzend Jahre für die Stasi gespitzelt, mit dem weltfremden Hochmut der
Verachtung, nur um Spanien zu sehen!
Wäre er doch abgehauen! Im Westen
hätte er, Jahrgang 1935, ein Alphatier der
skeptischen Generation sein können. ●
Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag
Fritz Rudolf Fries: Der Weg nach
Oobliadooh. Die andere Bibliothek,
*unverbindliche Preisempfehlung
Kommunikation. Er beschreibt übersetzerische Gratwanderungen, kulturelle
Codes und sprachliche Nuancen. Er
nutzt das komische Potential von Fehlern, Missverständnissen und radebrechenden Akzenten. Seine raffinierte
Spracharbeit macht den Text so unterhaltsam wie anspruchsvoll.
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Über die bizarren und gefährlichen Spielarten des Lebens und der Liebe. »Das
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Morddrohung gegen einen Autor. Und
mittendrin Privatdetektiv Kayankaya.
»Große Krimi-Kunst.« Spiegel online
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Der neue Krisen-Krimi von
Griechenlands Krimi-Papst.
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman In einem grossartigen neuen Buch
erzählt Jenny Erpenbeck eine wohltuend
kurze Jahrhundertgeschichte
Leben als
Konjunktiv
Gleich in den ersten Zeilen von Jenny
Erpenbecks neuem Roman wird ein
Säugling begraben, und «alles, was aus
dem Kind hätte werden können, lag jetzt
da unten». Der Roman beginnt also mit
dem Tod der Hauptfigur und erzählt,
was aus dem Kind, einem Mädchen, das
da unter der Erde lag, hätte werden können, wenn ihm der frühe Tod erspart
geblieben wäre.
So wird im Roman eine Lebensgeschichte im Konjunktiv entworfen. Sie
führt aus einem galizischen Städtchen
über Wien und Moskau nach Ostberlin
– und droht immer wieder mit dem Tod
der Protagonistin zu enden. Aber: «Am
Ende eines Tages, an dem gestorben
wurde, ist längst nicht aller Tage
Abend.» So setzt das Erzählen immer
wieder da an, wo der Tod verhindert
worden ist, weil das Schicksal vom Zufall mitbestimmt wird: «Alles hätte aber
auch anders kommen können.» Dieser
Satz, der refrainartig wiederholt wird,
strukturiert gewissermassen die Handlung, denn er erlaubt jedes Mal wieder
die Weitererzählung der (Lebens)Geschichte.
Der Tod ist also kein Tod. Der Säugling überlebt den Krippentod; die junge
Frau stirbt einen Liebestod (Buch I) und
überlebt ihn dann doch; die Erwachsene
wird zum Opfer der stalinistischen Säuberungen (Buch II) und wird gerettet;
die sozialistische Heldin in Ostberlin erliegt einem banalen Alltagsunfall (Buch
III) und kommt doch durch. «Irgendein
Tod wird schon auch dann der Tod
sein.» Tatsächlich stirbt die Protagonistin in Erpenbecks Roman schliesslich
doch noch, aber erst als alte Frau, die
das Jahrhundert miterlebt hat.
So weht durch diesen wohltuend kurzen Roman ein lang anhaltender epischer Atem: Das Leben, das immer wieder zu Ende zu gehen scheint und immer
wieder weitererzählt wird, besteht aus
vielen Leben und schlägt viele Wege ein,
so dass nicht nur individuelle Sehnsüchte (nach Liebe und nach Zugehörigkeit),
sondern auch historische Ereignisse –
von den Pogromen an der Peripherie
des k.-&-k.-Reichs über die mörderische
Verfolgung durch die Nationalsozialisten und die stalinistischen Säuberungen
bis zur DDR-Diktatur – fiktional gestaltet werden.
Erpenbeck erzählt eine Lebensgeschichte aus Lebensgeschichten und rekapituliert ein Jahrhundert. Als leitmotivischer roter Faden dient ihr eine Goethe-Gesamtausgabe, die Pogrom, Vertreibung, Krieg, Plünderung übersteht,
mehrmals verkauft und dann am Ende
der Handlung in einem Antiquariat entdeckt – und wegen der leichten Beschädigung des neunten Bandes nicht gekauft wird. Diese beschädigte und doch
ganz gebliebene Goethe-Ausgabe steht
Knaus, München 2012. 282 Seiten,
Fr. 28.40, E-Book 19.40.
NORBERT MICHALKE / AGENTUR FOCUS
Von Stefana Sabin
Eine der kraftvollsten
Stimmen der
deutschen Literatur
der Gegenwart: Jenny
Erpenbeck, 45, in
ihrer Wohnung in
Berlin, 2009.
Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend.
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8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
für das beschädigte Leben, von dem der
Roman handelt, und für das beschädigte
Jahrhundert, das die Romanhandlung
chronologisch einrahmt.
Wie alle grossen Schriftsteller spinnt
Erpenbeck um das einzelne Leben, das
im Zentrum des Romans steht, ein engmaschiges Netz aus allgemeinen fiktionalen und fiktionalisierten Ereignissen,
die dieses Leben und die Handlung mitbestimmen. Denn Jenny Erpenbecks
Thema ist das Ineinandergreifen einerseits von persönlichem und geschichtlichem Erleben, andererseits von Lebensund Zeitgeschichte.
Dabei gelingt es der Autorin, die Lebenstragödie und das politische Drama
in konzentrierten und ruhigen Sätzen zu
verknüpfen: «War Lenin vielleicht, als
sie den Tee holen ging, noch ein Klassiker, und als sie mit der Tasse in der
Hand zurückkam, schon ein Verbrecher?»
Indem sie ohne aufwendige Bilder
und ohne spektakuläre Szenen auskommt, ist Jenny Erpenbeck Minimalistin; aber indem sie einen ganz spezifischen Stil pflegt und einen grossen narrativen Bogen schlägt, ist sie eine ganz
und gar epische Erzählerin – eine der
kraftvollsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. ●
Prosa Der Niederländer Cees Nooteboom beglückt seine Leser mit federleichten Aufzeichnungen
und Briefen an den Meeresgott Poseidon
Gibt es Gott etwa doch?
überall Erinnerungen mitgebracht. Jetzt,
so hat man den Eindruck, finden die
grossen Reisen weniger auf der Landkarte als vielmehr im Kopf statt: dort,
wo die Gedanken hausen und die Fragen, auf die es keine Antworten gibt.
Was ist der Mensch? ist eine davon.
Was hat es mit diesem endlichen, begrenzten Leben auf sich? eine andere.
Nooteboom wird nächstes Jahr 80 Jahre
alt. Es ist Zeit, über Alter und Tod nachzudenken, über Zeit und Vergänglichkeit – und auch über jenen Gott, an den
er einst glaubte. Ein anderer hätte seine
Cees Nooteboom: Briefe an Poseidon. Aus
dem Niederländischen von Helga van
Beuningen. Suhrkamp, Berlin 2012.
190 Seiten, Fr. 28.50, E-Book 20.70.
Von Klara Obermüller
Wie in aller Welt kommt ein Autor des
21. Jahrhunderts dazu, Briefe an den
griechischen Meeresgott Poseidon zu
schreiben? Cees Nooteboom hat es
getan und dabei wohl selbst geahnt, dass
sein Unterfangen erklärungsbedürftig
ist. Also erzählt er, wie alles begann: wie
er in einer Münchner Buchhandlung auf
Texte von Sándor Márai stiess, wie er
einen Platz zum Lesen suchte, sich
schliesslich auf dem Viktualienmarkt
niederliess und nach einer Weile entdeckte, dass das Lokal, in dem er sass,
nach dem griechischen Meeresgott benannt war. Alles nur Zufall? Oder doch
vielleicht ein Zeichen von irgendwo
her? Nooteboom beschliesst, den Wink
ernst zu nehmen und dem Gott fortan in
unregelmässigen Abständen Briefe zu
schicken: «kleine Wortsammlungen»,
wie er es nennt, «die von meinem Leben
berichten».
Überlegungen vielleicht dem Tagebuch
anvertraut oder ähnlich wie Chateaubriand, auf den im Buch verwiesen wird,
eine Art «Mémoires d’Outre-Tombe»
geschrieben. Nooteboom hingegen fasst
seine Reflexionen in Briefe. Er braucht
das Gegenüber, um seine Gedanken an
der potentiellen Widerrede zu schärfen.
Er braucht die Zwiesprache, obwohl ihm
klar ist, dass er im Grunde Monologe
hält. «Natürlich weiss ich, dass ich Briefe an niemanden geschrieben habe»,
lautet der letzte Satz des Buches. «Doch
was ist, wenn ich morgen auf dem Felsen einen Dreizack finde?» Dieses kleine Peut-être ist Nooteboom wichtig. Aus ihm beziehen
die Briefe an den Gott ihre innere
Dynamik. Es lässt den Zweifel
zu, den der Skeptiker Cees
Nooteboom bekanntlich für die
menschlichste aller Glaubensformen hält.
Kein Wunder also, dass der
Autor sich vor allem mit Fragen
an den Meeresgott wendet: mit
Fragen, die sich, wie es in
einem der Briefe heisst, fast
ausnahmslos um das «Schicksal von Göttern und Menschen» drehen. Nooteboom
ist in der griechischen Mythologie zu Hause, aber er ist auch
katholisch geprägt, wie man
aus früheren Äusserungen von
ihm weiss. Heute, so gesteht er,
spielt sich sein Leben ohne Götter
ab. Die Fragen aber sind geblieben,
die Suche nach «Antworten auf die
Fragen ohne Antwort» hält an. Was bedeuten Götter uns Menschen? Was bedeuten wir Menschen ihnen? Und wie
ist es, ein Gott zu sein, zu dem niemand
mehr betet?
«Wir hätten nie von
Euch lassen dürfen»,
schreibt
Cees Nooteboom und
bringt sein Heimweh
nach Göttern zum
Ausdruck.
Flaschenpost von der Insel
Bewegende Lektüre
BRANDON BOURDAGES / PRISMA
Die Texte, die nun, von Helga van
Beuningen wie immer makellos
übersetzt, auch auf deutsch vorliegen, lassen bald vergessen, welchen Umständen sie sich verdanken. Sie stehen für sich und bedürfen keiner Rechtfertigung. Cees
Nooteboom, dem Weltenerkunder, der
im Winter in Amsterdam und im
Sommer auf Menorca lebt, ist mit
den «Briefen an Poseidon» ein kleines Meisterwerk gelungen, das
sich liest wie die Flaschenpost
eines einsamen Inselbewohners:
Botschaften, die mit keiner Antwort
mehr rechnen.
23 Mal wendet der Autor sich
an den fernen Gott. Und dazwischen eingestreut finden sich
Skizzen und Aufzeichnungen,
die alles und nichts zum Auslöser haben. Es kann ein Stein
sein, der am Wegrand lag,
Seetang, der im Wasser treibt,
der Flügel eines toten Vogels,
das Muster auf einer bröckelnden Mauer, aber auch
ein Foto in der Zeitung oder
Bilder in einem Museum irgendwo auf der Welt. Im Anhang des Buches sind diese
«Auslöser» abgebildet. Aber es
bedürfte dieser Belege eigentlich nicht. Man hat die Zeichen
längst vor seinem inneren Auge
erkannt und folgt dem Autor nur
allzu gern auf seinen einsamen
Streifzügen.
Nooteboom ist zeit seines Lebens viel gereist und hat von
Nooteboom weiss um die Paradoxie seiner einseitigen Korrespondenz. Er unterhält sich mit Poseidon, als ob es ihn
noch immer irgendwo gäbe, und ist
doch gleichzeitig überzeugt, dass Götter
Fiktionen sind und die Geschichten von
ihnen «ein Gedicht, das von euch zu
handeln schien, die ganze Zeit jedoch
nur von uns handelte». Das klingt sehr
aufgeklärt und ist es auch. Und doch
hält Nooteboom ein klein wenig
Raum für den Zweifel offen. Oder,
besser vielleicht, für jenen Anflug
von Heimweh nach den Göttern, der
ihn angesichts ihrer Abbilder
manchmal befällt. «Wir hätten nie
von euch lassen dürfen», heisst es einmal. Denn wir sind zu unvollkommen
geschaffen für die Abstraktion. Wir
brauchen Bilder, die uns das Unerklärliche näher bringen. Indem Nooteboom
sich mit dem Gott unterhält, gibt er ihm
etwas von seiner realen Präsenz zurück.
Es ist dieser schmerzliche Widerspruch,
der die Lektüre seiner Aufzeichnungen
so bewegend macht. ●
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Rainald Goetz unternimmt den Ve rsuch, den Aufstieg und Fall eines Wirtschaftsbosses zu
erzählen – und scheitert
Unterwegs im Volltrottelmodus
Rainald Goetz: Johan Holtrop. Suhrkamp,
Berlin 2012. 342 Seiten, Fr. 28.50.
Von Sieglinde Geisel
JENS RÖTZSCH / OSTKREUZ
So wie sie nach dem Fall der Mauer den
We nderoman herbeisehnte, hofft die Literaturkritik seit ein paar Jahren auf den
Roman zur Finanzkrise. Rainald Goetz’
neuer Roman sieht aus, als wäre er ein
solcher, und so wurde er von den Meinungsführern des Literaturbetriebs bereits vor Erscheinen als eines der wichtigsten Bücher des Herbsts gehandelt.
Mit der Wirtschaft und der Literatur
allerdings ist es so eine Sache: Seit
dem 1998 verstorbenen amerikanischen
Autor William Gaddis, der sein Geld als
PR-Berater eines Konzerns verdiente,
hat wohl kaum ein Schriftsteller die
Sphäre der Chefetagen aus eigener Anschauung näher kennengelernt. Auch
Rainald Goetz dürfte in seinem Schlüsselroman eine We lt beschreiben, die er
nur aus den Medien kennt. Als Vorbild
für seine Titelfigur Johann Holtrop, des-
sen Aufstieg und Untergang der Roman
schildert, dient der ehemalige Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff, eine
bewährte Ikone des Bösen in der Wirtschaft; andere Gestalten aus den Jahren
1998 bis 2010 treten unverschlüsselt auf,
so etwa Gerhard Schröder.
Johann Holtrop ist ein CEO, wie wir
ihn uns vorgestellt haben: immer in Bewegung, immer auf der Flucht, getrieben von der Gier nach Geld, ein «Entscheidungshysteriker», dessen Menschenkenntnis «durch überwertige Egoorientierung auffallend schwach ausgeprägt war». Die Nullerjahre haben ihn
um einige zig Millionen Euro reicher gemacht, «ihm aber die Ehre als Mensch
entrissen», so heisst es am Ende. Goetz
ist ein Autor, der seine Figuren verrät,
«lauter gleiche, sinnlos laute Männer, im
Volltrottelmodus ihrer Grossmännlichkeit» – nur in Ausnahmefällen entstammen solche Kommentare dem Kopf
einer Figur. Ununterbrochen sagt uns
Goetz, wie seine Figuren sind, doch gerade deshalb sind sie nicht. «Er wusste
gar nicht, wie das geht, im Dialog mit
Thomas Middelhoff,
früherer VorstandsVorsitzender von
Bertelsmann, dient
dem Autor Rainald
Goetz als Vorbild
für die Bösen; der
Geschäftsmann hier
2001 im Flugzeug.
seinem Ich zu leben» – heisst es über
Holtrop. Denunziatorisches Schreiben
erzeugt fast immer schwache Literatur:
Wie soll der Leser sich auf Figuren einlassen, aus denen sich der Autor nichts
macht? Seitenlang lässt dieser seinen
Holtrop in der verbalen Ödnis von Aufsichtsratssitzungen hocken («Holtrop
war auf das Gespräch gut vorbereitet,
hatte verschiedene Zielvorgaben für unterschiedliche Gesprächsverlaufsmöglichkeiten definiert, Minimalzielvariante, Ve rhandlungsmasse, Optimum»); der
Turbo-Manager verhandelt mit Chinesen, rast mit Firmenjet und Dienstwagen
durch die We lt, hat nebenbei eine Frau
und vier Kinder, wie es sich gehört. Auf
die Pornos im Pay-TV des Hotelzimmers verzichtet Holtrop. «Er interessierte sich zwar auch für Sexualität, aber
auch für die dem entgegenstehenden
Empfindungen der Scham.»
Womit wir bei der Sprache wären.
Milde ausgedrückt, zeichnet sich Goetz’
Sprache dadurch aus, dass ihre Mittel
dem Gegenstand nicht angemessen
sind. Das Zögern des geschassten Managers Thewe vor einem Schluck aus dem
Flachmann liest sich beispielsweise so:
«Nach einer Zeit des Widerstands gegen
die Anwesenheit des Gedankens der
Möglichkeit dieses nächsten Schlucks
schaute Thewe wieder auf die Uhr.» Zur
Munition, mit der Goetz seinem bisschen Wirklichkeit zu Leibe rückt, gehören Genitivketten, kaum überblickbare
endlose
Schachtelsätze sowie neue
Worte: «absolutistischer Karrierismus»,
«Bodenständigkeitsverblödetheit»,
«ausserbüroliche Wirklichkeiten».
Hier spricht der Wille zum Wilden,
Radikalen, Nervösen, doch das Sprachberserkertum greift nicht, es ist nur
peinlich. Vielleicht soll die kaputte
Sprache uns die «Kaputtheit» (ein Leitwort des Romans) dieser unserer We lt
in aller Grellheit vor Augen führen. Was
dabei herauskommt, ist allerdings nicht
Stil, sondern Gewalt an der Sprache.
Und diese tut einem beim Lesen weh. ●
Die Nominierten
Vielen Dank für das Leben, Sibylle Berg, Hanser Verlag
Ausser sich, Ursula Fricker, Rotpunktverlag
Das Kalb vor der Gotthardpost, Peter von Matt, Hanser Verlag
Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse, Thomas Meyer, Salis Verlag
Aus den Fugen, Alain Claude Sulzer, Verlag Galiani Berlin
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10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
Feuilleton Der jüdisch-österreichische Autor Anton Kuh (1890–1941) war ein brillanter Kopf
Begnadeter Schnorrer aus Wien
Anton Kuh: Jetzt können wir schlafen
gehen! Zwischen Wien und Berlin.
Herausgegeben und mit einem
Nachwort von Walter Schübler.
Metroverlag, Wien 2012. 238 Seiten,
Fr. 28.40.
Von Martin Zingg
«Was ist ein Kaffeehausliterat? Ein
Mensch, der Zeit hat, im Kaffeehaus
über das nachzudenken, was die anderen draussen nicht erleben.» Anton Kuh,
der dieses legendäre Bonmot geprägt
hat, war ein «Kaffeehausliterat» – und
mehr als nur das. Und natürlich war er
aus Wien. Menschen seiner Statur und
Wesensart konnten wohl nur in Wien
gedeihen, der Stadt, der er bereits 1917
«Operettenvertrottelung» attestierte.
