leseprobe - Ullstein Buchverlage
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Schorsch Kamerun Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens Schorsch Kamerun Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens Roman Ullstein Denen, die sich auf die Suche nach Umwegen gemacht haben. Weg von einem Leben geprägt von Dominanzen aus Uhren, Zahlen und anderen Feststellungen. Allen, die probiert haben, den Ohrfeigen, Schönschreibklubs und Schuldspiralen eine überraschende, grenzenlose Welt entgegenzusetzen. Ohne Eiche Rustikal, Dauerbenotung und optimiertes Schaffen. Hausverbot im Café Gottesgleich »Anarckeeey!« Genau! »Anarckey!« Kein Zweifel. Das war es. Das musste es einfach sein. Horsti hatte das erste Mal wirklich Alkohol getrunken. Also nach Eierlikör oder Alsterwasser. Weinbrand war das. So geht es wohl vielen. Der erste echte Suff. Da will man dann später nix mehr mit zu tun haben. Die erste Zigarette war »Peter Stuyvesant«. Weinbrand ist grausam. Horstis alter Herr trank sehr gern Weinbrand. »Napoleon« von Aldi. Wegen des guten PreisLeistungs-Verhältnisses. »Anarckey!« Nie mehr aufhören müssen, dieses eine Wort zu rufen. Auf der Strandparty an der Bimmel, dem Grenzbach zwischen dem Bimmelsdorfer Strand und dem Nachbarort Scharbe, wo Horsti nun einmal herkam. Schreien! Brüllen! Auch schon vor dem Trinken. Immer wieder. Einfach aus einer Ahnung heraus. Horsti und seine Freunde hatten kaum eine Vorstellung davon, was das 7 genau sein könnte: Anarchie. Überhaupt, ihr Wissen über radikale Versuche von umgesetzter Freiheit ging gegen null. Sie verstanden es aber trotzdem sofort, das herausgeschleuderte »Anarchy« des Sängers Johnny Rotten. Den sägenden Schrei der Sex Pistols, der Band, die ein Stachel war im Hintern Englands. Genau da steckte drin, was auch sie brauchten. Wie in einem freigelegten Instinkt. Alles, alles hatte diese Stimme. Maßlos befreiender Spott. Jede Menge Unmoral. Und so viel Berechtigung dazu. Nie zuvor und nie danach hat etwas so sehr nach Pisse gestunken und gleichzeitig so lecker geschmeckt. Johnny Rotten war in jeder Faser verführerisches anti. Er versprühte eine solch großartige Verachtung mit seinen höhnischen Gesten und Blicken. Beim Singen war sein Körper extra verdreht, so dass er sich genüsslich zu winden schien in seinem meckernden Schimpfen. Nichts Komma nichts hätte auflehnender und gleichzeitig einnehmender daherkommen können, als die verführerische Attacke gegen jenen schrecklichen Würgegriff, in dem sich Jugendliche wie Horsti und seine Freunde eingeklemmt sahen. Bis dahin. Es war exakt der passende Moment, in dem Johnny Rotten sein maßgeschneidertes Grienen auf die Welt loswetterte. Wie genau man so eine Wirkung entfacht, wie man solch schneidendes Spotten herstellt, wie tiefste Verzweiflung in eine hoffnungsfrohe, utopische Stimme umgelenkt werden kann, der man – wie süchtig geworden – unbedingt zuhören will, all das durchschauten die Bimmelsdorfer und viele andere zu dem Zeitpunkt noch längst nicht. Alles Reflektieren kam viel später. Seit diesem Moment gab es kein Zurück mehr, und wenn auch nicht im Ausmaße der 8 Sex Pistols’schen Vehemenz, so gelang es fortan einigen aus Horstis Szene doch, ein paar kleine, eigene Treffer zu landen – nun, da ihnen Ohren, Köpfe und Herzen geöffnet worden waren. Die ersten erwähnenswerten Erfolge passierten dabei eher im Zufall. Zum Beispiel hatten Horstis Freunde ihm mit wasserfestem Stift heimlich das Wort »Polizei« auf den Rücken seiner Jacke geschrieben und dazu noch zwei kräftige Bullenhörner über den Buchstaben O gesetzt, plus kleine Schweinsöhrchen an den Seiten. Da Horsti die Schmiererei nicht bemerkt hatte, wunderte er sich nicht schlecht, als ihn Dorfpolizist Anton – Spitzname Froggy (die froschgrüne Uniformfarbe war hier wohl ausschlaggebend gewesen) – am nächsten Tag heftig anging. »Sofort stehen bleiben!«, quakte er quer über den ganzen Marktplatz. Als Nächstes verlangte der aufgebrachte Wachtmeister mit einem derart wütenden Gesicht, wie Horsti es noch nie bei irgendjemandem gesehen hatte, nach seinem Ausweis, was ihm augenblicklich klarmachte, dass dem Behördenmann nicht zum Scherzen zumute war. »Den Personalausweis! Aber zack! Zack!« Welch ein Unsinn, wo doch Froggy – leider – nur allzu gut wusste, wer Horsti war, hatte dieser doch schon die ein oder andere Ermahnung von ihm erhalten. Wegen Kleinkram wie Fußbälle ins Café schießen oder dem Betreten von angeblich verbotenen Flächen. Diesmal aber, nach diesem ersten »richtig amtlichen« Vorfall, wie der tobende Amtsträger sich ausdrückte, würde es ein empfindliches Verwarnungsgeld geben. Und zwar 30 D-Mark, das könne er direkt sagen. Aber diesmal verstand Horsti gleichzeitig auch noch etwas 9 anderes, viel Wichtigeres: Die Dinge ließen sich aus der Reserve locken. Man musste nur wissen, wie sie zu kitzeln sind. Dann kamen sie ganz von selbst aus ihrer Ecke heraus. Von jenem Moment an, jenem kleinen Ereignis in den frühen Bimmelsdorfer Tagen, ließ Horsti nie wieder davon ab auszutesten, wie und mit welchen Mitteln er sich zur Wehr setzen konnte – wenn immer etwas dringend Luft bekommen musste. Dabei lernte er schnell, dass es nicht verkehrt ist, wenn die Gegenseite anfangs gar nicht richtig nachvollziehen kann, worum es eigentlich genau geht. Denn das landet dann umso nachhaltiger. Seine ersten, obschon mit starkem Ehrgeiz verbundenen Versuche, sind allerdings schlicht ungelenk zu nennen. So malte er im Morgengrauen in riesigen schwarzen Lettern den als saftigen Protest gemeinten Satz »Bimmelsdorfer Cafés haben keine Ahnung von Kaffee« sehr gut sichtbar auf das schneeweiße Bimmelsdorfer Ratsgebäude. Gleich neben die große Eingangstür, wo sonst immer die Brautpaare herauskamen. Sein Angriff sollte als gerechte Strafaktion verstanden werden. Dazu muss man wissen, dass er Tage zuvor aus einem Café, dem Café Götter Eck, herausgeflogen war. Vor den Augen der versammelten Bimmelsdorfer Szene. Wegen einfach nur: nichts konsumieren wollen. Jetzt also seine Rache. Gemeint wie eine Kriegserklärung. Den Strafaktion-Begriff hatte er sich dabei von einer spanischen Separatistengruppe ausgeliehen, die in einem Buch über »Kämpfende Gruppen in Europa« vorgekommen und darin als besonders durchsetzungsstark hervorgehoben worden war. 10 Das Café Götter Eck war Horsti und seinen Freunden ohnehin seit längerem und nicht erst seit Horstis Rauswurf ein Dorn im Auge. Ein verhasstes Symbol der ScheißBimmelsdorfer-Touri-Maschine. Da waren sich alle einig von der Gegenseite, als die Horsti und seine Clique sich von Anfang an empfanden. Das Götter Eck hieß im Dorfjargon nur Café Gottesgleich, weil es das teuerste Café am Platze war und auch weil dort immer viel Hamburger Prominenz abstieg. HSV-Spieler oder im gesamten Norden äußerst beliebte, oft sehr besoffene NDR-Moderatoren und Mundart-Witzeerzähler. Am schlimmsten aber waren die Stars der sogenannten Bäder-Tourneen, mit denen sich die nationale Schlagerbranche zusätzliche, saisonale Sommersaläre abholte. Einen zynischen, ordinären Kackehaufen, so nannte Horstis Freund Morten diese Veranstaltungen, die in Wirklichkeit »Singen und Klatschen im Sommerwind mit all Ihren beliebten Stars aus der Hitparade« hießen. »Bimmelsdorfer Cafés haben keine Ahnung von Kaffee.« Horsti hatte sich eine Menge erhofft von seiner Aktion. Das musste einfach ein fetter Skandal werden bei dem Klartext der Ansage. Es kam aber nicht zu der gewünschten Resonanz. Eine kleine Aufregung entstand nur wegen der Beschmierung des Ratsgebäudes, nicht aber wegen der Botschaft selbst. Womöglich ging die Aktion auch deshalb unter, weil in derselben Woche, in der Horsti zuschlug, auch noch das beliebte Hafenfest im Ortsteil Needorf stattfand und zu diesem Ereignis viele in der Gegend immer heftig betrunken waren. Trotz der schmerzlichen Schlappe ließ Horsti sich kei11 nesfalls entmutigen. Und tatsächlich war sein in der Schule ausgeführter nächster Versuch, den er als »Umkartografieren« bezeichnete, ein richtig schöner Achtungserfolg. Möglicherweise auch deshalb, weil es sich um eine von ihm empfindlich veränderte Landkartenrolle des Heiligen Landes, der wichtigsten Schautafel für den Religionsunterricht, handelte. Und weil der See Genezareth nach Horstis Eingriff direkt mit dem Toten Meer verschmolzen war. Alles war mit einem dicken, blauen Farbstreifen verbunden, den Horsti grob mit dem Malerquast aufgetragen hatte. Der heilige Fluss Jordan war über den Jordan gegangen, sozusagen. Auslöser für diese als gerechte Strafaktion Numero Dos bezeichnete Maßnahme waren diesmal die Schikanen des verhassten Deutsch- und Religionslehrers Fritz Schmidke, hinter vorgehaltener Hand auch als NaziSchmidke diffamiert, mit dem es ständig heftigen Ärger gab. Jedenfalls mit bestimmten Schülern. Horsti war – das ist unbestritten – im Falle Schmidke und dessen Lehrmethoden keinesfalls allein mit seinen Anpassungsunwilligkeiten. Es waren Protagonisten wie jener autoritäre Lehrkörper, die aus den Bimmelsdorfer Bürgerkindern erst Abweichler machten. Einige waren wirkliche Alt-Nazis, die einfach nur übernommen worden waren in den nächsten Staat. »Erst haben sie Millionen Juden umgebracht, jetzt wollen sie Köpfe abschneiden, wenn sie dir sagen, dass du dir die Haare kürzen sollst«, schrieb ein Zeitgenosse von Horsti in sein Tagebuch. Solch Nachkriegs-Überbleibsel mit ihren Rügen und Strafen trieben sie zu ersten Ungehorsamkeiten, ließen die Reflexe aufkommen, die sie schließlich zur Gegenseite machten. Vie12 lerorts. Ganz sicher war der Bimmelsdorfer Strand keine besonders verdrehte Gegend, die zwangsläufig extra Verdrehte hervorbringen musste. Es brodelte überall, und der Grund für die auffällige Aufmüpfigkeit war kein Zufall. Das nach dem Zerfall des Dritten Reiches längst nicht ausgefegte Land zeigte in großer Breite altgesinnte Fratzen. Ganz eindeutig waren viele vorgestrige Scheiß- Bestimmer verantwortlich für diese von ihnen bestimmte Scheiß-Zeit. Sie verursachten den Widerstand, der kommen musste, auch wenn die neuen Rebellen von Haus aus überhaupt keine Ahnung davon hatten. Not macht erfinderisch. Im Bimmelsdorfer Raum nannten Horsti und seine Clique ihre frühen aufmüpfigen Einfälle »Falsche Fische machen«. Vielleicht, um so große Ausdrücke wie Subversion oder dergleichen zu vermeiden, wohl aber auch, weil solche Begriffe ihnen als zu ernst, zu ambitioniert erschienen. Die Versuche der Falschen Fische wucherten wild in Qualität und Wirkung. Auf jeden Fall grassierte eine massive, hochansteckende Scheißebauwut, einer Seuche gleich, in dem bis dahin beschaulichen Küstenstreifen. Bimmelsdorfer Strand, Needorf, Scharbe, Haffke – die ganze Bucht und auch das Hinterland waren infiziert. Wenn auch nur recht kurz. Bei ihrem Ausbruch konnten alle gar nicht genug davon bekommen, möglichst zahlreiche aneckende Viren zu produzieren. Der Eifer ließ aber schnell nach. Vielen Aktiven fehlte der Durchhaltewille, und sie empfanden ziemlich bald ein schlechtes »Aufwand-Nutzen-Verhältnis« – das hat einer der Neuaktivisten wirklich genau so gesagt, bevor er ins Lager der konsumbegeisterten Discotypen überlief. Die meisten 13 hörten nach kurzer Entflammung in Wahrheit aber deshalb so schnell wieder damit auf, weil sie schlicht keine Ideen mehr hatten. Einige wenige haben hingegen nie wieder nachgelassen, nach immer neuen Falschen Fischen, nach launigen, spottenden und gebrauchsfesten Alternativen zum Vorherrschenden zu forschen. Und diese Minderheit, das waren diejenigen, die eine stechende Notwendigkeit empfanden, sich einmischen zu müssen. Für sie begann ein endloser Zickzacklauf. Angestoßen durch eine ungerechte Ohrfeige oder eine andere demütigende Berührung begannen sie, gegen den Strom zu schwimmen. Sie begaben sich auf einen langen, wackeligen Weg. Das war manchmal großartig, dann wieder nur kleinfühlig. Und dabei sehr nervös. Naiv. Befindlich, arrogant, unsicher, getrieben. Angeschlagen, Rache nehmend, Hilfe schreiend. Ideenreich, platt, maßlos, besserwissend. Jammernd. Abseits, frontal, kämpferisch. Ehrgeizig. Witzig, hart, ironisch, bitterernst, ganz süß und ganz verletzend. Schnell und gehetzt. Und auf der Stelle tretend. Von da an. Und noch immer. 14 Die Entdeckung der Kuckucksmethode Wie lässt sich ein losgetretenes Schaukeln von verschiedenen Leben gut beschreiben? Im Falle von Horsti und seinen Mitstreitern und Mitstreiterinnen könnte es Sinn ergeben, unterschiedliche Proben aus unterschiedlichen Phasen zu entnehmen. Weil sich ihre Geschichten nicht ganz so sauber aufgereiht erzählen lassen. Ihre Biografien sind auf vielen Ebenen Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig, zeigen Tempo und Stillstand in einem. Oben ist unten. Vorne ist hinten. In eigenen Höhen und fremden Tiefen. Manche von ihnen winden und spreizen sich in einer nicht enden wollenden Grätsche. Ein permanentes Abwägen ist das. Schlecht zu zügeln, aber irgendwann gewöhnen sie sich an Parallelen voller Widersprüche. Werden Profis – selbst im Unprofessionellen. Man trifft sie irgendwo zwischen Straßenkrach und Konzerthausklang. Hin und her wippend. Um Flexibilität bemüht. 15 In so ein kompliziertes Spannungsfeld des Nichtrichtigen im womöglich Totalfalschen stolperte Horsti vom Bimmelsdorfer Strand völlig ungeschützt hinein. Ahnungslos. Glaubte er jedenfalls. Oder war er ganz bewusst dort hineingeraten, allein schon, weil da am meisten geboten wurde? Es lässt sich jedenfalls festhalten, dass in jenen besonderen Bimmelsdorfer Erweckungsmomenten die Dinge auch schon nicht nur eindeutig waren. Brennende Langweile lautete der Filmtitel über eine englische Musikgruppe, die in derselben Zeit durch deutsche Provinzen zog, in der Horsti und Konsorten aufwachten. Das traf es ganz gut. Angezündet in der Lethargie. Und Flammen, die gab es, das steht fest. Stillstände auch. Zwischendurch war auch Zauber. Manchmal im Sommer, die völlige Action. Ausprobieren. Experimentieren mit gänzlich unbekannten Rohstoffen. Immerhin wusste man, was man nicht wollte, gegen wen und was man war. Die Angriffe aber verliefen extrem unsortiert. Vieles verging bereits im Ansatz. Anderes misslang vollständig. Für ein Flugblatt mit Namen von Lehrern darauf, die mit dem bereits genannten Deutschlehrer Nazi-Schmidke womöglich privat in Kontakt standen, schämt sich Horsti bis heute. Auch für die superlahme Hausbesetzung in einem leerstehenden Teppichhaus, gleich neben dem damals für die Szene sehr wichtigen Wienerwald-Restaurant an der Bimmelsdorfer Promenade. Heute verkauft dort eine Sylter Fischspezialitäten-Kettengastro Seafood, andere Rolexzeugs oder Edelmodekram ab, und ein eklig mit Geld um sich werfender Mann, der mal HSV-Präsident war und einer Populisten-Partei vorstand, baut, weil er irgendwie 16 Asia-Fan ist, ein prahlendes Gebäude nach dem anderen – strikt in Buddhistenweiss getüncht – an den Strand oder auch schon mal ins Meer. Damals endete die Inbesitznahme des zentral gelegenen Ex-Kaufhauses damit, dass Horsti und seine einzigen zwei Mitbesetzer gleich in der ersten Nacht wieder abzogen. Freiwillig. Wegen zu kalt. Und wegen Hunger und Durst. Sie hatten nicht bedacht, dass der Wienerwald am Tag ihrer Aktion – einem Montag – geschlossen bleiben würde und sie deshalb weder halbe Hähnchen noch Einbecker Mai-Ur-Bock erwerben konnten. Viel besser gelangen dagegen die TouristenTretfallen aus großen Mengen von Quallen, die ein paar Gleichgesinnte aus dem nahe gelegenen Needorf zur Anwendung brachten. Sie schaufelten die glibberigen Seetiere in metertiefe Gruben und tarnten sie an der Oberfläche mit etwas Strandsand, damit die super ungeliebten Touris schreiend darin versackten. Dieselben Kollegen tauschten auch Nummernschilder von Popper-Karren aus und probierten ein paar Dinge mit Urin in zu teuren Longdrinks. Das funktionierte in seiner Direktheit. Mehr Subtilität kam erst mit der Idee auf, trojanische Geschichten unters Volk zu bringen. Bis zum heutigen Tag wird Horsti nicht müde zu behaupten, dass mit ihnen die »öffentliche Ordnung empfindlich gestört« wurde. Auch für diese kernige Aussage hatte er die spanische Separatistengruppe bemüht. Immerhin gab er seiner ausnahmsweise mal wirklich eigenen Erfindung, einer Abwandlung der Trojaner, einen starken Namen – das fanden wirklich alle. »Falscher-Kuckuck-beim-Schwarzfahren-entwischt« lautete der Slogan, mit dem Horsti Unfrieden ohne Ende 17 stiften wollte. Den Kuckucks-Satz, an dem er wochenlang gefeilt hatte, hinterließ er, wo er nur konnte: als unauffällig fallen gelassenes Zettelchen oder als Kritzelei im Schulklo. Er sprühte ihn sogar als Graffiti an Mauern, was damals im ländlichen Raum noch äußerst selten vorkam. Tatsächlich war das eigene Graffiti gleichzeitig das erste echte, was er je gesehen hatte, neben denen aus dem Fernsehen von Berichten über die New Yorker Bronx oder so. Die simple Grundidee für Falscher-Kuckuck-beim-Schwarzfahren-entwischt war es, unkorrekte Nachrichten oder Geschichten zu verbreiten in dieser ohnehin auf puren Lügen aufgebauten Schweinegesellschaft, wie es Horstis Freund Stephan nannte, der die Dinge stets wesentlich radikaler aussprach. Und den Horsti für genau solche Ansagen heimlich bewunderte. Auf jeden Fall versuchte man mit diesen ungünstigen Märchen die Glaubwürdigkeit einer Person anhaltend zu destabilisieren, also wenn diese nachweisbar als ungerechte – als ein Chefschwein zum Beispiel – identifiziert worden war. Und davon gab es in Bimmelsdorf einige. Schon nach kurzer Zeit gelang es Horsti, unter seinen Zielpersonen eine beachtliche Menge Unruhe zu stiften, und schnell fingen weitere aus der Clique an, mit der erfreulich gut funktionierenden Kuckucks-Methode zu arbeiten. Horstis Klassenkameradin Kathrin agierte dabei am effizientesten. Unvergessen ihr über eine Lokalzeitung gestreutes Gerücht, es werde »bereits in der kommenden Saison« im nahen Klein-Bimmelsdorf eine »neue Autobahnanbindung« gebaut. Wegen »ständig steigenden Verkehrsaufkommens«. Der nötige Bebauungsplan sei von der 18 Politik schon »so gut wie durchgewunken«. Gleich nach Aussetzung dieser Falschmeldung herrschte richtig große Empörung im Ort: »So etwas kann man doch nicht im Ernst wollen in einem ausgewiesenen Luftkurort.« Starker Unmut machte sich breit, meist in den Cafés vorgetragen oder als Kommentare in demselben Lokalblatt. Die Autobahnanbindung führe »unweigerlich« zu einer »immensen Wertminderung« für viele Immobilien und Grundstücke in der »gesamten Region«, so ein Kommentar in der Zeitung. Obendrein sei man dann nicht mehr »wettbewerbsfähig gegenüber Scharbe« und anderen »mitkonkurrierenden« Erholungsorten. »Kaum wiedergutzumachen« sei es, wenn sich »so ein Schwachsinn« durchsetzen würde. Ohne genauer nachzuschauen, woher die Meldung eigentlich kam, kochte die Stimmung immer bedrohlicher. Die ganze Aufregung fand ihren absurden Höhepunkt in einer Ohrfeige, die ein aufgebrachter Ferienwohnungsbesitzer aus NRW einer ansässigen Hotelierstochter verpasste, weil sie etwas abschätzig angemerkt hatte, es würden doch erst einmal mehr Touristen nach Bimmelsdorf kommen, da es durch den angedachten Schnellstraßenausbau ungleich bequemer werden würde, das verpennte Kaff mit dem Auto zu erreichen. Die Wogen glätteten sich erst, als in dem damals noch einzigen Lokalblatt Strandläufer, wo auch Kathrins ursprünglicher Text erschienen war, eine gegenteilig lautende »persönliche Garantie« für »ehrenwörtlich, kein geplantes Autobahnanbindungsbauvorhaben der Gemeinde Bimmelsdorfer Strand« vom amtierenden Kurdirektor ausgesprochen wurde. Trotzdem, Kathrins Coup blieb un19 vergessen und hatte einmal mehr deutlich werden lassen, welch flache Gesinnung vorherrschte. Aktuell diskutiert eine Gemeinde in der Nähe von Bimmelsdorf eine geplante Flüchtlingsunterkunft, die in einer leerstehenden Kaserne am Ortsrand entstehen soll. Die Argumente der lokalen Inländer tönen verblüffend ähnlich veränderungsunwillig wie damals. Horsti war zum Höhepunkt des AutobahnanbindungsSchwindels total aus dem Häuschen und hat ihn – wohl auch um das Ganze noch weiter anzufachen – mit seinem ersten musikalischen Projekt »Immergrün« (der Name sollte darauf hinweisen, dass Leute wie er keinesfalls stoppen werden, nur weil zum Beispiel eine Ampel rotes Licht anzeigt) in dem Songtext »Kalte Meldung / Heiße Köpfe« verewigt. Er ist mit Immergrün allerdings niemals aufgetreten, auch weil er damit noch ganz allein dastand, ohne irgendeinen weiteren Mitmusikanten. In der Folgezeit wurden noch einige weitere richtig gut funktionierende Lügengeschichten aufgetischt, die dann jeweils ein klein bisschen Atem verschafften in ihrem – da gibt es nichts zu beschönigen – meist farblosen Provinzleben. Denn trotz einiger gelungener Ablenkungen: Was auf jeden Fall in fester Erinnerung bleibt, ist das Gefühl an ein graues Unwohlsein, latente Schwere und eine diffuse Undurchdringbarkeit des Daseins. Die Sinnfreiheit jener Tage war dabei kaum auszuhalten, in ihrer alles in sich aufsaugenden Taubheit. Jene Zeit war aus Blei. Sie war ein luftdichtes Tuch, unter dem alles erstickte, was sich zu bewegen versuchte. Und genau deshalb war das Versprechen der urplötzlich heranschwappenden Neuen Welle, die 20 schrillen Töne etwa in Gestalt des lauten A-Wortes und was sie alle erst mal frei interpretierend damit verbanden, von so mitreißender Bedeutung. Auf einmal funkelte Verheißung. Wie der erste Lichtstrahl nach einer nicht enden wollenden Dunkelheit. Es entstand eine große kollektive Identität. Ich / Du / Alle / Wir Werden: nie wieder allein sein! Hört ihr das? Tatsächlich, es sind noch andere da draußen! Und diese anderen werden das auch nicht länger so mitmachen. Es vertrockneten nicht nur sie dort am Klein-, Groß- und Bimmelsdorfer Strand. Nur ließ sich das alles eben noch nicht sauber zu einer patentierbaren Rettungsinsel ausbauen. Deshalb war erst mal nur ungerichtetes Gezappel. Und pures Staunen. Einordnen konnte warten. Geschlafen wird, wenn gestorben ist. Wahrscheinlich ist das auch schon immer so gewesen mit dem unwissenden Losspringen und nachträglichen Nachmessen. Der Schriftsteller Oskar Maria Graf entfloh über ein halbes Jahrhundert zuvor der klammen bayrischen Provinz und somit den Misshandlungen des elterlichen Betriebes – ähnlich unvorbereitet auf alles Weitere. Nach langem Erdulden in der Backstube hatte der junge Herr Graf dem despotischen, vorgesetzten Bruder ein Backblech über den Kopf geschlagen und war sofort auf in die Stadt, nach München. Dort trugen sich in jenen Tagen die aufregenden Ereignisse zu, aus denen dann die Münchner Räterepublik wurde, jener Versuch unterschiedlichster Leute, sich selbst und unbedingt unautoritär zu regieren. Oskar Maria Graf also, nach seiner 21 impulsiven Flucht frisch angekommen in diesem Pulverfass, fragte als Erstes ausgerechnet einen Polizisten nach dem Ort, »an dem sich immer diese Anarchisten treffen«, Später beschrieb er jenen Moment des Ausbrechens aus seiner nicht mehr zu ertragenden, zugeschnürten Zwangslage mit den Worten »als das Blut brach«. Wie ein überlauter Weckton habe das gewirkt. Eben. Und vergleichbar erweckend war das, was in Horstis Provinz an naive, superbereite Ohren schrillte. Sicher waren Horsti und die Seinen im Augenblick, da bei ihnen das Blut brach, weniger existentiell bedroht als die Menschen in den vorrevolutionären Tagen des Münchner Umsturzes. Horstis Clique hatte trotzdem eine auf sie stark zutreffende Aufforderung verstanden, in diesem Moment der klaustrophobischen Windstille, in dieser repressiven BRD der späten 70er Jahre. Es war eine wundersame Rettung aus höchster Not. Sie alle waren am Verdursten und am Absaufen im selben Moment, verkeilt in der Verklemmtheit der Nachkriegsbeauftragten, die ihre Nächsten, Lehrer, Ausbilder oder Politiker waren. Nicht viel attraktiver zeigten sich die genauso Unbrauchbaren, auf eine ganz andere Art Entblößten: jene ausglimmenden Hippies oder Guatemala-Korrekten. Die waren zwar inhaltlich erbverwandt, erschienen aber nicht wirkungsrelevant genug in den Augen und Ohren der jungen Horstis und Mortens, Kathrins und Martinas. Es musste jetzt mal etwas bedingungslos laut knallen. Heftig angegriffen werden. Die angebotene Mische der sich weiter knüppelhagel spätpreußisch aufführenden, in weiten Teilen starrgeistigen, autoritären Gesellschaft, die sich nur in frivolen, 22 beschwipsten Bürgerspäßen auflockerte, war als Orientierungsbild insgesamt super unattraktiv. Ein riesiges bizarres Schützenfest mit marschierenden Schellenbäumen und verkrochenem, anzüglichem Partykeller. Kegelvereinsmeiereien und Vatertagssaufmüllerchen. Was heute neo-kultigen Eventcharakter hat, in massentauglichen Eventparaden, als Schlagermusikumzüge mit zigtausend Schunkelnden, war damals unlustige Angehörigenschändung. Mindestens für Frauen und Kinder. Die aus dieser hässlichen Soße herauswachsenden Sprösslinge konnten gar nicht anders, als riesige, stinkende Haufen darauf zu kacken und einen rücksichtslosen Pogo darüber hinweg zu tanzen. Und sie kackten und tanzten so hysterisch, dass sie sich manchmal dabei verletzten. Und andere gleich mit. Alle sollten unbedingt sehen, dass es hier jetzt welche wirklich ernst meinten. Und es musste kapiert werden, dass in diesem deutlichen Auftritt gleichzeitig gar nichts mehr ernst genommen werden wird, nichts in Betracht zu ziehen ist, von der lebensverlogenen Erwachsenenweltwüste, der schönen Leere, wie die Sex Pistols sie besangen. Keine Zukunft mehr dafür! Wozu auch. Für was auch. Für welche Naturbeschädigung / Ausbeutung / Artenvernichtung / Aufrüstung / Angestelltenverbrauchung. In welcher Anstalt. Für welche Seite des Kalten Krieges. Für welchen Stammtisch. Für welchen Rassismus. Für welchen Machismus. 23 Für welches Angebot von gerahmter Verplanung / Schule / Ausbildung / Arbeit / Endstation. Horsti fragte sich das wieder und wieder: Wer bestimmt, wie wir wo reinpassen, um wie mitmachen zu müssen? Wer entscheidet, was wir wann machen müssen, um wessen Existenz zu existieren? Und so weiter. Wieso arbeiten müssen, um leben zu können? »Anaaaaaaarckeeeeey!« Horsti wünschte jedem Wesen, wenigstens ein einziges Mal dieses Gefühl zu haben. In diesem Sinne loslassen zu können. Mit aller Wucht hochspringen. Mit allem Recht »Nein!« schreien. Das tut dann überhaupt nicht weh beim Hinfallen. Weil der Hall des Aufschlagens selbsterzeugt ist und so zum Schutz wird für den nächsten Sprung. Und verstummen wird so ein purer Sound nie mehr. Wobei Horsti eines schon recht bald ahnte: Nichts lässt sich konservieren. Und auch die schlaue Kathrin war derselben Meinung, und sie konnte das auch noch gut begründen. Als Horsti einmal zu ihr sagte, er habe eine Art universelle Methode entdeckt, wie man struppige Lieder schreiben konnte, die auch noch in 100 Jahren genauso un-mitsingbar sind, antwortete sie weitsichtig, dass es vergebene Liebesmühe sei, Förmchen anfertigen zu wollen zum Sperrigsein. Es gebe keinen haltbaren Baukasten zum Rebellieren, alles noch so Abseitige würde mit der Zeit zwangsläufig wie ein aufgewärmtes Süppchen schmecken, prophezeite sie. Er werde schon sehen. Horsti verstand das noch nicht so ganz zu jener Zeit. Vielleicht wollte er auch einfach nicht. Die zugehörigen Erkenntnisse, die Kathrin anscheinend bereits damals hatte, erlebte er erst viel, viel später. 24 LopLop, und was es sonst noch so gibt Machen, machen, krachen lassen. Und in Frage stellen: »Wie kann ich neu auf die Welt kommen, wenn mir meine erste Geburt so gar nicht gefallen hat?« Zuerst einmal brauchten sie vernünftige Namen. Denn wer sich nicht fühlte wie Morten, Stephan und Horsti oder Kathrin, Tanja und Martina, der musste auch nicht länger so heißen. Aus Kathrin wurde Kitty. Kurze Zeit später dann noch besser: Kitty against Kitty. Stephan nannte sich nun Nerve R. – sehr zu seinem Charakter passend. Horsti fand nicht gleich etwas Passendes. Er wühlte sich durch die Welten seiner Heroen und versuchte, daraus etwas Verbindendes zu schrauben. Win Che gefiel ihm ganz gut. Gesprochen: Winschi. Eine Kombination aus Winnetou und Che Guevara. Kitty against Kitty fand das super peinlich, anmaßend und nicht mal cool. Dann eben direkter. Explosion! Krawall! Gefahr? Genau, Gefahr! Denn so fühlte er sich, 25 gefährlich. Ein gefährlicher Angreifer auf die Verhältnisse. Horsti Danger! Das tat richtig gut. Oder doch nicht? Zu leicht zu entschlüsseln. Zu unsubtil. Besser, weil irritierender: irgendetwas mit dem Wort Germany! Horsti from Germany? Fast. Hm. Stevie? Joe? Franki? Tommi!? Genau, das war stärker. Tommi from Germany! Internationale Verwegenheit. Dabei aber auch irgendwie einfach. Sein Name sollte kritisch sein. Mit umgedrehtem Spieß. Tommi from Germany. Dem Teufel den Spiegel vorhalten. Sich freiwillig auf das beziehen, was man böse findet. In jenen Tagen entstanden unzählige weitere Pseudonyme. Doktor Onkel! Cat the Cat! Das Wichtigste an den Umbenennungen war das Spektakuläre daran. Dem Kinde einen eigenen, selbstgewählten, einen größeren Namen geben. Damit hatte man den ersten echten Abstand geschaffen von der lähmenden Vorsehung, die ihre Herkunft weiterführen sollte. Der Germany-Nachname ist Tommi heute natürlich etwas peinlich. Auch weil er ihn ständig aufs Neue erklären muss. In immer anderen, höchst unterschiedlichen Umgebungen, in denen er unterwegs war und gegenwärtig ist. Denn – das darf man zu diesem Zeitpunkt bereits erfahren und da braucht man es als Leser nicht gleich mit der Angst zu tun bekommen, nur weil die Zeiten im Text etwas springen: Tommi from Germany hat sich irgendwann aufgemacht. Etwas musste unbedingt anders werden. Anders als das, was sich in seiner näheren Umgebung aufdrängte. Und so landete er nach und nach in denkbar unterschiedlichen Gefilden, schlug einen ordentlichen Bogen. Vom unüberzeugten, richtigen Handwerker zum überzeugten, falschen Kunstbastler. Vom Land in die Stadt, ein bisschen 26 in die Welt gar. Rasante Irrfahrten durch Institutionen. Vom ersten Auftritt im Wienerwald-Lokal in seinem Dorf bis zur Opernbühne in einer richtigen City! Nach hinten. Zur Seite. Und immer wieder zurück. Manchmal stapelt er tief im Hohen. Wenn es das gibt. Oder umgekehrt. Alles kann überall schiefgehen. Versagt wird, was das Zeug hält. Tommi probiert es, in vielen Genres. Ohne Papiere. Er traut sich auf große Bühnen und fürchtet sich davor, allein ins Bett zu gehen. Wer kein Urvertrauen mitbekommen hat, wird für immer zweifeln an allem Sein. Der Rest bleibt der ständige Versuch, Verlustängste zu überwinden, die niemals Ruhe geben werden. Als würde man die Hand auf eine Wunde halten und das Blut hört nicht auf zu spritzen. Vorgesehen ist gar nichts. Talentiert ist auch nichts. Horsti – später Tommi – ist in etwas hineingeraten. In eine Verkettung von Umständen. Zum Glück ohne schweres Verbiegen: Was kam, hat er gewollt. Selbst seine Unterarmtätowierung, die eine misslungene, verwelkte Balkontopfgeranie gekreuzt mit einem Kanonenrohr des bundesdeutschen Kampfpanzers Leopard II zeigt, erhielt er bei vollem Bewusstsein. Diese Kreuzung aus einer beschädigten Vorgartenpflanze und dem nachgerüsteten Kriegsverlierer sollte die Symbole bürgerlicher Doppelmoral verhöhnen. Direkter Spott: So etwas war angesagt in frühen Bimmelsdorfer Tagen. Selbstgeschusterte Rebellion. Immer ging es um die autonome Wahl der Waffen, so Kitty against Kitty, Meisterin der pathetischen Einordnung, die bis heute zu ihrem eigenen Künstlernamen aus Jugendtagen steht. Sehr selbstbewusst verwendet sie ihn weiterhin in allen Lebenslagen. 27 Und es stimmt schon, sollen sie auch den ehemaligen Horsti aus Bimmelsdorf ruhig mit »Zu Gast heute bei uns im Studio, Herr Tommi from Germany« ankündigen, wenn er mal öffentlich eingeladen wird, seine Themen zu vertreten. »Das ist zwar irgendwie Märchen, aber allemal besser, als jede dieser unfreien Realitäten ihrer phantasielosen Welt, aus denen ihr genormter Schrott gebaut ist«, wie Tommis alter Kumpel Nerve R., stets der Sprachenergischste von allen, die Welt schon früher gern entlarvte. Nicht jeder konnte so präzise in Worte fassen, wogegen man war. Auch wenn sie alle – anfangs rein intuitiv – schlicht kopierten. Künstlerische Eigenständigkeit war sicher nicht von Beginn an vorderstes Merkmal ihrer Szene. Lange hatten Tommi und die anderen, abgesehen von ihren Namensgebungen, überhaupt keine Ahnung, wie sie äußerlich unverwechselbar anders daherkommen könnten. Anders als das, was sonst so herumflog an nicht taugendem Zeugs. Entgegen kam ihnen, dass sie massenweise Zeit hatten für ihre Versuche. Das Leben der späten 70er Jahre, in denen Kitty against Kitty, Tommi from Germany, Doktor Onkel, Nerve R., Cat the Cat und all die anderen an ihrer Sprache, ihren Klamotten, Musiken, Werten und Idealen, an ihren Codes bastelten, war zwar manchmal unerträglich öde, aber dafür auch gut langsam. Und durch Modelle wie »Umherschweifen«, »Tagestehlen« oder »selbstbewusstes Abhängen«, die in jenen Tagen noch weit verbreitet waren, ließ es sich recht geschützt an Codes und Positionen feilen. So konnten sie in aller Ruhe auf einzigartig dumme Gedanken kommen. Eine richtig schnelle und breite Verwertung von Selbermach-Kultur – die heute Shop-fertig angeboten 28 wird – gedieh schließlich erst später, hergezeigt durch die aufsteigenden Werbeagenturen und Zeitgeistmagazine der darauffolgenden Dekaden. Sie dagegen, auf ihrem dörflichen Marktplatz, saßen noch Ewigkeiten entfernt von Guerilla-Marketing-StreetArt-Product-Promotion. Frisch geschlüpfte PionierKreative, das waren sie. Präsentationsdruck, Gedanken von Weiterverwertung, das alles sollte erst noch kommen. Zunächst mal Aufwachen. Empfangen. Umschauen. Dann Reagieren. Was ihnen nützte, flog heran wie Zaubermäntelchen. Selbst dort, am entlegenen Bimmelsdorfer Strand. Anlässe zur Anwendung ihrer Positionen gab es viele. Einmal brachte irgendjemand ein Foto aus einer Illustrierten mit, auf dem eine junge Frau abgebildet war, die angeblich auf dem Schulhof beim Kiffen erwischt worden war. Der Begleittext sprach von einer zunehmenden Bedrohung durch Drogenmissbrauch in Schulen und an Universitäten. Außerdem zeigte das Foto zwei Männer, die der vermeintlich Süchtigen offensichtlich mitten im Klassenzimmer (man konnte eine Tafel mit chemischen Formeln erkennen) die Arme heftig nach hinten verdrehten. Eine Lehrerin sah teilnahmslos zu. Dabei muss der Schülerin die Jacke umgekrempelt und zerrissen worden sein. Richtig brutal sah das aus. Tommi und die anderen waren zutiefst empört darüber und schon am nächsten Tag, als sie sich auf dem Marktplatz trafen, trugen ausnahmslos alle einen solidarity dress, wie Kitty das taufte. Sie hatten das Futter ihrer Jacken nach außen gekehrt und die Parole »Deutschland, deine Lehrer / Miese Zwangsumkehrer«, daraufgeschrieben. Mit Lippenstift oder mit richtiger Ölfarbe. Es wurde 29 die erste Gemeinschaftsaktion und wahrscheinlich der erste öffentliche Protest, den der Bimmelsdorfer Strand je erlebt hatte. Bestimmt 40 Leute waren gekommen, sogar ein Jungbauer aus dem zehn Kilometer entfernten Kuhrau war dabei: mit seinem Trecker. Niemand kam, sie zu hindern. Ein Supererfolg. Tommi schlief die ganze darauffolgende Nacht nicht vor Aufregung. Endlich tat sich etwas! Immer dann, wenn ihrer Meinung nach Solidarität angebracht war, unternahmen sie ihre Auftritte. Dabei versuchten sie möglichst wenig zu wiederholen, um unberechenbar zu bleiben, wie Kitty die Parole ausgab. So kam es, dass sich jedes Mal ein völlig neues Bild zeigte, wenn die Gruppe antrat. Autoreifen, Felle, Anglerstiefel, Bauplanen und Fischernetze hießen die Materialien, aus denen wild ein Kostüm kombiniert wurde. Einmal hatten sich alle komplett mit Seetang überschüttet, was Tommis Freund Morten damals als Uns-Stinkt-Es-Gewaltig-Parade betitelte. Nur eine Strategie wurde mehrfach angewandt: die sogenannte Mottentechnik. Hierbei schnitten sie sich große Löcher in den Konfirmationsanzug oder in den Weihnachtspullover von Oma – was zumindest Tommi nicht ohne Überwindung tat. Im Grunde schämt er sich bis heute dafür. Anlass war etwa, gegen eine größere Wiederbewaffnung der Bundeswehr zu protestieren. Die Löcher sollten hierbei symbolisch für Einschusslöcher stehen, und alle fanden die Methode deshalb so extra cool, weil sie hier endlich mal etwas weggelassen hatten und nicht noch mehr »unnützen Scheiß dazuproduzierten«, wie das all die anderen »Lemminge, Normbürger und Claqueure« taten, in ihrem 30 »Dauerkonsumenten-Mitmachtrott« – wie Nerve R. es in einem Flugblatt verfasste. Langsam bildete sich bei aller geforderten Beweglichkeit so etwas wie ein Muster heraus. Gelungene Verkehrungen. Originelle Umbenennungen. Das waren die Sachen, die am meisten Wirkung zeigten. Ein starkes Gefühl. Endlich konnten sie sich entziehen, konnten zeigen, dass sie nicht klaglos mitschwammen, wurden zu unberechenbaren Viechern, so nannte es Nerve R. Es gelang ihnen, der empfundenen Sinnlosigkeit mit noch größerer Sinnlosigkeit einen Boomerang entgegenzuschleudern und das zum eigenen Prinzip zu machen. »Ich heiß Frank und hab ’ne Uhr um. Und mir ist das alles scheißegal«, lautete die Lieblingssongzeile einer Hamburger Band, die Tommi from Germany in jenen Tagen immer und immer wieder hörte und mit der er nicht nur seine Oma – die er eigentlich sehr liebte – zutiefst irritierte. Freiwillig nichts können. Nichts wollen. Nichts werden. Das war es, was erfolgreich nervte, sich schlecht einfangen ließ von den Gegnern. Und mit diesem neuentwickelten Gar Nichts dann auch noch frech und selbstbewusst auftreten. Sich austoben in selbstgewählter Dystopie und darin einen großen Wert behaupten. »Anarckeyyy!« Sie hatten einen Auftritt erfunden, der echt schwer zu zähmen war, der sich nicht mehr so einfach beruhigen ließ durch simple Versprechungen aus der ablehnenswerten, weil nur noch bereitgestellten Welt. Wie das genau hieß, was sie da machten, war egal. Ihnen selbst am meisten. Manchmal fanden sich Anleitungen in von selbsternannten Herausgebern geschriebenen Heftchen, den beliebten Fanzines. Davon gab es unendlich vie31 le. Sie trugen Namen wie Beschissene Scheißpost und Schickes Frisches Sinnloses, oder Bürgergenickschuss und Bundesvernichtungsgestaltung. Die Fanzines gab es in 50er und 200er Auflagen – im Eigenvertrieb. Eigene Strukturen schaffen, das war es. Selber schreiben, selber verkaufen. Platten. Klamotten. Läden. Selbstverwirklichung mit fehlendem Leistungsnachweis. Independent. Tommis Kumpel Morten, der sich als einer der wenigen weigerte, einen Künstlernamen anzunehmen, weil er auch als Morten zeigen könne, was er ätzend finde, entwickelte sein auf Müllsackfetzen geschriebenes Magazin Plastik Porno. Es führte bis auf ein paar Konzertberichte fast ausschließlich Aufrufe zum Ungehorsam als Inhalt. Einiges daraus wurde Praxis. Die meisten Aktionen entstanden aber spontan. Es kam auch vor, dass jemand behauptete, von etwas besonders Geilem, Actionmäßigem gehört zu haben – was sofort in die Tat umgesetzt werden sollte. Ständig war was zu tun: Sie sprühten die Silhouette vom Schulgebäude umgekehrt herum auf die selbige, super verhasste Institution. Zogen sich an wie ihre Lehrer – nur in Mottentechnik. Ein beliebtes Symbol war auch der Klabautermann, aber nicht so comichaft, sondern eher düster und verzerrt. Kitty, die heute mit Analogien aus der Kunstwelt zu punkten weiß, vergleicht das wütende Auftreten von damals, bildlich gesprochen, mit dem LopLop, einem berühmten Motiv ersonnen von dem von ihr hochgeschätzten Maler Max Ernst. Ein wilder, trampelnder, listig spottender Vogel ist der LopLop. Kitty und Tommi hatten die berühmte Kunstfigur zum ersten Mal als kleinen, an die Wand gehefteten Zeitungsausriss auf der Wohnungsparty eines befreundeten Kochlehrlings 32 gesehen und waren sofort seltsam eingenommen von der Power des LopLop-Urbiestes auf dem Max-Ernst-Bild. Und das, obwohl Tommi eigentlich mit wenig zu beeindrucken war, was nicht mit lauter Musik zu tun hatte. Erst viele Jahre später war er so weit zuzugeben, dass auch Kunstbilder starke Wirkungen entfachen können, tatsächlich gar so laut, so desperat klingen können, wie ein ungeübtes Punkstück. Damals fand er, Kunst sei generell gemacht für Bonzen und Sektflötenschickis. Trotzdem – und vielleicht auch, weil Kitty so ungeteilt angetan war –, jener LopLop-Moment blieb voll hängen und war somit das zweite richtig einschneidende Ereignis, das Tommi als wirklich Mut machend empfand – also, nach dem Strandpartyerlebnis mit der alles befreienden »A-Wort«-Eruption. Wahrscheinlich auch deshalb, weil es in beiden Fällen jeweils um etwas neu Verstandenes ging. Wenn das mal zutraf, dann war das wie ein Blitz im Kopf. Angezündet. Nur noch zwei weitere Male erlebte Tommi solch umwälzende, innere Brände. Beide Male waren es aber keine Kunstbegegnungen im weitesten, sondern Liebesaugenblicke im näheren Sinne. Gemeint sind die wundersamsten Treffen überhaupt, nämlich da, wo sich zwei so richtig übereinanderlegen. Ganz und völlig. Gar nicht mal sexuell gemeint. Tommi findet, dass nur Menschenverbindungen Leidenschaften gründlich ausloten können. Allein könnte man das nicht erfahren. Von dem Kochlehrling jedenfalls, den Tommi damals gerade besser kennenlernte, erfuhren sie noch so einiges über das, was es sonst noch so gab zum Aufmüpfen, wie er das selber beschrieb. Sein Name war Eddie, und er stammte 33 aus einem mittelaufregenden mitteldeutschen Mittelgebirge. Wie die Bimmelsdorfer war er durch und durch auf der Flucht vor dem vorherrschenden Zeitblei mit der alles verklebenden Enge und seinen zugehörigen, einklemmenden Protagonisten. Nur dass er, Eddie, keineswegs bereit war, zum puren Ertragen auf die Welt geworfen worden zu sein. Und das ließ er seine Umgebung so deutlich wissen, wie es nur ging. Auch in den eigenen Reihen. Angenehmes Anecken unter Gleichgesinnten – das war seine Sache nicht. Dieser widerspenstige Kochlehrling ging dorthin, wo es echt weh tat, nämlich da, wo es nicht jeder gleich mitbekam. Auf seiner Lehrstelle zum Beispiel. Hier fiel er sowieso aus allen Rahmen, zumal optisch. Eddie trug Mao-Look, was damals als Bekenntnis unmissverständlich war. Dementsprechend gab er sich in seiner gesamten Haltung: extrem sperrig in allem. Eine derartige Konsequenz hatte Tommi vorher noch nicht erlebt. Eddie war universell renitent, hinterfragte alles und weigerte sich beharrlich, Aufgaben auszuführen, deren Sinn er nicht zu hundert Prozent nachvollziehen konnte. Kein Quent Anbiederung. So einer lässt den Spaten fallen, wenn Pause ist. Auch verteilte Eddie den Arbeiterkampf vor seinem kleinen Lehrbetrieb, gemeinsam mit einem ähnlich toughen DKP-Genossen. Nerve R. war wohl auch ein paarmal dabei. Eddies Verhalten hatte großen Ärger zum Ergebnis. Die Schwierigkeiten, die Typen wie er bekamen, konnten so schwerwiegend sein, dass sie bei ihren Ausbildungen oder in ihren Familien mit empfindlichen Bestrafungen, schlimmstenfalls mit Ausschluss rechnen mussten. Züchtigungen waren keine 34 Seltenheit. Hinter den Gardinen, in den sogenannten Zuhauses, waren jahrelange Schläge und Schlimmeres ehedem noch verbreitete, zeitgemäße Erziehungshilfen. Die hierbei entstandenen Wunden schlugen manchmal irreparabel tief. Auch Eddie der Koch hatte einiges dergleichen erlebt. Aber irgendwann begann er dagegenzuhalten. Und seine Idee war es, wie bei vielen anderen auch, das System nicht etwa schleichend zu unterwandern, es sollte angegriffen werden: »Du beginnst mit den Flügeln zu schlagen oder du zerbrichst«, nannte er das etwas überbedeutsam. Nicht alle schafften einen starken Abflug. In Tommis Freundeskreis fanden sich einige, die früh, manche auch erst sehr viel später, real kaputtgingen. Oder sogar ganz aufgaben, sich das Leben nahmen. Aus Schuld und Scham, aus Verlorenheit und nicht nachlassendem Alleinseinschmerz. Diesen widmete Tommi später ein Lied. 35 »Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens« Und dann endlich über fünfzehn Später aufstehen Vom Kartenspielen erzählen Martina, du kennst dich doch Das alles, das reimt sich noch Auf Riot und auf Licht Komm lass dich endlich einmal gehen Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens Deine Jugend ist die schönste Zeit des Lebens Wenn er das noch mal tut Wenn Vater das wiederholt Wirst du nicht wiederkommen Da ist deine Freundin Ihr könnt jederzeit durchdrehen und killen Und Winter übergehen Lass dich jetzt endlich einmal gehen Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens Deine Jugend ist die schönste Zeit des Lebens 36 (*1) Ten Steps to Piracy Tommi begann herumzufahren. Das war üblich bei Landmenschen, allein schon, weil die Welt, aus der sie kamen, so überschaubar und erkundet war. Es wurde Gewohnheit, die Wochenenden bei anderen, ähnlich Aktivierten zu verbringen. Manche wohnten in einiger Entfernung. Als akzeptable Tramp-Distanz bezeichnete man anfangs einen Radius von ungefähr 100 Kilometern, später dehnte sich das aus. Es entstand ein gutes Netz von möglichen Anlaufpunkten, verteilt über das ganze Land. Sie trafen sich an Sehnsuchtsorten. Sagenumwobenen Buch- und Plattenläden mit Sonderauswahl. In okkupierten Kneipen und annektierten Discos: Alles konnte Treffpunkt werden für eine überschaubare Schar Eingeweihter. Tommi war immer sehr aufgeregt, wenn es zu den Spezial-Orten ging, dorthin, wo die anderen waren. Die gesamte Szene bestand aus insgesamt ein paar Hundert 37 Leuten. In den großen Städten. Dazu ein paar Exklaven in wenigen Mittelstädten. Seltener: in den letzten Käffern. In Bimmelsdorf waren sie mit ungefähr dreißig mehr oder weniger Zugehörigen ungewöhnlich viele. Verhältnismäßig früh obendrein. Besonders verbindend bei den Provinzlern – das ging über das geteilte Unwohlsein hinaus – war der glühende Wunsch abzuhauen. Am Ende blieben die meisten. Nicht so Kitty against Kitty. Sie war eine der Ersten, die sich auf und davon machten. Egal, wo sie sich gerade aufhielt: Sie achtete stets darauf, dass alle aus der Szene immer gut mitbekamen, was sie in der Folge so anstellte. Hierfür telefonierte sie, geschickt gestreut, mal mit dem einen, mal dem anderen aus der Clique. Sie glaubte fest an den Nutzen steter Kommunikation und ging damit seltsam diszipliniert, regelrecht pedantisch um. Heute kann man sagen, Kitty against Kitty aus dem ländlichen Bimmelsdorf war eine visionäre, den damaligen Mitteln angepasst vollständig analog arbeitende Dauernetzwerkerin. Und obwohl sie ständig unterwegs war, schaffte sie es, nahezu ohne Geld auszukommen. Sie hangelte sich an Leuten entlang, die, ähnlich wie sie selbst, irgendwie immer irgendwas machten. Als »penniless jetset« bezeichnete man viel später eine solche Kreativ-Reiserei bei gleichzeitigem unbedingt entspanntem, aber doch permanentem Produzieren. Kitty war für Tommi ein Vorbild in ihrer umherkreiselnden Wandelbarkeit. Und sie war es dann auch, die ihn nachdrücklich aufforderte, Bimmelsdorf ebenfalls den Rücken zu kehren: »Tommi, du bist nicht der Typ, der in Orten leben sollte, in denen die Kirchtürme höher sind als 38 die höchsten Häuser«, sagte sie zu ihm, als er mal wieder über die Enge seines Daseins klagte, »geh in die Stadt, lebe unter Gleichgesinnten. In deinem Örtchen wird man dich auf Dauer nicht lassen«, schimpfte sie aus Kopenhagen anrufend ins Telefon. Oder wo sie sich sonst gerade aufhielt. Und obwohl das schöne Sinnbild mit den Hochhäusern und den Kirchtürmen ausgerechnet auf Bimmelsdorf mit seinen drei weit auf die See hinaus sichtbaren Hotelklötzen so gar nicht zutraf, schwante ihm natürlich, dass sie recht hatte. Und zum Glück ist er irgendwann wirklich abgehauen, auch wenn es gedauert hat. Und wenn nicht Nerve R. schon vor ihm gegangen wäre, oder sein Freund und späterer Bandkollege Ha Em Schleier (der sich seinen Künstlernamen von einem ermordeten Politiker entliehen hatte), und wenn er nicht in derselben Zeit seinen weiteren späteren Bandkollegen Cat the Cat kennengelernt hätte, der auch aus der Provinz geflohen war, dann würde er heute vielleicht noch immer nur am Strand entlang schimpfen. Den forderndsten Anstoß zum Aufbruch aber hatte eindeutig Kitty gegeben. Und noch etwas ganz anderes. Aber dazu später. Im Gegensatz zu Tommi hatte Kitty richtig Überblick, sie verstand die Zusammenhänge. Intuitiv und präzise. Tommi war immer wieder aufs Neue erstaunt, wie sie das alles so gleichzeitig und ohne erkennbare Anstrengung abrief. Es fiel ihr spielerisch leicht, augenblicklich Situationen umzukehren. Wenn er oder jemand aus der Clique mit lang überlegten Vorschlägen zum Beispiel für eine Kuckucks-Aktion kam, wusste sie blitzartig, wie es sich viel effizienter austricksen ließ. Obendrein hatte sie außerge39 wöhnliches Talent beim Erfinden. Und Ausdauer. Stundenlang schraubte sie sich in fiktive Geschichten hinein, schuf komplexe Modelle für die erstaunlichsten Umgehungen. Am stärksten waren ihre anfangs noch sehr anarchischen Geschäftsideen, die auf einer flexiblen Basis funktionierten, so dass Kitty die Möglichkeit hatte, sie jederzeit abzuwandeln, falls sie nicht gleich griffen. Auf jeden Fall – das kapierte Tommi in dem Moment, als ihm aufging, was damit überhaupt gemeint ist – war sie der erste »flexible Mensch«, dem Tommi je begegnete. Jemand mit vielen parallelen Identitäten. Flexibilität war der Nährstoff ihrer ständig anwachsenden, immer zeitgemäßen Möglichkeiten und Werkzeuge, die bei Kittys ungeheurem Schaffenstempo irgendwann total unübersichtlich wurden. Angefangen hatte alles mit einem tragbaren Drucker, einem kleinen Holzkästchen, in dem Kitty für einen bestimmten Zweck alles Nötige untergebracht hatte: Linoleum, Farben, verschiedene Papiersorten, kleine Gitterrahmen, einen Cutter und weitere, verschieden starke Schnittmesser. Mit dieser »Mobile Copy Box« war sie imstande, in wenigen Minuten für alle nur denkbaren Veranstaltungen, auf die sie und andere möglichst zahlungsfrei gelangen wollten, so ziemlich jede Eintrittskarte nachzumachen. Wie sie das genau anstellte, wusste niemand so richtig. Wenn sie etwas anfing, tat sie es konzentriert. Kitty kopierte erstaunliche Stückzahlen mit ihrer geheimen Schachtel. Nach einem Konzert in Lübeck rechnete sie einmal vor, dass mehr Zuschauer mit ihren gefälschten Mobile-Copy-Box-Tickets in den Saal gekommen waren als solche mit ordnungsgemäß erworbenen Karten. Bei 40 über 500 Besuchern! Das Schummelgeschäft zog sich über Jahre, und die halbe Küste profitierte davon. Einstellen musste sie ihre Schwarzkopiererei erst, nachdem sie dabei erwischt worden war, auf der Damentoilette im Nautica, einer überregional angesagten Bimmelsdorfer Edeldisco, Getränkegutscheine für die extrem teuren Longdrinks herzustellen. Die haben sie sofort angezeigt, obwohl Kitty den Junior-Chef Knut aus der Schule kannte – und angeblich sogar mal was mit ihm hatte. »Erschleichung von Leistung«, lautete der Vorwurf von Amts wegen, und Kitty musste eine für damalige Verhältnisse empfindliche Buße berappen (beziehungsweise sehr lange abstottern). Wo sie das viele Strafgeld herbekam, blieb eines ihrer Geheimnisse. Parallel ging es ungebremst weiter, mit anderen Sachen. Die an den tragbaren Drucker anschließende Produktlinie war völlig legal. Kitty begann, leidenschaftlich wie immer und dieses Mal sehr zu Tommis Missfallen, sogenannte riot gifts zu entwerfen, verschenkbare Artikel, die im weitesten Sinne mit Protest zu tun hatten. Ausgewählte, ikonisch verehrte Rebellen und berühmte Aufstände – oder die Verklärungen solcher – waren Teil des Konzepts. Kitty verwurstete sie in revoltierende Geschenkideen. Diesen Begriff konnte man einem Hinweisschildchen entnehmen, das als immer gleiche Verpackungsbeilage den gifts angeheftet war. Als besonders nerviges, sehr häufig verschenktes Exemplar stellte sich eine zehn Meter lange Stoffrolle heraus, auf der allerlei Totenköpfe prangten und zusätzlich Fußabdrücke aufgedruckt waren. Jedem der sauber verpackten Präsente lag obendrein eine schwarze Augen41 binde bei. »Ten Steps To Piracy« nannte Kitty ihr ganz in schwarzem Samt eingewickeltes Set, bei dessen Gebrauch man sich nach ihren Worten mindestens genauso furchteinflößend fühlen konnte, wie der berüchtigte Pirat und Freibeuter der Meere Klaus Störtebeker. Dazu musste man nur die Augenbinde anlegen und die zehn Meter auf der ausgerollten Totenkopfstoffbahn abgehen. Der Legende nach tat Seeräuberkapitän Störtebeker nämlich genau das – nachdem man ihn enthauptet hatte. Als sein Schiff »Sturmwind« wegen Verrats vor Helgoland gestellt wurde, hatte der Bürgermeister von Hamburg dem Piraten versprochen, allen Crewmitgliedern die Freiheit zu schenken, an denen er nach seiner Enthauptung vorbeizugehen imstande war. In seinem kopflosen Zustand. Kittys Geschenkset zu dieser historischen Szene kam supergut an. Auch weil das berühmte Ereignis sich unter norddeutschen Rabauken schon seit jeher überdurchschnittlicher Beliebtheit erfreute. »Zehn Meter ohne Kopf« lautet der überlieferte Satz, den sich Störtebeker-Jünger und andere Piratenverehrer bis heute verschworen zuraunen. Obendrein steht die beim Publikum des Fußballclubs FC St. Pauli hyperpopuläre Totenkopffahne aus Sicht vieler Fans in direkter Erbschaftslinie zum mannhaften Freibeuter Störtebeker, der auf den Nordmeeren zu den Glanzzeiten der Hansestädte extrem haudegig unterwegs gewesen sein soll. So richtige, also so wirklich richtige Männer schwärmen bis zum heutigen Tage unter Augentränenglanz von einer weiteren Besonderheit, für die ihr Klaus (Störtebeker) zusätzlich glühend verehrt wird. Nämlich dafür, dass er den Rum, der auf den Meeren ohnehin in medizinisch kaum 42 erklärbaren Dosen getrunken wurde, nicht einfach nur so runtertrank, wie die anderen Raubeine es taten. Störtebeker stürzte ihn regelrecht runter. In einem Lederbecher – so die Legende. Vor diesem Hintergrund war es also nicht verwunderlich, dass Kittys Piratenverwertung ein großer Schlager wurde. Sie verkehrte als voll geiles Geschenk für voll geile Leute. Eine Zeitlang verstrich keine Geburtstagsfeier ohne die erblindeten, angeheiterten zehn Schrittchen auf geschwärztem Stoffstreifen, zu mehr oder minder gestürztem Hochprozentigen. Irgendwann ebbte die Störtebeker-Welle wieder ab, und Kitty erfand Besseres. Richtig brillant wurde sie immer dann, wenn sie subversiv dachte. So ersann sie die erstaunlichsten Utopien für bessere Welten. Noch aus Teenagertagen stammte ihre Idee eines ausgeklügelten Systems von »Nationenfreien Tauschzonen«. Dort konnte es keine Grenzen, kein Geld und keine Verschuldung geben. Weil alles über einen zirkulierenden Handel mit Talenten organisiert war. Sehr komplex ersetzte dabei eine Palette von individuellem Können den vorhandenen Angebotsmarkt. Ihre detailreich anvisierten Besserungen hielten einem Vergleich mit soziokulturellen Analysen von unausweichlichen Marktzusammenbrüchen sicher gut stand. Bis heute bedauert Tommi, dass Kitty nie versucht hat, zu einer Anwendung dieser schönen Grundlagen zu gelangen. Bei all den unterschiedlichen Ideen, die sie ohne Unterlass ausspuckte, wusste man nie ganz genau, ob sie überzeugt politisch oder nur mehr launig dadaistisch gemeint waren. Wollte sie sich aus Überzeugung einmischen? Suchte sie nach Geschäftsideen mit subversivem Anstrich? 43 Tatsache ist, dass Kathrin Lokowski aus Bimmelsdorf, Künstlername Kitty against Kitty, wie viele andere als besonders fresh eingestufte junge Frauen in den frühen 80er Jahren, von einer großen Werbeagentur eingekauft wurde. Mit gerade mal Anfang zwanzig machte sie dort umgehend und heftig Karriere. So erhielt sie bereits in ihrem ersten Jahr als Junior Art Director einen hochdotierten internationalen Branchen-Preis für einen Werbespot, der auf einer inszenierten Straßenaktion basierte. Er entstand auf dem Marktplatz einer österreichischen Kleinstadt – scheinbar beiläufig gefilmt, was für damalige Verhältnisse noch völlig ungewöhnlich war. Zu sehen war ein seinerzeit berühmter dunkelhäutiger Tennisspieler bei der modifizierten Ausübung seines Talents: Inmitten des dichten Feierabendverkehrs zerschlug er wie ein Berserker volle Joghurtbecher mit seinem Racket. Die Milchprodukte wurden aus einer hinter einem Müllcontainer versteckten Ballmaschine auf ihn abgeschossen. Der aufwendige und in seiner Haltung gleichzeitig semiprofessionell wirkende Clip zeigte den Profiathleten derart in Rage, dass man meinen konnte, er würde justament sein emotionalstes Match überhaupt bestreiten, nur eben einfach so und auf der Straße. Ganz zum Schluss hauchte der Sportler nach einem besonders beherzten Überkopfschmetterball einen auf den Artikel geschneiderten Werbeslogan ganz nah in die Kamera: »XXX-Joghurt. Der reine Joghurt aus Nieder-Österreich. So ur-weiß, wie ich pur schwarz.« Dieser Satz wurde dann in grober Blockschrift im Abspann noch einmal eingeblendet, auch für den Fall, dass man den heftigen Wiener Akzent des dunkelhäutigen Tennisgladiatoren 44 nicht sauber verstanden hatte. Es gab einen kleinen Skandal. Und die gewünschte Aufmerksamkeit. Gezeigt wurde das Filmchen, das eigentlich für die zentralen TV-Reklameblöcke angedacht war, am Ende nur in einigen kleinen Programmkinos. Die Streuung war trotzdem immens. Der Spot wurde wie ein kultiger Kurzfilm auf VHS -Videokassetten kopiert und weiterverteilt. Besonders wegen dieser Geschichte war Kitty damals sehr umstritten in der Szene. Sie selbst verteidigte den Joghurt-Clip gerade inhaltlich vehement und blieb stur bei ihrer für sie unumstößlichen Meinung, dass er eigentlich nur in einer Lesart, nämlich als »eine kritische Auseinandersetzung mit Rassismus in der Werbung«, wahrgenommen werden konnte. Für Tommi war dabei nie eine Frage gewesen, ob Kitty integer war (obwohl andere an ihrer Aufrichtigkeit immer wieder Zweifel hegten). Vielleicht war er aber auch insgeheim ein wenig verliebt in sie. Auf jeden Fall bewunderte er sie für ihre Chuzpe. Eine seiner besten Freundinnen ist sie bis heute geblieben, dabei oft wichtige Beraterin, auch wenn er, der sie so gut kannte wie kaum jemand, das ein oder andere Mal auch nicht ganz astrein wusste, woran man bei ihr war. Tommi vertritt aber den Standpunkt, dass man erst mal eine Zählung der heimischen Kellerleichen durchführen müsse, bevor man über andere ein Urteil fällt, hat er doch herausgefunden, dass sich manch Leutchen, die in besonders strenger Doktrin sprechen, in eigenen Bedrängungsfällen mit hoher Nachsichtsbereitschaft bedenken. Auch hacken die solchen manchmal deshalb gern bei anderen zu, weil sie den Wert ihrer Währung in Sachen scharfe Kritik auf 45 möglichst hohem Börsenkurs festigen wollen. Tommi versucht übersichtlich zu bleiben. Die Welt ist komplex. Das Leben ist eben das Leben. Nichts ist nur schwarz. Oder für Weiße. Und trotzdem. Einiges kann verschwiegen werden, Bestimmtes muss gesagt werden. Manches lässt sich erzählen. Anderes erdichten: »Diese Menschen sind halbwegs ehrlich« (*2) In all diesen fahrenden Autos drin, sitzen lebende Menschen, die wollen wohin. Jedes Auto hat seine genaue KW, jeder Mensch eine ungefähre Idee. Sie fahren aus Sachsen und Württemberg her, sie fahren und sie bilden den Verkehr. Irgendwann einmal sich kennengelernt, mehr als zweimal schon haben sie sich getrennt. Irgendwo sich dann zu Paaren gefunden, später irgendwelche Kinder entbunden. Diese Menschen sind ehrlich und somit sind sie gefährlich. Diese Menschen sind wild entschlossen, unverdrossen mit Haut und Haar unberechenbar. Und in der Überzahl. Die Farbe ihrer Haut von den Autos abgeschaut, die Kinder in Serie gleich mitgebaut. Kalkuliert und vermessen packt man sich ab, so passt die Bagage komplett in den Sack. Es ist vermutlich jener Sack, den sie »Home, Sweet Home« nennen. Irgendwann einmal sich kennengelernt, mehr als zweimal schon haben sie sich getrennt. Irgendwo sich dann zu Paaren gefunden, später irgendwelche Kinder entbunden. Diese Menschen sind ehrlich und somit sind sie gefährlich. 47 Diese Menschen sind wild entschlossen, unverdrossen mit Haut und Haar unberechenbar. Und in der Überzahl … Zahl … Zahl … Graf Zahl … TommI (unbedingt mit groSSem I) Menschen sollten zu nichts gezwungen werden. Weil man sie damit am stärksten verletzt. Ihnen am nachhaltigsten schadet. Ziemlich egal, wozu man sie nötigt. Dabei geht es nicht mal um den Grad des aufgedrückten Durchsetzens. Auch kleine Pressur kann fatal beschädigen. Tommi from Germany wurde zum Experten für Zwangsempfinden aller Art. Er entwickelte eine besondere Sensibilität für alles, was mit Autorität und Machtanwendung zu tun hatte. Ständig empfand er sich selbst als unter der Fuchtel aller möglichen Repressalien – also galt es, nach Auswegen zu suchen. Als erstes äußeres Ausrufezeichen schrieb Tommi das I in seinem Namen ab sofort und für immer groß und mit einem Kreis darum. Ein Statement gegen erzwungene Ungleichheiten jedweder Art sei das, so sprudelte es aus ihm ein bisschen auswendig gelernt heraus, wenn ihn jemand 49 auf die Bedeutung der ungewöhnlichen Schreibweise seines Pseudonyms ansprach. Das hinterste Zeichen, und nicht nur das, fühle sich schon seit langem eingeknastet, antwortete der Buchstabenaktivist auf solche Nachfragen. Er werde es aber nie wieder zulassen, dass sein I, also I wie Ich – welches unbedingt nur stellvertretend für ihn selbst zu lesen sein könne –, im Schatten gehalten werde, von wem oder was auch immer. Die Schreibweise mit dem großen I hielt er tatsächlich richtig lange durch, auch wenn er in der Folgezeit eine immer andere Deutungsweise verlangte. Mal sollte es für »Isolation« stehen. Dann für »Irre«. Für ein kurzes Wochenende stand es für »Free India« – TommI wollte sich solidarisch zeigen mit den unterdrückten Kasten der indischen patriarchalen Gesellschaft. Als Nächstes wollte er, dass es als Symbol für »Internationalität« gesehen wird. Ein anderes Mal für »Irritation«. Das eingekreiste I wurde TommIs absolutes Steckenpferd. Auch physisch. Mit großem Aufwand betrieb er die Verbreitung der kleinen Idee. Bald war es an vielen Hauswänden, Parkbänken, sogar an Dutzenden Strandkörben und an der Hafenmauer des Ortsteils Needorf zu sehen. Zur selben Zeit erblühten in Bimmelsorf und Umgebung unzählige andere Meinungsmarken. Dazu muss man wissen, dass TommI (mit großen I) längst nicht vorderste Kraft war in dieser besonders aufmüpfigen Ostseeregion. Ein bisschen war es wie in einem abgelegenen Landstrich, in dem ein Teil der Bewohnerschaft bestimmte Stammesregeln nicht mehr anerkennen wollte. Anfangs noch ohne Hoffnung auf Anschluss an das ersehnte, weit entfernte, 50 bessere Leben, das irgendwo da draußen existieren musste. »Weil wir hier, wir leben in einer Ausnahmescheiße.« Zitatgeber war einmal mehr Nerve R. Allen Beteiligten erschien das glasklar. Die große Anzahl an Mädchen und Frauen unter ihnen leistete dabei oft noch beherzter Widerstand als ihre männlichen Gleichaltrigen. Eine Bande von drei jungen Damen bewunderte TommI besonders (eine von ihnen kam in seinem Song mit der schönen Jugend vor). Sie waren zwar im weitesten Sinne Mitglieder in der Bimmelsdorfer Abtrünnigen-Szene, behaupteten aber darin noch mal eine extra starke Unabhängigkeit. Durch und durch Dogmen-frei, war vielleicht genau das der Grund dafür, dass sie ungreifbar ins Leuchten gerieten. Wahrhaftig, diese drei schienen wie durch wärmendes Licht geschützt. Und in dieses vermochte niemand hineinzuschauen. Zu hell für normale Sinne. Regelrecht aus der Art geschlagen, wie einer ihrer Väter sich ausdrückte. Die drei standen in solch starker Verbindung zueinander, als könnten sie sich auch noch in weiter Entfernung konstant an den Händen halten. Und obwohl die Gegenwart, in der sie aufwuchsen, auch so schon grell genug war – die normalbürgerlichen Alltagsmaskeraden ergingen sich damals in kreischenden Farbfehlern, knallbunten Automobilen, quietschschrillen Tapetenanstrichen mit irrsinnigsten Mustermixen, blutorangenen Telefonen, grüngiftgelben Plastik-Läuseforken und eicherustikalen Einbauschrankwänden –, stand das Trio felsenfest da in seinem ganz eigenen, speziellen Schein. Und so blieben sie, obwohl alle wussten, welchem Grusel sie in ihren Familien ausgesetzt waren, welches Anschul51 digen, Androhen, Zuschlagen sie verfolgte, durch ihre Zusammengehörigkeit unverletzbar. Für ihre Sonderstellung, da war sich TommI sicher, konnte es nur einen möglichen Grund geben: Sie hatten keine Angst! Und alle anderen eben schon. Besonders die Erwachsenen. Denn bei aller stilistischen Ausprobierwüstheit erlebte die Gesellschaft in ihrem Inneren das genaue Gegenteil: Sie schlotterte förmlich vor Panik und kneifender Spießbürgerlichkeit. Wenigstens ein bisschen beschwipst, manchmal, nach Feierabend. Oder eben richtig hackezu. Auf der Arbeit. Und an Feierabend. Oder irgendwann anders. Elektro-, Benzin- und Spindelrasenmäher Einmal die Woche war Rasenmähen in den Bimmelsdorfer Vorgärten. Die favorisierten Modelle waren Elektro- oder Benzinmäher. Ganz selten besaß jemand einen Spindelmäher. Den Vorgarten ihrer Eltern zu mähen, das konnten Kitty, July, TommI, Doktor Onkel und Co. aber nicht leisten. Sie konnten es deshalb nicht leisten, weil es bereits zu spät war für derartige Mitmachdinge. Zu spät, weil grandios falsch dazu aufgefordert. Es war keine große Sache, 30 Minuten lang an der frischen Luft zu sein. Es stand außer Frage, dass es machbar war, einen herkömmlichen Elektro-, Benzin- oder eben Spindelmäher über eine zumeist gerade Fläche zu schieben. Sie waren gut genährte Mittelschichtmitteleuropäer mit meist kräftig gesättigtem Bürgerhintergrund. Wahrscheinlich hatten einige von ihnen sogar Wikingerspuren 53 in ihrem Genstamm: wie geschaffen zum Rasenkürzen. Eigentlich. Die Weigerung gegen die angetragene Betätigung steckte auch nicht in den fähigen Körpern, sie nistete vielmehr in den unwilligen Köpfen. Man konnte die Meinung vertreten, sie alle seien nichts als faule Verzöglinge. Auch TommI – im Falle der Rasenmähverweigerung stand sein I immer für das englische ill – weigerte sich, den Rasen zu mähen. Ill, wie krank, richtig angewandt für: zu krank zum Mähen. Als Begründung für das kategorische Nichtwollen erklärte er sich und die Seinen als allergisch kontaminiert gegen Rasenmähen und gleichzeitig gegen jegliche andere Form von Vorgartendingen. In Wahrheit musste man jener starren Ablehnung gegen die Pflege der elterlichen Botanik einen völlig anderen Titel geben, und da lag wieder einmal Kitty against Kitty, die beste Analytikerin der Gruppe, goldrichtig. Sie verteidigte den Verweigerungsanspruch als »lebensweites Ekel-Trauma, hervorgerufen durch eine unsachgemäß eingesetzte Aufforderungsrhetorik«. TommI war tief beeindruckt von Kittys Scharfsicht, sah er sich doch superexakt beschrieben in ihrer These. Er plante sogar, eine umfangreiche Streitschrift dazu herauszubringen. Leider ist bis heute nichts daraus geworden. Aber die Rasenmäher haben ihn nachhaltig inspiriert. Später strickte er aus ihnen und aus verwandten Symbolen verschiedene Dinge, die im weitesten Sinne mit Kunst zu tun hatten. Irgendwie gab es immer Reibungen. Eigentlich mit allen Grenzsetzungen. Das hatte sehr früh angefangen. Heute kann sich TommI ziemlich schlecht erinnern, woran es 54 sich genau festmachen lässt, das Nichtmachenwollen. Er hat deswegen Schwierigkeiten bekommen, das weiß er. Sich nicht einordnen wollen. Ein paralleler Blick auf TommIs Grundschulzeugnisse zeigt seine rasante Abwärtsentwicklung im frühen schulischen Werdegang ziemlich sauber auf. Wie ungünstig er zum Beispiel auf die gesetzliche Bestimmung der Schulpflicht reagierte. Zeugnis Klasse 1a: »Horsti ist lebhaft und aufmerksam. Im Schreiben ist er flüchtig. Sonst sind seine Leistungen gut.« Zeugnis Klasse 2b: »Horstis Beteiligung am Unterricht ist nicht immer gut.« Zeugnis Klasse 3b: »Horsti stört den Unterricht durch Albernheiten.« Zeugnis Klasse 4b: »Horsti vergisst häufig etwas. Er ist unkonzentriert. Durch Clownerien versucht er Aufsehen zu erregen. Seine Mitarbeit ist sehr schwankend. Er stört häufig durch sein Verhalten.« Zeugnis Klasse 4c (Jahrgangswiederholung): »Horstis Mitarbeit ist schwankend. Er ist leicht ablenkbar. Er arbeitet nur manchmal mit.« Auf den weiterführenden Schulen sah das dann kaum anders aus, und der Rektor, der TommI ganz zum Schluss die Hand gab, verabschiedete ihn mit den Worten: »Als Leiter dieser Einrichtung bin ich eigentlich gar nicht befugt, Ihnen davon abzuraten, das vergangene Schuljahr zu wiederholen. Mir wäre aber persönlich deutlich wohler, wenn Sie nach den Sommerferien nicht an unsere Lehranstalt zurückkehren würden.« TommI folgte seinem Wunsch. So schaffte er zwar die geforderte Anzahl an Schuljahren, erhielt aber keinerlei 55 Abschluss. Vor Freunden brüstete er sich, unehrenhaft entlassen worden zu sein. Zu Hause kam das nicht gut an. Und der Sommer fühlte sich danach schuldig an wie lange nicht. Auch, weil sich die Wut trotz der neuen Freiheit nicht besser verteilen ließ. Ein Benehmen wie ein Gartenschlauch Wegen seines Totalschulversagens hat sich TommI immer wieder mit dem sogenannten Bildungssystem beschäftigt. Dabei verstand er zunehmend deutlich, dass dieses grundsätzlich hart abzulehnen ist. Nichts rechtfertigt die Dauerbenotungen von kleinen oder großen Menschen. Bis heute ist er sich ganz sicher, dass es vollkommen konträr zu den Neigungen eines jeden Individuums verläuft, mit Zahlen zu belohnen oder herabzusetzen. Die Ideenlosigkeit dieser Vorgabe kann er nicht begreifen. Wie kann es sein, dass das lernbegierige Wesen so wenig befragt wird? Jedes Kind beginnt zu bauen, wenn man ihm ein paar Klötze hinlegt. Niemand ist faul von sich aus. Höchstens durch eine schlechte Benotung. Solange nicht berücksichtigt wird, welche Begeisterung das freie Entdecken bei Kindern hervorruft, solange nicht in gleichberechtigter Beziehung beigebracht wird, sind Eltern und Schule weiter ignorante Scheiße. 57 »Der Jung taugt nichts«, lautete die Einstufung von TommIs Stiefvater, Erziehungsberechtigtem, direktem Vorgesetzten und Selfmade-Autohausbesitzer Manfred W., von allen nur »Uns Manni« genannt. Diesen kumpelhaften Spitznamen erhielt er, weil er denselben Vornamen trug wie Manfred »Manni« Kaltz, der berühmte offensive rechte Verteidiger, der sehr erfolgreich beim HSV und in der Nationalmannschaft spielte. Seine Spezialität war die »Bananenflanke«, die oft von Mannschaftskamerad und Mittelstürmer Horst Hrubesch verwertet werden konnte, der wiederum als »Kopfballungeheuer« berühmt wurde, weil er den Ball nach eigenen Angaben gern »einfach so mit’m Appel reinmachte«. TommIs »Uns Manni« konnte zwar mit seinen original holländischen Holzclogs auch ganz ordentlich gegen den Ball treten – das auch als Botten bezeichnete Schuhwerk flog dabei gefährlich gleich mit durch die Luft –, war aber eigentlich mehr für Handball. Weil es da noch mehr um gesunde Härte ging und der Sport nix für Weicheier war. Sein privates Reich, das Autohaus, regulierte er mit dem Leitmotiv: Chef in der Firma. Chef zu Hause. Zum Führen der Untertanen benutzte er die harte Hand, so wie schon sein eigener Vater Friedrich W. – den man respektvoll nur den Eisernen Fiete nannte – sie zuvor eingesetzt hatte. Denn nur so, nur mit Druck, ließe sich ein Ellenbogen herausbilden, ohne den es sich kaum anzutreten lohne in einer sich gegenseitig nichts schenkenden Welt. Solche Strenge hatte Auswirkungen. Jeder einzelne Werkstattmeister, der in Uns Mannis Autohaus anfing, verließ dasselbe mit einem Magengeschwür. TommI, 58 ideenlos, was er nach seiner bisherigen, ergebnislos verlaufenden Karriere sonst hätte machen sollen, begann eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker im Betrieb des Stiefvaters. Die schloss er immerhin mit einem Gesellenbrief (Praxis 2, Theorie 4) ab. Leider verlief der Weg zu diesem Dokument wenig rund. Im Gegenteil. In dieser von ihm als besonders dunkel empfundenen Lebensphase – er schrieb seinen Namen seit Beginn der Lehre wieder mit kleinem i – lebte er im traurigen Dauerzwist mit den Bedingungen des Lehrverhältnisses. Nur gut, dass der für ihn zuständige Werkstattmeister Karl Hans Kroschewski einen schmerzbetäubenden Schnapskiosk im Ersatzteillager unterhielt. Aus gutem Grund: »Karl Hans, ich könnte dir in den Sack treten, dass deine Eier wie Leuchtkugeln durch die Luft fliegen«, brüllte Tommis Stiefvater am liebsten vor versammelter Kundschaft quer über den Hof. Nach solchen Erniedrigungen spendierte Meister Kroschewski kleine Billigliköre von der Firma Laekkerstadt, deren LKWs in der Werkstatt gewartet und repariert wurden. Oft tranken die Fahrer mit. Überhaupt kamen sie bei jedem Minischaden mit ihren knallorange lackierten Laekkerstadt-Süßigkeitentransportern vorgefahren, nur um keine Waren ausfahren zu müssen. Hochunzufriedene Menschen waren einige von ihnen. Nicht selten kam es vor, dass sie sich in ihrem Lastkraftwagenfahrerfrust kleine Bosheiten erdachten. Tommi und die anderen Lehrlinge waren dann die Leidtragenden. »Die Wischerblätter habt ihr beim letzten Mal schon wieder nicht gewechselt, obwohl das mit Sicherheit Teil der 240 000er Inspektion ist.« Tommis Stiefvater dann 59 durch die Halle brüllend: »Hoooooorst!!!! Spritz mal eben los und hol mir eine Packung Roth Händle von der Tanke. Dreimal lang hingeschlagen bist du wieder da. Und danach schraubst du ein paar neue Wischer an die LaekkerstadtFrontscheibe. Ihr habt das schon wieder nicht ordentlich gemacht. Muss man denn hier alles allein machen.« Alle in der Werkstatt wussten, dass bei der letzten Routine die Inspektionspunkte sauber durchgegangen worden waren. Das Material saß auch noch für jeden gut sichtbar, quasi fabrikneu, am Fahrzeug. Für die launigen Fahrer standen die Auszubildenden noch eine Stufe unter der für sich selbst in Anspruch genommenen vorletzten. Und diesen Vorsprung spielten sie aus. Aber Rache war möglich. »Herr Laekkerstadt, das mit den quietschenden Scheibenwischern tut mir wirklich leid. Versuchen Sie es mal mit Caramba-Spray. Dann flutscht das wieder.