In Wien wurde Anton Kuh 1890 geboren, als Sohn einer deutsch-jüdischen
Prager Familie, hier wurde er schon früh
bekannt und berüchtigt als streitbarer
Feuilletonist. Vor allem aber war er berühmt als «Sprechsteller», wie Kurt Tucholsky ihn nannte, als einer, der atemberaubende Stegreifvorträge halten
konnte. Der Sprachvirtuose soll mit
seinen freien, assoziationsgesättigten
Reden ganze Säle gefüllt haben. Daneben, auch das wird in vielen Anekdoten
überliefert, war er ein begnadeter
Schnorrer, einfallsreich aus permanenter Geldnot. Wenn er gelegentlich einer
gewissen «Schreibfaulheit» geziehen
wurde, pflegte er mit dem Satz zu replizieren: «Die wenigsten wissen, dass
auch das Nichtschreiben die Frucht langer und mühseliger Arbeit ist.»
Anton Kuh war begabt mit grosser
polemischer Energie und politischer
Weitsicht. Auf intensive und sehr wortreiche Weise war er beispielsweise verfeindet mit Karl Kraus, der anderen
Grösse auf dem Wiener Feuilletonparkett. Die beiden blieben einander auch
dann in inniger Feindschaft verbunden,
als Kuh es in Wien nicht mehr aushielt
und nach Berlin übersiedelte.
1926 zog Kuh in die andere Metropole,
um «in Berlin unter Wienern statt in
Wien unter Kremsern zu leben». Natürlich blieb er auch hier ein Wiener, er
blieb vor allem ein äusserst kritischer
und witziger Geist, ein unbestechlicher
Chronist jener turbulenten Jahre, die er
nicht nur als Zaungast verfolgte, sondern mit einer rhetorischen Verve kommentierte, die noch heute begeistern
kann.
«Jetzt können wir schlafen gehen!»
heisst eine Sammlung von Feuilletons,
die Walter Schübler kompiliert und
kommentiert hat. Darin wird deutlich,
wie genau Anton Kuh die Physiognomie
seiner Zeit schon sehr früh erkannt und
mit oft beissender Schärfe beschrieben
hat. «Der Deutsche und sein Hut» etwa
ist der harmlose Titel eines Feuilletons:
Auf vier Seiten skizziert Kuh anhand der
Kopfbedeckung das Europa der Nachkriegszeit, aus dem schon bald ein Vor-
kriegseuropa werden wird. 1933 wird der
«Linksler, Exzedent, Schmutzfink der
Aufrichtigkeit», wie er sich selber sieht,
Berlin verlassen müssen. Es verschlägt
ihn kurz zurück nach Wien, öfter und
länger nach Paris und London, später
nach New York.
Man könnte ihn seitenlang zitieren,
diesen wunderbaren Anton Kuh. Etwa
die Auskunft, die er 1927 der «Literarischen Welt» gab, als er nach seinem
Nachleben befragt wurde: «Es gibt nur
eine Form zu überleben – nämlich die,
dass die Leute das Gefühl haben, das
Eigentliche und Wesentliche, das mit
einem gestorben sei, könne in keine
Nachrufformel gefasst werden. Es kann
sich nur in der von Mann zu Mann gehenden Legende erhalten.» Als er dies
schrieb, hatte Anton Kuh noch vierzehn
Jahre zu leben. Und nach seinem Tod in
New York, 1941, reichte es lange Zeit
nicht einmal zur Legende. Überlebt hat
er, mehr unerkannt als gelesen, in einigen Anthologien.
Walter Schübler, der Herausgeber
dieses wunderbaren Auswahlbandes,
plant nun eine Biografie des Autors und
eine Werkausgabe. Beides ist überfällig.
«Anton Kuh, Aufmischer aus Wien.
Mensch gewordener Nerv. Zerplatzender Intellekt», wie eine Zeitung 1920
schrieb, bleibt unbedingt lesenswert,
das belegt auch dieser Band. ●
Vermisste Kunst Zerstört, geraubt, verschollen
Zum Glück schläft der junge Hirtenbub, den der
französische Rokoko-Meister François Boucher im
18. Jahrhundert gemalt hat. Leicht berauscht vom
Alkohol, gewärmt von der Sonne, kann er sich in
paradiesische Gefilde träumen, während sein Bild ein
schreckliches Schicksal erleidet. Eine junger Elsässer
raubte es 1996 aus dem Museum von Chartres. Der
30-Jährige war ein fanatischer Kunstliebhaber und
stahl sich in sechs Jahren an 174 Orten 239 Werke
zusammen. Im November 2001 wurde er in Luzern
gefasst. Bevor die Werke zurückgegeben werden
konnten, warf sie die Mutter des Täters in den RheinRhone-Kanal, manche zerschnitt sie und steckte sie
in einen Müllschlucker. Der Schaden belief sich auf
mehrere Millionen Euro. Unter den unwiederbringlichen Bildern war auch die bukolische Szene
Bouchers. Sie ist eines von zahlreichen Kunstwerken,
von denen wir Kenntnis haben, die uns aber nicht
zugänglich sind. Einige wurden zerstört, manchmal
mit viel öffentlicher Aufmerksamkeit wie die BuddhaStatuen von Bamian, andere verändert. Oder sie
gelten als verschollen. Oder sie sind in Privatbesitz,
und man darf hoffen, sie doch einmal zu sehen. Céline
Delavaux hat vom antiken Diskuswerfer bis zu einer
Skulptur Henry Moores Fälle gesammelt und erzählt
mit ihnen auch eine Geschichte verfehlter Leidenschaften. Dass Cézannes «Knabe mit der roten
Weste» in die Sammlung Bührle heimgekehrt ist,
erfüllt uns mit grosser Freude. Gerhard Mack
Céline Delavaux: Kunst, die Sie nie sehen werden.
Prestel, München 2012, 192 Seiten, 120 Farbabbildungen, Fr. 37.90.
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Belletristik
Roman Der Schweizer Matthias Zschokke erzählt von einem Sonderling, der uns Seite um Seite
mehr ans Herz wächst
Himmeltraurig schönes Ende
Matthias Zschokke: Der Mann mit den
zwei Augen. Wallstein, Göttingen 2012.
244 Seiten, Fr. 28.40, E-Book 19.40.
«Der Mann mit den zwei Augen.» Was
für ein Buchtitel! Bei Poe würde man
sich auf jemanden gefasst machen, der
lediglich aus einem Augenpaar besteht.
Doch wir lesen keine Horrorstory aus
dem neunzehnten Jahrhundert, wir
lesen Zschokke, und da ist alles ein klein
wenig komplizierter. Oder einfacher,
schöner, befremdlicher, wie man will.
Bereits auf den ersten Seiten wird
klar, dass besagter Mann zwar tatsächlich über zwei Augen verfügt, daneben
aber ein ganz gewöhnliches menschliches We sen männlichen Geschlechts ist.
Ein Mann ohne Namen freilich. Ein einziges Mal kommt die Ahnung auf, dass
er ganz gerne Bob heissen würde, im
Übrigen wird er durchweg als «der
Mann mit den zwei Augen» bezeichnet.
In einem telefonisch nach Osteuropa
durchgegebenen Signalement kündigt
er sich so an: «…ich komme im Mantel,
in einem sandfarbenen, und in der linken Hand halte ich voraussichtlich einen
kleinen sandfarbenen Koffer. Ich bin
durchschnittlich gross, habe durchschnittlich kurzes, sandfarbenes Haar.»
Es ist nicht nur die eigene, es ist ebenso
die Haarfarbe seines Friseurs – und die
Frau, mit der er während vieler Jahre in
innigster Fremdheit zusammengelebt
hat, darf man sich «der Einfachheit halber am besten auch gleich sandfarben
vorstellen».
Erotische Grenzerfahrung
Der Selbstmord dieser Frau steht am
Anfang des Buches, das sich in der Folge
in zwei zeitlich verschobenen Erzählsträngen entfaltet. Rapportiert wird
zum einen der Aufenthalt in der geradezu unwahrscheinlich dubiosen Kleinstadt Harenberg, wohin der Mann sich
mehr aus existenzieller Erschöpfung
denn aus Trauer über den Tod der Geliebten abgesetzt hat. Das Städtchen
scheint aus wenig mehr als einem Rotlichtviertel zu bestehen. Tägliche Anlaufstelle für den Mann ist die Bar von
Rosaura. Rosaura ist es, die ihn unter
Einsatz aller weiblichen Mittel von seinem «Cafard» erlöst, mit ihr philosophiert er über seinen Mangel an echten
Gefühlen und seinen Wunsch, «für sich
selbst gehalten zu werden». Ebenso tief
ist seine Sehnsucht nach dem Überschreiten der eigenen Limiten. Auch
hierzu verschafft ihm Rosaura den notwendigen Kontakt, was zu einer ebenso
drastisch wie kalt geschilderten erotischen Grenzerfahrung führt.
In Harenberg hält der Mann sich sein
vergangenes Leben als Gerichtsreporter
in der Hauptstadt vor Augen. Diese in12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
CHARLY RAPPO / ARKIVE.CH
Von Bruno Steiger
Der 57-jährige Berner
Matthias Zschokke
lebt seit 1980 als
Schriftsteller und
Filmemacher in Berlin
(Aufnahme 2010).
geniös platzierten Einschübe machen
den grössten Te il des Buches aus. Imaginiert wird immer wieder das Zusammensein mit der geliebten Frau. Auch
sie hat keinen Namen, und zum vertraulichen Du ist es nie gekommen. «Sie
Hauch, Sie Lüftchen, Sie leichte Brise»;
mit solchen Worten leitet er seine Ansprachen an die Gefährtin ein. Auf einen
Dialog mit den Menschen seiner Umgebung mag er sich nicht einlassen, er beschränkt sich auf bühnenreife Deklamationen, in welchen er vorab seinen Widerwillen gegen alles Ungewöhnliche
zum Ausdruck bringt. Ve rstörenderweise ist es nun gerade das normale Alltagsleben, das sich in seiner Sicht der Dinge
regelmässig zur Groteske verzerrt.
In diesen Passagen kommt Zschokkes
unbestechlicher, immer leicht schielender Blick auf die We lt zu seiner schönsten Ausgestaltung.
In einer heiteren Schwebe
Es ist ein Blick, der ständig zwischen
Entgeisterung und Empörung schwankt.
Darin könnten die zwei Augen des Mannes ganz banal als ein lachendes und ein
weinendes ausgemacht werden. Doch
mit solch wohlfeilen Doppelspurigkeiten begnügt sich Zschokke nicht. Erbarmungslos hält er an einer Unentschiedenheit fest, die sich auf irgendeine Ve reinbarkeit von Gegensätzen nicht einlassen mag.
Dass diese grundsätzliche Indifferenz
eine gespielte, letztlich nur gemimte ist,
macht den immensen Reiz der Prosa
aus. Zschokkes Protagonist traut weder
seinen beiden Augen noch dem, was sie
erblicken. Getrieben vom Ve rdacht,
alles zu Sehende sei eine perverse Abart
von nichts, muss er seinem Bild der
We lt jenen Willen zur schiefstmöglichen Interpretation entgegensetzen, der
es ihm erlaubt, seinen genuinen Unmut
noch in der unverfänglichsten Situation
zu manifestieren. Dabei verbindet er mit
seinem Genörgel weder eine Kritik noch
irgendeine moralisch-ethische Vision;
es geht allein um den Nachweis, dass die
Ve rhältnisse just so zweifelhaft sind, wie
er sie haben möchte.
Dass einem der arme Kerl – als «Empfindungsalbino» bezeichnet er sich
selbst – von Satz zu Satz sympathischer
wird, gehört zu den zahlreichen Rätseln
eines Romans, der alles Geschehen in
einer beklemmend heiteren Schwebe
hält. Das hat zur Folge, dass man das
Buch geradezu gierig verschlingt und
mit stetig zunehmendem Jubel feststellt,
dass dem Autor in keiner We ise daran
gelegen ist, irgend einen seiner Erzählanlässe auch nur annähernd auf den
Punkt zu bringen.
Mit «Der Mann mit den zwei Augen»
ist Matthias Zschokke ein schlankweg
hinreissendes, in seiner Art einzig dastehendes Prosakunstwerk gelungen. Es
mag nicht unbedingt in die heute angesagte Hochleistungsschriftstellerei passen. Umso mehr sieht man sich gehalten, in das zwiefache «Hurra!» einzustimmen, mit dem das Buch sein himmeltraurig schönes Ende findet. ●
E-Krimi des Monats
Profikiller gerät
in Paranoia
Kurzkritiken Schweizer Buchpreis
Alain Claude Sulzer: Aus den Fugen.
Roman. Galiani, Berlin 2012. 230 Seiten,
Fr. 27.40, E-Book 25.90.
Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse.
Roman. Salis, 2012. Fr. 34.90, E-Book 15.90.
Marek Olsberg ist ein Starpianist. Doch
der hektische Musikbetrieb setzt ihm
zu, und eines Abends beendet er in der
Berliner Philharmonie seine Karriere
abrupt. Kurz vor dem Ende von Beethovens Hammerklaviersonate klappt er
den Flügel zu: Das war’s. Um dieses dramatische Ereignis herum drapiert der
Basler Erzähler Alain Claude Sulzer sein
neues Buch. Es erzählt von einem Dutzend Konzertbesuchern, deren Leben
durch den Abbruch der Gala tangiert
wird. Da sind Vertreter von Schickeria
und Geldadel, aber auch etwa der Kellner Lorenz, ein gescheiterter Mathematikstudent, der in einer Potsdamer Villa
unversehens zum Dieb wird. Alain
Claude Sulzer verwebt die einzelnen
Schicksale geschickt, indem er in kurzen
Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven erzählt, ohne je den Fokus zu verlieren. Ein klug komponiertes, zutiefst musikalisches Buch.
Manfred Papst
Mordechai «Motti» Wolkenbruch ist ein
orthodoxer Zürcher Jude Mitte zwanzig,
eine Schickse ist eine attraktive, nichtjüdische Frau, und «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» ist der erheiternde Erstling des Zürcher Texters und Künstlers Thomas
Meyer (*1974), der selbst jüdischen
Glaubens und mit einer Schickse verheiratet ist. Hauptfigur ist Motti, Student
und Teilzeitkraft in der Versicherungsfirma seines Vaters sowie von seiner
Mutter Gepeinigter. Diese will Motti unbedingt unter die Haube bringen. Doch
Motti liebt heimlich eine Schickse. Er
wagt die Emanzipation, was nicht ohne
Folgen bleibt. Wer in Zürichs Kreis 3
lebt, glaubt in dem mit jiddischen Ausdrücken gespickten Text seine orthodoxen Nachbarn zu erkennen. Autor Meyer
sagt, die Geschichte frei erfunden zu
haben, jedoch von Büchern und Beobachtungen inspiriert worden zu sein.
Regula Freuler
Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben.
Roman. Hanser, München 2012. 400 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 20.40.
Ursula Fricker: Ausser sich. Roman.
Rotpunkt, Zürich 2012. 255 Seiten,
Fr. 28.90, E-Book 20.40.
«Vielen Dank für das Leben» ist der
siebte Roman der seit 1996 in Zürich
lebenden Weimarerin. Sie teilt einiges
mit der Hauptfigur dieses Buches,
einem Hermaphroditen/Intersexuellen
namens Toto, u. a. die Herkunft und die
alkoholkranke Mutter. Toto wird 1966 in
der DDR geboren und als Bub definiert
(später tritt er als Frau auf). Von Geburt
an lieblos behandelt, wird Toto zum absoluten Einzelgänger, der eigentlich nur
Gutes tun will. Er wird auf heimtückische Art krank gemacht und stirbt. –
«Vielen Dank für das Leben» ist ein furios geschriebenes Plädoyer für Andersartigkeit. Sein Stilmittel ist in erster
Linie die Ironie, die man aus bisherigen
Texten der Autorin kennt und die mit
fortschreitender Lektüre immer schwerer erträglich ist. Was beeindruckt, ist
die radikale Einsamkeit, mit der das
Buch unterlegt ist.
Regula Freuler
Die 1965 in Schaffhausen geborene Erzählerin Ursula Fricker interessiert sich
für Menschen in Extremsituationen. In
ihrem dritten Roman, «Ausser sich», erzählt sie von einem Architektenpaar in
Berlin, das heftig an seiner Karriere arbeitet, sich insgeheim aber auch ein
Kind wünscht. Doch dann erleidet Sebastian, der Mann, während eines Staus
auf der Autobahn plötzlich eine Hirnblutung. Er überlebt, wird aber zum
Pflegefall. Für seine Frau Katja, die IchErzählerin, ist nichts mehr wie zuvor.
Geduldig sorgt sie für ihren Mann – in
der steten Ungewissheit darüber, was er
überhaupt noch mitbekommt. Sie widmet sich ihm bis zur völligen Erschöpfung und beginnt, sich selbst zu vernachlässigen. Ein quälendes, aber auch
intensives, starkes Buch, das zeigt, wie
wir den Wert des Lebens erst erkennen,
wenn dieses gefährdet ist.
Manfred Papst
Jim Thompson: In die finstere Nacht. Aus
dem Amerikanischen von Gunter Blank
und Simone Salitter. Heyne, München
2012. Fr. 14.90, E-Book 10.90.
«Das Problem mit dem Töten ist, dass
es so leichtfällt. Man kommt an einen
Punkt, an dem man es fast ohne nachzudenken tut. Man tut es quasi, statt
nachzudenken.» Geschrieben wurden
die drei Sätze in den Fünfzigerjahren.
Verfasst hat sie einer, der 1977 starb.
Erst jetzt ist der tiefschwarze Krimi «In
die finstere Nacht» auch auf Deutsch
erschienen.
Der amerikanische Autor Jim
Thompson reisst einen mit seiner fesselnden Schreibe mit in einen Abgrund,
in den man eigentlich nicht einmal hineinblicken möchte, und er lässt einen
mitfiebern mit jemandem, dem man in
seinen schlimmsten Träumen nicht begegnen wollte: mit Charlie Bigger, genannt Little Bigger, Auftragskiller von
Beruf. Der Ich-Erzähler ist klein, brutal
und paranoid, ein monströser Antiheld
und Soziopath, der sich hinter einer
perfekten Fassade versteckt, bis er sein
Spiel so weit treibt, dass er direkt in den
Wahnsinn schlittert.
Bigger hat von einem New Yorker
Gangsterboss den Auftrag gefasst, einen
kleinkriminellen Belastungszeugen aus
dem Weg zu räumen. Keine grosse
Sache, könnte man meinen, für einen
Profikiller, der sich nicht einmal mehr
an die Zahl seiner Opfer erinnern kann.
Doch was wie eine klassische NoirGeschichte beginnt, entwickelt sich
rasch zum Psycho-Thriller. Bigger zieht
als Untermieter im Haus des künftigen
Opfers ein. Er verführt dessen Ehefrau
und spielt seine Rolle, um ein ganzes
Dorf zu blenden – und fühlt sich alsbald
selbst von allen und jedem getäuscht.