« Tatsächlich spritzten sie dann eifrig das beliebte Werkstattallheilmittel Caramba-Schmierstoff und Rostlöser, eingedost in einer knallgelben Metallhülle, auf ihre Fahrerhütten – und hatten beim nächsten Regen so übel verschmierte Scheiben, dass einer von ihnen sogar mal mit einem Abschleppdienst in die Firma zurückgeholt werden musste, weil er mit seiner stockblinden Frontscheibe im schlechten Wetter hängengeblieben war. Kleine Triumphe in einem sonst eher von Niederlagen dominierten Alltag. Immerhin, die Solidarität im Team war meist gut, und so lernte Tommi in der Werkstatt trotz seiner eigenen Fehlbesetzung ein paar wirklich feine Leute kennen. Oder »in der freien Wirtschaft«, wie sein Stiefvater die Teilnahme am Autogeschäft bezeichnete. Dar60 über hinaus empfindet Tommi seine Kfz-Mechaniker-Zeit bis heute als wichtigste Humorschule. Zwischen unsäglichem Sexismus, traurigem Malocher-Konkurrenz- und bösartigem Kleinboss-Gehabe schlüpften viele zarte, urlustige Spritzer aus den Untiefen der Ausbildungsbetriebe, Ersatzteilzulieferer oder TÜV-Prüfstellen, die weit über die üblichen »Das Einzige, was hier klappt, ist die Tür«Klosprüche hinausgingen. In den düsteren Tiefen des sich windenden, täglichen Balancierens eines Arbeitstages, wie Tommi ihn erlebte, waberte ein komplexes, sich immer wieder neu austarierendes Sprachgeflecht aus Ausflüchten, Umgehungen und bewussten Schwammigkeiten, die es zum Ziel hatten, gemeinschaftliches Durchkommen in ein ultrageheimes Code-Netzwerk zu packen. Ein kollektiv angelegter, schützender Puffer gegen das Stufendasein der Malocher-Existenzen. Dieser Puffer kam immer dann zum Tragen, wenn Chefs in gefährlicher Nähe drohten. Oder die von den Chefs protegierten, erbsenzählenden Dienstleistungseinforderer, die miesepetrige Autohaus-Kundschaft, die man auch kritische Konsumenten nennt. Eine noch höhere Dichte solch kritischer Konsumenten findet man lediglich in Reformhäusern oder auf Stadtteilmärkten mit ausschließlich Bioprodukten. »Weiterfahren. Beobachten«, lautete die von Karl Hans Kroschewski ausgegebene Standardantwort auf allzu knickrige Kundenwehwehchen. Kroschewski war immer auf der Seite der Angestellten. Und er wusste sie zu pflegen. Leider wurden seine anfangs recht lose angesetzten Trinkfeste zunehmend zwanghaft, schienen sie ihm doch der einzig mögliche Umgang mit seiner würgenden Situation zu sein. 61 Man konnte seinem Verfall förmlich zuschauen, auch weil alle anderen Beteiligten ihn nicht gerade stoppten, sondern ihm mit in Bierdeutsch gesungenen, aufmunternden Liedchen eher zusprachen. »I sag Ka-, Ka-, Ka-, Ka-, Karl Hoans. Willst’ aon Bier, oder wilsst ao koans? Willst ao koans, dann trink i doans«, lautete ein beliebter Stampfschlager in der Firma. Bald fehlte er immer öfter. Krankheitsbedingt. Das stachelte die Angriffslaune seines Chefs umso heftiger an. Sobald der Meister genesen zurückkehrte, hagelte es Angriffe und Beleidigungen. »Karl Hans, du hast ein Benehmen wie ein Gartenschlauch. Krumm und dreckig.« Nach solchen Sprüchen sah man, wie sich der sensible Kfz-Fachmann immer häufiger in die Bauchgegend fasste und sein schmerzverzerrtes Gesicht zu verstecken suchte. Irgendwann kam es dann, wie es immer kam. Ausbilder Karl Hans Kroschewski brachte eines Tages – nicht anders als seine Vor- und Nachgänger – ein endgültiges Attest. Völlige Arbeitsunfähigkeit. Kaputter Magen. Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Anstatt sich nun über den Abgang seines wichtigen Mitarbeiters zu ärgern, schien Uns Manni in fröhlichster Genugtuung abzuheben. Und das zeigte er allen, die es sehen und nicht sehen wollten, durch offen zur Schau gestellte, beschwingte Laune. Die Demütigungen anderer ließen deshalb längst nicht nach, verschoben sich in solchen Umbruchphasen lediglich auf die Zurückgebliebenen. Und machten vor der privaten Türe nicht halt. Tommi wohnte mit ihm direkt in einer dem Betrieb angeschlossenen Unterkunft. Dabei hatte Manfred W. die besondere Begabung, die nur wahre Universalbosse ihr 62 Eigen nennen: Er konnte durch Wände und Türen hören. Und sogar sehen. Nichts, nicht das leiseste Geräusch entging ihm. Er hörte zum Beispiel, wenn der in Tommis Erinnerung nahezu tonlos betrieben Fernseher lief und dieser nach Meinung des Bosses zu diesem Zeitpunkt nun mal nicht zu laufen hatte. Es gab kein Entrinnen vor den Röntgenaugen und -ohren, und seine omnipräsente Aura schuf eine Daueranwesenheit von Druck und Angst in Betrieb und Familie. In besonders teuflischer Erinnerung sind Tommi dabei die regelmäßigen Besuche im gutbürgerlichen Restaurant geblieben. Diese wurden immer sonntags in der mittelfeinen Alten Mühle abgehalten. Alle Gewerbetreibenden gingen zum Essen in dieses Etablissement. Und zum Geschäftemachen. Auch Hochzeiten oder Kindstaufen aus jenem Milieu fanden hier statt. Das Essen war solide. Die meisten freuten sich, wenn es auf den Tisch kam. Bei Tommis Familie war aber genau das der heikelste Moment des Gaststättenbesuches. »Als wir das letzte Mal hier waren, lappte die Scholle aber noch ordentlich über den Tellerrand. Ist der Winzling hier etwa ihr Nachwuchs? Ich würde gern mal den Küchenchef sprechen.« Das Familienoberhaupt sprach solche Dinge nicht etwa verärgert. Vielmehr schien ihm seine unausweichliche Kritik an der gebrachten Speise Teil eines passenden gesellschaftlichen Rituals zu sein. Offensichtlich empfand er durch derlei Beschwerden die Bestätigung seiner Stellung. Vielleicht auch eine Art zusätzliches, angemessenes und regelkonformes Entgelt für die Leistung, die er an anderer Stelle selber erbracht hatte. 63 Die Herabwürdigungen des Restaurantpersonals durch den mäkelnden Autohausleiter erschienen Tommi gar als eigentlicher Grund für den Besuch der Alten Mühle. Sie waren ein finales Ritual einer arbeitsreichen Woche. Am deutlichsten erinnert sich Tommi bei diesen beschwerlichen Sonntagen an den teilnahmslos gesenkten Blick seiner Mutter. In solch öffentlichen Momenten biedersten Repräsentationswillens ihres Ehemannes wurde ihr das Leben so kalkig und bitter, dass es schien, als verklebe ihr der Mund vor Ekel – so wehrhaft und kämpferisch sie sonst sein konnte. In Tommi selbst schwoll Wut heran. Ohnmacht und nervöser Eskapismus. Er ist der festen Auffassung, dass sein nicht enden wollendes Fliehen und Rennen, das ihn bis heute auf einem verschleißreichen Dauertrab hält, in einem nicht zu unterschätzenden Anteil auf diese quälenden AlteMühle-Fischessen mit ihren ungenügend großen Plattfischen zurückzuführen ist. Es müssen diese beklemmenden Erlebnisse gewesen sein, die sich tief einbrannten und einen schweren Hall von Unbehagen und Schuldgefühlen hinterließen. In solchen Gasthaussituationen, dem vollendeten Klammergriff von Uns-Manni-Menschen ausgesetzt, züchteten sich seine bis zum heutigen Tage konstant nagende Urvertrauenlosigkeit, die latente Weltverlorenheit und das stetig drängende Reißausverlangen. Jahrzehntelang fortwährende Kleinheit und Ängstlichkeit. Bis zur jetzigen Sekunde andauerndes, ständiges Abhauenwollen. Allein und intern. Wie in diesem Lied: 64 »Angst und Bange am Stück« (*3) Das war der neueste Lebensabschnitt von mir Zum Glück ist er jetzt vorbei Ich könnte dir mit der Hand durchs Gesicht fahren Landgraf werde hart Es gibt nichts, was man nicht reparieren kann Man muss es nur wirklich wollen Da gab es nie mehr als eine Meinung für mich Die Frage stellte sich nicht Es gibt keine einzige Mahlzeit Die keinen Preis hat Es gibt keine einzige Mahlzeit Die keinen Preis hat Hast beim Kochen wohl Glück gehabt Sonst würde es mir gar nicht schmecken Mit siebzehn Jahren in die Lehre Mit siebenunddreißig in Therapie Jahre zum Verstehen – so heißen alle Jahre Spring, wenn ich’s sage! Ich wollte immer woanders sein – da, wo, da, wo ihr nicht seid Es gibt keine einzige Mahlzeit Die keinen Preis hat Es gibt keine einzige Mahlzeit Die keinen Preis hat 65 Karl Hans, du hast ein Benehmen wie ein Gartenschlauch Krumm und dreckig Herr Ober machen Sie mal ein Foto von uns Sie haben ja grad nix zu tun Der Affe dort hat noch mal Glück gehabt Dass ich heute gut gelaunt bin Dass ich immer nur weg will von Euch Macht mein Leben zu schnell Es gibt keine einzige Mahlzeit Die keinen Preis hat Es gibt keine einzige Mahlzeit Die keinen Preis hat 66 In Abwesenheit der Kameras Aus heutiger Sicht empfindet Tommi sein Aufwachsen als Aneinanderreihung verschleierter Traumsequenzen. Es ist ganz seltsam: Er kann sich wirklich an das meiste nicht erinnern. Ganz so, als wäre er nicht beteiligt gewesen – an sich selbst. Eine Wiedergabe von Stimmungen aus seinen prägenden Jahren fällt ihm schwer. Wo andere ausführlich von schönen oder unschönen Kinderurlauben, harmonischen Onkeln, Gefühlen zu alten Autos, süßlichen Gerüchen in betagten Häusern, charakterstarken Familienhunden oder -katzen erzählen, wabert bei Tommi ein breiiger Nebel, der aus stark auf sich selbst geworfenen Emotionsüberlagerungen besteht und sich insgesamt irgendwie nur klein, schüchtern und schamhaft anfühlt. Alte Fotos geben keine besseren Hinweise. Man erkennt einen unspektakulär aussehenden Jungen, der ein bisschen zu sehr auf seine Frisur zu achten scheint. Durchaus gefasst 67 sieht er aus, auf dem Boden, könnte man sagen. In der Eigenwahrnehmung aber stehen viele Momente aus diesen jungen Jahren in schmerzlichen Flammen. Wie ein verwackeltes Ringen, ein liebesfreies Sichselbstnichtmögen und Vonanderennichtgemochtwerden, so fühlt sich das für Tommi aus heutiger Sicht an. Durchdringende, giftige Minderwertigkeit. All dieses Zweifeln und Würgen, das Hadern im Innern, hat aber immer nur mit sich selbst stattgefunden. Anscheinend war da niemand zum Teilen. Zum Anlehnen. Tommi kommt es heute so vor, als hätte er Ewigkeiten auf einer separaten, schattigen und dabei durch und durch nervösen Insel verbracht. Auf ihr spielten sich die unzusammenhängenden Einzelszenen ab, die ihm zwar selbst ganz stechend vorkamen, was aber sonst niemand mitzubekommen schien. Wie unsichtbar. Wahrscheinlich wurde aber auch nicht hingesehen. Oder es konnte nicht hingesehen werden. Man ging noch nicht so ungeniert in die Leben hinein. Solch langgezogene, parallele Nischen, in denen Tommi und all die anderen aufwuchsen, waren viel leichter möglich als heute. Abseits öffentlicher Umkremplung und Zurschaustellung tobten auch die Befindlichkeiten noch in den Einzelnen und keinesfalls in den dauersensibilisierten Öffentlichkeiten. Vorhänge. Türen. Die Vier Wände. Private Mauern, Wohn- , Schlaf- und Kinderzimmer. In den Kneipen. In den Klassenzimmern. In den Heimen. In den Internaten. In den Ausbildungsstätten. Strafe und Bedrohung. Rigidität. Eine Tracht Prügel. Stubenarrest. »Landgraf werde hart«, sprach der Kinderarzt, wenn es weh tat. 68 Und: »Ein Indianer kennt keinen Schmerz.« Dazu Uns Manni: »Auf den Fußballplatz gehen fällt heute aus wegen: ist nicht.« Sowie: »Da gibt es keine zwei Meinungen.« Und: »Mach die Augen zu, dann siehst du, was dir gehört.« Die Werte der Solange-deine-Füße-unter-meinemTisch-stehen-Ansprachen arbeiteten unter vollem Dampf und kamen zur gänzlichen Anwendung. Androhungen und Konsequenzen: »Ich könnte dir mit der Hand durchs Gesicht fahren.« Und es wurde schon auch geschlagen. Eben. Manchmal rutschte sie aus, die berühmte Hand. Wenn auch bei vielen eher aus Überforderung denn aus Überzeugung. Der Druck auf die urplötzlich selbständig gewordenen Bürger war hoch. Die neuen Ausbreitungsmöglichkeiten trafen sie unvorbereitet. Wechselnde Partnerschaften. Privatwirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten. Urlaube und Scheidungen. Das Ableben findet zunehmend außerhalb der Familie statt. Urgroßvater stirbt noch zu Hause, Großvater schon im Pflegeheim. Auf den Wegen der ehrgeizigen Nachkriegserziehungsberechtigten geriet einiges unter die Räder beim hart rackernden Eigengemachten. Die ungewohnten Freiheiten und Freizeiten waren längst nicht kontrolliert. Da die neuen Spiele / Hier hatte man Ziele Da wurde gehobelt / Hier fielen die Späne Die Suchtstoffe hießen Stereoanlage und Fotoausrüstung. Videorekorder und Farbfernseher. Und Personenkraftwagen. Im Westen wie im Osten. Der ersehnte Kram kam einfach nur ein paar Jahre früher in die BRD -Hütten als in den Arbeiter- und Bauernstaat. Vergleichbares Zeugs mit vielleicht fünfzehn Jahren längerer Lieferzeit. 69 Kinder liefen dabei »so nebenher«, wie man Tommi später einmal sagte. In der DDR warf man sie ab dem Babyalter einfach in den Hort. Das bedeutete nichts anderes, als dass es keine Zeit gab für sie alle. Hüben wie drüben. Und so war das. Manch Nachwuchs musste geduldig sein, bis mal wieder jemand vorbeikam und nach ihm schaute. Manche bekamen platte Hinterköpfe, weil man sie in den ersten Monaten nach der Geburt, in denen sie sich noch nicht selbst wenden konnten, sehr lange darauf liegen ließ. Es gab eben so viel zu tun. All die neuen Anforderungen. Und das Land war noch nicht mal in Gänze wiederaufgebaut. »Nach zwei Weltkriegen, an denen ihr nicht teilgenommen habt«, so lautete Uns Mannis Generalvorwurf. Das Wunder der Wirtschaft hielt dabei alles bereit, was Wirtschaftswunder eben so bereithalten. Man musste allerdings danach greifen, zupacken und dann die Widerhaken ausfahren wollen. Damit sie guten Fang machten. Es sich daran hochziehen ließ. Die Treppchen hinauf. Unternehmer wie Tommis Stiefvater sollten später von den Goldenen Jahren sprechen. Als noch etwas möglich war, man noch wirklich etwas erreichen konnte, wenn man bereit war, sich die Hände schmutzig zu machen. Tommi und vielen anderen aus seiner Generation erschienen derartige Bestrebungen nur lächerlich, banal materiell und starr strebsam. Bis heute hat sich daran so viel nicht geändert. Er weiß aber viel besser um den Druck, unter dem seine Elterngeneration gestanden hat. Ihre Ängste sind viel stärker mit eigenen Ängsten vergleichbar, als er es sich eingestehen will. Nur die Fehler müssen ja deshalb nicht dieselben 70 werden. Tommis schlauer Cousin Sid Hansa, der sich nach einem früh abgelebten Bassisten und einer preisgünstigen Biersorte benannt hatte und mit dem Tommi praktisch aufgewachsen war, sagte schon damals: »Meine Kinder sollen es auch einmal besser haben als ich. Psychisch.« Die Verbindung, die eine Jugend unter den Umständen jener Zeit fest zusammenbrachte, konnte nur eine mit tiefer Abscheu gegen die Gesellschaft, wie man das damals noch viel pauschaler sagte, sein. Dagegensein ließ sich klar darstellen: zuerst als Langhaarige. Dann als Bunthaarige. Beide Sorten verband, dass man ihnen die Flausen schon wieder aus dem Kopf treiben wollte. Wörtlich gemeint. Ansonsten hatte ein ordentlicher Schlag in den Nacken noch keinem geschadet. Schon deshalb bestand eine große Notwendigkeit, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Es gab viel weniger Graustufen. Grell war noch nicht alles. Jugendkultur hieß Gegenkultur. Rockmusik fühlte per se links. Bürger erschienen als Bürger und nicht gleich auch noch als ihr eigenes Gegenteil. Einige konnten cool sein. Weil noch nicht alle cool waren. 71 Ihr seid die Freaks In Bimmelsdorf, dem »Kurort im Schönen«, hörte eine besonders verführerische Verheißung auf den weitverbreiteten Vornamen Manuel. Bei ihm hatte man seit einer höheren Teenagerreife – aus Gründen – seinem Geburtsnamen das Wort »Drogen« vorangestellt. Drogen-Manuel war eine zentrale Figur im Ort. Er wurde gebraucht wie kaum jemand aus der lokalen Szene. Leute wie er waren für viele Suchende ein wichtiger Türöffner zum brennenden Wunsch nach dem Abtauchen in eine andere Welt. Er selbst wiederum war nur möglich vor dem Hintergrund einer sich nicht verstanden gefühlten Jugend, mit ihren Vorgartenmähverweigerungen. Sein Wirken war auch deshalb so sehr zur rechten Stelle, weil es die bis dahin kräftigste Antwort geben konnte auf die universelle Resignation in dem zähen Ort ohne Imagination, in dem sie aufwachsen sollten: BRD / 70er Jahre. Solch Drogen-Manuels, die es in 73 jeder der unzähligen verlorenen Menschenansammlungen gab, standen aus der Ferne betrachtet sehr weit außerhalb der Normen. Für sich genommen und mit seiner ansteckenden Wirkung besaß er aber die tollsten, näherbringenden Mittel, die man weit und breit bekommen konnte. Und die standen in krassem Gegensatz zur blockierend wirkenden Umgebung. Drogen-Manuel präsentierte seine Arzneien in einer anstrengend wirren Verquasung: Er war entschlossener Substanzen-Theoretiker. Angewandte Indianerrituale, schrägste Esoterik-Sammelsurien, krudester Feld- und Weltkram, ostasiatische Steine mit Wirkungen, all das waren nur einige der zum Einsatz gebrachten Methoden eines unerlässlichen Vorspiels, des »Manuel Preludes«. So nannte er die Zeremonie – bevor es endlich ans Eingemachte gehen konnte. Mittelpunkt seines komplexen Reiches und szeneübergreifender Konsumententreffpunkt der einzigartigen Zauberkräfte war die Unterkellerung eines weißen Klinkerbaus nahe dem damals größten Parkplatz für die Tagesgäste des Seebads. In dem unscheinbaren Einfamilienhaus lebten nur Drogen-Manuel und seine alte Mutter. Die Raumdecke des von ihm bewohnten Kellerzimmers war gänzlich mit Alufolie ausgeschlagen. An ihr klebten fladengroße, dunkelbraune Flecken, starke Ablagerungen massiver Kannabisrauchexzesse. Angeblich alles bester »Schwarzer Afghan« und »Roter Marokkaner«, nur sehr wenige Anteile »Deutsches Gras«. Gequarzt, wie Manuel das nannte, wurde ohne Unterbrechungen. Und wenn der Shit einmal ausging, dann schabte er mit seinem Dopemesser kleine 74 Krustenteile von der Aludecke und stopfte die so recycelten, rußartigen Klebekrümel umgehend zum Weiterquarzen in Purpfeife, Erdrohr, Schillum oder Glaskawumm. Im Übrigen sei das gerade wegen der anheftenden Alufetzen, die man nicht mehr sauber von dem wiedergewonnenen Dope loslösen konnte, besonders genehm turnende Ware, wie Manuel erklärte. Die meisten aus Tommis Clique gingen dort unten rauchen, Wein trinken, manchmal LSD Trips werfen. Jahrelang. Viel später kam es zu einem schweren Vorfall. Ganz traurig endete es in dem Einfamilienhaus. Richtig mit Sondereinsatzkommando. Angeblich hat Manuel – eigentlich ein lammfriedlicher Mann – eines Tages seine Mutter mit einem Hammer attackiert. Und wurde dann natürlich kassiert. Am stärksten blieb Tommi das Bild in Erinnerung, wie dieser grundfeine Kerl in dem auf eine völlig andere Art feinen Kurort Bimmelsdorf auffiel, wenn er sommers wie winters in seinem dünnen Stoffmäntelchen umherschlich. Ein scheues Gürteltier. Fremd im eigenen Kaff. Doch bei allem Freakhaft-Kaputten, das ihm anhing, blieb er doch immer und unübersehbar in einer eigenen Haltung. Solch Spezielle lebten damals ihr für andere nahezu unsichtbares, paralleles Universum. Merkwürdigerweise gestaltete sich ihr Auftreten nicht gebündelt, sondern weit und sauber voneinander verstreut. In jedem Örtchen mit mindestens einem öffentlichen Aufenthaltsraum, einem Jugendzentrum zum Beispiel, gab es immer nur einen von ihnen. Aus jeder noch so kleinen alternativen Szene heraus entsprang so ein Köpfchen des wirklich Eigenartigen. Durchgefallen. Abgehauen oder nicht. Draufgeblieben. Oft 75 sehr zufrieden damit. Natürlich war dieses Separate nicht immer freiwillig. Auf jeden Fall steckte eine nur schwer zu beschreibende, heroische Distanz in jenen desperaten, kosmisch anmutenden Vögeln. Ungreifbar. Unzähmbar. Aber irgendwann mit Nachdruck aussortiert. »Drogen-Manuel war ein Aussteiger, ohne ausgestiegen zu sein«, fand Tommis Cousin Sid Hansa, der eine nähere Freundschaft mit Manuel zu erreichen schien. »Und das ist der Beweis dafür, dass der Mensch das mieseste Viech unter allen Viechern abgibt.« Weil er Leute wie solch Manuel-Besondere rausdrängen würde, wenn sie dem Anpassungszwang nicht standhielten oder die reservierten Zonengrenzen wie Grünflächen mit ihren Möglichkeiten nicht akzeptierten. Hierbei entfernte man zuerst die Grundlagen. Sitzbänke zum Beispiel. »Weißt du, Tommi«, bemerkte Sid Hansa neulich, als sie sich an Drogen- Manuel erinnerten, »ich wäre wahnsinnig gern bei der einen Stadtplanungskonferenz dabei gewesen. Und zwar in dem Moment, als jemand den Vorschlag machte, man müsse öffentliche Sitzbänke durch gewölbte, einzeln nebeneinander geschraubte Metallgitterschalen ersetzen, um zu verhindern, dass Obdachlose sich darauf ausstrecken, womöglich gar einschlafen könnten.« Gemeinsam dachten Sid und Tommi dann an das kleine Verbotsschild, das auf dem Tisch im Café Gottesgleich am Bimmelsdorfer Platz aufgestellt worden war und das eine der vielen KuckucksKampagnen nach sich zog. »Hunde und Jugendliche haben keinen Zutritt«, stand darauf geschrieben. Erschienen war dieser Vermerk an dem Abend, nachdem Drogen-Manuel dort nachmittags am Tisch eingeschlafen war. 76 Kitty hatte ihre eigene Theorie zu Typen wie DrogenManuel. Sie glaubte, dass Satelliten wie er heute nicht mehr möglich sind, weil mittlerweile alle irgendwie Freaks sind. Typisch Kitty, konnte sie ihre Behauptung sofort ausführlich begründen: »Instinktive Freaks wie Manuel sind dieser Tage abgeschafft. Weil sie ein solch übersichtliches Feindesfeld wie damals nicht mehr vorfinden. Sie haben verstanden, dass sie nicht mehr erkannt würden, in der flächendeckenden, grellen Matsche, die sich ganz freiwillig und möglichst laut hörbar als freakig bezeichnet, weil ihr aufdringlicher Auftritt längst zur kompatiblen Kultmarke umkopiert und somit aus der Nische verschwunden ist.« Deshalb bräuchten sie auch gar nicht mehr aus dem Haus zu gehen, sondern könnten ihren zutiefst zynischen und unfreien Widergängern, die als öffentliche Showobjekte aufgebaut seien, ganz einfach im TV-Urwaldlager zuschauen. Zum Beispiel. Dort zerquetschten sie sich, scheinbar begeistert und unter dem Gejohle anderer Pseudoviecher, bis zum vollständigen Verlust der Selbstachtung. Der pfiffige Cat the Cat hatte dazu noch eine weiterführende Meinung. Nämlich, dass man aufpassen müsse, sich nach Zeiten zurückzusehnen mit ähnlich autoritären Ärschen wie zu Manuels Wirkungsphase, nur weil es weniger eindeutige Gegnerschaften geben würde. Was aber stimmen würde, sei die Tatsache, dass es früher wirklich überall diesen einen Typen gab, der konsequent draußen war. Meistens in der Ecke stehend. Mit seiner unmodernen, aber mit Stolz vorgetragenen Lederjacke. 77 Frag niemals, warum wir hier so sind Tommi und die Seinen waren unbeliebt. Anfangs in ihrem Dorf. Später in ihrer Stadt. Durchaus gewollt. Die meisten Menschen, auf die sie trafen, waren ernsthaft irritiert von ihrem Auftreten. Deshalb wurden sie hart angefeindet. Allerdings galten sie trotz der angewiderten Haltung, mit der man ihnen begegnete, gleichzeitig als ungefährlich. Zumindest für die, die sich auskannten. Als physisch eher harmlos. Die Mädchen wurden meist als gestört wahrgenommen und die Jungs unter ihnen waren eben Jungs. Keine Männer (die meisten sind es irgendwie bis heute nicht, Tommi inklusive). Da half auch der Schulterschluss mit dem zu jener Zeit noch rauen Proletariat nicht. Ihre schärfsten Gegner, Ordnungshüter und Jungsoldaten, Bauern und Bauarbeiter, HSV- und AC /DC -Fans, waren aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Im Gegensatz zu den Tommi-Boys waren das kernige Homo sapiens mit an79 spruchsvollem Auftritt. Und sie hatten echt keinen Bock auf schmuddelige Aufsässige. Selbst in Bimmelsdorf machten zum Beispiel die Leute von der ortsansässigen Reptilbande mit Ansage Jagd auf alle Andersseinwollenden. Solch neunmalkluge Sensibelchen – und nichts anderes waren Tommi und Freunde in deren Augen – verspotteten sie verbal als »Störche im Salat«, »Spargeltarzane«, »Strichmännchen in der Landschaft« oder »lebensunfähige Klappergestelle, bei denen man den Wind durch die Rippen pfeifen hören könne«. Physisch fuhren sie reale Angriffe. Auf die Fresse war Alltag. Wer sich also gegen ein als normal geltendes Daherkommen entschieden hatte, lebte in Dauerangst vor Übergriffen. Auf dem Fußballplatz. Im Jugendzentrum. Auf den Schul- und Dorffesten. In der Disco. Die Straßen fühlten sich bedrohlich an, und die Bedrohenden machten das nicht nur aus Sadismus, sondern aus der Überzeugung, für die notwendige Einhaltung von unverzichtbaren Regeln Sorge zu tragen. Und das, obwohl einige von denen sich selbst als outlaws bezeichneten. Einer der Reptilbandenanführer hat sogar mal auf der Promenade zwischen Bimmelsdorf und Scharbe mit einer Pistole auf Tommi geschossen. Westdeutschland war rau bis in die 80er Jahre. Der Norden besonders. Kräftige Unterarme aus offenen OpelAutofenstern. »Scheissss Punkaaaaa!!« Dieser geschriene Schlachtruf hallte als langgezogener Zeitlupen-Ton wie in einem David-Lynch-Film über die Kreis- und Bundesstraßen, wenn ein bunthaariger Strolch es wagte, sich offen am Straßenrand zu zeigen. Bedrohliche Mahnung im vor80 beiziehenden Fahrtwind, so klang es, wenn sie in ihren höhergelegten Karren vorbeirasten. Schläger und Autos in Schleswig-Holstein. Später, in der Großstadt, war das kaum anders. Noch gar nicht so lange her, da zogen raue Jugendbanden durch das heute chic-alternative HamburgOttensen, wo es dieser Tage so unerschwinglich teuer geworden ist. Viele kleine Straßenhauer wurden zu gefürchteten Prügelberühmtheiten. Einige wenige gab es auch innerhalb von Tommis Szene. Grenzgänger waren das, die sich nicht für eine Seite entscheiden konnten. Hauptsache kämpfen. Sie konnten Konzerte mit 1000 Leuten auseinandernehmen. Natürlich wurde auch untereinander gerungen. Einfach überall. Manchmal hat das Spaß gebracht. Blutüberströmt, aber glücklich, konnten Veranstaltungen enden, auf denen das Pogotanzen sich in berauschendes Adrenalin überschlug. Das meiste aber waren dicke Eier in dummen Hosen. Ungezählte Storys aus waberndem Respekt und sabberndem Heroismus über besonders krasse Ereignisse flüsterten sich durch die Szene aus der Stadt und über das Land. In der für Bimmelsdorf zuständigen Kreisstadt hatte jemand im Kochlöffel-Grillimbiss den über zwei Meter langen Hartplastiklöffel von der Außentür gerissen und damit auf gleich vier Polizisten eingeschlagen. Demselben Typen haben sie später ein Auge ausgestochen. In Hamburg-Barmbek wurde Andi Z., der junge Studentenhasser und Brillenzerschlager, von einem Kioskbesitzer erschossen. Später wurde seine Geschichte als einer der ersten Print-Reality-Gassenhauer, direkt nach dem berühmten Christiane F.-Bestseller, zuerst von einer großen Illustrier81 ten und später sogar vom Deutschen Schauspielhaus aufgegriffen. Die Epizentren der Derbheit aber lagen und liegen auf dem Lande. Das wissen alle. Klein- und Mittelstädte, die waren (und sind) wirklich »Made from Germany«. Einen Buntgefärbten haben sie in Kiel am Fahnenmast vor Karstadt aufgehängt. Einen anderen mit dem Kopf in eine Fritteuse gedrückt. Wer gut rennen konnte, konnte eine Menge. Tommi und Doktor Onkel, die eine Zeitlang eine gemeinsame Band betrieben, erfanden einen Song für diese Art von Stimmungen, hervorgerufen durch alles, was eine andere Art hatte. Heute hat sich die Lage in dem Ort verändert, die im Liedtext beschrieben wird. Aber er würde ganz gut zu einer anderen Landeshauptstadt passen. »Die Menschen aus Kiel« (*4) Sie warten in kleinen Kästen Ernähren sich von Resten Die abfallen Von der Industrie Sie tragen keine Namen Dafür Bilder auf ihren Armen Verwechseln Kann man sie so nie Die Menschen aus Kiel. Aus Kiel Frauen und Männer Start und Ziel 1 Schritt für die Menschheit Sind 10 für Kiel Sie sind hier geboren Und sie sind hier geblieben Sie fahren Nicht weit weg Die Menschen aus Kiel. Aus Kiel Frag niemals – warum wir hier so sind Du verlierst dabei – ein Stück von deinem Gesicht, mein Kind 83 Herr from Germany, Sie sind eine Flasche Manchmal denkt Tommi darüber nach, ob sich der Blick auf seine Ideale verändert hat. Und wenn ja, wie es dazu gekommen ist. Was hat sich von den Dingen, für die er gebrannt hat, für die er noch immer brennt, eingelöst? Und was nicht? Er versucht herauszufinden, wie die einst wichtigen Begriffe heute für ihn klingen. Was ist zum Beispiel geworden aus: »Nie wieder Krieg«? Tommi wurde Pazifist. Nix Waffen. Nix Bundeswehr. Auch, weil er den Donnerhall der Weltkriege noch spürbar erlebte. Den leibhaftigen Schrecken. Die Rollstuhlgroßväter. Die Einarmigen. Die Kehlkopfmikrofone. Die Dellen im Schädel. Ein Land voller Witwen und Omas ohne Opas. Viele der jungen Männer aus Tommis Generation nutzten den militärfreien Westberlin-Status, um nicht dienen 85 zu müssen. Das gelang mit dem schriftlichen Nachweis, dass der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse in der Mauerstadt bestritten wurde. Am besten war man für irgendwas an der Uni eingeschrieben. Kitty stellte einmal die schöne Frage, wie wohl Westberlin heute aussehen würde ohne die damalige Möglichkeit der Wehrpflicht-Umgehung. Auf jeden Fall weiblicher. Tommi blieb im Westen. Er wollte den »Dienst an der Waffe« verweigern – und musste zur Gewissensprüfung. »Was tun Sie, wenn der Russe bei Ihnen zu Hause eindringt? Ihrer Schwester mit Vergewaltigung, Ihrer Mutter mit Schlägen droht? Sie kennen das Versteck, in dem Ihr Vater seine Sportschützenpistole aufbewahrt. Wie verhalten Sie sich also?« In unzähligen Ratgebern, leicht erhältlich in linken Zentren und Buchläden, wie der seit 1978 bestehenden Lübecker »Alternative«, die später mit dem Transparent »Deutsche Bank, Deutsches Geld morden mit in aller Welt« für Aufregung sorgte, stand genau beschrieben, was man zu antworten hatte. Und dementsprechend trug Tommi vor, als es so weit war: »Ja, leider werde ich da gar nichts machen können. Ich bin durch und durch gegen jedwede Form von Gewalt. Aus Gewissensgründen. Das Beispiel mit dem Russen ist zwar recht hypothetisch, aber ich weiß ganz sicher, dass ich nicht einmal die Meinen verteidigen könnte. Geschweige denn mich selbst. Und schon gar nicht mit einer Waffe in der Hand.« Tommi hatte sich zusätzlich überlegt, noch etwas Individuelles hinzuzufügen, um nicht zu aufsagend aufzutreten: »Und dann, der Alte, wenn er besoffen ist, er verliert die Beherrschung. Weihnachten ist er in den brennenden Christbaum gefal86 len, so voll war der. Ständig. Mutter hatte schon mehrere Zusammenbrüche. Sobald jemand laut schreit, fange ich das Zittern an.« Dabei flossen ihm sogar Tränen über die Wangen. Vor jenem Gremium, da war sich Tommi ganz sicher, hatte er das einzige Mal in seinem Leben – rein handwerklich gesehen – glaubwürdig geschauspielert. Method Acting at its finest war das, konzentrierte Reinsteigerung in die eigene tiefe Bedauernswürdigkeit. Aber es war nicht nur das beschriebene Trauerspiel, was ihn flennen ließ. Dass er, Tommi from Germany, vor diesem Scheißgremium derart betteln musste, brachte ihn am stärksten zum Jammern. Zeterndes Schicksalsschluchzen. Betroffen und richtig geknickt ging er aus dem kargen Kasernenraum. Die Gewissensprüfer berieten sich. Ewiges Warten im Umkleideraum. Gemeinsam mit anderen. Lange Haare. Dicke Akne. Fette Hornbrillen. Eingeschüchterte, picklige Jünglinge. Manche hatten sich getraut, das kleine Schwarz-Rot-Gold-Fähnchen von den schmalen Schultern ihrer verwaschenen Parkas abzutrennen. Einer hatte es gar offensiv durchgestrichen. Wieder rein ins Prüfungszimmer: Betont ernst blickten die Rechtsprechenden vom Podium herab, das wie surreal verkleinert wirkte vor der enorm imposanten Deutschlandfahne an der Wand des sonst schmuckfreien Raumes. Ein Landwirt. Ein Handwerksmeister. Ein Bundeswehrmann. Tommi fühlte sich wie eine tote, platte Maus, der man das Blut ausgesaugt hatte. Der in der armeefarbenen Profimontur verkündete die Entscheidung: »So, junger Mann. Sie sind hier in dem Sinne durch die Veranstaltung gekommen, dass wir davon 87 ausgehen, dass Sie den Wehrdienst nicht (!) leisten können. Und obwohl Sie eine gute T2, also Tauglichkeitsstufe 2, erreicht haben: Für uns sind Sie zur Gänze nicht (!) zu gebrauchen. Das heißt im Klartext: Sie sind nicht geeignet für eine Ausbildung an der Waffe und müssen dafür nach Artikel 12a, Absatz 2 den Ersatzdienst ableisten.« Beziehungsweise den Zivildienst, wie das damals auch hieß. Tommi durchströmte eine glühende Wallung. Triumph! Die heiße Freude ließ sich nur mühsam verbergen unter den verwischten Jammertränchen. Das Hinauslaufen aus dem riesigen Klinkergebäude empfand er als ein nie zuvor erlebtes Schweben. Ein Flug auf den Schwingen des warmen Beschützervogels. Kurz vor dem Kasernenausgang riss ihn der Landwirt, der eben noch wortkarg im Beirat gesessen hatte, mit einem groben Griff am Arm aus seinen Glücksträumen: »Moment noch, Sportsfreund. Eines wollte ich Ihnen noch mit auf den Weg geben. Sie können hier jetzt froh sein, wie Sie wollen. Sie sind ja aus Ihrer Sicht gut durchgekommen – gegen meine Empfehlung im Übrigen. Jedenfalls, was ich Ihnen noch sagen wollte, junger Mann, in meinen Augen, das können Sie ruhig so verstehen, wie es gemeint ist, in meinen Augen sind Sie eine Flasche.« Überzeugte, unverrückbare Härte. Aus der Tiefe der über Generationen vererbten Strenge. Diese Umbruchszeit, in der man versuchte, über Tommis Vorankommen zu entscheiden, und in der er und viele andere um eigenständige Identitäten rangen – BRD, etwa zwischen 1970 und 1985 –, lag noch im festen Griff besonders unnachgiebig Schneidiger. Denn auch wenn sich die 68er-Fäden aus den Jahren der Auflehnung gegen die autoritären Krusten in 88 Friedensbewegung oder Ökoprotesten, offenem Feminismus oder etwaigen Bildungsreformen ausgebreitet hatten, bestimmten steinalte Köpfe und Körper weiter das gefühlte Gesamtgeschehen. Fest nach vorne blickend aus steifen Krawattenkragen und hartfaserigen Anzügen, gaben sie sich weiter unbeirrt. Und zu jenem Zeitpunkt noch gut im Saft stehend. Keiner von ihnen hatte jemals eine Träne vergossen für irgendetwas. Aus Prinzip nicht. Ihre Uhren trugen sie, um anderen damit die Zeit anzusagen. In ihrer Welt konnte es jederzeit notwendig sein, sich augenblicklich verteidigen zu müssen. Gegen den Russen? Gut möglich. Gegen den aufkommenden Schlendrian? Auf jeden Fall. Jene Phase hatte Fronten. Und auch wenn die mit der Waffe in der Hand geführten Kämpfe einiger weniger, die sich blöderweise auch noch als Avantgarde empfanden, als falsch zu bewerten sind: Wer verstehen will, warum Menschen eine dumpfe Knarre als ernstgemeinte Option unter Bekennerbriefe platzierten, wer nachempfinden will, warum es die Bereitschaft gab, sein eigenes Leben in einem nicht zu gewinnenden Kampf zu verpfänden, wer begreifen will, warum sich manch einer zum mörderischen Widerstand berechtigt fühlte, zum aussichtslosen Aufbau einer eigenen, martialischen Maschine gegen die andere martialische Maschine, die Maschine des Systems, der müsste ein Glas aufmachen können mit dem feindlichen Geruch dieser Zeit, zusammengestunken aus den klammen Regelwerken der Vorherrschenden. »Hier ruht einer, der seine Sache ordentlich gemacht hat«, wünschte sich der beliebteste Bundeskanzler der Deutschen (mit eigener 89 Wehrmachtsakte), der damals das Sagen hatte. Für seinen Grabstein. Heute sind solche als sehr ernst wahrgenommenen Angriffe gegen die Staatsmacht nicht mehr so leicht denkbar. Der Feind riecht neutral bis multi-stinkend, und sein Duft hat viel zu viele Schichten, als dass man ihm leicht etwas Großteiliges entgegenhusten könnte. Wo sich die verletzten Kinder trafen Die Väter von damals bekamen reichlich Auftritte. Tommis Stiefvater Uns Manni fand die besten Bühnen im Einzugsbereich seines Autohauses. Zusammen mit Stammesgleichen. Peter Kuchenmeister. Karsten Rund. Herbert Riegel. Manchmal zog noch Onkel Ernst mit. Die meisten: selbständiger Mittelstand. Viele: Schützenverein. Fast alle: Vatertag. Wirklich jeder: Stammkneipe. Zur Scheune. Zur Kupferkanne. Zum grünen Zweig, den sie nur »Zum morschen Ast« nannten. Showtime! Tresengeheule. Lokales. Suff. Unzufriedenheit. Ressentiment. Beschwerde. 91 Schelte. Androhung. Aufwiegelei. Kriegsgesang. »Oh Kaffeebraun sind alle Frauen in Kingstown«, trällerte Uns Manni mit seinen Kumpanen. Oder: »Hier ist die Luft so trocken, aber einen Schnaps wird man ja wohl noch bekommen.« Aber auch: »Atomkraft? Nein danke! Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose.« Und: »Das faule Gesocks kannst du gern mal in meinen Betrieb schicken. Wirst schon sehen, wer am Ende vor dem Schleifbock brav sein Haarnetz trägt.« Sowie: »Die Beamten und die Zeitungen lügen, sobald sie den Mund aufmachen.« Die schlimmsten Meinungsbekundungen und Befehlstöne – so empfand das Tommi jedenfalls – waren jene, die sich hinter dem Schleier des autoritären Humors versteckten. Andere demütigen und niedermachen mit angeblichem Witz. Und dieser Sound schwappte in die Wohnzimmer. Artgerecht. Traditionelle, neuralgische Punkte und Austragungsorte für besonders unwirsche Spottattacken waren Familienfeierlichkeiten, auf denen es durch den Brandbeschleuniger Kräuterschnaps besonders unangenehm zugehen konnte: »Am Ende werdet ihr Ahnungslosen schon noch sehen, was der Russe vorhat. Vom Itzig gar nicht zu reden.« Eben. Manchmal zog auch noch Onkel Ernst mit. Gegen Parasiten und Bolschewiken ins Feld ziehen. Tommi war nah dran und fühlte sich ganz weit weg. Es gibt keine sichere Haut. Es gibt keine sicheren Orte. Es gibt keine sichere Existenz. 92 Es gibt keine sichere Liebe, keine Toleranz, kein Vertrauen. Keinen Halt. »Sie können Ihren Sohn Horsti von der Wache abholen. Er hat einen Strandkorb angezündet.« »Sie können Ihren Sohn Horsti von der Wache abholen. Er hat einen Stromkasten angezündet.« »Sie können Ihren Sohn Horsti von der Wache abholen. Er hat den Maibaum angezündet.