Seine Wachsamkeit wird erst zu Misstrauen und dann zur Paranoia. In seinem langen Warten auf den richtigen
Moment verfällt Little Bigger zunehmend, körperlich und geistig. Man leidet mit ihm, bis er schliesslich im Irrsinn ertrinkt.
Zugegeben, es ist eine Sünde, in
einem Buch als Erstes das Ende zu
lesen – und eine noch grössere, hier
und jetzt ein Wort über den Schluss zu
verlieren. Doch es geht nicht anders.
Denn der Schluss ist aussergewöhnlich,
abrupt, etwas verwirrend und sehr endgültig.
Das Tempo steigert sich ins kaum Erträgliche, bis sich die Story zerschmettert und im wörtlichen Sinne nichts
mehr übrig bleibt. Das letzte Kapitel
besteht aus einem einzigen Satz. Fast
scheint es, als habe sich Jim Thompson
nicht schnell genug der eigenen Geschichte entledigen können, die beides
ist: faszinierend und zutiefst abstossend zugleich.
Von Christine Brand ●
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Interview
Der Germanist Peter von Matt steht mit seinem Essayband «Das Kalb
vor der Gotthardpost» auf der Shortlist für den Schweizer Literaturpreis.
Im Gespräch äussert er sich zur Gegenwartsliteratur und zu Problemen
der Kulturförderung. Interview: Manfred Papst
Sennentuntschi
am Paradeplatz
Bücher am Sonntag: Herr Professor von Matt,
seit fünf Jahren gibt es die Beilage «Bücher
am Sonntag», seit fünf Jahren gibt es auch den
Schweizer Buchpreis. Nehmen wir dieses doppelte Jubiläum zum Anlass, die Schweizer Literatur der letzten Jahre ein wenig unter die Lupe zu
nehmen. Ist die Generation der jüngeren Schweizer Autorinnen und Autoren aus dem übermächtigen Schatten von Frisch und Dürrenmatt
herausgetreten?
Peter von Matt: Was heisst da Schatten? Sonne
sollte es heissen! Die Schweizer Autorinnen
und Autoren haben von den zwei Berühmten
gewaltig profitiert. Dank ihnen wurde die
Schweizer Literatur im ganzen Sprachraum ein
Thema. Es gab eine hohe Aufmerksamkeit für
neue Namen. Eine Zeitlang rissen sich die deutschen Verlage förmlich um junge Schweizer.
Peter von Matt
Der 1937 geborene Schweizer Germanist Peter
von Matt zählt zu den bedeutendsten Vertretern
seines Fachs. Mit Büchern wie «Liebesverrat»,
«Verkommene Söhne, missratene Töchter»,
«Die Intrige» und «Das Wilde und die Ordnung»
hat er weit über Fachkreise hinaus gewirkt. Von
Matt war von 1976 bis 2002 Ordinarius für
Neuere Deutsche Literatur an der Universität
Zürich.
Im Frühjahr 2012 ist bei Hanser sein neues Buch,
«Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur
und Politik der Schweiz» erschienen (368
Seiten, Fr. 29. 90). Die verstreut erschienenen
Beiträge aus zwei Jahrzehnten werden vom
grossen Klammer-Essay «Die Schweiz zwischen
Ursprung und Fortschritt» zusammengehalten.
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
Seither konnte sich ein Schriftsteller hier ganz
anders entwickeln als etwa in der Zwischenkriegszeit. Und man darf nicht vergessen, dass
die zwei Berühmten auch viel taten für junge
oder abgedrängte Autoren.
Man spricht aber immer von den zwei Riesen, die
alle andern zu Zwergen machen.
Das ist ein Problem unserer Öffentlichkeit.
Diese denkt in Goldmedaillen und Nobelpreisen, der Rest ist Güsel. Federer oder gar nichts.
Was wir aber brauchen, ist eine blühende und
wuchernde Literaturlandschaft. Talente wollen
ein Biotop. Das haben wir heute tatsächlich.
Und noch immer finden die Bücher von Schweizern eine wache Aufmerksamkeit auch in
Deutschland.
Sie glauben wirklich, dass sich die Deutschen für
die Schweiz und für ihre literarische Produktion
interessieren?
Mehr jedenfalls als die Österreicher. Erstaunlich viele Deutsche sind stolz darauf, SchweizKenner zu sein. Aber natürlich besitzen die
Deutschen mit ihrer jüngeren Geschichte geradezu ein Bergwerk von literarischen Stoffen
und Themen. Denken Sie nur an die WendeRomane, die Ossi-Wessi-Konflikte. Solches
fehlt uns. Die wuchtigen Plots liegen hier nicht
auf der Strasse. Und da weicht man dann gerne
auf Introspektionsgeschichten aus, Schema: ich
und mein Innenleben. Macht aber meistens die
Geiss nicht feiss.
Das heisst, dass die Schweiz zu langweilig ist für
aufregende Literatur?
In der Sache ist sie es nicht. Aber es fehlen vielleicht die literarischen Muster und Modelle, um
die brisanten Konfliktzonen der heutigen
Schweiz künstlerisch zu erfassen. Dürrenmatts
Verfahren der Steigerung ins Groteske ist nicht
wiederholbar. Frischs gnadenloses Sezieren der
bürgerlichen Lebensillusionen setzte ein entsprechendes Bürgertum voraus, solide, machtbewusst und traditionsfixiert. Das gibt es nur
«Das Stück, das uns
übermorgen den Atem
verschlägt, kennt niemand,
keiner kann es voraussagen.
Plötzlich ist es da, und alles
ist anders.»
noch in Randzonen. Von dort aus wird allerdings immer noch auf Frisch geschossen: nostalgische Folklore. Die wirtschaftliche Macht ist
heute globalisiert. Wir leben unter der Diktatur
der «Märkte», einer Diktatur ohne Gesicht. Die
«Märkte» sind heute das, was einst für die Menschen die Geister und Gespenster waren. Vielleicht brauchen wir Autoren, die neue Geistergeschichten schreiben – Sennentuntschi am
Paradeplatz.
Also ist unsere Literatur der Gegenwart grundsätzlich nicht gewachsen?
Das darf man nicht sagen. Die Schöpferkraft ist
unberechenbar. Das Stück, das uns übermorgen
den Atem verschlägt, kennt niemand, keiner
kann es voraussagen und kein Informatiker
kann es extrapolieren. Das ist das Ungeheuerliche an der Kunst. Plötzlich ist sie da, und alles
ist anders.
DAN CERMAK
«‹Das beste Buch› ist ein absurder Begriff. Es gibt keine absolute Qualitätsskala für Bücher», sagt der Germanist Peter von Matt.
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Interview
DAN CERMAK
duziere deshalb selbstverliebt an den Bedürfnissen des Publikums vorbei. Was sagen Sie zu
diesem Vorwurf?
Das ist ein sehr komplexes Problem. Die pauschalen Lösungsvorschläge taugen nichts. Es
gibt die darwinistische Position: We r gut ist,
setzt sich durch und prosperiert; wer nicht gut
ist, säuft eben ab und soll sich verziehen. Als
Beispiele werden stets Frisch und Dürrenmatt
vorgebracht. Aber Dürrenmatt war lange auf
die Unterstützung seiner Freunde angewiesen,
war auch ein Genie im Anpumpen, und für
Frisch war das freie Amerikajahr durch die
Rockefeller-Stiftung 1951/52 die Befreiung. Hier
entstand die Urform des «Stiller». Auch Gottfried Keller hätte den «Grünen Heinrich» und
die Seldwyler Novellen ohne das Stipendium
der Zürcher Regierung nie geschrieben. Was
die Schweiz für die Literatur ausgibt, ist ein
Göttibatzen verglichen mit den Ausgaben allein
für die Milchproduktion, obwohl man ja auch
bei dieser sagen könnte: We r gut ist, setzt sich
durch.
Peter von Matt, emeritierter Literaturprofessor, am 12. September 2012 in der Nähe seiner Wohnung in Dübendorf.
Welche Werke sind Ihnen in den letzten Jahren
besonders aufgefallen?
Ich kann nicht alles lesen und habe auch keine
Lust dazu. Wie es ein Buch schafft, auf die
Dauer die andern zu überragen, ist immer noch
ein Geheimnis. Es wurden neue Selektionsverfahren erfunden: die jährlichen Buchpreise in
Frankfurt, in Leipzig und in Basel. Diese Jahrespreise sind nützlich, weil sie Aufmerksamkeit
schaffen. Sie sind aber auch eine Gefahr. Sie
verkürzen die Aufmerksamkeitsstrecke. Was
nicht sofort aufstrahlt, fällt durch die Latten.
Wie lange hat ein «Ulysses» gebraucht, wie
lange ein «Mann ohne Eigenschaften», bis der
Rang erkannt wurde! Man sollte irgendwann
auch Preise für längere Strecken schaffen, einen
Jahrzehntpreis zum Beispiel, verliehen in jedem
Jahr mit einer Null am Schluss, für die faszinierendsten We rke der letzten zehn Jahre. Das
wäre durchaus einen Ve rsuch wert. Und aufregend.
An welche Bücher denken Sie denn?
Bei jedem Namen, den ich nenne, kommt mir
ein anderer in den Sinn, der die Nennung ebenso verdient. Es gibt ja keine absolute Qualitätsskala für Bücher. Die Illusion, dass es das gebe,
wird durch die Jahrespreise leider gefördert.
«Das beste Buch» ist ein so absurder Begriff
wie «das beste Tier». Aber es passiert mir von
Zeit zu Zeit, dass ich beim Lesen denke: Dieses
Buch sollte länger bleiben. Es sollte die Chance
haben, ein paar Jahre diskutiert zu werden.
Bitte nennen Sie uns doch Namen.
Um zwei Beispiele von mehreren herauszugreifen: Im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts sind
erschienen «Pomona» von Gertrud Leutenegger und «Muster aus Hans» von Eleonore Frey,
zwei Romane, die von unheimlichen Grenzsituationen und Grenzexistenzen erzählen. In einer
eigenartigen Mischung von Diskretion und Unverblümtheit übersetzen sie private Lebenswirklichkeit in starke Bilder. Ein autistisches
Kind wächst bei Frey in den Rang einer wildautonomen Existenz, zerstörter Leib und zer16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
störte Liebe werden bei Leutenegger in eine
magische Spannung gesetzt zur alljährlich wiederkehrenden Herrlichkeit der Früchte. Beides
ist mir lange nachgegangen.
Das Bundesamt für Kultur hat in Konkurrenz
zum Schweizer Buchpreis, der in Basel verliehen
wird, einen neuen Preis ausgelobt, der alle vier
Landessprachen berücksichtigen soll. Kann das
funktionieren, oder sind politische Entscheide
programmiert?
Man hätte den «Grossen Preis der Schweizerischen Schillerstiftung», so hiess er eigentlich,
«Die Schweiz braucht eine
vielfältige Literaturlandschaft. Wer diese will, muss
auch ein paar Brennnesseln
und Schmarotzerpflanzen in
Kauf nehmen.»
nicht liquidieren dürfen. Er war der Schweizer
Büchnerpreis, eine Krönung für wenige, aber
bis in die frühen Neunzigerjahre ein Schlüsselereignis unserer Kultur. Dann hat man ihn irgendwie zerfallen lassen. Die Medien haben ihn
nur noch lustlos begleitet. Zum Te il wussten sie
gar nicht mehr um seine Bedeutung. Dass man
ihn bei seiner letzten Ve rleihung auf zwei Autoren aus der Deutschen und der Italienischen
Schweiz aufgeteilt hat, war ein deutliches Zeichen, dass von nun an der Proporz regiert. Gewiss haben ihn beide verdient, Bichsel und
Orelli, aber grosse Preise erfordern den Mut
zur Entscheidung. Das gibt ihnen den Glanz.
Ich habe gelesen, dass man sich für den neuen
Preis bewerben könne. Das wäre deprimierend.
Oft hört man den Vorwurf, die Schweizer Gegenwartsliteratur werde von der öffentlichen wie
privaten Kulturförderung verhätschelt und pro-
Und die anderen Pauschallösungen?
Sie laufen auf eine offene oder versteckte Lebensrente hinaus. Das geht auch nicht. Und das
gibt es auch nicht. Das Einkommen der Schriftsteller setzt sich heute sehr unterschiedlich zusammen. Die staatliche Förderung ist ein Faktor unter vielen. Ein wichtiger Te il sind die Lesungen. Daneben gibt es die journalistische
Arbeit und private Förderung durch Stiftungen,
auch handfeste Berufsarbeit anderer Art oder
durch die Lebenspartner. Ein Honigschlecken
ist es nie. Wichtig ist: Das Land braucht eine
vielfältige Literaturlandschaft. Ohne Literatur
und Kunst fehlt der Schweiz eine Hirnhälfte.
Und wer diese Landschaft will, muss eben auch
ein paar Brennnesseln und da und dort eine
Schmarotzerpflanze in Kauf nehmen. We nn wir
unsere Parlamente wählen, halten wir es ja
auch so.
In den vergangenen Jahren haben in der Schweiz
Mundart-Autoren wie Pedro Lenz, Guy Krneta
und andere viel Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.
Ist das eine Chance, oder besteht die Gefahr der
Provinzialisierung?
Dieser Erfolg ist wesentlich verbunden mit der
Performance. Seit dem Aufkommen der PoetrySlams haben sich die szenischen Präsentationen von Literatur vervielfacht. In Deutschland
ist die Lyrik heute stark damit verknüpft. Die
Dialektautoren setzen in der Performance stark
auf die akustischen Reize der Mundart. Die
Te ndenz, diese zu forcieren, ist unverkennbar.
Ich nenne das den Totemügerli-Effekt, in Anspielung auf Hohlers Geniestreich. Oft dichtet
mehr der Dialekt als die Dichter. Aber es hat
immer herausragende Mundarttexte gegeben in
der Schweiz, es gibt sie auch heute. Provinz ist
das nicht.
Gibt es in der heutigen Schweizer Gesellschaft
mit ihrem Kulturangebot überhaupt noch einen
Platz für Lyrik?
Das Interesse ist da. Viele lesen und lieben Gedichte. Aber die Lyrik ist das Stiefkind im Literaturbetrieb. Es gibt bei uns keine öffentliche
Erwartung auf den neuen Gedichtband. Auch
wenig Möglichkeiten zur Präsentation und Diskussion. Die Frauenfelder Lyriktage sind eine
tapfere Ausnahme. Dabei hat die Schweiz zur
deutschen Lyrik We sentliches beigetragen.
Aber es bessert. In Tages- und Wochenzeitungen erscheinen vermehrt Gedichte. Namen wie
Raphael Urweider, Lisa Elsässer, Jürg Halter
oder Katharina Lanfranconi, nicht zuletzt auch
Nora Gomringer, die Tochter des grossen
Eugen, beweisen, dass das Gedicht lebt und sich
nicht unterkriegen lässt. l
Kolumne
Charles Lewinskys Zitatenlese
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Lesen ist für den Geist,
was Freiübungen für
den Körper sind.
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Soeben ist
im Unionsverlag sein
neues Buch «Bühne
frei!» erschienen, das
er mit Bruno Hitz
herausgegeben hat.
Kurzkritiken Sachbuch
Franziska Rogger, Madeleine HerrenOesch: Inszeniertes Leben. NZZ Libro,
Zürich 2012. 379 Seiten, Fr. 52.90.
Georg Brunold: Traumberuf. Erzählung
vom Journalistenleben. Echtzeit, Basel 2012.
219 Seiten, Fr. 29.–.
Leander Tomarkin war ein begnadeter
Hochstapler. Der 1895 in Zürich geborene Sohn eines immigrierten russischen
Mediziners verstand es meisterhaft, sich
als genialen Erfinder und Forscher, Arzt
und Menschheitsbeglücker auszugeben,
seine Pülverchen als Wundermittel zu
verkaufen und viel Geld amerikanischer
Investoren in diversen Konkursen zu
versenken – ohne je auch nur ein Gymnasium oder Studium absolviert zu
haben. Ob ein letztlich bedeutungsloser
Pleitier und Bluffer die akribische Entzauberungs-Arbeit von zwei renommierten Schweizer Historikerinnen
wirklich verdient, mag man sich zwar
fragen. Doch die detektivische biografische Erforschung Tomarkins, seines
weitverzweigten Beziehungsnetzes und
seines leichtgläubigen Publikums, stellt
zweifellos dar, was die beiden Autorinnen anstrebten: ein aufwendiges Lehrstück historischer Wahrheitsfindung.
Kathrin Meier-Rust
Georg Brunold, 59, war von 1987 bis 1995
Redaktor und Afrika-Korrespondent der
NZZ, später Redaktor beim «Du». Seit
2005 lebt er als freier Autor, Übersetzer
und Essayist mit seiner afrikanischen
Frau und zwei Kindern in Nairobi. In
seinem mit 10 000 Bänden gefüllten
Haus an der Mvuli Road war auch schon
Hans Magnus Enzensberger zu Gast.
Brunolds Reportagen aus dem arabischen Raum und Afrika sind brillante
Erzählstücke, die in acht Sprachen übersetzt wurden. Und sein Reportagenband
«Nichts als die We lt» (2009) war ein
Bestseller. Nun legt er eine Art Autobiografie mit Notizen über den Medienzirkus vor, der von «hochkultivierten Eitelkeiten, Eifersüchteleien und Neid» lebe.
Treffende, selbstironische und oft ätzende Beobachtungen eines Autors, der von
seinen Kollegen als «Schwieriger» beschrieben wird und sich etwas häufig
selber zitiert.
Urs Rauber
Benedikt von Tscharner: Inter Gentes.
Staatsmänner, Diplomaten, Denker.
Editions Penthes, Genf 2012. 400 S., Fr. 18.–.
Wilhelm Schmid: Unglücklich sein.
Eine Ermutigung. Insel, Berlin 2012.
103 Seiten, Fr. 12.90.
35 Porträtskizzen bedeutender Schweizer Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben hat der ehemalige Botschafter Benedikt von Tscharner in seinem
Lexikon gesammelt. Es umfasst nicht
nur Diplomaten, sondern auch Staatsmänner, politische Denker und Autoren.
«Jede Auswahl ist willkürlich», schreibt
der Autor, und so finden sich bekannte
Namen, wie Henry Dunant, Denis de
Rougemont, Carla Del Ponte – aber auch
weniger bekannte wie Emer de Vattel,
Gustave Moynier oder Max Huber. Auf
jeweils wenigen Seiten wird das We sentliche eines Lebenslaufes zusammengefasst, eine Bleistiftskizze zeigt
den Kopf des Porträtierten, einige Bücherhinweise bilden den Schluss jedes
Kapitels. Ein lehrreiches Nachschlagewerk über Schweizer, die für die guten
Beziehungen zwischen den Völkern –
«inter gentes» – gearbeitet haben.