« Sie können Ihren Sohn Horsti abholen. Es wird niemals eine Ruhe geben von Bestand. Dafür sind die Verletzungen einfach zu groß, stecken zu tief drin. In Tommis und in vielen Köpfen. Auch in denen der Generationen davor. Nur dachten diese, sie müssten stillhalten, in den frei ausgedachten Benotungssystemen. Bei jenen, die immer nur das Beste für sie wollen. Die Nachfahren der Väter aus den Morschen Ästen jener Zeit bekommen vergleichbare Podien auch heute noch. Sie sind längst nicht totgekriegt. Heute zieht eben Onkel Ernst Junior mit. Gegen alles Andersartige. Vorurteilsbeladener denn eh und je. In Tommis Bimmelsdorfer Schule brachte Deutschlehrer Schmidke seinen Schülern bei, wie man Platz nimmt, ohne die Bügelfalte der Hose zu beschädigen. Bei Widersetzung flog sein Schlüsselbund gegen den Zögling. Um zu überprüfen, ob ungehorsame Schüler, die des Platzes verwiesen worden waren, auch wirklich hinter der Tür stehenblieben und über ihr Fehlverhalten nachdachten, mussten ausscherende Zöglinge die Türklinke des Klassenzimmers von außen herunterdrücken. Neben der Tafel hing ein Pappschiffchen, an dem die Namen der Schüler als kleine 93 Kärtchen an der Reling festgeklammert waren. Wer auffiel, wanderte, vertreten durch sein Namenskärtchen, den Mast hoch. Im schlimmsten Fall bis in den Mastkorb, wo es dann für alle anderen Kinder gut sichtbar schmorte, als symbolische Mahnung und Strafe. Außerdem betrieb NaziSchmidke einen Schönschreibklub nach Schulschluss. Anschreien war sein Tonfall. Andere Lehrer waren kaum gemütlicher. Ein Kollege von Schmidke verordnete im Sportunterricht Geräteturnen. Für ein ganzes Schulhalbjahr. Weil ihm die nötige Disziplin abging in seiner Klasse, Jahrgang 1975. Fünf Jahre später wollte Franz Josef Strauß Kanzler werden. Tommi und die anderen warfen die Plakate mit seinem von Wut unterlaufenen Gesicht darauf in die Ostsee. Damals hieß es, der Bimmelsdorfer Strand hätte die zweithöchste CDU -Wählerschaft in ganz Schleswig-Holstein. Direkt nach einer Nordseeinsel, die an der dänischen Grenze liegt. Elektrorasenmäher / Benzinrasenmäher Schule / Ausbildung / Arbeit Lehrer / Lehrherren / Leeren An der Wand einer WG -Wohnung stand ein Slogan über einer Matratze mit aufgezogenem Frotteespannbettlaken: »Jeder ist allein. Jeder.« 94 WeiSSe Rosen in eigener Kotze Alle wollten nur noch abhauen. Weit weg sein. Selbst die Verteidiger der Monokulturen. Hin zu den »weißen Rosen aus Athen«, nach »Mendocino« oder zu einem »Puppenspieler von Mexiko«. Die Lieder jedenfalls waren voll von Fernweh und eskapistischen Motiven. »Ich träume oft davon, ein Segelboot zu klau’n und einfach abzuhauen«, sang der, den sie heute in Berliner Busanreise-Musicals feiern. Selbst die Einverstandenen, die Ottos und die Normalverbrauchenden träumten in ihren exotischen, sich in die Ferne schwelgenden Schlagersongs von nichts anderem als dem Woanderssein. Tommi, sein Cousin Sid Hansa und all die anderen fuhren los. Mit dem Interrail-Ticket. Europa. Strände und Straßen. Das Tollste waren die geheimnisvollen, damals noch undurchleuchteten Urbanitäten. Amsterdam, London, Bilbao, Athen. 95 Unterschiedliche Modelle. Radikale Symbole. Lebensformenexperimente. Versteckte Exklaven. Individualität. Aufgespürte Solidaritäten. Die Szenen, die Leute, waren verschieden. Die Wände voll mit Botschaften. Überall: »Fight War, Not Wars.« Dahoam: »Buback, Ponto, Schleyer – der nächste ist ein Bayer.« Und: »Richtet mit und ohne Finger, stets den Strahl auf Axel Springer.« Revolution?!?! Drastische Symbole. Knüppelharte Parolensongs. Sich schämen für Deutschland. Wegen der Vergangenheit. Wegen der kleinlich großen Werte. Das fühlte sich damals konstant so an, wie wenn Dr. Schäuble heute über andere Länder spricht. Alle, die so empfanden, erkannte man außerhalb ihrer Grenze an dem peinlich berührten, nach unten gerichteten Teutonenblick. Manchmal halfen ironische Bürger-Alkohollieder: immer neue Wörter finden, in denen das Wort Bier vorkommt zum Beispiel. Zwanghaft. Absurde Klamotten vs. Anti-Uniformen. Scheußliche Kunstversuche. Grenzüberschreitende, sich epidemieartig ausbreitende zusammengeschweißte Fahrradrahmenskulpturen vor und in alternativen Zentren. Und dann auch Rock ’n’ Roll. Männchen spuckten Testosteron gegen sich und andere Männchen. Tommi testete Regeln, jahrelang. In Beklemmungsüberwindung. Im Rausch. In Übertreibung und in nachfolgender Scham. Allein und mit anderen flatternden Testern wurde auf möglichst roten Linien balanciert: Die-eigene-Kotze-trinken-Wettspiele / Truck-Surfensich-an-LKWs-festhalten-bis-zum-Abfallen / Über-Staatengrenzzäune-klettern / Geklaute-billige-Autos-gegen96 teure-Autos-fahren / Wehrsportgruppe-zum-Wehrsportzwingen / Feuerlöscher-in-Hotels-auch-ohne-Brände / Fernseher-aus-Fenstern / Campen-auf-der-Kotti-Ver kehrsinsel / Nachtschwimmen-in-BRD -Berliner-Stadtkanälen / Nacktschwimmen-im-DDR-Berliner-Hauptstadtbrunnen / Volkspolizisten-Belehrung / Wochensaufen ohne-Sonne / Kanalisationswandern / DavidswachenKuhhandel / Bühnen-brechen-in-Tokio / Fake-auftretenin-Beirut / USW /. Deutschlehrer Nazi-Schmidke auf Kurzbesuch in OstpreuSSen Nach jedem besonderen Erlebnis verblassen die daraus gewonnenen Einsichten nach und nach. In vielerlei Hinsicht kommt es Tommi so vor, dass trotzdem mindestens ein nützlicher Gedanke hängenbleibt – manchmal. Wie nach einer guten Psychotherapie. Anwendbares für wiederkehrenden Taumel. Tommi hat sich im Großen und Ganzen mittlerweile die ein oder andere hilfreiche Krücke für taumelnde Phasen raufgeschafft. Und obwohl er in seinem Dasein weiter viel auf der Stelle tritt, scheint er seinem Ziel, der Großen Gelassenheit, näherzukommen. Dabei schafft weiteres Ausprobieren für ihn die beste Art von Vorwärtskommen, weil es sich so immer woanders landen lässt. An Orten, da wo sie nicht sind. Tommi nimmt sich vor, funktionierende Strategien zu wiederholen. Zum Beispiel testet er immer wieder aus, wie weit man etwas 99 behaupten kann, obwohl es keinerlei Absicherung dafür gibt. Begonnen hat er damit schon in der Schule, als er ausprobierte, in den besonders schwachen Lerngebieten eine Flucht-nach-vorn-Strategie zu fahren. Der schönste Coup gelang Tommi mit Nazi-Schmidke: Hier schaffte er es, dem Deutschlehrer weiszumachen, er arbeite an einem umfangreichen Aufsatz über die »schmerzhafte, gleichzeitig so einzigartige Wandlung des ostpreußischen Königsberg von vor 1945 hin zur russischen Enklave Kaliningrad von heute«. Nazi-Schmidke staunte nicht schlecht. Als Grund für sein plötzliches Geschichtsinteresse nannte Tommi seinen blinden Großvater Fritz, der ihn darum gebeten habe, diese historische Entwicklung nachzuzeichnen. Weil er es in seiner Situation nun mal nicht selbst tun könne. Es handle sich also eher um einen diktierten Text, so Tommi, das müsse man wissen. Aber durchaus original zu Papier gebracht von ihm höchstselbst. Laut seiner Aussage gelangen ihm diese Aufzeichnungen in einer Weise, dass gleich zwei! Lübecker Verlage an dem noch unfertigen Papier Interesse zeigten. Großvater Fritz habe gute alte Kontakte nutzen können. Nur dürfe man im bereits fortgeschrittenen Stadium nichts mehr mit dem Text riskieren. Dennoch, gesetzt dem Fall, einer der beiden anfragenden Verlage werde tatsächlich zuschlagen, erlaubte sich Tommi nun die Frage, ob er, Adolf Schmidke, als erfahrener Deutschlehrer vor einer finalen Manuskriptabgabe, noch einmal locker drüberschauen könne. Schmidke war nämlich – das war Tommi nicht entgangen – ein glühender Ostgebiete- Verehrer und wollte selbstredend nichts lieber tun als das. 100 Natürlich verstand er aber auch, dass es anfangs leider noch nicht wirklich etwas zu sehen gab. Weil die Verlage sich die Einsicht Dritter bis zu einer endgültigen Einung verbaten, so Tommi. Vor allem, weil noch einige wenige, offene Vertragsmodalitäten ausstanden, wie Tommi direkt aus den Lübecker Verlagshäusern zu berichten wusste. Mit derartigen Meldungen schaffte er es, eine Schwebesituation für ein ganzes Schulhalbjahr herzustellen, während ihn der stark angefixte Deutschlehrer behandelte wie einen Einser-Schüler. Für Tommi war das ein lang anhaltendes Erfolgsgefühl. Als aber nach ungezählten Vertröstungen der Schwindel nicht mehr aufrechtzuerhalten war, Schmidke immer drängender nachhakte und Tommi irgendwann nur noch weiterflunkern konnte, Opa Fritz habe plötzlich kalte Füße bekommen, deshalb sei das Projekt zwar vorübergehend auf Eis gelegt, aber keinesfalls als beendet erklärt worden, war Schmidke ziemlich schnell wieder ganz der gute alte Nazi-Schmidke. Nur noch schlimmer als zuvor. Eines war damit wieder bewiesen: Die Welt lässt sich behandeln. Mit Versprechungen zum Beispiel. Denn in Versprechungen steckt die Annahme, dass es sich lohnen könnte zu investieren, auch wenn das Ersehnte selten garantiert werden kann, völlig egal, ob in der Liebe, im Krieg, in der Kunst oder was die eigene Freiheit betrifft: Versprechungen scheinen universelle Hoffnung auf die Befreiung von der eigenen Starre und Enge zu sein. Sie müssen nur schlau aufgestellt werden. 101 Titanic oder Cap Arcona / Simulation Ein weiteres kräftiges Aufeinandertreffen mit NaziSchmidke erlebte Tommi, als der rückwärts gesinnte Deutschlehrer gemeinsam mit der ideologisch verwandten Kunstlehrerin Fräulein Greif – geheimer Schulhof-Spitzname »Sie beGreift’s einfach nicht« – eine Theateraufführung anordnete. Das Thema der für die ganze Schule als Pflichtbesuch angesetzten Veranstaltung, die wie jedes Jahr in der sogenannten Projektwoche stattfand, war der weite Begriff der Schuld. Das war insofern delikat, als Lehrer Schmidke in seinem Unterricht nicht müde wurde, die Dolchstoßlegende anzubringen, in der behauptet wird, dass die Sozis die militärische Niederlage des Ersten Weltkrieges durch Rückgratlosigkeit herbeigeführt und – das war nicht nur Schmidkes Meinung – dabei die Interessen der deutschen Nation verraten hätten. Auch an anderer Stelle versuchte Schmidke, Geschichte 103 zu klittern. So verleugnete er besonders vehement die Verantwortung der Wehrmacht in einem der schrecklichsten Vorkommnisse, das zum Ende des Zweiten Weltkrieges in unmittelbarer Nähe stattgefunden hatte. Nur wenige Kilometer vor der Küste von Bimmelsdorfer Strand, Needorf, Scharbe, Haffke und den anderen benachbarten Orten waren am 3. Mai 1945 der ehemalige Luxusdampfer Cap Arcona und zwei kleinere Schiffe gesunken, nachdem sie von englischen Kampfbombern beschossen worden waren. Es ertranken über 7000 Menschen, die das NaziRegime auf solche Todesschiffen verfrachten ließ, damit die Alliierten sie nach Kriegsende nicht in den Konzentrationslagern finden würden. Die Nazis hatten die Schiffe absichtlich nicht mit weißen Flaggen gekennzeichnet, und so wurden sie von den Engländern für feindliche Truppen oder Kriegsmaterialtransporter gehalten und beschossen. Vier Angriffswellen benötigten die britischen Jagdbomber, um das Schiff tödlich zu treffen. Als ein »altes Gemälde der Hölle« beschrieb ein Augenzeuge später das Szenario. Es gab kaum Überlebende bei dieser als zweitgrößtes Schiffsunglück der Weltgeschichte eingestuften Katastrophe. Wer nicht – wie fast alle – in der 7 Grad kalten See ertrank, wurde spätestens am Strand erschossen oder erschlagen. Frauen, Kinder, Menschen aus 24 Nationen. Es gab nur etwa 300 Überlebende. Deutschlehrer Schmidke schimpfte vornehmlich auf die feigen Tommys, wie er den britischen Kriegsgegner gern verspottete, wenn er die Geschichte im Unterricht erzählte. Unter Auslassung aller weiteren Fakten betonte er immer wieder, dass sie es doch gewesen waren, die die Schiffe versenkt hatten, »und nicht wir«. 104 Am Tag der Theateraufführung, Schüler- und Lehrerschaft waren ausnahmslos in der Aula versammelt, sah man ein angedeutetes Schiffswrack auf der kleinen Bühne. Das schien erst mal nicht weiter verwunderlich für eine Theateraufführung in einer Lehranstalt in Seenähe. In den Tagen zuvor war darüber gemunkelt worden, dass es eine Art Titanic-Adaption geben sollte. Eine Klassenkameradin von Tommi hatte fälschlicherweise durchblicken lassen, das Stück werde sich mit der Thematik einer fortschreitenden Kommerzialisierung der christlichen Seefahrt am Beispiel des Titanic-Untergangs beschäftigen, weil dieses schöne Exempel angeblich das Ende der Romantik der Weltmeere markiere. Die vielen weißen Stofffetzen, mit denen das Schiffswrack auf der Bühne geschmückt war, irritierten zwar etwas, man hätte sie aber für winkende Taschentücher auf einem Kreuzfahrtschiff bei der Ausfahrt aus dem Hafen halten können. Als endlich alle Anwesenden zur Ruhe gekommen waren, setzte klassische Musik ein. Es wurde kurz dunkel, dann erleuchte ein Lichtspot den Bug des steil abfallenden Schiffsrumpfes. Cap Arcona stand dort geschrieben, in knallroten Lettern, wie mit Blut hingeschmiert. Als Nächstes huschten gespenstische, graue Schattenfiguren durch den Raum, umkreisten den markierten Ozeanriesen und blieben schließlich stramm neben ihm stehen. Erst jetzt konnte man erkennen, dass die düsteren Gestalten in alte Wehrmachtsmäntel gehüllt waren. Sie begannen damit, die vorher eingesammelten weißen Tücher in kleine Schnipsel zu reißen, um sie dann wie lustiges Konfetti höhnisch auflachend ins Publikum zu streuen. Das Licht 105 ging nun ganz aus, und man hörte nur noch ihr fieses Gegackere zur eingespielten Orchestermusik. Dann ein Moment der Totenstille, bis ganz plötzlich, bei weiter anhaltender Dunkelheit, gellende Schreckensschreie zu hören waren, von denen man nicht wusste, ob sie nun von den Wehrmachtsmitgliedern stammten oder sonst woher kamen. Dieses fürchterliche Geheul war gleichzeitig bereits der Schluss der bis dahin nicht mehr als 10 Minuten dauernden Aufführung. Als das schrecklich laute Geräusch einfach nicht aufhörte, machte sich langsam unter den Zuschauern Unruhe breit. Die Situation blieb richtig lange ungeklärt. Später erzählte Tommi immer wieder gern, er habe trotz der Dunkelheit das perplexe Gesicht von NaziSchmidke gut erkennen können, das sich erst lockerte, als er, wie aus einem Alptraum aufgeweckt, schlagartig zu sich kam, nachdem zunächst Fräulein »Sie beGreift’s einfach nicht« Greif, schließlich der resolute Herr Timme – ein politisch ebenfalls fragwürdiger Mensch und Rektor der Schule – ihn regelrecht anschrien, er solle endlich irgendetwas tun! »Irgendetwas tun!«, dieser Ausspruch schwebte wie ein feindlicher, akustischer Speer in der abrupten Stille über den Köpfen der Anwesenden, nachdem schließlich doch jemand die stilisierten Schreie der Cap-Arcona-Katastrophe durch einen beherzten Griff zum Stromsicherungskasten hatte verstummen lassen. Die aufgepeppte Version des Ausrufes lautete später »Ich tu dir gleich irgendetwas!« und wurde schnell zum Spottruf-Klassiker auf dem Schulhof. Einige Male tauchten auch kleine Zettel mit diesem Satz auf, und schließlich verarbeitete eine Scharbener 106 Band, in der auch Tommis Kumpels Ha Em Schleier als Gitarrist und Nerve R. als Querflötenspieler mitmischten, das denkwürdige Schultheater-Ereignis in ihrem Gassenhauer »Einer macht was«. »Einer macht was« (*5) Wenn alle längst haben aufgegeben Die da scheißen auf Vaterland und Leben Steht ein Mann wie eine Garde Lehrer Schmidke macht sich grade Gegen die ganzen faulen Schweine Kämpft er ganz alleine Wenn keiner sonst mehr kann Tritt Schmidke auf den Plan Ref: Schmidke macht was Wer hält sein Versprechen Schmidke packt das Er wird uns alle rächen In Zeiten von Versagern Schwätzern, Sich-Beklagern Braucht es kein Gelaber Kein Wenn und auch kein Aber 107 Ref: Schmidke macht was Wer hält sein Versprechen Schmidke packt das Er wird uns alle rächen Sprechteil: An die letzten aufrechten Bürger. Wenn das so weitergeht mit den Lügen, den unwahren Geschichten über das, was wir mal hatten, dann … Wenn Gammler und Parasiten, Ungewaschene und Banditen immer noch mehr und mehr werden, dann … Dann … Ja, dann! Dann machen wir unsere Augen auf! Dann lassen wir uns nicht mehr verarschen! Dann …. Dann ist Zapfenstreich! Dann … Ja, dann! Dann werden wir ganz sicher etwas machen!!! Bevor es … Bevor es zu spät ist … Zu spät ist! Ref: Schmidke macht was Wer hält sein Versprechen Schmidke packt das Er wird uns alle rächen Schmidke macht Irgendwas Wer hält sein Versprechen Schmidke lass das! Wir werden dich zerbrechen! Im Sprechteil des einfachen Liedes parodierte der Sänger von »Killerwahl«, so der Name der Scharbener Band, bei jedem Auftritt das Feindbild Deutschlehrer Schmidke im Stile einer Goebbels-Rede. Zusätzlich marschierte er im Stechschritt auf und ab und riss dabei seine Beine weit 108 hoch, als befände er sich auf einem Exerzierplatz. Damals erzeugten »Killerwahl« eine ordentliche Aufmerksamkeit in der lokalen Szene. Gegründet hatte sich die Band nach einer Kommunalwahl, bei der die konservativen Parteien im Landkreis auf ein Rekordergebnis gekommen waren. Leider hat sie nur ein kurzes Demotape in einer 100er Auflage hervorgebracht, das ziemlich behäbig klang, weil es von einem nicht nur ländlichen, sondern auch noch amtlichen Rockstudio-Betreiber aufgenommen worden war, von denen es in jenen Tagen eine ganze Menge gab. Lustiger als das Hörbare auf dem als »Wahl Halla« betitelten Demotape war seine Aufmachung: Zusätzlich zur in einen Plastikbeutel eingeschweißten C 30-Kassette gab es ein kleines Fanzine mit dem damals von vielen als besonders witzig empfundenen Titel Die Spitze des Scheißberges. Darin hatte die Band Porträt-Fotos von Lokalpolitikern mit den Körpern von heimischen Fischarten kollagiert. Dieser Humor erschöpfte sich dann aber recht schnell. Das Beste an der Band war wirklich Nerve R., der bei den Konzerten von »Killerwahl« sehr selbstsicher mit seinem Instrument auf der Bühne herumrannte. Hysterisch und wild pickend, wie eine Art Huhn-Mann. Er konnte die Querflöte gar nicht spielen, allein, weil er viel zu nervös war. In seiner Kurzatmigkeit schaffte er kein Quäntchen Luftdruck auf das feine Blasinstrument auszuüben. Trotzdem spielte er nach Kräften mit. Jener damalige Fake-Querflötenakteur, Bürger-Ersatzname Nerve R., ist heute ein original Kunstprofessor und ein sehr bekannter Kunstmaler, dessen Verdienst es ist, in seinem Schaffen dem Fehler und der Blamage auch 109 weiterhin echte Chancen einzuräumen. Er traut sich, Gekonntes auszuklammern, um sich in unbekannte Gefilde treiben zu lassen. Das kühne, falsche Mitmachen bei »Killerwahl« gilt für Tommi dabei bis heute als sein stärkstes Kunststück. Gleichwohl war diese Art von Simulation eine von vielen wirklich angesagten Pseudomethoden jener Tage. Auch die heute zu Massenaufläufen taugende Band »Die abgelebten Beinkleider«, zu der Tommi seit Jugendtagen eine zutiefst seriöse Freundschaft unterhält, führte anfangs einen als Schattenspieler bezeichneten Schummelinstrumentalisten in ihrer Formation. Nichtige Orte, richtige Leute Mit Nerve R. verband Tommi die Suche nach dem Ausbruch aus den Vorgärten. Aus einem besonders engen Vorgarten kam nämlich auch er. Nur hatte Nerve R. sich schon viel früher als Tommi Mechanismen zugelegt, die Rasenmäher im Nacken loszuwerden: Er schaffte es, sich vielseitig auszudrücken. Wahrscheinlich weil er nicht nur mit jener direkten Aufmüpfigkeit vorging, wie Tommi es tat. Nerve R. war als Künstler auf die Welt gekommen. Schon im Teenageralter konnte er seine Malereien ziemlich gut verkaufen, ohne sich groß darum zu bemühen. An Landärzte zum Beispiel. Für ordentliches Geld, das er dann in guten Kuchen steckte. Manchmal tauschte er seine Bilder auch gegen eine Kiste Schnapsflaschen. Er trank dann sehr viel davon. Eine Nacht. Ein Bild. Eine Flasche Wodka. Irgendwann hatte er keine Lust mehr. Für Jahre ließ er das Malen sein. Dafür war er der Erste, der aus der Land111 szene in die Stadt ging. Und sicher war auch Nerve R. ein wichtiger und beispielhafter Impuls dafür, warum auch er, Tommi from Germany, schnellstmöglich in City-Zusammenhänge gehen musste. Allerdings hatte niemand mitbekommen, dass Tommi nicht ausschließlich in die Stadt zog, um sich in den urbanen Weiten gut verbreitern zu können. Für den finalen Wechsel gab es noch einen anderen Grund: Tommi hatte eine Wette verloren. Das kam leider öfter vor. Er liebte es zu zocken. Dabei glaubte er, ein besonders glückliches Spielhändchen sein Eigen nennen zu können. Immer wieder gab er damit an, so gut wie noch nie auch nur irgendetwas verloren zu haben. Das dachte er tatsächlich. Wenn es allerdings eine schriftliche Aufzeichnung zu Tommis Gewinner- und Verliererbiographie gäbe, dann würde sehr deutlich werden, dass er ganz und gar kein talentierter Wettteilnehmer war. Egal, der Thrill des Spielens war wie eine Droge für ihn, und seine Siegesgier schien grenzenlos. Ob beim Fußballspielen im Verein oder schon in Kindertagen beim Elfer-Raus-Spielen mit seiner Oma: Tommi war stets hochengagiert dabei. Was er nicht konnte, war verlieren. Dieser Charakterzug blieb zum Glück meist ohne Auswirkungen, sympathisch war er indes nicht. Ungünstiger wurde es erst, als Tommi mit dem frühen Cyber für Jedermann, dem Vorläufer des Internets, in Berührung kam. Es war die Zeit, als die ersten Chats stattfanden. Über Doktor Onkel lernte Tommi Leute kennen, die sich professionell in New Media umtaten. In den späten 80ern war das. Die Berührungen gingen mit simplen Games und ersten Sequenzer-Musikprogrammen einher, 112 die das Musikproduzieren neu definieren sollten. Tommi besaß einen Atari. Das Modem bekam er von jenen NewMedia-Bekannten, die auserwählte Leute auf ihrem futuristischen Weg mitnahmen. Wahrscheinlich wollten sie nur ihr Geschäftsmodell testen. So wurden Doktor Onkel und Tommi from Germany (in seinem Schlepptau) in ihrer Umgebung die Ersten, die über das Telefonieren hinaus mit anderen in technischer Verbindung standen. Heftiges Chatten war tägliches Brot in dieser InsiderSzene. Die Textinhalte waren reichlich banal – anfangs. Hauptsache irgendetwas vorgeben. Oder irgendetwas antworten. Je nachdem. Und weil noch niemand genau wusste, wofür das Ganze eigentlich gut war – also einfach so von zu Hause aus elektronisch zu kommunizieren –, gab es auch kaum Nützliches, was da durch die langsamen Leitungen hin und her formuliert wurde. Tommi verbreitete tatsächlich Kochrezepte, obwohl er keine Ahnung davon hatte. Außer von der besonders simplen Küche: altes Brot in Ei einlegen und dann in Butter braten, zum Beispiel. Armer Ritter hieß das Gericht. So weit war alles gemütlich und blieb lange eher lahm. Nur eines brachte dabei echte Spannung: nach Hause zu kommen, und es war schon was da. Ein angefangener Chat nämlich. Den konnte man liegen lassen oder sofort beantworten. Manchmal kam lange nichts zurück. Viel besser war das In-realtime-Schreiben: … »Hey! TOFRO GERMANY speaking! Anyone out there?« … »Alright. Sure man! Cool chat name! TOFRO GERMANY ! Yes I’m on! SUPER MONKEY MAN is writing you! How you doing?« … »Cool! SUPER MONKEY MAN! 113 Yes! I’m just on the scene since one minute! Have you ever heard of Poor Knight, my friend?« … »Alright! TOFRO GERMANY ! I’m out now! Need a couple of beers, man!« … »Hi, Hi, Hi! Cheers! Take care MONKEY !« Das Schreiben selbst der dünnsten Sätze dauerte sehr lange. Die meisten Chatter hatten bis dato noch nie Maschine geschrieben. Aber alle blieben fleißig dran, egal wie schwächlich die Konversation ausfiel. Trotzdem: Wenn nicht irgendwann das Digi-Begging, das digitale Wetten, dazugekommen wäre, wären wahrscheinlich viele schnell wieder eingeschlafen. So aber geriet Tommi in eine Gruppe – alles inländische Chat User –, die ständig was zu wetten hatte. Oberste Regel war es, bei einer eventuellen Niederlage auch wirklich zu liefern. Egal, wie gaga der Einsatz war. Allerlei, meist technischer Kram, wurde gewonnen oder verloren. Es gab aber auch Tickets für Konzerte oder Ausrüstungen zum Windsurfen. Einer hat mal einen Schutzdienst wegen Stress mit Nazis gewonnen. Tommis schrägste Gewinne waren: der Vortrag einer total netten Frau aus Bremen, die gegen ihn einen Adorno für Dummies-Crashkurs verloren hatte und dann am Telefon vier Stunden lang sehr verständlich alles zu Adorno referierte, was sie darüber studiert hatte. Dann war da der Wetteinsatz eines Bekannten aus seiner Nachbarschaft, der sich auf die nervige Aufgabe einließ, das Holzboot von Tommis Stiefvater im Winterlager abzuschleifen – ein grausiger Frondienst. Dennoch waren die meisten Wetteinsätze Langweiligkeiten wie das Verschicken einer seltenen Undergroundsingle. Einmal war aber auch eine ganz witzige Situationsaufgabe dabei, nämlich als Tommi ein sogenann114 tes Schmähgedicht über eine unliebsame, den ganzen Betrieb aufhaltende Mitarbeiterin mit Namen Britta Müller schreiben musste, der man geistig eins damit auswischen wollte. Er musste das Gedicht eigens verfassen und es Frau Müller dann anonym per Post zukommen lassen: »Für Britta« (*6) Manchmal schläft man Manchmal lebt man Wer sich drehen kann Fängt was Neues an – Nur Britta macht weiter wie bisher Sein bedeutendster Wettverlust war aber eindeutig die eingangs schon erwähnte Verliererwette mit dem nicht aufschiebbaren Versprechen, innerhalb von drei Monaten und für Minimum ein Jahr den Wohnsitz um mindestens hundert Kilometer zu verlegen. Anfangs empfand Tommi die Aufgabe als heftigen Druck, er kam in schwere Zweifel und geriet gar in ernste Versuchung, sich einfach zu weigern, gegen alle Regeln der jungen Chattergemeinschaft. Am Ende siegte die Ehre. Tommi rief seinen Freund und späteren Bandkollegen Cat the Cat an und fragte, ob er ein paar Nächte bei ihm poofen könne. Und daraus wurde dann, neben allen anderen guten Gründen, vom Land in die Stadt zu ziehen: Tommi from Germany / Stadtbewohner / Forever. Anfangs lief das holprig. Immerhin, so sah er auch Kitty 115 und Nerve R. wieder öfter, die beide schon lange vorher weggezogen waren. Nach Hamburg. Nerve R., der schon ein ganzes Jahr in der Hansestadt wohnte, hatte dort erst mal recht wenig auf die Reihe bekommen. Beziehungsweise alles und nichts. Er selbst nannte sich in jenen Tagen einen umverteilenden Kommunisten, wahlweise einen gerechten Dieb. Zu teure Bücher, zu teures Fleisch oder zu teure Fahrräder zählten zu seinem Beuteschema. Meistens sah er souverän dabei aus. Nerve R. hatte zu dieser Zeit bereits ein ganz anderes Umfeld, als Tommi das bis dahin kannte. Über ihn lernte er eines Tages die Musikerin Mali kennen. Sie nannte sich so, weil ihre Familie damals aus einem Land flüchten musste, das ein afrikanisches hätte sein können. »Ein kaputtes Land, wie fast jedes, das eure Scheiß-Kolonialherrschaftsknechte angefasst haben«, belehrte sie Tommi, als Nerve R. sie ihm vorstellte. Mali war sehr politisch. Und eine wunderbare Sängerin. Unter anderem. Sie war es, die Tommi endgültig mitnehmen sollte. Bildlich gesprochen. Durch sie änderte sich seine Lebensrichtung in eine grenzenlosere. Bis hin zur Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse. Richtig verstanden hat er diesen wichtigen Einfluss erst viel später, als die beiden sich kaum noch sahen. Bis dahin hatte es aber einige – für Tommi sehr eindrückliche – Zusammenkünfte mit Mali gegeben. Eine davon brannte sich in Tommis Erinnerung als irgendetwas zwischen Drogentrip, Liebesgestrüpp und schlimmer Psychostreitigkeit: Mali besuchte leidenschaftlich gern Konzerte. Unheimlich cool konnte sie sich zur Musik bewegen. Tommi begleitete sie, sooft es passte. 116 Nach einem der vielen langen Abende, die sie gemeinsam in Clubs verbrachten, begleitete Tommi Mali in ihre kleine Wohnung. Zum ersten Mal. In dieser Nacht hat sie ihm unendlich viel Musik vorgespielt. Tausend Bilder und Bücher gezeigt und ebenso viele Geschichten erzählt. Bezaubernde. Schockierende. Kämpferische. Alles ineinander übergehend. So etwas hatte Tommi noch nicht erlebt. Das Wunderbare war die Mischung: Mali konnte trockenen Speed Metal oder konfusen Free Jazz auflegen und mit düsteren, folkloristischen Fabeln aus ihrer Heimat zusammenbringen. Sie zeigte Tommi artifizielle, nordamerikanische Kunstcomichefte und verband sie mit Schwärmereien über kitschige Rockkonzerte. Gleich danach erzählte sie ihm von einer geheimnisvollen Katze, die weißhäutige Kinder entführte, um sie für immer in die Wüste zu verschleppen. Aus ihrem Munde klang das ganz selbstverständlich. Alles war voller Bedeutung. Tommi wusste bald nicht mehr genau, ob der Speed Metal für Freiheit stehen sollte und die weißhäutigen Kinder möglicherweise eine von Mali verehrte, politische Richtung symbolisierten. Klar war aber, dass sich aus all ihren Bildern, Musikstücken und Büchern, deren Zusammenstellung ihm zunächst einfach nur chaotisch vorgekommen war, eine große, zusammenhängende Haltung entspann. Mali hatte die Fähigkeit, Dinge wie aus einem riesigen Werkzeugkasten zu entnehmen, endlos aufgefüllt mit künstlerischen Zeichen, um dann mit all diesen Zutaten fließend zu sprechen. Irgendwann an diesem Abend haben sie Drogen genommen. Von diesem Moment an verschmolz der Free Jazz endgültig mit der Kinderentführerkatze, die Comicfiguren 117 verloren sich in der Wüste. Und alles nahm Gestalt an, wurde real erlebbar. Und dabei wunderschön. Tommi flog in einen Himmel aus unbekannten Farben: wie ein entflammtes Kind auf den Schwingen des LopLop-Vogels des Malers Max Ernst und dabei noch höher als bei seinem ersten Weinbrandrausch am Bimmelsdorfer Strand. Bis Mali erschrak. Und schrie. Und ganz dunkel wurde. Niemals zuvor hatte Tommi einen Menschen so sehr in Angst erlebt. Fast konnte man danach greifen, wovor Mali sich fürchtete. Es waren Viecher im Raum. Verfolgung und Folter. Zerrissenheit. Ein materialisierter Horror. Das Trauma der Flucht ihrer Familie hatte sie ergriffen. Nachdem sie eine endlose Zeit konstant schreiend in einer Ecke ihres Zimmers gekauert hatte und es unmöglich gewesen war, sich ihr zu nähern, rannte sie urplötzlich aus ihrer Wohnung und verschwand im Trubel des Viertels. Was dann folgte, konnte Tommi nur schlecht wiedergeben: weil sich in seiner Erinnerung alles überlagerte. Jedenfalls war er Mali lange hinterhergelaufen, ohne sie einholen zu können. Warum das so war, wusste er nicht. Sicher war nur, dass er im eigenen Bett aufwachte: seine linke Hand blutig, seine Klamotten sehr dreckig. In seiner Erinnerung hatte Mali viele Leute getroffen, die alle phantastisch aussahen. Und es hatte Ärger mit ihnen gegeben. Tommi hatte sich geschlagen, aber vielleicht stimmte das auch gar nicht, und vielleicht war Mali auch gar nicht dabei gewesen. Er war tief verstört nach dieser Nacht, traute sich aber nicht, Mali zu fragen, was genau passiert war. Als er sie das nächste Mal traf, sprach sie kein Wort über das Geschehnis. 118 Vergessen hat Tommi dieses sonderbare Ereignis nie. Mehr noch – es trieb ihn nachhaltig an und um. Die besondere Haltung im Umgang mit inhaltlichen und musischen Mitteln, die er an diesem Abend in Malis kleiner Wohnung erlebt hatte, war fortan Maßstab für alles, was er selbst erzeugen wollte. In Zukunft würde er sich immer daran halten, wenn er sich auszudrücken versuchte, das nahm er sich fest vor. Gelegenheiten dazu gab es mehr und mehr, seit er in die Stadt gezogen war. Er, Tommi from Germany, Ex-Horsti aus Bimmelsdorf, wurde einer der wenigen, der wie Kitty against Kitty, Doktor Onkel, Cat the Cat, Ha Em Schleier oder Nerve R. seine ländliche Umgebung zurückgelassen hatte, um zum urbanen »Vollzeitfrickler« zu werden. Der Frickel-Begriff stammte von Doktor Onkel – der sich in speziellen Situationen auch Onkel Doktor nannte – und sollte wohl eine Untertreibung sein für all das Zeugs, das er mit zunehmender Sichtbarkeit in die Öffentlichkeit warf. Tommi tat es ihm gleich: Nachdem auch er mit der City-Action begonnen hatte, wie Doktor Onkel die Eroberung der Stadt in seiner ganz eigenen Ausdrucksweise zu nennen pflegte, gründete er, meist mit Gleichgesinnten: mehrere Bands. Eine Experimentierstube mit Plattenspielern und Rednerpult. Künstlerische Gruppen. Aktivistische Gruppen. Sinnvolle und sinnfreie Gruppen. Und vieles mehr. Er wurde Bühnenschreihals, Ton-, Text- und Darstellungsprobierer. Sein wichtigstes Streben galt dabei weiter der Überprüfung von Gesetzmäßigkeiten aller Art. Bei Bedarf probierte er dazu immer neue Täuschungsmanöver. 119 Tommi from Germany, der einmal Horsti aus Bimmelsdorf gewesen war, hat sich über die Jahre noch viele andere Namen zugelegt. Von einigen könnte man gehört haben. Pfiffiges oder nicht so Schlaues. Das Erlebnis mit Mali hat ihm einen ordentlichen Schubs gegeben, um gut in Fahrt zu geraten. Dazu kamen dann viele weitere Begegnungen, durch die er immer versierter frickelte: in flüchtigen Zeiten an nichtigen Orten mit richtigen Leuten. Drogeninitiative Das als Frickeln bezeichnete Schaffen war wohl der Versuch, nicht zu geordnet, nicht zu festgelegt daherzukommen. Alle künstlerischen Versuche sollten sich deshalb immer unhandwerklich anfühlen, weil das richtige Können – zumindest in Tommis Erfahrung – oft im autoritären Gewand in Erscheinung trat. So vermieden die Frickler, egal ob sie virtuos oder gänzlich stümperhaft waren, das Erreichen von betitelter Profession. Viele bezeichneten sich ganz freiwillig als »Dilettanten«, einige kombinierten diese selbstgewählte Abwertung mit dem spöttischen Zusatz »genial« und schrieben das Wort Dilettantismus auch noch absichtlich falsch. Niemand musste mehr ausgebildeter Musiker, Schriftsteller, Maler oder Regisseur werden, konnte aber trotzdem all das nach Laune ausüben. Viele von ihnen starteten in einer Band. Das waren freie Treffen mit Getränken. Und meist simpelsten Instrumen121 ten. Wer gar nichts spielen konnte oder keine Dinge zum Draufschlagen mitbrachte, wurde Sänger. Für Unzufriedene waren die frühen Musikgruppen der Neuen Welle, in denen man sich herrlich frei und kritisch und manchmal auch extra bescheuert äußern konnte, eine wunderbare Möglichkeit. So wurden mit trockenem Protest oder in gewagter Überhöhung die ungeliebten Umstände angegangen. Tommi wurde Sänger. Einer von vielen, die Laut geben wollten. Egal womit. Loshacken mit Gitarren, Schlagzeugen, Stimmen oder was sonst rumlag in den Jugendzentren und Probebunkern. Und genau so, wie es sich mit dem intuitiven Nachbrüllen des Anarchy-Schreies verhalten hatte, genau so war es auch bei den ersten eigenen Versuchen: Sie wurden Protestsänger und Protestmusikanten, ohne es sich vorzunehmen. Tommis erste Band hieß »Die Zinksoldaten«. Der Name sollte darauf hinweisen, dass ein jeder Militarist nur im Zinksarg enden konnte. Die Texte thematisierten umfassend, was einengte. Selbst Drogen wurden ein Thema. Das war allerdings sehr widersprüchlich, denn obwohl die Zinksoldaten in dieser Hinsicht bereits alles Mögliche in lustiger Experimentierlaune konsumiert hatten, machten sie auch hier die Verhältnisse verantwortlich. In diesem Fall verwiesen sie auf die Notwendigkeit, sich betäuben zu müssen, bei all den nicht aushaltbaren Schrecken des Alltags. Einer der Texte hieß demnach »Drogeninitiative«. 122 »Drogeninitiative«(*7) Ich bin ein Haufen Schutt Dieser Staat macht mich kaputt Ob ich in die Schule gehe Oder einen Joint mir drehe Refrain: Hier kommt die Perspektive Und sie heißt Drogeninitiative Dro – ho – ho – gen fassen Sich ni – hi – hicht anpassen Aufgeputscht durch die harte musikalische Gangart seiner Mitstreiter von den Zinksoldaten, wurde die krumme Dichtung des Songs »Drogeninitiative« ein kleiner Szenehit. Die ersten Konzerte waren große Ereignisse für alle. Leider war es nicht so leicht, Räume zu finden, in denen man mit einer derartigen Band öffentlich spielen konnte. Deshalb gaben sich die Zinksoldaten als etwas anderes aus. So trug es sich zu, dass Tommi sein Bühnendebüt in der getarnten Gruppe »Die Windtomaten« erlebte – was immerhin so ähnlich klang wie »Die Zinksoldaten«. Sie traten mit der Behauptung auf, eine Country- und Western-Formation zu sein. Der Abend wurde ein Desaster. Das aufgeheizte Publikum ließ alles Mögliche mitgehen, und der Veranstalter erhielt eine Anzeige. Und obwohl »Die Zinksoldaten« (aka: »Die Windtomaten«) sowieso nur sieben Stücke spielen konnten, war bereits nach einer 123 Viertelstunde Schluss. Der Strom wurde abgedreht, und die Polizei marschierte auf. Nach und nach fanden sich passendere Locations. »Die Strukturen dafür waren allerdings bereits erkämpft, das darf nicht geleugnet werden«, bemerkte Kitty viel später einmal zu Tommi, »denn obwohl ihr immer gelästert habt über Hippies, Ökos oder Peace-Brüder, waren eure ersten Auftritte in den linken Buchläden, autonomen Jugendzentren und den Volksküchen der besetzten Häuser ihren harten Vorkämpfen zu verdanken.« »Die Zinksoldaten« überlebten nicht lange: Es gab Streit wegen der künstlerischen Ausrichtung. Trotzdem lernte Tommi bei ihren wenigen Konzerten ganz viele Leute kennen. Einen komprimierten Haufen Gleichgesinnter, der sich in den ersten Jahren der Neuen Welle immer wieder über den Weg laufen sollte. So fand Tommi auch zu den Mitgliedern seiner zweiten und bis heute bestehenden Band. Viele seiner Freundschaften, die immer noch Bestand haben, ergaben sich aus solchen Ereignissen. Aus diesen wenigen Jahren des letzten Auftrittes einer deutlich irritierenden Jugendkultur. Nicht alle von denen, die diese Welle lostraten, verfolgen heute weiterhin dieselben Ziele wie damals, aber vielen Verbindungen lässt sich zumindest emotional noch trauen. Tommi findet, dass das wirklich stimmt, mit der Liebe, die hält, wenn sie einmal groß gewesen ist. 124 Ein halbstarker Jungfuchs macht den Unterschied Bei allem freien Gemache: Es wurden richtige Aufnahmestudios, richtige Backstage-Räume und richtige Theaterhäuser, in denen Tommi sich in den vielen Jahren des fortlaufenden Frickelns aufhalten sollte. Musik war und ist hierbei Tommis Mittelpunkt – insbesondere das Modell der Band. Ein Verbund aus Mitgliedern, die außerhalb der Gruppe trotzdem frei sind in ihrem bunten Parallelwerkeln, von offener Kunst bis Stadtbühne, von Szenejobs aller Art wie Kneipenaktivitäten bis zum Herausbringen von Musik. Seine eigene Gruppe konnte alles sein. Und kann es immer noch. Sprachrohr mit gewolltem Einmischen und expressiver Stilexperimentiererei. Optisch wie musikalisch. »Wild fremd« ist das spirituelle Gebot. Die Texte waren von Anfang an gesellschaftsuntersuchend. Auch wenn sie 125 nicht immer explizit so aussahen. Sie konnten vordergründig freudige Saufexzesse preisen und gleichzeitig den spießbürgerlichen Stammtischdumpfsinn karikieren. Das gelang nicht immer sauber. Manchmal wurde die Täuschung nicht erkannt, und der Spott über ein Schützenfest fühlte sich am Ende so an wie dasselbe – nur noch viel schauriger. Sehr zuwider waren ihnen von Beginn an die gängigen Sprungbretter: Ab einer bestimmten Größe gaben die meisten Kollegen aus der Szene den Versuchungen nach. Große Plattenfirma, kleine (oder große) Karriere. Besonders öde fanden sie die heroischen Durchhalte-Modelle à la »Fünf Finger sind eine Faust«-Männergruppen, die sich dann regelmäßig zerstritten. Nach der zweiten Platte. Oder während der zweiten Tournee. Wegen Geld. Wegen Positionsgerangel bei der internen Ranghöhe. Nicht mal wegen Drogen. Auch nicht wegen Frauen, wie sie es gern erzählten. Der Weg von Tommis Band war immer von Abgrenzungen geprägt. Alle wussten, dass man das bemüht finden konnte. Trotzdem blieben sie bei der Auffassung, dass das Musikbusiness mit seinen Scheininteressen kunstfeindlich angelegt ist. Dann lieber den nächsten schwer nachvollziehbaren Move ins Gewagte testen, Refrains probieren, die sich nicht überall mitsingen lassen. Egal, ob zu radikal oder zu peinlich. Vielleicht ist ihr in Jugendtagen gestartetes Unterfangen auch gerade deshalb nie eingepennt, in all den Jahren. Manche sagen, sie würden sich immer wieder neu erfinden. Tommi nennt das, sich immer weiter altbewährt nicht langweilen. 126 Ihre Konzerte zeigen sich aufgeladen wie am ersten Tag. Besondere Zusammenkünfte sind das. Wenn die sechs Mitglieder aufeinandertreffen, dann passiert – manchmal – ein kleines Wunder. Trotz Hunderter Auftritte kann sich die erfahrene Bande, wenn es gut läuft, in einen Haufen flackernder Truthähne verwandeln. Sie werden zu Biestern, die sich noch nie zuvor begegnet sind und die erst kurz vor Konzertbeginn in einen zu kleinen Stall gepfercht worden sind. Wenn es dann losgeht, scheint jemand zusätzlich noch einen halbstarken Jungfuchs in die Runde geworfen zu haben. Als Brandbeschleuniger. Dieser für andere unsichtbare Federviehräuber macht den Unterschied, steht er doch ab seiner Landung im Gehege als Garant für das Drehmoment des freien Spiels. Was wird passieren? Ein zuverlässig eintretender, durchaus gewünschter Sichnicht-zu-sehr-auskennen-Effekt erweist sich als wertvoller Verdienst des aufscheuchenden Räubers: »Fuchs muss tun, was ein Fuchs tun muss.« Tommi liebt das und findet das logisch. Er kann nicht verstehen, wie andere Musikanten über Jahrzehnte dieselben Songs zu denselben Abläufen zeigen. Wie es zum Beispiel möglich ist, dass ein starralter Rollender (Rock-)Stein sein Lied »Straßenkampfmann« mittlerweile in riesigen Stadien immer genauso sauber wie auf CD wiederholt. Und obendrein davon auszugehen scheint, dass die geschärften Windungsschnörkel seines gelederten Körpers ihn für immer ungezähmt aussehen lassen. Wenn dann noch, nur wenige Meter weiter, der ebenfalls zu gefrorenem Fels erstarrte Gitarrist seinen Job solide repetiert und die anderen beteiligten Personen stets verlässlich und 127 amtlich gleichziehen, dann tendieren die Chancen auf irgendeine klitzekleine Überraschung für die anstehenden zweieinhalb Bühnenstunden plus vier Zugabeblöcke gen null. Uff. Mit den Inhalten verhält es sich ähnlich. Das soll nicht bedeuten, dass sich bei den eigenen Versuchen alles immer wieder total neu erschaffen lässt. Wer aber die heutige, widersprüchliche Welt zeigen will, so sagte es Tommis Bandkollege Cat the Cat ein wenig sich selbst streichelnd in einem Interview für ein Musikmagazin, der müsse aushalten, sich ab und an ein wenig den Kopf am Boden zu stoßen, um nicht ständig und an der immer selben Stelle gemütlich den Fuß mitzuwippen. Musik kann alles In Hamburg gab es diesen riesigen Supermarkt in einer ehemaligen Rindermarkthalle, hinter einem noch riesigeren Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Heute sind dort verschiedene kleinere Supermärkte und andere Wareneinkaufsmöglichkeiten versammelt. Und weil der Ort an die alte, raue Historie mit den seinerzeit frisch geschlachteten Tieren erinnern soll, heißt das ganze Konglomerat heute wieder ganz offiziell Rindermarkthalle. Tommi ging gern in den Riesensupermarkt, zusammen mit Doktor Onkel. In der Technikabteilung gab es unendlich viele Tapedecks. An jedem einzelnen Gerät probierten die beiden nacheinander aus, wie schnell und mit welchem Geräusch die Kassettenladeklappen der Tapedecks aufsprangen. Sie fanden, dass die langsamsten die besten waren: Wie Blätter in Windstille bewegten sie sich, super relaxed. Bald hatten Tommi und Doktor Onkel total 129 die Ahnung von Kassettenladeklappenklängen und den dazugehörigen Öffnungsgeschwindigkeiten. Als Nächstes begannen sie, möglichst viele HiFi-Anlagen bei maximaler Lautstärke gleichzeitig anzustellen. Um dann unauffällig wegzugehen. Aus größerer Entfernung verband sich der Krach der Musikanlagen gemeinsam mit den anderen Supermarktgeräuschen zu einer besonderen Sinfoniecollage. Niemals wird Tommi diesen intensiven Sound aus der Warenhalle vergessen: eine sich schwirrend auftürmende Kakofonie. Immer wieder bezieht er sich in seinem musikalischen Behaupten auf die klanglichen Experimente bei »Walmart« und »Continental«, wie die Supermärkte damals nacheinander hießen. Hochgradig inspirierende Orte waren das. An selber Stelle haben Tommi und Doktor Onkel dann auch das Prinzip der »Freiwilligen Werbung« erfunden. Hierbei mussten ganz viele Fanta-Dosen eingekauft und dann vor dem Markt marginal billiger wiederverkauft werden. Bei 35 Pfennig die Dose im Einkauf wurde sie für 33 Pfennig wieder abgegeben. Zusätzlich zur Kampagne erfanden die beiden Jungwerber auch noch das lustige »Fantamännchen« mit eigens komponiertem Reklamesong. Darin thematisierten sie als Projektband »Kampagne Fairmarkt« zunächst diverse Gefahren für die Umwelt, um dann zu verkünden, dass das Fantamännchen es schon wieder richten würde. Wenn nur alle immer ordentlich viel Fanta trinken würden. 130 »Fanta, die Umworld ist okay« (*8) Erst, wenn der letzte Kuh überfahren ist Erst, wenn die letzte Baum gestorben ist Weißt du, dass man Geld nicht essen kann Fanta, Fanta, FantaMensch, wach endlich auf Fanta, Fanta, FantaDie Umworld ist okay Eigentlich ein Hit. Zumal Tommi und Doktor Onkel mit einer professionellen Sängerin arbeiteten. Extra nur für diese eine Aufnahme. Wahrscheinlich war aber die unterlegte, eigens mit einem Vierspurkassenrekorder aufgenommene Reggaemusik schlicht zu white geraten. Dennoch wird Tommi diesen besonderen Fanta-Sound nie vergessen. Noch heute fühlt es sich wie ein südliches Lachen an, wenn er die alte Aufnahme mal hervorkramt. Lange Zeit hatte Tommi mit Doktor Onkel eine musikalische Beziehung, die häufig auf ironischen Grenzgraden balancierte. So betrieben sie etwa eine Gruppe, die sich »Die Schnapsknallies« nannte und mit der sie hofften, andere verdiente Mundartleute wie die beliebte Gruppe »Torfrock« angreifen zu können. Es sollte sich um ein reines Geschäftsmodell handeln. Die Songs dafür flogen ihnen mit großer Leichtigkeit zu. So entstand zum Beispiel eine inhaltlich sehr unpolitische »Wind of Change«-Fortsetzung. Anders als bei der berühmten Version der »Skorpione« aus Hannover mit ihrer eingängigen Pfeifballade 131 hüpfte ihr Playback als zackiger Rockabilly-Rhythmus unter einem stark modernisierten Text. Den Gesangspart übernahmen sie gemeinsam: »Gorbi«(*9) Mach mir ’nen Knutschfleck auf die Glatzi Weil ich so gern wie Gorbi wär Dann wird aus deinem kleinen Schatzi Ein Generalsekretär Des Weiteren entstand ein solider Handwerkersong, lyrisch ausgetragen auf den Akkorden eines der bekannten »Buena Vista Social Club«-Hits: »Nachmessen«(*10) Lieber noch mal nachmessen Alles noch mal hochrechnen Voll auf Nummer Sicher gehen Und dann doch nicht durchziehen So oder ähnlich lauteten viele Zeilen der »Schnapsknallies«. Die Strophen waren teils noch dürftiger als die Refrain-Beispiele bei dem »Gorbi«- oder dem »Nachmessen«-Song. Trotzdem wurde eine ganze Platte vorbereitet. Anscheinend bestand bei den beiden Schnapsknallies eine kräftige Sehnsucht nach derart überlustigen Texten. Zum 132 Glück kam es dann aber nicht zur Veröffentlichung. Trotz guter Angebote aus der Musikindustrie. Musik kann alles. Magisch mitnehmen. Klingeln, klopfen, klagen. Wie Schmetterlinge schlagen. Fein flirren, scharf klirren. Vielsternig oder engstirnig. Sie kann alle Sinne gleichzeitig losreißen und freie Küsse verteilen. Und auch weh tun, zündeln, sich genieren. Sie kann Dinge verbinden und etwas gänzlich anderes als das ursprünglich Angedachte hervorbringen. Immer wieder aufs Neue hat Tommi das erfahren. Und gestaunt. Das letzte große Erlebnis dieser Art hatte er mit einer Musik, die von manchen als schwierig empfunden wird. Und zwar hörte Tommi ein Streichquartett von Anton Webern. Mit Kopfhörern, am Strand. Dabei war zuerst nur die Musik, nur das Hören. Dann aber, nach und nach, entwickelten sich die Strandbesucher und ihr Treiben erst zu einer eher komischen, unpassenden Choreografie, am Ende zu einem hochartifiziellen, scheinbar mit der Musik zusammengehörenden Zustand. Alles verwob sich mehr und mehr zu einer immer klarer werdenden, riesigen Installation. Nach einer halben Stunde des Zuhörens und Zuschauens war Tommi so aufgeregt, dass er es nicht mehr aushalten konnte. Erst jetzt merkte er, dass er längst aufgestanden war und damit begonnen hatte, durch ein imaginäres Filmset zu spazieren, das sich gerade im Aufnahmemodus befand. Alle Mitspieler schienen konzentriert zu performen. Und obwohl es ihn mit Glück durchströmte, musste er sich die Kopfhörer herunterreißen. Das war die berührendste Aufführung, die er je erlebt hatte! Weil sie nicht drückte. Weil niemand versuchte, etwas vorzumachen, 133 es keinerlei Schummeln gab. Seitdem basieren seine Musikinstallationen auf diesem Konzept der normalen Zustände. Musik und Text sind dabei der gehörte Inhalt, die der Zuschauer in unterschiedlichen, verzerrten, pseudorealen Umgebungen erlebt, die er frei durchlaufen kann. Wie ein unsichtbarer Zeuge, der zum Glück nicht mitspielen muss, in einem vertrauten, aber künstlichen Parcours mit konträrem Klang. Musik kann alles! Eine sauber arrangierte, beeindruckend instrumentierte, gekonnt präsentierte Meisterkomposition ist imstande, unendlich langweilig und schwer ärgerlich zu sein. Extra schief, läppisch und wie zufällig hingeworfene Midinoten-Mucke mit inhaltslosen Wortsilben unterlegt, aber dafür mit freier Haltung, kann eine ganze Welt beschreiben. Bei allen Ausdrucksformen in der Kunst scheint die Musik am tiefsten erzählen zu können. Daran lässt sich wirklich glauben, davon ist Tommi überzeugt. Doktor Onkel teilt diese Meinung. Nur doziert er für Tommis Geschmack ein bisschen zu überzogen darüber, weil er immer gleich schwer pathetisch aufladen muss (zum Beispiel, wenn er vom Faktor Voodoo in der Musik schwelgt). Dieser Faktor berühre wie eine nicht zu unterdrückende Magie jeden und jede, selbst wenn er oder sie nur noch eine einzige, funktionierende Zelle in Kopf oder Körper habe, übertreibt der Doktor gern. Er wird ziemlich wütend, wenn er sich über die allerletzten Formatradiosklaven mit ihren bauschaumverspachtelten Ohren aufregt, weil sie gesanglich wie zerquetschte Seifenspender ausphrasieren – zum Beispiel in der kunstfeindlichen »Stimme von Deutschland«-Casting-Show. Dennoch kann man 134 es den Casting-Stars wohl nicht verübeln, so Doktor Onkel, wenn sie glauben, durch die Musik für sich ganz allein allergrößte Emotionen in ihrem tiefsten Inneren entdeckt zu haben, und in ihrem ansonsten überschaubaren Dasein nie wieder etwas anderes machen wollen als nur Musik und Scheiße noch mal Musik. »Die Sirenen können uns alle überall hinlocken«, so brachte er es beschwörend auf den Punkt. Richtig überzeugen konnten Tommi solche Herleitungen nicht. Trotzdem versuchte er immer, sie zu verstehen. Allerdings empfand er eine SMS von Kitty against Kitty mal wieder als wesentlich stärker: Sie wollte ihm Glück wünschen zur Premiere seiner Musiktheaterinstallation Das könnte ihnen so passen, die sich auf eine Kunstbewegung aus den Sechzigern bezog: +++ Sieh dich vor Tommi! Zwei aufeinanderfolgende Töne können einen Hit schaffen im Kopf eines Zuhörers. Das ist bei John Cage so und bei Lenny Kravitz nicht anders. Nur ist einer der beiden ein Betrüger … Toi, toi, toi für die Premiere! Deine K. a. K. +++. 135 Die Schule der falschen Wunder »Was soll eigentlich euer unentwegtes Anti?« Kitty fragte bewusst ein wenig polemisch. Sie fand, dass Tommis Band manchmal ein wenig bemüht wirkte auf ihrem dauerkritischen Weg. Erst wollte er gar nicht weiter auf ihre Frage eingehen. Doch dann entschied er sich für das eine, ungeheuer lehrreiche Beispiel vom ersten größeren Festivalauftritt seiner Gruppe, bei dem er und seine Mitstreiter sich besonders unwohl gefühlt hatten. Noch am selben Abend hatten sie sich geschworen, nie wieder bei so etwas mitzumachen. Man hatte sie damals für einen Auftritt auf einem angeblich besonders alternativen Festival engagiert, das seine Gründung bei einem ländlichen, legendären Hippiehappening erlebt haben soll. Nun warb es mit dem sympathisch Reklame-ungeeigneten Bandwurmslogan »20 Jahre REGENBOGEN A M FLUSS -Festival / Der 137 etwas andere KULT-EVENT auf den Rheinwiesen«. Die damals recht große Agentur, zu der Tommis Gruppe frisch gewechselt war – weil sie mal etwas mehr Profihaftes ausprobieren wollte –, hatte ins Tourneebüchlein geschrieben, dass bei diesem Festival schon seit Menschengedenken eine garantiert cool-anarchische Stimmung herrsche und die Band deshalb besonders geil dort hinpasse. Und so machten sich Tommi und seine Mitstreiter keine weiteren Gedanken darüber, wo sie landen würden, auch weil direkt nach ihnen das damals als schwer korrekt geltende Politpunkkollektiv und ausgewiesen gemischtgeschlechtliche Musik-Performanceprojekt »Yes! Wonder!« aus Irland auftreten sollte. Als Tommi »Yes! Wonder!« erwähnte, wusste Kitty natürlich, wen Tommi meinte, und sie erinnerte sich noch gut daran, dass dieser Bandname sich auf ein in Szenekreisen als glorreich empfundenes Manöver bezog. »Irgendwo in Mittelamerika war das, stimmt’s?« – »Genau«, fuhr Tommi fort. Bei der Geschichte ging es um eine kleine, linke Guerillabande, die sich gegen eine massive Übermacht von Soldaten aus einer für die Region typischen Militärdiktatur zur Wehr gesetzt hatte. Damals sollen die schwerbewaffneten Regierungstruppen – und genau darauf bezog sich das »Yes! Wonder!« in ihrem Bandnamen – mit einem wundersamen Trick in die Flucht geschlagen worden sein. Dafür hatten die furchtlosen und militärisch deutlich unterlegenen Rebellen ein mobiles, mehrteiliges Soundsystem gebaut, das sie auf alten Erntetraktoren installiert hatten. Das konnte man im Vorwort der Band-Biografie von »Yes! Wonder!« gut nachlesen. Glaubte man der Berichterstattung – und 138 alle wollten der Berichterstattung unbedingt glauben –, muss es sich um gigantische Lautsprecherboxen gehandelt haben. Als sich nun die Unrechtsregime-Soldaten näherten, wurden die fahrbaren Riesenresonanzmaschinen eine nach der anderen in Bewegung gesetzt – alles gut getarnt durch das Dickicht des mittelamerikanischen Tropenwaldes und noch zusätzlich mit abgeschlagenen Palmenwedeln bestückt. Dabei soll es »extraordinary noisy« zugegangen sein, schrieben »Yes! Wonder!«. Das ganz Besondere an dieser Krachattacke müssen die durch die Giga-Lautsprecher abgesetzten Klänge selbst gewesen sein. Und zwar hatten die Rebellen einen findigen Akustiker in ihren Reihen, der in akribischer Auswahl nur die furchterregendsten Schreie von um Weibchen kämpfenden Wasserbüffelbullen aufgenommen hatte. Geschickt zusammengemischt und besonders hoch komprimiert, klangen sie extraordinär lärmig und nicht zum Aushalten – »not possible to listen to«. Während ihrer akustischen Attacke hatten sich die gewitzten Widerständler nicht nur Schallschutzkopfhörer aufgesetzt, sondern sich zusätzlich psychisch durch den Verzehr vieler Kokablätter bestens präpariert, damit die gewagte List, das Wunder, mit kühlem Blute durchgezogen werden konnte. Ob des schauderhaften Büffelgebrülls kehrten die zuvor scheinbar übermächtigen Staatstruppen mit blutenden Ohren stante pede um, ohne zu einem einzigen jener heldenhaften Aufständischen vorgedrungen zu sein. Die Geschichte vom ruhmreichen mittelamerikanischen Kriegswunder war glücklich auf die Welt geflutscht und schon sehr bald und sehr gern weitererzählt worden. An passende Ohren. 139 Tommi hatte diese Rebellen-Story damals sehr beeindruckt. Er stand schon immer auf derartige Herleitungen und hatte auch seiner eigenen Band vorgeschlagen, sich einen Namen zuzulegen, der mit einer ähnlichen Historie verknüpft war. Nur fiel sein Vorschlag, sich in »TanganjikaSee« umzubenennen, grandios durch, weil Tommi wieder mal superschlecht recherchiert hatte. Die Geschichte über den ältesten afrikanischen See ist nämlich am Ende längst nicht so ruhmreich ausgegangen wie die von »Yes! Wonder!« verwendeten Legende. Tatsächlich trug sich an besagtem Binnengewässer ein wahres Abenteuer des Ernesto Che Guevara zu. Leider aber auch eines, das gründlich in die Hose ging. Denn Che, seine tapferen kubanischen Guerilleros und seine afrikanischen Kampfgefährten hatten ganz schmählich vor dem Feind gekniffen – als es darauf ankam. Zumindest seien sie nicht zu 100 % bereit gewesen, für die Weltrevolution alles in die Waagschale zu werfen. Dieses kaum bekannte Debakel aus der reichen Geschichte politischer Umsturzversuche, jenen historischen Beleg eines unrühmlichen Scheiterns, hatte ihm damals sein Freund Andy gesteckt, bei dem Tommi immer mal bei wichtigen Anliegen nachgefragt hatte, bevor es so was wie Suchmaschinen gab. Zum Glück konnte er ihn noch rechtzeitig mit seinem Wissen warnen. Andernfalls wäre seine Band für immer mit einem schwer unheroischen Ereignis in Verbindung gebracht worden. Kitty verstand. Und wahrscheinlich waren es solche Unterschiede, die am Ende dafür verantwortlich waren, dass sich Bands wie »Yes! Wonder!« zum Zeitpunkt der Begegnung mit Tommi und seiner Gruppe gerade daran 140 machten, einen richtigen kleinen Welthit zu haben, während seine Band dergleichen nicht erlebte. In den Tagen des Regenbogenfestivals war die Aufregung um »Yes! Wonder!« gerade auf dem Höhepunkt. Sie waren ein weltweites Thema. Mit MTV-Video-Rotation und allem, was sonst noch dazugehörte. Hier schien eine selten gelungene Grätsche stattzufinden: konsequent, politisch, kritisch und dabei so richtig erfolgreich. Es überraschte also nicht, dass Tommi und seine Gruppe sich diesmal besonders ins Zeugs legten, um die irischen Underground-Stars ordentlich zu supporten. Was dann passierte, war eine unerwartete und schmerzhafte, dafür umso lehrreichere Enttäuschung. Zunächst ging alles gut los, der Gig von Tommis Band lief richtig spitze. Als sie jedoch eine Zugabe spielen wollten, weil das Publikum ernsthaft danach verlangte, erschien plötzlich eine elektronische, für die Zuschauer nicht ersichtliche Laufbandschrift auf der Bühne: »Stage time over«, blinkte es ihnen in roter LED -Laufschrift entgegen. Egal, und wenn schon, man ist hier unter Gleichgesinnten. Weiter geht das! Kaum hatten sie ihren nächsten Song ausgespielt und noch während sie auf der Bühne standen, ging urplötzlich eine Pausenmusik an, das Arbeitslicht schaffte grelle Tatsachen, und eine Truppe von Profimenschen, ausgestattet mit schwarzen Overalls, Basecaps, stage mags, leatherman, Stahlkappenarbeitsschuhen und Access-all-Areas-Ausweisen begann in hohem Tempo den Umbau. Während Tommis Gruppe versuchte, ihr während des Auftritts expressiv verteiltes Equipment einzusammeln, sorgten humorlose Roadcrewmitglieder von »Yes! Wonder!« parallel für eine 141 standesgemäße Grundlage des gleich folgenden Hauptacts. Pechschwarze Marshall-Gitarrenverstärkerwände wurden aufgetürmt und mit Industriespanngurten festgezurrt. Potente Nebelmaschinen getestet. Neonbandmarkierungen zur Sicherheitsbegrenzung bei Bühnendunkelheit während der Stroboskop-Einsatzphasen aufgeklebt. Gitarren, Keyboards und Mikrofone, die in stabilen, von StudioEquipment-Firmen gesponserten Flight Cases angeliefert und mit deutlich sichtbaren Fluglinienaufklebern aus aller Welt versehen waren, wurden von kräftigen, den einzelnen Bandmitgliedern jeweils persönlich unterstellten SpezialRoadies durchgecheckt, die gesamte Bühne danach durch Regenbogenfestival-Mitarbeiter mit Schrubbern und Wischtüchern von den Gebrauchsspuren der Vorgängermusikanten bereinigt. Jetzt erst wurde ein schwarzer Vorhang zugezogen, auf dem der wohnhausgroße Schriftzug »Yes! Wonder!« zu lesen war. Unterlegt war dieser von einem gigantischen, stilisierten, schnaubenden Büffelbullen. So konnte der Zuschauer nicht sehen, wie die drei Frauen und drei Männer des Musikkollektivs, ausnahmslos in tiefschwarze Künstlerpersönlichkeitengewänder gehüllt, sich an ihren fabrikneuen Instrumenten formieren konnten. Wieder geöffnet wurde der Vorhang erst, als bei absoluter Dunkelheit ein Einstimmungs-Sound vom Mischpult abgespielt wurde. Dieser klang gruselig verhalten und extra diffus, sollte aber mit großer Wahrscheinlichkeit an den legendären, martialischen Wasserbüffelsound erinnern, der schon den tapferen Rebellen aus Mittelamerika so ausgesprochen gute Dienste erwiesen hatte. Am Ende dieses perfekten Spannungsaufbaus begannen die bis dahin re142 gungslos verharrenden Iren urplötzlich gehörig laut und kongenial flankiert von einem grellen, das Publikum blendenden Lichtschock, ihren gerade durchbrechenden Hit »S! F! B! – System! Fights! Back!«, derart präzise loszubrechen, dass dieser wirklich exakt so gut wirkte wie auf ihrem unlängst bei einer großen Plattenfirma erschienenen, auch digital erhältlichen Tonträger »Yes! Wonder! / Time! To! Wonder!«. Und ebenfalls wirklich exakt genauso gut wie auf dem parallel veröffentlichten Video, das sogar für einen MTV-Music-Award nominiert war und die Band dabei zeigte, wie sie mit schmerzverzerrten Gesichtern auf einer Demonstration mit krassen Straßenschlachtszenen von gepanzerten City-Polizeieinheiten abgeführt wurde. Tommi und die anderen haben sich das Konzert nicht mehr zu Ende anschauen können. Sie haben die Bandmitglieder von »Yes! Wonder!« aber noch kurz am nächsten Morgen im Hotelfrühstücksraum getroffen, als sie mit ihren Managern über die kommenden Promotion-Aktivitäten berieten. Solche Erlebnisse waren eine gute Schule für sie. Handeln lässt sich alles. Gerade Verweigerungsanstrich kann ein gutes Argument sein für einen langjährigen Nutzungsvertrag. Und so entstand die Idee von Tommis Band, bei Auftritten immer möglichst fehl am Platz zu sein. Zum Beispiel durch das Ignorieren von vorherrschenden Coolnesscodes. Deshalb trugen sie Dresses, die eher lächerlich als verwegen anmuteten, spielten einen dünnen, zeternden Sound, der Genres entsprang, die alles andere als den »heftiger, kälter, stärker«-Szenevorgaben entsprachen. Und dann hatten sie mit Nerve R. einen Manager, der es sich 143 zur Aufgabe gemacht hatte, Geld eher zu verlieren als zu vermehren. Das alles waren kräftige Schutzschilder. Was er hier allerdings unter den Tisch kehrte, war die Tatsache, dass es über das verlorengegangene Geld tatsächlich zu einem kleinen Zerwürfnis gekommen war, wie Kitty anmerkte. Das erschien Tommi aber nicht so wichtig. Er zählte lieber weitere Schutzmaßnahmen auf. Zum Beispiel den Umgang der Band mit der Musikpresse. Hierfür hatten sie sich gemeinsam mit Freunden eine Art Rotationsprinzip überlegt, bei dem vor allen Dingen den Fotografen immer andere, immer falsche Bandmitglieder vorgestellt wurden. Einmal ist es ihnen sogar gelungen, den jung gebliebenen Onkel ihres Bassisten vorzuschicken, nachdem ein Magazin ein Porträt ausschließlich mit dem Sänger der Gruppe angefragt hatte. Da der Schwindel wirklich durchging, gab es einen super Bericht, bei dem Onkel Flachland, wie der auf einer Nordseehallig lebende Verwandte genannt wurde, heftig auf Rockstar mimte und trotz schlimmer Übertreibung auf ganzen drei Doppelseiten und mit den grellsten bei einem Country- und Western-Ausstattungsshop ausgeliehenen Klamotten behängt, hochglänzend abgelichtet worden war. Dieser Coup sowie ein Spotttext über die oft sehr unbeweglichen Dogmen in der eigenen Szene, die sie über die bekannten Akkorde eines alten Hits aus den Glanzzeiten großer Hardrockbands gelegt hatten, machten Tommis Band schnell ziemlich bekannt – auch außerhalb der Szene. Nur war ihnen der unerwartete Erfolg selbst am unheimlichsten, und so lehnten sie nicht nur zahlreiche Offerten großer Plattenfirmen ab, sondern galten bald als der Act, 144 der gegen sein eigenes Publikum anspielt. Allein, weil er sich weigerte, auch nur die kleinste Erwartungshaltung zu erfüllen. Mit den Worten »reicht man ihnen ein Bier, halten sie einen für eine Brauerei«, hat Bandkollege Cat the Cat die gewollte Sturheit einmal bezeichnet. Dabei führte solch Sperrigkeit nicht selten zu richtigen Wutanfällen bei den Zuhörern, die der Band absurderweise vorwarfen, kommerziell geworden zu sein. Intern war man sich immerhin einig über die Strategie, und es gab nie Klagen der einzelnen Bandmitglieder über eventuell verpasste Etablierungschancen. Der angeborene Drang, den Aufbau einer ordentlichen Fangemeinde durch permanente Mitmachverweigerung zu verhindern, blieb ständiger Begleiter ihres Werdegangs und lag sicher nicht an dem überausgeprägten Wunsch, auf keinen Fall geliebt werden zu wollen. Es war und ist vielmehr ein beständig empfundener Ekel vor einvernehmlicher Gemütlichkeit. 145 Das Innere des Oktopus Tommi begann, sich intensiv mit Wahrnehmung zu beschäftigen. Ob das daran lag, dass er sich selbst immer weniger aushielt und deshalb wenigstens verstehen wollte, wie andere empfinden, ist schwer zu sagen. Möglicherweise dämmerte ihm zusätzlich, dass seine eigene Außenwirkung keinesfalls mit jener deckungsgleich war, die er jahrelang zu präsentieren glaubte (immer mehr Anzeichen deuteten darauf hin, dass er zuweilen regelrecht unangenehm auf sein Umfeld wirkte). Vielleicht kam sein Ansinnen aber auch als eine Art Reflex innerhalb einer seiner Psychotherapien zustande. Neben dem besseren Fremdverstehen war ein Ziel der Wahrnehmungsbeschäftigung, sich selbst souveräner geben zu können. Damit sein schlecht lenkbares Fühlen nicht so sehr sein Handeln bestimmte. Um das zu erreichen, so glaubte er, müsse er unbedingt mehr über Wahrnehmung im Allgemeinen lernen. Und als ob das 147 nicht kompliziert genug wäre, wollte Tommi als überzeugter Praxismensch versuchen, emphatische Anwandlungen zu kanalisieren, in ihnen gar hin- und herzuwechseln, zu switchen. Er wollte sich mit Haut, Haaren und Synapsen auch in andere Menschen hineinversetzen können. Hobbywissenschaftler Tommi begann den Versuch, die Welt der anderen nicht mit seinen, sondern mit ihren Augen zu sehen und mit ihren Fasern zu spüren. Das jedenfalls war die zentrale Idee des sogenannten großen »Plan E.«, also des großen Empathie-Plans. Ganz langsam tastete Tommi sich vor. Anfangs probierte er, sich nur in die Mimik und die äußeren Emotionszüge von zufällig vorbeilaufenden Passanten hineinzuleben, um daraus eine Art Menschenlaunenkatalog zu erstellen. Das erschöpfte sich aber ziemlich schnell. Denn so viele Launen schien es von außen betrachtet gar nicht zu geben: Ein gestresster Fahrradkurier war nun mal ein gestresster Fahrradkurier. Vielleicht hatte er als zusätzliches Indiz für seine Missstimmung noch dreckige Hände, weil ihm mal wieder die Kette abgesprungen ist. Viel mehr war da nicht zu deuten. Wie es aber tief im Inneren des Kuriers aussah – Freundin, WG , Perspektive, Lieblingsverein, schwul, Elternhaus, Laktoseintoleranz, Neofolk- oder HardcoreFan, Antideutscher oder Neoliberaler, Veganer (oder doch schon wieder kein Veganer) –, schien erst mal schwer einsehbar zu bleiben. Waren die Gedanken also wirklich frei? Fast. Tommi schaffte es mit jedem weiteren Versuch des Switchens, sein Gegenüber besser lesen zu können. Das gelang ihm nur, indem er begann, sich selbst stückweise weg148 zulassen. Ganz, ganz langsam verschob sich etwas. Diesen schleichenden Seitenwechsel, der wie in Zeitlupe ablief, nannte er »Kehrung«. Später »Stülpen«. Das Stülpen setzte immer dann am stärksten ein, wenn er sich wie ein Oktopus von innen nach außen hineindrehte. Zumindest glaubte Tommi, dass man einen Oktopus von innen nach außen drehen konnte. Jedenfalls, wenn dieser Zustand tatsächlich eintrat, dann war etwas erreicht, was ihm wie ein Wunder der Beruhigung vorkam, einer großen Tiefenentspannung gleich. Und so hatte das Stülpen hinein in ein Gegenüber einen wunderbaren Nebeneffekt: Tommi war sich selber los! Ferien vom Ich! Und gleichzeitig war das Ganze ungemein unterhaltsam. Plötzlich verstand Tommi, warum der Mann da hinter dem Büroraumfenster ihn ausdruckslos ansah und vor allen Dingen wieso er ihn – Tommi sah das sofort – ärgerlich und abstoßend fand. Zugegebenermaßen: Eine vollkommene Empathie war selten, vielleicht unmöglich. Aber ähnlich verhielt es sich ja mit vielen Dingen: So richtig ins Gleiten kommt ein Segelboot auch nur bei optimalen Bedingungen – Wind, Welle, Segelstellung. Immer könnte etwas noch besser sein. Deshalb meinte Tommi auch, dass es beim Stülpen nicht reicht, wenn nur die Welle stimmt. Insgesamt kam er mit seinem Plan E. aber gut voran. In Streitsituationen beispielsweise konnte er ganz leicht mal die Seite wechseln. Und dabei sogar ernsthaft sauer auf sich selber werden. Er verstand auf einmal die Erregung des anderen Streitenden und was für einen Unsinn er selbst behauptet hatte, obwohl er, als er noch nicht gestülpt hatte, fest davon überzeugt gewesen war, sauber auf dem richtigen Argumenta149 tionsweg zu sein. Der große Plan E. lief eine ganze Weile gut. Bald konnte Tommi sich sogar in Tiere hineinversetzen, war so trainiert, dass er sein eigenes Antlitz in dem eines Cockerspaniels deutlich erkennen konnte. Der Hund schien dann ausgestattet mit seinem Von-Germany-Blick und allem, was dahinter gerade stattfand. Lange Zeit tat Tommi das Experimentieren mit dem Urlaub vom Selbst-Effekt unheimlich gut. Wahrscheinlich lag das auch daran, dass er nie gelernt hatte zu verstehen, was das eigentlich ist, das Selbst, das Ich. Denn nicht einmal das physische Meins schien ihm vertraut. Was ist ein gutes Körpergefühl? Ihm war es schleierhaft, wie Menschen ihre Körper, anscheinend mit voller Absicht, hart behandeln oder einsetzen konnten. Dabei ist der Körper immer das letzte Mittel, das weiß auch Tommi. Verteidigung oder Angriff. Über- oder Unterlegenheitsgefühl. Frauen können damit umgehen. Männer dagegen müssen ihre Rahmungen ständig neu verhandeln. Er selbst war immer ziemlich auf Abstand zu seiner Hülle. Nur wenn es mal weh tat, dann kam man sich näher. Schon kleine Erkältungen machten ihm zu schaffen, er versuchte angestrengt, vor anfliegenden Viren und Bakterien in Deckung zu gehen, und obwohl er im Großen und Ganzen recht unbeschadet in die Jahre ging, fühlte er sich in weiten Zügen geschwächt und irgendwie physisch gebeutelt: Tommi from Germany war nicht nur ein jammernder Hypochonder, er hatte zusätzlich phobische Angst vor Verfall und Alter. Das ist bis heute so. Irgendwann beschloss er, seine Versuche mit dem eigentlich recht gut laufenden Sichhineinversetzen wieder 150 einzustellen. Es führte zu nichts. Es entstand keine ernsthafte Hilfestellung für ein besseres, eigenes Verhalten. Er musste vielmehr feststellen, dass er durch seine Stülp- Methode irgendwie aggressiv wurde. Am Ende beschloss er, dass er schon deswegen unbedingt aufhören musste, um nicht vergiftet zu werden von den Schlammasseln der anderen, seiner Meinung nach nicht so empathischen Menschen, die aber ihrerseits scheinbar trotzdem gut damit leben konnten. Das Blöde war nur, dass nach Beendigung dieser Experimentierphase ein Schmerz seinen ganzen Körper erfasste. Ein nicht gekanntes Stechen und Ziehen. Ganz dumpf fühlte es sich an. Tommi wunderte sich aber nicht weiter, er konnte Schmerzen nicht gut einordnen. Schon als kleines Kind hatte er entdeckt, dass er nicht so empfand wie die anderen plärrenden Wesen, die ganz zappelig wurden, wenn zum Beispiel eine Wespe sie stach. Tommi war dann immer nur irritiert gewesen. Auch noch viel später hatte er ein eher indirektes Verhältnis zu Schmerz, Gefahr und Angst. 151 Das Leben ist Kampf Physische Härte war immer Thema in der Umgebung Tommis und der seiner Mitfechter. Sie waren ein Dorn in den Augen vieler. Und die wollten ihnen an den Kragen. Seit dem Zeitpunkt der Abkehr von der Gesellschaft der Vorgartenrasenmähenden gab es mehr natürliche Feinde, als die meisten vertrugen. Das unverschämte Äußere war dabei die erste Fahrkarte in die Vogelfreiheit: Sie waren leicht erkennbare Zielscheiben. Es musste viel geflohen werden. Vor robusten Teds zum Beispiel, in einen Sexshop. Um dann vom Sexshopbesitzer an die Meute ausgeliefert zu werden. Ausraster in Kneipen. Halbwüchsige Stresser im Freibad. Skinheadangriffe auf autonome Zentren und besetzte Häuser, in denen Tommi mit seiner Band auftrat. Fußballwochenenden mit Attacken auf ihre Treffpunkte. Die langen Reihen weißer Helme auf Demos. Der Hamburger Dom. Die Kieler Woche. Sicheres Terrain war nirgendwo. 153 Tommi und viele der Seinen begannen, Kampfsport zu trainieren. Das machten die anderen aber auch. Die Szene wurde unübersichtlich. Manches blieb merkwürdig eindeutig: Die Linken trugen schwarze Bomberjacken. Die Rechten trugen grüne. Es kam zu vielen kruden Behauptungen, die innerhalb der Gruppierungen leicht als Selbstverständlichkeiten durchgingen. Pazifisten verzierten sich mit Militärmantel, Patronengurt, Bundeswehrhose, Springerstiefeln. Vielleicht mussten sie die traumatischen Erlebnisse ihrer Weltkriegsväter noch eine Runde weitertragen. Und dann die Schlachten. Die Lust an der klirrenden Action, der Bock auf den Thrill ließen sich – das muss man zugeben – nicht völlig ausklammern. Wenn es knallte. Bei den feinsten Autoritätsgegnern kam das vor. Scherben demos konnten durchaus Sinn ergeben, gleichwohl waren sie für einige auch adrenalingesteuerte Potenzausflüge. Tommi selbst ist überall gewesen, wohin man einen mal stumpfen, mal zerbrechlichen Körper tragen konnte. Auch mit Lustgewinn. Und mit schalem Schmerz. Gefährliche Kämpfe, bescheuerte Spielchen. In Schuld und in Scham. Viele Kampfereignisse aber waren notwendige Abwehr. Und die meisten zum Glück nur Sport. So richtig gern hat Tommi beim Fußball mitgemacht. Anfangs spielte er in der Jugend des Bimmelsdorfer SV 08, danach in anderen Clubs. Weil er mal in richtigen Vereinen gekickt hatte, ist er später oft gefragt worden, an allen möglichen bunten Turnieren teilzunehmen. Man dachte wohl, das bringe etwas Zug in die teils sehr zusammengewürfelten Mannschaften. In besonderer Erinnerung ist Tommi ein Turnier geblieben, bei dem er von einer 154 Musik-TV-Promi-Fußballmannschaft angeheuert worden war. Gebolzt wurde direkt am Wasser, in einem ebenfalls bekannten Seebad, quasi einen Strand weiter, vor einem großen Hotel. Das gegnerische Team bestand aus einer Auswahl von Ex-Fußballprofis. Die Rummenigge-Brüder und der genialische Uwe Bein waren die bekanntesten unter ihnen. Das Erlebnis verlief insgesamt stark enttäuschend: unangenehme, knüppelharte Bodys. Profi-Hartkörper gehüllt in streng riechende Sportduschgele. Ballabdecken (mit dem Mann). Man kann sagen, dass diese weltbekannten Männerspieler Tommis Musikfuzzitruppe humorlos einmachten. Unter Zufügung von Schmerzen obendrein. Danach war wieder mal deutlich geklärt, dass sie alle – im Unterschied zu den professionellen Leibern – immer noch in ihren Jungenshüllen steckten, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt schon im fortgeschrittenen Erwachsenenalter waren. Es ist anzunehmen, dass die meisten von ihnen darin sterben werden. Heute, noch viele physische Ausschweifungen später, glaubt Tommi etwas verstanden zu haben im Bereich Körperlichkeit. Es gilt – ganz pauschal – quer durch alle Menschenschichten und durch alle behaupteten Klassen festzustellen: Der Benimm des physischen Handelns lässt sich nicht sauber kategorisieren. Alle flippen wild durcheinander. Spießer, Rebellierende, Zurückhaltende. Total unberechenbar. Hinzu kommt, dass gerade solche, bei denen man es eigentlich nicht sofort erkennen sollte – Schauspieler und Bühnenkünstler –, die eigentlich nur vordergründig körperlich agieren sollten, oft ganz besonders 155 plump auf die protzigsten Kräfte schielen. Akteure, die eigentlich nur zu spiegeln behaupten, versuchen ihre stolze Physis möglichst weit nach vorn zu stellen, um damit ihren Geist, in den sie anscheinend nicht viel Vertrauen haben, laut zu unterstreichen. Brüllende, ausgezogene, sich herumwälzende Pseudoviecher mit vorgetäuschtem Blick von innerer Irre. Selten fällt das gelenkig aus. Sie alle scheinen davon überzeugt, dass man nicht glaubwürdig erscheinen kann, ohne sich archaisch aufzuführen. Vielleicht liegen sie aber auch grundrichtig damit. »Das Leben ist Kampf«, erklärte ein Freund von Tommi, ein bekannter süddeutscher Schauspieler, der an einem bekannten süddeutschen See lebt. Einmal hatte er Tommi mitgenommen, um einen Fischteich leer laufen zu lassen. Gemeinsam wollten sie die Tiere einsammeln, die auf dem Trockenen aufliefen. Das mache man seit Generationen so. Die Tat wurde ein grausiges Gezeter. Weil es zu viele Fische gab in jenem Jahr. Der Ortsverband der Partei »Die Grünen« war mächtig verärgert. Ansonsten konnte sich dieser Schauspieler aber fein bewegen in seinem mannhaften Rahmen. Unaufdringlich, gleichzeitig supersichtbar und in allem: zutiefst archaisch. Tiefe Präsenz ohne Gescharre. Sogar auf der Bühne. Wahrscheinlich, weil er beim Spiel denken kann. Und gleichzeitig zuhören. Vielleicht stülpt er aber auch ganz einfach die Zuschauer, und die glauben dann, ganz verliebt, sich selbst zu beobachten, wenn sie sich dem feinen, groben Treiben des tänzelnden Seeschauspielers hingeben. 