Geneviève Lüscher
Endlich. Nach Dutzenden von Büchern
und Ratgebern zum Glücklichsein erscheint ein Buch über das ganz normale
Unglücklichsein. Und das vom AlltagsPhilosophen Wilhelm Schmid, dem wir
mehrere kluge Bücher über Glück und
Lebenskunst verdanken. Doch nun wendet er sich ab von der «Diktatur des
Glücks» unserer Zeit und den ebenso
masslosen wie illusionären Ansprüchen,
die sie nährt. Dass Luxus ein vergeblicher Ve rsuch ist, Glück materiell zu zementieren, dass nicht Zufriedenheit,
sondern letztlich immer Unzufriedenheit zum Aufbruch führt und damit ins
Glück; dass Melancholie eine «Seinsweise der Seele» ist, die zum Menschen
gehört und vor allem: dass kein Glück je
Sinn ersetzen kann – wir wissen es eigentlich. Doch Wilhelm Schmid sagt uns
die schlichte Wahrheit ganz besonders
schön, erfahrungssatt und eindringlich.
Kathrin Meier-Rust
Joseph Addison
… und zwei und drei und vier und auf
und ab und auf und ab, und dann Anlauf
und mit Grätsche über die nächste Metapher! Sehr schön! Und jetzt runter und
durch das Wortgestrüpp robben! Vorsicht, nicht an den Neologismen hängen
bleiben! Schön auf der Satzspur bleiben
und nicht schlapp machen, sonst verordne ich euch eine Extrarunde «Finnegans Wake». Brav, sehr brav.
Und jetzt alle tief durchatmen und
zur Erholung in ganz lockerem Joggingtempo durch das Nebensatzlabyrinth. Und Konjunktion und Konjunktion und …
Was ist denn mit Ihnen los, Hugentobler? Was sagen Sie? Über einen
Druckfehler gestolpert? Mit solchen
Ausreden müssen Sie mir nicht kommen! Sie wissen ja nicht mal, wie man
Analphabet buchstabiert!
Und legen Sie endlich Ihre nordischen Wanderstöcke weg, wir lesen
doch hier nicht Hamsun!
Und jetzt – Achtung, Abschnitt!
Nicht darüber stolpern! – wieder
Te mpo aufnehmen und mit Vollgas
durch die nächste Landschaftsbeschreibung! Ja, ich weiss, ich bin ein Sklaventreiber, aber Sie werden mir dankbar
dafür sein, glauben Sie mir. Die Stelle,
die jetzt kommt, ist so was von langweilig, da sind Sie froh, wenn Sie sich
nicht allzu lang damit …
Hugentobler! Sie schummeln ja! Sie
haben zwei ganze Zeilen übersprungen!
Mindestens zwei Zeilen! Das ist doch
hier kein Arztroman, wo es nicht so
drauf ankommt! Wir trainieren hier für
die Eidgenössische Literatur-Tour!
Hier beisst man sich durch! Von der
Stirne heiss rinnen muss der Schweiss!
Oder wollen Sie den ganzen Ve rein
blamieren? Was? Zu anstrengend? Dann
warten Sie mal ab bis nächste Woche!
Da steht Schopenhauer auf dem Trainingsplan. Da werden vielleicht Ihre
Synapsen japsen! Auf den Muskelkater
in Ihren unterentwickelten Hirnzellen
können Sie sich schon mal einstellen.
Also, Hugentobler, noch einmal zurück und diesmal keinen einzigen
Buchstaben auslassen. Die anderen
dürfen am Kapitelende schon mal mit
den Dehnungsübungen beginnen.
Und linke Hirnhälfte und rechte
Hirnhälfte, und noch mal links und
rechts, links und rechts, und jetzt zur
Entspannung an gar nichts denken!
Aha, das kann er, der Hugentobler, im
An-gar-nichts-Denken ist er ein ausgesprochenes Naturtalent.
Also dann, bis zum nächsten Mal,
und zwar bitte pünktlich und mit
aufgeschlagenen
Büchern. Und Sie,
Hugentobler, probieren
es vielleicht besser mit
Makramee!
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Antike Wie eine Schlacht in Nordafrika über das Schicksal Europas entschied: Bei Zama im heutigen
Tunesien verlor der Karthager Hannibal gegen die römischen Legionen unter Scipio
Rom im Würgegriff
Robert Garland: Hannibal. Das
gescheiterte Genie. Zabern,
Darmstadt 2012. 160 Seiten, Fr. 28.90.
Von Geneviève Lüscher
«Hannibal ante portas!» – Hannibal
steht vor den Toren, gemeint ist: vor den
Toren Roms. Dieser Schreckensschrei,
ausgestossen von den Stadtrömern, subsummiert, was Italien Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. in Panik versetzte: die
Feldzüge des Karthagers Hannibal.
Noch nie war die Stadt am Tiber durch
ein fremdes Heer belagert worden. Rom,
die Weltmacht, hatte im Gegenteil bis
anhin nur expandiert, war selber in
fremde Gebiete eingedrungen und hatte
sie zu Kolonien gemacht. Nun drohten
ihr Schmach und Untergang. Es sollte
nicht so weit kommen, der grosse Feldherr, später Vorbild Napoleons und
Lieblingsheld von Sigmund Freud,
machte einen entscheidenden Fehler.
Robert Garland, Altertumswissenschafter an der Colgate Universität in
New York, hat eine Biografie Hannibals
vorgelegt, die nun auch auf Deutsch erschienen ist. Garland ist allerdings
weder Hannibal-Spezialist noch Militärhistoriker, wie er im Vorwort selber bekennt. Er habe kein Buch mit neuen Forschungsergebnissen für die Fachwelt
Hannibal (247–183)
Hannibal wird 247 vor Christus, mitten
im Ersten Punischen Krieg gegen Rom, in
Karthago geboren. Erst 26-jährig übernimmt er den Oberbefehl über die
karthagische Armee und zettelt 218 den
Zweiten Punischen Krieg an. Im gleichen
Jahr zieht er mit seinem Heer, darunter
37 Kriegselefanten, von Spanien aus über
die französischen Alpen nach Italien und
schlägt die Römer bei Cannae.
Im Jahr 211 steht er vor den Toren Roms.
Der Krieg verlagert sich nach Nordafrika,
wo Hannibal 202 in der Schlacht bei
Zama unterliegt. Es ist das Ende des
Zweiten Punischen Krieges. Die nächsten
zwanzig Jahre ist er auf der Flucht und
entzieht sich der Gefangennahme im
Jahr 183 durch Selbstmord.
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
geschrieben, sondern eine Lebensbeschreibung für das breite Publikum. Das
erklärt beispielsweise, warum er sich bei
der Beschreibung des berühmten Alpenübergangs mit den Kriegselefanten
nicht in den vielen Spekulationen über
den Wegverlauf verliert, sondern den
roten Faden – das Leben seiner Figur
von der Wiege bis zur Bahre – immer
schön im Auge behält. Und dieses Leben
«voller unübertroffener Triumphe und
kolossaler Fehltritte», ein Beispiel
«grandiosen Versagens», hat den Biografen schliesslich so fasziniert, dass er
am Schluss «in Ehrfurcht vor ihm» gestanden sei.
Allerdings, und damit beginnt Garland seine Quellenkritik, gebe es so gut
wie keine sicheren Kenntnisse über den
Mann Hannibal. Er hinterliess selber
keine Schriften, und die besten Quellen
stammen aus der Hand der beiden römischen Historiker Livius und Polybius,
die selbstverständlich Partei waren und
hauptsächlich von den Auseinandersetzungen mit Rom berichteten. Archäologische Funde sind spärlich.
Feldherr mit Bildung
Hannibal wurde als Kind einer der bedeutendsten punischen Familien 247 v.
Chr. in Karthago geboren. Bereits sein
Vater Hamilkar war Feldherr, hatte allerdings gegen die Römer im Ersten Punischen Krieg verloren. Hannibal genoss
eine gute Erziehung, sprach neben seiner semitischen Muttersprache, dem
Phönizischen, fliessend Griechisch und
weniger fliessend Latein und angeblich
etwas Keltisch. Über sein Aussehen
wird gerätselt: Eine Silbermünze trägt
sein undeutliches Porträt, und in Neapel
existiert ein vorgeblich Hannibal darstellender Marmorkopf, der aber gemäss
neueren Forschungen aus der Renaissance stammen könnte. Hannibal heiratete eine Spanierin namens Imilce; von
Nachkommen ist nichts bekannt.
Das durch die Phönizier gegründete
Karthago, heute in Tunesien, war eine
wohlhabende Stadt, einer der wichtigsten Handelsstützpunkte am Mittelmeer.
Es kontrollierte unter anderem Nordafrika, Südspanien und Sizilien, das im
Ersten Punischen Krieg an die Römer
verloren ging. Über Politik und Verwaltung sowie die sozialen Strukturen
Die legendäre Alpenüberquerung mit den Kampfelefanten im
Hannibals
m Jahr 218 v. Chr. verhalf Hannibal zu unvergänglichem Ruhm.
weiss man wenig. Laut Aristoteles soll
die Regierungsform eine Mischung aus
Monarchie, Oligarchie und Demokratie
gewesen sein. Es war jedenfalls der
Senat, der Hannibal 221 v. Chr. zum
Heerführer wählte, das Volk hat die
Wahl bestätigt.
UNIVERSAL HISTORY ARC / PRISMA
Grossartig gescheitert
Hannibal zog nach Spanien, um dort den
karthagischen Einfluss zu festigen und
auszuweiten. Unweigerlich kam es zur
Konfrontation mit den Römern, die dort
einige Legionen stationiert hatten. Hannibal beschloss, Rom anzugreifen. Für
die Küstenstadt Karthago wäre ein Angriff mit der Flotte naheliegend gewesen, aber der findige Heerführer liebte
die Überraschung und wählte einen anderen We g: von Südspanien entlang der
Küste nordostwärts, dann über die
Alpen! Hannibal liess die Flotte während seines ganzen Italienfeldzuges
links liegen, nach Garland «einer der
Hauptgründe für sein Scheitern».
Der Zug über die Alpen im späten
Herbst des Jahres 218, dazu noch mit
37 Kriegselefanten, war ein kluger
Schachzug, dem auch die römischen
Historiker später uneingeschränkte Bewunderung zollten. Nicht nur die logistischen Probleme müssen gewaltig gewesen sein – Nahrung für die Soldaten,
die Reittiere und Elefanten, Unwegsamkeit im Gebirge, Überfälle durch lokale
Stämme, We tterunbill –, Hannibal meisterte alle mit Bravour.
Der genaue We g Hannibals ist nicht
bekannt, sechs verschiedene Pässe kommen für den Übergang in Frage. We lches
der richtige war, ist noch heute Gegenstand vieler Diskussionen und Untersuchungen im Gelände. Entscheidende
Hinweise – Elefantenknochen oder mindestens punisches Kriegsgerät – sind bis
heute nicht gefunden worden.
Für die 1500 Kilometer lange Strecke
von Spanien bis in die Poebene brauchte
der Heerführer etwa fünf Monate, er
verlor viele Männer, die Elefanten sollen
jedoch alle überlebt haben. Mit dieser
Alpenquerung wurde der Stoff für zahlreiche Legenden geboren – Robert Garland hat dem Thema des Nachlebens ein
eigenes Kapitel gewidmet.
Die Römer waren schockiert über die
Richtung, aus der sie angegriffen wur-
den, und über die Schnelligkeit, mit der
Hannibal sich fortbewegte. Siegreich
zog der punische Feldherr durch Italien.
Warum er an Rom vorbeizog, obwohl er
es vermutlich hätte einnehmen können,
darüber wird unter Militärhistorikern
noch heute gestritten. Es war sein grösster Fehler, hier verpasste er die einmalige Chance, die Macht Roms entscheidend zu schwächen, wenn nicht gar zu
brechen.
Der Zweite Punische Krieg dauerte
insgesamt 15 Jahre. Hannibals Heer
schrumpfte, der Nachschub aus Karthago blieb aus, ausseritalische Kriegsschauplätze wurden wichtiger, zudem
wendete sich das Blatt zugunsten der
Römer: Sie siegten unter Scipio in Spanien. Schliesslich führte der römische
Feldherr 204 v. Chr. seine Legionen nach
Nordafrika. Hannibal musste reagieren
und schiffte seinerseits ein, obwohl der
karthagische Senat ihn als Feldherrn abgesetzt hatte. Bei Zama, westlich von
Karthago, kam es im Jahr 202 schliesslich zur alles entscheidenden Schlacht
zwischen Scipio und Hannibal, dessen
Heer vollständig aufgerieben wurde.
Die Zukunft der Mittelmeerwelt war
entschieden, Rom wurde Grossmacht:
«Es ist zu einem guten Te il Hannibals
Niederlage bei Zama zu verdanken, dass
wir heute Erben der griechischen und
römischen Kultur sind», schreibt Garland. Wir würden sonst statt Französisch oder Italienisch eher eine semitische Sprache sprechen …
Von nun an wird das Bild von Hannibals Leben in den Schriftquellen immer
verschwommener, schreibt Garland. Er
wurde Politiker in seiner Heimatstadt
Karthago und zeigte dabei laut seinem
Biografen «unglaubliche Energie, Klugheit und Treue». Er reformierte Gesetzgebung und Finanzen der Stadt. Der
römische Senat jedoch forderte seinen
Kopf, und so war Hannibal den Rest
seines Lebens auf der Flucht. Sein
We g führte über Kreta nach Armenien
und Kleinasien, wo er sich in Libyssa,
30 Meilen östlich von Istanbul, im Jahre
183 mit 62 Jahren vergiftete.
«Die Tragik seines Lebens», meint
Robert Garland am Schluss seines leicht
lesbaren und lesenswerten Buches, bestehe darin, «dass er nicht auf der Höhe
seines Ruhmes verstarb.» l
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Vatikan Gestohlene Briefe decken Intrigen und Machtkämpfe in der katholischen Kirche auf
Beschwipste Jungfrauen
zum Nachtisch
geheimen Briefe aus dem Schreibtisch
von Papst Benedikt XVI. Piper,
München 2012. 416 Seiten, Fr. 29.90.
Von Patricia Arnold
In Italien wurde das Buch von Gianluigi
Nuzzi sofort ein Bestseller. 250 000 Exemplare gingen innerhalb von drei Monaten über den Ladentisch. Das ist sehr
viel in einem Land, in dem wenig gelesen wird. Die Italiener sind vertraut mit
den Gerüchten über Intrigen und Korruption im Vatikan, schliesslich liegt der
Kirchenstaat mitten in Rom. Zudem gilt
die Allianz zwischen italienischen Politikern und geistlichen Würdenträgern
als «unheilig». In seinem Buch veröffentlicht der Journalist und Autor Gianluigi Nuzzi nun Dokumente, die diese
Kumpanei schwarz auf weiss belegen
und manche vatikanische Heimlichkeit
aufdecken.
Umgekehrt gilt aber auch: Bei italienischen Affären und Skandalen mischt
die katholische Kirche immer irgendwie
mit. Das gilt vor allem für die päpstlichen Banker, die für den reibungslosen
Transfer der üblichen Bestechungsmillionen sorgen. Seite um Seite finden sich
Belege für unehrenhafte Ve rwicklungen
und komplizenhaftes Ve rhalten beider
Seiten. Doch die vielen Namen und Fakten können den Leser auch leicht überfordern. Er verliert irgendwann den
Überblick und fragt sich: We r klüngelt
hier eigentlich mit wem und wozu?
Unterhaltend sind dagegen die amüsanten Einblicke in das Privatleben des
Papstes, leider gibt es davon zu wenige.
«Beschwipste Jungfrauen» taufte Benedikt XVI. sein Lieblingsdessert: das sind
weiche, in Alkohol getränkte Muffins.
Meistens jedoch, so Nuzzi, nimmt der
Oberhirte ausgesprochen karge Mahlzeiten zu sich; Gäste lädt er nur selten
dazu ein.
Pannen und Peinlichkeiten überschatten das Pontifikat des deutschen
Theologieprofessors Joseph Ratzinger.
Dabei ist es vor allem der Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone, dem
immer wieder unverzeihliche Fehler unterlaufen. So hatte dieser seinerzeit versäumt, den Heiligen Vater über den Lefebvre-Bischof Richard Williamson aufzuklären, so dass Benedikt XVI. die Exkommunikation des Bischofs aufhob,
obwohl Williamson in einem Fernsehinterview vehement den Holocaust geleugnet hatte.
Papst Benedikt
XVI. mit seinem
Kammerdiener Paolo
Gabriele (vorne links),
12. November 2008.
ROPI
Gianluigi Nuzzi: Seine Heiligkeit. Die
In persönlichen Briefen an Benedikt
XVI. beklagten sich Geistliche bitter
über Entscheidungen des Kardinalstaatssekretärs und forderten sogar dessen Entlassung. Joseph Ratzinger hält
jedoch an seinem wichtigsten Mitarbeiter in der Ve rwaltung der katholischen
Kirche fest. Er versetzte auf Anraten
Bertones sogar einen Geistlichen, der
Ve rschwendung und Korruption im Kirchenstaat aufgedeckt hatte. Der Betroffene selbst wollte weiter im Vatikan arbeiten und nicht in die USA abgeschoben werden.
Seinem Informanten, der ihm wie in
einem Spionagethriller Kopien der geheimen Dokumente aus dem päpstlichen Arbeitszimmer zusteckte, gab
Nuzzi den Decknamen «Maria». Nur ein
sehr kleiner Kreis engster Ve rtrauter
hat ungehindert Zutritt zu den Privaträumen des Papstes. Einer von ihnen
war bis zu seiner Ve rhaftung im Frühjahr der Kammerdiener Paolo Gabriele.
We gen Diebstahls muss er sich zurzeit
vor vatikanischen Richtern verantworten. We r die Komplizen des Butlers
waren, verrieten bislang weder der Vatikan noch Nuzzi. «Maria», so schreibt
der Journalist, wollte sich mit ihrem Geheimnisverrat von dem «unerträglichen
Gefühl der Komplizenschaft» mit all
jenen befreien, die schweigen, obwohl
sie wüssten, dass im Vatikan krumme
Dinge gedreht würden.
Warum aber greift der Papst, der ja
schon mehrfach seinen Willen zur Reform der Kurie bekundet hat, jetzt nicht
durch? Auf diese wichtige Frage gibt der
Autor keine Antwort, und auch der Vatikan schweigt. ●
Politik Alt Bundesrat Merz ist eine spannendere Persönlichkeit als in der neuen Biografie vorgestellt
Ein Leben und ein Jahr des Schreckens
Philippe Reichen: Härte, Herz und Humor.
Hans-Rudolf Merz. Eine Biografie.
Appenzeller Ve rlag, Herisau 2012.