156 Der Protest der Schnecken Tommi suchte nach Umwegen. Eigentlich ständig. So wie er einst ganz simpel seinen Namen umgeschrieben hatte, um – zumindest in der Ansprache – ein anderer zu sein, beschäftigte er sich seither immer wieder mit dem Prinzip der Täuschung. Er versuchte herauszufinden, wie sich Bilder, Meldungen, Haltungen und Meinungen nach vorn schieben lassen, damit dahinter etwas ganz anderes stattfinden kann. Als tarnende Blendung sozusagen. Welche subversive Botschaft lässt sich hineinschummeln, in einen vordergründig unverdächtigen Operettenabend? Wie in aggressivem Geschrei ein Liebesbekenntnis verstecken? Kann eine melancholische Dauerstimmung politische Schärfe zeigen, wenn blanke Schönheit das Hauptbild bestimmen soll? »Glotz nicht so authentisch«, schrieb einmal ein schlauer Theatermacher. In seiner Lehrlingszeit hatte Tommi sich zusammen mit 157 einigen anderen ein Täuschungsprinzip ausgedacht, das sie vor autoritären Boshaftigkeiten im Betrieb seines Stiefvaters bewahren sollte. Auslöser war eine von ihnen als herbe Ungerechtigkeit empfundene Strafmaßnahme, die der Chef ihnen auferlegt hatte. Nämlich die Halle noch ein zweites Mal zu fegen. Schon öfter waren sie dazu gezwungen worden. Weil ihre Zensuren in der Berufsschule nicht entsprechend seinen Vorstellungen ausgefallen waren, sollten sie in diesem Fall zusätzlich zum Fegen der Werkstatthalle auch noch die Hebebühnen, die Waschstraße, die Sozialräume und das Lager säubern. Obwohl das gar nicht anstand. Tommi, der mal wieder der Meinung war, dass er sich auf der Welt lange genug hatte drangsalieren lassen, erwog zu streiken. Seine kühler denkenden Kollegen aber verstanden, dass man damit als einfache Stifte im Lehrverhältnis nicht durchkommen würde. Schlussendlich erfanden sie, nachdem sie sich mit einigen Gleichgesinnten auf der Berufsschule besprochen hatten, eine subtile Gegenmaßnahme, die sie das »Dauerwurstprinzip« nannten – obwohl Tommi diesen Begriff als etwas zu humorig empfand. Gemeint war damit ein Protest, der äußerlich nicht sofort als offene Verweigerung sichtbar, aber dennoch imstande war, echten Sand ins Getriebe zu streuen. Das fand Tommi richtig super. Mittels eines umfangreichen Planes, der sogenannten »Wurstordnung«, legten die Lehrlinge haarklein fest, wie sie nicht nur die verhassten Strafaufgaben, sondern auch das gesamte Mitmachen im Betrieb empfindlich unterlaufen könnten. Kernansatz des Ganzen war es, alles im Schneckentempo auszuführen. Egal, was man anfasste: Es sollte ein paar Prozent langsamer be158 trieben werden. Kaum merklich im Einzelnen, aber in der Summe der vielen Tätigkeiten mit echter Wirkung. Wenn zum Beispiel ein Reifen aus dem Lager geholt werden sollte, dann fand man ihn nicht ganz so flott, wie es möglich gewesen wäre. Der sonst schnelle Gang aufs Klo konnte zum längeren Marsch gedehnt werden. In der Waschstraße ließ sich ein Auto auf die eine, schnelle oder auf die andere, sehr langsame Art waschen. Tommi verbrachte Tage damit, zu üben, wie man die gesamte Werkstatt um 15 Prozent langsamer durchqueren konnte, ohne aufzufallen. Und so weiter. Die Anwendungslänge des Dauerwurstprinzips bemaß sich dabei nach der Dimension der jeweils erlebten Ungerechtigkeit. Im Grunde erleichterte diese Form des Protests die erzwungene Repression nicht. Aber der Bestrafte hatte eine völlig andere Haltung – stolz und mit großem Selbstwertgefühl fegte er das Ersatzteillager. In Tommis Augen waren die zufriedenen Anwender des Dauerwurstprinzips Befreite. Und so wurden die ungerechten, tristen Tage in der Werkstatt zu luftigen. Tommi hatte wieder einmal etwas verstanden. Seitdem versucht er sich immer wieder vor Augen zu führen, wie eine solche Denkstrategie sich lebendig halten lässt. Das ist gar nicht so einfach. Viel zu oft sind ihm seine in der Grundidee guten Anwendungen zu gewollt geraten – in der Praxis. 159 Knapp dagegen ist auch dabei (und der Clown, der muss lachen) Die Ästhetik des Widerspruchs. Kitty against Kitty hat diesen Begriff benutzt, als sie etwas zum problematischen Thema »Einsatz von Echtheit« erklären wollte. Wenn zum Beispiel lang erkämpfte Ideale aus Gegenkulturen in völlig konträre Aussagen umfunktioniert werden. Autowerbung mit Che-Guevara-Freiheitsgefühl, Schwarze Anarcho-Sterne auf H&M-Hemdchen, kritische Kunst im Reklamebetrieb oder das Erlangen »deiner Individualität« durch den Erwerb eines bestimmten Mobiltelefons. Die Ästhetik des Widerspruchs. Wow. Starker Tobak. Tommi wollte das nicht kommentieren. Aus Bequemlichkeit. Weil er fand, dass Kitty immer etwas grob ansprang, wenn man näher auf ihre steilen Thesen einging. Vielmehr fragte er sich, warum er selbst in seinem Vorgehen manchmal so schlimm – bis zur Widersprüchlichkeit – ungenau 161 wurde. Oder war das auch wieder nur ganz normal und kaum zu umgehen im heutigen alles einreihenden Vereinnahmungssystem, wie Kitty es nannte. In seinem öffentlichen Werkeln jedenfalls erreichte Tommi viel zu selten seine eigene Messlatte. Oder wie kam es, dass die Dinge, die er mit einer jeweils sehr klaren Idee anging, über die Zeitstrecke der Realisation oft schwer ins Schwimmen gerieten? Im schlimmsten Fall am Ende kaum noch etwas damit zu tun hatten, worum es ihm im ersten Gedanken gegangen war? »Weißt du, Kitty, ich plane zum Beispiel eine Kunstaktion als echt scharfe Kritik am Dauermitmach-EventStadtbeschallungszirkus, und im Laufe des Schaffensprozesses dreht sich das ganze Projekt in ein aufgeweichtes Revuechen, das sich in den Spektakelbrei, den ich ja eigentlich kritisieren wollte, nichts weiter als sauber einfügt. Oder ich nehme mir ganz fest vor, einen Theaterabend herauszubringen, der gänzlich ohne Verstellung auskommen soll. Ohne die üblichen Brechungen. Keine Techniktricks. Null Witzchen. Klare, sachliche Ausstattung und eine supersaubere Form, die es einem deutungssicheren Inhalt gleichtun soll. Und dann das Ergebnis: Knapp dagegen ist eben auch dabei. Verstehst du?« Kitty verstand. Tatsächlich passierte das Tommi immer wieder, auf ganz unterschiedliche Weisen. Bei dem Stück, das als scharfe Kritik geplant war und als Revuechen endete, ging es ihm ursprünglich darum, eine Welt zu beschreiben, die sich gänzlich befreit hat von Ablenkung und Verschleierung. Dazu hatte er ein knallhartes Exposé verfasst. Seine vom überschleunigten Kapitalismus getriebenen Protagonisten 162 sollten ungeschminkte, wirklichkeitstreue Stellvertreter abbilden, ausgelaugte Symbole für übermüdete Superinformierte, die ihre Kanäle obervoll hatten. So das Exposé. Außerdem hatte Tommi sich als besondere Aufladung seiner Inszenierung überlegt, dass die 50 Mitspieler – ausnahmslos Nichtschauspieler – sich zum Zeitpunkt der Proben alle in therapeutischer Behandlung befinden sollten. Mit der Diagnose: Anzeichen depressiver Verstimmungen aufgrund von beruflicher oder privater Überforderung. So ein Projekt verlangte nach einer radikalen Umsetzung. Tommi und sein Team hatten ein Schauspiel vor Augen, das sich für den Zuschauer wie ein melancholischer Zustand anfühlen sollte. Auf keinen Fall aber wie ein richtiges Stück mit all diesen konventionellen Beschränkungen. Das verkündete Tommi bereits bei der ersten Probe, der sogenannten Lese- oder Konzeptionsprobe. Bei diesem Termin erklärte er auch gleich und ohne große Umschweife, dass die Stimmung der Aufführung durch die rigide Reduzierung der Mittel so zwingend sein würde, dass es völlig wurscht wäre, zu welchem Zeitpunkt der Zuschauer in den Abend einsteigen beziehungsweise wann er selbst Teil der angestrebten totalen Melancholie werden würde. Vorausgesetzt natürlich, dass man sein Konzept, wie so oft geschehen, nicht verwässre. Denn durch nichts anderes als durch eine alles betäubende Melancholie sei nun mal aktuell am besten zu beschreiben, wie die Gesellschaft in ihren überkomplexen Verstrickungen, Angeboten und Möglichkeiten taumelt. Um diesen melancholischen und einfach so dahintreibenden Effekt der Inszenierung noch zu verstärken, wurde eingeplant, dass es keinen festen Be163 ginn und kein festes Ende geben dürfe. Außerdem könnte der Aufführungsort immer ein anderer sein. Parkplatz, Fabrikhalle oder leerer Supermarkt. Scheißegal, wie Tommi fand. Im Spielplan des Theaters bräuchte man lediglich die Kalenderwoche angeben in der »NOTHING «, so der Titel des Stückes, stattfinden würde. Für jeden Zuschauer sollte lediglich eine simpel kopierte Karte auf der öffentlichen, überdimensionalen Spielfläche den Weg weisen. Tommis Idee war es, sieben Tage am Stück durchzuspielen. Es würde keine Pause geben, um eine Realität zu simulieren, in der die Zeit keine Uhren mehr nötig hat. Aus Gründen der Klarheit würde es keinerlei Dialoge oder szenische Festlegungen geben. Lediglich Musik und Gesang würden für Verständnis sorgen. Die Liedtexte für »NOTHING « filterte Tommi aus unendlichen Gesprächen, konzentrierten Einzelinterviews, die in intensiven, aber durchaus heiteren sechs Wochen Probezeit geführt worden waren. Wenn genügend Content gesammelt war, sollte das Stück übergangslos zur Aufführung kommen. So weit die Idee von Regisseur Tommi from Germany. Warum es dann nicht zur anvisierten Umsetzung, beziehungsweise zu einem Formerlebnis, wie er es sich erhofft hatte, kam, ließ sich am Ende kaum noch rekonstruieren. Möglicherweise lag es daran, dass Tommi auf halber Strecke in punkto Konsequenz mal wieder die Puste ausgegangen war. Jedenfalls begann er in den Gesprächen mit der Dramaturgin, die sein Konzept grundsätzlich richtig klasse fand, irgendwie einzuknicken. Wahrscheinlich hatte sie ihn mit ihren zersetzenden Bedenken nach und nach verunsichert. Ob er sich zum Beispiel zu 101 Pro164 zent sicher sei mit den von ihm geforderten akustischen Trennwänden. Oder, warum denn nicht der zweite Teil der Inszenierung unter normalen Lichtverhältnissen spielen dürfe. Außerdem könne er doch wenigstens mal ausprobieren, ein paar Fragmente eines richtigen, dramatischen Textes zumindest unterschwellig einzuflechten, damit der Zuschauer ein klitzekleines bisschen Führung hätte. Solch Beanstandungen waren noch die vorsichtigsten der vielen Nachfragen im Laufe der Stückentwicklung. Zusätzlich trug die Theaterfachkraft ständig neue, ausschließlich konstruktiv und wirklich rein produktiv gemeinte Vorschläge des Intendanten an, der, je näher der Premierentermin rückte, mehr und mehr echte Theatermittel anmahnte. So gefiel ihm zwar das musikalische Grundgerüst mit seiner konzertanten Ernsthaftigkeit innerhalb der charmanten Inszenierungsbaustelle, er wünschte sich aber ein paar mehr Lieder mit vielleicht mal einem Refrain, der nicht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder rausgehen würde. Denn, so der Institutionsleiter, die Leute verstünden auf dieser Welt heutzutage sowieso nur noch Bahnhof und hätten deshalb sicher nichts dagegen, wenn sie im Theater nicht auch noch von pessimistischen und um tausendundeine Verkomplizierung ringenden Regienarzissten hirngefickt würden. Auch befand er, dass man auch gleich zu Hause bleiben könne, wenn man Tommis tendenziell überengagiertes Avantgarde-Konzept in seiner trotzdem leicht durchschaubaren Abgewandtheit einmal logisch zu Ende denken würde. Denn da sei ja auch immer nur Ge nerve. Umso absurder war es, als derselbe Kulturdirektor Tom165 mi und sein Ensemble beim Premierenapplaus hysterisch und mit Nachdruck aufforderte, sich viel öfter als notwendig zu verbeugen. »Raus! Raus! Alle noch mal raus auf die Bühne! Geil, geil, geil! Geil! Tommi! Das wird Kult«, schrie er in der Sekunde, als ihm klarwurde, dass es vor dem Vorhang ein ordentliches Geklatsche gab. Tommi selbst war mit dem Ergebnis denkbar unzufrieden. Er hielt seinen eigenen Abend für inkonsequent, schwammig und bieder. Tatsächlich unterschied sich die finale Spielversion von »NOTHING « in vielerlei Hinsicht von seinem ursprünglichen Konzept. Das Theaterstück – denn nichts anderes war es jetzt – fing bei einer konsumentenfreundlichen Spiellänge von 90 Minuten pünktlich um 20.00 Uhr an, so wie alle anderen Stücke im Hause auch. Bei streng verbotenem Nacheinlass. Es spielte ganz regulär auf der Studiobühne, weil das Ordnungsamt für den erhofften Parkplatz als Spielfläche angeblich die Genehmigung verweigert hatte. Genau genommen wurde es ein »ganz schöner Liederabend«, wie Kitty against Kitty es richtig auf den Punkt brachte. Damit war die Aufführung denkbar weit entfernt von dem »clusterartigen, musiktheatralen Minimal-Loop ohne Mitgrölrefrains«, wie Tommi es noch im Spielzeitbuch behaupten durfte. Selbst die aus den Interviews entstandene Textcollage, die ursprünglich als reines Liedmaterial gedacht war, verteilte sich jetzt zu ziemlich gleichen Teilen auf fünf – zweifellos richtig gute – Ensembleschauspieler, die sich nach und nach einen dramaturgisch sauber funktionierenden Spannungsbogen mit gut erkennbaren Figurenumrissen erstritten hatten. Dazu war es gekommen, weil sie in der letzten Probewoche ge166 fordert hatten, eine sicherere Spielbasis für sie herzustellen. Weil sie sonst nicht wüssten, was sie an Tommis Abend zu welchem verabredeten Auftrittsmoment abbilden sollten. Das sei schon auch psychografisch gemeint, auch wenn ihm, Tommi, das hundertmal schnuppe sei. Kurzum, das ganze Teil wurde ein Erfolg, aber leider ganz und gar kein »gasförmiger Zustand als Vorschlag einer Rettungsblase im Multiterror des Täglichen«. Es fand mittendrin statt, in der Institution – das ärgerte Tommi besonders –, also so gar nicht ausschließlich und extra im öffentlichen Raum. Niente. Richtig erschwerend kam für ihn hinzu, dass er dieses für ihn traurige Ergebnis jedes Mal hautnah miterleben musste, weil er für sich selbst kurze Auftritte als singender Performer eingebaut hatte. Was ihm zusätzlich nicht erspart blieb, war der Kantinenspott nach jeder Vorstellung, wenn die Kollegen bereits nach ein, zwei Getränken völlig ungeniert loswitzelten, »NOTHING « müsse richtigerweise in »EVERYTHING « umbenannt werden. Leider traf Tommis »Knapp dagegen ist auch dabei« in aller Härte zu, denn nicht nur die Kantinenspötter fanden, dass in seiner ehemals radikalen Reduzierungsbehauptung letztlich so ziemlich alles ganz normal vorkam, was ein gut gerüstetes Stadttheaterhaus in seinem bunten, aber nicht zu gewagten Spielplan aufbieten würde. Nicht mehr und nicht noch weniger. Diese Schlappe blieb bei weitem nicht die einzige bei seinen Bühnenversuchen. Zum Glück ist das wohl nichts Ungewöhnliches. »Von fünf Stücken wird eines richtig gut, zwei ganz okay und zu den anderen beiden möchte 167 ich mich nicht äußern«, so beschrieb es ein mit Tommi befreundeter Theatermacher. Es gibt keine Garantie. Und das ist auch in Ordnung. Auch die Rezensionen würden dabei keine Beschreibungssicherheit bieten, so befand der Kollege. »Lies zehn Kritiken über eine Schallplatte und du ahnst, wie sie klingt. Lies zehn über ein Theaterprojekt, und dir wird etwas über zehn verschiedene Abende erzählt.« Tommi hat gelernt, damit umzugehen. Vielleicht auch, weil er viel experimentiert hat mit der Wirkung von Lautstärken. Und deren Ausbleiben. Das Denken des neuen AuSSen Einen ganzen Sommer lang war es in der Szene angesagt, Manifeste zu produzieren, die ein gänzlich anderes Leben forderten. Im Ernst oder im Dada. Diese sollten am besten zusätzlich vom Verfasser vortragen werden. Daraus entstanden neben kleinen Lesungen auf Partys verschiedene Mini-Kongresse, auf denen öffentlich über utopisches Vorankommen nachgedacht wurde. Es entwickelten sich Küchenlesezirkel und richtige Diskurswochenenden mit Podiumsgesprächen und Konzerten. Die Höhepunkte waren möglichst theaterferne Spektakel mit aufblasbaren Hüpfburgen, die dann trotzdem und absichtlich im Theater veranstaltet wurden. Eine Gruppe gründete eine Kunstakademie außerhalb der richtigen Kunstakademien. Die Ausgangsaufgabe lautete, nicht akzeptable Realitäten durch selbst gemachte zu ersetzen. 169 Aus dieser ständig zunehmenden, freien Aktivitätsmelange ging dann ein erster fester, eigener Raum hervor: Zusammen mit Doktor Onkel und einigen anderen eröffnete Tommi einen Musik- und Ausprobierclub. Weil sie es leid waren, wie sich die vorhandenen Lokalitäten aufführten, mit ihren Profi-Türstehern, Profi-Preisen, ProfiInhalten, ihren Profi-Chefs und deren Profi-Männer-DJs und Frauen-Kellnerinnen. Den anfangs gänzlich konzessionslos geführten Laden benannten sie nach einem besonderen Tier. Ihre ersten Veranstaltungen waren ausnahmslos Abende, die sich grundlegend selbst widersprechen sollten. Zum Beispiel wurde auf der einen Seite des Raumes nur Fahrstuhlmusik gespielt und auf der anderen ausschließlich Tekkno. In der Mitte des Clubs mit dem besonderen Tier, das vormals eine Stammtischpolitikkneipe gewesen war, befand sich die Bar, an der sich auch eine provisorische Kanzel mit Mikrofon für Ansagen befand. Viele der Abende hatten übergroße, manche hatten oberkleine Ankündigen: »100 000 Jahre Hansestadt Hamburg. Ein apartes Fest der Kulturen«, oder »Die Menschheit. Warum es besser wäre, endlich damit aufzuhören«. Beliebt waren musikalische Bocksprünge oder Modenschauen: Doktor Onkel organisierte etwa eine Art Messe nur für Babykleidung und krabbelte dabei selbst als Säugling kostümiert über den Laufsteg. Später war ihm das sehr peinlich – weil man wegen der gewählten Fortbewegungsart alles bei ihm sah. Am spannendsten aber blieben die selbstgeschriebenen Vorträge. Einen davon wollte Kitty against Kitty ganz dringend halten, die alle zum damaligen Zeitpunkt lan170 ge nicht mehr gesehen hatten. Mit einem ungewöhnlich förmlichen Anruf hatte sie sich an Doktor Onkel gewandt und ihn darin gebeten, sie im Club mit dem besonderen Tier auftreten zu lassen. Es sei ihr außerordentlich wichtig. Weil sie etwas Bedeutendes zu sagen habe. Etwas, das bisher in den eigenen Zusammenhängen so noch niemand gewagt hatte, derart utopisch zu Ende zu denken. Was jetzt aber sie, Kitty against Kitty, sich zu sagen traute. Und dieses gewagt Utopische müsse jetzt dringend in die Welt hinaus. Alles, was sie benötige, sei eine Viertelstunde Aufmerksamkeit, angemessene Beleuchtung, sowie das Freie Mikrofon des Clubs mit dem besonderen Tier, von dem sie schon gehört hatte. Am Abend vor ihrem Auftritt hatte sie, was erst mal nicht unüblich war, eine eigene Dekoration angebracht. Tags drauf konnte man sehen, dass der ganze Laden in Weiß verhüllt war. Vor der Klotür und über der Bar hingen Schilder, die den Titel ihres Zukunftsvorschlags, wie sie ihren Auftritt vorab genannt hatte, ankündigten: »Das Denken Des Neuen Außen« war in großen Lettern zu lesen. Unmittelbar nach Türöffnung war der Club brechend voll und die Stimmung erwartungsfroh. Zuerst lief bei Schummerlicht zwei Stunden lang nur Musik ohne Text. Irgendwann ging das Licht an, und Kitty, merkwürdig alt aussehend, begann ihr Vorhaben. Was folgte, war ein inhaltlich recht konventioneller Abriss aktueller politischer Beobachtungen. Zusätzlich eingestreut waren lose Sätze auf Spanisch, Englisch und Französisch, die Kitty aus einem kleinen Notizbuch ablas. Was man verstehen konnte, waren Schlagworte wie Gletscherschmelze, saurer Regen 171 oder Hungersnot. Eine Dreiviertelstunde lang passierte nur das. Tommi, der solche Vortragssituationen sowieso nur schwer aushielt und schon etwas angetrunken war, glaubte irgendwann, er könne sich erlauben, ganz wertfrei, aber eben unterbrechend, nachzufragen, wie lange der Auftritt denn insgesamt angedacht war. Ein großer Fehler! Kitty explodierte augenblicklich. So hatte Tommi sie noch nie erlebt. Was sich anschloss – so haben das später ausnahmslos alle Anwesenden beschrieben –, war ein Moment von heftiger, unverstellter Empörung. Kitty fuchtelte herum, schlug Tommi und anderen ihre Manuskriptseiten ins Gesicht und setzte dann verbal erst so richtig an. »Tommi! Du hängengebliebenes Arschloch! Jetzt pass mal auf. Und du auch da unten. Scheißkuh!«, schrie sie einer verdutzten Besucherin ins Gesicht. »Nur dieses eine Mal … Tommi … Arschloch!«, brüllte sie weiter, »… dieses eine … einzige Mal! Ruhe!! … Die Kackschnauze halten, habe ich gesagt … du da … und all die anderen peilungslosen Idioten hier!« Sie nahm einen großen Schluck aus einem 30-cl-Baileys-Flachmann. »Arschlöcher … Schnauze halten … So …« Wieder ein Schluck Baileys. »Dann kriegt ihr eben jetzt schon die volle Packung … So, Folgendes prophezeie ich euch … weil … und es kann gar nicht anders kommen …« Ihre Stimme überschlug sich das erste Mal. »Weil … und jetzt kommt es … einer wird kommen … Jahahaaa … ganz genau … und dieser eine, der kommen wird, der … ha! Jetzt kommt es nämlich! Dieser eine … er wird … nein … doch! Der wird plötzlich Fragen stellen … Bingo! Genau! Schnallt ihr das überhaupt? Mann, Mann, 172 Mann … ihr Vollidioten …« Dann eine kurze, konspirative Pause, in der sie einen Schritt näher an die Zuhörer trat. Und ganz leise, fast flüsternd und beschwörend: »Ich habe es doch selbst gesehen … Kapiert ihr das denn nicht?« Und sofort wieder sehr laut: »Was ist los?? Was wollt ihr eigentlich von mir?? Hä??? Du da hinten!« Sie zeigte auf Doktor Onkel. »Na? Schwachmaten … Kaputtnixe … Red ich Schinesisch oder was?? Ich sagte, der eine … Er wird Fragen stellen! Fragen nach dem Verschwinden! Ha!! Na, klingelt es endlich? Hallooooo! Ist da jemand zu Hause? So, das saß … Kann ich weitermachen? Er wird Fragen stellen … nach … na? Ich sagte … Fraaagen! Naaach … deeem … Veeerschwiiinden! Nach dem Verschwinden! Ha! Genau! Richtig gehört … Endstation, ihr Spatzenhirne.« Kitty trank den restlichen Baileys in großen Schlucken runter. Dann schloss sie genussvoll die Augen, wie nach einem wunderschönen Tag. So weit konnte Tommi mit Sicherheit wiedergeben, was Kitty an diesem Abend gesagt hatte. Dann verschwamm ihre Ansprache allerdings zusehends. Auch, weil sie so irrsinnig kreischte. Es ging in Kittys Wortlaut ungefähr so weiter, dass dieser von ihr beschworene eine beginnen würde, eine Menge unbequemer Fragen zu stellen. Und dann auch Forderungen haben würde. Forderungen nach einer pauschalen Verkleinerung. Einer Verkleinerung gegen die sinnlose und nur scheinbare Vermehrung. Und er würde sie so lange stellen, diese Fragen und Forderungen, bis ein anderer zuhören würde. Und dieser andere würde es dann auch endlich kapieren. Und ein weiterer ganz, ganz anderer würde sich dann, ganz woanders aber auch ganz von allein, eine weitere Frage 173 stellen. Nämlich, wie es eigentlich möglich geworden ist, dass all die Verschwindibusse und Hinwegverlierer – das hatte Kitty auf jeden Fall genau so gesagt, die Verschwindibusse und Hinwegverlierer – noch immer glauben würden, selbst schuld zu sein an ihrer Abschaffung als autonome Wesen und nicht etwa der Kapitalismus mit seinem Automatismus und seiner Eigenausbeutung. Exakt so würde es kommen. Da war sich Kitty zu hunderttausend Prozent sicher. Es ging aber noch weiter, denn noch ein anderer wiederum würde der erste nächste eine sein, der ganz direkt und längst schon nicht mehr überhörbar einem so richtig in den Arsch treten würde. Und danach und gänzlich zwangsläufig, würden dann weitere, nämlich die, die immer auf ein heißes Thema warteten, die Meldungsverstärker, ein Interesse vor-empfinden und dann aber anfangen, ziemlich bald von der Rückkehr der Gegenwehr zu reden. Zuerst sei das nur ein Piepsen von Gegenwehr, dann schon ein Piepen. Anfangs nur ein Fummeln, dann aber ein nicht mehr zu stoppendes Flammen. Und etwas Großes und immer Größeres würde beginnen, sich unaufhaltsam auszubreiten. Etwa ab dieser Stelle ihres Auftrittes ist Kitty dann wirklich fast durchgeknallt mit ihrer Rede im Club mit dem besonderen Tier (Zeugen gibt es genug): »Und dann … Jjhaaaa … ihr Idioten … und dann … Jjhaaaa … und dann, nach den Flammen … daaaaaann … kommt die Angst angefaaaahren! Rrrrrrrr! Hört ihr das? Ihr Taubstummen … Schuuuh, schuuuh, schuuuuuuuuuuh, macht die Angst! Schuuuuh … Angst! Angst! Schuuuuuhhhh … Erst ganz langsam … Dann immer schneller und schneller! Bis sie bei allen angekommen ist! Jaaahaa! Und diese Angst wird 174 bereits einen Namen tragen. Na? Klingelt es? Genau! Ihr Affen! Ihr blöden Affen! Ganz genau … Verlust!! VERLUUUST!! Schuuuuuuuuh … Ha, ha, ha! Tommi, du Idiot … Du bist genauso ein Idiot, wie all die anderen Nullchecker hier. Und Doktor Onkel … Schwachkopp … Scheiße! Aua! Was soll das! Schuuuhh! Aua!« Ab dieser Stelle bekam Kitty Probleme mit ihrem Fuß, nach dem sie zunehmend hektisch zu greifen begann, und man verstand ihre Ansprache noch schlechter als ohnehin schon. Auch weil sie nicht mehr richtig ins Mikrofon sprach. Es ging dann in etwa so weiter: Kitty schwor, dass dann, also nach dem Verlust, der Moment kommen würde, ab dem es die ersten, ganz, ganz anderen geben würde. Solche, die bereit sein würden, die Dämme brechen zu lassen, anstatt sie wieder und wieder nur zu kleistern, mit ihren selbstbezogenen, sinnlosen Begabungen, durch die ihre Mäuler schon so unendlich lange total verklebt seien. Zu diesem Zeitpunkt würde aus ihrer Prophezeiung bereits eine richtig kleine Bewegung erwachsen worden sein. Eine Bewegung von zu allen Konsequenzen bereiten Brechern. Diese Sätze hatte Kitty wieder ganz sauber aufgesagt, ab dem Punkt mit den Brechern aber plötzlich ganz tief gestöhnt. Niemand der Anwesenden kann vergessen, wie Kitty röhrte wie ein Death-Metal-Sänger: »Hört ihr überhaupt noch zu, ihr Flachzangen?? Brecher! B.R.E.C.H.E.R! Ihr Klappskallies … Brecherbewegung hab ich gesagt!!« Es gehe in der Brecherbewegung auch nicht nur darum, einfach nur wütend zu sein, sondern darüber hinaus wütend zu handeln und wütend anzugreifen, um schließlich wütend 175 zu verändern. Am Ende gar wütend abzuschaffen. Und das Wichtigste sei hierbei das partizipative Gemeinsame, ohne das jeder immer nur darauf achte, dass der Nächste ihn immer ein Stück weiterbringen müsse beim nur noch Interessen-geleiteten Begegnen. Nur so entstehe ein nicht mehr zu stoppender Wunsch nach Erneuerung mit unbedingtem Willen zum direkten Umsetzen: »Schuuuhhh … Uuund … Rumms! Kapiert ihr das, ihr Softies? Nix geht mehr. Vorbei. Ein für alle Mal. Ihr Arschlöcher! Ha, ha, ha! So, ihr dummen Auguste! Macht mal schön weiter so. Ich jedenfalls. Ich jedenfalls kann – anscheinend als Einzige – den ersten anderen schon erkennen. Egal! Scheiß drauf!!! Viel Spaß noch!!! Was für Arschlöcher …« Und dann grinste Kitty ganz verklärt, ungefähr eine halbe Minute lang. Ohne sich zu bewegen. Bevor sie plötzlich das Freie Mikrofon auf den Boden warf, so dass es in einer Rückkopplung laut fiepte. Sie griff noch einmal an ihren Fuß, stieg ganz langsam die Kanzel hinab und ging wortlos zur Tür hinaus. Dort drehte sie sich noch einmal um und sagte, scheinbar wieder ganz im Jetzt: »Na, wie schmeckt euch das? Wie findet ihr das? Nix ist. Zero. Alles klar. Kaschierer. Vollidioten.« Als Kitty den Club mit dem besonderen Tier endlich verlassen hatte, blieb es für lange Sekunden mucksmäuschenstill. Bevor überhaupt jemand etwas sagen konnte, schob sich ganz langsam der immer vollständig in Weiß gekleidete Friedrich F. durch die regelrecht eingefrorenen Gäste zum Ausgang. Deutlich konnte man seine Schritte hören. Auch noch durch die geschlossene Tür. Nach ungefähr zehn endlos erscheinenden Schritten begann er, 176 lauthals aufzulachen. Ungehemmt prustend entlud er sich vor dem Club mit dem besonderen Tier. Friedrich F., das war bekannt, war ein konstanter Verächter von Tommi, Kitty, Doktor Onkel und den anderen. Als Journalist, der für Genauigkeit stand, war ihm die ständig auf Rumexperimentieren bedachte Szene der Tierclubleute mehr als suspekt. Für ihn schufen sie nur wenig Zählbares. Doch obwohl er ein regelmäßiger, immer betont ernster Gast war, hatte er sich nie öffentlich über sie geäußert. Bis dahin. Kittys exzentrische Anklage aber schien ihm ein gewisses Mütchen zu verleihen. Und aufgrund seines nicht zu überhörenden Lachens stand nun zu befürchten, dass er diesmal auch schriftlich nachtreten würde, in einer der zahlreichen Zeitungen und Magazine, für die er damals schon schrieb. Tagelang gab es Gerüchte über einen kommenden, vernichtenden Schmähartikel. Am Ende war aber gar nix. Friedrich ist wohl nach Berlin gezogen oder so. Kittys Rede über »Das Denken Des Neuen Außen« mit ihren einen und ihren anderen erfuhr auch sonst ziemlich wenig direkte Resonanz. Über die Zeit wurde sie aber zu einem als legendär beschriebenen, bedauernswerterweise völlig ungenutzt gebliebenen, revolutionären Urmoment verklärt, der, wenn nur die richtigen Leute zugegen gewesen wären, das Zeug zu einem fulminanten Absprung für eine wirklich neue Bewegung unbekannten Ausmaßes gehabt hätte. Das jedenfalls hat Nerve R. viel später einmal ganz öffentlich behauptet, obwohl er am Abend dieses angeblichen Urmoments hinter vorgehaltener Hand schwer abgelästert hatte. Tommi hat mit Kitty nie über den Vorfall gesprochen. 177 Auf eine unbestimmte Art hatte er sich während ihrer öffentlichen Klage für sie geschämt. Vielleicht, weil sie dabei so verloren gewirkt hatte. Merkwürdigerweise schob Kittys Auftritt – bei allen Eventualitäten – aber etwas bei ihm an. So sehr, dass Tommi selber eine Art Pamphlet entspann, in dem es um Fragen ging, die er dann in einem späteren Theaterstück unterbrachte. »The Death of the Cool« hieß der Text dazu, ein Song daraus »Übereigendarstellerei«. Was ist noch super, wenn alles super ist? Kommt man als einfacher Frisör noch durch? Oder muss man seine Frisuren unbedingt als cooler Stylist in einem Event-Salon mit Alleinstellungsmerkmalhaarschnittbehauptungen aufführen? Solche Ansätze schienen auch Kitty bei ihrer Rede umgetrieben zu haben, so schien es Tommi. Ihm hat es gutgetan, noch etwas daraus gemacht zu haben. Möglicherweise empfand er eine solidarische Schuld Kitty gegenüber. Gefühlt schien er sie dadurch irgendwie verteidigt zu haben, im Nachhinein. »Übereigendarstellerei«(*11) Maschinist, überwache die Motoren – und dafür keine Biokochrezepte. Kunstprofessor, treffe Studenten – und dafür keine Boxsportergebnisse. Bäcker, backe gute Schrippen – und dafür keine Filmfestivalempfehlung. Bühnenarbeiter, baue Bühne – und dafür keine Kunstbuchrezensionen. Schwimmer, schwimme schnelle Bahnen – und dafür keine Renditeempfehlungen. Koch, … koche! – und dafür kein neues TV-Format. Präsident, mache Regierung – und dafür keine Free-Jazz-Matinees. H. P. Baxter, singe deinen Techno – und dafür keine Thomas-Bernhard-Lesungen. Refrain: Hört bitte auf mit dieser Übereigendarstellerei. Gebt euer eigenes Leben. Ohne Oberextraallerlei. Heute ist eben ein Klempner nicht einfach nur ein Klempner. Ein Schritt zu viel nach vorn schafft zwei Schritte rückwärts. André Tschechow: Sechs Schwestern, oder was? 179 Das ist dann richtig wie Liebe In Hamburg trat der weiße, nordamerikanische Rap-Star Eminem auf. Es war eines der wenigen großen Konzerte, die Tommi je besuchte. Zufällig, direkt einen Tag später, sollte in derselben Mehrzweckhalle der ebenfalls aus Nordamerika stammende, »Schockrocker« genannte Sänger Marilyn Manson seine Show machen. Eminem kam in dem riesigen Raum wie erwartet einigermaßen fad. Trotz eines gehörigen Budenzaubers mit vielen zeitgemäßen Licht-, Sound- und Bühneneffekten. Die mehrstöckige Dekoration sollte dabei eine Art Ritterburg darstellen. Das Publikum schien das zu honorieren. Danach gab es noch ein kleines, angeblich geheimes Konzert in einem Club auf St. Pauli. Dieses fand Tommi ziemlich super. Später im Garderobenbereich saßen sich die Unterhaltungsidole Eminem und Marilyn Manson, der schon einen Tag früher in der Stadt war, gegenüber. 181 Beide waren schwer breit, wahrscheinlich auf Ecstasy. Sie saßen sich also gegenüber und starrten sich einfach nur an. Ganz ruhig. Ganz konzentriert. Ganz zufrieden. Jeder, der da war, konnte leicht erkennen, was die beiden dachten: »Wow! Eminem!« Und: »Wow! Marilyn Manson!« Ganz warm sah das aus. Ohne ein einziges Wort. Zwei Vogelwesen einer besonders faszinierenden Art, die sich vorher noch nie begegnet waren. Beide spürten dabei deutlich ihre Einzigartigkeit. Und dass sie vom Aussterben bedrohte Besonderlinge waren. Die einmalige weiße Schneekrähe traf auf den einmaligen schwarzen Kolkraben. Wie lange sie sich so gegenübersaßen und wie das alles ausging, ist nicht überliefert. Tommi glaubt daran, dass es eine in der Regel nichtsexuelle Liebe zwischen suchenden Sensiblen gibt. Diese erhoffen sich voneinander, dass der jeweils andere ihn besonders heftig mitreißen, ihn irgendwie zur nächsten Action bringen wird. Natürlich meint jeder, nicht nur die geschätzte Krähe und der bekannte Rabe, irgendwann schon einmal diese gewaltige, alles hinfortspülende Liebe empfunden zu haben. Und sei es nur für sich selbst. Denn niemand kann ganz sicher sein, dass der Zauber vom Gegenüber erwidert wird. Tommi hatte dieses Thema des besonderen Aufeinandertreffens so sehr für sich entdeckt, dass es schon fast ein Tick von ihm geworden war. Er schwärmte von übergeordneten Begegnungen und Zusammenkünften, die einfach alles waren, was ein Sein ausmachte. Von elektrisch reagierenden Verknüpfungen. Er war fest davon überzeugt, dass diese außergewöhnlichen Zusammenkünfte das Ein182 zige waren, was ihn wirklich weiterbrachte und von dem er überhaupt irgendetwas lernen konnte. Wenn er also auf jemanden traf, der auf seine diesbezüglich sensibilisierten Sensoren ansprang, und somit wertig genug erschien, genauer untersucht zu werden, dann setzte eine für Tommis Verhältnisse ungewöhnlich hohe Konzentrationskraft ein. Sogleich begann er, sich auf seine Beute zu fixieren. Passte es tatsächlich, dann türmte sich die Begeisterung beängstigend groß auf. Denn wenn sich wirklich etwas entzündete, also wenn Tommi eine neue Bekanntschaft als lohnenden Begehr ausgemacht hatte, dann, ja dann gab es von diesem Moment an keine Begrenzungen mehr. Das konnte ungeheuer ausarten. Alles fußte dabei auf der simplen Grundlage, dass ein anderes Wesen die superkomplexen Tommi-Codes verstehen und damit genauso geschickt spielen konnte wie eigentlich nur er selbst. Wenn das aber doch einmal passieren sollte, trotz all seiner immensen Ansprüche und Hürden, dann gab es lange kein Luftholen mehr. Für beide. Völliges Kochen. Die noch frische Liaison vergoss sich in Raserei. In einen Erschöpfungstaumel. Das Ablaufmuster war dabei eher schlicht und unbedingt wiederkehrend. Anfangs musste alles peinlich genau vermessen werden. Tommi und sein Pendant umkreisten sich in allen erdenklichen Parametern: Zeig mir deine Farben, deine Musik, deinen Stil. Politisch korrekt und/oder unkorrekt. Schlechter Geschmack und/oder guter Geschmack. Verehrungen und Gegnerschaften. Herkunft und die andere Welt. Und so weiter. In der nächsten, wesentlich subtileren Stufe zwangen sich die bereits ineinander Ver183 hakten in Situationen, die unbedingt besonders verwegen ablaufen mussten. Dabei schien es so, als müssten die beiden etwas zusammen in Brand Gestecktes durchlaufen. Sich Vertrauen verdienen unter extremen Bedingungen. Danach folgte die Phase von richtiger Wirrung. Wie ein surrealer Traum, der nicht enden wollte. Und dann, ganz abrupt, war es – das war bis jetzt jedenfalls immer so gewesen – augenblicklich wieder vorbei. Das machte aber nichts, es konnte ja gar nichts Größeres kommen, als nur dieses eine Mal gemeinsam morgens im Sonnenlicht stehen mit den reißenden Strömen der vergangenen Nacht. Sich Schönheiten zeigen. Sich die Wunden beschreiben. Und wenn man dann sieht: Ja! Da war tatsächlich noch jemand, jemand mit denselben Sehnsüchten, aber auch denselben zitternden Existenzängsten, phobischen Verlorenheiten, brennenden Verlustschmerzen, dann, ja dann war das: alles. 