303 Seiten, Fr. 48.–.
Von Pascal Hollenstein
Die autorisierte Biografie ist im Grunde
ein Unding: We der erlaubt sie eine ungeschminkte und kritische Würdigung
eines Lebens von aussen, noch gewährt
sie Einblicke in das Innenleben des Porträtierten. Die Biografie über alt Bundesrat Hans-Rudolf Merz, die am 21.
September erschienen ist, zeigt dieses
Problem geradezu exemplarisch. Zwar
schildert der Autor durchaus faktenreich das Leben des ehemaligen FDPMagistraten aus Herisau und das Buch
kann damit als Gedankenstütze dienen.
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
Wirklich Neues hingegen erfährt der
Leser kaum. Hans-Rudolf Merz bleibt in
dem We rk merkwürdig blass und emotionslos, Kritik am oder gar Selbstkritik
des Porträtierten fehlen vollständig.
Einige
besonders
unangenehme
Punkte werden gar schlicht übergangen.
So fehlt, um nur ein Beispiel zu nennen,
jede Auseinandersetzung mit der Frage,
ob Merz im Abstimmungskampf um die
Unternehmenssteuerreform womöglich
nicht die ganzen finanziellen Folgen für
die Staatskasse genannt oder gekannt
hat. Das Drama um die Schweizer Geiseln in Libyen, die Rettung der UBS
sowie Merz' Herzstillstand, die zusammen genommen sein «annus horribilis»
bilden, werden zwar pflichtgemäss ab-,
aber eben nicht gründlich aufgearbeitet.
Als er noch Bundesrat war, hat Merz
die Autorisierung des Buches mit der
etwas merkwürdigen Begründung verweigert, der Te xt sei zu sehr auf seine
Person fokussiert. Pünktlich zu seinem
70. Geburtstag diesen Herbst und mit
gebührendem Abstand zur Bundesratszeit hat der Herisauer nun doch sein
Placet gegeben. Der Autor, der als We stschweiz-Korrespondent beim «Tagesanzeiger» arbeitet, hätte wohl besser auf
dieses offizielle Gut zum Druck verzichtet, denn er hat es sich letztlich mit dem
Ve rzicht auf jede kritische Auseinandersetzung erkauft, ohne Merz dafür näher
zu kommen.
Das ist nicht nur für die Leserschaft
des Buches bedauerlich, sondern auch
für Hans-Rudolf Merz selber. Dieser ist
im wahren Leben eine interessantere
und spannendere Persönlichkeit, als sie
auf den vorliegenden 303 Seiten präsentiert wird. ●
Weltall Der Astrophysiker Ben Moore beschreibt Geschichte und Zukunft des Universums
Wenn die Sonne erlischt
Ben Moore: Elefanten im All. Unser Platz
im Universum. Kein & Aber, Zürich 2012.
384 Seiten, Fr. 29.90.
Das We ltall kann einem schon Angst
machen. Entstanden in einem gewaltigen Feuerball, dehnt es sich immer weiter aus. In ferner Zukunft wird die Sonne
erloschen sein, genauso wie alle anderen Lichter am Himmel. Die Menschheit
ist nur kurze Zeit Zaungast dieses Spektakels. Überträgt man das Lebensalter
des Universums auf einen Erdtag, dann
existiert der Mensch seit gerade einmal
einer Sekunde. Und in nicht einmal zwei
Stunden wird die Sonne so heiss brennen, dass sie Leben auf der Erde unmöglich macht.
Höchste Zeit, die Geschichte des Universums zu schreiben und sich endlich
den grossen Sinnfragen zu widmen!
Genau das will «Elefanten im We ltall»,
das Buch des Astrophysikers Ben Moore.
Mit Hilfe von Supercomputern simuliert
der 1966 geborene Brite an der Universität Zürich die Ve rgangenheit und Zukunft des Universums. Nun hat er die
wichtigsten Erkenntnisse seiner Zunft
zusammen mit seinen persönlichen
Überlegungen zur Rolle der Menschheit
niedergeschrieben.
Faszination der Galaxien
Auf 384 Seiten schildert der Autor nicht
nur die Evolution des Kosmos. Er rollt
auch all jene Fragen auf, die sich aus der
wundersamen Existenz der Erde am
Rande einer von hundert Milliarden Galaxien ergeben: We lche Bestimmung hat
die Menschheit im Universum? Ist das
Leben auf der Erde einzigartig?
Es sind Fragen, die Moore begeistern,
seit ihn sein Vater, ein Förster, als Kind
mit in den Wald nahm. Dass Moore auch
heute noch naturverbunden ist, zeigen
kurze Erzählungen aus seinem Leben,
die er jedem der elf Kapitel vorschiebt.
Dort schildert er sich als abenteuerlustigen Freikletterer, der E-Gitarre in einer
Rockband spielt und bei jeder Gelegenheit in der Kneipe über die grossen Rätsel des Universums diskutiert.
So spart Moore auch in seinem Buch
jene Fragen nicht aus, die nach dem dritten oder vierten Bier aufkommen. Etwa
wenn er eine Abhandlung über den freien Willen schreibt, sich über Religion
wundert oder seine Auffassung vom
Sinn des Lebens ausbreitet. Leider werden diese Exkurse in ihrer Kürze der
Komplexität ihres Themas selten gerecht. So wirkt beispielsweise sein Umgang mit Glaubensfragen wie eine hastig
produzierte Skizze der Argumente amerikanischer Star-Atheisten wie Richard
Dawkins oder seines Physiker-Kollegen
Lawrence Krauss.
Auch sonst verirrt sich Moore regelmässig auf Nebenschauplätze. Etwa
wenn er immer wieder die Sichtweise
BERND KOCH / ASTROFOTO
Von Robert Gast
Noch leuchten die
Himmelskörper:
Sternstrichspuren
um den nördlichen
Himmelspol
(Langzeitaufnahme).
eines von zahlreichen altgriechischen
Philosophen bemüht, oder von einem
physikalischen Effekt so fasziniert ist,
dass er ihm die nächsten Seiten widmet.
So verliert der Leser immer wieder den
roten Faden aus dem Blick.
Das ist schade, denn andere Passagen
wissen durchaus zu fesseln. Etwa wenn
er nachzeichnet, wie Forscher zu der Erkenntnis gelangt sind, dass Gruppen von
Galaxien in den Tiefen des Alls von
einer unsichtbaren, «dunklen» Materie
zusammengehalten werden. Auch wenn
er die Entstehung des Universums aus
dem Volumen einer Kaffeetasse beschreibt, gelingt es ihm, die Faszination
hinter den Naturwissenschaften greifbar zu machen.
Ausserirdische Intelligenz
Durch die Überfrachtung des Buches
fehlt ihm jedoch der Raum, allen spannenden naturwissenschaftlichen Aspekten seiner Geschichte die angemessene
Tiefe zu verleihen. Das ist insbesondere
dann ärgerlich, wenn Moore plötzlich
vom «potentiellen Energiefeld» des Vakuums spricht oder mit für Laien befremdlichen Elementarteilchen («Gluonen») um sich wirft, ohne derartige
Fachbegriffe angemessen zu erläutern.
Auch seine Auseinandersetzung mit
der Möglichkeit ausserirdischen Lebens
wird dem Anspruch einer tiefschürfenden We lterklärung nicht gerecht. Die
Kernfrage der Suche danach streift er
nur oberflächlich: Wie könnte es von
der Erde aus gelingen, Ökosysteme auf
fernen Planeten nachzuweisen? Das
ginge nur, indem man die Atmosphären
der vielversprechensten der etwa 800
bisher entdeckten «Exoplaneten» analysiert. Bisher ist das nicht möglich, aber
in den letzten Jahren geplante We ltraumteleskope könnten ab den 2020er-
Jahren dazu in der Lage sein. Sie sollen
den Nachweis erbringen, dass sich auch
in den Atmosphären fremder We lten
Sauerstoff, Wasserdampf und Methan
finden.
Aber selbst damit ist intelligentes
Leben noch nicht nachgewiesen. Umso
mehr überrascht es, dass Moore die
Existenz von einer «Milliarde Planetensysteme mit geeigneten Bedingungen
für die Entwicklung von intelligentem
Leben» postuliert. Statt die Disziplin
der Exobiologie mit derselben Sorgfalt
wie sein eigenes Forschungsthema
zu beschreiben, versteigt er sich in
Science-Fiction-Fantasien. Von durch
Kernexplosionen beschleunigten Raumschiffen ist da die Rede, von Anti-Materie-Antrieben und We ltraumreisenden,
die für Jahrhunderte eingefroren werden. Sicher, träumen ist erlaubt. Aber
wenn man wenige Kapitel später Menschen aufgrund ihres Glaubens an Dinge
belächelt, für die es keine Beweise gibt,
sollte man den Boden wissenschaftlicher Tatsachen zu seiner Argumentationsgrundlage machen. Sonst wird aus
einem Buch, das die faszinierende Geschichte des Kosmos hätte nacherzählen
können, ein nur mässig überzeugender
Ve rsuch, selbige zu deuten. ●
«Herzerfrischend und
sympathisch unorthodox.»
Hessischer Rundfunk
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Urs Schaub
Der Salamander
Ein Tanner-Kriminalroman
360 Seiten, gebunden, 36.80
Limmat Verlag
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Geschichte Der umstrittene Botschafter Hans Frölicher vertrat die Schweiz während des Krieges in
Nazideutschland. Trotz seines Anpassungskurses hat er seine Aufgabe erfüllt
Verhielt sich richtig in Berlin,
aber falsch in Bern
Paul Widmer: Minister Hans Frölicher. Der
umstrittenste Schweizer Diplomat. NZZ
Libro, Zürich 2012. 261 Seiten, Fr. 52.90.
Der Zürcher Fabrikantensohn Hans
Frölicher (1887–1961) amtierte von 1938
bis 1945 als Schweizer Gesandter (Botschafter) in Berlin – auf dem «delikatesten diplomatischen Posten, den die
Schweiz je zu vergeben hatte». Er hatte
die von den Achsenmächten eingekreiste neutrale Schweiz in ihrer aussenpolitisch schwierigsten Phase zu vertreten
– bei einem unberechenbaren Nachbarn,
dessen Drohungen, Nadelstichen und
Erpressungen weder mit markigen Widerstandsparolen noch diplomatischen
Gesten beizukommen war.
Der Historiker Paul Widmer, heute
Schweizer Botschafter beim Heiligen
Stuhl, leitete in den 1990er-Jahren die
Berliner Aussenstelle der Schweizerischen Botschaft in Deutschland (der
Hauptsitz lag damals noch in Bonn) –
und zwar «im gleichen Büro, in welchem fünfzig Jahre vorher Minister
Hans Frölicher gesessen hatte». Der genius loci hat Frölichers Nachfolger offenbar inspiriert: Widmer legt eine
ebenso gründliche wie pointierte, sowohl kritische als auch differenzierte
Monografie vor, die sehr fair in ihrem
Urteil ist und erst noch gut lesbar.
Widmer hat bereits mehrere Publikationen zur Schweizer Diplomatie und
Aussenpolitik verfasst, darunter das
Standardwerk «Die Schweiz als Sonderfall» (2007) sowie das heute vergriffene
Buch «Die Schweizer Gesandtschaft in
Berlin» (1997). In seinem neuen Buch
stellt er das Handeln von Botschafter
Frölicher in das komplexe Geflecht von
persönlichen Eignungen, beruflichen
Aufgaben, Staatsräson und heiklen Zeitumständen im Zentrum des Dritten Reiches. Er würdigt Frölichers Wirken mit
dem Wissen des Insiders und der professionellen Distanz des Historikers.
Er wollte den Tiger reiten
Frölicher sei als Person grundehrlich,
nobel und verschwiegen gewesen. Sein
Manko war, dass er in der direkten Begegnung mit Hitler und anderen Nazigrössen deren Gefahrenpotenzial unterschätzte, ihren verbalen Beteuerungen
glaubte und seine kritische Haltung verlor. Er überschätzte seine Möglichkeiten, für das Land das Beste herauszuholen: «Er wollte den Tiger reiten». Erst
Ende 1940 gewann er eine realistischere
Einschätzung. Sympathien für den Nationalsozialismus allerdings – wie ihm
Max Frisch vorwarf – habe er nie gehabt.
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
PRIVATARCHIV
Von Urs Rauber
Der Schweizer
Diplomat Hans
Frölicher (fünfter von
rechts) mit seiner
To chter Hélène beim
Schweizerischen
Wohltätigkeitsverein
in München,
25. November 1938.
In seinem «nachhaltigen Anpassungskurs» ging Frölicher sogar soweit,
den deutschen Wünschen folgend die
Einführung einer Pressezensur in der
Schweiz sowie die Absetzung der Nazikritischen Chefredaktoren der NZZ
(Willy Bretscher) und des «Bund»
(Ernst Schürch) zu verlangen. Anpasserisch verhielt sich Frölicher auch gegenüber dem deutschen Vorschlag vom
Herbst 1938, den Visumszwang für deutsche Juden einzuführen. Damit habe er
«ein erhebliches Verschulden an der
Einführung des Judenstempels auf sich
geladen». Erst nach der Wannsee-Konferenz, an der die Naziführung die Judenvernichtung beschloss, prangerte
Frölicher den Antisemitismus an und
verhalf in den beiden letzten Kriegsjahre 1200 Juden zur Aufnahme in der
Schweiz.
Auf der Positivseite sind die mit
Deutschland abgeschlossenen Wirtschaftsabkommen zu verbuchen, die das
Überleben der Schweiz sicherten, auch
wenn sie gleichzeitig Konzessionen an
Deutschland bedeuteten: Clearing-Kredite, Goldkäufe, Waffenexporte. Diese
Konzessionen sind in der Nachkriegszeit bis zum Bergier-Bericht (2002) oft
in allzu simpler Schwarzweiss-Manier
verurteilt wurden. Die These, dass die
Schweiz damit den Krieg verlängern
half, widerlegt Widmer mit Zahlen: Die
schweizerischen Rüstungslieferungen
ans Dritte Reich machten weniger als 0,1
Prozent der deutschen Kriegskosten
aus. Zudem bezog die Schweiz 1939 bis
1944 mehr Waren von den Achsenmächten, als sie dorthin lieferte. «Die Wirtschaftskonzessionen waren ziemlich
wichtig für Deutschland, und sie waren
überlebensnotwendig für die Schweiz –
und nicht umgekehrt.»
In der Öffentlichkeit wurde Hans
Frölicher nach seiner Rückkehr aus Berlin 1945 bald zum Sündenbock für die
Appeasement-Politik des Bundesrates.
Vor allem Edgar Bonjour ging in seiner
«Geschichte der Schweizerischen Neutralität» (1970–1975) sehr hart mit ihm ins
Gericht. Doch Paul Widmer weist nach,
dass sich Bonjour weitgehend auf eine
Rechtfertigungsschrift Max Waibels –
«eine Geschichtsklitterung» – abstützte,
die Originalakten des Berliner Botschafters jedoch überhaupt nicht konsultiert
hat. Der Basler Historiker habe einem
Hang zur «dramatischen Darstellung»
gefrönt.
Eine Neubewertung Frölichers fand
interessanterweise durch drei Literaten
Neuauflage Jean-François Bergier über Wilhelm Tell
Der Mann auf dem Fünfliber
Jean-François Bergier: Wilhelm Tell.
Realität und Mythos. Römerhof,
Zürich 2012. 492 Seiten, Fr. 47.90.
Von Kathrin Meier-Rust
Bis Anfang der 1970er-Jahre gab es im
Kanton Zürich eine gesetzliche Vorschrift, nach der jede Gymnasialklasse
einmal eine Aufführung von Schillers
«Wilhelm Tell» gesehen haben musste,
das Schauspielhaus hatte das Stück
dafür ständig bereitzuhalten. Heute, da
selbst die hitzigen Diskussionen um den
Nationalhelden historisch geworden
sind, mutet das schon fast kurios an. Die
postheroische Gesellschaft duldet, wie
Peter von Matt nicht ohne Hohn konstatiert, nur noch das Heidi als nationale
Symbolfigur.
Wer trotzdem erfahren möchte, was
es auf sich hat mit unserem ironie-geplagten Nationalhelden, dem steht dafür
Jean-Francois Bergiers vergriffener
«Wilhelm Tell» zur Verfügung, den der
Römerhof Verlag nun neu auflegt. Bergier hatte das Buch im Vorfeld der
700-Jahr-Feier von 1991 geschrieben und
auch als eine Art versöhnliche Antwort
verstanden auf die Polemik der Jahrzehnte davor. Er wollte damit «den Teufelskreis durchbrechen, in den Tell – als
historische oder legendäre Gestalt – seit
langem durch die Mythisierung geraten
ist.» Um dies zu tun, legte er die historische Umwelt der Figur offen.
Bergier bietet im Grunde zwei Bücher
in einem: zunächst eine liebevolle Darstellung der sogenannten Befreiungstradition – neben der Wilhelm Tell-Episode also auch Rütlischwur und Burgensturm –, ihrer Entstehung im 15. und
16. Jahrhundert und ihrer Quellen, die in
verdienstvoller Weise breit zitiert werden, so etwa das volkstümliche «Bundeslied» von 1477. Dem folgt die Darstellung von Rezeption, Mythisierung und
politischen Instrumentalisierung Tells
– von links wie von rechts – vom 18. bis
ins 20. Jahrhundert, samt dem tatsächlich schon seit 250 Jahren (!) erbittert
statt: Christoph Geiser (ein Enkel Frölichers) in seinem familiengeschichtlichen Roman «Brachland» (1980) sowie
Thomas Hürlimann und Urs Widmer in
ihren Theaterstücken «Der Gesandte»
(1991) und «Frölicher – ein Fest» (1992).
Alle drei relativierten das Scherbengericht über Frölicher in unterschiedlicher
Weise und stellten die Frage, ob Frölichers Anpassungskurs nicht die bessere
Form des Widerstandes war als die bedingungslose Abwehr der Schweizer
Armee.
Politik der Anpassung
Gemäss Paul Widmer betrieb Hans
Frölicher «keine heldenhafte Diplomatie, sondern eine auf Anpassung bedachte, in ihrem Kern auf das nackte Überleben der Schweiz ausgerichtete Politik».
Aber war diese Politik auch schädlich?
Nein, meint der Autor: «Er verhielt sich
richtig in Berlin, aber falsch in Bern.»
Frölichers Tragik bestand darin, dass er
die Rolle des korrekten Diplomaten zu
sehr verinnerlicht hat, weil er schlicht
glaubte, nur mit freundlichen Gesten die
existenzielle Bedrohung vom Land abwenden zu können.
Hier wird Widmers Studie unversehens aktuell: Wie weit können/dürfen/
sollen Schweizer Diplomaten, aber auch
die Landesregierung Konzessionen an
(wirtschaftlich) übermächtige Nachbarn machen? Zum Beispiel im Steuerstreit mit den USA, Deutschland und
Frankreich? Oder in der Auseinandersetzung mit der OECD um das Bankgeheimnis und damit schweizerischem
Recht? Wer den Schweizer Gesandten
bei den Nazis der «Anpassung» bezichtigt, muss sich fragen, wie weit er heute
selbst bereit ist, Schweizer Recht unter
ausländischem Druck zu beugen. ●
geführten Streit um die historische
Wahrheit der Geschehnisse. Bergier
selbst kommt im Laufe seiner Arbeit zur
Überzeugung, dass zwar die Apfelschuss-Szene ohne Zweifel eine aus dem
Norden eingeführte Legende ist, dass
aber Wilhelm Tell, Rütli-Bund und Burgensturm «sich zu natürlich und zu vollkommen in die Geschichte einfügen, um
völlig frei erfunden zu sein».
Diese Geschichte nun bildet den
Hauptteil des Buches. Der Spezialist für
Wirtschafts- und Sozialgeschichte des
Alpenraumes ist hier in seinem Element.
Ebenso an- wie beschaulich greift er
weit aus in die römische und karolingische Zeit, schöpft aus dem Vollen, wenn
er die Verkehrswege über die Alpen vergleicht, den wirtschaftlichen Aufschwung der Waldstätte durch die Erschliessung des Gotthards im 13. Jahrhundert schildert, die Lebensweise der
Bevölkerung und die Macht-Interessen
des lokalen und regionalen Adels. Das
alles wird ausführlich und flüssig beschrieben – das Buch hat keinen wissenschaftlichen Apparat und richtet sich an
eine allgemeine Leserschaft. Umso
dringlicher hätte man sich eine kritische
Einführung dieser Neuauflage im Lichte
der neuesten historischen Erkenntnisse
etwa eines Roger Sablonier gewünscht.
Tell, für dessen Existenz es keinen
einzigen Beleg gibt und der doch bis
heute unser Fünffrankenstück ziert, findet beim welschen Historiker eine überraschende Sympathie, mehr noch: eine
ganz unakademische Wärme. Indem er
das grosse historische Umfeld heranzieht, um einen ursprünglichen Kern
der Befreiungstradition samt realem
Menschen Tell für wahrscheinlich zu erklären, schlägt der Historiker eine Brücke zwischen naiv-treuherzigem Volksglauben und unerbittlichem historischen Wahrheitsanspruch. Ein Versöhnungsangebot, mit dem die überlang
heroisierte, gründlich verspottete und
schliesslich in der Scham-Ecke der politischen Rechten abgestellte Gründungsgeschichte vielleicht endlich ihren
rechtmässigen Platz finden kann. ●
neue bücher bei hier + jetzt
Der Modeberg –
einst und jetzt
Im Bild mit der
Schweizer Geschichte
Der Klassiker auf
neuem Stand
Rigi
Mehr als ein Berg
Adi Kälin, mit Bildern
von Gaëtan Bally
288 Seiten, 281 Abb.,
gebunden mit Schutzumschlag
Fr. 68.–, € 54.–
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Schweizer Geschichte
im Bild
Thomas Maissen
292 Seiten, 425 Abb.,
gebunden,
Fr. 78.–, € 60.–
hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH
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Bestellungen per E-Mail: order@hierundjetzt.ch
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Das Hotel in
den Alpen
Die Geschichte der
Oberengadinger
Hotelarchitektur
ab 1860
Isabelle Rucki
320 Seiten, 300 Abb.,
gebunden
Fr. 89.–, € 69.–
Vom Kulturkampf
zur Konkordanz
Das historische
Dilemma der CVP
Zwischen katholischem
Milieu und bügerlicher
Mittepartei
Urs Altermatt
264 Seiten, gebunden
Fr. 49.–, € 39.–
www.hierundjetzt.ch
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Kulturphilosophie Der Soziologe Richard Sennett analysiert, wie Menschen in einer von Ungleichheit
und Konkurrenz geprägten Gesellschaft zusammenarbeiten
Dialog statt Dialektik
nung nach für eine optimale Zusammenarbeit braucht. Dialog bedeutet Ve rständnis für einander entwickeln, sich
der eigenen Perspektive bewusst werden und aufmerksam zuhören. Das Beispiel des Neuen Museums macht darüber hinaus Sennetts Definition von Zusammenarbeit deutlich: Kooperation ist
eine «handwerkliche Kunst».
Unbestritten beherrscht Sennett auch
in seinem neuen Buch das Handwerk
des erzählenden Sachbuchautors. Mit
seiner einfachen und bilderreichen
Sprache schreibt er bewusst für den
«allgemeinen Leser», der den üblichen
Soziologenjargon nicht dechiffrieren
kann, geschweige das will. Gern greift er
in seinen Büchern auf autobiografische
Erfahrungen zurück, etwa seine Jugend
in der Sozialsiedlung Cabrini Green in
Chicago oder seine (unfallbedingt abgebrochene) Karriere als Cellist. Mit Bedacht wählt er seine Metaphern, holt
Ve rgleiche aus dem Alltag, aus der
Musik, der Kunst und eben der Architektur. Beeindruckend die Vielfalt an
Beispielen aus den Gesellschafts- und
Naturwissenschaften, es gibt fast keinen
Richard Sennett: Zusammenarbeit. Was
unsere Gesellschaft zusammenhält.
Hanser, Berlin 2012. 416 Seiten, Fr. 37.90,
E-Book 22.90.
Von Ina Boesch
Als gelungenes Beispiel
für dialogisches
Denken nennt Richard
Sennett den Umbau
des Neuen Museums
in Berlin durch David
Chipperfield.
INTERFOTO
Seit der Wiedereröffnung des Neuen
Museums Berlin pilgern täglich Hunderte von Touristen zur Museumsinsel
– um sich an der Büste der Nofretete zu
erfreuen oder an einer Meisterleistung
zeitgenössischer Architektur. Der in
London und New York lehrende Starsoziologe Richard Sennett hat es eher
mit der Architektur als mit der ägyptischen Kunst. In seinem neuen Buch widmet er viele Seiten dem Architekten
David Chipperfield und dessen gelungenem Neu- und Umbau des Neuen Museums, das nach der Bombardierung im
Zweiten We ltkrieg während Jahrzehnten in Trümmern lag. Nach der Wiedervereinigung stellte sich die Frage, ob es
in alter Pracht wieder hergestellt, einem
Neubau weichen sollte oder ob es eine
dritte Option gab, die vom Trauma dieses Gebäudes erzählte. Chipperfield
entschied sich für letzteres: für eine
glanzvolle Mischung aus Neu und Alt.
Dieses Beispiel aus der Architektur
ist eines von vielen, das Sennett in seinem Buch anführt, um – wie bereits in
«Der flexible Mensch» oder «Handwerk» – Antworten auf seine Schlüsselfrage zu finden: Wie können Menschen,
die sich sozial, ethnisch oder in ihrer
We ltanschauung unterscheiden, in einer
von Ungleichheit, Konkurrenz und Gegensätzen geprägten Gesellschaft zusammenleben und -arbeiten. Seine Diagnose: Wir sind dabei, die Kooperationsfähigkeit einzubüssen, die wir für
eine komplexe Gesellschaft brauchen.
Sein Rezept: Dialog statt Dialektik.
Für Sennett verkörpert Chipperfields
architektonischer Streich von gleichzeitigem Reparieren und Herstellen das
dialogische Denken, das es seiner Mei-
Bereich, den er auslässt. Er schreibt
ebenso über die Sozialen Netzwerke wie
über Max Webers Arbeitsethik, über die
moderne Unternehmenskultur wie über
Theater, Narzissmus oder Angst, über
das chinesische Beziehungsnetz Guanxi
wie über die Höflichkeit in der Renaissance.
Gerade in dieser Fülle von Ausflügen
in alle möglichen Gefilde liegt eines der
Probleme dieses zweiten Bandes der
Homo-Faber-Trilogie: Sie verführt den
Autor zum mäandernden Erzählen,
wobei das Dickicht immer undurchdringlicher und die Sicht auf die relevante Fragestellung und interessante
Antworten allmählich verdeckt wird.
Irritierender als dieser Erzählgestus
ist jedoch sein Fokus. Indem Sennett für
mehr Dialog plädiert, appelliert er in
erster Linie ans Individuum. Was man
von einem Soziologen und einem nach
wie vor bekennenden Linken angesichts
der strukturellen Probleme von mangelhafter Zusammenarbeit erwartet, sind
jedoch auch gesellschaftspolitische Lösungen. Leider tangiert er diese auf den
über vierhundert Seiten nur am Rand. ●
Rotpunktverlag.
»Bei all dem Dunklen und Schweren das
Ursula Fricker ihren Lesern zumutet,
fragt man sich, warum es in diesem
Roman dennoch so hell aus den Sätzen
herausleuchtet.
Es liegt daran, dass ›Ausser sich‹ im
Grunde eine Liebesgeschichte ist.«
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0twQyAHutpR4PAAAA</wm>
<wm>10CFWMMQrEMAwEXySzkr0WisqQLqQ4rncTUt__q4vTpVgYlmH2PVnwbN2O7_ZJBRpFPW5IBot5Tw0rzp4Iawa1RYlOZ8XLF2j0ijqmIwixNpSCNsEihtos3B8IL7_z-gPqTKQSgAAAAA==</wm>
Foto: Ekko von Schwichow
Christine Lötscher, Tages-Anzeiger
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
Ursula Fricker
Außer sich
Roman
NOMINIERT!
256 Seiten, gebunden, 4. Auflage 2012
isbn 978-3-85869-470-6, Fr. 29.–
Deutschland Gleich zwei neue Biografien
schildern Peer Steinbrücks Karriere
«Sabbel nicht
so ein Zeug!»
Daniel Friedrich Sturm: Peer Steinbrück.
Biografie. Dtv, München 2012. 298 Seiten,
Fr. 24.90, E-Book 15.90.
Eckart Lohse, Markus Wehner:
Steinbrück. Biografie. Droemer/Knaur,
München 2012. 368 Seiten, Fr. 28.90.
We r noch nie von Peer Steinbrück gehört oder gelesen hat, stellt sich unwillkürlich die Frage, mit welcher Persönlichkeit der Zeitgeschichte er konfrontiert wird, wenn gleich zwei renommierte Ve rlage im selben Herbst Bücher mit
fast exakt dem gleichen Titel veröffentlichen, die sich zudem inhaltlich über
lange Passagen zum Ve rwechseln ähneln. Dtv immerhin bequemt sich zu der
kurzen Erklärung, Peer Steinbrück
werde seit der Ve röffentlichung seines
Bestsellers «Unterm Strich» (2010) als
Kanzlerkandidat der SPD gehandelt.
Aber reicht das für den hohen publizistischen Aufwand?
Wird er Kanzlerkandidat?
Steinbrück ist noch längst nicht Kandidat, geschweige denn Kanzler. Trotzdem
widmen die Autoren von zwei überregionalen Blättern, der Tageszeitung «Die
We lt» und der «Frankfurter Allgemeinen», dem Sozialdemokraten und Finanzminister in Angela Merkels Grosser
Koalition eine Aufmerksamkeit, die den
Eindruck vermittelt, an Steinbrück führe
kein We g vorbei. Es mangelt den beiden
Büchern auch nicht an Sachverstand
und der Liebe zum Detail. Elend lang
kommen dem Leser allerdings die Kapitel über die Familiengeschichte der
Steinbrücks vor.
We nn schon nicht zum Adel, so gehörte mindestens ein Vorfahre zum
Geldadel, erfährt man natürlich in beiden Büchern. Urgrossonkel Adelbert
Delbrück gründete 1870 in Berlin die
Deutsche Bank. Zusammen mit Urgrossvater Hugo Delbrück schuf Adelbert das
Seebad Heringsdorf auf der Ostseeinsel
Usedom, wo es im 19. Jahrhundert Unternehmer und Politiker hinzog, um auf
der Promenade dem Kaiser zu begegnen. We r es ganz genau wissen will, bemühe die FAZ-Autoren Lohse und We hner. «Welt»-Biograf Sturm versichert
derweil, dass Steinbrücks Eltern nicht
zum Hamburger Grossbürgertum zählten. Günstigen Einfluss hatte – zumal
während der Nazi-Zeit – die dänische
Ve rwandtschaft. Sohn Peer war ein
TIM BRAKEMEIER / EPA
Von Gerd Kolbe
Finanzminister Peer Steinbrück im Gespräch mit Kanzlerin Angela Merkel am 26. März 2009.
schlechter Schüler. Es reichte bei ihm
nur zum «Abitur 2. Klasse» an der Staatlichen Handelsschule in der Hansestadt.
Doch was sagt das über den Steinbrück
von heute? Für einen Finanzminister
war es wohl der richtige Bildungsweg.
Es dauerte lange, bis der Hilfsreferent
Steinbrück seinem heutigen Freund,
Gönner und Unterstützer Helmut
Schmidt über den We g lief. Und es wäre
um Haaresbreite nie dazu gekommen.
Es wirkt nachträglich eher komisch,
wenn die Autoren schildern, wie der
Student Steinbrück, der überzeugte
Keynesianer, wegen einer wilden Party
in seiner Wohngemeinschaft ein Opfer
des Radikalenerlasses der Ära Brandt
wurde. Der Ve rfassungsschutz vermutete Kontakte zur «Rote-Armee-Fraktion», das Bauministerium in Bonn versagte ihm daraufhin die Festanstellung.
Indes, das Forschungsministerium nahm
es nicht so genau. Eine lange Beamtenkarriere konnte beginnen.
Mit dem Vorwurf, stets Beamter geblieben und nie wirklich Politiker geworden zu sein, muss sich Steinbrück
bis heute herumschlagen. Es habe sich
gezeigt, schreiben Lohse und We hner,
dass Steinbrück einen «operativen, exekutiven Politikansatz» habe. Er selbst
gibt zu, «kein Mann der Legislative» zu
sein. Sein Publikum begeistert Steinbrück mit seiner «Kodderschnauze»,
mit Humor und viel Ironie. We r ihn häufiger erlebt, kennt seine Churchill-Anekdoten auswendig. Mit Vorliebe provoziert er, wie das Beispiel Schweiz zeigt.
Als er, als läge das Nachbarland im Wilden We sten, wegen des Steuerstreits die
Kavallerie ausreiten lassen wollte, gab
es Kritik sogar daheim. Frau Steinbrück,
auf die der begabte Selbstdarsteller laut
Lohse und We hner gelegentlich hört,
mahnte: «Sabbel nicht so ein Zeug!» Altbundeskanzler Gerhard Schröder fand
Steinbrücks Rhetorik «sympathisch,
aber völlig ungeeignet». Ironie sei in
grossen Sälen nicht vermittelbar. Schon
vor dem Urnengang 2005 in NordrheinWe stfalen, dem einzigen, in dem sich
der damalige Ministerpräsident als Spitzenkandidat zur Wahl stellte und prompt
verlor, wurde überlegt, ob er der richtige Bewerber sei. Trotzdem tat Schröder
nach seiner eigenen Niederlage alles,
um Steinbrück zum Bundesfinanzminister unter Merkel zu machen. In der folgenden We ltfinanzkrise war er sehr erfolgreich.
Hierarchisch und autoritär
Soll und kann er Kanzler werden? Sturm
listet seitenweise Steinbrücks Handicaps auf. Gefolgsleute habe der «Einzelspieler» nicht. Er denke hierarchisch
und durchaus autoritär, sei mithin ein
untypischer Sozialdemokrat, der soziale
Probleme nie erlebt, geschweige denn
verinnerlicht habe. Diese Argumentation spricht für ein Nein. Dass Steinbrück
kein klassischer Parteipolitiker ist,
sehen Lohse und We hner hingegen als
Vorteil. Bei der Bundestagswahl in
einem Jahr komme es nicht auf die rund
500 000 SPD-Mitglieder an; vielmehr
brauche die SPD 13 Millionen Wähler,
um zu gewinnen.
Darin aber liegt der Denkfehler. Seit
Helmut Schmidt haben ausser Schröder
noch alle SPD-Kanzlerkandidaten verloren, weil jeweils ein Te il ihrer Mitglieder und Stammwähler am Wahltag zu
Hause blieb. ●
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Heimatkunst Der Thurgauer Bauerndichter Alfred Huggenberger (1867–1960) hegte
Sympathien für das Dritte Reich. Pech für die SBB, die ihn mit einem Zug ehren wollten
Geplante Feier abgesagt
Rea Brändle, Mario König: Huggenberger.
Die Karriere eines Schriftstellers. Verlag
des Historischen Vereins des Kantons
Thurgau, Frauenfeld 2012. 448 Seiten,
Fr. 48.–.
Soll ein Staat die historische Wahrheit
erforschen lassen? Die Frage stellte sich
für den Bund, als die Schweizer Banken
wegen ihres Umgangs mit Geld und
Gold der Juden im Zweiten Weltkrieg
unter Beschuss gerieten. Und für den
Thurgau, als um den einzigen im ganzen
deutschen Sprachraum bekannten Dichter, den der Kanton vor Peter Stamm
hervorgebracht hat, eine Kontroverse
entbrannte: Alfred Huggenberger (1867–
1960) aus Gerlikon bei Frauenfeld, bis
Ende des 20. Jahrhunderts in der Schule
gelesen, auf Volkstheaterbühnen gespielt und mit Strassennamen gewürdigt, sollte 2007 einen IC-Neigezug gewidmet bekommen.
Kurz vor der Zugstaufe samt Nationalratspräsidentin warf die Thurgauer
Zeitung die Frage auf, die die SBB mit
der Lektüre von Lexikoneinträgen hätten beantworten können: Wie hielt es
der im Dritten Reich gefeierte Bauerndichter mit den Nazis? Wenige Tage danach sagten die SBB die Zugstaufe ab –
und für die Huggenberger-Freunde trugen seine Kritiker die Schuld daran.
Aufgrund der gehässigen Debatte
schrieb der Thurgauer Regierungsrat,
dem mit Jakob Stark (SVP) ein promovierter Sozialhistoriker angehört, einen
grosszügig dotierten Projektauftrag aus,
um Leben und Werk von Huggenberger
zu erforschen. Unter den 75 Bewerbungen, auch von national bekannten
KBTG HU F SCH 51/2
Von Markus Schär
Alfred Huggenberger (1867–1960) schrieb Lyrik, Theaterstücke und
Heimatromane (undatierte Aufnahme).
Namen, setzten sich Rea Brändle und
Mario König durch: eine Germanistin
und Journalistin, die sich in der Volksliteratur auskennt, und ein Historiker,
der für die Bergier-Kommission arbeitete. Was das Autoren-Duo in zweijähriger
Fleissarbeit im Nachlass des Dichters
und in Archiven von Gachnang (TG) bis
Klagenfurt aufspürte, legt es jetzt in
einem dicken Buch vor, herausgegeben
vom kantonalen Historischen Verein.
Indem das Duo akribisch die «Karriere eines Schriftstellers» nachzeichnet,
bietet es sowohl den Verehrern als auch
den Verächtern von Huggenberger, was
diese lesen wollen. Einerseits beeindrucken die Erfolge des Bauerndichters, der
sich zwar als Bauer inszenieren liess,
aber eigentlich immer nur als Dichter
gelten wollte. «Dieses verfluchte Wort:
Heimatkunst! Kein grösserer Unsinn
wurde je erfunden», spottete er über
seinen wichtigsten Kritiker, NZZ-Feuilletonchef Eduard Korrodi: «Entweder
ist's Kunst oder Seich.»
Auch in Deutschland und Österreich
fand Huggenberger begeisterte Leser;
der Kleinbauer, der daneben seine Gemeinde als Vorsteher leitete und für den
Freisinn im Kantonsparlament sass,
konnte vom Schreiben gut leben. Anderseits führten gerade der Erfolg und das
Einkommen im Dritten Reich dazu, sich
von den Nazis vereinnahmen zu lassen.
Er trat 1933 zwei Monate nach den Bücherverbrennungen aus eigenem Antrieb in den Reichsverband deutscher
Schriftsteller ein, liess sich 1938 von
Reichspropagandaminister
Goebbels
empfangen und nahm noch im Kriegsjahr 1942 in Konstanz seinen grössten
Blut-und-Boden-Preis entgegen.
Wie stand Huggenberger tatsächlich
zum Dritten Reich? Die Frage bleibt unbeantwortet, denn der alternde Dichter
äusserte sich in seinen Briefen und in
seinen «Büechli» mit Reiseeindrücken
dazu nicht: «Seine Besuche in Deutschland waren nicht getragen von einem
Willen zum Wissen, was dieses Volk bewegte», schliessen die Autoren. «Er
folgte dem Hunger nach Selbstbestätigung und einem bedenkenlosen Erwerbsstreben.» Das moralische Urteil
überlassen sie den Lesern. So zeigt sich
inzwischen sogar der Präsident der
Alfred-Huggenberger-Gesellschaft versöhnt: «Wenn es die Zugstaufe gegeben
hätte, gäbe es dieses Buch nicht.» ●
USA Weil Obama die «Yes we can»-Illusion überwunden hat, könnte er die Wiederwahl schaffen
Vom Charismatiker zum Realisten
Christoph von Marschall: Der neue
Obama. Was von der zweiten Amtszeit
zu erwarten ist. Orell Füssli, Zürich 2012.
224 Seiten, Fr. 19.90.
Von Tobias Kaestli
Sein erstes Buch über Barack Obama erschien noch vor dessen Wahl ins Präsidentenamt. Christoph von Marschall
sagte den Erfolg voraus. Im jetzt vorliegenden zweiten Buch bleibt er ebenso
optimistisch. Der Autor, der als einziger
deutschsprachiger Zeitungskorrespondent ständigen Zugang zum Washingtoner Machtzentrum hat, beobachtet den
Präsidenten sehr genau. Obama habe in
den letzten vier Jahren Eigenschaften
aus sich herausgeholt, die vorher ver26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
borgen gewesen seien. Vom charismatischen Idealisten, der stets den Ausgleich
suchte, habe er sich zum realistischen
Kämpfer weiterentwickelt, der keineswegs in der Illusion des «Yes we can»
stecken geblieben sei.
Wie schon während des Jahres 2008
hat von Marschall auch in diesem Jahr
Obamas Wahlkampftournee hautnah
mitverfolgt. Die Beobachtungen, die er
seiner Leserschaft mitteilt, beziehen
sich vor allem darauf, wie Obamas Auftritte beim Publikum ankommen und
medial kommentiert werden und wie
Obama und seine Helfer auf republikanische Angriffe reagieren. Es entsteht
ein farbiges Bild der Mechanismen der
Macht und der Wirkungsweise der Massenmedien. Die Politik der Republikaner und der dahinter stehenden Tea-
Party-Bewegung wertet von Marschall
als pure Obstruktion, die kein anderes
Ziel habe, als Obama von der Macht zu
vertreiben, und zwar auch aus rassistischen Gründen. Die Folgen davon zeigt
er an den Beispielen der Finanzpolitik
und der Gesundheitsreform auf.
Von den Niederlagen des Präsidenten
spricht der Autor kaum, vielmehr hebt
er dessen Fähigkeit hervor, trotz allen
Widrigkeiten zu retten, was zu retten ist.
Er liefert keine tiefschürfende Analyse,
bleibt eher an der Oberfläche. Über
Themen wie Guantanamo, Israel, Afghanistan und Iran teilt er nichts Neues mit.
Die Aussenpolitik ist fast vollständig
ausgeklammert. Trotzdem wagt er die
Prognose: Der neue Obama könnte
durchaus eine erfolgreiche zweite Amtszeit absolvieren. ●
Folter Die dramatische Geschichte eines nordkoreanischen Häftlings, der dem Gulag entronnen ist
Im Herzen der Finsternis
München 2012. 255 Seiten, Fr. 28.40,
E-Book 19.40.
Von Martin Walder
Eine der Skizzen aus
dem Lagerleben, die
der Nordkoreaner
Shin Dong-Hyuk nach
seiner spektakulären
Flucht aus dem Gulag
angefertigt hat.
SHIN DONG-HYUK
Die gesammelten Zeugnisse zu KZ und
Gulag haben in Europa ihre – auch literarisch radikal beglaubigte – Relevanz.
Und anderswo? In Nordkorea existieren
offiziell gar keine Straflager, Informationen sind rar. Wie Licht in ein fast hermetisches Dunkel bringen, wo angeblich
gar nichts ist? Flüchtlingsberichte sind
eine der Quellen. Die Geschichte des
Nordkoreaners Shin Dong-Hyuk – Lager-Spross der Verbindung zweier politischer Häftlinge – ist eine besondere: Er
gilt als der bisher einzige dort Geborene, dem die Flucht (nach China) gelungen ist.
Seit seinem Bericht von 2007 über
sein Leben im berüchtigten 15 000 Insassen zählenden Camp 14 nördlich von
Pjöngjang und sein mirakulöses Ent-
kommen wurde der junge Mann weltweit bekannt und herumgereicht. Ausführlich stand er Red und Antwort –
man kann das auch auf Youtube verfolgen. Oder seit neuestem im Buch des
Amerikaners Blaine Harden «Flucht aus
Lager 14» und im deutschen Dokumentarfilm «Camp 14 – Total Control Zone»
von Marc Wiese, der am Filmfestival Locarno das Publikum aufwühlte.
Buch und Film, für die später auch ein
gemeinsamer Vertrieb geplant ist, ergänzen sich ideal. Der Film führt als Innenschau ins Herz der Finsternis, indem
er Shin qualvoll vergegenwärtigen lässt
und auch mittels diskreten Anidoc-Szenen (dokumentarisch imaginierte Animation) visualisiert, was sich kaum erzählen lässt: eine Existenz ohne soziale
Empathie, ohne moralische Koordinaten. Nach seiner Denunziation von Mutter und Bruder enden diese am Galgen
und vor dem Erschiessungspeleton, vor
seinen Augen; später wird ihm der Körper des tot auf dem Hochspannungszaun liegenden Fluchtgefährten die
lotte sChwarz (1910–1971)
dienstmädChen
emigrantin
sChriftstellerin
Annemarie Schwarzenbach
Afrikanische Schriften
«Fern vom Schutz deS
eigenen LandeS»
annemarie
SchwarzenbachS
reportagen auS aFrika
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<wm>10CFWLoQ6EQAwFv6ib98q23bKS4AiC4NdcTt__qwMcYsxkZtu6FTws636uRydQTRjJdvm0omGdqSXMO1KpoM6kRfVo9dULmD5hGncjSFEOUszFODx8XHM-zgKt_D7fP_gQRiGAAAAA</wm>
Reportagen – Lyrik – Autobiographisches
Mit dem Erstdruck von « Marc»
Christiane Uhlig
«Jetzt kommen andere zeiten»
Lotte Schwarz (1910–1971)
Dienstmädchen, Emigrantin, Schriftstellerin
2012. 328 S. 55 Abb. Br. CHF 38
Herausgegeben von Sofie Decock, Walter Fähnders und Uta Schaffers
Annemarie Schwarzenbach
afrikanische Schriften
Reportagen – Lyrik – Autobiographisches
Hg. v. Sofie Decock, Walter Fähnders, Uta Schaffers
2012. 334 S. 12 Abb. Geb. CHF 38
Bücher zur Zeit
«Jetzt kommen andere zeiten»
«FriSche Stimme,
Frecher ton»
auS dem Leben
einer emigrantin und
pubLiziStin
www.chronos-verlag.ch
Christiane Uhlig
Luke in die Freiheit öffnen – eine Freiheit in Südkorea und den USA, die Shin
im Innern wohl niemals wirklich zu
leben vermag. Denn kann einer, um zu
überleben, mehr Schuld auf sich laden?
Das Buch folgt der Chronologie von
Lagerexistenz, Flucht und Orientierungslosigkeit, die Harden aufgrund von
Shins Berichten und über Jahre geführten Interviews rekapituliert. Es ist ein
Leben, dessen erste Erinnerung eine der
rituellen Hinrichtungen zur Abschreckung ist, welcher der Vierjährige beizuwohnen hat. Hier zuckt man in Gedanken an Wilkomirskis erfundene KZAutobiografie in den 1990er-Jahren leise
zusammen, ist es doch eine ähnliche
erste Erinnerung. Natürlich besteht kein
Zusammenhang, doch die Assoziation
öffnet viele Fragen zu Shins Autobiografie. Kann sie wirklich wahr sein?
Wie soll der Chronist dem begegnen?
Erstens dadurch, dass die Unsicherheiten thematisiert werden: Shins Erzählung kennt offensichtlich Korrekturen
oder Varianten, zum Beispiel über den
Verrat an der eigenen Mutter. Harden
rapportiert beide Versionen und erwähnt ähnlich widersprüchliche Aussagen in «einem Dutzend weiterer Gespräche». Danach verfährt das Buch linear, doch die möglichen Abweichungen bleiben im Hinterkopf präsent.
Zweitens ist der Autor um innere Logik
und Plausibilität bemüht. Drittens rückt
das Buch Shins Zeugnis in den Kontext
dessen, was man über Nordkorea weiss.
Immer wieder werden politische,
ökonomische, soziale Zustände dargestellt. Man erfährt so einiges über die
Lücken im Herrschaftssystem des Landes, über die unerwartete partielle
Durchlässigkeit der Grenze zwischen
Nordkorea und China, die Shin auf seiner Flucht unwissend nutzen konnte.
Und schliesslich ist Hardens Report von
expliziter Nüchternheit; selbst das Ungeheuerlichste wird niemals emotional
ausgebeutet. Das Resultat suggeriert
eine Glaubwürdigkeit, die den Atem stocken lässt. ●
CHRonoS
Blaine Harden: Flucht aus Lager 14. DVA,
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
Sachbuch
Wissenschaft Der Physiker John Freely zeigt, wie viel das Abendland der islamischen Welt verdankt
Verschlungene Wege des Wissens
John Freely: Platon in Bagdad. Wie das
Wissen der Antike zurück nach Europa
kam. Klett-Cotta, Stuttgart 2012.
388 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 22.90.
Von André Behr
WORLD PICTURES / PHOTOSHOT
Als Newton im 17. Jahrhundert die «Riesen» würdigte, auf deren Schultern er
stehen durfte, um «weiter als Descartes
sehen zu können», nannte er Koperni-
kus, Kepler oder Galilei, sowie viele
Griechen der Antike. Arabische Wissenschafter erwähnte er nicht. Diese Sicht
dominierte die Lehrmeinung lange.
Mittlerweile weiss man auch bei uns
mehr über die Leistungen der islamischen Wissenschaften. Dennoch hört
man immer wieder, in der Zeit zwischen
den alten Griechen und der wissenschaftlichen Revolution sei in den Naturwissenschaften nicht viel passiert.
Wer sich über dieses angebliche schwar-
Reste einer
Moschee in Harran,
in der heutigen
Türkei. Die Stadt
lag an einer alten
Karawanenstrasse,
auf der einst auch
Wissen zirkulierte.
ze Wissensloch auch schon gewundert
hat, dem sei John Freelys Buch empfohlen. Der 86-jährige Autor aus Brooklyn,
der in Istanbul lebt und dort Physik und
Wissenschaftsgeschichte lehrte, räumt
in seinem stattlichen Werk sehr geduldig mit Vorurteilen unterschiedlichster
Couleur auf.
Ausgestattet mit einem immensen
Faktenwissen beschreibt Freely die
Wege und Wandlungen des Wissens,
von den ersten Naturphilosophen Ioniens, des klassischen Athen und des hellenistischen Alexandria nach Rom, Konstantinopel, Gondischapur bis ins arabische Bagdad, nach Kairo, Damaskus, ins
maurische Spanien, nach Palermo, Paris
und Oxford.
Das letzte Kapitel ist Harran gewidmet, einer antiken Stadt im Südosten
der heutigen Türkei, die an einer alten
Karawanenroute von Zentralanatolien
bis zum Zusammenfluss von Euphrat
und Tigris liegt. In dieser Region trafen
astronomische Überlieferungen Mesopotamiens auf die rationale und die okkulte Wissenschaft des hellenistischen
Alexandria und wurden dann nach Bagdad weitergegeben.
Nicht weit von Harran entfernt befindet sich die syrische Stadt Aleppo, die in
ihrer fast 4000-jährigen Geschichte gerade einmal mehr Opfer von Zerstörungswut ist.
Von John Freely kann man nicht nur
viel über Wissenschaft lernen. Er macht
einem auch klar, wie verstrickt und hybrid die Kulturen sind, und wie viel das
Abendland der islamischen Welt verdankt, dass nicht mehr Wissen verloren
gegangen ist. ●
Verhaltensforschung Automatische Handlungen steuern unseren Alltag
Wie eine schlechte Angewohnheit umgepolt wird
Charles Duhigg: Die Macht der
Gewohnheit. Warum wir tun, was wir
tun. Berlin Verlag, Berlin 2012.
416 Seiten, Fr. 32.90.
Von Michael Holmes
Keine seelische Grossmacht wird mehr
unterschätzt als die Gewohnheit, welche uns doch hilft, zahllose lebenswichtige Alltagsaufgaben mit einem Minimum an geistiger Anstrengung zu meistern. Sie ist das Immergleiche, das
Selbstverständliche, dem wir kaum
mehr Beachtung schenken als ein Fisch
dem Wasser.
Der «New York Times»-Journalist
Charles Duhigg widmet sich der Macht
der Gewohnheit mit der Neugier eines
Geschichtenerzählers, Philosophen und
Wissenschafters. Die zentrale These
28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
seines packenden und vergnüglichen
Buches besagt, dass jede Gewohnheit
aus drei Grundelementen besteht: Wir
reagieren auf einen Auslösereiz mit
einer Routine, weil wir eine Belohnung
erwarten. Banal? Keineswegs! Duhigg
belegt anhand von Beispielen aus allen
Lebensbereichen, dass sich schlechte
Gewohnheiten deutlich leichter und
schneller in gute verwandeln lassen,
wenn wir ihre Bestandteile identifizieren und gezielt verändern.
Die schrittweise Analyse und Umgestaltung automatischer Verhaltensmuster hilft Menschen, weniger zu essen,
regelmässig Sport zu treiben und effizienter zu arbeiten. Und das Tüpfelchen
auf dem i: Das Erlernen einer segensreichen Schlüsselgewohnheit führt meist
zur Ausbildung weiterer positiver Gewohnheiten. Duhigg hat Hunderte Studien und Interviews ausgewertet, deren
Ergebnisse sich wie von selbst in sein
ebenso schlichtes wie eindrucksvolles
Denkgerüst fügen. Er erklärt, wie Selbsthilfegruppen, Kirchgemeinden, Spitäler
und soziale Bewegungen schädliche
Denk- und Handlungsroutinen überwinden helfen.
Zudem belegt er, dass wir uns Tugenden wie Mut, Hilfsbereitschaft und
Selbstdisziplin angewöhnen können. Er
zeigt aber auch, dass viele Grossunternehmen die Kaufgewohnheiten ihrer
Kunden ausspionieren und diese mit
viel Geschick und Einfallsreichtum zu
manipulieren wissen.
Dieses kleine Meisterwerk ist zugleich eine Einführung in die neue Wissenschaft der Gewohnheit, ein mit grosser Sprachkunst gefertigter Erzählband
sowie eine überaus praktische Übungsanleitung zur bewussten Gestaltung von
Gewohnheiten. ●
Debatten In Frankreich
nehmen Intellektuelle am
öffentlichen Gespräch teil
Swissair Das waren noch Zeiten
Man
verhaftet
keinen
Voltaire
Joseph Jurt: Frankreichs engagierte
Intellektuelle. Von Zola bis Bourdieu.
Wallstein, Göttingen 2012. 260 Seiten,
Fr. 34.40, E-Book 24.20.
Im Mai 1968, als Jean Paul Sartre die Pariser Studenten dazu aufrief, das kapitalistische System zu beseitigen, ging das
Gerücht, der Polizeipräfekt habe dem
Staatspräsidenten geraten, den Schriftsteller verhaften zu lassen. Darauf habe
de Gaulle geantwortet: «On n’arrête pas
Voltaire». Die Authentizität dieses Ausspruchs ist nicht erwiesen; aber er illustriert die besondere Rolle, die dem französischen Intellektuellen im politischen
Leben seines Landes zukommt.
Der Begriff des «Intellektuellen» ist
gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Gebrauch gekommen. Damals gelang es
dank dem hartnäckigen Protest von
Schriftstellern und Gelehrten, die Rehabilitierung des zu Unrecht der Spionage
bezichtigten jüdischen Hauptmanns
Dreyfus zu erreichen. Seither sind
Frankreichs Schriftsteller und Wissenschafter im Urteil der Öffentlichkeit zu
einer moralischen Instanz geworden.
Ihre Stellungnahmen, Manifeste und
Debatten haben neben der parteipolitischen Auseinandersetzung ihr eigenes
Gewicht und bieten dem Staatsbürger
eine zusätzliche Orientierungshilfe.
In seinem Buch über «Frankreichs
engagierte Intellektuelle» gibt der
Schweizer Romanist Joseph Jurt eine
sehr willkommene Darstellung der Geschichte solcher intellektueller Einmischung. Das Buch beginnt mit Emile
Zolas «J’accuse», verweilt eingehend
beim intellektuellen Doppelgestirn
Jean-Paul Sartre/Raymond Aron und
endet mit den modernen «Medienphilosophen» Bernard-Henri Lévy und André
Glucksmann. Eine der wichtigen Einsichten, die das Buch vermittelt, betrifft
das Beharrungsvermögen der kommunistischen Ideologie im geistigen Leben
Frankreichs: Der Hoffnung, mit der Sowjetunion vollende sich, was mit der
Französischen
Revolution
begann,
haben sich viele Intellektuelle nicht entziehen können.
Das Buch von Jurt ist keine Einführung, sondern setzt Grundkenntnisse
der neuesten französischen Geschichte
voraus. Es bietet eine kurz gehaltene
und gut lesbare, durch eine vorzügliche
Bibliografie ergänzte Übersicht. ●
Urs Bitterli ist emeritierter Professor für
neuere Geschichte der Universität Zürich.
SWISSAIR PHOTO AG / STIFTUNG LUFTBILD SCHWEIZ / ETH BIBLIOTHEK
Von Urs Bitterli
Ad Astra Aero AG und Balair – so hiessen die Vorläuferfirmen der Swissair, wie viele Flugbegeisterte
wissen. Dass die Ad Astra Aero und später auch die
Swissair in den Anfängen der Linienfliegerei in der
Schweiz ihr Geld aber mehrheitlich mit Luftaufnahmen machten, überrascht hingegen.
Diese Tatsache ist einer der spannenden Aspekte des
Buches «Swissair Souvenirs», das als zweiter Band
der Reihe «Bilderwelten. Fotografien aus dem
Bildarchiv der ETH-Bibliothek» erschienen ist. Beim
Stöbern in dem schön gestalteten Buch mit fast 300
Fotografien erstaunen die vielen Luftaufnahmen von
Städten und Landschaften, die vor allem in der
Pionierzeit der Fluggesellschaft geschossen wurden.
Natürlich fehlen aber auch die noch populäreren
fotografischen Eindrücke aus dem «Innenleben» der
Airline nicht.
Ein Beispiel ist unser Bild, das Flight Attendants –
damals hiessen sie noch Stewardessen – etwa 1978
beim Service in einer Boeing 747-257 B zeigt. Was für
Zeiten: Auf dem Rolltisch steht ein Braten wie
Sonntags zuhause, die Speisen sehen aus, als kämen
sie direkt aus einer Hotelküche. Und ein Passagier
schmaucht fröhlich seine Pfeife, ohne einen Tadel der
Angestellten befürchten zu müssen. Der Band ist eine
Wunderkammer der Fluggeschichte und wird AviatikFreaks, die sich für Flugzeugtypen, Wartungsarbeiten
oder Uniformen interessieren, ebenso begeistern wie
in Nostalgie schwelgende Swissair-Fans.
Roberto Zimmermann
Ruedi Weidmann: Swissair Souvenirs. Bilderwelten –
Fotografien aus dem Bildarchiv der ETH-Bibliothek,
Band 2. Scheidegger & Spiess, Zürich 2012.
176 Seiten, Fr. 58.90.
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29
Sachbuch
Kommunismus Die schillernde Figur Trotzkis lässt noch immer Kontroversen aufflackern
Weder Schmähschrift noch Offenbarung
Robert Service: Trotzki. Eine Biografie.
Suhrkamp, Berlin 2012. 730 Seiten,
Fr. 43.50, E-Book 36.30.
Von Reinhard Meier
Trotzki, so schrieb einst der britische
Historiker Robert Conquest, gehöre der
«Glanz der verlorenen Sache». Der
neben Lenin am meisten herausragende
Führer während der bolschewistischen
Revolution war ein brillanter Redner,
leidenschaftlicher Publizist, als Kriegskommissar legendärer Kommandant der
Roten Armee, im Machtkampf nach Lenins Tod wichtigster Gegner Stalins.
Dieser liess seinen Widersacher 1940 im
mexikanischen Exil durch einen Agenten mit einem Eispickel erschlagen.
Kein Wunder, dass über eine derart
schillernde Persönlichkeit der jüngeren
We ltgeschichte schon Dutzende von
Biografien geschrieben wurden. Robert
Service, der britische Autor der jüngsten Publikation in dieser langen Reihe,
erhebt den Anspruch, in seinem Buch
auch «die verborgenen Aspekte» von
Trotzkis Leben «ans Tageslicht zu bringen». Doch dieses Ve rsprechen wird
nicht eingelöst, jedenfalls nicht in einem
grundsätzlichen Sinne. We r sich durch
die über 700 Seiten der Biografie liest,
erfährt zwar eine erdrückende Fülle von
Details – vor allem was Trotzkis endlose
ideologische Streitigkeiten mit seinen
wechselnden kommunistischen Rivalen
oder Gesinnungsgenossen betrifft.
Ein neues Trotzki-Bild kommt bei all
dieser Detailhuberei nicht zum Vorschein. Trotzki bleibt der ohne jeden
Anflug von Selbstzweifel von seinen
marxistischen Anschauungen durchdrungene Kämpfer, der «immer alles
besser wusste». Er zögert nicht, Widerstände gegen die Sowjetdiktatur grausam mit «rotem Te rror» zu brechen.
Abstrus ist der Vorwurf von 14 offenbar
romantisch angehauchten Historikern
und Soziologen, bei dieser Biografie
handle es sich um eine «Schmähschrift»
mit antisemitischer Te ndenz. Sie verweisen auf den Umstand, dass der prominente Sohn des jüdischen Gutsbesitzers David Bronstein auf den ersten 60
Seiten des Buches mit dem jüdischen
Vornamen «Leiba» bezeichnet wird.
Erst danach wechselt der Autor zum
gängigen Rufnamen Leo. Service stützt
sich dabei auf einen eher vagen Hinweis
in der ersten Fassung von Trotzkis Autobiografie. We shalb dieser jüdische Vorname eine antisemitische Ve runglimpfung sein soll, bleibt schleierhaft. Zumal
Service in einem eigenen Kapitel Trotzkis kritisch-distanzierte Einstellung
zum Judentum differenziert erläutert.
Der Trotzkismus ist seit Jahrzehnten
tot. Als phantasieanregender Mythos
dürfte die Figur Trotzkis, ähnlich wie
jene von Ché Guevara, aber noch länger
überdauern. ●
Das amerikanische Buch Bob Woodwards ätzende Kritik an Obama
Sie waren ein ungleiches Paar, der Präsident und der Oppositionsführer im
Repräsentantenhaus. Als Barack
Obama und John Boehner im Juli 2011
auf dem «Truman-Balkon» des We issen Hauses zusammensassen, rauchte
der Republikaner zu seinem geliebten
Merlot eine Zigarette nach der anderen.
Obama hielt sich dagegen an NikotinKaugummis und Eistee. Aber immerhin
redeten sie nun miteinander, um den
Absturz der USA in die Zahlungsunfähigkeit zu verhindern und die staatliche
Schuldendecke aufzustocken. Denn
noch kurz vorher hatte Obama nicht
einmal Boehners Handy-Nummer.
MICHAEL REYNOLDS / EPA
(Rule and Ruin: The Downfall of Moderation and the Destruction of the Republican Party, Oxford University Press,
2012, 504 Seiten) auf die Radikalisierung der Republikaner zurück.
Mit Details wie diesen wird Bob Woodward einmal mehr seinem Ruf als «Prä-
Doch diese Unmittelbarkeit verliert
rasch an Reiz. Woodward bietet zwar
neue Details. Aber seine Geschichte ist
im We sentlichen schon bekannt. Der
Ex-Raucher und der Kettenraucher
konnten sich nicht über eine längerfris30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. September 2012
tige Reduzierung der Staatsschulden einigen und nahmen stattdessen zu einem
faulen Kompromiss Zuflucht, der Amerika Anfang 2013 erneut an den «fiskalischen Abgrund» führt. Finden sie bis
dahin keine dauerhaften Kompromisse,
treten die von Obama und Boehner vereinbarten, automatischen Kürzungen
auch beim Militär in Kraft.
Ein ungleiches Paar:
Oppositionsführer
John Boehner (links)
im Gespräch mit
Barack Obama nach
einem gemeinsamen
Essen am 20. März
2012 in Washington.
Autor Bob Woodward
(unten).
ALEX BRANDON / AP
sident des Enthüllungsjournalismus»
gerecht. Seit er mit seinem Washington-Post-Kollegen Carl Bernstein die
Watergate-Affäre aufgedeckt hat, verfügt kein Reporter über bessere Quellen in der amerikanischen Hauptstadt,
als der ehemalige Nachrichtenoffizier
in der US-Marine. Nachdem er 2010 in
«Obama's Wars» die Kriegsführung des
Präsidenten in Afghanistan analysiert
hatte, widmet sich Woodward nun in
The Price of Politics (Simon&Schuster,
428 Seiten) der Haushaltskrise des
letzten Sommers. Wie bei seinen 15
bisherigen Bestsellern schreibt der
69-Jährige erneut aus der Perspektive
einer Fliege an der Wand und rekonstruiert das Geschehen hautnah.
So lobt die amerikanische Kritik zwar
die Fleissarbeit Woodwards. Aber selbst
die «Washington Post» vergleicht «The
Price of Politics» zu Recht mit einem
Film, der nur aus Nahaufnahmen besteht. Woodwards atemlose Nacherzählung gibt dem Leser keinen Kontext zu
der in feindselige Lager gespaltenen,
politischen Landschaft Amerikas. Diese
Entwicklung führen selbst konservative
Autoren wie Geoffrey Kabaservice
Allerdings macht Woodward deutlich,
dass eine längerfristige Lösung der
Budget-Krise auch an der Te a-PartyFraktion gescheitert ist, die Boehner
jede Steuererhöhung als Ausgleich für
Obamas Offerten bei Haushaltskürzungen verweigert hat. Doch seine
schärfste Kritik reserviert der Autor für
den Präsidenten, den er als arrogant, im
politischen Geschäft unerfahren, vor
allem aber als introvertiert darstellt.
Wie inzwischen aus zahlreichen Quellen bekannt, war Obama unfähig – oder
nicht willens –, persönliche Beziehungen zu den wichtigsten Figuren im
Kongress herzustellen. Dies gilt nicht
nur für die Anfang 2009 noch verunsicherten und gesprächsbereiten Republikaner. Er hielt es auch nicht für nötig,
zumindest ein Ve rtrauensverhältnis zu
führenden Demokraten wie Harry Reid
zu entwickeln. So nahm der demokratische Fraktionschef im Senat nach dem
Scheitern der zunächst geheimen Treffen Boehners und Obamas die Zügel in
die Hand und handelte den faulen
Kompromiss aus. Am Ende dieses Dramas wirkt der Präsident mehr als Zuschauer, denn als Akteur.
«The Price of Politics» wirft damit
nicht nur ein Schlaglicht auf die von
ideologischen Grabenkämpfen blockierte Politik. Woodward legt hier mitten im Wahlkampf eine Chronik des
Ve rsagens vor, die selbst Obama-Fans
zum Merlot greifen lassen dürfte.
Von Andreas Mink ●
Agenda
Opernhaus Zürich Ära Pereira in Wort und Bild
Agenda Oktober 2012
Basel
Freitag, 19. Oktober, 19 Uhr
DialÄktik: Mundartliteratur zwischen
Totenmügerli-Effekt und Weltliteratur.
Mit Pedro Lenz, Raphael Urweider,
Händl Klaus. Fr. 17.–. Literaturhaus,
Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50.
Dienstag, 23. Oktober, 19 Uhr
Verena Stössinger: Bäume fliehen nicht.
Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).
Bern
Donnerstag, 11. Oktober, 19.30 Uhr
Angela Pradelli: Das Haus des Vaters.
Lesung. LibRomania Buchhandlung,
Länggasse 12. Info: www.libromania.ch.
SUZANNE SCHWIERTZ
Hansjörg Schertenleib:
Wald aus Glas. Lesung,
Fr. 15.– inkl. Apéro.
Haupt Buchhandlung,
Falkenplatz 14,
Tel. 031 309 09 09.
Über zwei Jahrzehnte lang hat Alexander Pereira als
Intendant die Geschicke des Opernhauses Zürich
geprägt. Nun lässt ein opulenter Text-Bild-Band
diese Ära Revue passieren. Zum einen werden die
Premieren sämtlicher Spielzeiten gewürdigt, zum
andern schaut man auch hinter die Kulissen. Ein
sechsteiliges Interview von Monika Mertl mit Pereira
führt durch das Buch, in dem auch zahlreiche andere
Akteure von Cecilia Bartoli und Ruth Berghaus bis
zu Nello Santi und Heinz Spoerli zu Wort kommen.
In dem nicht gerade übersichtlich, dafür originell
gestalteten Buch ist von Kunst und Geld, von
Eckpfeilern und Raritäten, von Triumphen und
Pannen die Rede. Denise Schmid und Reto Wilhelm
haben Texte beigesteuert, die Fotos stammen von
Peter Schlegel, Suzanne Schwiertz und dem
Bildarchiv des Opernhauses. Unsere Aufnahme zeigt
Alfred Muff und Krešimir Stražanac 2012 in
Hans Pfitzners «Palestrina». Manfred Papst
Das ist Oper. Das Opernhaus Zürich in der Ära
Pereira, 1991–2012. Kontrast, Zürich 2012.
412 Seiten, Fr. 57.90.
Bestseller September 2012
ANDREAS BODMER
Donnerstag, 18. Oktober, 19 Uhr
Samstag, 27. Oktober, 19 Uhr
4. Nacht der B-Lesenen mit den Nominierten des Schweizer Buchpreises:
Sibylle Berg, Ursula Fricker, Peter von
Matt, Thomas Meyer, Alain Claude Sulzer. Lesungen, Fr. 20.–. Kornhausforum,
Kornhausplatz 18. www.b-lesen.ch.
Zürich
Dienstag, 2. Oktober, 20 Uhr
Bettina Dyttrich, Pit Wuhrer: Wirtschaft
zum Glück. Buchvernissage mit Podium.
Fr. 10.–. Theater Neumarkt, Neumarkt 5.
Info: www.theaterneumarkt.ch.
Dienstag, 9. Oktober, 20 Uhr
Sachbuch
1 Diogenes. 296 Seiten, Fr. 29.90.
2 Dtv. 539 Seiten, Fr. 22.90.
3 Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 19.90.
4 Blessing. 352 Seiten, Fr. 29.90.
5 Goldmann. 383 Seiten, Fr. 26.50.
6
Zsolnay. 347 S., Fr. 26.90.
7 Goldmann. 700 Seiten, Fr. 28.90.
8
Kiepenheuer & Witsch. 301 S., Fr. 21.90.
9 Blanvalet. 575 Seiten, Fr. 29.90.
10 Heyne. 463 Seiten, Fr. 29.90.
1 Hanser. 248 Seiten, Fr. 24.90.
2 Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90.
3
Weltbild. 173 Seiten, Fr. 29.90.
4
Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90.
5 C. H. Beck. 207 Seiten, Fr. 29.90.
6 Droemer/Knaur. 425 Seiten, Fr. 23.20.
7
Weltbild. 464 Seiten, Fr. 39.90.
8 Droemer/Knaur. 368 Seiten, Fr. 29.90.
9 Wunderlich. 296 Seiten, Fr. 21.90.
10 Giger. 227 Seiten, Fr. 37.90.
Martin Suter: Die Zeit, die Zeit.
Jussi Adler-Olsen: Verachtung.
Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.
Jan-Philipp Sendker: Herzenstimmen.
Joy Fielding: Das Herz des Bösen.
Henning Mankell: Erinnerung an einen
schmutzigen Engel.
Elizabeth George: Glaube der Lüge.
Jean-Luc Bannalec: Bretonische Verhältnisse.
Charlotte Link: Im Tal des Fuchses.
John Grisham: Verteidigung.
Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns.
Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.
André Häfliger, Georges Wüthrich: Dölf Ogi –
So wa(h)r es!
Philippe Pozzo di Borgo: Ziemlich beste
Freunde.
Gian D. Borasio: Über das Sterben.
Rhonda Byrne: The Magic.
Lukas Fischer: 1001 Ausflugsziele –
Familienspass.
Manfred Spitzer: Digitale Demenz.
Ildikó von Kürthy: Unter dem Herzen.
Gabriel Palacios: Ich sehe dich.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 18.9. 2012. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Douglas Coupland: Marshall McLuhan.
Lesung und Diskussion, Fr. 18.– inkl.
Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62,
Tel. 044 254 50 00.
Donnerstag, 18. Oktober, 19.30 Uhr
Brigitte Kronauer: Was ist schon ein
Roman! Zürcher Poetikvorlesung. Fr. 18.–
inkl. Apéro. In Zusammenarbeit mit dem
Deutschen Seminar
der Universität
Zürich. Literaturhaus
(s. oben).
DPA
Belletristik
Samstag, 20. Oktober, 19 Uhr
Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte. Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten,
Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.
Donnerstag, 25., bis Sonntag, 28. Oktober
«Zürich liest». Bekannte Autorinnen und
Autoren lesen in der ganzen Stadt.
Programm: www.zuerich-liest.ch.
Bücher am Sonntag Nr. 9
erscheint am 28. 10. 2012
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
30. September 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31
Jubiläumsangebot
Für Leserinnen und Leser der «NZZ am Sonntag»
zum Jubiläumspreis von Fr. 10.– statt Fr. 24.–
Scharf beobachtet, spitz gezeichnet
Chappattes persönliche Auswahl seiner besten Karikaturen
Seit der ersten Ausgabe am 17. März 2002 prägen die Karikaturen von Patrick Chappatte die «NZZ am Sonntag». Im Buch
«100 Kari
katuren» zeigt er eine persönliche Auswahl seiner
Karikaturen»
besten Karikaturen der letzten zehn Jahre aus der «NZZ am
Sonntag». Sein unverkennbarer Stil kombiniert die Schärfe
seiner Beobachtungsgabe mit der Sensibilität seiner zeichnerischen Ausführung. Ob Sarkozy, Merkel oder Blocher: Er arbeitet
die Eigenheiten seiner Figuren pointiert aus, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen.
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Chappatte – 100 Karikaturen aus der «NZZ am Sonntag»
2012, 120 Seiten, 100 farbige Karikaturen.
Format 20,5×21 cm, gebunden, ISBN 978-3-03823-783-9
Patrick Chappatte, 1967 in Karachi (Pakistan) als Sohn eines Schweizers und einer Libanesin
geboren, ist in Singapur und in der Westschweiz aufgewachsen. Mit 21 Jahren veröffentlicht
er erste Karikaturen in der «La Suisse». Heute zeichnet er für die «Herald Tribune», «Le Temps»
und die «NZZ am Sonntag». Er hat soeben als erster Europäer den in den USA verliehenen
«Thomas-Nast-Preis 2011» gewonnen, der Karikaturisten auszeichnet und im US-Journalismus
als prestigeträchtigste Auszeichnung nach dem Pulitzer-Preis gilt. Chappatte lebt mit seiner
Familie in Genf.
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Chappatte – 100 Karikaturen
Fr. 10.–* statt Fr. 24.–
(zuzüglich Versandkosten Fr. 8.–)
für Leserinnen und Leser der «NZZ am Sonntag»
ISBN 978-3-03823-783-9
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