184 Von Uhu, Monkey Man, Urvieh, Cat the Cat und einer epileptischen Elster Tommi wurde seine Dämonen nicht los. Er wurde seine Verletzungen nicht los. Zum Glück stellte er sich, kurz bevor er verrückt wurde, sich beinahe etwas antat oder noch schlimmer, gar eine staatsfeindliche Dummheit begann, die Frage, was ihm im Leben von Bedeutung war. Die Antwort war immer dieselbe: Wirklich wertvoll waren ihm seine Spezialmenschen. Seine wichtigen Freundschaften. Ihnen gab er Tiernamen: zur Aufwertung. Nur so konnten sie Wesen bleiben, die er nicht weiter durchleuchten musste. Damit sie ihr Geheimnis behielten und nicht irgendwelche Angriffsflächen böten für den – und da kannte er sich selbst gut genug – überpenibel kritischen Tommi from Germany. Sehr einflussreich war und ist der Uhu für ihn. Von ihm lernte er, wie man es schafft, den Dingen eine ande185 re Bedeutung zu geben, sie umzustreichen, wie der Uhu das nannte. Mit den Gesetzen der Umstreich-Formel nämlich. Alles kam dabei in Frage. Material. Meinungen. Geschichte. Blickweisen. Die Zeit. Man muss nur einen ganz besonderen Gedanken, ein simples Prinzip verstehen. Dieses lässt sich, hat man es einmal erlernt, universell anwenden. Der Uhu jedenfalls wandte seine Umstreich-Formel in seinem gesamten Wirken an, konnte, oder wollte sie jedoch nicht plausibel erklären. Da musste man schon genau hinschauen und dann kombinieren. Das gelang Tommi deshalb ganz gut, weil er das Glück hatte, den Uhu des Öfteren begleiten zu dürfen, um so nach und nach zu kapieren, wie dieser findige Vogel ein ums andere Mal beeindruckend umstrich. Er konnte das mit Wort und Tat beim Reden und Wandern, beim Spinnen und Trinken. Auf seinem notwendigsten Feld aber, der Kunst, da betrieb er es am schlüssigsten. Zum Beispiel malte er Bilder, die er mit listigem Schmunzeln präsentierte, wenn sie angeblich zu Ende gearbeitet waren. Dabei hatten sie offensichtlich überhaupt kein Geheimnis, waren wirklich schlechte Bilder. Doch dann, unter strenger Anwendung seiner Formel, mit wenigen, flatterhaften Bewegungen, das Werk mit einem geöffneten Uhu-Auge fixierend und unter Zuhilfenahme einer handelsüblichen Schuhbürste, eines alten Lappens oder eines gebrauchten Bimssteines, konnte er das eben noch wirklich fade Großformat ins Schwimmen bringen. Nach dieser kurzen, aber scharfen Behandlung wurde das Bild undurchsichtiger, erhielt aber jenen Zauber, den ein Bild braucht, um lange leben zu können, wie der Uhu seinen Anspruch an ein gutes Bild erklärte. 186 Diese phänomenale Umstreich-Formel lässt sich auf alles Mögliche anwenden. Das hat Tommi ausprobiert. Beim Musikmachen. Auf darstellenden Bühnen. Und sogar bei Rockkonzerten. Man benötigt für diese Situationen allerdings sehr gute Partner. Der Uhu sagt, das gehe ausschließlich mit Leuten, die genauso zwangsläufig Scheiße bauen wollten, wie man selbst. Da braucht man aber gar nicht erst das Suchen beginnen, denn diese würden sich sowieso und ganz selbstverständlich begegnen. Denn richtiges Scheißebauen ziehe sich magisch an. Natürlich ist das ein wenig kokett ausgedrückt vom Uhu, der ein wirklich berühmter Künstler ist und bei dem solche Verharmlosungen kaum verschleiern können, dass sein Schaffen sehr komplex ausfällt. Wahrscheinlich sucht er nur nach einer möglichst unernsten Atmosphäre, um bei seinem eindrücklichen good and bad working immer wieder gut und neu starten zu können. Tommi jedenfalls begriff erst, nachdem er den Uhu kennengelernt hatte, was Kunst kann, und verstand die Anwendungsmöglichkeiten von falschen Unterbrechungen, gutem Dunkel auf bösem Hell, vollen Halbmasken oder dummen Ganztönen. Mit solchen Werkzeugen begann er dann, in seinen eigenen Metiers selbst rumzuprobieren. Leider hat dabei nicht alles gut funktioniert. Aber die Einführung von Motormenschen, Tamagotchi-Schauspielern, feindlichen Übernehmerinnen, Schneckenkämpfern, Infoclowns, Nebelköniginnen, Wiederkehrenden, Fetten und oder Flüssigen, Reisenden und Nichtankommenden auf unterschiedlichsten Bühnen freut ihn heimlich sehr. Sein bis heute schönster Coup, aufgeführt in einem seiner ersten Stücke, war die 187 Spielszene »Tanzen wie in Aluminium«, in der ein ganzes Land in Metallstarre verschwand durch politische Starrheit. Es handelte vom Neopopulismus in den Alpenstaaten und war inspiriert durch seine gemeinsam mit dem Uhu unterhaltene Musikgruppe »Aluhexen«. Tommi ist dem Uhu zu Dank verpflichtet. Und all den anderen, die ihn durchgeschubst haben durch die viel zu oft viel zu krampfigen und angstgeleiteten allgemeinen Menschenbegegnungen. In der Kunst wie im echten Leben. Auch der Monkey Man hat Tommi das Leben erleichtert. Richtig verknallt war er in ihn, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Ungezählte Faxe schickten sie sich hin und her. Papiere, auf denen geheimnisvolle Botschaften standen. Mit Sätzen, die nach außen ganz grob wirken konnten. Für Tommi und den Monkey Man machten sie eine innige Verbindung aus. »Es ist jetzt morgens so um halb zehn. Die Kotze hat meine Jacke verklebt«, ein Zitat aus einem Songtext eines weiteren, wichtigen Freundesgeistes aus einer eigentlich längst abgelegten Teenagerphase. So etwas vereint. Das war ihre Sprache, hier verstand man sich. Auch Thomas-Bernhard-Texte konnten Thema sein. Etwas davon in ein Lied verpacken. In eine Zeichnung. Und dem anderen wie einen Liebesbrief zukommen lassen. Wenn man es gut machte, es präzise anrührte, dann leuchtete dieser Brief beim Aufmachen. Das Sich-Erkennen läuft immer über Entgrenzung, das hat Tommi herausgefunden. Aber, genauso wichtig: die gemeinsame Zurückweisung von Normalität. Morgendliche Lederjacken-Kotze mit Thomas-Bernhard-Geschmacksrichtung. Wenn zwei es schafften, damit eine geschmeidige 188 Verbindung herzustellen, so wie Tommi und Monkey Man in ihrem Zusammenspiel, dann entstanden zarte Grüße, wilde Farben, freie Klänge, schönster Rausch. Kinder nennen das, ein gutes Versteck gefunden zu haben. Auch mit seiner Freundin Urvieh fand Tommi immer wieder ein solch gemeinsames Versteck. Ihr allererster gemeinsamer Streich war es, Kindern falsche Zuordnungen beizubringen. Eine ganze gemeinsame Reise lang gaben sie sich, unter strengster Geheimhaltung, beflissene Mühe, alle möglichen Dinge oder Situationen für einen noch sprachunsicheren Spross eines befreundeten Elternpaares umzutiteln, wie Urvieh es nannte. Wenn also der kleine Racker auf etwas zeigte und dann, inhaltlich tadellos »Da! Da! Roota Feueehweehaudo!« plärrte, dann erklärten Tommi und Urvieh dem noch Sprachunsicheren ganz geduldig und nur, wenn niemand zuhörte: »Nein, ganz falsch. Es heißt nicht: Da! Da! Roota Feueehweehaudo! Das muss heißen: Da! Da! Blauuua Kuuuhaudo! Das sieht man doch. Schau doch mal die ganzen Kuuuhe darin in die blauuua Audo.« Das machten sie dann noch mit anderen, dem Kinde aufgefallenen Dingen. Von diesem Moment an waren Feuerwehr, Krankenwagen oder Polizei: Kühe, Atompilze oder Drogen. Zwei Wochen lang wurde verbal heftig gemuht, verstrahlt oder gekokst, wenn unterwegs bestimmte Hilfsfahrzeuge auftauchten. Auf derselben Reise schafften sie es, den schlimm fremdenfeindlichen Hotelier ihrer Unterkunft umzubenennen: von Onkel Josef, wie er selbst von den Kindern genannt werden wollte, in Onkel Goebbels, wie sie ihn fortan mit fröhlicher Begeisterung riefen. Was richtig Ärger gab. Unendlicher, 189 nimmermüder Verdrehungsquatsch. Urvieh kann das auch heute noch gut. Tommi schaut mit Bewunderung auf sie. Und auf die anderen, die ihn retteten. Wie Cat the Cat und die weiteren Mitglieder seiner Band, die auch alle bedeutende Tiernamen tragen: Erdmännchen, indische Gottesanbeterin, Sperling und kölsches Gürteltier. Oder Nerve R., den er manchmal die epileptische Elster nennt, weil er weiterhin so zappelt und alles stiehlt, was glänzt. Doktor Onkel. Kitty. Morten. Mali. Ha Em Schleier. Kaka aus Österreich. Tommi kennt die Namen seiner Befreier. Archaische Veitstänze (auf und neben den Bühnen) Besonders wichtig an seinen Tierbekanntschaften war und ist Tommi, dass sie ihm ein verlässliches Korrektiv bieten. Dafür müssen sie nicht einmal zu ihm sprechen. Er denkt sie konstant mit. So blieb ihm manche Peinlichkeit erspart. Andererseits, es muss auch weiterhin gänzlich unabhängig gefrickelt werden dürfen – und daran gezweifelt werden können. »Was denn nun, Tommi«, hörte er sich sagen, als er einmal einen Gastartikel in einer Tageszeitung über eine Schlagermusikmarsch-Großveranstaltung verfassen sollte. Analytisch auseinandernehmen oder lauthals verspotten, das Ganze? Zumal es hier nicht wirklich um gefährliche Feinde ging. Schwierig. Alles geht immer und manches gleichzeitig überhaupt nicht. Tommi geriet mal wieder in eine schwere Schleuderphase, und er fing an, sich mit der Ironienummer zu 191 langweilen. Nicht weil das Mittel Ironie auf einmal ganz pauschal nicht mehr taugen würde. Aber er empfand einen faden Beigeschmack, wenn er oder sonst irgendjemand zum fünfhundertsten Mal »das Theater mit seinen eigenen Mitteln geschlagen« hatte. Für andere Genres galt dieses Pseudo-Angreifen genauso: »Cash from Chaos«. Aber selten konsequent ausgeführt, fast immer nur halbgar. Es war mal wieder Kitty, die Tommi erst so richtig die Augen öffnete, was diese »Angeblich-nix-verkaufenwollen-aber-es-extra-trotzdem-tun-Schwindler« anging. Weil diese eben nur unter dem Mäntelchen der Ironie und keinesfalls wirklich ernstgemeinte Kritik äußerten. Und stattdessen über einen schalen Umweg direkt in die größtmögliche Kassenhalle baten: »Weißt du, Tommi, diese charmanten Kaufleutchen nennen ihre neue Platte ›Happy Reibach‹, ›Scheißbillig‹ oder ›Kaufen ist geil‹, implizieren damit eine Kapitalismuskritik und ein scheinbares Unwohlsein im bösen Business. Und das alles bei gleichzeitiger aggressivster Power-Promotion mit anschließendem Megaabverkauf. Somit besteht im Prinzip kein Unterschied, ob die Ware am Kassenhäuschen als eine Punkplatte oder eine Trockenhaube ankommt. Verstehst du, die wollen gar nicht wirklich Scheiße bauen. Die wollen ihr Zeug einfach nur möglichst teuer verscherbeln. Und das klappt deshalb so prima, weil ein nicht unerheblicher Teil ihrer beglückten Kundschaft sich ganz freiwillig als Käufer von Verarsche-Produkten degradieren lässt. Weil sie das wahnsinnig originell finden, es geblickt zu haben, Teil des Verarsche-Vorgangs zu sein. Und am Ende kommen sich die dadurch sehr erfolgreichen Scheißeverkaufs192 Geschäftsleute besonders pfiffig vor und brüsten sich damit, dass sie noch aus der allerletzten Scheiße Gold machen können.« Kitty against Kitty, Königin der bestechenden Marktanalyse. Tommi war mal wieder beeindruckt. Eine Zeitlang traf er sich fast jeden Tag mit Kitty. Beinahe so oft wie früher in Bimmelsdorf. Lief er ihr gar hinterher? Eines ließ sich nicht leugnen: Kitty brachte ihn weiter. Insgesamt. Sie hatte einen guten, urbanen Erfahrungsvorsprung und kannte ganz erstaunlich viele Leute. Er brauchte sich also nur dranhängen, um ordentlich rumzukommen. Und das tat er viel. Auf einer Party fragte ihn schließlich jemand, ob Kitty seine Freundin sei. Damit hatte er nicht gerechnet. Die Frage überraschte und verstörte ihn derart, dass er ihr noch am selben Abend, ohne einen Grund zu nennen, eröffnete, sich bitte mal für eine Weile nicht zu treffen. Sie nahm das ungerührt. Fragte nicht nach. Tommi fand Kitty super. Außerdem sah sie ganz toll aus. Sie war insgesamt glockenhell. Ganz klar und erkennbar. Und doch mit vielen konträren Farben. Wenn sie beide zusammen waren, begannen sie zu klingeln, das war offensichtlich. Sie musste ihn auch mögen, sonst würde sie nicht so viel mit ihm unternehmen. Doch trotz aller Übereinkunft schien bei beiden eine physische Anziehung, ein weiterführendes Begehren, nicht einzusetzen. In der folgenden Kitty-Abstinenz geriet Tommi in eine richtige Krise. Eine Art Liebeskummer, ohne körperlichen Verlust. Leider fand er in den vielen Stunden und Tagen des unruhigen Grübelns keine gute Erklärung für das zunehmende Vakuumgefühl. Genauso wenig gelang es ihm, seine 193 Beziehung zu Kitty zu beschreiben. Sie meldete sich gar nicht – und irgendwann gab Tommi auf. Er verabredete sich ganz einfach wieder mit ihr, wenn auch wesentlich seltener. Das heftige Gefühl, jemanden zu vermissen, vergaß er aber nie wieder, und er glaubte, etwas Wesentliches gelernt zu haben: Die Sehnsucht nach einer Person, der man, aus welchen Gründen auch immer, nicht nahe sein kann, spricht eine große Urangst an. Es ist ein grundexistentieller Verzicht, der nicht auszuhalten ist. Menschenentbehrungskummer ist Ausdruck von vollkommenem, unkontrollierbarem Versagen und somit noch viel schlimmer als ein verschossener Elfmeter im Alter von neun Jahren, eine nicht so gelungene Platte mit der Band oder eine verhauene Theaterpremiere. Außerdem fand er in der Zeit, in der Kitty so fehlte, heraus, dass besonders Männer ihm nicht helfen konnten, wenn er versuchte, sich ganz klassisch bei ihnen auszuheulen. Tommi begriff dabei etwas über die Tiefe der maskulinen Verbindungen. Diese Weggefährten waren zwar für die meisten nennenswerten Ereignisse in seinem Leben unentbehrliche Gegenüber, Beschleuniger und wertvolle Spiegel. In Verschränkungen mit weiblichen Geistern konnte er aber gelöster freidrehen. Männer sind Krieger. Sie kämpfen gemeinsam und gegeneinander. In der Kunst ganz besonders. Das ist gewollt. Die starke Liebe, die sie trotzdem untereinander empfinden können und dann wirklich für immer in sich tragen, ist die Erinnerung an die eigene und an die gemeinsame Stärke in den bestandenen Abenteuern – mit oder gegen die anderen starken Krieger. 194 Die Welt bleibt weiter archaisch. Oder war es nur so, dass sich Tommis Empfindungen auch nur besonders banal männlich zeigten? Jedenfalls erträgt er die Männchen ganz allgemein immer weniger. Zu durchschaubar erscheinen ihm ihre Spielchen – gerade auf den Bühnen. In der Popkultur erwiesen sich die ganzen zappelnden und sich umso öder anwanzenden Schwänzchen aus Tommis Sicht als besonders abscheulich. Nirgendwo sonst wird so unanständig platt gegockelt und gebalzt wie vor, neben und auf den sich angeblich gelöst ausdrückenden Rockbühnen dieser Welt. Es waren und sind eingezwängte Eiertiere, die in peinlichster Manier gegen und unter sich alles klarmachen. Und es stimmt auch weiterhin keinesfalls, dass Frauen ihren Werdegang im Popbusiness selbst bestimmen können – was vielerorts behauptet wird. Genauso wenig, wie sie dort sogenannten verdienten Erfolg haben können. Im besten Fall schaffen sie es – fast immer unter Zuhilfenahme eines streng disziplinierten Körpereinsatzes –, sich clever zu vermarkten. Natürlich gibt es Ausnahmen. Im Zentrum aber stehen weiterhin die sich wieder-, wiederund wiederholenden Mackerveitstänze, bei denen jene am weitesten kommen, die am ungeniertesten brummkreiseln. Der Rest sind schlichte Rahmung, Garnitur, Wasserträgerei, Speichelleckerei, Geschäftstalk oder in geschmacklosen Plattenfirmenräumen schmorendes Gelaber von verhinderten Musik-Stalkern, die angeblich auch mal in einer Band Bass gespielt haben. Früher. Viele von ihnen sind nur darin progressiv, vom Schreibtisch aus anzuleiern, welche ihrer Schäfchen – auch Signings genannt – mal so richtig geil geremixt werden könnten. Weil sie gerade 195 keine Ideen haben für eine neue Platte. Die Ergebnisse lassen sich in allabendlichen Geschäftsessen bekakeln, mit denen sie die – ihrer Meinung nach angesagten – Szenerestaurants verstopfen. Der Rest ist meet and greet auf Reklame-Konzerten, traurigen Glotzpräsentationen, die man »Showcases« nennt. Die Jahreshöhepunkte sind die zahlreichen Vertreter-Sauftreffen auf Fachmessen und Genre-Festivals. Sich treiben lassen im »Biz«. Die »Acts«. Die »Mags«. Die »Sites«. Hunderte von ihnen zugeklebte Promotion-«Channels«. Mit mehr oder weniger Gehör. Mit dem einzigen Ziel, aus der allerletzten Scheiße ein paar Stäubchen Gold zu generieren. Sexy Reibach. Kaufen ist geil. Hauptsache, ihr habt Spaß. Egal, ob im Bau- oder auf dem »Media«-markt. Gerti, der Luxustransvestit aus dem Berlin der zwanziger Jahre In der sogenannten Hochkultur, in den Opern und Theatern, verhält es sich mit der Dominanz des Männleins kaum anders. Manchmal ist es dort sogar noch schlimmer. Das geschlechtertypische Auftreten ist dort deshalb noch verdrängender, da die Versagensängste noch größer sind als auf den Rockbühnen: Die Ausführenden schustern einfach nicht so unbekümmert drauflos. Denn obwohl die Gelder als sogenannte Staatsknete gesichert angereicht werden, ist deren Verteilung von den ständig nach positiven Beweisen heischenden Programmgestaltern abhängig. Dabei drängen die öffentlichen Resonanzen oder die Platzauslastungszahlen immer heftiger. Politik und Wirtschaft fordern mehr Einfluss für ihre Gaben. Die Luft wird dünner, die Risikobereitschaft geringer. Ängstliches Theater produziert bei so manchem künstlerischen Leiter, Ge197 schäftsführer, Regisseur oder Schauspieler Mutlosigkeit. Bei vielen anderen sicherheitsverliebte Dominanz. Trotzdem. Tommi liebt die Möglichkeiten dort. In den Häusern, die wunderbare factories sein können, multifunktionale Werkstatt- und Bühnenorte. Begegnungsstätten mit Reibung. Experimenten. Denken. Fragen. Er schätzt die unentwegte, hysterische Wallung für das Begehren um Gegenliebe. Tommi empfindet keine Angst im Theater. Schon gar nicht auf der Bühne. Auch wenn der Live-Moment immer wieder aufregend ist. Anekdoten über Theaterereignisse machen zwar wenig Freude, funktionieren allerdings ganz ordentlich in den Kantinen. Wenn denn die Großschauspieler genügend Riesling bekommen haben. Nie vergessen wird Tommi seine erste Produktion, bei der es um die Risiken von radikalem Sprachgebrauch in der Öffentlichkeit ging. Die Schauspieler wollten ihn zu Beginn ein bisschen austesten, indem sie ihn spöttisch immer nur »Mein Chefchen« nannten. Wahrscheinlich weil sie hofften, dass ihnen jemand sagt, was sie tun sollen. Nach ein paar Tagen bestand er darauf – für seine Verhältnisse ungewöhnlich streng –, von allen in der Produktion ab sofort nur noch »Gerti, der Luxustransvestit aus dem Berlin der zwanziger Jahre« genannt zu werden. Immer sauber den vollen Titel. Seine Stellung war somit spielerisch entwertet. Das nervte und funktionierte. Leider schaffte er es nicht, diesen Vorgang in die Aufführung zu übernehmen, was dem Stück sicher gutgetan hätte. So wurde das ganze Projekt eher so la la. Vielleicht hing das auch damit zusammen, dass man das im Text häufig verwendete Wörtchen »Ficken« und alle anderen 70 Begriffe 198 für die Beschreibung ein und derselben Übung nicht nur auf einer Theaterbühne eher zu oft als zu selten gehört hatte. Tommi nahm sich danach vor, seine Themen nur noch aktuellen Entwicklungen oder der tiefen Vergangenheit zu entnehmen. Am heftigsten aber blieben ihm die Kritiken zu seinem ersten Theaterversuch in Erinnerung. Wahrscheinlich, weil sie ihn so völlig ungewarnt überraschten. Tommi from Germany hatte einfach nicht gewusst, was das ist: Theaterkritiken. Und dass nach seinem kleinen Stück, das lediglich auf der Probebühne des Städtischen Schauspielhauses stattfand, nicht nur die regionale Presse, sondern sämtliche landesweit erscheinenden Zeitungen große Artikel bringen würden, das konnte er kaum ahnen. Die Rezensenten nahmen es möglicherweise deshalb besonders ernst mit ihm, weil ein Genre-Greenhorn in ihrem Metier wilderte, in dem bis dahin – zumindest aus Tommis Richtung kommend – noch recht wenig herumgekreuzt worden war. Zwei Tage nach dem Abend der Uraufführung saß er, noch geschwächt von der Premierenfeier, in einem Flugzeug nach Süddeutschland, als er miterleben musste, wie nach und nach nicht wenige Passagiere Tageszeitungen hochhielten, in denen sein Stück vernichtend wegverhandelt wurde. »Graues Meer aus Langeweile« oder »Ach, wärst du doch im Club mit dem besonderen Tier geblieben«, lauteten die Schlagzeilen zu groß abgedruckten Spielszenenfotos. Ein Desaster. Wieder auf dem Boden, schlich Tommi ganz benommen aus der Maschine, in der er sich den gesamten Flug über wie in einer Backröhre vorgekommen war. Zum Glück spielte ihm noch am selben 199 Tag das Theater die anderen, besseren, Rezensionen zu. Dort war man sowieso eher unaufgeregt und insgesamt sogar zufrieden mit den Reaktionen. Eine kontroverse Resonanz über ein Stück sei keineswegs ein Misserfolg. Im Laufe der Jahre hat Tommi in den schriftlichen Nachträgen oder Ankündigungen zu seinen Versuchen in der darstellenden Kunst alles zwischen gefordertem Berufsverbot und der Bescheinigung von überragender Klugheit über sich selbst erfahren. Er lernte, mit diesen Dingen umzugehen. Anders als viele seiner Kollegen liest er die Rezensionen und macht daraus etwas für sich. Immer noch schwer erträgt er es allerdings, die eigenen Premieren anzuschauen. Das fällt wohl deshalb so schwer, weil man miterleben muss, nichts mehr ändern zu können. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass Tommi in seinen eigenen Stücken am liebsten selbst mitspielt. 200 Unser Haus ist aus Blei »Weißt du Tommi, du kannst einfach keine Geschichten erzählen. Beziehungsweise, du willst keine erzählen. Immer muss das Konzept vorn stehen. Deine Sachen handeln zwar von Erlebnissen mit Empfindungen, aber eigentlich dürfen deine Charaktere immer nur Symbole von Erlebnissen und dann meist auch noch ohne Empfindungen sein. Die Menschen dahinter scheinen dir egal zu sein.« Tommi war ganz betrübt über diese Aussage. Wie eine Angst schoss Kittys Einschätzung in seinen Körper. Meinte sie damit, dass er seine Protagonisten kalt ausnutzte? Wurden sie von ihm für seine persönliche Meinung oder Moral missbraucht? Für seine Beschwerde? Die er sonst nicht imstande war auszudrücken? War er ein Täuscher, der das Prinzip der Täuschung nur als Ablenkungsmanöver anwendete? Meinte sie damit Figuren wie die Frau mit der »Thatcher-Illusion«, die immer mit einer Brille herumlief, 201 auf der ihre abfotografierten Augen umgekehrt aufgeklebt waren, und die obendrein noch einen umgedrehten Mund hatte? Waren es solche Bilder, die ein echtes Empfinden zwangsläufig verhinderten? Hm. Tommi brauchte eine ganze Weile, um auf Kittys Kritik eine Antwort zusammenzuschrauben: »Ich erzähle deshalb keine sauberen Geschichten mit sauberen Figuren, weil das nicht modern wäre«, verkündete er ihr mit betont schlauem Gesichtsausdruck. »Ich kann heute keine langen Storys zwischen Ausgangspunkt A und Endpunkt B glaubwürdig durchbringen, weil mir dazwischen längst Herr C oder Frau D eine gescheuert hätten.« Kitty musste schmunzeln. Dann streichelte sie ihm ganz zärtlich über den Kopf. »Manchmal denke ich, du bist selbst eine dieser Stimmen aus deinen Texten«, sagte sie, »so wie in dieser einen Zeile mit dem Herzkranken, der zu wenig Gemüse gegessen hat.« Dann begann sie, tiefer zu bohren: »Könnte es sein, dass du auch deshalb so auffällig unpsychologisch beschreibst, weil du keine Romane aushältst, sondern nur Sachbücher?« Was war das jetzt? Obwohl Tommi es sich nicht eingestehen wollte, war da etwas Wahres dran. Nach den frühjugendlichen Karl-MayLeseerlebnissen hatte er kaum mehr als zehn wirkliche Erzählungen in die Hand genommen. Krimis inklusive. »Verstehst du, Kitty, ein heutiges Leben besteht aus Konfettifetzen, die zu einem Flickenteppich vereint ein für den Einzelnen kaum mehr zu überschauendes Bild ergeben. Wie soll man ein solches Dasein angemessen wiedergeben? Deshalb verfasse ich lieber in Zuständen und Farben als in Menschlichkeiten.« Darauf erwiderte Kitty nichts – und 202 Tommi spürte, dass er mit seinen Verteidigungen übers Ziel hinausgeschossen war. Immer musste er alles zu Tode argumentieren. Bis nichts mehr übrig blieb. Ein paar Tage später fand Kitty einen absenderlosen, handschriftlich verfassten Brief, der unter ihrer Haustür hindurchgeschoben worden war. Sie erkannte Tommis Handschrift sofort. Für Kitty Nichts ist zu hören. Nur leises Blubbern. Ich müsste jetzt bereits etliche Meter unter der Wasseroberfläche sein. Etwas berührt meine Füße. Wie ein nasser Malerquast fühlt sich das an, wie das Auftreffen langer, weicher Borsten auf getrocknete Farbe. Eindeutig ein stofflicher Zustand. Aus grüngrauem Gefühl. Was ist das nur, da bei meinen Füßen? Auf einmal weiß ich es. Das ist eindeutig Seegras. Ich hatte es nur nicht so nah am Strand vermutet, weil alles nur puderweißer Sand gewesen war, als ich ins Meer ging. Zumindest so lange, bis ich nicht mehr stehen konnte. Bis weit hinter die 200-Meter-Boje war ich geschwommen. Sie markiert eine Grenze, welche die Schwimmzone der Badegäste vom offenen Meer, von der Berufsschifffahrt trennt. Von dort an schwimmen alle auf eigene Verantwortung. Die Ostsee ist an dieser Stelle tief genug, um zehnmal darin zu ertrinken. Ich weiß nicht mehr, ob ich das noch wirklich denke oder nur noch träume. Mein Kopf spürt den Wasserdruck. Ich sehe dich vor mir. Du bist zurückgewichen und hast einen flapsigen Spruch gebracht, gestern, als wir uns trafen, auf dem Marktplatz. Keine Ahnung, was mich geritten hat, dass ich mich traute, dich zu berühren. Alle haben es gesehen. Ist aber nichts Schlechtes bei dir hängengeblieben – hoffe ich. 203 Trotzdem fühlte sich das heute Morgen so an, als wäre ich dir gegenüber übergriffig gewesen. Du hast mir ja später noch einen Kuss auf die Wange gegeben. Süße Revanche? Ich verstehe dich manchmal nicht. Aber das liegt an mir. Dein Kuss hat nach Essig gerochen. Du bist nicht der Grund dafür, dass ich jetzt versuche, unter Wasser zu tauchen. So tief hinab, dass ich es nicht mehr schaffen werde, rechtzeitig an die Luft zurückzukehren. Ich wünsche den Tod. Ganz fest. Aber es will nicht gelingen. Weil es nicht so passiert, wie ich es mir vorgestellt habe. Nichts hier ist ruhig und feierlich. Und obwohl ich die Berührung mit Seegras gut kenne, bin ich jetzt gestört von ihr. Außerdem höre ich ganz deutlich Maschinengeräusche. Wahrscheinlich vom Bäderschiff »Seelöwe« oder vom »Hanseat II«. Proppenvoll mit gut gelaunten Touristen. Sssss … Ssssss … macht die Schiffsschraube. Ganz hoch, wie eine Grille tönt das. Du hast mal gesagt, dass deine Großmutter das Zirpen der Grillen nicht mehr hören kann, weil bei älteren Menschen die hohen Frequenzen nach und nach abbauen. Die Trommelfelle geben nach. Ganz allein wegen MIR bin ich jetzt hier unten. MICH will ich ein für alle Mal loswerden. Es kann kein Leben geben, wo ein Leben keine Luft holen kann. Hörst du mich denn nicht? Das ist es, was ich dir eigentlich sagen wollte, Kitty. Aus Blei ist die Welt und aus Blei sind wir. Und unser ganzes, gemeinsames Haus ist es auch. Plötzlich höre ich einen schrecklichen Schrei. Es ist mein eigener. Ich wache auf. Brauche eine Weile. Ich beschließe, dass ich es euch auf keinen Fall einfacher machen werde. Bei dir möchte ich mich entschuldigen. Für neulich. 204 Als Tommi Kitty das nächste Mal traf, wirkte sie wie immer. Er glaubte schon, sie würde keine Reaktion zeigen. Doch bevor sie sich wieder trennten, sagte sie ihm, dass sie sich über seinen Brief gefreut habe und dass sie froh darüber sei, einen Freund wie ihn zu haben. Wegen des Bleis auf dem Leben, das auch er nicht verleugnete. Und auch wenn sie es unterschiedlich trugen, sie erkannten einander dabei trotzdem immer wieder. Und das fühlte sich nach Teilen an. Tommi war schwer gerührt. Er merkte, wie selten so etwas vorkam, ein offenes Sich-schätzen-Können. Erging das allen so? Er fand keine Antwort. Immerhin fühlte er sich wieder sicherer in seiner Beziehung zu Kitty. Und Beziehungen – ganz im Allgemeinen – waren nicht gerade Tommis sicherstes Gebiet. Bevor Kitty wieder ging, erzählte er ihr eine Geschichte, die er mit Doktor Onkel erlebt hatte. Und zwar waren sie beide in einer fortgeschrittenen Nacht mit zwei Damen nach Hause gegangen, die eine gemeinsame Wohnung unterhielten. Gutes Trinken, besseres Quatschen und luftiges Lachen in Lokalen waren dem vorausgegangen. In den privaten Räumen aber schafften es die beiden Frauen, Tommi und Doktor Onkel – der sich an diesem Abend wieder mal Onkel Doktor genannt hatte – auf ihre jeweiligen Zimmer zu verteilen. Ganz schnell passierte das. Offensichtlich sollte hier etwas Sexuelles in Gang kommen. Vielleicht hatten alle Beteiligten sowieso daran gedacht. Wegen einer baulichen Besonderheit konnte Tommi Doktor Onkel quer über den langen Wohnungsflur auf dem Bett seiner ihn ausgewählt Habenden sehen. Es war ganz still. Die beiden Frauen waren im Bad. Tommi und Doktor Onkel sahen 205 sich an. Sie erkannten sich. Und ohne weitere Absprache schlichen sie, so schnell es ging, durch die Haustür. Raus aus der Situation. Separat. Ganz piefig. Jeder für sich und ab nach Hause. Aber irgendwie auch mit einer schönen, weil geteilten Belastung. Zurück unter U-Booten Jeden Morgen sammelt Tommi seine Informationen zusammen. Um sich einen eigenen, täglichen Info-Brei aus all den unendlichen Humanergüssen anzurühren. Radio. TV. Print. Digital. Eines Tages beschrieb eine Zeitung im Kulturteil eine bestimmte Zeit. Bei dieser soll es sich um eine Art musikalische Übergangsphase gehandelt haben. Und zwar vergleichbar mit der Tommi gut bekannten Phase der Neuen Welle der späten 70er und frühen 80er Jahre. Eine kurze, heftige Wirkung, dann verglühte sie im Verkaufssystem. Die Zeitung stellte nun die Frage, was denn seitdem jemals wieder eine solche Irritation erreicht habe. Die fatalistische Generation »Grunge« (Schmuddel) vielleicht? In dem Artikel ging es schließlich um »Hard core« und das damit verbundene Leben, das radikal korrekt, nüchtern im Wortsinne und dadurch mit klarer Kante geführt werden sollte. Das wolle wohl schon der Name. 207 Frei von sündigem Rock ’n’ Roll – sofern es geht. Gegen Dekadenz und Nachlässigkeit, möglichst clean gegen jedes dreckige Mitmachen. Kein Fleisch. Keine Drogen. Nein heißt Nein. Hart sein. Wilde Konzerte. Wilde Optik. Schweiß, der nicht nach Schweiß schwitzt. Unblutig. Aber heiß und physisch voll da für den »Hardcore«. Die Zeitung kam zu dem Schluss, dass »Hardcore« unbedingt jugendlich sein müsse. Und dass die früheren Protagonisten heute im besten Fall besonnene, sich in Biomärkten gut auskennende Erziehungsberechtigte seien. Die allerglaubwürdigsten unter ihnen würden dabei am besten gar nichts über die Dinge erzählen, die ihre »Hardcore«-Historie betreffen, weil das schwelgerisch wäre. Irgendwann sei ihr Ansatz eben ausgeschwärmt. Nun seien sie wieder zu Hause und würden immerhin etwas in sich tragen, was ihr Leben einmal »komplett verändert« habe. So ähnlich hat das die Zeitung erklärt. Tommi stellte sich vor, wie die hier gemeinten, überzeugten Veganer heute ihren »straight edge«-erzogenen Sprösslingen auf dem Weihnachtsmarkt der einstigen »Hardcore«-Hochburg Washington D. C. einen Bratwurst-Kauf moralisch begründet verweigern würden. Schwierig. Wie lässt sich zurückkehren an die Orte, die ihre Wirkung aufgegeben haben? Letzten Sommer ist Tommi selbst mal wieder eine Weile zurückgekehrt. Nach Bimmelsdorf. Dort besuchte er eines der vielen Buschfeste, die in der ländlichen Region um die Seebäder Bimmelsdorf, Scharbe und Haffke herum recht beliebt sind. Eigentlich eine Veranstaltung, die in seiner Erinnerung immer so etwas wie giftiger Boden war, also zu 208 jenen Ereignissen zählte, die als super-toxisch-obergefährlich einzustufen waren. Weil Menschen wie Tommi dort gehörig auf die Zwölf bekamen, wegen super-ober-unerwünscht. Tatsächlich passierte dann erst mal gar nichts. Im Gegenteil. Der Empfang schien nicht unherzlich. Was war anders? Schützte ihn sein gegenwärtig beruhigtes Gesicht, sein gedecktes Gewand oder seine Haltung, die so unaufgezogen wirkte, dass sie wahrscheinlich nicht einmal mehr bei echtem Alarm angreifen oder weglaufen würde – oder auch nicht wirklich könnte? Er schien unter irgendeinem unsichtbaren Protektorat zu stehen, und deshalb erlaubte er sich sogleich die ungewohnt angstfreie Zuführung mehrerer U-Boote am Stand der Freiwilligen Feuerwehr. Hierbei wird ein 4-cl-Doppelkornglas in einem 0,5-Liter-Bierkrug versenkt. Solche U- Boote sind auf den Buschfesten der Renner. Tommi erkämpfte sich so etwas wie eine kleine Zugehörigkeit. Die Gespräche waren unterhaltsam. Schön direkt und gar nicht unfreundlich. War das jetzt die berühmte Altersmilde, auf die er schon länger – und trotz aller damit einhergehenden Ermüdungsschmerzen – ein klein wenig neugierig war? Bevor er abschließend darüber nachdenken konnte, rückten sich die Verhältnisse wieder zurecht. Einer der Feiernden hatte Tommi erkannt. »Aus geilen, alten, voll fertigen Zeiten«, wie er sich ausdrückte. Er fand es einerseits zwar – und durchaus noch positiv gemeint – »so richtig schwul«, dass »wir beiden Spasten noch mal gemeinsam an einem Tresen saufen« würden, ließ in der weiteren Entwicklung des Abends aber keinen Zweifel daran, dass »Horsti, Tommi oder scheißegal, wie du dich jetzt 209 nennst«, für ihn weiterhin einfach kein »ernstzunehmendes, vollwertiges Mitglied der Gesellschaft« sein könne, »mit deinen Radikalinski-Ansichten«. Tommi werde für ihn immer eine Art »Vormensch« bleiben, möge er sich noch so sehr »aufplustern« mit seinem »Wichtigtuergequatsche« und seinem »weltfremden Gutmenschentum«, in seinem »St. Pauli ist die einzige Möglichkeit-Getue« und dem dazugehörenden, träumerischen »linken Zeckenverständnis«. Denn »Kaulquappe bleibt nun mal Kaulquappe. Prost, du Arschloch.« Diese ehrliche Bewertung wurde dabei – ganz anders als früher – völlig unaggressiv ausgesprochen. Es folgte auch kein drohender Zusatz, der in der Vergangenheit zum Standard gehört hatte. Trotzdem. Als wäre kein Tag vergangen. Die gleichen Ressentiments. Dieselben empfohlenen Maßnahmen. Keine pauschale Intoleranz, aber deutliche Nichtbereitschaft für jedwede Öffnung. Ewig Gestrige, dachte Tommi als er sein Glas noch einmal anstieß. Bloß keine Ruhestörung durch andere. Ganz egal, ob damit die Faulen, die Unordentlichen oder die Andersgläubigen gemeint sind. Wir sind das Volk. Und das sind wir nur dann, wenn wir unter uns bleiben. Beim späteren Bezahlen gab die herzhafte Dame hinter dem Tresen Tommi das Wechselgeld mit den Worten zurück: »Ihr Trinkgeld heben Sie sich mal für schlechtere Zeiten auf, junger Mann.« In den nächsten Tagen war das alles betäubende Bimmelsdorfer Bleigefühl wieder voll da. Wie ein Tinitus. Tommi empfand stumpfe Wut. Mit seinem alten Freund Morten, einem der wenigen unverdrossenen Dagebliebe210 nen, spann er den Plan, am Abschlussabend des Buschfestes möglichst viele Kaulquappen, die zuhauf im moorigen Süßwassersee landeinwärts vorkamen, in Jacken und Handtaschen der Festbesucher zu platzieren. Zusätzlich wollten sie die ganze Szenerie verräuchern, um zu zeigen, wie einnebelnd sie alle wirkten. Mit einem Autoreifenbrand wäre das leicht zu machen. Doch noch während sie den Plan ausheckten und präzisierten, schwand die Lust an der Ausführung. Obwohl Tommi keineswegs ein abgemildertes Verständnis für die erlebte Rhetorik aufbrachte, kam ihm die angedachte Maßnahme irgendwie platt und müde vor. Morten empfand ähnlich. Bevor sie sich trennten, ohne ihre Pläne zu Ende besprochen zu haben, sagte Morten nachdenklich, irgendwie feierlich zu Tommi: »Es stimmt schon, was ihr da in einem eurer Songs behauptet: Die Bullen kann man auch nicht mehr so hassen wie früher. Das liegt aber nicht daran, dass die oder wir besser oder schlechter geworden sind.« Dann trat Morten plötzlich ganz nah an Tommi heran, nahm seine Hand und drückte ein zusammengeknülltes Papier hinein. »Hier, lies doch mal. Du bist doch so ein Textmensch. Aber bitte erst, wenn du wieder in der Stadt bist.« So hielt Tommi es. Auf Mortens Zettel war ein kurzes Gedicht geschrieben. Die Menschen / Die Menschen, die sich beneiden Die Menschen / Die Menschen, die sich angreifen Die Menschen / Die Menschen, die sich verletzen Die Menschen / Die Menschen, die sich nicht aushalten Die Menschen, die sich überall und ständig anfassen Ohne sich dabei zu berühren 211 Bekloppte wollen Bekloppte Tommi hat das Gedicht richtig bewegt. Vor allem, weil der meist sehr verschlossene Morten es geschrieben und es ihm so schüchtern zugesteckt hatte. Auf dem kleinen Zettel. Noch am selben Abend haben die beiden länger telefoniert, was wirklich nur ganz selten vorkam, denn Telefonieren war nicht ihre Stärke. Beide werden immer nervös dabei. Diesmal ging es aber ganz gut. Anfangs. Nachdem Tommi Morten gesagt hatte, dass ihm sein Gedicht gefallen habe, drehte dieser richtig auf. Seine folgende, atemlos vorgetragene Schimpftirade brüllte er so heftig ins Telefon, dass Tommi den Hörer ein Stück vom Ohr weghalten musste. Nichts anderes als ein Tötungsversuch sei das Miteinander der Menschen aus seiner Sicht, schrie Morten. Ein nicht offen ausgeführter obendrein. Wenn diese ganzen Kriegswilligen wenigstens zugeben würden, dass sie sich in einer Tour aufs Brutalste angehen. Denn 213 genau diese Unfähigkeit zum Eingeständnis sei der Grund für eine alles betäubende Waberwelt, in die man sich deshalb nur noch hineinsumpfen lassen könne, weil es nichts mehr zum Greifen darin gäbe. Ihm, Morten, sei das schon lange klar, und er habe sich deshalb schon vor Jahrzehnten angewöhnt, als ein Gespenst, als ein Avatar seiner selbst durch die Welt zu laufen. Und so ein Dasein als Scheinfigur würde ihm insofern helfen, als er nun mit einer guten Distanz zum scheinbar salonfähigen Horror ausgestattet sei. Das sei aber auch bitter nötig, um nicht vollständig in einem Meer aus epischer Panik unterzugehen, wo nur noch solche Meldungen und Meinungen durchgelassen würden, die den höchsten Grad an Angst und Schrecken und eine unaufhörliche Dauerkrisenzustandsbehauptung beinhalten würden. Er sei somit geradezu dazu gezwungen, ein vollständiges Simulantendasein zu führen. Denn, so Morten fest überzeugt, Simulation sei das Einzige, was wir heute noch leben können. Der Rest, »Tommi, bitte glaube mir das«, sei künstliches Eventspektakel für überteuertes Eintrittsgeld in einer genormten Scheinwelt, in der alles, was es mal zu entdecken gab, längst verschwunden oder vor aller Augen ersetzt worden ist, also auch das, was wir einmal waren oder glaubten gewesen zu sein. Auch sei die Abbildung der Wirklichkeit heute größer als die Wirklichkeit selbst. Deshalb hätten wir uns freiwillig abgeschafft – überall. So ähnlich wie jene bedauernswerten Helferlein vor den neuen Selfservice-Kassen im Supermarkt oder sonst wo, die mit ihrer netten Kunden-Beratung ihren eigenen Sarg erklären würden. Diese Abschaffungs-Einschätzung gelte im Übrigen für alle Geheimnisse des Planeten. Auch, 214 weil er bereits vollständig durchleuchtet sei. Und als Mittel gegen diese Universal-Auflösungen brauche er seine Gespenst-Existenz. Ihm jedenfalls gehe es ein Stück besser, seit er sich als »Negativa Zero«, so sein selbstgewählter Avatar-Name, durch das vollständig ausgetauschte Bimmelsdorf bewege. Weil er die dortigen Bürger, welche die eigentlichen Zombies seien, dadurch ganz gut irritieren könne, wenn er sich immer ein Stückchen seltsam, gespensterhaft geben würde. Und dann erzählte Morten noch eine Anekdote, bei der er sich nahezu sicher war, dass der Künstler Salvador Dalí sie so oder so ähnlich aus seiner eigenen Jugendzeit berichtet haben könnte. Und zwar sei schon der junge Dalí auf den Trichter gekommen, dass man seine Umgebung irritieren müsse, um am Ende in Ruhe gelassen zu werden. Deshalb testete er schon als Kind allerlei Verstörungen aus. Einmal soll er dabei – so Mortens Überlieferung – in Anwesenheit seiner halben Familie absichtlich eine Kellertreppe heruntergestürzt sein, um sich öffentlich zu verletzen. Ein anderes Mal habe er seinen Kopf auf dem Hausdach seiner Eltern in einen vollen Eimer mit Wasser getaucht und dann von dem Dach herab immer wieder laut gerufen, dass er für den Rest seines Lebens ein Negativ-U-Boot bleiben würde. Nach dieser Beschreibung, die Morten fast kreischend vorgetragen hatte, begann er zu lachen wie ein kleines Kind, und Tommi glaubte durch das Telefon hören zu können, dass er dabei gleichzeitig schluchzte. Vielleicht, weil er sich dem bereits verstorbenen Dalí in diesem Moment so nah fühlte. Immerhin schien Morten mit seiner Parallelwelt- 215 Methode etwas wirklich Funktionierendes für sich gefunden zu haben. Nur gab es bis jetzt noch keine Partner für seine Fluchtumgebung. Überhaupt schien er alles ganz allein zu machen, da oben in Bimmelsdorf. Die einzige wirkliche Bezugsperson sei seine Psychotherapeutin, so Morten. Und dann erzählte er, wieder etwas zur Ruhe gekommen, dass er seit langem schon keine feste Freundin mehr habe. Dafür aber eine ganze Menge Damen – wenn auch »nur in aller Kürze wahrgenommen«. Diese seien ihm natürlich nicht in der normalen Öffentlichkeit begegnet. Stattdessen hätte er sich, weil er nun mal sehr gut beobachten könne, ein ganz einfaches Naturgesetz zunutze gemacht. »Wo finden sich Menschen ein, die mit Gestörten wie mir eine Schnittmenge bilden?«, fragte er Tommi. Der hatte keine Idee. Die Antwort sei ganz einfach, sagte Morten. »Bekloppte wollen Bekloppte.« Es stellte sich heraus, dass er seiner Beute vor einer Psychologischen Gemeinschaftspraxis auflauerte, die sich in der nahe gelegenen Kreisstadt Eute befand. Denn, so der findige Liebeswerber weiter, man brauche an diesem außergewöhnlichen Ort überhaupt keine langen Bezirzereien aufzuführen, weil jene Damen ohnehin total geöffnet seien, wenn sie da von der Couch kämen. Er brauche sie nur noch auf einen Getreidekaffee einzuladen, um mit ihnen weiterzureden – sozusagen. Dann fügte Morten noch an, dass er bei erfolgreichen Tête-àTêtes auf keinen Fall weiterführend insistieren würde, was ihm eisernes Gebot sei, weil – und das sähen die meisten seiner Psychoeroberungen im Übrigen genauso – man zwar mit gesunden Körpern spielen dürfe, aber niemals mit kaputten Köpfen. 216 Auf jeden Fall würde – und nur wegen der Psychotherapiesache – wenigstens das mit dem anderen Geschlecht ganz gut bei ihm laufen. Ansonsten ginge rein gar nichts. Vielmehr sei er nach seiner Selbsteinschätzung menschlich, politisch und empathisch ein reines Nullwesen. Früher sei das anders gewesen. Morten erinnerte daran, wie sie gemeinsam die »Chamäleon-Taktik« angewandt hatten. Im Tennisclub. Immer wenn der Platzwart kam und sah, dass sie nicht das geforderte Weiß trugen, konnten sie ihre Kleidung einfach umdrehen, weil sie darauf geachtet hatten, dass die Innenfutter ihrer Sachen mindestens hell waren. Da war auch der »Shizzo-Suit«, ein zusammengenähtes Halb-und-halb-Outfit, bei dem man auf der einen Seite spießige Frisur, schickes Schuhwerk und feine Anzugteile trug, auf der anderen Seite zerrissene Jacke und Hose, kaputte Springerstiefel und mit Seife aufgestellte Haarspikes. Ein Wahnsinn sei das alles gewesen. Tommi spürte, dass ihn das Gespräch zunehmend deprimierte, und er erfand eine Ausrede, um möglichst schnell auflegen zu können. Er versprach aber, bald wieder mal rumzukommen in Bimmelsdorf um Morten in seinem selbst gewählten Eskapismus aufzusuchen. »Ja, ja, ist gut«, hatte Morten geantwortet, und Tommi bekam für den restlichen Abend ein schlechtes Gewissen, weil er beim Zuhören so wenig Geduld aufgebracht hatte. Und dann beschlich ihn ein Gedanke, der ihn ganz lange nicht mehr losließ, nämlich dass er ein ganz kalter Fisch sei. Dieses Kaltfischgefühl hielt mehrere Monate an, so dass er davon richtige Schlafstörungen bekam. Immer wenn Tommi ein Problem hatte, das sich nicht recht auflösen 217 wollte, dann konnte er irgendwann überhaupt nicht mehr schlafen. Am schlimmsten waren dabei diejenigen Sorgen, die ihn mit Schuldgefühlen quälten. Er schob das auf sein gestörtes Urvertrauen, also darauf, dass er tief in seinem Inneren leicht zu verunsichern war. Und dann lag er da, nachts, und grübelte und stellte sich vor, wie leicht es war, Menschen mit der Schlaffolter zu Leibe zu rücken. Man musste nur ordentlich an ihr Schuldempfinden appellieren. Dieser Gedanke blieb in ihm hängen, allein, weil ihm dadurch umso mehr auffiel, mit welchen Bergen von Schuld er beladen war. Gag-Depressionen (oder das endgültige Abdanken von Katenschinkenhaxen mit umhertanzenden Orchestersaxofonen) »Das kannst auch du«, hieß eine frühe, unabhängige Plattenfirma. Derartige Spitzenslogans sind bis heute geltendes Programm für Tommi. Beständig versucht er, sich daran zu erinnern und, soweit es möglich ist, danach zu leben und handeln. Nur: Wie lässt sich ein originelles Vorgehen attraktiv halten? Immer deutlicher musste er feststellen, dass ein ständiges frischhalten wollen die größte Plage bedeuten kann. Tommi erinnerte sich an die Treffen mit Doktor Onkel, bei denen sie sich gegenseitig die Bälle zugeworfen hatten: sich übertrumpften, berauscht in Erfindungsreichtum. In Doktor Onkels kleiner Wohnung. Nie ging es dabei um hochdotierte Aufträge. Nur um feine Störungen. Das Ju219 beln über die Pointen war Teil des Vorgangs. Gags. Jokes. Witzes: Plattes Zeugs gemischt mit gesellschaftsbeleidigenden Diskursmaterialien im Lustigsein. Völlige Ermattung, wenn es vorbei war. Gag-Depressionen nannten Doktor Onkel und Tommi diesen abstürzenden, schalen Moment nach dem Abgehen und dem Abatmen über die kurzzeitige Befreiung wegen eines augenscheinlich gelungenen Wörterangriffs. Sich vor Lachen in die Flaute biegen. Wo und wie das Erfundene an die Öffentlichkeit kam, stand an zweiter Stelle. Das Schönste war die Zeugung selbst. Bis die Gag-Depression erbarmungslos einsetzte. Wie eine Würgeschlage. Und sie würgte immer schneller. Doktor Onkel sagt dazu: »Jede Zeit hat ihre Art zu trinken. Wenn sie immer nur denselben Schnaps bestellt, wird sie irgendwann nicht mehr besoffen davon.« Getrunken wurde erst mal viel. Unterschiedliche Autoren aus dem Umfeld des Clubs mit dem besonderen Tier produzierten über die Jahre massenhafte, meist heftig überzeichnete Selbstbeschreibungen. Für Tourneeankündigungen, Schallplattentexte, Veranstaltungsplakate, Theater- und Filmvorschauen. Auch viele politische Statements waren dabei. Das meiste wurde eher indirekt über Bande gespielt. Für lange Zeit war das sehr befreiend. Auch über das rein text- und bildsprachliche Behaupten hinaus entstand eine große Palette. Dabei ließ sich allerlei hochexperimentelles Programm nicht nur für den Club gestalten. Es konnten Musikclips produziert, irgendwann sogar Fernsehformate ausprobiert werden. Tommi, Doktor Onkel und verwandt Werkelnde wilderten in allen Formaten. Dadaistische Episodenvideospots, pseudoreale Waffendo220 kumentationen, Kunst-Sex-Performances mit schwitzenden Katenschinkenhaxen und um sie herumtanzenden Orchestersaxofonen. Sie protestierten als Bauhelm-tragende Investorenfiguren gegen Stadtteilausverkäufe in alternativen Gegenden – einen später als Gentrifizierung berüchtigt gewordenen Vorgang. Es entstanden melancholische Persiflagen auf Radioquoten, aufgenommen auf den höchsten Gipfeln der Alpen; sie debütierten als Flatrate-saufende Moderatoren und TV-Pioniere in nächtlichen, acht Stunden währenden Dauerfernsehstrecken; es entstanden konträre, teils theorielastige Diskurs-Kongresse und Verschnitte von großangelegten falschen Tanzgalaabenden an richtigen Schauspielhäusern mit nervig gemeinten, riesigen Hüpfburg-Schaumpartyseifenblasen. Je mehr sich verwirklichen ließ, je größer die Auswirkungen – desto kräftiger muffelte die eigene Methode. Tommi kam sich zunehmend vor, als würde er den Kapitalismus bekämpfen und im selben Moment einen fetzigen Reklamesong für die begleitende Werbekampagne erfinden. Zu vieles landete zu gewollt unten und oben gleichzeitig. Auch hatte sich eine Überverwertung eingeschlichen. Und andere klauten bereits wie die Raben. Plakative Überschriften zu Konzertreisen seiner und befreundeter Bands gegen die Pogrome der frühen 90er fanden sich als hippe T-Shirt-Sprüche in beachtlicher Auflage an Meinungsträgerbrüsten wieder. Pop und Politik? Underground gleich Museum? Protest und Produkt? Markentauglich. Allgegenwärtig. Wadenbeintotenköpfig. Hooliganturnschuhkultmarkig. Coole schwarze Fahne, weiße Islamischer-Staat-Schrift. 221 Tommi ist nicht stolz auf seinen Bühnenknaller »Stalin, das brutalste Musical aller Zeiten«, oder seine RAFFashion-Tanzeinlage aus einem Stück, das sich mit neoliberalen Weltmarkenketten auseinandergesetzt hatte. Eine Zeitlang empfand er die eigene, überdrehte Schreibe wie ein verpflichtendes Markenzeichen. Das begann nun zu schmerzen. Auch Doktor Onkel, der hierbei immer sehr konsequent mit ausgewalzt hatte, bemerkte natürlich nach allem weiteren, noch so spaßig Hingehauenen vermehrt die Tücken der immer heftiger anklopfenden GagDepressionen. Neulich sagte er ganz öffentlich, als er ein neues, anscheinend extra nicht so lustiges Buchwerk herausbrachte, dass es für ihn eine Freiheit bedeutet habe, einmal geradezu traurig geschrieben zu haben, ohne der schrecklichen, selbstauferlegten Bedingung zur Originalitätsverpflichtung gefolgt zu sein. Tommi geht es genauso. Beziehungsweise, so ganz klar sieht er mal wieder nicht durch. Typisch. Immer im Schwanken. Immer im Selbstwiderspruch. Dabei wünscht er sich nichts sehnlicher als Festigkeit bei so vielem. Weil er hofft, dass er dann ein kleines bisschen weniger angestrengt wäre. Anstrengung setzt zwar immer etwas in Bewegung, aber sie krampft und erschöpft auch. Kann traurig machen. Und traurig, das war und ist er so oft. Auch gerade da, wo es andere nicht sind. Das macht dann besonders einsam. 222 Auf die From-Germany-Art Manchmal war es wirklich kaum auszuhalten. Nicht, dass Tommi in die klassischen, großen Löcher fiel, tagelang das Telefon nicht abnehmen konnte. Er kam ja klar, alltäglich, irgendwie. Leute. Projekte. Flüssigkeiten. Trotzdem, es schwebte weiter eine Wolkendecke mit grauen Gewichten über ihm, die sein Dasein düster beschwerte. Nur wenige Morgen erwachte er in Leichtigkeit. An seinem eigenen Geburtstag empfand er zuallererst eines: Nichtdazugehörigkeit. Früher wie heute. Besser ging es, wenn Tommi keine Zeit hatte. Einfach losschaffen, bis Interessen aufblitzten, bis bei jemand anderem auch etwas zu flackern begann. Nur bringt Ablenkung als Medizin keine Heilung auf Dauer. Ständig nur schnell weglaufen vor der schmerzhaften Beschäftigung mit dem Selbst, das konnte keine Lösung mit Aussicht sein. Aber welches wäre eigentlich ein anderes, ein besseres Leben 223 für ihn? Und welche Angst machte ihn eigentlich immer noch so ängstlich? War diese Angst überhaupt seine eigene? Tommi überlegte, ob das fremde Geister waren, die ihn plagten, solche, die er überhaupt nicht kannte. Andere Geister als jene, die er schon ganz früh als Gegner ausgemacht hatte: die Artigen oder die Engstirnigen. Nach und nach wurde ihm klar, dass es nicht ausreichen würde, permanent und kämpferisch seine äußere, unerschrockene Unabhängigkeit zu behaupten. Auf dem Papier war er selbstbestimmt. Und trotzdem lebte er in Gefangenschaft. Er würde mehr im eigenen Haus wühlen müssen. Ernsthaft hinabsteigen. Aufmachen. Hinschauen. Die Kühltruhe öffnen. Tommi begann also mit dem, was man wohl macht, wenn man die Schrecken verjagen will, die nicht verschwinden wollen, obwohl man eigentlich gehofft hatte, sie schon überwunden zu haben. In seiner grenzenlosen Skepsis den üblichen Methoden gegenüber startete er hierbei allerdings keine normale Wurzelforschung. Er wollte es auf die »From-Germany-Art« machen. Diesen Begriff behauptete er Kitty gegenüber, als er ihr in einer recht unsicher vorgetragenen, regelrechten Beichte eröffnete, dass er an einem Punkt angekommen war, an dem er wohl Hilfe benötige bei seinem Kampf gegen die eigenen Plagen. Weil die nicht freiwillig abzögen. Kitty reagierte nüchtern: »Ab zum Seelenklempner«, sagte sie wenig einfühlsam, »denn eines steht fest: Wenn einer da hingehört, dann du, from Germany.« Die letzten Worte fügte sie noch kühler, fast spöttisch an. »Wenn du dir irgendwann einmal selbst die Hand schütteln möchtest, Tommi, 224 egal ob mit großem oder mit kleinem i, dann musst du dir die Mühe machen, nachzuschauen, welcher Typ überhaupt hinten dranklebt an dieser Hand.« Das saß. War aber noch nicht alles. Ausschweifend begann sie darüber zu dozieren, dass sie wirklich nur wenige Menschen kannte, die so heftig ihre Spezialidentität behaupteten. Die in ausnahmsloser und ständiger, am Ende aber sinnloser Überwindungsanstrengung ein kreisrundes Umweggehen betrieben. Als sie dann noch ungefragt analysierte, dass sie Tommi wirklich total gernhabe, seinen Narzissmus aber als dermaßen unreflektiert empfinde wie bei sonst niemandem, reichte es ihm. »Einen Scheiß gehe ich zum Psychiater«, polterte es aus ihm heraus, »das schaffe ich allein. Ich weiß schließlich genau, woran das alles bei mir liegt.« Er konnte aber nicht mehr verhindern, dass Kitty ihn empfindlich getroffen hatte. Weil sie recht hatte? Nur aus reiner Notwehr heraus behauptete er noch einen sehr baldigen Start seiner Eigentherapie, mit der er sich ohne weiteres selbst kurieren werde. Aber das wirkte längst nur noch lahm. Kitty hat dann nicht weiter nachgefragt. Auch weil sie merkte, dass sich Tommi sonst noch tiefer reinreißen würde. Tatsächlich hat er sich dann recht intensiv mit seinen inneren Mustern beschäftigt. Sich Fragen gestellt: Welche Schlacht schlage ich? Wen oder was treffe ich, wenn ich schlage? Welche Existenz mit welcher Angst lebe ich? Weder arm. Noch frierend. Noch hungernd. Noch tatenlos. Was haben die familiären Toten weitergegeben? Wurden sie zu meinen Verletzungsreflexen? Tommi entdeckte, dass auch seine Ahnengalerie schon in große Unruhe getaucht war. Krankheit. Selbstmord. 225 Unfall. Krieg. Vertreibung. Vereinzelung. Niemand hatte jemals jemanden in den Arm genommen. Kein Wunder also? Ein Bekannter steckte ihm, dass es für ihn sinnvoll sein könnte, zu einer Familienaufstellung zu gehen, um sich seiner negativen Vergangenheit zu entledigen. Er fand die Idee erst mal ganz gut, reagierte dann aber doch lieber mit der »From-Germany-Art«. Tommi erfand seine eigene Methode, der er später einen potenten Titel verlieh: die »Adenauer-Therapie«. Den Namen zog er aus einem Theaterstück, bei dem es im Zentrum des Konzeptes stand, über einen Fragebogen herauszufinden, wie man angstauslösende Menschenbegegnungen kenntlich machen kann. Die halbe Probezeit über beschäftigte er seine gesamte Projektgruppe mit einem 100 Punkte starken Fragewerk und filterte daraus eventuelle Schnittmengen für Figurenmerkmale heraus. Leider fiel das Ergebnis der Schreckensbilder recht banal aus: Hitler. Vater. Schulhofschläger. Konrad Adenauer. Großer Bruder. Russen. Fremde. Big Brother. Spinnen. Kosovo-Albaner. Nazis. Flüchtlinge. Flugzeuge. Manager. Dramaturgen. Mama. Assis. Viel mehr kam nicht. Einzig die Figur Konrad Adenauer stach heraus. Fand Tommi jedenfalls. Das war ein Vertreter, den er als interessantes Symbol anerkannte. In ihm schien – zumindest oberflächlich – ganz viel reingemischt von der Art, die er von bestimmten Lehrern, Stiefvater Uns Manni und Kollegen oder dem Landwirt aus seiner Kriegsdienstverweigerungsprüfung her kannte. Nicht wirklich politisch gemeint, passte die Figur Konrad Adenauer für Tommi als, wie er es nannte, autoritäre Silhouette, als eine Art Tem226 peraturangabe dafür. Es war Adenauers übergroß gezogene Aura, die Tommi in seinen prägenden Jahren immer wieder, manchmal nur diffus, begegnet war, wenn es um unumstößliche Macht gegangen war. Aus jenem krude destillierten Adenauer-Bild schraubte er sich also seine »From-Germany«-Therapie. Die Anwendung war simpel, und er nutzt sie bis heute: Immer, wenn er in eine Situation gerät, die ihn zu verkleinern versucht – das können grobe Menschen oder dumme Grenzen sein –, schließt er die Augen, hebt theatral die Arme und beginnt sehr laut zu klagen: »Konrad Adenauer, du kannst mir nichts mehr anhaben.« Das klappt bisweilen sehr gut. Mindestens 20 Prozent Gelassenheit verdankt er dem Altkanzler aus dem Rheinland, sagt er, wenn er auf sein momentan leicht verbessertes Lebensvertrauen zu sprechen kommt. Manchmal kehrt sich seine Methode aber auch ins Gegenteil. Wird zwanghaft. Und dann kommt er sich selbst ganz enggedanklich vor. An dieser Stelle tritt bei Tommi ein weiterer Notfallplan in Kraft. Ein vor langer Zeit angelernter Automatismus, den er das »Preußen-Pferdchen« nennt. Dieses begegnete ihm – und das war wirklich so –, nachdem ihm das erste Mal der Begriff »tabellarischer Lebenslauf« zu Gehör gekommen war. Das war auf der Berufsschule, während seiner Kfz-Mechaniker-Ausbildung. In jener Institution wurde geübt, wie man das zentrale Dokument, den tabellarischen Lebenslauf, ordentlich erstellt. Und Tommi hört es noch wie heute, als ein höhergestellter Ausbilder der Industrie- und Handelskammer dröhnte, alle Lehrlinge würden im letzten halben Jahr ihrer Ausbildung immer und 227 immer wieder das genormte Biografie-Schreiben üben und nochmals üben. Weil es das A und O einer jeden Bewerbung sei. Und in genau dem Moment, direkt nachdem der Ausbilder mit Hilfe seines sperrigen Beamtendeutsches über die Wichtigkeit des biografischen Formulars referiert hatte, sprang in Tommis Kopf ein lautes Wieher-Geräusch an, von einem Ohr zum anderen. Wie von einem echten Pferd ausgestoßen. Und jenes laute Wiehern wiederholte sich von da an immer wieder bei vergleichbaren Situationen und Ausdrücken. Mit der Zeit freundete Tommi sich mit dem schrägen Kopfwiehern an. Er empfand es als coole Antireaktion seiner selbst, als biochemischen Schutz- Reflex auf krank machende Einengungsbegriffe. Nur wieherte es leider viel zu oft in seinem Kopf. Bald schon lastete das Geräusch auf allen möglichen Ausdrücken. Bereits bei den vergleichsweise harmlosen Worten Ampel, Umsatzsteuervoranmeldung oder Biosupermarkt klang ein lautes Pferdekreischen durch sein Oberstübchen. So entstand durch die Adenauer-Therapie und ihren Notfallplan, die ursprünglich als befreiend angedacht waren, eine Art Zwang gegen den Zwang, von dem Tommi immer wieder eingeholt wird. Er fürchtet sich stark vor seinen eigenen Methoden. 228 Wie geht richtiger Krieg? Die echten Adenauers, wie Tommi sie nennt, sind ansonsten ein wenig ausgestorben. Alle aber nicht. Bayreuther Festspielhaus. Tommi sitzt in der Premiere eines Freundes. Parzival. Neben ihm nimmt ein älterer Herr Platz. Dieselbe geklärte Haltung. Derselbe Geruch. Komplett in Uniform, im Theater! Freundlich grüßend vor Stückbeginn. Nach der Aufführung – in Anwesenheit von Frau Dr. Merkel und Herrn Dr. Stoiber – wütendes Geheule, keifendes Buhen, engagiertes Hassen. Viele unterstützen den Uniformierten bei seiner bellenden Ablehnung. Jeder von denen hätte Tommis Freund, dem Regisseur, diesem anmaßenden Wurm, in jenem Moment den Hals umdrehen, ihn wegmachen, ihn für immer verbieten wollen. Was sind das für wilde Emotionen, die trotz jeglichen Mangels an Phantasie offensichtlich dennoch möglich sind? »Ich könnte dir mit der Hand durchs Gesicht fahren«, 229 schmetterte Uns Manni als Geistertrompete durch das situierte Bayreuther Opernhaus in das Horn des aufgebrachten Chores der schäumenden Wagnerianer. Auch meinte man, schon die neuen, alten Patrioten hören zu können, die Jahre später massenhaft vor der Semperoper blöken sollten. Immerhin, einige der Attacken bröckeln. Manch Schnauben ist nicht mehr so konkret, nicht mehr so sauber Feindbild-gerichtet. Außer natürlich bei denen, die auch die kleinste Veränderung sofort als etwas aus der Art Geschlagenes empfinden, in ihrer dumpfen Tümelei allem Fremden gegenüber. Wird die Jugend von heute mehr in Ruhe gelassen, weil die harten Knochen von damals zurückrudern müssen? Sind die Grenzen des Wachstums die Chancen des Nachwuchses? Oder, noch schlimmer, etwa umgekehrt? Steht ein Krieg bevor? Weil die jetzige Generation Y-Z endlich auch mal eine authentische Knute spüren will? Nach wirklichen, echten Grenzerfahrungen lechzt? Weil alles andere zu komplex ist? Mit zu vielen, nicht mehr durchschaubaren Wahrheiten? Braucht es simplere Behauptungen als grobe, aber wirkungsvollere Medizin? Die Populisten reiben sich die Hände, wenn der Mensch zum ängstlichen Krokodil wird. Dieses kennt nur Angriff, Flucht oder Erstarrung. Demokratie ist ihm zu anstrengend und zu unübersichtlich. Ein Kunststudent sagte unlängst zu Tommi nach dem Konzert seiner Band, er wüsste schon mal ganz gern, »wie sich das so anfühlt, ein richtiger Krieg«. Die ewigen, krassen Filmchen darüber langweilten ihn jedenfalls auf Dauer. 230 Gestörte Jugend Bad Sartau Immer mehr Veranstaltungen in Museen oder an Hochschulen tragen ein »No«, ein »Sub« oder ein »Anti« im Programmnamen. Dorthin lädt man gern Leute ein, deren lebendiger Vergangenheit man lauschen kann. Wenn es gut läuft, erzählen sie Geschichten. Wie die von den Aktionen der »Swing-Jugend«, die im Dritten Reich ständig vor den Häschern der Nazi-Diktatur auf der Flucht war. Vornehmlich vor der Hitler Jugend, die ihnen vorwarf, »entartete Neger-Musik« zu hören, also verbotenen, nicht-arischen Stoff. Einige der immer picobello undeutsch, weil fein anglophil gekleideten Swing-Jugendlichen stellten nachts Grammofone hoch oben auf den Kirchtürmen der Hamburger Innenstadt auf. Jeweils eine »Hotbox«, wie sie ihre Schellack-Abspieler nannten, in eine Himmelsrichtung. Damit dudelten sie so laut es ging den von den Nazis verhassten Swing-Jazz durch die Stadt. Ein anderes Mal 231 begrüßten sie mit großem Tamtam die Ankunft eines fiktiven Reichsstatistenführers am Hamburger Hauptbahnhof. Solche und andere Ungehorsamkeiten zogen schwere Repressionen und für einige sogar die Verschleppung ins Konzentrationslager nach sich. Es war lebensgefährlich, Swing Girl oder Swing Boy zu sein. Nicht ganz so rigide Konsequenzen erntete eine ganz kleine Gruppe während Tommis Jugendzeit aus der Bimmelsdorfer Umgebung: Die »Gestörte Jugend Bad Sartau« (G. J. B. Sau) widersetzte sich dort ordentlich. Sie war ansässig in einem für seine Konfitürenherstellung überregional bekannten Nachbarort von Bimmelsdorf, in dem bis heute Früchte in Marmeladengläschen geformt werden. Aber eben auch Jugendliche zu Paradepflänzchen genormt werden sollten. Mit nur einer einzigen Aktion hat sich die G. J. B. Sau besonders verewigt. Auch sie hatten Schwierigkeiten mit einem Lehrkörper, der in ihrem Fall den Werk- und Kunstunterricht leitete und es nicht lassen konnte, immer dann von entarteter Kunst zu sprechen, wenn ihm nicht genehm war, was seine Schüler und Schülerinnen so in seinen Schulstunden produzierten. Und wenn man ihn darauf hinwies, dass ein solcher Begriff Nationalsozialisten-Sprech sei, blieb er trotzdem bei diesem und anderen Ausdrücken. Offenbar hatte er es nicht anders gelernt, und es sei ja nun wirklich nicht alles schlecht gewesen, damals. Außerdem habe nicht jeder von seinen Schülern »dahingeschmierte Auswuchs« gleich etwas mit Kunst zu tun. Die Ergebnisse sollten ruhig »etwas Erkennbares« zeigen und nicht nur »Kraut und Rüben«. Gerade in Zeiten von »zunehmender Flegelhaftigkeit«. 232 So wurde Kunst unterrichtet, die alles war, nur nicht unordentlich. Und wehe, wenn doch. Einige der betroffenen Schüler, die auch G. J. B. Sau-Mitglieder waren, schafften es, Bilder der berühmten Münchner Nazi-Ausstellung zur entarteten Kunst ziemlich penibel auf sein Bad Sartauer Reihenhaus zu sprühen, als der Lehrer in den Ferien war. In Airbrushtechnik. Es gab einen großen Aufstand, und die Wellen schlugen weit. Die Aktion von G. J. B. Sau wurde dann aber verraten. Zwei von ihnen sind von der Schule geflogen. Ihre Pseudonyme haben sie sofort danach abgelegt. Das taten viele nach ihren wilden Jahren. Tommi nennt sich heute zwar immer noch nicht wieder Horsti, und er ist weit davon entfernt, sich so zu fühlen. Dennoch, auch er empfindet etwas zurückgenommen. Wenn er den Bimmelsdorfer Boden wieder betritt, zum Beispiel. Älterwerden? Reife? Kollaboration? Oder ist das Gebiet erträglicher geworden? Wahrscheinlich stimmt alles und nichts davon. Auf jeden Fall gibt es Menschen und Dinge dort, die ihm etwas bedeuten. Heute fühlt er sich oft wohl in seiner Familie. Er sieht, wie die Verwandten genauso kämpfen, schon lange gekämpft haben. Gegen dieselben und noch andere Dämonen. Er erkennt den Willen zur Gemeinsamkeit. Den Wunsch zum Beieinandersein. Es lohnt, mit ihnen zu streiten. Und zu feiern. Er genießt es, Teil zu sein. Er begegnet seiner Mutter mit Freude. Liebt seinen Bruder. Dessen Frau. Die Cousins und Cousinen. Und die Tanten. Selbst manche der leichten Angebote, QuatschEvents wie »Aaltage« oder »Flammen im Meer«-Spektakel können ihn unterhalten – oder unendlich befremden. In der Saison. 233 Und dann: das Meer. Es sind die Blickwinkel in der Bucht, in deren Mitte Bimmelsdorf liegt. Das Licht, mit dem Himmel, mit dem Wasser. Nichts hat mehr Sehnsucht als die Welt an der See, zeigt mehr Größe, beweist mehr Winzigkeiten. Weil die Natur dort besonders hoch über den Menschen liegt. Tommi fragt sich manchmal, welchen Weg die unterschiedlichen Leute aus der Szene um die Bimmelsdorfer Clique hätten nehmen können, falls sie weitergemacht hätten. Wie würde sich eine Gruppe wie die G. J. B. Sau heute positionieren, wenn sie ihre Ansätze professionalisiert hätte? Einer von ihnen hat angeblich ein Buch mit dem Titel »Unten wird über Identitätsprobleme nachgedacht und oben brennt der Hut« geschrieben. Es soll ganz gut gegangen sein. Könnten Gruppen wie Killerwahl oder die Zinksoldaten heute Stadien füllen, wenn sie konsequent ihrem Stil treu geblieben wären? Vielleicht hätten einige als Kunstgruppe fortbestehen können. Dann würden sie jetzt teuer im Museum hängen. Und ein Auto würde sie weiterempfehlen: Neulich in einem TV-Werbeclip sah Tommi from Germany einen bekannten Rennfahrer mit seinem brandneuen Serien-Mercedes durch die Nacht einer aufregenden Großstadt brausen. Da er sich nicht auskannte, übernahm das intelligente Fahrzeug die Führung. Undergroundclubs, Off-Galerien und ArthouseKinos, das waren die heißen Ziele, die der Bordcomputer der coolen Edelkarosse dem unkundigen Motorsportler empfahl. Nachdem der sich dann für etwas entschieden hatte, fand das mobile Statussymbol die ehemals rauen Quartiere, in denen die supergeheimen Szene-Locations 234 gelegen waren, ohne Umwege. Früher hätte man ihm dort die Scheiben eingeschlagen. Aber früher war eben auch nicht alles besser. »Def Leppard (leider)« Daniel Richter, Ernst Kahl, Hardy Kayser, Schorsch Kamerun (1989) 237 Hidden Track (Zugabe) »Sexzwerg! Ich schwirre!« (*12) Drei Uhr in der Frühe Ich bin der Pferdemann Stoppt das Problem Ist das das Leben, welches du leben willst? Kläre deinen Verstand auf Zebras überqueren die Straße Ich sage: Kaufe Gefrierkost Leg sie in den Kühlschrank Dreh die Musik auf Lauter! Wir werden euch die Kontrolle verlieren lassen Wir werden euch machen, wir werden euch machen Du hast das Gefühl Reite weiter! Reite weiter! Mach weiter! Diese eine Nachricht geht raus an alle 239 Der Klang des Fährten-Angreifers Hier kommt der Hühner-Terminator Puppen / Bienen / Schattengrenze Über dieses Mikrofon, ich bin der Lehrer Und ich verbreite meine Worte wie ein Prediger Komisch, dass dieses Gefühl mehr und mehr wächst Ja, wir sind nicht die Affen Aber wir haben den Schlüssel Keiner ist besser als: ich Ich sage Raver, Schwärmer, ihr mögt es rau! Hardcore! Das ist der Klang! Wir erschüttern die Nation immer noch! Wir haben ein paar drastische Rhythmen! Auf zur Front! Sie sagte: Beweg dich! Sind da irgendwelche Fragen? Komm her! Ich bin verdammt! Mir ist heiß! Du kannst meinen Rücken sehen Weil ich laufe wie ein Schuss Willst du es? Brauchst du es? Die Revolution Wir haben es Kannst du es spüren? Sei kein Fremder! Wir haben die Medizin! Wir werden schneller! Und schneller. Dieser Klang sollte die Nation verändern! Wir haben jetzt damit begonnen, auf schweren Pferden zu reiten 240 Psycho! Wickel es auf! Zieh es auf! Ich bin der krasse Dichterling Ich bin das Gesetz Heili Geili, ihr Schweine! Gemeinschaft, ich brauche dich Hart wie die Hölle Und da kommt die Pause Da kommt der Bruch Kaffee ist nicht meine Tasse Tee Wicked ist eigentlich Böse Schläge spielen verrückt in meinem Kopf Werd niemals langsam Wir machen weiter mit unserer Arbeit Wir wollen keine Wiederholungen Zieh dein T-Shirt aus und warte auf weitere Anweisungen Ich habe eine Nachricht für das nächste Jahrzehnt Maximalen Respekt für die ganze europäische Truppe! Es ist nett, wichtig zu sein, aber es ist wichtiger, nett zu sein Maria! Glaub mir! Ich mag es laut! Die Feuerrakete. Das Blut. Die Höhle. Elastisch. Zu plastisch Ich danke Ihnen! Wir lieben den glücklichen Hardcore! Den glücklichen, harten Kern! Wir verlieren die Kontrolle! Lassen Sie uns in eine andere Dimension aufbrechen Bevor sich der Erfolg manifestieren kann Müssen Sie durch den Lernprozess gehen 241 Komm, komm! Lerne! Bring mich hoch! Jigga! Jigga! Da gibt es nicht einen Zweifel! Ich habe alle Damen ausführlich geprüft Ich bin der lyrische Lockartikel Wenn du rufst, werde ich da sein Über den Katzengang kommt die Feuerwehr Zieht sofort meine schwirrenden Schuhe an Ich überwältige / Ich schwirre / Ich rave Hyper! Hyper! Drüber! Drüber! Es ist so schön, eure Hände in der Luft zu sehen! Kommt her! Das ist ein Motorroller! Kommt her! Das ist ein Scoooooooter! Ich will dich zurück Also mach die Teller sauber Ganz nebenbei, was kostet der Fisch? Ich brauche acht Tage keinen Schlaf Acht Tage die Woche, brauch ich nicht zu schlafen Acht Tage die Woche, brauch ich keinen Schlaf Sitz da! Sei gut! Wir machen uns nur warm Verstehst du? Ich bin Eis! Das ist die Befreiung. Das ist die Befreiung! I will ficken! Fickt das Jahrtausend! Macht euch fertig Ein garantierter Notfall 242 Zurück zur Familie Das Gotische existiert nicht mehr Wir wollen einen großen Schrei an die USA singen Und alle Schwirrer dieser Welt Ich werde dich noch einmal fragen: Magst du zum harten Kern dazugehören? Ich will, dass so viele wie möglich auf die Bühne kommen Keine Fiktion mehr Gehe zurück zur Realität Keine Illusion, der Geist ist, was fühlt Von Japan nach Brasilien nach Amerika Lasst mich fragen, ob es einen besseren Weg gibt! Wunderbares menschliches Sein Ihr seid ja alle wahnsinnig! Ruf mich nicht mehr an auf dem Telefon Hart wie Stahl und gefährlich Unendlicher Sommer Jetzt bin ich bedeutend Partymenschen! Verwirrung überall! Ihr könnt mich schlecht nennen Ihr könnt mich falsch nennen Wo in der Welt kann ich Verletzung verbergen? Da ist eine Feier auf dem Platz Erschüttere das Gewerbe! Brennt das Haus nieder! Ich brauche acht Tage keinen Schlaf 243 Acht Tage die Woche, brauch ich nicht zu schlafen Acht Tage die Woche, brauch ich keinen Schlaf Hey du Bombe. Bombe! Saure Säurebombe! Sexzwerg Ich halte es nicht mehr aus Es ist wie im Zirkus Ich will dein Gesicht schlagen Von Liebe und Frieden sprechen Du kommst echt in Situationen Von denen du vorher noch nie ein Teil warst Entscheide dich für eine brandneue Fahrt Sexzwerg Lieder und Gedichte (*1) »Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens« Schorsch Kamerun Album: »Warum Ändern schlief« (1996) (*2) »Diese Menschen sind halbwegs ehrlich« Die Goldenen Zitronen Album: »Das bisschen Totschlag« (1994) (*3) »Angst und Bange am Stück« Die Goldenen Zitronen Album: »Schafott zum Fahrstuhl« (2001) (*4) »Die Menschen aus Kiel« Motion Album »Ex Leben. Land / Meer« (1993) 245 (*5) »Einer macht was« Killerwahl Einziges Demotape »Wahl Halla« (1979) (*6) »Für Britta« Tommi from Germany Schmähgedicht gegen Britta Müller (ca. 1988) (*7) »Drogeninitiative« Die Zinksoldaten Es soll davon eine Liveaufnahme geben (1979) (*8) »Fanta, die Umworld ist okay« Kampagne Fairmarkt Freiwilliger Werbesong, unveröffentlicht (*9) »Gorbi« Die Schnapsknallies Geschäftsidee, unveröffentlicht (*10) »Nachmessen« Die Schnapsknallies Geschäftsidee, unveröffentlicht (*11) »Übereigendarstellerei« Schauspielhaus Leipzig Songtext zum Projekt »Das Ende der Selbstverwirklichung« (2011) 246 (*12) »Sexzwerg! Ich schwirre!« RAF und Superdefekt feat. Schorsch Kamerun Track mit Remix-Texten der Technogruppe SCOOTER / »Pudelprodukte 8« (2008) Abgewandelt für das Theaterstück »Down Understanding« / Münchner Kammerspiele (2010) Inhalt Hausverbot im Café Gottesgleich Die Entdeckung der Kuckucksmethode LopLop, und was es sonst noch so gibt Ten Steps to Piracy TommI (unbedingt mit großem I) Elektro-, Benzin- und Spindelrasenmäher Ein Benehmen wie ein Gartenschlauch In Abwesenheit der Kameras Ihr seid die Freaks Frag niemals, warum wir hier so sind Herr from Germany, Sie sind eine Flasche Wo sich die verletzten Kinder trafen Weiße Rosen in eigener Kotze Deutschlehrer Nazi-Schmidke auf Kurzbesuch in Ostpreußen Titanic oder Cap Arcona / Simulation 7 15 25 37 49 53 57 67 73 79 85 91 95 99 103 Nichtige Orte, richtige Leute 111 Drogeninitiative121 Ein halbstarker Jungfuchs macht den Unterschied 125 Musik kann alles 129 Die Schule der falschen Wunder 137 Das Innere des Oktopus 147 Das Leben ist Kampf 153 Der Protest der Schnecken 157 Knapp dagegen ist auch dabei (und der Clown, der muss lachen) 161 Das Denken des neuen Außen 169 Das ist dann richtig wie Liebe 181 Von Uhu, Monkey Man, Urvieh, Cat the Cat und einer epileptischen Elster 185 Archaische Veitstänze (auf und neben den Bühnen) 191 Gerti, der Luxustransvestit aus dem Berlin der zwanziger Jahre 197 Unser Haus ist aus Blei 201 Zurück unter U-Booten 207 Bekloppte wollen Bekloppte 213 Gag-Depressionen (oder das endgültige Abdanken von Katenschinkenhaxen mit umhertanzenden Orchestersaxofonen)219 Auf die From-Germany-Art 223 Wie geht richtiger Krieg? 229 Gestörte Jugend Bad Sartau 231 Hidden Track (Zugabe) 239 Lieder und Gedichte 245 ISBN: 978-3-550-08088-3 © 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Gesetzt aus der Janson Text Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindearbeiten: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany