leseprobe - Ullstein Buchverlage

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leseprobe - Ullstein Buchverlage
Schorsch Kamerun
Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens
Schorsch Kamerun
Die Jugend ist die
schönste Zeit des Lebens
Roman
Ullstein
Denen, die sich auf die Suche nach Umwegen gemacht
haben. Weg von einem Leben geprägt von Dominanzen
aus Uhren, Zahlen und anderen Feststellungen. Allen, die
probiert haben, den Ohrfeigen, Schönschreibklubs und
Schuldspiralen eine überraschende, grenzenlose Welt entgegenzusetzen. Ohne Eiche Rustikal, Dauerbenotung und
optimiertes Schaffen.
Hausverbot im Café Gottesgleich
»Anarckeeey!« Genau! »Anarckey!« Kein Zweifel. Das
war es. Das musste es einfach sein. Horsti hatte das erste
Mal wirklich Alkohol getrunken. Also nach Eierlikör oder
Alsterwasser. Weinbrand war das. So geht es wohl vielen.
Der erste echte Suff. Da will man dann später nix mehr mit
zu tun haben. Die erste Zigarette war »Peter Stuyvesant«.
Weinbrand ist grausam. Horstis alter Herr trank sehr gern
Weinbrand. »Napoleon« von Aldi. Wegen des guten PreisLeistungs-Verhältnisses.
»Anarckey!« Nie mehr aufhören müssen, dieses eine
Wort zu rufen. Auf der Strandparty an der Bimmel, dem
Grenzbach zwischen dem Bimmelsdorfer Strand und
dem Nachbarort Scharbe, wo Horsti nun einmal herkam.
Schreien! Brüllen! Auch schon vor dem Trinken. Immer
wieder. Einfach aus einer Ahnung heraus. Horsti und seine Freunde hatten kaum eine Vorstellung davon, was das
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genau sein könnte: Anarchie. Überhaupt, ihr Wissen über
radikale Versuche von umgesetzter Freiheit ging gegen
null. Sie verstanden es aber trotzdem sofort, das herausgeschleuderte »Anarchy« des Sängers Johnny Rotten. Den
sägenden Schrei der Sex Pistols, der Band, die ein Stachel
war im Hintern Englands. Genau da steckte drin, was auch
sie brauchten. Wie in einem freigelegten Instinkt. Alles,
alles hatte diese Stimme. Maßlos befreiender Spott. Jede
Menge Unmoral. Und so viel Berechtigung dazu. Nie zuvor und nie danach hat etwas so sehr nach Pisse gestunken und gleichzeitig so lecker geschmeckt. Johnny Rotten
war in jeder Faser verführerisches anti. Er versprühte
eine solch großartige Verachtung mit seinen höhnischen
Gesten und Blicken. Beim Singen war sein Körper extra
verdreht, so dass er sich genüsslich zu winden schien in
seinem meckernden Schimpfen. Nichts Komma nichts
hätte auflehnender und gleichzeitig einnehmender daherkommen können, als die verführerische Attacke gegen jenen schrecklichen Würgegriff, in dem sich Jugendliche wie
Horsti und seine Freunde eingeklemmt sahen. Bis dahin.
Es war exakt der passende Moment, in dem Johnny Rotten sein maßgeschneidertes Grienen auf die Welt loswetterte. Wie genau man so eine Wirkung entfacht, wie man
solch schneidendes Spotten herstellt, wie tiefste Verzweiflung in eine hoffnungsfrohe, utopische Stimme umgelenkt
werden kann, der man – wie süchtig geworden – unbedingt
zuhören will, all das durchschauten die Bimmelsdorfer und
viele andere zu dem Zeitpunkt noch längst nicht. Alles
Reflektieren kam viel später. Seit diesem Moment gab es
kein Zurück mehr, und wenn auch nicht im Ausmaße der
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Sex Pistols’schen Vehemenz, so gelang es fortan einigen
aus Horstis Szene doch, ein paar kleine, eigene Treffer zu
landen – nun, da ihnen Ohren, Köpfe und Herzen geöffnet
worden waren.
Die ersten erwähnenswerten Erfolge passierten dabei
eher im Zufall. Zum Beispiel hatten Horstis Freunde ihm
mit wasserfestem Stift heimlich das Wort »Polizei« auf
den Rücken seiner Jacke geschrieben und dazu noch zwei
kräftige Bullenhörner über den Buchstaben O gesetzt,
plus kleine Schweinsöhrchen an den Seiten. Da Horsti die
Schmiererei nicht bemerkt hatte, wunderte er sich nicht
schlecht, als ihn Dorfpolizist Anton – Spitzname Froggy
(die froschgrüne Uniformfarbe war hier wohl ausschlaggebend gewesen) – am nächsten Tag heftig anging. »Sofort
stehen bleiben!«, quakte er quer über den ganzen Marktplatz. Als Nächstes verlangte der aufgebrachte Wachtmeister mit einem derart wütenden Gesicht, wie Horsti es
noch nie bei irgendjemandem gesehen hatte, nach seinem
Ausweis, was ihm augenblicklich klarmachte, dass dem
Behördenmann nicht zum Scherzen zumute war. »Den
Personalausweis! Aber zack! Zack!« Welch ein Unsinn, wo
doch Froggy – leider – nur allzu gut wusste, wer Horsti
war, hatte dieser doch schon die ein oder andere Ermahnung von ihm erhalten. Wegen Kleinkram wie Fußbälle
ins Café schießen oder dem Betreten von angeblich verbotenen Flächen. Diesmal aber, nach diesem ersten »richtig amtlichen« Vorfall, wie der tobende Amtsträger sich
ausdrückte, würde es ein empfindliches Verwarnungsgeld
geben. Und zwar 30 D-Mark, das könne er direkt sagen.
Aber diesmal verstand Horsti gleichzeitig auch noch etwas
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anderes, viel Wichtigeres: Die Dinge ließen sich aus der
Reserve locken. Man musste nur wissen, wie sie zu kitzeln
sind. Dann kamen sie ganz von selbst aus ihrer Ecke heraus.
Von jenem Moment an, jenem kleinen Ereignis in den
frühen Bimmelsdorfer Tagen, ließ Horsti nie wieder davon
ab auszutesten, wie und mit welchen Mitteln er sich zur
Wehr setzen konnte – wenn immer etwas dringend Luft
bekommen musste. Dabei lernte er schnell, dass es nicht
verkehrt ist, wenn die Gegenseite anfangs gar nicht richtig nachvollziehen kann, worum es eigentlich genau geht.
Denn das landet dann umso nachhaltiger.
Seine ersten, obschon mit starkem Ehrgeiz verbundenen
Versuche, sind allerdings schlicht ungelenk zu nennen. So
malte er im Morgengrauen in riesigen schwarzen Lettern
den als saftigen Protest gemeinten Satz »Bimmelsdorfer
Cafés haben keine Ahnung von Kaffee« sehr gut sichtbar
auf das schneeweiße Bimmelsdorfer Ratsgebäude. Gleich
neben die große Eingangstür, wo sonst immer die Brautpaare herauskamen. Sein Angriff sollte als gerechte Strafaktion verstanden werden. Dazu muss man wissen, dass er
Tage zuvor aus einem Café, dem Café Götter Eck, herausgeflogen war. Vor den Augen der versammelten Bimmelsdorfer Szene. Wegen einfach nur: nichts konsumieren
wollen. Jetzt also seine Rache. Gemeint wie eine Kriegserklärung. Den Strafaktion-Begriff hatte er sich dabei von
einer spanischen Separatistengruppe ausgeliehen, die in
einem Buch über »Kämpfende Gruppen in Europa« vorgekommen und darin als besonders durchsetzungsstark
hervorgehoben worden war.
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Das Café Götter Eck war Horsti und seinen Freunden
ohnehin seit längerem und nicht erst seit Horstis Rauswurf
ein Dorn im Auge. Ein verhasstes Symbol der ScheißBimmelsdorfer-Touri-Maschine. Da waren sich alle einig
von der Gegenseite, als die Horsti und seine Clique sich
von Anfang an empfanden. Das Götter Eck hieß im Dorfjargon nur Café Gottesgleich, weil es das teuerste Café am
Platze war und auch weil dort immer viel Hamburger Prominenz abstieg. HSV-Spieler oder im gesamten Norden
äußerst beliebte, oft sehr besoffene NDR-Moderatoren
und Mundart-Witzeerzähler. Am schlimmsten aber waren
die Stars der sogenannten Bäder-Tourneen, mit denen
sich die nationale Schlagerbranche zusätzliche, saisonale
Sommersaläre abholte. Einen zynischen, ordinären Kackehaufen, so nannte Horstis Freund Morten diese Veranstaltungen, die in Wirklichkeit »Singen und Klatschen
im Sommerwind mit all Ihren beliebten Stars aus der Hitparade« hießen.
»Bimmelsdorfer Cafés haben keine Ahnung von Kaffee.« Horsti hatte sich eine Menge erhofft von seiner Aktion. Das musste einfach ein fetter Skandal werden bei dem
Klartext der Ansage. Es kam aber nicht zu der gewünschten Resonanz. Eine kleine Aufregung entstand nur wegen
der Beschmierung des Ratsgebäudes, nicht aber wegen
der Botschaft selbst. Womöglich ging die Aktion auch
deshalb unter, weil in derselben Woche, in der Horsti zuschlug, auch noch das beliebte Hafenfest im Ortsteil Needorf stattfand und zu diesem Ereignis viele in der Gegend
immer heftig betrunken waren.
Trotz der schmerzlichen Schlappe ließ Horsti sich kei11
nesfalls entmutigen. Und tatsächlich war sein in der Schule
ausgeführter nächster Versuch, den er als »Umkartografieren« bezeichnete, ein richtig schöner Achtungserfolg.
Möglicherweise auch deshalb, weil es sich um eine von
ihm empfindlich veränderte Landkartenrolle des Heiligen
Landes, der wichtigsten Schautafel für den Religionsunterricht, handelte. Und weil der See Genezareth nach Horstis
Eingriff direkt mit dem Toten Meer verschmolzen war. Alles war mit einem dicken, blauen Farbstreifen verbunden,
den Horsti grob mit dem Malerquast aufgetragen hatte.
Der heilige Fluss Jordan war über den Jordan gegangen,
sozusagen. Auslöser für diese als gerechte Strafaktion
Numero Dos bezeichnete Maßnahme waren diesmal die
Schikanen des verhassten Deutsch- und Religionslehrers
Fritz Schmidke, hinter vorgehaltener Hand auch als NaziSchmidke diffamiert, mit dem es ständig heftigen Ärger
gab. Jedenfalls mit bestimmten Schülern.
Horsti war – das ist unbestritten – im Falle Schmidke
und dessen Lehrmethoden keinesfalls allein mit seinen Anpassungsunwilligkeiten. Es waren Protagonisten wie jener
autoritäre Lehrkörper, die aus den Bimmelsdorfer Bürgerkindern erst Abweichler machten. Einige waren wirkliche
Alt-Nazis, die einfach nur übernommen worden waren
in den nächsten Staat. »Erst haben sie Millionen Juden
umgebracht, jetzt wollen sie Köpfe abschneiden, wenn sie
dir sagen, dass du dir die Haare kürzen sollst«, schrieb ein
Zeitgenosse von Horsti in sein Tagebuch. Solch Nachkriegs-Überbleibsel mit ihren Rügen und Strafen trieben
sie zu ersten Ungehorsamkeiten, ließen die Reflexe aufkommen, die sie schließlich zur Gegenseite machten. Vie12
lerorts. Ganz sicher war der Bimmelsdorfer Strand keine
besonders verdrehte Gegend, die zwangsläufig extra Verdrehte hervorbringen musste. Es brodelte überall, und der
Grund für die auffällige Aufmüpfigkeit war kein Zufall.
Das nach dem Zerfall des Dritten Reiches längst nicht ausgefegte Land zeigte in großer Breite altgesinnte Fratzen.
Ganz eindeutig waren viele vorgestrige Scheiß- Bestimmer
verantwortlich für diese von ihnen bestimmte Scheiß-Zeit.
Sie verursachten den Widerstand, der kommen musste,
auch wenn die neuen Rebellen von Haus aus überhaupt
keine Ahnung davon hatten.
Not macht erfinderisch. Im Bimmelsdorfer Raum nannten Horsti und seine Clique ihre frühen aufmüpfigen Einfälle »Falsche Fische machen«. Vielleicht, um so große
Ausdrücke wie Subversion oder dergleichen zu vermeiden,
wohl aber auch, weil solche Begriffe ihnen als zu ernst, zu
ambitioniert erschienen. Die Versuche der Falschen Fische wucherten wild in Qualität und Wirkung. Auf jeden
Fall grassierte eine massive, hochansteckende Scheißebauwut, einer Seuche gleich, in dem bis dahin beschaulichen
Küstenstreifen. Bimmelsdorfer Strand, Needorf, Scharbe,
Haffke – die ganze Bucht und auch das Hinterland waren
infiziert. Wenn auch nur recht kurz. Bei ihrem Ausbruch
konnten alle gar nicht genug davon bekommen, möglichst
zahlreiche aneckende Viren zu produzieren. Der Eifer
ließ aber schnell nach. Vielen Aktiven fehlte der Durchhaltewille, und sie empfanden ziemlich bald ein schlechtes
»Aufwand-Nutzen-Verhältnis« – das hat einer der Neuaktivisten wirklich genau so gesagt, bevor er ins Lager
der konsumbegeisterten Discotypen überlief. Die meisten
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hörten nach kurzer Entflammung in Wahrheit aber deshalb so schnell wieder damit auf, weil sie schlicht keine
Ideen mehr hatten.
Einige wenige haben hingegen nie wieder nachgelassen,
nach immer neuen Falschen Fischen, nach launigen, spottenden und gebrauchsfesten Alternativen zum Vorherrschenden zu forschen. Und diese Minderheit, das waren
diejenigen, die eine stechende Notwendigkeit empfanden,
sich einmischen zu müssen. Für sie begann ein endloser
Zickzacklauf. Angestoßen durch eine ungerechte Ohrfeige oder eine andere demütigende Berührung begannen
sie, gegen den Strom zu schwimmen. Sie begaben sich auf
einen langen, wackeligen Weg. Das war manchmal großartig, dann wieder nur kleinfühlig. Und dabei sehr nervös.
Naiv. Befindlich, arrogant, unsicher, getrieben. Angeschlagen, Rache nehmend, Hilfe schreiend. Ideenreich, platt,
maßlos, besserwissend. Jammernd. Abseits, frontal, kämpferisch. Ehrgeizig. Witzig, hart, ironisch, bitterernst, ganz
süß und ganz verletzend. Schnell und gehetzt. Und auf der
Stelle tretend. Von da an. Und noch immer.
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Die Entdeckung der Kuckucksmethode
Wie lässt sich ein losgetretenes Schaukeln von verschiedenen Leben gut beschreiben? Im Falle von Horsti und
seinen Mitstreitern und Mitstreiterinnen könnte es Sinn
ergeben, unterschiedliche Proben aus unterschiedlichen
Phasen zu entnehmen. Weil sich ihre Geschichten nicht
ganz so sauber aufgereiht erzählen lassen. Ihre Biografien
sind auf vielen Ebenen Vergangenheit und Gegenwart
gleichzeitig, zeigen Tempo und Stillstand in einem. Oben
ist unten. Vorne ist hinten. In eigenen Höhen und fremden
Tiefen. Manche von ihnen winden und spreizen sich in
einer nicht enden wollenden Grätsche. Ein permanentes
Abwägen ist das. Schlecht zu zügeln, aber irgendwann gewöhnen sie sich an Parallelen voller Widersprüche. Werden Profis – selbst im Unprofessionellen. Man trifft sie
irgendwo zwischen Straßenkrach und Konzerthausklang.
Hin und her wippend. Um Flexibilität bemüht.
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In so ein kompliziertes Spannungsfeld des Nichtrichtigen im womöglich Totalfalschen stolperte Horsti
vom Bimmelsdorfer Strand völlig ungeschützt hinein.
Ahnungslos. Glaubte er jedenfalls. Oder war er ganz bewusst dort hineingeraten, allein schon, weil da am meisten
geboten wurde? Es lässt sich jedenfalls festhalten, dass in
jenen besonderen Bimmelsdorfer Erweckungsmomenten
die Dinge auch schon nicht nur eindeutig waren. Brennende
Langweile lautete der Filmtitel über eine englische Musikgruppe, die in derselben Zeit durch deutsche Provinzen
zog, in der Horsti und Konsorten aufwachten. Das traf es
ganz gut. Angezündet in der Lethargie. Und Flammen, die
gab es, das steht fest. Stillstände auch. Zwischendurch war
auch Zauber. Manchmal im Sommer, die völlige Action.
Ausprobieren. Experimentieren mit gänzlich unbekannten
Rohstoffen. Immerhin wusste man, was man nicht wollte,
gegen wen und was man war.
Die Angriffe aber verliefen extrem unsortiert. Vieles
verging bereits im Ansatz. Anderes misslang vollständig.
Für ein Flugblatt mit Namen von Lehrern darauf, die mit
dem bereits genannten Deutschlehrer Nazi-Schmidke womöglich privat in Kontakt standen, schämt sich Horsti bis
heute. Auch für die superlahme Hausbesetzung in einem
leerstehenden Teppichhaus, gleich neben dem damals für
die Szene sehr wichtigen Wienerwald-Restaurant an der
Bimmelsdorfer Promenade. Heute verkauft dort eine Sylter Fischspezialitäten-Kettengastro Seafood, andere Rolexzeugs oder Edelmodekram ab, und ein eklig mit Geld
um sich werfender Mann, der mal HSV-Präsident war und
einer Populisten-Partei vorstand, baut, weil er irgendwie
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Asia-Fan ist, ein prahlendes Gebäude nach dem anderen –
strikt in Buddhistenweiss getüncht – an den Strand oder
auch schon mal ins Meer. Damals endete die Inbesitznahme des zentral gelegenen Ex-Kaufhauses damit, dass
Horsti und seine einzigen zwei Mitbesetzer gleich in der
ersten Nacht wieder abzogen. Freiwillig. Wegen zu kalt.
Und wegen Hunger und Durst. Sie hatten nicht bedacht,
dass der Wienerwald am Tag ihrer Aktion – einem Montag – geschlossen bleiben würde und sie deshalb weder
halbe Hähnchen noch Einbecker Mai-Ur-Bock erwerben
konnten. Viel besser gelangen dagegen die TouristenTretfallen aus großen Mengen von Quallen, die ein paar
Gleichgesinnte aus dem nahe gelegenen Needorf zur Anwendung brachten. Sie schaufelten die glibberigen Seetiere in metertiefe Gruben und tarnten sie an der Oberfläche
mit etwas Strandsand, damit die super ungeliebten Touris
schreiend darin versackten. Dieselben Kollegen tauschten
auch Nummernschilder von Popper-Karren aus und probierten ein paar Dinge mit Urin in zu teuren Longdrinks.
Das funktionierte in seiner Direktheit.
Mehr Subtilität kam erst mit der Idee auf, trojanische
Geschichten unters Volk zu bringen. Bis zum heutigen Tag
wird Horsti nicht müde zu behaupten, dass mit ihnen die
»öffentliche Ordnung empfindlich gestört« wurde. Auch
für diese kernige Aussage hatte er die spanische Separatistengruppe bemüht. Immerhin gab er seiner ausnahmsweise mal wirklich eigenen Erfindung, einer Abwandlung
der Trojaner, einen starken Namen – das fanden wirklich
alle. »Falscher-Kuckuck-beim-Schwarzfahren-entwischt«
lautete der Slogan, mit dem Horsti Unfrieden ohne Ende
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stiften wollte. Den Kuckucks-Satz, an dem er wochenlang
gefeilt hatte, hinterließ er, wo er nur konnte: als unauffällig
fallen gelassenes Zettelchen oder als Kritzelei im Schulklo.
Er sprühte ihn sogar als Graffiti an Mauern, was damals
im ländlichen Raum noch äußerst selten vorkam. Tatsächlich war das eigene Graffiti gleichzeitig das erste echte,
was er je gesehen hatte, neben denen aus dem Fernsehen
von Berichten über die New Yorker Bronx oder so. Die
simple Grundidee für Falscher-Kuckuck-beim-Schwarzfahren-entwischt war es, unkorrekte Nachrichten oder
Geschichten zu verbreiten in dieser ohnehin auf puren
Lügen aufgebauten Schweinegesellschaft, wie es Horstis
Freund Stephan nannte, der die Dinge stets wesentlich
radikaler aussprach. Und den Horsti für genau solche Ansagen heimlich bewunderte. Auf jeden Fall versuchte man
mit diesen ungünstigen Märchen die Glaubwürdigkeit
einer Person anhaltend zu destabilisieren, also wenn diese
nachweisbar als ungerechte – als ein Chefschwein zum
Beispiel – identifiziert worden war. Und davon gab es in
Bimmelsdorf einige.
Schon nach kurzer Zeit gelang es Horsti, unter seinen
Zielpersonen eine beachtliche Menge Unruhe zu stiften,
und schnell fingen weitere aus der Clique an, mit der erfreulich gut funktionierenden Kuckucks-Methode zu arbeiten. Horstis Klassenkameradin Kathrin agierte dabei
am effizientesten. Unvergessen ihr über eine Lokalzeitung
gestreutes Gerücht, es werde »bereits in der kommenden
Saison« im nahen Klein-Bimmelsdorf eine »neue Autobahnanbindung« gebaut. Wegen »ständig steigenden Verkehrsaufkommens«. Der nötige Bebauungsplan sei von der
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Politik schon »so gut wie durchgewunken«. Gleich nach
Aussetzung dieser Falschmeldung herrschte richtig große
Empörung im Ort: »So etwas kann man doch nicht im
Ernst wollen in einem ausgewiesenen Luftkurort.« Starker
Unmut machte sich breit, meist in den Cafés vorgetragen
oder als Kommentare in demselben Lokalblatt. Die Autobahnanbindung führe »unweigerlich« zu einer »immensen
Wertminderung« für viele Immobilien und Grundstücke
in der »gesamten Region«, so ein Kommentar in der Zeitung. Obendrein sei man dann nicht mehr »wettbewerbsfähig gegenüber Scharbe« und anderen »mitkonkurrierenden« Erholungsorten. »Kaum wiedergutzumachen« sei
es, wenn sich »so ein Schwachsinn« durchsetzen würde.
Ohne genauer nachzuschauen, woher die Meldung eigentlich kam, kochte die Stimmung immer bedrohlicher. Die
ganze Aufregung fand ihren absurden Höhepunkt in einer
Ohrfeige, die ein aufgebrachter Ferienwohnungsbesitzer
aus NRW einer ansässigen Hotelierstochter verpasste, weil
sie etwas abschätzig angemerkt hatte, es würden doch erst
einmal mehr Touristen nach Bimmelsdorf kommen, da es
durch den angedachten Schnellstraßenausbau ungleich bequemer werden würde, das verpennte Kaff mit dem Auto
zu erreichen.
Die Wogen glätteten sich erst, als in dem damals noch
einzigen Lokalblatt Strandläufer, wo auch Kathrins ursprünglicher Text erschienen war, eine gegenteilig lautende »persönliche Garantie« für »ehrenwörtlich, kein geplantes Autobahnanbindungsbauvorhaben der Gemeinde
Bimmelsdorfer Strand« vom amtierenden Kurdirektor
ausgesprochen wurde. Trotzdem, Kathrins Coup blieb un19
vergessen und hatte einmal mehr deutlich werden lassen,
welch flache Gesinnung vorherrschte. Aktuell diskutiert
eine Gemeinde in der Nähe von Bimmelsdorf eine geplante Flüchtlingsunterkunft, die in einer leerstehenden
Kaserne am Ortsrand entstehen soll. Die Argumente der
lokalen Inländer tönen verblüffend ähnlich veränderungsunwillig wie damals.
Horsti war zum Höhepunkt des AutobahnanbindungsSchwindels total aus dem Häuschen und hat ihn – wohl
auch um das Ganze noch weiter anzufachen – mit seinem
ersten musikalischen Projekt »Immergrün« (der Name
sollte darauf hinweisen, dass Leute wie er keinesfalls stoppen werden, nur weil zum Beispiel eine Ampel rotes Licht
anzeigt) in dem Songtext »Kalte Meldung / Heiße Köpfe«
verewigt. Er ist mit Immergrün allerdings niemals aufgetreten, auch weil er damit noch ganz allein dastand, ohne
irgendeinen weiteren Mitmusikanten.
In der Folgezeit wurden noch einige weitere richtig gut
funktionierende Lügengeschichten aufgetischt, die dann
jeweils ein klein bisschen Atem verschafften in ihrem – da
gibt es nichts zu beschönigen – meist farblosen Provinzleben. Denn trotz einiger gelungener Ablenkungen: Was
auf jeden Fall in fester Erinnerung bleibt, ist das Gefühl an
ein graues Unwohlsein, latente Schwere und eine diffuse
Undurchdringbarkeit des Daseins. Die Sinnfreiheit jener
Tage war dabei kaum auszuhalten, in ihrer alles in sich aufsaugenden Taubheit. Jene Zeit war aus Blei. Sie war ein
luftdichtes Tuch, unter dem alles erstickte, was sich zu bewegen versuchte. Und genau deshalb war das Versprechen
der urplötzlich heranschwappenden Neuen Welle, die
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schrillen Töne etwa in Gestalt des lauten A-Wortes und
was sie alle erst mal frei interpretierend damit verbanden,
von so mitreißender Bedeutung. Auf einmal funkelte Verheißung. Wie der erste Lichtstrahl nach einer nicht enden
wollenden Dunkelheit. Es entstand eine große kollektive
Identität.
Ich / Du / Alle / Wir
Werden: nie wieder allein sein!
Hört ihr das?
Tatsächlich, es sind noch andere da draußen! Und diese
anderen werden das auch nicht länger so mitmachen. Es
vertrockneten nicht nur sie dort am Klein-, Groß- und
Bimmelsdorfer Strand. Nur ließ sich das alles eben noch
nicht sauber zu einer patentierbaren Rettungsinsel ausbauen. Deshalb war erst mal nur ungerichtetes Gezappel.
Und pures Staunen. Einordnen konnte warten. Geschlafen
wird, wenn gestorben ist. Wahrscheinlich ist das auch schon
immer so gewesen mit dem unwissenden Losspringen und
nachträglichen Nachmessen. Der Schriftsteller Oskar
Maria Graf entfloh über ein halbes Jahrhundert zuvor der
klammen bayrischen Provinz und somit den Misshandlungen des elterlichen Betriebes – ähnlich unvorbereitet
auf alles Weitere. Nach langem Erdulden in der Backstube
hatte der junge Herr Graf dem despotischen, vorgesetzten
Bruder ein Backblech über den Kopf geschlagen und war
sofort auf in die Stadt, nach München. Dort trugen sich
in jenen Tagen die aufregenden Ereignisse zu, aus denen
dann die Münchner Räterepublik wurde, jener Versuch
unterschiedlichster Leute, sich selbst und unbedingt unautoritär zu regieren. Oskar Maria Graf also, nach seiner
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impulsiven Flucht frisch angekommen in diesem Pulverfass, fragte als Erstes ausgerechnet einen Polizisten nach
dem Ort, »an dem sich immer diese Anarchisten treffen«,
Später beschrieb er jenen Moment des Ausbrechens aus
seiner nicht mehr zu ertragenden, zugeschnürten Zwangslage mit den Worten »als das Blut brach«. Wie ein überlauter Weckton habe das gewirkt.
Eben. Und vergleichbar erweckend war das, was in
Horstis Provinz an naive, superbereite Ohren schrillte.
Sicher waren Horsti und die Seinen im Augenblick, da bei
ihnen das Blut brach, weniger existentiell bedroht als die
Menschen in den vorrevolutionären Tagen des Münchner Umsturzes. Horstis Clique hatte trotzdem eine auf
sie stark zutreffende Aufforderung verstanden, in diesem
Moment der klaustrophobischen Windstille, in dieser repressiven BRD der späten 70er Jahre. Es war eine wundersame Rettung aus höchster Not. Sie alle waren am Verdursten und am Absaufen im selben Moment, verkeilt in
der Verklemmtheit der Nachkriegsbeauftragten, die ihre
Nächsten, Lehrer, Ausbilder oder Politiker waren. Nicht
viel attraktiver zeigten sich die genauso Unbrauchbaren,
auf eine ganz andere Art Entblößten: jene ausglimmenden Hippies oder Guatemala-Korrekten. Die waren zwar
inhaltlich erbverwandt, erschienen aber nicht wirkungsrelevant genug in den Augen und Ohren der jungen Horstis und Mortens, Kathrins und Martinas. Es musste jetzt
mal etwas bedingungslos laut knallen. Heftig angegriffen
werden. Die angebotene Mische der sich weiter knüppelhagel spätpreußisch aufführenden, in weiten Teilen starrgeistigen, autoritären Gesellschaft, die sich nur in frivolen,
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beschwipsten Bürgerspäßen auflockerte, war als Orientierungsbild insgesamt super unattraktiv.
Ein riesiges bizarres Schützenfest mit marschierenden
Schellenbäumen und verkrochenem, anzüglichem Partykeller. Kegelvereinsmeiereien und Vatertagssaufmüllerchen. Was heute neo-kultigen Eventcharakter hat, in massentauglichen Eventparaden, als Schlagermusikumzüge mit
zigtausend Schunkelnden, war damals unlustige Angehörigenschändung. Mindestens für Frauen und Kinder. Die
aus dieser hässlichen Soße herauswachsenden Sprösslinge
konnten gar nicht anders, als riesige, stinkende Haufen darauf zu kacken und einen rücksichtslosen Pogo darüber hinweg zu tanzen. Und sie kackten und tanzten so hysterisch,
dass sie sich manchmal dabei verletzten. Und andere gleich
mit. Alle sollten unbedingt sehen, dass es hier jetzt welche
wirklich ernst meinten. Und es musste kapiert werden, dass
in diesem deutlichen Auftritt gleichzeitig gar nichts mehr
ernst genommen werden wird, nichts in Betracht zu ziehen
ist, von der lebensverlogenen Erwachsenenweltwüste, der
schönen Leere, wie die Sex Pistols sie besangen.
Keine Zukunft mehr dafür!
Wozu auch.
Für was auch.
Für welche Naturbeschädigung / Ausbeutung / Artenvernichtung / Aufrüstung / Angestelltenverbrauchung.
In welcher Anstalt.
Für welche Seite des Kalten Krieges.
Für welchen Stammtisch.
Für welchen Rassismus.
Für welchen Machismus.
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Für welches Angebot von gerahmter Verplanung / Schule / Ausbildung / Arbeit / Endstation.
Horsti fragte sich das wieder und wieder: Wer bestimmt,
wie wir wo reinpassen, um wie mitmachen zu müssen? Wer
entscheidet, was wir wann machen müssen, um wessen Existenz zu existieren? Und so weiter. Wieso arbeiten müssen,
um leben zu können?
»Anaaaaaaarckeeeeey!« Horsti wünschte jedem Wesen,
wenigstens ein einziges Mal dieses Gefühl zu haben. In
diesem Sinne loslassen zu können. Mit aller Wucht hochspringen. Mit allem Recht »Nein!« schreien. Das tut dann
überhaupt nicht weh beim Hinfallen. Weil der Hall des
Aufschlagens selbsterzeugt ist und so zum Schutz wird für
den nächsten Sprung. Und verstummen wird so ein purer
Sound nie mehr. Wobei Horsti eines schon recht bald ahnte: Nichts lässt sich konservieren. Und auch die schlaue
Kathrin war derselben Meinung, und sie konnte das auch
noch gut begründen. Als Horsti einmal zu ihr sagte, er habe
eine Art universelle Methode entdeckt, wie man struppige
Lieder schreiben konnte, die auch noch in 100 Jahren genauso un-mitsingbar sind, antwortete sie weitsichtig, dass
es vergebene Liebesmühe sei, Förmchen anfertigen zu
wollen zum Sperrigsein. Es gebe keinen haltbaren Baukasten zum Rebellieren, alles noch so Abseitige würde mit der
Zeit zwangsläufig wie ein aufgewärmtes Süppchen schmecken, prophezeite sie. Er werde schon sehen. Horsti verstand das noch nicht so ganz zu jener Zeit. Vielleicht wollte
er auch einfach nicht. Die zugehörigen Erkenntnisse, die
Kathrin anscheinend bereits damals hatte, erlebte er erst
viel, viel später.
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LopLop, und was es sonst noch so gibt
Machen, machen, krachen lassen. Und in Frage stellen:
»Wie kann ich neu auf die Welt kommen, wenn mir meine erste Geburt so gar nicht gefallen hat?« Zuerst einmal
brauchten sie vernünftige Namen. Denn wer sich nicht
fühlte wie Morten, Stephan und Horsti oder Kathrin, Tanja und Martina, der musste auch nicht länger so heißen.
Aus Kathrin wurde Kitty. Kurze Zeit später dann noch
besser: Kitty against Kitty. Stephan nannte sich nun Nerve
R. – sehr zu seinem Charakter passend. Horsti fand nicht
gleich etwas Passendes. Er wühlte sich durch die Welten
seiner Heroen und versuchte, daraus etwas Verbindendes
zu schrauben. Win Che gefiel ihm ganz gut. Gesprochen:
Winschi. Eine Kombination aus Winnetou und Che Guevara. Kitty against Kitty fand das super peinlich, anmaßend und nicht mal cool. Dann eben direkter. Explosion!
Krawall! Gefahr? Genau, Gefahr! Denn so fühlte er sich,
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gefährlich. Ein gefährlicher Angreifer auf die Verhältnisse. Horsti Danger! Das tat richtig gut. Oder doch nicht?
Zu leicht zu entschlüsseln. Zu unsubtil. Besser, weil irritierender: irgendetwas mit dem Wort Germany! Horsti from
Germany? Fast. Hm. Stevie? Joe? Franki? Tommi!? Genau,
das war stärker. Tommi from Germany! Internationale Verwegenheit. Dabei aber auch irgendwie einfach. Sein Name
sollte kritisch sein. Mit umgedrehtem Spieß. Tommi from
Germany. Dem Teufel den Spiegel vorhalten. Sich freiwillig auf das beziehen, was man böse findet. In jenen Tagen
entstanden unzählige weitere Pseudonyme. Doktor Onkel!
Cat the Cat! Das Wichtigste an den Umbenennungen war
das Spektakuläre daran. Dem Kinde einen eigenen, selbstgewählten, einen größeren Namen geben. Damit hatte man
den ersten echten Abstand geschaffen von der lähmenden
Vorsehung, die ihre Herkunft weiterführen sollte.
Der Germany-Nachname ist Tommi heute natürlich
etwas peinlich. Auch weil er ihn ständig aufs Neue erklären
muss. In immer anderen, höchst unterschiedlichen Umgebungen, in denen er unterwegs war und gegenwärtig ist.
Denn – das darf man zu diesem Zeitpunkt bereits erfahren und da braucht man es als Leser nicht gleich mit der
Angst zu tun bekommen, nur weil die Zeiten im Text etwas
springen: Tommi from Germany hat sich irgendwann aufgemacht. Etwas musste unbedingt anders werden. Anders
als das, was sich in seiner näheren Umgebung aufdrängte.
Und so landete er nach und nach in denkbar unterschiedlichen Gefilden, schlug einen ordentlichen Bogen. Vom
unüberzeugten, richtigen Handwerker zum überzeugten,
falschen Kunstbastler. Vom Land in die Stadt, ein bisschen
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in die Welt gar. Rasante Irrfahrten durch Institutionen.
Vom ersten Auftritt im Wienerwald-Lokal in seinem Dorf
bis zur Opernbühne in einer richtigen City! Nach hinten.
Zur Seite. Und immer wieder zurück. Manchmal stapelt er
tief im Hohen. Wenn es das gibt. Oder umgekehrt. Alles
kann überall schiefgehen. Versagt wird, was das Zeug hält.
Tommi probiert es, in vielen Genres. Ohne Papiere. Er
traut sich auf große Bühnen und fürchtet sich davor, allein
ins Bett zu gehen. Wer kein Urvertrauen mitbekommen
hat, wird für immer zweifeln an allem Sein. Der Rest bleibt
der ständige Versuch, Verlustängste zu überwinden, die
niemals Ruhe geben werden. Als würde man die Hand auf
eine Wunde halten und das Blut hört nicht auf zu spritzen. Vorgesehen ist gar nichts. Talentiert ist auch nichts.
Horsti – später Tommi – ist in etwas hineingeraten. In eine
Verkettung von Umständen. Zum Glück ohne schweres
Verbiegen: Was kam, hat er gewollt. Selbst seine Unterarmtätowierung, die eine misslungene, verwelkte Balkontopfgeranie gekreuzt mit einem Kanonenrohr des bundesdeutschen Kampfpanzers Leopard II zeigt, erhielt er bei
vollem Bewusstsein. Diese Kreuzung aus einer beschädigten Vorgartenpflanze und dem nachgerüsteten Kriegsverlierer sollte die Symbole bürgerlicher Doppelmoral verhöhnen. Direkter Spott: So etwas war angesagt in frühen
Bimmelsdorfer Tagen. Selbstgeschusterte Rebellion. Immer ging es um die autonome Wahl der Waffen, so Kitty
against Kitty, Meisterin der pathetischen Einordnung, die
bis heute zu ihrem eigenen Künstlernamen aus Jugendtagen steht. Sehr selbstbewusst verwendet sie ihn weiterhin
in allen Lebenslagen.
27
Und es stimmt schon, sollen sie auch den ehemaligen
Horsti aus Bimmelsdorf ruhig mit »Zu Gast heute bei
uns im Studio, Herr Tommi from Germany« ankündigen,
wenn er mal öffentlich eingeladen wird, seine Themen zu
vertreten. »Das ist zwar irgendwie Märchen, aber allemal
besser, als jede dieser unfreien Realitäten ihrer phantasielosen Welt, aus denen ihr genormter Schrott gebaut ist«,
wie Tommis alter Kumpel Nerve R., stets der Sprachenergischste von allen, die Welt schon früher gern entlarvte.
Nicht jeder konnte so präzise in Worte fassen, wogegen
man war. Auch wenn sie alle – anfangs rein intuitiv –
schlicht kopierten. Künstlerische Eigenständigkeit war sicher nicht von Beginn an vorderstes Merkmal ihrer Szene.
Lange hatten Tommi und die anderen, abgesehen von
ihren Namensgebungen, überhaupt keine Ahnung, wie sie
äußerlich unverwechselbar anders daherkommen könnten.
Anders als das, was sonst so herumflog an nicht taugendem
Zeugs. Entgegen kam ihnen, dass sie massenweise Zeit hatten für ihre Versuche. Das Leben der späten 70er Jahre, in
denen Kitty against Kitty, Tommi from Germany, Doktor
Onkel, Nerve R., Cat the Cat und all die anderen an ihrer
Sprache, ihren Klamotten, Musiken, Werten und Idealen,
an ihren Codes bastelten, war zwar manchmal unerträglich
öde, aber dafür auch gut langsam. Und durch Modelle wie
»Umherschweifen«, »Tagestehlen« oder »selbstbewusstes
Abhängen«, die in jenen Tagen noch weit verbreitet waren,
ließ es sich recht geschützt an Codes und Positionen feilen.
So konnten sie in aller Ruhe auf einzigartig dumme Gedanken kommen. Eine richtig schnelle und breite Verwertung
von Selbermach-Kultur – die heute Shop-fertig angeboten
28
wird – gedieh schließlich erst später, hergezeigt durch die
aufsteigenden Werbeagenturen und Zeitgeistmagazine der
darauffolgenden Dekaden.
Sie dagegen, auf ihrem dörflichen Marktplatz, saßen
noch Ewigkeiten entfernt von Guerilla-Marketing-StreetArt-Product-Promotion. Frisch geschlüpfte PionierKreative, das waren sie. Präsentationsdruck, Gedanken
von Weiterverwertung, das alles sollte erst noch kommen.
Zunächst mal Aufwachen. Empfangen. Umschauen. Dann
Reagieren. Was ihnen nützte, flog heran wie Zaubermäntelchen. Selbst dort, am entlegenen Bimmelsdorfer Strand.
Anlässe zur Anwendung ihrer Positionen gab es viele.
Einmal brachte irgendjemand ein Foto aus einer Illustrierten mit, auf dem eine junge Frau abgebildet war, die
angeblich auf dem Schulhof beim Kiffen erwischt worden
war. Der Begleittext sprach von einer zunehmenden Bedrohung durch Drogenmissbrauch in Schulen und an Universitäten. Außerdem zeigte das Foto zwei Männer, die der
vermeintlich Süchtigen offensichtlich mitten im Klassenzimmer (man konnte eine Tafel mit chemischen Formeln
erkennen) die Arme heftig nach hinten verdrehten. Eine
Lehrerin sah teilnahmslos zu. Dabei muss der Schülerin
die Jacke umgekrempelt und zerrissen worden sein. Richtig
brutal sah das aus. Tommi und die anderen waren zutiefst
empört darüber und schon am nächsten Tag, als sie sich auf
dem Marktplatz trafen, trugen ausnahmslos alle einen solidarity dress, wie Kitty das taufte. Sie hatten das Futter ihrer
Jacken nach außen gekehrt und die Parole »Deutschland,
deine Lehrer / Miese Zwangsumkehrer«, daraufgeschrieben. Mit Lippenstift oder mit richtiger Ölfarbe. Es wurde
29
die erste Gemeinschaftsaktion und wahrscheinlich der erste öffentliche Protest, den der Bimmelsdorfer Strand je erlebt hatte. Bestimmt 40 Leute waren gekommen, sogar ein
Jungbauer aus dem zehn Kilometer entfernten Kuhrau war
dabei: mit seinem Trecker. Niemand kam, sie zu hindern.
Ein Supererfolg. Tommi schlief die ganze darauffolgende
Nacht nicht vor Aufregung. Endlich tat sich etwas!
Immer dann, wenn ihrer Meinung nach Solidarität angebracht war, unternahmen sie ihre Auftritte. Dabei versuchten sie möglichst wenig zu wiederholen, um unberechenbar zu bleiben, wie Kitty die Parole ausgab. So
kam es, dass sich jedes Mal ein völlig neues Bild zeigte,
wenn die Gruppe antrat. Autoreifen, Felle, Anglerstiefel,
Bauplanen und Fischernetze hießen die Materialien, aus
denen wild ein Kostüm kombiniert wurde. Einmal hatten
sich alle komplett mit Seetang überschüttet, was Tommis
Freund Morten damals als Uns-Stinkt-Es-Gewaltig-Parade betitelte. Nur eine Strategie wurde mehrfach angewandt: die sogenannte Mottentechnik. Hierbei schnitten
sie sich große Löcher in den Konfirmationsanzug oder in
den Weihnachtspullover von Oma – was zumindest Tommi
nicht ohne Überwindung tat. Im Grunde schämt er sich
bis heute dafür.
Anlass war etwa, gegen eine größere Wiederbewaffnung
der Bundeswehr zu protestieren. Die Löcher sollten hierbei symbolisch für Einschusslöcher stehen, und alle fanden
die Methode deshalb so extra cool, weil sie hier endlich
mal etwas weggelassen hatten und nicht noch mehr »unnützen Scheiß dazuproduzierten«, wie das all die anderen
»Lemminge, Normbürger und Claqueure« taten, in ihrem
30
»Dauerkonsumenten-Mitmachtrott« – wie Nerve R. es in
einem Flugblatt verfasste. Langsam bildete sich bei aller
geforderten Beweglichkeit so etwas wie ein Muster heraus.
Gelungene Verkehrungen. Originelle Umbenennungen.
Das waren die Sachen, die am meisten Wirkung zeigten.
Ein starkes Gefühl. Endlich konnten sie sich entziehen,
konnten zeigen, dass sie nicht klaglos mitschwammen,
wurden zu unberechenbaren Viechern, so nannte es Nerve
R. Es gelang ihnen, der empfundenen Sinnlosigkeit mit
noch größerer Sinnlosigkeit einen Boomerang entgegenzuschleudern und das zum eigenen Prinzip zu machen.
»Ich heiß Frank und hab ’ne Uhr um. Und mir ist das alles
scheißegal«, lautete die Lieblingssongzeile einer Hamburger Band, die Tommi from Germany in jenen Tagen immer
und immer wieder hörte und mit der er nicht nur seine
Oma – die er eigentlich sehr liebte – zutiefst irritierte.
Freiwillig nichts können. Nichts wollen. Nichts werden.
Das war es, was erfolgreich nervte, sich schlecht einfangen
ließ von den Gegnern. Und mit diesem neuentwickelten
Gar Nichts dann auch noch frech und selbstbewusst auftreten. Sich austoben in selbstgewählter Dystopie und darin
einen großen Wert behaupten.
»Anarckeyyy!« Sie hatten einen Auftritt erfunden, der
echt schwer zu zähmen war, der sich nicht mehr so einfach beruhigen ließ durch simple Versprechungen aus der
ablehnenswerten, weil nur noch bereitgestellten Welt.
Wie das genau hieß, was sie da machten, war egal. Ihnen
selbst am meisten. Manchmal fanden sich Anleitungen in
von selbsternannten Herausgebern geschriebenen Heftchen, den beliebten Fanzines. Davon gab es unendlich vie31
le. Sie trugen Namen wie Beschissene Scheißpost und Schickes
Frisches Sinnloses, oder Bürgergenickschuss und Bundesvernichtungsgestaltung. Die Fanzines gab es in 50er und 200er
Auflagen – im Eigenvertrieb. Eigene Strukturen schaffen,
das war es. Selber schreiben, selber verkaufen. Platten. Klamotten. Läden. Selbstverwirklichung mit fehlendem Leistungsnachweis. Independent. Tommis Kumpel Morten,
der sich als einer der wenigen weigerte, einen Künstlernamen anzunehmen, weil er auch als Morten zeigen könne, was er ätzend finde, entwickelte sein auf Müllsackfetzen geschriebenes Magazin Plastik Porno. Es führte bis auf
ein paar Konzertberichte fast ausschließlich Aufrufe zum
Ungehorsam als Inhalt. Einiges daraus wurde Praxis. Die
meisten Aktionen entstanden aber spontan. Es kam auch
vor, dass jemand behauptete, von etwas besonders Geilem, Actionmäßigem gehört zu haben – was sofort in die
Tat umgesetzt werden sollte. Ständig war was zu tun: Sie
sprühten die Silhouette vom Schulgebäude umgekehrt herum auf die selbige, super verhasste Institution. Zogen sich
an wie ihre Lehrer – nur in Mottentechnik. Ein beliebtes
Symbol war auch der Klabautermann, aber nicht so comichaft, sondern eher düster und verzerrt. Kitty, die heute mit
Analogien aus der Kunstwelt zu punkten weiß, vergleicht
das wütende Auftreten von damals, bildlich gesprochen,
mit dem LopLop, einem berühmten Motiv ersonnen von
dem von ihr hochgeschätzten Maler Max Ernst. Ein wilder,
trampelnder, listig spottender Vogel ist der LopLop. Kitty
und Tommi hatten die berühmte Kunstfigur zum ersten
Mal als kleinen, an die Wand gehefteten Zeitungsausriss
auf der Wohnungsparty eines befreundeten Kochlehrlings
32
gesehen und waren sofort seltsam eingenommen von der
Power des LopLop-Urbiestes auf dem Max-Ernst-Bild.
Und das, obwohl Tommi eigentlich mit wenig zu beeindrucken war, was nicht mit lauter Musik zu tun hatte.
Erst viele Jahre später war er so weit zuzugeben, dass
auch Kunstbilder starke Wirkungen entfachen können,
tatsächlich gar so laut, so desperat klingen können, wie ein
ungeübtes Punkstück. Damals fand er, Kunst sei generell
gemacht für Bonzen und Sektflötenschickis. Trotzdem –
und vielleicht auch, weil Kitty so ungeteilt angetan war –,
jener LopLop-Moment blieb voll hängen und war somit
das zweite richtig einschneidende Ereignis, das Tommi als
wirklich Mut machend empfand – also, nach dem Strandpartyerlebnis mit der alles befreienden »A-Wort«-Eruption. Wahrscheinlich auch deshalb, weil es in beiden Fällen
jeweils um etwas neu Verstandenes ging. Wenn das mal zutraf, dann war das wie ein Blitz im Kopf. Angezündet.
Nur noch zwei weitere Male erlebte Tommi solch umwälzende, innere Brände. Beide Male waren es aber keine
Kunstbegegnungen im weitesten, sondern Liebesaugenblicke im näheren Sinne. Gemeint sind die wundersamsten
Treffen überhaupt, nämlich da, wo sich zwei so richtig
übereinanderlegen. Ganz und völlig. Gar nicht mal sexuell
gemeint. Tommi findet, dass nur Menschenverbindungen
Leidenschaften gründlich ausloten können. Allein könnte
man das nicht erfahren.
Von dem Kochlehrling jedenfalls, den Tommi damals
gerade besser kennenlernte, erfuhren sie noch so einiges
über das, was es sonst noch so gab zum Aufmüpfen, wie er
das selber beschrieb. Sein Name war Eddie, und er stammte
33
aus einem mittelaufregenden mitteldeutschen Mittelgebirge. Wie die Bimmelsdorfer war er durch und durch auf der
Flucht vor dem vorherrschenden Zeitblei mit der alles verklebenden Enge und seinen zugehörigen, einklemmenden
Protagonisten. Nur dass er, Eddie, keineswegs bereit war,
zum puren Ertragen auf die Welt geworfen worden zu sein.
Und das ließ er seine Umgebung so deutlich wissen, wie es
nur ging. Auch in den eigenen Reihen. Angenehmes Anecken unter Gleichgesinnten – das war seine Sache nicht.
Dieser widerspenstige Kochlehrling ging dorthin, wo es
echt weh tat, nämlich da, wo es nicht jeder gleich mitbekam.
Auf seiner Lehrstelle zum Beispiel. Hier fiel er sowieso
aus allen Rahmen, zumal optisch. Eddie trug Mao-Look,
was damals als Bekenntnis unmissverständlich war. Dementsprechend gab er sich in seiner gesamten Haltung: extrem sperrig in allem. Eine derartige Konsequenz hatte
Tommi vorher noch nicht erlebt. Eddie war universell renitent, hinterfragte alles und weigerte sich beharrlich, Aufgaben auszuführen, deren Sinn er nicht zu hundert Prozent nachvollziehen konnte. Kein Quent Anbiederung. So
einer lässt den Spaten fallen, wenn Pause ist. Auch verteilte
Eddie den Arbeiterkampf vor seinem kleinen Lehrbetrieb,
gemeinsam mit einem ähnlich toughen DKP-Genossen.
Nerve R. war wohl auch ein paarmal dabei. Eddies Verhalten hatte großen Ärger zum Ergebnis. Die Schwierigkeiten, die Typen wie er bekamen, konnten so schwerwiegend
sein, dass sie bei ihren Ausbildungen oder in ihren Familien mit empfindlichen Bestrafungen, schlimmstenfalls mit
Ausschluss rechnen mussten. Züchtigungen waren keine
34
Seltenheit. Hinter den Gardinen, in den sogenannten Zuhauses, waren jahrelange Schläge und Schlimmeres ehedem
noch verbreitete, zeitgemäße Erziehungshilfen. Die hierbei entstandenen Wunden schlugen manchmal irreparabel
tief. Auch Eddie der Koch hatte einiges dergleichen erlebt.
Aber irgendwann begann er dagegenzuhalten. Und seine
Idee war es, wie bei vielen anderen auch, das System nicht
etwa schleichend zu unterwandern, es sollte angegriffen
werden: »Du beginnst mit den Flügeln zu schlagen oder
du zerbrichst«, nannte er das etwas überbedeutsam. Nicht
alle schafften einen starken Abflug. In Tommis Freundeskreis fanden sich einige, die früh, manche auch erst sehr
viel später, real kaputtgingen. Oder sogar ganz aufgaben,
sich das Leben nahmen. Aus Schuld und Scham, aus Verlorenheit und nicht nachlassendem Alleinseinschmerz.
Diesen widmete Tommi später ein Lied.
35
»Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens«
Und dann endlich über fünfzehn
Später aufstehen
Vom Kartenspielen erzählen
Martina, du kennst dich doch
Das alles, das reimt sich noch
Auf Riot und auf Licht
Komm lass dich endlich einmal gehen
Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens
Deine Jugend ist die schönste Zeit des Lebens
Wenn er das noch mal tut
Wenn Vater das wiederholt
Wirst du nicht wiederkommen
Da ist deine Freundin
Ihr könnt jederzeit durchdrehen und killen
Und Winter übergehen
Lass dich jetzt endlich einmal gehen
Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens
Deine Jugend ist die schönste Zeit des Lebens
36
(*1)
Ten Steps to Piracy
Tommi begann herumzufahren. Das war üblich bei Landmenschen, allein schon, weil die Welt, aus der sie kamen,
so überschaubar und erkundet war. Es wurde Gewohnheit, die Wochenenden bei anderen, ähnlich Aktivierten zu
verbringen. Manche wohnten in einiger Entfernung. Als
akzeptable Tramp-Distanz bezeichnete man anfangs einen
Radius von ungefähr 100 Kilometern, später dehnte sich
das aus. Es entstand ein gutes Netz von möglichen Anlaufpunkten, verteilt über das ganze Land. Sie trafen sich an
Sehnsuchtsorten. Sagenumwobenen Buch- und Plattenläden mit Sonderauswahl. In okkupierten Kneipen und
annektierten Discos: Alles konnte Treffpunkt werden für
eine überschaubare Schar Eingeweihter.
Tommi war immer sehr aufgeregt, wenn es zu den
Spezial-Orten ging, dorthin, wo die anderen waren. Die
gesamte Szene bestand aus insgesamt ein paar Hundert
37
Leuten. In den großen Städten. Dazu ein paar Exklaven
in wenigen Mittelstädten. Seltener: in den letzten Käffern.
In Bimmelsdorf waren sie mit ungefähr dreißig mehr oder
weniger Zugehörigen ungewöhnlich viele. Verhältnismäßig früh obendrein. Besonders verbindend bei den Provinzlern – das ging über das geteilte Unwohlsein hinaus –
war der glühende Wunsch abzuhauen. Am Ende blieben
die meisten.
Nicht so Kitty against Kitty. Sie war eine der Ersten, die
sich auf und davon machten. Egal, wo sie sich gerade aufhielt: Sie achtete stets darauf, dass alle aus der Szene immer
gut mitbekamen, was sie in der Folge so anstellte. Hierfür
telefonierte sie, geschickt gestreut, mal mit dem einen, mal
dem anderen aus der Clique. Sie glaubte fest an den Nutzen steter Kommunikation und ging damit seltsam diszipliniert, regelrecht pedantisch um. Heute kann man sagen,
Kitty against Kitty aus dem ländlichen Bimmelsdorf war
eine visionäre, den damaligen Mitteln angepasst vollständig analog arbeitende Dauernetzwerkerin. Und obwohl sie
ständig unterwegs war, schaffte sie es, nahezu ohne Geld
auszukommen. Sie hangelte sich an Leuten entlang, die,
ähnlich wie sie selbst, irgendwie immer irgendwas machten. Als »penniless jetset« bezeichnete man viel später eine
solche Kreativ-Reiserei bei gleichzeitigem unbedingt entspanntem, aber doch permanentem Produzieren.
Kitty war für Tommi ein Vorbild in ihrer umherkreiselnden Wandelbarkeit. Und sie war es dann auch, die
ihn nachdrücklich aufforderte, Bimmelsdorf ebenfalls den
Rücken zu kehren: »Tommi, du bist nicht der Typ, der in
Orten leben sollte, in denen die Kirchtürme höher sind als
38
die höchsten Häuser«, sagte sie zu ihm, als er mal wieder
über die Enge seines Daseins klagte, »geh in die Stadt, lebe
unter Gleichgesinnten. In deinem Örtchen wird man dich
auf Dauer nicht lassen«, schimpfte sie aus Kopenhagen anrufend ins Telefon. Oder wo sie sich sonst gerade aufhielt.
Und obwohl das schöne Sinnbild mit den Hochhäusern
und den Kirchtürmen ausgerechnet auf Bimmelsdorf mit
seinen drei weit auf die See hinaus sichtbaren Hotelklötzen
so gar nicht zutraf, schwante ihm natürlich, dass sie recht
hatte. Und zum Glück ist er irgendwann wirklich abgehauen, auch wenn es gedauert hat. Und wenn nicht Nerve
R. schon vor ihm gegangen wäre, oder sein Freund und
späterer Bandkollege Ha Em Schleier (der sich seinen
Künstlernamen von einem ermordeten Politiker entliehen
hatte), und wenn er nicht in derselben Zeit seinen weiteren
späteren Bandkollegen Cat the Cat kennengelernt hätte,
der auch aus der Provinz geflohen war, dann würde er heute vielleicht noch immer nur am Strand entlang schimpfen.
Den forderndsten Anstoß zum Aufbruch aber hatte eindeutig Kitty gegeben. Und noch etwas ganz anderes. Aber
dazu später.
Im Gegensatz zu Tommi hatte Kitty richtig Überblick,
sie verstand die Zusammenhänge. Intuitiv und präzise.
Tommi war immer wieder aufs Neue erstaunt, wie sie das
alles so gleichzeitig und ohne erkennbare Anstrengung
abrief. Es fiel ihr spielerisch leicht, augenblicklich Situationen umzukehren. Wenn er oder jemand aus der Clique
mit lang überlegten Vorschlägen zum Beispiel für eine Kuckucks-Aktion kam, wusste sie blitzartig, wie es sich viel
effizienter austricksen ließ. Obendrein hatte sie außerge39
wöhnliches Talent beim Erfinden. Und Ausdauer. Stundenlang schraubte sie sich in fiktive Geschichten hinein,
schuf komplexe Modelle für die erstaunlichsten Umgehungen. Am stärksten waren ihre anfangs noch sehr anarchischen Geschäftsideen, die auf einer flexiblen Basis funktionierten, so dass Kitty die Möglichkeit hatte, sie jederzeit
abzuwandeln, falls sie nicht gleich griffen. Auf jeden Fall –
das kapierte Tommi in dem Moment, als ihm aufging, was
damit überhaupt gemeint ist – war sie der erste »flexible
Mensch«, dem Tommi je begegnete. Jemand mit vielen
parallelen Identitäten. Flexibilität war der Nährstoff ihrer
ständig anwachsenden, immer zeitgemäßen Möglichkeiten
und Werkzeuge, die bei Kittys ungeheurem Schaffenstempo irgendwann total unübersichtlich wurden.
Angefangen hatte alles mit einem tragbaren Drucker,
einem kleinen Holzkästchen, in dem Kitty für einen bestimmten Zweck alles Nötige untergebracht hatte: Linoleum, Farben, verschiedene Papiersorten, kleine Gitterrahmen, einen Cutter und weitere, verschieden starke
Schnittmesser. Mit dieser »Mobile Copy Box« war sie imstande, in wenigen Minuten für alle nur denkbaren Veranstaltungen, auf die sie und andere möglichst zahlungsfrei
gelangen wollten, so ziemlich jede Eintrittskarte nachzumachen. Wie sie das genau anstellte, wusste niemand
so richtig. Wenn sie etwas anfing, tat sie es konzentriert.
Kitty kopierte erstaunliche Stückzahlen mit ihrer geheimen Schachtel. Nach einem Konzert in Lübeck rechnete
sie einmal vor, dass mehr Zuschauer mit ihren gefälschten
Mobile-Copy-Box-Tickets in den Saal gekommen waren
als solche mit ordnungsgemäß erworbenen Karten. Bei
40
über 500 Besuchern! Das Schummelgeschäft zog sich über
Jahre, und die halbe Küste profitierte davon.
Einstellen musste sie ihre Schwarzkopiererei erst, nachdem sie dabei erwischt worden war, auf der Damentoilette
im Nautica, einer überregional angesagten Bimmelsdorfer Edeldisco, Getränkegutscheine für die extrem teuren
Longdrinks herzustellen. Die haben sie sofort angezeigt,
obwohl Kitty den Junior-Chef Knut aus der Schule kannte – und angeblich sogar mal was mit ihm hatte. »Erschleichung von Leistung«, lautete der Vorwurf von Amts
wegen, und Kitty musste eine für damalige Verhältnisse
empfindliche Buße berappen (beziehungsweise sehr lange
abstottern). Wo sie das viele Strafgeld herbekam, blieb eines ihrer Geheimnisse.
Parallel ging es ungebremst weiter, mit anderen Sachen.
Die an den tragbaren Drucker anschließende Produktlinie
war völlig legal. Kitty begann, leidenschaftlich wie immer
und dieses Mal sehr zu Tommis Missfallen, sogenannte riot
gifts zu entwerfen, verschenkbare Artikel, die im weitesten
Sinne mit Protest zu tun hatten. Ausgewählte, ikonisch verehrte Rebellen und berühmte Aufstände – oder die Verklärungen solcher – waren Teil des Konzepts. Kitty verwurstete sie in revoltierende Geschenkideen. Diesen Begriff
konnte man einem Hinweisschildchen entnehmen, das
als immer gleiche Verpackungsbeilage den gifts angeheftet war. Als besonders nerviges, sehr häufig verschenktes
Exemplar stellte sich eine zehn Meter lange Stoffrolle
heraus, auf der allerlei Totenköpfe prangten und zusätzlich Fußabdrücke aufgedruckt waren. Jedem der sauber
verpackten Präsente lag obendrein eine schwarze Augen41
binde bei. »Ten Steps To Piracy« nannte Kitty ihr ganz in
schwarzem Samt eingewickeltes Set, bei dessen Gebrauch
man sich nach ihren Worten mindestens genauso furchteinflößend fühlen konnte, wie der berüchtigte Pirat und
Freibeuter der Meere Klaus Störtebeker. Dazu musste man
nur die Augenbinde anlegen und die zehn Meter auf der
ausgerollten Totenkopfstoffbahn abgehen. Der Legende
nach tat Seeräuberkapitän Störtebeker nämlich genau
das – nachdem man ihn enthauptet hatte. Als sein Schiff
»Sturmwind« wegen Verrats vor Helgoland gestellt wurde,
hatte der Bürgermeister von Hamburg dem Piraten versprochen, allen Crewmitgliedern die Freiheit zu schenken,
an denen er nach seiner Enthauptung vorbeizugehen imstande war. In seinem kopflosen Zustand. Kittys Geschenkset zu dieser historischen Szene kam supergut an. Auch
weil das berühmte Ereignis sich unter norddeutschen Rabauken schon seit jeher überdurchschnittlicher Beliebtheit
erfreute. »Zehn Meter ohne Kopf« lautet der überlieferte
Satz, den sich Störtebeker-Jünger und andere Piratenverehrer bis heute verschworen zuraunen. Obendrein steht
die beim Publikum des Fußballclubs FC St. Pauli hyperpopuläre Totenkopffahne aus Sicht vieler Fans in direkter
Erbschaftslinie zum mannhaften Freibeuter Störtebeker,
der auf den Nordmeeren zu den Glanzzeiten der Hansestädte extrem haudegig unterwegs gewesen sein soll. So
richtige, also so wirklich richtige Männer schwärmen bis
zum heutigen Tage unter Augentränenglanz von einer
weiteren Besonderheit, für die ihr Klaus (Störtebeker) zusätzlich glühend verehrt wird. Nämlich dafür, dass er den
Rum, der auf den Meeren ohnehin in medizinisch kaum
42
erklärbaren Dosen getrunken wurde, nicht einfach nur so
runtertrank, wie die anderen Raubeine es taten. Störtebeker stürzte ihn regelrecht runter. In einem Lederbecher –
so die Legende. Vor diesem Hintergrund war es also nicht
verwunderlich, dass Kittys Piratenverwertung ein großer
Schlager wurde. Sie verkehrte als voll geiles Geschenk für
voll geile Leute. Eine Zeitlang verstrich keine Geburtstagsfeier ohne die erblindeten, angeheiterten zehn Schrittchen auf geschwärztem Stoffstreifen, zu mehr oder minder
gestürztem Hochprozentigen.
Irgendwann ebbte die Störtebeker-Welle wieder ab,
und Kitty erfand Besseres. Richtig brillant wurde sie immer dann, wenn sie subversiv dachte. So ersann sie die erstaunlichsten Utopien für bessere Welten. Noch aus Teenagertagen stammte ihre Idee eines ausgeklügelten Systems
von »Nationenfreien Tauschzonen«. Dort konnte es keine Grenzen, kein Geld und keine Verschuldung geben.
Weil alles über einen zirkulierenden Handel mit Talenten
organisiert war. Sehr komplex ersetzte dabei eine Palette
von individuellem Können den vorhandenen Angebotsmarkt. Ihre detailreich anvisierten Besserungen hielten
einem Vergleich mit soziokulturellen Analysen von unausweichlichen Marktzusammenbrüchen sicher gut stand.
Bis heute bedauert Tommi, dass Kitty nie versucht hat, zu
einer Anwendung dieser schönen Grundlagen zu gelangen.
Bei all den unterschiedlichen Ideen, die sie ohne Unterlass
ausspuckte, wusste man nie ganz genau, ob sie überzeugt
politisch oder nur mehr launig dadaistisch gemeint waren.
Wollte sie sich aus Überzeugung einmischen? Suchte sie
nach Geschäftsideen mit subversivem Anstrich?
43
Tatsache ist, dass Kathrin Lokowski aus Bimmelsdorf,
Künstlername Kitty against Kitty, wie viele andere als besonders fresh eingestufte junge Frauen in den frühen 80er
Jahren, von einer großen Werbeagentur eingekauft wurde.
Mit gerade mal Anfang zwanzig machte sie dort umgehend und heftig Karriere. So erhielt sie bereits in ihrem
ersten Jahr als Junior Art Director einen hochdotierten
internationalen Branchen-Preis für einen Werbespot, der
auf einer inszenierten Straßenaktion basierte. Er entstand
auf dem Marktplatz einer österreichischen Kleinstadt –
scheinbar beiläufig gefilmt, was für damalige Verhältnisse
noch völlig ungewöhnlich war. Zu sehen war ein seinerzeit berühmter dunkelhäutiger Tennisspieler bei der modifizierten Ausübung seines Talents: Inmitten des dichten
Feierabendverkehrs zerschlug er wie ein Berserker volle
Joghurtbecher mit seinem Racket. Die Milchprodukte
wurden aus einer hinter einem Müllcontainer versteckten
Ballmaschine auf ihn abgeschossen. Der aufwendige und
in seiner Haltung gleichzeitig semiprofessionell wirkende
Clip zeigte den Profiathleten derart in Rage, dass man
meinen konnte, er würde justament sein emotionalstes
Match überhaupt bestreiten, nur eben einfach so und auf
der Straße. Ganz zum Schluss hauchte der Sportler nach
einem besonders beherzten Überkopfschmetterball einen
auf den Artikel geschneiderten Werbeslogan ganz nah in
die Kamera: »XXX-Joghurt. Der reine Joghurt aus Nieder-Österreich. So ur-weiß, wie ich pur schwarz.« Dieser
Satz wurde dann in grober Blockschrift im Abspann noch
einmal eingeblendet, auch für den Fall, dass man den heftigen Wiener Akzent des dunkelhäutigen Tennisgladiatoren
44
nicht sauber verstanden hatte. Es gab einen kleinen Skandal. Und die gewünschte Aufmerksamkeit. Gezeigt wurde
das Filmchen, das eigentlich für die zentralen TV-Reklameblöcke angedacht war, am Ende nur in einigen kleinen
Programmkinos. Die Streuung war trotzdem immens. Der
Spot wurde wie ein kultiger Kurzfilm auf VHS -Videokassetten kopiert und weiterverteilt.
Besonders wegen dieser Geschichte war Kitty damals
sehr umstritten in der Szene. Sie selbst verteidigte den
Joghurt-Clip gerade inhaltlich vehement und blieb stur
bei ihrer für sie unumstößlichen Meinung, dass er eigentlich nur in einer Lesart, nämlich als »eine kritische Auseinandersetzung mit Rassismus in der Werbung«, wahrgenommen werden konnte. Für Tommi war dabei nie
eine Frage gewesen, ob Kitty integer war (obwohl andere
an ihrer Aufrichtigkeit immer wieder Zweifel hegten).
Vielleicht war er aber auch insgeheim ein wenig verliebt
in sie. Auf jeden Fall bewunderte er sie für ihre Chuzpe.
Eine seiner besten Freundinnen ist sie bis heute geblieben,
dabei oft wichtige Beraterin, auch wenn er, der sie so gut
kannte wie kaum jemand, das ein oder andere Mal auch
nicht ganz astrein wusste, woran man bei ihr war. Tommi vertritt aber den Standpunkt, dass man erst mal eine
Zählung der heimischen Kellerleichen durchführen müsse,
bevor man über andere ein Urteil fällt, hat er doch herausgefunden, dass sich manch Leutchen, die in besonders
strenger Doktrin sprechen, in eigenen Bedrängungsfällen
mit hoher Nachsichtsbereitschaft bedenken. Auch hacken
die solchen manchmal deshalb gern bei anderen zu, weil
sie den Wert ihrer Währung in Sachen scharfe Kritik auf
45
möglichst hohem Börsenkurs festigen wollen. Tommi versucht übersichtlich zu bleiben. Die Welt ist komplex. Das
Leben ist eben das Leben. Nichts ist nur schwarz. Oder für
Weiße. Und trotzdem. Einiges kann verschwiegen werden,
Bestimmtes muss gesagt werden. Manches lässt sich erzählen. Anderes erdichten:
»Diese Menschen sind halbwegs ehrlich«
(*2)
In all diesen fahrenden Autos drin, sitzen lebende
Menschen, die wollen wohin.
Jedes Auto hat seine genaue KW, jeder Mensch eine
ungefähre Idee.
Sie fahren aus Sachsen und Württemberg her, sie
fahren und sie bilden den Verkehr.
Irgendwann einmal sich kennengelernt, mehr als
zweimal schon haben sie sich getrennt.
Irgendwo sich dann zu Paaren gefunden, später
irgendwelche Kinder entbunden.
Diese Menschen sind ehrlich und somit sind sie
gefährlich.
Diese Menschen sind wild entschlossen, unverdrossen
mit Haut und Haar unberechenbar.
Und in der Überzahl.
Die Farbe ihrer Haut von den Autos abgeschaut, die
Kinder in Serie gleich mitgebaut.
Kalkuliert und vermessen packt man sich ab, so passt
die Bagage komplett in den Sack.
Es ist vermutlich jener Sack, den sie »Home, Sweet
Home« nennen.
Irgendwann einmal sich kennengelernt, mehr als
zweimal schon haben sie sich getrennt.
Irgendwo sich dann zu Paaren gefunden, später
irgendwelche Kinder entbunden.
Diese Menschen sind ehrlich und somit sind sie
gefährlich.
47
Diese Menschen sind wild entschlossen, unverdrossen
mit Haut und Haar unberechenbar.
Und in der Überzahl … Zahl … Zahl … Graf Zahl …
TommI (unbedingt mit groSSem I)
Menschen sollten zu nichts gezwungen werden. Weil man
sie damit am stärksten verletzt. Ihnen am nachhaltigsten
schadet. Ziemlich egal, wozu man sie nötigt. Dabei geht es
nicht mal um den Grad des aufgedrückten Durchsetzens.
Auch kleine Pressur kann fatal beschädigen. Tommi from
Germany wurde zum Experten für Zwangsempfinden aller
Art. Er entwickelte eine besondere Sensibilität für alles,
was mit Autorität und Machtanwendung zu tun hatte.
Ständig empfand er sich selbst als unter der Fuchtel aller
möglichen Repressalien – also galt es, nach Auswegen zu
suchen.
Als erstes äußeres Ausrufezeichen schrieb Tommi das I
in seinem Namen ab sofort und für immer groß und mit
einem Kreis darum. Ein Statement gegen erzwungene Ungleichheiten jedweder Art sei das, so sprudelte es aus ihm
ein bisschen auswendig gelernt heraus, wenn ihn jemand
49
auf die Bedeutung der ungewöhnlichen Schreibweise
seines Pseudonyms ansprach. Das hinterste Zeichen, und
nicht nur das, fühle sich schon seit langem eingeknastet,
antwortete der Buchstabenaktivist auf solche Nachfragen.
Er werde es aber nie wieder zulassen, dass sein I, also I wie
Ich – welches unbedingt nur stellvertretend für ihn selbst
zu lesen sein könne –, im Schatten gehalten werde, von
wem oder was auch immer.
Die Schreibweise mit dem großen I hielt er tatsächlich richtig lange durch, auch wenn er in der Folgezeit
eine immer andere Deutungsweise verlangte. Mal sollte
es für »Isolation« stehen. Dann für »Irre«. Für ein kurzes
Wochenende stand es für »Free India« – TommI wollte
sich solidarisch zeigen mit den unterdrückten Kasten der
indischen patriarchalen Gesellschaft. Als Nächstes wollte
er, dass es als Symbol für »Internationalität« gesehen wird.
Ein anderes Mal für »Irritation«. Das eingekreiste I wurde
TommIs absolutes Steckenpferd. Auch physisch. Mit großem Aufwand betrieb er die Verbreitung der kleinen Idee.
Bald war es an vielen Hauswänden, Parkbänken, sogar an
Dutzenden Strandkörben und an der Hafenmauer des
Ortsteils Needorf zu sehen.
Zur selben Zeit erblühten in Bimmelsorf und Umgebung unzählige andere Meinungsmarken. Dazu muss man
wissen, dass TommI (mit großen I) längst nicht vorderste
Kraft war in dieser besonders aufmüpfigen Ostseeregion.
Ein bisschen war es wie in einem abgelegenen Landstrich,
in dem ein Teil der Bewohnerschaft bestimmte Stammesregeln nicht mehr anerkennen wollte. Anfangs noch ohne
Hoffnung auf Anschluss an das ersehnte, weit entfernte,
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bessere Leben, das irgendwo da draußen existieren musste. »Weil wir hier, wir leben in einer Ausnahmescheiße.«
Zitatgeber war einmal mehr Nerve R. Allen Beteiligten
erschien das glasklar.
Die große Anzahl an Mädchen und Frauen unter ihnen
leistete dabei oft noch beherzter Widerstand als ihre männlichen Gleichaltrigen. Eine Bande von drei jungen Damen
bewunderte TommI besonders (eine von ihnen kam in seinem Song mit der schönen Jugend vor). Sie waren zwar im
weitesten Sinne Mitglieder in der Bimmelsdorfer Abtrünnigen-Szene, behaupteten aber darin noch mal eine extra
starke Unabhängigkeit. Durch und durch Dogmen-frei,
war vielleicht genau das der Grund dafür, dass sie ungreifbar ins Leuchten gerieten. Wahrhaftig, diese drei schienen
wie durch wärmendes Licht geschützt. Und in dieses vermochte niemand hineinzuschauen. Zu hell für normale
Sinne. Regelrecht aus der Art geschlagen, wie einer ihrer
Väter sich ausdrückte. Die drei standen in solch starker
Verbindung zueinander, als könnten sie sich auch noch in
weiter Entfernung konstant an den Händen halten.
Und obwohl die Gegenwart, in der sie aufwuchsen,
auch so schon grell genug war – die normalbürgerlichen
Alltagsmaskeraden ergingen sich damals in kreischenden
Farbfehlern, knallbunten Automobilen, quietschschrillen
Tapetenanstrichen mit irrsinnigsten Mustermixen, blutorangenen Telefonen, grüngiftgelben Plastik-Läuseforken
und eicherustikalen Einbauschrankwänden –, stand das
Trio felsenfest da in seinem ganz eigenen, speziellen Schein.
Und so blieben sie, obwohl alle wussten, welchem Grusel
sie in ihren Familien ausgesetzt waren, welches Anschul51
digen, Androhen, Zuschlagen sie verfolgte, durch ihre Zusammengehörigkeit unverletzbar. Für ihre Sonderstellung,
da war sich TommI sicher, konnte es nur einen möglichen
Grund geben: Sie hatten keine Angst! Und alle anderen
eben schon. Besonders die Erwachsenen. Denn bei aller
stilistischen Ausprobierwüstheit erlebte die Gesellschaft
in ihrem Inneren das genaue Gegenteil: Sie schlotterte
förmlich vor Panik und kneifender Spießbürgerlichkeit.
Wenigstens ein bisschen beschwipst, manchmal, nach Feierabend. Oder eben richtig hackezu. Auf der Arbeit. Und
an Feierabend. Oder irgendwann anders.
Elektro-, Benzin- und
Spindelrasenmäher
Einmal die Woche war Rasenmähen in den Bimmelsdorfer Vorgärten. Die favorisierten Modelle waren Elektro- oder Benzinmäher. Ganz selten besaß jemand einen
Spindelmäher. Den Vorgarten ihrer Eltern zu mähen, das
konnten Kitty, July, TommI, Doktor Onkel und Co. aber
nicht leisten. Sie konnten es deshalb nicht leisten, weil es
bereits zu spät war für derartige Mitmachdinge. Zu spät,
weil grandios falsch dazu aufgefordert. Es war keine große
Sache, 30 Minuten lang an der frischen Luft zu sein. Es
stand außer Frage, dass es machbar war, einen herkömmlichen Elektro-, Benzin- oder eben Spindelmäher über
eine zumeist gerade Fläche zu schieben.
Sie waren gut genährte Mittelschichtmitteleuropäer
mit meist kräftig gesättigtem Bürgerhintergrund. Wahrscheinlich hatten einige von ihnen sogar Wikingerspuren
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in ihrem Genstamm: wie geschaffen zum Rasenkürzen. Eigentlich.
Die Weigerung gegen die angetragene Betätigung
steckte auch nicht in den fähigen Körpern, sie nistete vielmehr in den unwilligen Köpfen. Man konnte die Meinung
vertreten, sie alle seien nichts als faule Verzöglinge. Auch
TommI – im Falle der Rasenmähverweigerung stand sein
I immer für das englische ill – weigerte sich, den Rasen zu
mähen. Ill, wie krank, richtig angewandt für: zu krank zum
Mähen.
Als Begründung für das kategorische Nichtwollen erklärte er sich und die Seinen als allergisch kontaminiert
gegen Rasenmähen und gleichzeitig gegen jegliche andere
Form von Vorgartendingen. In Wahrheit musste man jener
starren Ablehnung gegen die Pflege der elterlichen Botanik
einen völlig anderen Titel geben, und da lag wieder einmal Kitty against Kitty, die beste Analytikerin der Gruppe,
goldrichtig. Sie verteidigte den Verweigerungsanspruch
als »lebensweites Ekel-Trauma, hervorgerufen durch eine
unsachgemäß eingesetzte Aufforderungsrhetorik«. TommI
war tief beeindruckt von Kittys Scharfsicht, sah er sich
doch superexakt beschrieben in ihrer These. Er plante sogar, eine umfangreiche Streitschrift dazu herauszubringen.
Leider ist bis heute nichts daraus geworden. Aber die Rasenmäher haben ihn nachhaltig inspiriert. Später strickte
er aus ihnen und aus verwandten Symbolen verschiedene
Dinge, die im weitesten Sinne mit Kunst zu tun hatten.
Irgendwie gab es immer Reibungen. Eigentlich mit allen Grenzsetzungen. Das hatte sehr früh angefangen. Heute kann sich TommI ziemlich schlecht erinnern, woran es
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sich genau festmachen lässt, das Nichtmachenwollen. Er
hat deswegen Schwierigkeiten bekommen, das weiß er.
Sich nicht einordnen wollen. Ein paralleler Blick auf
TommIs Grundschulzeugnisse zeigt seine rasante Abwärtsentwicklung im frühen schulischen Werdegang ziemlich
sauber auf. Wie ungünstig er zum Beispiel auf die gesetzliche Bestimmung der Schulpflicht reagierte.
Zeugnis Klasse 1a: »Horsti ist lebhaft und aufmerksam. Im
Schreiben ist er flüchtig. Sonst sind seine Leistungen gut.«
Zeugnis Klasse 2b: »Horstis Beteiligung am Unterricht ist
nicht immer gut.«
Zeugnis Klasse 3b: »Horsti stört den Unterricht durch
Albernheiten.«
Zeugnis Klasse 4b: »Horsti vergisst häufig etwas. Er ist
unkonzentriert. Durch Clownerien versucht er Aufsehen
zu erregen. Seine Mitarbeit ist sehr schwankend. Er stört
häufig durch sein Verhalten.«
Zeugnis Klasse 4c (Jahrgangswiederholung): »Horstis
Mitarbeit ist schwankend. Er ist leicht ablenkbar. Er arbeitet nur manchmal mit.«
Auf den weiterführenden Schulen sah das dann kaum
anders aus, und der Rektor, der TommI ganz zum Schluss
die Hand gab, verabschiedete ihn mit den Worten: »Als
Leiter dieser Einrichtung bin ich eigentlich gar nicht befugt, Ihnen davon abzuraten, das vergangene Schuljahr zu
wiederholen. Mir wäre aber persönlich deutlich wohler,
wenn Sie nach den Sommerferien nicht an unsere Lehranstalt zurückkehren würden.«
TommI folgte seinem Wunsch. So schaffte er zwar die
geforderte Anzahl an Schuljahren, erhielt aber keinerlei
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Abschluss. Vor Freunden brüstete er sich, unehrenhaft
entlassen worden zu sein. Zu Hause kam das nicht gut an.
Und der Sommer fühlte sich danach schuldig an wie lange
nicht. Auch, weil sich die Wut trotz der neuen Freiheit
nicht besser verteilen ließ.
Ein Benehmen wie ein Gartenschlauch
Wegen seines Totalschulversagens hat sich TommI immer
wieder mit dem sogenannten Bildungssystem beschäftigt.
Dabei verstand er zunehmend deutlich, dass dieses grundsätzlich hart abzulehnen ist. Nichts rechtfertigt die Dauerbenotungen von kleinen oder großen Menschen. Bis heute
ist er sich ganz sicher, dass es vollkommen konträr zu den
Neigungen eines jeden Individuums verläuft, mit Zahlen
zu belohnen oder herabzusetzen. Die Ideenlosigkeit dieser
Vorgabe kann er nicht begreifen. Wie kann es sein, dass das
lernbegierige Wesen so wenig befragt wird? Jedes Kind beginnt zu bauen, wenn man ihm ein paar Klötze hinlegt. Niemand ist faul von sich aus. Höchstens durch eine schlechte
Benotung. Solange nicht berücksichtigt wird, welche Begeisterung das freie Entdecken bei Kindern hervorruft,
solange nicht in gleichberechtigter Beziehung beigebracht
wird, sind Eltern und Schule weiter ignorante Scheiße.
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»Der Jung taugt nichts«, lautete die Einstufung von
TommIs Stiefvater, Erziehungsberechtigtem, direktem
Vorgesetzten und Selfmade-Autohausbesitzer Manfred
W., von allen nur »Uns Manni« genannt. Diesen kumpelhaften Spitznamen erhielt er, weil er denselben Vornamen
trug wie Manfred »Manni« Kaltz, der berühmte offensive
rechte Verteidiger, der sehr erfolgreich beim HSV und in
der Nationalmannschaft spielte. Seine Spezialität war die
»Bananenflanke«, die oft von Mannschaftskamerad und
Mittelstürmer Horst Hrubesch verwertet werden konnte,
der wiederum als »Kopfballungeheuer« berühmt wurde,
weil er den Ball nach eigenen Angaben gern »einfach so
mit’m Appel reinmachte«.
TommIs »Uns Manni« konnte zwar mit seinen original
holländischen Holzclogs auch ganz ordentlich gegen den
Ball treten – das auch als Botten bezeichnete Schuhwerk
flog dabei gefährlich gleich mit durch die Luft –, war aber
eigentlich mehr für Handball. Weil es da noch mehr um
gesunde Härte ging und der Sport nix für Weicheier war.
Sein privates Reich, das Autohaus, regulierte er mit dem
Leitmotiv: Chef in der Firma. Chef zu Hause. Zum Führen
der Untertanen benutzte er die harte Hand, so wie schon
sein eigener Vater Friedrich W. – den man respektvoll nur
den Eisernen Fiete nannte – sie zuvor eingesetzt hatte.
Denn nur so, nur mit Druck, ließe sich ein Ellenbogen
herausbilden, ohne den es sich kaum anzutreten lohne in
einer sich gegenseitig nichts schenkenden Welt.
Solche Strenge hatte Auswirkungen. Jeder einzelne
Werkstattmeister, der in Uns Mannis Autohaus anfing,
verließ dasselbe mit einem Magengeschwür. TommI,
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ideenlos, was er nach seiner bisherigen, ergebnislos verlaufenden Karriere sonst hätte machen sollen, begann eine
Ausbildung zum Kfz-Mechaniker im Betrieb des Stiefvaters. Die schloss er immerhin mit einem Gesellenbrief
(Praxis 2, Theorie 4) ab. Leider verlief der Weg zu diesem
Dokument wenig rund. Im Gegenteil. In dieser von ihm als
besonders dunkel empfundenen Lebensphase – er schrieb
seinen Namen seit Beginn der Lehre wieder mit kleinem
i – lebte er im traurigen Dauerzwist mit den Bedingungen
des Lehrverhältnisses.
Nur gut, dass der für ihn zuständige Werkstattmeister Karl Hans Kroschewski einen schmerzbetäubenden
Schnapskiosk im Ersatzteillager unterhielt. Aus gutem
Grund: »Karl Hans, ich könnte dir in den Sack treten, dass
deine Eier wie Leuchtkugeln durch die Luft fliegen«, brüllte Tommis Stiefvater am liebsten vor versammelter Kundschaft quer über den Hof. Nach solchen Erniedrigungen
spendierte Meister Kroschewski kleine Billigliköre von der
Firma Laekkerstadt, deren LKWs in der Werkstatt gewartet
und repariert wurden. Oft tranken die Fahrer mit. Überhaupt kamen sie bei jedem Minischaden mit ihren knallorange lackierten Laekkerstadt-Süßigkeitentransportern
vorgefahren, nur um keine Waren ausfahren zu müssen.
Hochunzufriedene Menschen waren einige von ihnen.
Nicht selten kam es vor, dass sie sich in ihrem Lastkraftwagenfahrerfrust kleine Bosheiten erdachten. Tommi und
die anderen Lehrlinge waren dann die Leidtragenden.
»Die Wischerblätter habt ihr beim letzten Mal schon
wieder nicht gewechselt, obwohl das mit Sicherheit Teil
der 240 000er Inspektion ist.« Tommis Stiefvater dann
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durch die Halle brüllend: »Hoooooorst!!!! Spritz mal eben
los und hol mir eine Packung Roth Händle von der Tanke.
Dreimal lang hingeschlagen bist du wieder da. Und danach
schraubst du ein paar neue Wischer an die LaekkerstadtFrontscheibe. Ihr habt das schon wieder nicht ordentlich
gemacht. Muss man denn hier alles allein machen.«
Alle in der Werkstatt wussten, dass bei der letzten Routine die Inspektionspunkte sauber durchgegangen worden
waren. Das Material saß auch noch für jeden gut sichtbar,
quasi fabrikneu, am Fahrzeug. Für die launigen Fahrer
standen die Auszubildenden noch eine Stufe unter der für
sich selbst in Anspruch genommenen vorletzten. Und diesen Vorsprung spielten sie aus.
Aber Rache war möglich. »Herr Laekkerstadt, das mit
den quietschenden Scheibenwischern tut mir wirklich leid.
Versuchen Sie es mal mit Caramba-Spray. Dann flutscht
das wieder.« Tatsächlich spritzten sie dann eifrig das beliebte Werkstattallheilmittel Caramba-Schmierstoff und
Rostlöser, eingedost in einer knallgelben Metallhülle, auf
ihre Fahrerhütten – und hatten beim nächsten Regen so
übel verschmierte Scheiben, dass einer von ihnen sogar
mal mit einem Abschleppdienst in die Firma zurückgeholt
werden musste, weil er mit seiner stockblinden Frontscheibe im schlechten Wetter hängengeblieben war.
Kleine Triumphe in einem sonst eher von Niederlagen
dominierten Alltag. Immerhin, die Solidarität im Team
war meist gut, und so lernte Tommi in der Werkstatt trotz
seiner eigenen Fehlbesetzung ein paar wirklich feine Leute
kennen. Oder »in der freien Wirtschaft«, wie sein Stiefvater die Teilnahme am Autogeschäft bezeichnete. Dar60
über hinaus empfindet Tommi seine Kfz-Mechaniker-Zeit
bis heute als wichtigste Humorschule. Zwischen unsäglichem Sexismus, traurigem Malocher-Konkurrenz- und
bösartigem Kleinboss-Gehabe schlüpften viele zarte, urlustige Spritzer aus den Untiefen der Ausbildungsbetriebe,
Ersatzteilzulieferer oder TÜV-Prüfstellen, die weit über
die üblichen »Das Einzige, was hier klappt, ist die Tür«Klosprüche hinausgingen. In den düsteren Tiefen des sich
windenden, täglichen Balancierens eines Arbeitstages, wie
Tommi ihn erlebte, waberte ein komplexes, sich immer
wieder neu austarierendes Sprachgeflecht aus Ausflüchten,
Umgehungen und bewussten Schwammigkeiten, die es
zum Ziel hatten, gemeinschaftliches Durchkommen in ein
ultrageheimes Code-Netzwerk zu packen. Ein kollektiv
angelegter, schützender Puffer gegen das Stufendasein der
Malocher-Existenzen. Dieser Puffer kam immer dann zum
Tragen, wenn Chefs in gefährlicher Nähe drohten. Oder
die von den Chefs protegierten, erbsenzählenden Dienstleistungseinforderer, die miesepetrige Autohaus-Kundschaft, die man auch kritische Konsumenten nennt. Eine
noch höhere Dichte solch kritischer Konsumenten findet
man lediglich in Reformhäusern oder auf Stadtteilmärkten
mit ausschließlich Bioprodukten.
»Weiterfahren. Beobachten«, lautete die von Karl Hans
Kroschewski ausgegebene Standardantwort auf allzu knickrige Kundenwehwehchen. Kroschewski war immer auf der
Seite der Angestellten. Und er wusste sie zu pflegen. Leider wurden seine anfangs recht lose angesetzten Trinkfeste
zunehmend zwanghaft, schienen sie ihm doch der einzig
mögliche Umgang mit seiner würgenden Situation zu sein.
61
Man konnte seinem Verfall förmlich zuschauen, auch weil
alle anderen Beteiligten ihn nicht gerade stoppten, sondern ihm mit in Bierdeutsch gesungenen, aufmunternden
Liedchen eher zusprachen. »I sag Ka-, Ka-, Ka-, Ka-, Karl
Hoans. Willst’ aon Bier, oder wilsst ao koans? Willst ao
koans, dann trink i doans«, lautete ein beliebter Stampfschlager in der Firma.
Bald fehlte er immer öfter. Krankheitsbedingt. Das
stachelte die Angriffslaune seines Chefs umso heftiger an.
Sobald der Meister genesen zurückkehrte, hagelte es Angriffe und Beleidigungen. »Karl Hans, du hast ein Benehmen wie ein Gartenschlauch. Krumm und dreckig.« Nach
solchen Sprüchen sah man, wie sich der sensible Kfz-Fachmann immer häufiger in die Bauchgegend fasste und sein
schmerzverzerrtes Gesicht zu verstecken suchte.
Irgendwann kam es dann, wie es immer kam. Ausbilder
Karl Hans Kroschewski brachte eines Tages – nicht anders
als seine Vor- und Nachgänger – ein endgültiges Attest.
Völlige Arbeitsunfähigkeit. Kaputter Magen. Auflösung
des Arbeitsverhältnisses. Anstatt sich nun über den Abgang
seines wichtigen Mitarbeiters zu ärgern, schien Uns Manni
in fröhlichster Genugtuung abzuheben. Und das zeigte er
allen, die es sehen und nicht sehen wollten, durch offen zur
Schau gestellte, beschwingte Laune. Die Demütigungen
anderer ließen deshalb längst nicht nach, verschoben sich
in solchen Umbruchphasen lediglich auf die Zurückgebliebenen. Und machten vor der privaten Türe nicht halt.
Tommi wohnte mit ihm direkt in einer dem Betrieb angeschlossenen Unterkunft. Dabei hatte Manfred W. die
besondere Begabung, die nur wahre Universalbosse ihr
62
Eigen nennen: Er konnte durch Wände und Türen hören.
Und sogar sehen. Nichts, nicht das leiseste Geräusch entging ihm. Er hörte zum Beispiel, wenn der in Tommis
Erinnerung nahezu tonlos betrieben Fernseher lief und
dieser nach Meinung des Bosses zu diesem Zeitpunkt nun
mal nicht zu laufen hatte. Es gab kein Entrinnen vor den
Röntgenaugen und -ohren, und seine omnipräsente Aura
schuf eine Daueranwesenheit von Druck und Angst in Betrieb und Familie.
In besonders teuflischer Erinnerung sind Tommi dabei
die regelmäßigen Besuche im gutbürgerlichen Restaurant
geblieben. Diese wurden immer sonntags in der mittelfeinen Alten Mühle abgehalten. Alle Gewerbetreibenden
gingen zum Essen in dieses Etablissement. Und zum Geschäftemachen. Auch Hochzeiten oder Kindstaufen aus
jenem Milieu fanden hier statt. Das Essen war solide. Die
meisten freuten sich, wenn es auf den Tisch kam. Bei Tommis Familie war aber genau das der heikelste Moment des
Gaststättenbesuches.
»Als wir das letzte Mal hier waren, lappte die Scholle
aber noch ordentlich über den Tellerrand. Ist der Winzling hier etwa ihr Nachwuchs? Ich würde gern mal den
Küchenchef sprechen.« Das Familienoberhaupt sprach
solche Dinge nicht etwa verärgert. Vielmehr schien ihm
seine unausweichliche Kritik an der gebrachten Speise
Teil eines passenden gesellschaftlichen Rituals zu sein.
Offensichtlich empfand er durch derlei Beschwerden die
Bestätigung seiner Stellung. Vielleicht auch eine Art zusätzliches, angemessenes und regelkonformes Entgelt für
die Leistung, die er an anderer Stelle selber erbracht hatte.
63
Die Herabwürdigungen des Restaurantpersonals durch
den mäkelnden Autohausleiter erschienen Tommi gar als
eigentlicher Grund für den Besuch der Alten Mühle. Sie
waren ein finales Ritual einer arbeitsreichen Woche.
Am deutlichsten erinnert sich Tommi bei diesen beschwerlichen Sonntagen an den teilnahmslos gesenkten
Blick seiner Mutter. In solch öffentlichen Momenten biedersten Repräsentationswillens ihres Ehemannes wurde ihr
das Leben so kalkig und bitter, dass es schien, als verklebe ihr
der Mund vor Ekel – so wehrhaft und kämpferisch sie sonst
sein konnte. In Tommi selbst schwoll Wut heran. Ohnmacht
und nervöser Eskapismus. Er ist der festen Auffassung, dass
sein nicht enden wollendes Fliehen und Rennen, das ihn bis
heute auf einem verschleißreichen Dauertrab hält, in einem
nicht zu unterschätzenden Anteil auf diese quälenden AlteMühle-Fischessen mit ihren ungenügend großen Plattfischen zurückzuführen ist. Es müssen diese beklemmenden
Erlebnisse gewesen sein, die sich tief einbrannten und einen
schweren Hall von Unbehagen und Schuldgefühlen hinterließen. In solchen Gasthaussituationen, dem vollendeten
Klammergriff von Uns-Manni-Menschen ausgesetzt, züchteten sich seine bis zum heutigen Tage konstant nagende
Urvertrauenlosigkeit, die latente Weltverlorenheit und das
stetig drängende Reißausverlangen.
Jahrzehntelang fortwährende Kleinheit und Ängstlichkeit.
Bis zur jetzigen Sekunde andauerndes, ständiges Abhauenwollen.
Allein und intern.
Wie in diesem Lied:
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»Angst und Bange am Stück«
(*3)
Das war der neueste Lebensabschnitt von mir
Zum Glück ist er jetzt vorbei
Ich könnte dir mit der Hand durchs Gesicht fahren
Landgraf werde hart
Es gibt nichts, was man nicht reparieren kann
Man muss es nur wirklich wollen
Da gab es nie mehr als eine Meinung für mich
Die Frage stellte sich nicht
Es gibt keine einzige Mahlzeit
Die keinen Preis hat
Es gibt keine einzige Mahlzeit
Die keinen Preis hat
Hast beim Kochen wohl Glück gehabt
Sonst würde es mir gar nicht schmecken
Mit siebzehn Jahren in die Lehre
Mit siebenunddreißig in Therapie
Jahre zum Verstehen – so heißen alle Jahre
Spring, wenn ich’s sage!
Ich wollte immer woanders sein – da, wo, da, wo ihr
nicht seid
Es gibt keine einzige Mahlzeit
Die keinen Preis hat
Es gibt keine einzige Mahlzeit
Die keinen Preis hat
65
Karl Hans, du hast ein Benehmen wie ein
Gartenschlauch
Krumm und dreckig
Herr Ober machen Sie mal ein Foto von uns
Sie haben ja grad nix zu tun
Der Affe dort hat noch mal Glück gehabt
Dass ich heute gut gelaunt bin
Dass ich immer nur weg will von Euch
Macht mein Leben zu schnell
Es gibt keine einzige Mahlzeit
Die keinen Preis hat
Es gibt keine einzige Mahlzeit
Die keinen Preis hat
66
In Abwesenheit der Kameras
Aus heutiger Sicht empfindet Tommi sein Aufwachsen als
Aneinanderreihung verschleierter Traumsequenzen. Es ist
ganz seltsam: Er kann sich wirklich an das meiste nicht erinnern. Ganz so, als wäre er nicht beteiligt gewesen – an
sich selbst. Eine Wiedergabe von Stimmungen aus seinen
prägenden Jahren fällt ihm schwer. Wo andere ausführlich von schönen oder unschönen Kinderurlauben, harmonischen Onkeln, Gefühlen zu alten Autos, süßlichen
Gerüchen in betagten Häusern, charakterstarken Familienhunden oder -katzen erzählen, wabert bei Tommi ein
breiiger Nebel, der aus stark auf sich selbst geworfenen
Emotionsüberlagerungen besteht und sich insgesamt irgendwie nur klein, schüchtern und schamhaft anfühlt. Alte
Fotos geben keine besseren Hinweise. Man erkennt einen
unspektakulär aussehenden Jungen, der ein bisschen zu
sehr auf seine Frisur zu achten scheint. Durchaus gefasst
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sieht er aus, auf dem Boden, könnte man sagen. In der Eigenwahrnehmung aber stehen viele Momente aus diesen
jungen Jahren in schmerzlichen Flammen. Wie ein verwackeltes Ringen, ein liebesfreies Sichselbstnichtmögen
und Vonanderennichtgemochtwerden, so fühlt sich das
für Tommi aus heutiger Sicht an. Durchdringende, giftige
Minderwertigkeit. All dieses Zweifeln und Würgen, das
Hadern im Innern, hat aber immer nur mit sich selbst
stattgefunden. Anscheinend war da niemand zum Teilen.
Zum Anlehnen. Tommi kommt es heute so vor, als hätte er
Ewigkeiten auf einer separaten, schattigen und dabei durch
und durch nervösen Insel verbracht. Auf ihr spielten sich
die unzusammenhängenden Einzelszenen ab, die ihm zwar
selbst ganz stechend vorkamen, was aber sonst niemand
mitzubekommen schien. Wie unsichtbar.
Wahrscheinlich wurde aber auch nicht hingesehen.
Oder es konnte nicht hingesehen werden. Man ging noch
nicht so ungeniert in die Leben hinein. Solch langgezogene, parallele Nischen, in denen Tommi und all die anderen
aufwuchsen, waren viel leichter möglich als heute. Abseits
öffentlicher Umkremplung und Zurschaustellung tobten
auch die Befindlichkeiten noch in den Einzelnen und keinesfalls in den dauersensibilisierten Öffentlichkeiten. Vorhänge. Türen. Die Vier Wände. Private Mauern, Wohn- ,
Schlaf- und Kinderzimmer. In den Kneipen. In den Klassenzimmern. In den Heimen. In den Internaten. In den
Ausbildungsstätten. Strafe und Bedrohung. Rigidität. Eine
Tracht Prügel. Stubenarrest.
»Landgraf werde hart«, sprach der Kinderarzt, wenn es
weh tat.
68
Und: »Ein Indianer kennt keinen Schmerz.«
Dazu Uns Manni: »Auf den Fußballplatz gehen fällt heute
aus wegen: ist nicht.«
Sowie: »Da gibt es keine zwei Meinungen.«
Und: »Mach die Augen zu, dann siehst du, was dir gehört.«
Die Werte der Solange-deine-Füße-unter-meinemTisch-stehen-Ansprachen arbeiteten unter vollem Dampf
und kamen zur gänzlichen Anwendung. Androhungen und
Konsequenzen: »Ich könnte dir mit der Hand durchs Gesicht fahren.« Und es wurde schon auch geschlagen. Eben.
Manchmal rutschte sie aus, die berühmte Hand. Wenn auch
bei vielen eher aus Überforderung denn aus Überzeugung.
Der Druck auf die urplötzlich selbständig gewordenen Bürger war hoch. Die neuen Ausbreitungsmöglichkeiten trafen
sie unvorbereitet. Wechselnde Partnerschaften. Privatwirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten. Urlaube und Scheidungen. Das Ableben findet zunehmend außerhalb der Familie
statt. Urgroßvater stirbt noch zu Hause, Großvater schon
im Pflegeheim. Auf den Wegen der ehrgeizigen Nachkriegserziehungsberechtigten geriet einiges unter die Räder
beim hart rackernden Eigengemachten. Die ungewohnten
Freiheiten und Freizeiten waren längst nicht kontrolliert.
Da die neuen Spiele / Hier hatte man Ziele
Da wurde gehobelt / Hier fielen die Späne
Die Suchtstoffe hießen Stereoanlage und Fotoausrüstung. Videorekorder und Farbfernseher. Und Personenkraftwagen. Im Westen wie im Osten. Der ersehnte Kram
kam einfach nur ein paar Jahre früher in die BRD -Hütten
als in den Arbeiter- und Bauernstaat. Vergleichbares Zeugs
mit vielleicht fünfzehn Jahren längerer Lieferzeit.
69
Kinder liefen dabei »so nebenher«, wie man Tommi
später einmal sagte. In der DDR warf man sie ab dem Babyalter einfach in den Hort. Das bedeutete nichts anderes,
als dass es keine Zeit gab für sie alle. Hüben wie drüben.
Und so war das. Manch Nachwuchs musste geduldig sein,
bis mal wieder jemand vorbeikam und nach ihm schaute.
Manche bekamen platte Hinterköpfe, weil man sie in den
ersten Monaten nach der Geburt, in denen sie sich noch
nicht selbst wenden konnten, sehr lange darauf liegen ließ.
Es gab eben so viel zu tun. All die neuen Anforderungen.
Und das Land war noch nicht mal in Gänze wiederaufgebaut. »Nach zwei Weltkriegen, an denen ihr nicht teilgenommen habt«, so lautete Uns Mannis Generalvorwurf.
Das Wunder der Wirtschaft hielt dabei alles bereit, was
Wirtschaftswunder eben so bereithalten. Man musste allerdings danach greifen, zupacken und dann die Widerhaken ausfahren wollen. Damit sie guten Fang machten.
Es sich daran hochziehen ließ. Die Treppchen hinauf. Unternehmer wie Tommis Stiefvater sollten später von den
Goldenen Jahren sprechen. Als noch etwas möglich war,
man noch wirklich etwas erreichen konnte, wenn man bereit war, sich die Hände schmutzig zu machen. Tommi und
vielen anderen aus seiner Generation erschienen derartige
Bestrebungen nur lächerlich, banal materiell und starr
strebsam.
Bis heute hat sich daran so viel nicht geändert. Er weiß
aber viel besser um den Druck, unter dem seine Elterngeneration gestanden hat. Ihre Ängste sind viel stärker mit
eigenen Ängsten vergleichbar, als er es sich eingestehen
will. Nur die Fehler müssen ja deshalb nicht dieselben
70
werden. Tommis schlauer Cousin Sid Hansa, der sich nach
einem früh abgelebten Bassisten und einer preisgünstigen
Biersorte benannt hatte und mit dem Tommi praktisch aufgewachsen war, sagte schon damals: »Meine Kinder sollen
es auch einmal besser haben als ich. Psychisch.«
Die Verbindung, die eine Jugend unter den Umständen
jener Zeit fest zusammenbrachte, konnte nur eine mit
tiefer Abscheu gegen die Gesellschaft, wie man das damals
noch viel pauschaler sagte, sein. Dagegensein ließ sich klar
darstellen: zuerst als Langhaarige. Dann als Bunthaarige.
Beide Sorten verband, dass man ihnen die Flausen schon
wieder aus dem Kopf treiben wollte. Wörtlich gemeint.
Ansonsten hatte ein ordentlicher Schlag in den Nacken
noch keinem geschadet. Schon deshalb bestand eine große
Notwendigkeit, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Es gab viel weniger Graustufen. Grell war noch
nicht alles. Jugendkultur hieß Gegenkultur. Rockmusik
fühlte per se links. Bürger erschienen als Bürger und nicht
gleich auch noch als ihr eigenes Gegenteil. Einige konnten
cool sein. Weil noch nicht alle cool waren.
71
Ihr seid die Freaks
In Bimmelsdorf, dem »Kurort im Schönen«, hörte eine
besonders verführerische Verheißung auf den weitverbreiteten Vornamen Manuel. Bei ihm hatte man seit einer
höheren Teenagerreife – aus Gründen – seinem Geburtsnamen das Wort »Drogen« vorangestellt. Drogen-Manuel
war eine zentrale Figur im Ort. Er wurde gebraucht wie
kaum jemand aus der lokalen Szene. Leute wie er waren
für viele Suchende ein wichtiger Türöffner zum brennenden Wunsch nach dem Abtauchen in eine andere Welt. Er
selbst wiederum war nur möglich vor dem Hintergrund einer sich nicht verstanden gefühlten Jugend, mit ihren Vorgartenmähverweigerungen. Sein Wirken war auch deshalb
so sehr zur rechten Stelle, weil es die bis dahin kräftigste
Antwort geben konnte auf die universelle Resignation in
dem zähen Ort ohne Imagination, in dem sie aufwachsen
sollten: BRD / 70er Jahre. Solch Drogen-Manuels, die es in
73
jeder der unzähligen verlorenen Menschenansammlungen
gab, standen aus der Ferne betrachtet sehr weit außerhalb
der Normen. Für sich genommen und mit seiner ansteckenden Wirkung besaß er aber die tollsten, näherbringenden Mittel, die man weit und breit bekommen konnte.
Und die standen in krassem Gegensatz zur blockierend
wirkenden Umgebung.
Drogen-Manuel präsentierte seine Arzneien in einer
anstrengend wirren Verquasung: Er war entschlossener
Substanzen-Theoretiker. Angewandte Indianerrituale,
schrägste Esoterik-Sammelsurien, krudester Feld- und
Weltkram, ostasiatische Steine mit Wirkungen, all das
waren nur einige der zum Einsatz gebrachten Methoden
eines unerlässlichen Vorspiels, des »Manuel Preludes«. So
nannte er die Zeremonie – bevor es endlich ans Eingemachte gehen konnte.
Mittelpunkt seines komplexen Reiches und szeneübergreifender Konsumententreffpunkt der einzigartigen Zauberkräfte war die Unterkellerung eines weißen Klinkerbaus
nahe dem damals größten Parkplatz für die Tagesgäste des
Seebads. In dem unscheinbaren Einfamilienhaus lebten
nur Drogen-Manuel und seine alte Mutter. Die Raumdecke des von ihm bewohnten Kellerzimmers war gänzlich
mit Alufolie ausgeschlagen. An ihr klebten fladengroße,
dunkelbraune Flecken, starke Ablagerungen massiver
Kannabisrauchexzesse. Angeblich alles bester »Schwarzer
Afghan« und »Roter Marokkaner«, nur sehr wenige Anteile »Deutsches Gras«. Gequarzt, wie Manuel das nannte,
wurde ohne Unterbrechungen. Und wenn der Shit einmal
ausging, dann schabte er mit seinem Dopemesser kleine
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Krustenteile von der Aludecke und stopfte die so recycelten, rußartigen Klebekrümel umgehend zum Weiterquarzen in Purpfeife, Erdrohr, Schillum oder Glaskawumm. Im
Übrigen sei das gerade wegen der anheftenden Alufetzen,
die man nicht mehr sauber von dem wiedergewonnenen
Dope loslösen konnte, besonders genehm turnende Ware,
wie Manuel erklärte. Die meisten aus Tommis Clique gingen dort unten rauchen, Wein trinken, manchmal LSD Trips werfen. Jahrelang.
Viel später kam es zu einem schweren Vorfall. Ganz
traurig endete es in dem Einfamilienhaus. Richtig mit
Sondereinsatzkommando. Angeblich hat Manuel – eigentlich ein lammfriedlicher Mann – eines Tages seine Mutter
mit einem Hammer attackiert. Und wurde dann natürlich
kassiert. Am stärksten blieb Tommi das Bild in Erinnerung,
wie dieser grundfeine Kerl in dem auf eine völlig andere Art
feinen Kurort Bimmelsdorf auffiel, wenn er sommers wie
winters in seinem dünnen Stoffmäntelchen umherschlich.
Ein scheues Gürteltier. Fremd im eigenen Kaff. Doch bei
allem Freakhaft-Kaputten, das ihm anhing, blieb er doch
immer und unübersehbar in einer eigenen Haltung.
Solch Spezielle lebten damals ihr für andere nahezu
unsichtbares, paralleles Universum. Merkwürdigerweise
gestaltete sich ihr Auftreten nicht gebündelt, sondern weit
und sauber voneinander verstreut. In jedem Örtchen mit
mindestens einem öffentlichen Aufenthaltsraum, einem
Jugendzentrum zum Beispiel, gab es immer nur einen von
ihnen. Aus jeder noch so kleinen alternativen Szene heraus entsprang so ein Köpfchen des wirklich Eigenartigen.
Durchgefallen. Abgehauen oder nicht. Draufgeblieben. Oft
75
sehr zufrieden damit. Natürlich war dieses Separate nicht
immer freiwillig. Auf jeden Fall steckte eine nur schwer zu
beschreibende, heroische Distanz in jenen desperaten, kosmisch anmutenden Vögeln. Ungreifbar. Unzähmbar. Aber
irgendwann mit Nachdruck aussortiert.
»Drogen-Manuel war ein Aussteiger, ohne ausgestiegen
zu sein«, fand Tommis Cousin Sid Hansa, der eine nähere
Freundschaft mit Manuel zu erreichen schien. »Und das
ist der Beweis dafür, dass der Mensch das mieseste Viech
unter allen Viechern abgibt.« Weil er Leute wie solch
Manuel-Besondere rausdrängen würde, wenn sie dem Anpassungszwang nicht standhielten oder die reservierten
Zonengrenzen wie Grünflächen mit ihren Möglichkeiten nicht akzeptierten. Hierbei entfernte man zuerst die
Grundlagen. Sitzbänke zum Beispiel. »Weißt du, Tommi«, bemerkte Sid Hansa neulich, als sie sich an Drogen-­
Manuel erinnerten, »ich wäre wahnsinnig gern bei der
einen Stadtplanungskonferenz dabei gewesen. Und zwar
in dem Moment, als jemand den Vorschlag machte, man
müsse öffentliche Sitzbänke durch gewölbte, einzeln nebeneinander geschraubte Metallgitterschalen ersetzen, um
zu verhindern, dass Obdachlose sich darauf ausstrecken,
womöglich gar einschlafen könnten.« Gemeinsam dachten
Sid und Tommi dann an das kleine Verbotsschild, das auf
dem Tisch im Café Gottesgleich am Bimmelsdorfer Platz
aufgestellt worden war und das eine der vielen KuckucksKampagnen nach sich zog. »Hunde und Jugendliche haben
keinen Zutritt«, stand darauf geschrieben. Erschienen war
dieser Vermerk an dem Abend, nachdem Drogen-Manuel
dort nachmittags am Tisch eingeschlafen war.
76
Kitty hatte ihre eigene Theorie zu Typen wie DrogenManuel. Sie glaubte, dass Satelliten wie er heute nicht
mehr möglich sind, weil mittlerweile alle irgendwie Freaks
sind. Typisch Kitty, konnte sie ihre Behauptung sofort ausführlich begründen: »Instinktive Freaks wie Manuel sind
dieser Tage abgeschafft. Weil sie ein solch übersichtliches
Feindesfeld wie damals nicht mehr vorfinden. Sie haben
verstanden, dass sie nicht mehr erkannt würden, in der
flächendeckenden, grellen Matsche, die sich ganz freiwillig
und möglichst laut hörbar als freakig bezeichnet, weil ihr
aufdringlicher Auftritt längst zur kompatiblen Kultmarke
umkopiert und somit aus der Nische verschwunden ist.«
Deshalb bräuchten sie auch gar nicht mehr aus dem Haus
zu gehen, sondern könnten ihren zutiefst zynischen und
unfreien Widergängern, die als öffentliche Showobjekte
aufgebaut seien, ganz einfach im TV-Urwaldlager zuschauen. Zum Beispiel. Dort zerquetschten sie sich, scheinbar
begeistert und unter dem Gejohle anderer Pseudoviecher,
bis zum vollständigen Verlust der Selbstachtung.
Der pfiffige Cat the Cat hatte dazu noch eine weiterführende Meinung. Nämlich, dass man aufpassen müsse,
sich nach Zeiten zurückzusehnen mit ähnlich autoritären
Ärschen wie zu Manuels Wirkungsphase, nur weil es weniger eindeutige Gegnerschaften geben würde. Was aber
stimmen würde, sei die Tatsache, dass es früher wirklich
überall diesen einen Typen gab, der konsequent draußen
war. Meistens in der Ecke stehend. Mit seiner unmodernen, aber mit Stolz vorgetragenen Lederjacke.
77
Frag niemals, warum wir hier so sind
Tommi und die Seinen waren unbeliebt. Anfangs in ihrem
Dorf. Später in ihrer Stadt. Durchaus gewollt. Die meisten
Menschen, auf die sie trafen, waren ernsthaft irritiert von
ihrem Auftreten. Deshalb wurden sie hart angefeindet. Allerdings galten sie trotz der angewiderten Haltung, mit
der man ihnen begegnete, gleichzeitig als ungefährlich.
Zumindest für die, die sich auskannten. Als physisch eher
harmlos. Die Mädchen wurden meist als gestört wahrgenommen und die Jungs unter ihnen waren eben Jungs.
Keine Männer (die meisten sind es irgendwie bis heute
nicht, Tommi inklusive). Da half auch der Schulterschluss
mit dem zu jener Zeit noch rauen Proletariat nicht. Ihre
schärfsten Gegner, Ordnungshüter und Jungsoldaten,
Bauern und Bauarbeiter, HSV- und AC /DC -Fans, waren
aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Im Gegensatz zu
den Tommi-Boys waren das kernige Homo sapiens mit an79
spruchsvollem Auftritt. Und sie hatten echt keinen Bock
auf schmuddelige Aufsässige.
Selbst in Bimmelsdorf machten zum Beispiel die Leute
von der ortsansässigen Reptilbande mit Ansage Jagd auf
alle Andersseinwollenden. Solch neunmalkluge Sensibelchen – und nichts anderes waren Tommi und Freunde
in deren Augen – verspotteten sie verbal als »Störche im
Salat«, »Spargeltarzane«, »Strichmännchen in der Landschaft« oder »lebensunfähige Klappergestelle, bei denen
man den Wind durch die Rippen pfeifen hören könne«.
Physisch fuhren sie reale Angriffe. Auf die Fresse war Alltag. Wer sich also gegen ein als normal geltendes Daherkommen entschieden hatte, lebte in Dauerangst vor Übergriffen. Auf dem Fußballplatz. Im Jugendzentrum. Auf den
Schul- und Dorffesten. In der Disco. Die Straßen fühlten
sich bedrohlich an, und die Bedrohenden machten das
nicht nur aus Sadismus, sondern aus der Überzeugung,
für die notwendige Einhaltung von unverzichtbaren Regeln Sorge zu tragen. Und das, obwohl einige von denen
sich selbst als outlaws bezeichneten. Einer der Reptilbandenanführer hat sogar mal auf der Promenade zwischen
Bimmelsdorf und Scharbe mit einer Pistole auf Tommi
geschossen.
Westdeutschland war rau bis in die 80er Jahre. Der
Norden besonders. Kräftige Unterarme aus offenen OpelAutofenstern. »Scheissss Punkaaaaa!!« Dieser geschriene
Schlachtruf hallte als langgezogener Zeitlupen-Ton wie
in einem David-Lynch-Film über die Kreis- und Bundesstraßen, wenn ein bunthaariger Strolch es wagte, sich offen
am Straßenrand zu zeigen. Bedrohliche Mahnung im vor80
beiziehenden Fahrtwind, so klang es, wenn sie in ihren
höhergelegten Karren vorbeirasten. Schläger und Autos
in Schleswig-Holstein. Später, in der Großstadt, war das
kaum anders. Noch gar nicht so lange her, da zogen raue
Jugendbanden durch das heute chic-alternative HamburgOttensen, wo es dieser Tage so unerschwinglich teuer geworden ist. Viele kleine Straßenhauer wurden zu gefürchteten Prügelberühmtheiten. Einige wenige gab es auch
innerhalb von Tommis Szene. Grenzgänger waren das, die
sich nicht für eine Seite entscheiden konnten. Hauptsache
kämpfen. Sie konnten Konzerte mit 1000 Leuten auseinandernehmen. Natürlich wurde auch untereinander gerungen. Einfach überall. Manchmal hat das Spaß gebracht.
Blutüberströmt, aber glücklich, konnten Veranstaltungen
enden, auf denen das Pogotanzen sich in berauschendes
Adrenalin überschlug.
Das meiste aber waren dicke Eier in dummen Hosen.
Ungezählte Storys aus waberndem Respekt und sabberndem Heroismus über besonders krasse Ereignisse flüsterten sich durch die Szene aus der Stadt und über das
Land. In der für Bimmelsdorf zuständigen Kreisstadt hatte
jemand im Kochlöffel-Grillimbiss den über zwei Meter
langen Hartplastiklöffel von der Außentür gerissen und
damit auf gleich vier Polizisten eingeschlagen. Demselben
Typen haben sie später ein Auge ausgestochen. In Hamburg-Barmbek wurde Andi Z., der junge Studentenhasser
und Brillenzerschlager, von einem Kioskbesitzer erschossen. Später wurde seine Geschichte als einer der ersten
Print-Reality-Gassenhauer, direkt nach dem berühmten
Christiane F.-Bestseller, zuerst von einer großen Illustrier81
ten und später sogar vom Deutschen Schauspielhaus aufgegriffen.
Die Epizentren der Derbheit aber lagen und liegen auf
dem Lande. Das wissen alle. Klein- und Mittelstädte, die
waren (und sind) wirklich »Made from Germany«. Einen
Buntgefärbten haben sie in Kiel am Fahnenmast vor Karstadt aufgehängt. Einen anderen mit dem Kopf in eine
Fritteuse gedrückt. Wer gut rennen konnte, konnte eine
Menge. Tommi und Doktor Onkel, die eine Zeitlang eine
gemeinsame Band betrieben, erfanden einen Song für
diese Art von Stimmungen, hervorgerufen durch alles, was
eine andere Art hatte. Heute hat sich die Lage in dem Ort
verändert, die im Liedtext beschrieben wird. Aber er würde
ganz gut zu einer anderen Landeshauptstadt passen.
»Die Menschen aus Kiel«
(*4)
Sie warten in kleinen Kästen
Ernähren sich von Resten
Die abfallen
Von der Industrie
Sie tragen keine Namen
Dafür Bilder auf ihren Armen
Verwechseln
Kann man sie so nie
Die Menschen aus Kiel. Aus Kiel
Frauen und Männer
Start und Ziel
1 Schritt für die Menschheit
Sind 10 für Kiel
Sie sind hier geboren
Und sie sind hier geblieben
Sie fahren
Nicht weit weg
Die Menschen aus Kiel. Aus Kiel
Frag niemals – warum wir hier so sind
Du verlierst dabei – ein Stück von deinem Gesicht,
mein Kind
83
Herr from Germany, Sie sind eine
­Flasche
Manchmal denkt Tommi darüber nach, ob sich der Blick
auf seine Ideale verändert hat. Und wenn ja, wie es dazu
gekommen ist. Was hat sich von den Dingen, für die er
gebrannt hat, für die er noch immer brennt, eingelöst?
Und was nicht? Er versucht herauszufinden, wie die einst
wichtigen Begriffe heute für ihn klingen. Was ist zum Beispiel geworden aus: »Nie wieder Krieg«?
Tommi wurde Pazifist. Nix Waffen. Nix Bundeswehr.
Auch, weil er den Donnerhall der Weltkriege noch spürbar erlebte. Den leibhaftigen Schrecken. Die Rollstuhlgroßväter. Die Einarmigen. Die Kehlkopfmikrofone. Die
Dellen im Schädel. Ein Land voller Witwen und Omas
ohne Opas.
Viele der jungen Männer aus Tommis Generation nutzten den militärfreien Westberlin-Status, um nicht dienen
85
zu müssen. Das gelang mit dem schriftlichen Nachweis,
dass der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse in der Mauerstadt bestritten wurde. Am besten war man für irgendwas
an der Uni eingeschrieben. Kitty stellte einmal die schöne
Frage, wie wohl Westberlin heute aussehen würde ohne
die damalige Möglichkeit der Wehrpflicht-Umgehung.
Auf jeden Fall weiblicher.
Tommi blieb im Westen. Er wollte den »Dienst an der
Waffe« verweigern – und musste zur Gewissensprüfung.
»Was tun Sie, wenn der Russe bei Ihnen zu Hause eindringt? Ihrer Schwester mit Vergewaltigung, Ihrer Mutter
mit Schlägen droht? Sie kennen das Versteck, in dem Ihr
Vater seine Sportschützenpistole aufbewahrt. Wie verhalten Sie sich also?« In unzähligen Ratgebern, leicht erhältlich in linken Zentren und Buchläden, wie der seit 1978
bestehenden Lübecker »Alternative«, die später mit dem
Transparent »Deutsche Bank, Deutsches Geld morden mit
in aller Welt« für Aufregung sorgte, stand genau beschrieben, was man zu antworten hatte. Und dementsprechend
trug Tommi vor, als es so weit war: »Ja, leider werde ich da
gar nichts machen können. Ich bin durch und durch gegen
jedwede Form von Gewalt. Aus Gewissensgründen. Das
Beispiel mit dem Russen ist zwar recht hypothetisch, aber
ich weiß ganz sicher, dass ich nicht einmal die Meinen verteidigen könnte. Geschweige denn mich selbst. Und schon
gar nicht mit einer Waffe in der Hand.« Tommi hatte sich
zusätzlich überlegt, noch etwas Individuelles hinzuzufügen, um nicht zu aufsagend aufzutreten: »Und dann, der
Alte, wenn er besoffen ist, er verliert die Beherrschung.
Weihnachten ist er in den brennenden Christbaum gefal86
len, so voll war der. Ständig. Mutter hatte schon mehrere
Zusammenbrüche. Sobald jemand laut schreit, fange ich
das Zittern an.« Dabei flossen ihm sogar Tränen über die
Wangen.
Vor jenem Gremium, da war sich Tommi ganz sicher,
hatte er das einzige Mal in seinem Leben – rein handwerklich gesehen – glaubwürdig geschauspielert. Method
Acting at its finest war das, konzentrierte Reinsteigerung
in die eigene tiefe Bedauernswürdigkeit. Aber es war nicht
nur das beschriebene Trauerspiel, was ihn flennen ließ.
Dass er, Tommi from Germany, vor diesem Scheißgremium derart betteln musste, brachte ihn am stärksten zum
Jammern. Zeterndes Schicksalsschluchzen. Betroffen und
richtig geknickt ging er aus dem kargen Kasernenraum.
Die Gewissensprüfer berieten sich. Ewiges Warten im
Umkleideraum. Gemeinsam mit anderen. Lange Haare.
Dicke Akne. Fette Hornbrillen. Eingeschüchterte, picklige Jünglinge. Manche hatten sich getraut, das kleine
Schwarz-Rot-Gold-Fähnchen von den schmalen Schultern ihrer verwaschenen Parkas abzutrennen. Einer hatte
es gar offensiv durchgestrichen. Wieder rein ins Prüfungszimmer: Betont ernst blickten die Rechtsprechenden vom
Podium herab, das wie surreal verkleinert wirkte vor der
enorm imposanten Deutschlandfahne an der Wand des
sonst schmuckfreien Raumes. Ein Landwirt. Ein Handwerksmeister. Ein Bundeswehrmann. Tommi fühlte sich
wie eine tote, platte Maus, der man das Blut ausgesaugt
hatte. Der in der armeefarbenen Profimontur verkündete
die Entscheidung: »So, junger Mann. Sie sind hier in dem
Sinne durch die Veranstaltung gekommen, dass wir davon
87
ausgehen, dass Sie den Wehrdienst nicht (!) leisten können.
Und obwohl Sie eine gute T2, also Tauglichkeitsstufe 2,
erreicht haben: Für uns sind Sie zur Gänze nicht (!) zu gebrauchen. Das heißt im Klartext: Sie sind nicht geeignet
für eine Ausbildung an der Waffe und müssen dafür nach
Artikel 12a, Absatz 2 den Ersatzdienst ableisten.«
Beziehungsweise den Zivildienst, wie das damals auch
hieß. Tommi durchströmte eine glühende Wallung. Triumph! Die heiße Freude ließ sich nur mühsam verbergen
unter den verwischten Jammertränchen. Das Hinauslaufen
aus dem riesigen Klinkergebäude empfand er als ein nie
zuvor erlebtes Schweben. Ein Flug auf den Schwingen des
warmen Beschützervogels. Kurz vor dem Kasernenausgang
riss ihn der Landwirt, der eben noch wortkarg im Beirat
gesessen hatte, mit einem groben Griff am Arm aus seinen
Glücksträumen: »Moment noch, Sportsfreund. Eines wollte ich Ihnen noch mit auf den Weg geben. Sie können hier
jetzt froh sein, wie Sie wollen. Sie sind ja aus Ihrer Sicht gut
durchgekommen – gegen meine Empfehlung im Übrigen.
Jedenfalls, was ich Ihnen noch sagen wollte, junger Mann,
in meinen Augen, das können Sie ruhig so verstehen, wie es
gemeint ist, in meinen Augen sind Sie eine Flasche.«
Überzeugte, unverrückbare Härte. Aus der Tiefe der
über Generationen vererbten Strenge. Diese Umbruchszeit, in der man versuchte, über Tommis Vorankommen zu
entscheiden, und in der er und viele andere um eigenständige Identitäten rangen – BRD, etwa zwischen 1970 und
1985 –, lag noch im festen Griff besonders unnachgiebig
Schneidiger. Denn auch wenn sich die 68er-Fäden aus den
Jahren der Auflehnung gegen die autoritären Krusten in
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Friedensbewegung oder Ökoprotesten, offenem Feminismus oder etwaigen Bildungsreformen ausgebreitet hatten,
bestimmten steinalte Köpfe und Körper weiter das gefühlte Gesamtgeschehen. Fest nach vorne blickend aus steifen
Krawattenkragen und hartfaserigen Anzügen, gaben sie
sich weiter unbeirrt. Und zu jenem Zeitpunkt noch gut
im Saft stehend. Keiner von ihnen hatte jemals eine Träne
vergossen für irgendetwas. Aus Prinzip nicht. Ihre Uhren
trugen sie, um anderen damit die Zeit anzusagen. In ihrer
Welt konnte es jederzeit notwendig sein, sich augenblicklich verteidigen zu müssen. Gegen den Russen? Gut möglich. Gegen den aufkommenden Schlendrian? Auf jeden
Fall.
Jene Phase hatte Fronten. Und auch wenn die mit der
Waffe in der Hand geführten Kämpfe einiger weniger, die
sich blöderweise auch noch als Avantgarde empfanden,
als falsch zu bewerten sind: Wer verstehen will, warum
Menschen eine dumpfe Knarre als ernstgemeinte Option
unter Bekennerbriefe platzierten, wer nachempfinden
will, warum es die Bereitschaft gab, sein eigenes Leben in
einem nicht zu gewinnenden Kampf zu verpfänden, wer
begreifen will, warum sich manch einer zum mörderischen
Widerstand berechtigt fühlte, zum aussichtslosen Aufbau
einer eigenen, martialischen Maschine gegen die andere
martialische Maschine, die Maschine des Systems, der
müsste ein Glas aufmachen können mit dem feindlichen
Geruch dieser Zeit, zusammengestunken aus den klammen
Regelwerken der Vorherrschenden. »Hier ruht einer, der
seine Sache ordentlich gemacht hat«, wünschte sich der
beliebteste Bundeskanzler der Deutschen (mit eigener
89
Wehrmachtsakte), der damals das Sagen hatte. Für seinen
Grabstein.
Heute sind solche als sehr ernst wahrgenommenen Angriffe gegen die Staatsmacht nicht mehr so leicht denkbar.
Der Feind riecht neutral bis multi-stinkend, und sein Duft
hat viel zu viele Schichten, als dass man ihm leicht etwas
Großteiliges entgegenhusten könnte.
Wo sich die verletzten Kinder trafen
Die Väter von damals bekamen reichlich Auftritte. Tommis Stiefvater Uns Manni fand die besten Bühnen im Einzugsbereich seines Autohauses. Zusammen mit Stammesgleichen. Peter Kuchenmeister. Karsten Rund. Herbert
Riegel. Manchmal zog noch Onkel Ernst mit. Die meisten:
selbständiger Mittelstand. Viele: Schützenverein. Fast alle:
Vatertag. Wirklich jeder: Stammkneipe. Zur Scheune. Zur
Kupferkanne. Zum grünen Zweig, den sie nur »Zum morschen Ast« nannten.
Showtime!
Tresengeheule.
Lokales.
Suff.
Unzufriedenheit.
Ressentiment.
Beschwerde.
91
Schelte.
Androhung.
Aufwiegelei.
Kriegsgesang.
»Oh Kaffeebraun sind alle Frauen in Kingstown«, trällerte Uns Manni mit seinen Kumpanen. Oder: »Hier ist
die Luft so trocken, aber einen Schnaps wird man ja wohl
noch bekommen.« Aber auch: »Atomkraft? Nein danke!
Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose.« Und: »Das
faule Gesocks kannst du gern mal in meinen Betrieb schicken. Wirst schon sehen, wer am Ende vor dem Schleifbock brav sein Haarnetz trägt.« Sowie: »Die Beamten und
die Zeitungen lügen, sobald sie den Mund aufmachen.«
Die schlimmsten Meinungsbekundungen und Befehlstöne – so empfand das Tommi jedenfalls – waren jene, die
sich hinter dem Schleier des autoritären Humors versteckten. Andere demütigen und niedermachen mit angeblichem
Witz. Und dieser Sound schwappte in die Wohnzimmer.
Artgerecht. Traditionelle, neuralgische Punkte und Austragungsorte für besonders unwirsche Spottattacken waren
Familienfeierlichkeiten, auf denen es durch den Brandbeschleuniger Kräuterschnaps besonders unangenehm zugehen konnte: »Am Ende werdet ihr Ahnungslosen schon
noch sehen, was der Russe vorhat. Vom Itzig gar nicht zu
reden.« Eben. Manchmal zog auch noch Onkel Ernst mit.
Gegen Parasiten und Bolschewiken ins Feld ziehen. Tommi war nah dran und fühlte sich ganz weit weg.
Es gibt keine sichere Haut.
Es gibt keine sicheren Orte.
Es gibt keine sichere Existenz.
92
Es gibt keine sichere Liebe, keine Toleranz, kein Vertrauen. Keinen Halt.
»Sie können Ihren Sohn Horsti von der Wache abholen.
Er hat einen Strandkorb angezündet.«
»Sie können Ihren Sohn Horsti von der Wache abholen.
Er hat einen Stromkasten angezündet.«
»Sie können Ihren Sohn Horsti von der Wache abholen.
Er hat den Maibaum angezündet.«
Sie können Ihren Sohn Horsti abholen.
Es wird niemals eine Ruhe geben von Bestand. Dafür
sind die Verletzungen einfach zu groß, stecken zu tief drin.
In Tommis und in vielen Köpfen. Auch in denen der Generationen davor. Nur dachten diese, sie müssten stillhalten,
in den frei ausgedachten Benotungssystemen. Bei jenen,
die immer nur das Beste für sie wollen.
Die Nachfahren der Väter aus den Morschen Ästen
jener Zeit bekommen vergleichbare Podien auch heute
noch. Sie sind längst nicht totgekriegt. Heute zieht eben
Onkel Ernst Junior mit. Gegen alles Andersartige. Vorurteilsbeladener denn eh und je.
In Tommis Bimmelsdorfer Schule brachte Deutschlehrer Schmidke seinen Schülern bei, wie man Platz nimmt,
ohne die Bügelfalte der Hose zu beschädigen. Bei Widersetzung flog sein Schlüsselbund gegen den Zögling. Um zu
überprüfen, ob ungehorsame Schüler, die des Platzes verwiesen worden waren, auch wirklich hinter der Tür stehenblieben und über ihr Fehlverhalten nachdachten, mussten
ausscherende Zöglinge die Türklinke des Klassenzimmers
von außen herunterdrücken. Neben der Tafel hing ein
Pappschiffchen, an dem die Namen der Schüler als kleine
93
Kärtchen an der Reling festgeklammert waren. Wer auffiel,
wanderte, vertreten durch sein Namenskärtchen, den Mast
hoch. Im schlimmsten Fall bis in den Mastkorb, wo es dann
für alle anderen Kinder gut sichtbar schmorte, als symbolische Mahnung und Strafe. Außerdem betrieb NaziSchmidke einen Schönschreibklub nach Schulschluss.
Anschreien war sein Tonfall. Andere Lehrer waren kaum
gemütlicher. Ein Kollege von Schmidke verordnete im
Sportunterricht Geräteturnen. Für ein ganzes Schulhalbjahr. Weil ihm die nötige Disziplin abging in seiner Klasse,
Jahrgang 1975.
Fünf Jahre später wollte Franz Josef Strauß Kanzler
werden. Tommi und die anderen warfen die Plakate mit
seinem von Wut unterlaufenen Gesicht darauf in die Ostsee. Damals hieß es, der Bimmelsdorfer Strand hätte die
zweithöchste CDU -Wählerschaft in ganz Schleswig-Holstein. Direkt nach einer Nordseeinsel, die an der dänischen
Grenze liegt.
Elektrorasenmäher / Benzinrasenmäher
Schule / Ausbildung / Arbeit
Lehrer / Lehrherren / Leeren
An der Wand einer WG -Wohnung stand ein Slogan über
einer Matratze mit aufgezogenem Frotteespannbettlaken:
»Jeder ist allein. Jeder.«
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WeiSSe Rosen in eigener Kotze
Alle wollten nur noch abhauen. Weit weg sein. Selbst die
Verteidiger der Monokulturen. Hin zu den »weißen Rosen
aus Athen«, nach »Mendocino« oder zu einem »Puppenspieler von Mexiko«. Die Lieder jedenfalls waren voll von
Fernweh und eskapistischen Motiven. »Ich träume oft davon, ein Segelboot zu klau’n und einfach abzuhauen«, sang
der, den sie heute in Berliner Busanreise-Musicals feiern.
Selbst die Einverstandenen, die Ottos und die Normalverbrauchenden träumten in ihren exotischen, sich in die
Ferne schwelgenden Schlagersongs von nichts anderem als
dem Woanderssein.
Tommi, sein Cousin Sid Hansa und all die anderen
fuhren los. Mit dem Interrail-Ticket. Europa. Strände und
Straßen. Das Tollste waren die geheimnisvollen, damals
noch undurchleuchteten Urbanitäten. Amsterdam, London, Bilbao, Athen.
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Unterschiedliche Modelle. Radikale Symbole. Lebensformenexperimente. Versteckte Exklaven. Individualität.
Aufgespürte Solidaritäten. Die Szenen, die Leute, waren
verschieden. Die Wände voll mit Botschaften.
Überall: »Fight War, Not Wars.« Dahoam: »Buback, Ponto, Schleyer – der nächste ist ein Bayer.« Und: »Richtet
mit und ohne Finger, stets den Strahl auf Axel Springer.«
Revolution?!?!
Drastische Symbole. Knüppelharte Parolensongs.
Sich schämen für Deutschland. Wegen der Vergangenheit. Wegen der kleinlich großen Werte. Das fühlte sich
damals konstant so an, wie wenn Dr. Schäuble heute über
andere Länder spricht. Alle, die so empfanden, erkannte
man außerhalb ihrer Grenze an dem peinlich berührten,
nach unten gerichteten Teutonenblick.
Manchmal halfen ironische Bürger-Alkohollieder:
immer neue Wörter finden, in denen das Wort Bier vorkommt zum Beispiel. Zwanghaft. Absurde Klamotten vs.
Anti-Uniformen. Scheußliche Kunstversuche. Grenzüberschreitende, sich epidemieartig ausbreitende zusammengeschweißte Fahrradrahmenskulpturen vor und in alternativen Zentren. Und dann auch Rock ’n’ Roll.
Männchen spuckten Testosteron gegen sich und andere
Männchen. Tommi testete Regeln, jahrelang. In Beklemmungsüberwindung. Im Rausch. In Übertreibung und in
nachfolgender Scham. Allein und mit anderen flatternden
Testern wurde auf möglichst roten Linien balanciert:
Die-eigene-Kotze-trinken-Wettspiele / Truck-Surfensich-an-LKWs-festhalten-bis-zum-Abfallen / Über-Staatengrenzzäune-klettern / Geklaute-billige-Autos-gegen96
teure-Autos-fahren / Wehrsportgruppe-zum-Wehrsportzwingen / Feuerlöscher-in-Hotels-auch-ohne-Brände /
Fernseher-aus-Fenstern / Campen-auf-der-Kotti-Ver­
kehrsinsel / Nachtschwimmen-in-BRD -Berliner-Stadtkanä­len / Nacktschwimmen-im-DDR-Berliner-Hauptstadtbrunnen / Volkspolizisten-Belehrung / Wochensaufen­
ohne-Sonne / Kanalisationswandern / DavidswachenKuhhandel / Bühnen-brechen-in-Tokio / Fake-auftretenin-Beirut / USW /.
Deutschlehrer Nazi-Schmidke auf
Kurzbesuch in OstpreuSSen
Nach jedem besonderen Erlebnis verblassen die daraus
gewonnenen Einsichten nach und nach. In vielerlei Hinsicht kommt es Tommi so vor, dass trotzdem mindestens
ein nützlicher Gedanke hängenbleibt – manchmal. Wie
nach einer guten Psychotherapie. Anwendbares für wiederkehrenden Taumel. Tommi hat sich im Großen und
Ganzen mittlerweile die ein oder andere hilfreiche Krücke für taumelnde Phasen raufgeschafft. Und obwohl er
in seinem Dasein weiter viel auf der Stelle tritt, scheint
er seinem Ziel, der Großen Gelassenheit, näherzukommen.
Dabei schafft weiteres Ausprobieren für ihn die beste Art
von Vorwärtskommen, weil es sich so immer woanders
landen lässt. An Orten, da wo sie nicht sind. Tommi nimmt
sich vor, funktionierende Strategien zu wiederholen. Zum
Beispiel testet er immer wieder aus, wie weit man etwas
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behaupten kann, obwohl es keinerlei Absicherung dafür
gibt.
Begonnen hat er damit schon in der Schule, als er ausprobierte, in den besonders schwachen Lerngebieten eine
Flucht-nach-vorn-Strategie zu fahren. Der schönste Coup
gelang Tommi mit Nazi-Schmidke: Hier schaffte er es, dem
Deutschlehrer weiszumachen, er arbeite an einem umfangreichen Aufsatz über die »schmerzhafte, gleichzeitig
so einzigartige Wandlung des ostpreußischen Königsberg
von vor 1945 hin zur russischen Enklave Kaliningrad von
heute«. Nazi-Schmidke staunte nicht schlecht. Als Grund
für sein plötzliches Geschichtsinteresse nannte Tommi
seinen blinden Großvater Fritz, der ihn darum gebeten
habe, diese historische Entwicklung nachzuzeichnen. Weil
er es in seiner Situation nun mal nicht selbst tun könne. Es
handle sich also eher um einen diktierten Text, so Tommi,
das müsse man wissen. Aber durchaus original zu Papier
gebracht von ihm höchstselbst. Laut seiner Aussage gelangen ihm diese Aufzeichnungen in einer Weise, dass gleich
zwei! Lübecker Verlage an dem noch unfertigen Papier
Interesse zeigten. Großvater Fritz habe gute alte Kontakte
nutzen können. Nur dürfe man im bereits fortgeschrittenen Stadium nichts mehr mit dem Text riskieren. Dennoch,
gesetzt dem Fall, einer der beiden anfragenden Verlage
werde tatsächlich zuschlagen, erlaubte sich Tommi nun
die Frage, ob er, Adolf Schmidke, als erfahrener Deutschlehrer vor einer finalen Manuskriptabgabe, noch einmal
locker drüberschauen könne. Schmidke war nämlich – das
war Tommi nicht entgangen – ein glühender Ostgebiete-­
Verehrer und wollte selbstredend nichts lieber tun als das.
100
Natürlich verstand er aber auch, dass es anfangs leider
noch nicht wirklich etwas zu sehen gab. Weil die Verlage
sich die Einsicht Dritter bis zu einer endgültigen Einung
verbaten, so Tommi. Vor allem, weil noch einige wenige,
offene Vertragsmodalitäten ausstanden, wie Tommi direkt
aus den Lübecker Verlagshäusern zu berichten wusste.
Mit derartigen Meldungen schaffte er es, eine Schwebesituation für ein ganzes Schulhalbjahr herzustellen,
während ihn der stark angefixte Deutschlehrer behandelte
wie einen Einser-Schüler. Für Tommi war das ein lang anhaltendes Erfolgsgefühl. Als aber nach ungezählten Vertröstungen der Schwindel nicht mehr aufrechtzuerhalten
war, Schmidke immer drängender nachhakte und Tommi
irgendwann nur noch weiterflunkern konnte, Opa Fritz
habe plötzlich kalte Füße bekommen, deshalb sei das Projekt zwar vorübergehend auf Eis gelegt, aber keinesfalls als
beendet erklärt worden, war Schmidke ziemlich schnell
wieder ganz der gute alte Nazi-Schmidke. Nur noch
schlimmer als zuvor.
Eines war damit wieder bewiesen: Die Welt lässt sich
behandeln. Mit Versprechungen zum Beispiel. Denn in
Versprechungen steckt die Annahme, dass es sich lohnen
könnte zu investieren, auch wenn das Ersehnte selten
garantiert werden kann, völlig egal, ob in der Liebe, im
Krieg, in der Kunst oder was die eigene Freiheit betrifft:
Versprechungen scheinen universelle Hoffnung auf die
Befreiung von der eigenen Starre und Enge zu sein. Sie
müssen nur schlau aufgestellt werden.
101
Titanic oder Cap Arcona / Simulation
Ein weiteres kräftiges Aufeinandertreffen mit NaziSchmidke erlebte Tommi, als der rückwärts gesinnte
Deutschlehrer gemeinsam mit der ideologisch verwandten
Kunstlehrerin Fräulein Greif – geheimer Schulhof-Spitzname »Sie beGreift’s einfach nicht« – eine Theateraufführung anordnete. Das Thema der für die ganze Schule
als Pflichtbesuch angesetzten Veranstaltung, die wie jedes
Jahr in der sogenannten Projektwoche stattfand, war der
weite Begriff der Schuld. Das war insofern delikat, als
Lehrer Schmidke in seinem Unterricht nicht müde wurde,
die Dolchstoßlegende anzubringen, in der behauptet wird,
dass die Sozis die militärische Niederlage des Ersten Weltkrieges durch Rückgratlosigkeit herbeigeführt und – das
war nicht nur Schmidkes Meinung – dabei die Interessen
der deutschen Nation verraten hätten.
Auch an anderer Stelle versuchte Schmidke, Geschichte
103
zu klittern. So verleugnete er besonders vehement die Verantwortung der Wehrmacht in einem der schrecklichsten
Vorkommnisse, das zum Ende des Zweiten Weltkrieges in
unmittelbarer Nähe stattgefunden hatte. Nur wenige Kilometer vor der Küste von Bimmelsdorfer Strand, Needorf,
Scharbe, Haffke und den anderen benachbarten Orten
waren am 3. Mai 1945 der ehemalige Luxusdampfer Cap
Arcona und zwei kleinere Schiffe gesunken, nachdem
sie von englischen Kampfbombern beschossen worden
waren. Es ertranken über 7000 Menschen, die das NaziRegime auf solche Todesschiffen verfrachten ließ, damit
die Alliierten sie nach Kriegsende nicht in den Konzentrationslagern finden würden. Die Nazis hatten die Schiffe
absichtlich nicht mit weißen Flaggen gekennzeichnet, und
so wurden sie von den Engländern für feindliche Truppen
oder Kriegsmaterialtransporter gehalten und beschossen.
Vier Angriffswellen benötigten die britischen Jagdbomber,
um das Schiff tödlich zu treffen. Als ein »altes Gemälde der
Hölle« beschrieb ein Augenzeuge später das Szenario. Es
gab kaum Überlebende bei dieser als zweitgrößtes Schiffsunglück der Weltgeschichte eingestuften Katastrophe.
Wer nicht – wie fast alle – in der 7 Grad kalten See ertrank,
wurde spätestens am Strand erschossen oder erschlagen.
Frauen, Kinder, Menschen aus 24 Nationen. Es gab nur
etwa 300 Überlebende. Deutschlehrer Schmidke schimpfte vornehmlich auf die feigen Tommys, wie er den britischen
Kriegsgegner gern verspottete, wenn er die Geschichte
im Unterricht erzählte. Unter Auslassung aller weiteren
Fakten betonte er immer wieder, dass sie es doch gewesen
waren, die die Schiffe versenkt hatten, »und nicht wir«.
104
Am Tag der Theateraufführung, Schüler- und Lehrerschaft waren ausnahmslos in der Aula versammelt, sah man
ein angedeutetes Schiffswrack auf der kleinen Bühne. Das
schien erst mal nicht weiter verwunderlich für eine Theateraufführung in einer Lehranstalt in Seenähe. In den Tagen zuvor war darüber gemunkelt worden, dass es eine Art
Titanic-Adaption geben sollte. Eine Klassenkameradin von
Tommi hatte fälschlicherweise durchblicken lassen, das
Stück werde sich mit der Thematik einer fortschreitenden
Kommerzialisierung der christlichen Seefahrt am Beispiel
des Titanic-Untergangs beschäftigen, weil dieses schöne
Exempel angeblich das Ende der Romantik der Weltmeere
markiere.
Die vielen weißen Stofffetzen, mit denen das Schiffswrack auf der Bühne geschmückt war, irritierten zwar
etwas, man hätte sie aber für winkende Taschentücher auf
einem Kreuzfahrtschiff bei der Ausfahrt aus dem Hafen
halten können. Als endlich alle Anwesenden zur Ruhe gekommen waren, setzte klassische Musik ein. Es wurde kurz
dunkel, dann erleuchte ein Lichtspot den Bug des steil abfallenden Schiffsrumpfes. Cap Arcona stand dort geschrieben, in knallroten Lettern, wie mit Blut hingeschmiert. Als
Nächstes huschten gespenstische, graue Schattenfiguren
durch den Raum, umkreisten den markierten Ozeanriesen
und blieben schließlich stramm neben ihm stehen. Erst
jetzt konnte man erkennen, dass die düsteren Gestalten in
alte Wehrmachtsmäntel gehüllt waren. Sie begannen damit, die vorher eingesammelten weißen Tücher in kleine
Schnipsel zu reißen, um sie dann wie lustiges Konfetti
höhnisch auflachend ins Publikum zu streuen. Das Licht
105
ging nun ganz aus, und man hörte nur noch ihr fieses
Gegackere zur eingespielten Orchestermusik. Dann ein
Moment der Totenstille, bis ganz plötzlich, bei weiter anhaltender Dunkelheit, gellende Schreckensschreie zu hören waren, von denen man nicht wusste, ob sie nun von
den Wehrmachtsmitgliedern stammten oder sonst woher
kamen. Dieses fürchterliche Geheul war gleichzeitig bereits der Schluss der bis dahin nicht mehr als 10 Minuten
dauernden Aufführung. Als das schrecklich laute Geräusch
einfach nicht aufhörte, machte sich langsam unter den Zuschauern Unruhe breit. Die Situation blieb richtig lange
ungeklärt. Später erzählte Tommi immer wieder gern, er
habe trotz der Dunkelheit das perplexe Gesicht von NaziSchmidke gut erkennen können, das sich erst lockerte, als
er, wie aus einem Alptraum aufgeweckt, schlagartig zu sich
kam, nachdem zunächst Fräulein »Sie beGreift’s einfach
nicht« Greif, schließlich der resolute Herr Timme – ein
politisch ebenfalls fragwürdiger Mensch und Rektor der
Schule – ihn regelrecht anschrien, er solle endlich irgendetwas tun!
»Irgendetwas tun!«, dieser Ausspruch schwebte wie ein
feindlicher, akustischer Speer in der abrupten Stille über
den Köpfen der Anwesenden, nachdem schließlich doch
jemand die stilisierten Schreie der Cap-Arcona-Katastrophe durch einen beherzten Griff zum Stromsicherungskasten hatte verstummen lassen. Die aufgepeppte Version
des Ausrufes lautete später »Ich tu dir gleich irgendetwas!«
und wurde schnell zum Spottruf-Klassiker auf dem Schulhof. Einige Male tauchten auch kleine Zettel mit diesem
Satz auf, und schließlich verarbeitete eine Scharbener
106
Band, in der auch Tommis Kumpels Ha Em Schleier als
Gitarrist und Nerve R. als Querflötenspieler mitmischten,
das denkwürdige Schultheater-Ereignis in ihrem Gassenhauer »Einer macht was«.
»Einer macht was«
(*5)
Wenn alle längst haben aufgegeben
Die da scheißen auf Vaterland und Leben
Steht ein Mann wie eine Garde
Lehrer Schmidke macht sich grade
Gegen die ganzen faulen Schweine
Kämpft er ganz alleine
Wenn keiner sonst mehr kann
Tritt Schmidke auf den Plan
Ref: Schmidke macht was
Wer hält sein Versprechen
Schmidke packt das
Er wird uns alle rächen
In Zeiten von Versagern
Schwätzern, Sich-Beklagern
Braucht es kein Gelaber
Kein Wenn und auch kein Aber
107
Ref: Schmidke macht was
Wer hält sein Versprechen
Schmidke packt das
Er wird uns alle rächen
Sprechteil: An die letzten aufrechten Bürger. Wenn das
so weitergeht mit den Lügen, den unwahren Geschichten
über das, was wir mal hatten, dann … Wenn Gammler und
Parasiten, Ungewaschene und Banditen immer noch mehr
und mehr werden, dann … Dann … Ja, dann! Dann machen wir unsere Augen auf! Dann lassen wir uns nicht mehr
verarschen! Dann …. Dann ist Zapfenstreich! Dann … Ja,
dann! Dann werden wir ganz sicher etwas machen!!! Bevor
es … Bevor es zu spät ist … Zu spät ist!
Ref: Schmidke macht was
Wer hält sein Versprechen
Schmidke packt das
Er wird uns alle rächen
Schmidke macht Irgendwas
Wer hält sein Versprechen
Schmidke lass das!
Wir werden dich zerbrechen!
Im Sprechteil des einfachen Liedes parodierte der Sänger
von »Killerwahl«, so der Name der Scharbener Band, bei
jedem Auftritt das Feindbild Deutschlehrer Schmidke im
Stile einer Goebbels-Rede. Zusätzlich marschierte er im
Stechschritt auf und ab und riss dabei seine Beine weit
108
hoch, als befände er sich auf einem Exerzierplatz. Damals
erzeugten »Killerwahl« eine ordentliche Aufmerksamkeit
in der lokalen Szene.
Gegründet hatte sich die Band nach einer Kommunalwahl, bei der die konservativen Parteien im Landkreis
auf ein Rekordergebnis gekommen waren. Leider hat sie
nur ein kurzes Demotape in einer 100er Auflage hervorgebracht, das ziemlich behäbig klang, weil es von einem
nicht nur ländlichen, sondern auch noch amtlichen Rockstudio-Betreiber aufgenommen worden war, von denen
es in jenen Tagen eine ganze Menge gab. Lustiger als das
Hörbare auf dem als »Wahl Halla« betitelten Demotape
war seine Aufmachung: Zusätzlich zur in einen Plastikbeutel eingeschweißten C 30-Kassette gab es ein kleines
Fanzine mit dem damals von vielen als besonders witzig
empfundenen Titel Die Spitze des Scheißberges. Darin hatte
die Band Porträt-Fotos von Lokalpolitikern mit den Körpern von heimischen Fischarten kollagiert. Dieser Humor
erschöpfte sich dann aber recht schnell. Das Beste an der
Band war wirklich Nerve R., der bei den Konzerten von
»Killerwahl« sehr selbstsicher mit seinem Instrument auf
der Bühne herumrannte. Hysterisch und wild pickend, wie
eine Art Huhn-Mann. Er konnte die Querflöte gar nicht
spielen, allein, weil er viel zu nervös war. In seiner Kurzatmigkeit schaffte er kein Quäntchen Luftdruck auf das
feine Blasinstrument auszuüben. Trotzdem spielte er nach
Kräften mit. Jener damalige Fake-Querflötenakteur, Bürger-Ersatzname Nerve R., ist heute ein original Kunstprofessor und ein sehr bekannter Kunstmaler, dessen Verdienst
es ist, in seinem Schaffen dem Fehler und der Blamage auch
109
weiterhin echte Chancen einzuräumen. Er traut sich, Gekonntes auszuklammern, um sich in unbekannte Gefilde
treiben zu lassen. Das kühne, falsche Mitmachen bei »Killerwahl« gilt für Tommi dabei bis heute als sein stärkstes
Kunststück. Gleichwohl war diese Art von Simulation eine
von vielen wirklich angesagten Pseudomethoden jener
Tage. Auch die heute zu Massenaufläufen taugende Band
»Die abgelebten Beinkleider«, zu der Tommi seit Jugendtagen eine zutiefst seriöse Freundschaft unterhält, führte
anfangs einen als Schattenspieler bezeichneten Schummelinstrumentalisten in ihrer Formation.
Nichtige Orte, richtige Leute
Mit Nerve R. verband Tommi die Suche nach dem Ausbruch aus den Vorgärten. Aus einem besonders engen Vorgarten kam nämlich auch er. Nur hatte Nerve R. sich schon
viel früher als Tommi Mechanismen zugelegt, die Rasenmäher im Nacken loszuwerden: Er schaffte es, sich vielseitig auszudrücken. Wahrscheinlich weil er nicht nur mit
jener direkten Aufmüpfigkeit vorging, wie Tommi es tat.
Nerve R. war als Künstler auf die Welt gekommen. Schon
im Teenageralter konnte er seine Malereien ziemlich gut
verkaufen, ohne sich groß darum zu bemühen. An Landärzte zum Beispiel. Für ordentliches Geld, das er dann in
guten Kuchen steckte. Manchmal tauschte er seine Bilder
auch gegen eine Kiste Schnapsflaschen. Er trank dann sehr
viel davon. Eine Nacht. Ein Bild. Eine Flasche Wodka.
Irgendwann hatte er keine Lust mehr. Für Jahre ließ er
das Malen sein. Dafür war er der Erste, der aus der Land111
szene in die Stadt ging. Und sicher war auch Nerve R. ein
wichtiger und beispielhafter Impuls dafür, warum auch er,
Tommi from Germany, schnellstmöglich in City-Zusammenhänge gehen musste. Allerdings hatte niemand mitbekommen, dass Tommi nicht ausschließlich in die Stadt
zog, um sich in den urbanen Weiten gut verbreitern zu
können. Für den finalen Wechsel gab es noch einen anderen Grund: Tommi hatte eine Wette verloren. Das kam leider öfter vor. Er liebte es zu zocken. Dabei glaubte er, ein
besonders glückliches Spielhändchen sein Eigen nennen
zu können. Immer wieder gab er damit an, so gut wie noch
nie auch nur irgendetwas verloren zu haben. Das dachte
er tatsächlich. Wenn es allerdings eine schriftliche Aufzeichnung zu Tommis Gewinner- und Verliererbiographie
gäbe, dann würde sehr deutlich werden, dass er ganz und
gar kein talentierter Wettteilnehmer war. Egal, der Thrill
des Spielens war wie eine Droge für ihn, und seine Siegesgier schien grenzenlos. Ob beim Fußballspielen im Verein
oder schon in Kindertagen beim Elfer-Raus-Spielen mit
seiner Oma: Tommi war stets hochengagiert dabei. Was
er nicht konnte, war verlieren. Dieser Charakterzug blieb
zum Glück meist ohne Auswirkungen, sympathisch war er
indes nicht.
Ungünstiger wurde es erst, als Tommi mit dem frühen
Cyber für Jedermann, dem Vorläufer des Internets, in Berührung kam. Es war die Zeit, als die ersten Chats stattfanden. Über Doktor Onkel lernte Tommi Leute kennen,
die sich professionell in New Media umtaten. In den späten 80ern war das. Die Berührungen gingen mit simplen
Games und ersten Sequenzer-Musikprogrammen einher,
112
die das Musikproduzieren neu definieren sollten. Tommi
besaß einen Atari. Das Modem bekam er von jenen NewMedia-Bekannten, die auserwählte Leute auf ihrem futuristischen Weg mitnahmen. Wahrscheinlich wollten sie
nur ihr Geschäftsmodell testen. So wurden Doktor Onkel
und Tommi from Germany (in seinem Schlepptau) in ihrer
Umgebung die Ersten, die über das Telefonieren hinaus
mit anderen in technischer Verbindung standen.
Heftiges Chatten war tägliches Brot in dieser InsiderSzene. Die Textinhalte waren reichlich banal – anfangs.
Hauptsache irgendetwas vorgeben. Oder irgendetwas antworten. Je nachdem. Und weil noch niemand genau wusste, wofür das Ganze eigentlich gut war – also einfach so
von zu Hause aus elektronisch zu kommunizieren –, gab
es auch kaum Nützliches, was da durch die langsamen Leitungen hin und her formuliert wurde. Tommi verbreitete
tatsächlich Kochrezepte, obwohl er keine Ahnung davon
hatte. Außer von der besonders simplen Küche: altes Brot
in Ei einlegen und dann in Butter braten, zum Beispiel.
Armer Ritter hieß das Gericht. So weit war alles gemütlich
und blieb lange eher lahm. Nur eines brachte dabei echte
Spannung: nach Hause zu kommen, und es war schon was
da. Ein angefangener Chat nämlich. Den konnte man liegen lassen oder sofort beantworten. Manchmal kam lange
nichts zurück.
Viel besser war das In-realtime-Schreiben: … »Hey!
TOFRO GERMANY speaking! Anyone out there?« …
»Alright. Sure man! Cool chat name! TOFRO GERMANY ! Yes I’m on! SUPER MONKEY MAN is writing you!
How you doing?« … »Cool! SUPER MONKEY MAN!
113
Yes! I’m just on the scene since one minute! Have you ever
heard of Poor Knight, my friend?« … »Alright! TOFRO
GERMANY ! I’m out now! Need a couple of beers, man!«
… »Hi, Hi, Hi! Cheers! Take care MONKEY !«
Das Schreiben selbst der dünnsten Sätze dauerte sehr
lange. Die meisten Chatter hatten bis dato noch nie Maschine geschrieben. Aber alle blieben fleißig dran, egal wie
schwächlich die Konversation ausfiel. Trotzdem: Wenn
nicht irgendwann das Digi-Begging, das digitale Wetten,
dazugekommen wäre, wären wahrscheinlich viele schnell
wieder eingeschlafen. So aber geriet Tommi in eine Gruppe – alles inländische Chat User –, die ständig was zu wetten hatte. Oberste Regel war es, bei einer eventuellen Niederlage auch wirklich zu liefern. Egal, wie gaga der Einsatz
war. Allerlei, meist technischer Kram, wurde gewonnen
oder verloren. Es gab aber auch Tickets für Konzerte
oder Ausrüstungen zum Windsurfen. Einer hat mal einen
Schutzdienst wegen Stress mit Nazis gewonnen. Tommis
schrägste Gewinne waren: der Vortrag einer total netten
Frau aus Bremen, die gegen ihn einen Adorno für Dummies-Crashkurs verloren hatte und dann am Telefon vier
Stunden lang sehr verständlich alles zu Adorno referierte,
was sie darüber studiert hatte. Dann war da der Wetteinsatz eines Bekannten aus seiner Nachbarschaft, der sich
auf die nervige Aufgabe einließ, das Holzboot von Tommis
Stiefvater im Winterlager abzuschleifen – ein grausiger
Frondienst. Dennoch waren die meisten Wetteinsätze
Langweiligkeiten wie das Verschicken einer seltenen Undergroundsingle. Einmal war aber auch eine ganz witzige
Situationsaufgabe dabei, nämlich als Tommi ein sogenann114
tes Schmähgedicht über eine unliebsame, den ganzen Betrieb aufhaltende Mitarbeiterin mit Namen Britta Müller
schreiben musste, der man geistig eins damit auswischen
wollte. Er musste das Gedicht eigens verfassen und es Frau
Müller dann anonym per Post zukommen lassen:
»Für Britta«
(*6)
Manchmal schläft man
Manchmal lebt man
Wer sich drehen kann
Fängt was Neues an
– Nur Britta macht weiter wie bisher
Sein bedeutendster Wettverlust war aber eindeutig die
eingangs schon erwähnte Verliererwette mit dem nicht
aufschiebbaren Versprechen, innerhalb von drei Monaten
und für Minimum ein Jahr den Wohnsitz um mindestens
hundert Kilometer zu verlegen. Anfangs empfand Tommi
die Aufgabe als heftigen Druck, er kam in schwere Zweifel
und geriet gar in ernste Versuchung, sich einfach zu weigern, gegen alle Regeln der jungen Chattergemeinschaft.
Am Ende siegte die Ehre. Tommi rief seinen Freund und
späteren Bandkollegen Cat the Cat an und fragte, ob er
ein paar Nächte bei ihm poofen könne. Und daraus wurde
dann, neben allen anderen guten Gründen, vom Land in
die Stadt zu ziehen: Tommi from Germany / Stadtbewohner / Forever.
Anfangs lief das holprig. Immerhin, so sah er auch Kitty
115
und Nerve R. wieder öfter, die beide schon lange vorher
weggezogen waren. Nach Hamburg. Nerve R., der schon
ein ganzes Jahr in der Hansestadt wohnte, hatte dort erst
mal recht wenig auf die Reihe bekommen. Beziehungsweise alles und nichts. Er selbst nannte sich in jenen Tagen
einen umverteilenden Kommunisten, wahlweise einen gerechten Dieb. Zu teure Bücher, zu teures Fleisch oder zu
teure Fahrräder zählten zu seinem Beuteschema. Meistens
sah er souverän dabei aus.
Nerve R. hatte zu dieser Zeit bereits ein ganz anderes
Umfeld, als Tommi das bis dahin kannte. Über ihn lernte er eines Tages die Musikerin Mali kennen. Sie nannte
sich so, weil ihre Familie damals aus einem Land flüchten
musste, das ein afrikanisches hätte sein können. »Ein kaputtes Land, wie fast jedes, das eure Scheiß-Kolonialherrschaftsknechte angefasst haben«, belehrte sie Tommi, als
Nerve R. sie ihm vorstellte. Mali war sehr politisch. Und
eine wunderbare Sängerin. Unter anderem.
Sie war es, die Tommi endgültig mitnehmen sollte. Bildlich gesprochen. Durch sie änderte sich seine Lebensrichtung in eine grenzenlosere. Bis hin zur Mitgliedschaft in
der Künstlersozialkasse. Richtig verstanden hat er diesen
wichtigen Einfluss erst viel später, als die beiden sich kaum
noch sahen. Bis dahin hatte es aber einige – für Tommi
sehr eindrückliche – Zusammenkünfte mit Mali gegeben.
Eine davon brannte sich in Tommis Erinnerung als
irgendetwas zwischen Drogentrip, Liebesgestrüpp und
schlimmer Psychostreitigkeit: Mali besuchte leidenschaftlich gern Konzerte. Unheimlich cool konnte sie sich zur
Musik bewegen. Tommi begleitete sie, sooft es passte.
116
Nach einem der vielen langen Abende, die sie gemeinsam in Clubs verbrachten, begleitete Tommi Mali in ihre
kleine Wohnung. Zum ersten Mal. In dieser Nacht hat sie
ihm unendlich viel Musik vorgespielt. Tausend Bilder und
Bücher gezeigt und ebenso viele Geschichten erzählt. Bezaubernde. Schockierende. Kämpferische. Alles ineinander
übergehend. So etwas hatte Tommi noch nicht erlebt. Das
Wunderbare war die Mischung: Mali konnte trockenen
Speed Metal oder konfusen Free Jazz auflegen und mit düsteren, folkloristischen Fabeln aus ihrer Heimat zusammenbringen. Sie zeigte Tommi artifizielle, nordamerikanische
Kunstcomichefte und verband sie mit Schwärmereien über
kitschige Rockkonzerte. Gleich danach erzählte sie ihm
von einer geheimnisvollen Katze, die weißhäutige Kinder
entführte, um sie für immer in die Wüste zu verschleppen.
Aus ihrem Munde klang das ganz selbstverständlich. Alles
war voller Bedeutung. Tommi wusste bald nicht mehr genau, ob der Speed Metal für Freiheit stehen sollte und die
weißhäutigen Kinder möglicherweise eine von Mali verehrte, politische Richtung symbolisierten. Klar war aber,
dass sich aus all ihren Bildern, Musikstücken und Büchern,
deren Zusammenstellung ihm zunächst einfach nur chaotisch vorgekommen war, eine große, zusammenhängende
Haltung entspann. Mali hatte die Fähigkeit, Dinge wie aus
einem riesigen Werkzeugkasten zu entnehmen, endlos aufgefüllt mit künstlerischen Zeichen, um dann mit all diesen
Zutaten fließend zu sprechen.
Irgendwann an diesem Abend haben sie Drogen genommen. Von diesem Moment an verschmolz der Free Jazz
endgültig mit der Kinderentführerkatze, die Comicfiguren
117
verloren sich in der Wüste. Und alles nahm Gestalt an,
wurde real erlebbar. Und dabei wunderschön. Tommi flog
in einen Himmel aus unbekannten Farben: wie ein entflammtes Kind auf den Schwingen des LopLop-Vogels des
Malers Max Ernst und dabei noch höher als bei seinem
ersten Weinbrandrausch am Bimmelsdorfer Strand.
Bis Mali erschrak. Und schrie. Und ganz dunkel wurde.
Niemals zuvor hatte Tommi einen Menschen so sehr in
Angst erlebt. Fast konnte man danach greifen, wovor Mali
sich fürchtete. Es waren Viecher im Raum. Verfolgung
und Folter. Zerrissenheit. Ein materialisierter Horror. Das
Trauma der Flucht ihrer Familie hatte sie ergriffen. Nachdem sie eine endlose Zeit konstant schreiend in einer Ecke
ihres Zimmers gekauert hatte und es unmöglich gewesen
war, sich ihr zu nähern, rannte sie urplötzlich aus ihrer
Wohnung und verschwand im Trubel des Viertels.
Was dann folgte, konnte Tommi nur schlecht wiedergeben: weil sich in seiner Erinnerung alles überlagerte.
Jedenfalls war er Mali lange hinterhergelaufen, ohne sie
einholen zu können. Warum das so war, wusste er nicht.
Sicher war nur, dass er im eigenen Bett aufwachte: seine
linke Hand blutig, seine Klamotten sehr dreckig. In seiner
Erinnerung hatte Mali viele Leute getroffen, die alle phantastisch aussahen. Und es hatte Ärger mit ihnen gegeben.
Tommi hatte sich geschlagen, aber vielleicht stimmte das
auch gar nicht, und vielleicht war Mali auch gar nicht dabei
gewesen. Er war tief verstört nach dieser Nacht, traute sich
aber nicht, Mali zu fragen, was genau passiert war. Als er
sie das nächste Mal traf, sprach sie kein Wort über das Geschehnis.
118
Vergessen hat Tommi dieses sonderbare Ereignis nie.
Mehr noch – es trieb ihn nachhaltig an und um. Die besondere Haltung im Umgang mit inhaltlichen und musischen
Mitteln, die er an diesem Abend in Malis kleiner Wohnung
erlebt hatte, war fortan Maßstab für alles, was er selbst
erzeugen wollte. In Zukunft würde er sich immer daran
halten, wenn er sich auszudrücken versuchte, das nahm er
sich fest vor.
Gelegenheiten dazu gab es mehr und mehr, seit er in die
Stadt gezogen war. Er, Tommi from Germany, Ex-Horsti
aus Bimmelsdorf, wurde einer der wenigen, der wie Kitty
against Kitty, Doktor Onkel, Cat the Cat, Ha Em Schleier
oder Nerve R. seine ländliche Umgebung zurückgelassen
hatte, um zum urbanen »Vollzeitfrickler« zu werden. Der
Frickel-Begriff stammte von Doktor Onkel – der sich in
speziellen Situationen auch Onkel Doktor nannte – und
sollte wohl eine Untertreibung sein für all das Zeugs, das er
mit zunehmender Sichtbarkeit in die Öffentlichkeit warf.
Tommi tat es ihm gleich: Nachdem auch er mit der
City-Action begonnen hatte, wie Doktor Onkel die Eroberung der Stadt in seiner ganz eigenen Ausdrucksweise
zu nennen pflegte, gründete er, meist mit Gleichgesinnten: mehrere Bands. Eine Experimentierstube mit Plattenspielern und Rednerpult. Künstlerische Gruppen. Aktivistische Gruppen. Sinnvolle und sinnfreie Gruppen. Und
vieles mehr. Er wurde Bühnenschreihals, Ton-, Text- und
Darstellungsprobierer. Sein wichtigstes Streben galt dabei
weiter der Überprüfung von Gesetzmäßigkeiten aller Art.
Bei Bedarf probierte er dazu immer neue Täuschungsmanöver.
119
Tommi from Germany, der einmal Horsti aus Bimmelsdorf gewesen war, hat sich über die Jahre noch viele andere
Namen zugelegt. Von einigen könnte man gehört haben.
Pfiffiges oder nicht so Schlaues.
Das Erlebnis mit Mali hat ihm einen ordentlichen
Schubs gegeben, um gut in Fahrt zu geraten. Dazu kamen
dann viele weitere Begegnungen, durch die er immer versierter frickelte: in flüchtigen Zeiten an nichtigen Orten
mit richtigen Leuten.
Drogeninitiative
Das als Frickeln bezeichnete Schaffen war wohl der Versuch, nicht zu geordnet, nicht zu festgelegt daherzukommen. Alle künstlerischen Versuche sollten sich deshalb
immer unhandwerklich anfühlen, weil das richtige Können –
zumindest in Tommis Erfahrung – oft im autoritären
Gewand in Erscheinung trat. So vermieden die Frickler,
egal ob sie virtuos oder gänzlich stümperhaft waren, das
Erreichen von betitelter Profession. Viele bezeichneten
sich ganz freiwillig als »Dilettanten«, einige kombinierten
diese selbstgewählte Abwertung mit dem spöttischen Zusatz »genial« und schrieben das Wort Dilettantismus auch
noch absichtlich falsch. Niemand musste mehr ausgebildeter Musiker, Schriftsteller, Maler oder Regisseur werden,
konnte aber trotzdem all das nach Laune ausüben.
Viele von ihnen starteten in einer Band. Das waren freie
Treffen mit Getränken. Und meist simpelsten Instrumen121
ten. Wer gar nichts spielen konnte oder keine Dinge zum
Draufschlagen mitbrachte, wurde Sänger. Für Unzufriedene waren die frühen Musikgruppen der Neuen Welle, in
denen man sich herrlich frei und kritisch und manchmal
auch extra bescheuert äußern konnte, eine wunderbare
Möglichkeit. So wurden mit trockenem Protest oder in
gewagter Überhöhung die ungeliebten Umstände angegangen.
Tommi wurde Sänger. Einer von vielen, die Laut geben
wollten. Egal womit. Loshacken mit Gitarren, Schlagzeugen, Stimmen oder was sonst rumlag in den Jugendzentren
und Probebunkern. Und genau so, wie es sich mit dem intuitiven Nachbrüllen des Anarchy-Schreies verhalten hatte, genau so war es auch bei den ersten eigenen Versuchen:
Sie wurden Protestsänger und Protestmusikanten, ohne es
sich vorzunehmen. Tommis erste Band hieß »Die Zinksoldaten«. Der Name sollte darauf hinweisen, dass ein jeder
Militarist nur im Zinksarg enden konnte. Die Texte thematisierten umfassend, was einengte. Selbst Drogen wurden
ein Thema. Das war allerdings sehr widersprüchlich, denn
obwohl die Zinksoldaten in dieser Hinsicht bereits alles
Mögliche in lustiger Experimentierlaune konsumiert hatten, machten sie auch hier die Verhältnisse verantwortlich.
In diesem Fall verwiesen sie auf die Notwendigkeit, sich
betäuben zu müssen, bei all den nicht aushaltbaren Schrecken des Alltags. Einer der Texte hieß demnach »Drogeninitiative«.
122
»Drogeninitiative«(*7)
Ich bin ein Haufen Schutt
Dieser Staat macht mich kaputt
Ob ich in die Schule gehe
Oder einen Joint mir drehe
Refrain: Hier kommt die Perspektive
Und sie heißt Drogeninitiative
Dro – ho – ho – gen fassen
Sich ni – hi – hicht anpassen
Aufgeputscht durch die harte musikalische Gangart seiner Mitstreiter von den Zinksoldaten, wurde die krumme
Dichtung des Songs »Drogeninitiative« ein kleiner Szenehit.
Die ersten Konzerte waren große Ereignisse für alle.
Leider war es nicht so leicht, Räume zu finden, in denen
man mit einer derartigen Band öffentlich spielen konnte. Deshalb gaben sich die Zinksoldaten als etwas anderes
aus. So trug es sich zu, dass Tommi sein Bühnendebüt in
der getarnten Gruppe »Die Windtomaten« erlebte – was
immerhin so ähnlich klang wie »Die Zinksoldaten«. Sie
traten mit der Behauptung auf, eine Country- und Western-Formation zu sein. Der Abend wurde ein Desaster.
Das aufgeheizte Publikum ließ alles Mögliche mitgehen,
und der Veranstalter erhielt eine Anzeige. Und obwohl
»Die Zinksoldaten« (aka: »Die Windtomaten«) sowieso
nur sieben Stücke spielen konnten, war bereits nach einer
123
Viertelstunde Schluss. Der Strom wurde abgedreht, und
die Polizei marschierte auf.
Nach und nach fanden sich passendere Locations. »Die
Strukturen dafür waren allerdings bereits erkämpft, das
darf nicht geleugnet werden«, bemerkte Kitty viel später
einmal zu Tommi, »denn obwohl ihr immer gelästert habt
über Hippies, Ökos oder Peace-Brüder, waren eure ersten
Auftritte in den linken Buchläden, autonomen Jugendzentren und den Volksküchen der besetzten Häuser ihren
harten Vorkämpfen zu verdanken.«
»Die Zinksoldaten« überlebten nicht lange: Es gab
Streit wegen der künstlerischen Ausrichtung. Trotzdem
lernte Tommi bei ihren wenigen Konzerten ganz viele
Leute kennen. Einen komprimierten Haufen Gleichgesinnter, der sich in den ersten Jahren der Neuen Welle
immer wieder über den Weg laufen sollte. So fand Tommi
auch zu den Mitgliedern seiner zweiten und bis heute bestehenden Band.
Viele seiner Freundschaften, die immer noch Bestand
haben, ergaben sich aus solchen Ereignissen. Aus diesen
wenigen Jahren des letzten Auftrittes einer deutlich irritierenden Jugendkultur. Nicht alle von denen, die diese
Welle lostraten, verfolgen heute weiterhin dieselben Ziele
wie damals, aber vielen Verbindungen lässt sich zumindest
emotional noch trauen. Tommi findet, dass das wirklich
stimmt, mit der Liebe, die hält, wenn sie einmal groß gewesen ist.
124
Ein halbstarker Jungfuchs macht den
Unterschied
Bei allem freien Gemache: Es wurden richtige Aufnahmestudios, richtige Backstage-Räume und richtige Theaterhäuser, in denen Tommi sich in den vielen Jahren des
fortlaufenden Frickelns aufhalten sollte. Musik war und ist
hierbei Tommis Mittelpunkt – insbesondere das Modell
der Band. Ein Verbund aus Mitgliedern, die außerhalb
der Gruppe trotzdem frei sind in ihrem bunten Parallelwerkeln, von offener Kunst bis Stadtbühne, von Szenejobs
aller Art wie Kneipenaktivitäten bis zum Herausbringen
von Musik.
Seine eigene Gruppe konnte alles sein. Und kann es
immer noch. Sprachrohr mit gewolltem Einmischen und
expressiver Stilexperimentiererei. Optisch wie musikalisch.
»Wild fremd« ist das spirituelle Gebot. Die Texte waren
von Anfang an gesellschaftsuntersuchend. Auch wenn sie
125
nicht immer explizit so aussahen. Sie konnten vordergründig freudige Saufexzesse preisen und gleichzeitig den
spießbürgerlichen Stammtischdumpfsinn karikieren. Das
gelang nicht immer sauber. Manchmal wurde die Täuschung nicht erkannt, und der Spott über ein Schützenfest
fühlte sich am Ende so an wie dasselbe – nur noch viel
schauriger.
Sehr zuwider waren ihnen von Beginn an die gängigen
Sprungbretter: Ab einer bestimmten Größe gaben die
meisten Kollegen aus der Szene den Versuchungen nach.
Große Plattenfirma, kleine (oder große) Karriere. Besonders öde fanden sie die heroischen Durchhalte-Modelle
à la »Fünf Finger sind eine Faust«-Männergruppen, die
sich dann regelmäßig zerstritten. Nach der zweiten Platte.
Oder während der zweiten Tournee. Wegen Geld. Wegen
Positionsgerangel bei der internen Ranghöhe. Nicht mal
wegen Drogen. Auch nicht wegen Frauen, wie sie es gern
erzählten.
Der Weg von Tommis Band war immer von Abgrenzungen geprägt. Alle wussten, dass man das bemüht finden
konnte. Trotzdem blieben sie bei der Auffassung, dass das
Musikbusiness mit seinen Scheininteressen kunstfeindlich
angelegt ist. Dann lieber den nächsten schwer nachvollziehbaren Move ins Gewagte testen, Refrains probieren,
die sich nicht überall mitsingen lassen. Egal, ob zu radikal
oder zu peinlich. Vielleicht ist ihr in Jugendtagen gestartetes Unterfangen auch gerade deshalb nie eingepennt,
in all den Jahren. Manche sagen, sie würden sich immer
wieder neu erfinden. Tommi nennt das, sich immer weiter
altbewährt nicht langweilen.
126
Ihre Konzerte zeigen sich aufgeladen wie am ersten
Tag. Besondere Zusammenkünfte sind das. Wenn die sechs
Mitglieder aufeinandertreffen, dann passiert – manchmal –
ein kleines Wunder. Trotz Hunderter Auftritte kann sich
die erfahrene Bande, wenn es gut läuft, in einen Haufen
flackernder Truthähne verwandeln. Sie werden zu Biestern, die sich noch nie zuvor begegnet sind und die erst
kurz vor Konzertbeginn in einen zu kleinen Stall gepfercht
worden sind. Wenn es dann losgeht, scheint jemand zusätzlich noch einen halbstarken Jungfuchs in die Runde
geworfen zu haben. Als Brandbeschleuniger. Dieser für andere unsichtbare Federviehräuber macht den Unterschied,
steht er doch ab seiner Landung im Gehege als Garant
für das Drehmoment des freien Spiels. Was wird passieren?
Ein zuverlässig eintretender, durchaus gewünschter Sichnicht-zu-sehr-auskennen-Effekt erweist sich als wertvoller
Verdienst des aufscheuchenden Räubers: »Fuchs muss tun,
was ein Fuchs tun muss.«
Tommi liebt das und findet das logisch. Er kann nicht
verstehen, wie andere Musikanten über Jahrzehnte dieselben Songs zu denselben Abläufen zeigen. Wie es zum Beispiel möglich ist, dass ein starralter Rollender (Rock-)Stein
sein Lied »Straßenkampfmann« mittlerweile in riesigen
Stadien immer genauso sauber wie auf CD wiederholt.
Und obendrein davon auszugehen scheint, dass die geschärften Windungsschnörkel seines gelederten Körpers
ihn für immer ungezähmt aussehen lassen. Wenn dann
noch, nur wenige Meter weiter, der ebenfalls zu gefrorenem Fels erstarrte Gitarrist seinen Job solide repetiert
und die anderen beteiligten Personen stets verlässlich und
127
amtlich gleichziehen, dann tendieren die Chancen auf irgendeine klitzekleine Überraschung für die anstehenden
zweieinhalb Bühnenstunden plus vier Zugabeblöcke gen
null. Uff.
Mit den Inhalten verhält es sich ähnlich. Das soll nicht
bedeuten, dass sich bei den eigenen Versuchen alles immer
wieder total neu erschaffen lässt. Wer aber die heutige,
widersprüchliche Welt zeigen will, so sagte es Tommis
Bandkollege Cat the Cat ein wenig sich selbst streichelnd
in einem Interview für ein Musikmagazin, der müsse aushalten, sich ab und an ein wenig den Kopf am Boden zu
stoßen, um nicht ständig und an der immer selben Stelle
gemütlich den Fuß mitzuwippen.
Musik kann alles
In Hamburg gab es diesen riesigen Supermarkt in einer
ehemaligen Rindermarkthalle, hinter einem noch riesigeren Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Heute sind dort
verschiedene kleinere Supermärkte und andere Wareneinkaufsmöglichkeiten versammelt. Und weil der Ort an die
alte, raue Historie mit den seinerzeit frisch geschlachteten
Tieren erinnern soll, heißt das ganze Konglomerat heute
wieder ganz offiziell Rindermarkthalle.
Tommi ging gern in den Riesensupermarkt, zusammen
mit Doktor Onkel. In der Technikabteilung gab es unendlich viele Tapedecks. An jedem einzelnen Gerät probierten die beiden nacheinander aus, wie schnell und mit
welchem Geräusch die Kassettenladeklappen der Tapedecks aufsprangen. Sie fanden, dass die langsamsten die
besten waren: Wie Blätter in Windstille bewegten sie sich,
super relaxed. Bald hatten Tommi und Doktor Onkel total
129
die Ahnung von Kassettenladeklappenklängen und den
dazugehörigen Öffnungsgeschwindigkeiten. Als Nächstes
begannen sie, möglichst viele HiFi-Anlagen bei maximaler
Lautstärke gleichzeitig anzustellen. Um dann unauffällig
wegzugehen. Aus größerer Entfernung verband sich der
Krach der Musikanlagen gemeinsam mit den anderen Supermarktgeräuschen zu einer besonderen Sinfoniecollage.
Niemals wird Tommi diesen intensiven Sound aus der
Warenhalle vergessen: eine sich schwirrend auftürmende
Kakofonie. Immer wieder bezieht er sich in seinem musikalischen Behaupten auf die klanglichen Experimente
bei »Walmart« und »Continental«, wie die Supermärkte
damals nacheinander hießen. Hochgradig inspirierende
Orte waren das.
An selber Stelle haben Tommi und Doktor Onkel dann
auch das Prinzip der »Freiwilligen Werbung« erfunden.
Hierbei mussten ganz viele Fanta-Dosen eingekauft und
dann vor dem Markt marginal billiger wiederverkauft
werden. Bei 35 Pfennig die Dose im Einkauf wurde sie für
33 Pfennig wieder abgegeben. Zusätzlich zur Kampagne
erfanden die beiden Jungwerber auch noch das lustige
»Fantamännchen« mit eigens komponiertem Reklamesong. Darin thematisierten sie als Projektband »Kampagne
Fairmarkt« zunächst diverse Gefahren für die Umwelt, um
dann zu verkünden, dass das Fantamännchen es schon wieder richten würde. Wenn nur alle immer ordentlich viel
Fanta trinken würden.
130
»Fanta, die Umworld ist okay«
(*8)
Erst, wenn der letzte Kuh überfahren ist
Erst, wenn die letzte Baum gestorben ist
Weißt du, dass man Geld nicht essen kann
Fanta, Fanta, FantaMensch, wach endlich auf
Fanta, Fanta, FantaDie Umworld ist okay
Eigentlich ein Hit. Zumal Tommi und Doktor Onkel
mit einer professionellen Sängerin arbeiteten. Extra nur
für diese eine Aufnahme. Wahrscheinlich war aber die
unterlegte, eigens mit einem Vierspurkassenrekorder aufgenommene Reggaemusik schlicht zu white geraten. Dennoch wird Tommi diesen besonderen Fanta-Sound nie vergessen. Noch heute fühlt es sich wie ein südliches Lachen
an, wenn er die alte Aufnahme mal hervorkramt.
Lange Zeit hatte Tommi mit Doktor Onkel eine musikalische Beziehung, die häufig auf ironischen Grenzgraden
balancierte. So betrieben sie etwa eine Gruppe, die sich
»Die Schnapsknallies« nannte und mit der sie hofften,
andere verdiente Mundartleute wie die beliebte Gruppe
»Torfrock« angreifen zu können. Es sollte sich um ein
reines Geschäftsmodell handeln. Die Songs dafür flogen
ihnen mit großer Leichtigkeit zu. So entstand zum Beispiel
eine inhaltlich sehr unpolitische »Wind of Change«-Fortsetzung. Anders als bei der berühmten Version der »Skorpione« aus Hannover mit ihrer eingängigen Pfeifballade
131
hüpfte ihr Playback als zackiger Rockabilly-Rhythmus
unter einem stark modernisierten Text. Den Gesangspart
übernahmen sie gemeinsam:
»Gorbi«(*9)
Mach mir ’nen Knutschfleck auf die Glatzi
Weil ich so gern wie Gorbi wär
Dann wird aus deinem kleinen Schatzi
Ein Generalsekretär
Des Weiteren entstand ein solider Handwerkersong, lyrisch ausgetragen auf den Akkorden eines der bekannten
»Buena Vista Social Club«-Hits:
»Nachmessen«(*10)
Lieber noch mal nachmessen
Alles noch mal hochrechnen
Voll auf Nummer Sicher gehen
Und dann doch nicht durchziehen
So oder ähnlich lauteten viele Zeilen der »Schnapsknallies«. Die Strophen waren teils noch dürftiger als die
Refrain-Beispiele bei dem »Gorbi«- oder dem »Nachmessen«-Song. Trotzdem wurde eine ganze Platte vorbereitet.
Anscheinend bestand bei den beiden Schnapsknallies eine
kräftige Sehnsucht nach derart überlustigen Texten. Zum
132
Glück kam es dann aber nicht zur Veröffentlichung. Trotz
guter Angebote aus der Musikindustrie.
Musik kann alles. Magisch mitnehmen. Klingeln, klopfen, klagen. Wie Schmetterlinge schlagen. Fein flirren,
scharf klirren. Vielsternig oder engstirnig. Sie kann alle
Sinne gleichzeitig losreißen und freie Küsse verteilen. Und
auch weh tun, zündeln, sich genieren. Sie kann Dinge verbinden und etwas gänzlich anderes als das ursprünglich
Angedachte hervorbringen. Immer wieder aufs Neue hat
Tommi das erfahren. Und gestaunt.
Das letzte große Erlebnis dieser Art hatte er mit einer
Musik, die von manchen als schwierig empfunden wird.
Und zwar hörte Tommi ein Streichquartett von Anton
Webern. Mit Kopfhörern, am Strand. Dabei war zuerst
nur die Musik, nur das Hören. Dann aber, nach und nach,
entwickelten sich die Strandbesucher und ihr Treiben erst
zu einer eher komischen, unpassenden Choreografie, am
Ende zu einem hochartifiziellen, scheinbar mit der Musik
zusammengehörenden Zustand. Alles verwob sich mehr
und mehr zu einer immer klarer werdenden, riesigen Installation. Nach einer halben Stunde des Zuhörens und
Zuschauens war Tommi so aufgeregt, dass er es nicht mehr
aushalten konnte. Erst jetzt merkte er, dass er längst aufgestanden war und damit begonnen hatte, durch ein imaginäres Filmset zu spazieren, das sich gerade im Aufnahmemodus befand. Alle Mitspieler schienen konzentriert zu
performen. Und obwohl es ihn mit Glück durchströmte,
musste er sich die Kopfhörer herunterreißen. Das war die
berührendste Aufführung, die er je erlebt hatte! Weil sie
nicht drückte. Weil niemand versuchte, etwas vorzumachen,
133
es keinerlei Schummeln gab. Seitdem basieren seine Musikinstallationen auf diesem Konzept der normalen Zustände. Musik und Text sind dabei der gehörte Inhalt, die der
Zuschauer in unterschiedlichen, verzerrten, pseudorealen
Umgebungen erlebt, die er frei durchlaufen kann. Wie ein
unsichtbarer Zeuge, der zum Glück nicht mitspielen muss,
in einem vertrauten, aber künstlichen Parcours mit konträrem Klang.
Musik kann alles! Eine sauber arrangierte, beeindruckend instrumentierte, gekonnt präsentierte Meisterkomposition ist imstande, unendlich langweilig und schwer
ärgerlich zu sein. Extra schief, läppisch und wie zufällig
hingeworfene Midinoten-Mucke mit inhaltslosen Wortsilben unterlegt, aber dafür mit freier Haltung, kann eine
ganze Welt beschreiben. Bei allen Ausdrucksformen in der
Kunst scheint die Musik am tiefsten erzählen zu können.
Daran lässt sich wirklich glauben, davon ist Tommi überzeugt. Doktor Onkel teilt diese Meinung. Nur doziert er
für Tommis Geschmack ein bisschen zu überzogen darüber, weil er immer gleich schwer pathetisch aufladen muss
(zum Beispiel, wenn er vom Faktor Voodoo in der Musik
schwelgt). Dieser Faktor berühre wie eine nicht zu unterdrückende Magie jeden und jede, selbst wenn er oder sie
nur noch eine einzige, funktionierende Zelle in Kopf oder
Körper habe, übertreibt der Doktor gern. Er wird ziemlich
wütend, wenn er sich über die allerletzten Formatradiosklaven mit ihren bauschaumverspachtelten Ohren aufregt,
weil sie gesanglich wie zerquetschte Seifenspender ausphrasieren – zum Beispiel in der kunstfeindlichen »Stimme von Deutschland«-Casting-Show. Dennoch kann man
134
es den Casting-Stars wohl nicht verübeln, so Doktor Onkel, wenn sie glauben, durch die Musik für sich ganz allein
allergrößte Emotionen in ihrem tiefsten Inneren entdeckt
zu haben, und in ihrem ansonsten überschaubaren Dasein
nie wieder etwas anderes machen wollen als nur Musik
und Scheiße noch mal Musik. »Die Sirenen können uns
alle überall hinlocken«, so brachte er es beschwörend auf
den Punkt. Richtig überzeugen konnten Tommi solche
Herleitungen nicht. Trotzdem versuchte er immer, sie zu
verstehen.
Allerdings empfand er eine SMS von Kitty against
Kitty mal wieder als wesentlich stärker: Sie wollte ihm
Glück wünschen zur Premiere seiner Musiktheaterinstallation Das könnte ihnen so passen, die sich auf eine Kunstbewegung aus den Sechzigern bezog: +++ Sieh dich vor
Tommi! Zwei aufeinanderfolgende Töne können einen
Hit schaffen im Kopf eines Zuhörers. Das ist bei John
Cage so und bei Lenny Kravitz nicht anders. Nur ist einer
der beiden ein Betrüger … Toi, toi, toi für die Premiere!
Deine K. a. K. +++.
135
Die Schule der falschen Wunder
»Was soll eigentlich euer unentwegtes Anti?« Kitty fragte
bewusst ein wenig polemisch. Sie fand, dass Tommis Band
manchmal ein wenig bemüht wirkte auf ihrem dauerkritischen Weg. Erst wollte er gar nicht weiter auf ihre Frage
eingehen. Doch dann entschied er sich für das eine, ungeheuer lehrreiche Beispiel vom ersten größeren Festivalauftritt seiner Gruppe, bei dem er und seine Mitstreiter
sich besonders unwohl gefühlt hatten. Noch am selben
Abend hatten sie sich geschworen, nie wieder bei so etwas
mitzumachen.
Man hatte sie damals für einen Auftritt auf einem angeblich besonders alternativen Festival engagiert, das
seine Gründung bei einem ländlichen, legendären Hippiehappening erlebt haben soll. Nun warb es mit dem
sympathisch Reklame-ungeeigneten Bandwurmslogan
»20 Jahre REGENBOGEN A M FLUSS -Festival / Der
137
etwas andere KULT-EVENT auf den Rheinwiesen«. Die
damals recht große Agentur, zu der Tommis Gruppe frisch
gewechselt war – weil sie mal etwas mehr Profihaftes ausprobieren wollte –, hatte ins Tourneebüchlein geschrieben, dass bei diesem Festival schon seit Menschengedenken eine garantiert cool-anarchische Stimmung herrsche
und die Band deshalb besonders geil dort hinpasse. Und
so machten sich Tommi und seine Mitstreiter keine weiteren Gedanken darüber, wo sie landen würden, auch weil
direkt nach ihnen das damals als schwer korrekt geltende
Politpunkkollektiv und ausgewiesen gemischtgeschlechtliche Musik-Performanceprojekt »Yes! Wonder!« aus Irland auftreten sollte.
Als Tommi »Yes! Wonder!« erwähnte, wusste Kitty natürlich, wen Tommi meinte, und sie erinnerte sich noch gut
daran, dass dieser Bandname sich auf ein in Szenekreisen
als glorreich empfundenes Manöver bezog. »Irgendwo in
Mittelamerika war das, stimmt’s?« – »Genau«, fuhr Tommi
fort. Bei der Geschichte ging es um eine kleine, linke Guerillabande, die sich gegen eine massive Übermacht von Soldaten aus einer für die Region typischen Militärdiktatur zur
Wehr gesetzt hatte. Damals sollen die schwerbewaffneten
Regierungstruppen – und genau darauf bezog sich das »Yes!
Wonder!« in ihrem Bandnamen – mit einem wundersamen
Trick in die Flucht geschlagen worden sein. Dafür hatten
die furchtlosen und militärisch deutlich unterlegenen Rebellen ein mobiles, mehrteiliges Soundsystem gebaut, das
sie auf alten Erntetraktoren installiert hatten. Das konnte
man im Vorwort der Band-Biografie von »Yes! Wonder!«
gut nachlesen. Glaubte man der Berichterstattung – und
138
alle wollten der Berichterstattung unbedingt glauben –,
muss es sich um gigantische Lautsprecherboxen gehandelt
haben. Als sich nun die Unrechtsregime-Soldaten näherten,
wurden die fahrbaren Riesenresonanzmaschinen eine nach
der anderen in Bewegung gesetzt – alles gut getarnt durch
das Dickicht des mittelamerikanischen Tropenwaldes und
noch zusätzlich mit abgeschlagenen Palmenwedeln bestückt. Dabei soll es »extraordinary noisy« zugegangen
sein, schrieben »Yes! Wonder!«. Das ganz Besondere an
dieser Krachattacke müssen die durch die Giga-Lautsprecher abgesetzten Klänge selbst gewesen sein. Und zwar
hatten die Rebellen einen findigen Akustiker in ihren Reihen, der in akribischer Auswahl nur die furchterregendsten
Schreie von um Weibchen kämpfenden Wasserbüffelbullen
aufgenommen hatte. Geschickt zusammengemischt und
besonders hoch komprimiert, klangen sie extraordinär
lärmig und nicht zum Aushalten – »not possible to listen
to«. Während ihrer akustischen Attacke hatten sich die
gewitzten Widerständler nicht nur Schallschutzkopfhörer
aufgesetzt, sondern sich zusätzlich psychisch durch den
Verzehr vieler Kokablätter bestens präpariert, damit die
gewagte List, das Wunder, mit kühlem Blute durchgezogen
werden konnte. Ob des schauderhaften Büffelgebrülls kehrten die zuvor scheinbar übermächtigen Staatstruppen mit
blutenden Ohren stante pede um, ohne zu einem einzigen
jener heldenhaften Aufständischen vorgedrungen zu sein.
Die Geschichte vom ruhmreichen mittelamerikanischen
Kriegswunder war glücklich auf die Welt geflutscht und
schon sehr bald und sehr gern weitererzählt worden. An
passende Ohren.
139
Tommi hatte diese Rebellen-Story damals sehr beeindruckt. Er stand schon immer auf derartige Herleitungen
und hatte auch seiner eigenen Band vorgeschlagen, sich
einen Namen zuzulegen, der mit einer ähnlichen Historie
verknüpft war. Nur fiel sein Vorschlag, sich in »TanganjikaSee« umzubenennen, grandios durch, weil Tommi wieder
mal superschlecht recherchiert hatte. Die Geschichte über
den ältesten afrikanischen See ist nämlich am Ende längst
nicht so ruhmreich ausgegangen wie die von »Yes! Wonder!« verwendeten Legende. Tatsächlich trug sich an besagtem Binnengewässer ein wahres Abenteuer des Ernesto
Che Guevara zu. Leider aber auch eines, das gründlich in
die Hose ging. Denn Che, seine tapferen kubanischen Guerilleros und seine afrikanischen Kampfgefährten hatten
ganz schmählich vor dem Feind gekniffen – als es darauf
ankam. Zumindest seien sie nicht zu 100 % bereit gewesen,
für die Weltrevolution alles in die Waagschale zu werfen.
Dieses kaum bekannte Debakel aus der reichen Geschichte politischer Umsturzversuche, jenen historischen Beleg
eines unrühmlichen Scheiterns, hatte ihm damals sein
Freund Andy gesteckt, bei dem Tommi immer mal bei
wichtigen Anliegen nachgefragt hatte, bevor es so was wie
Suchmaschinen gab. Zum Glück konnte er ihn noch rechtzeitig mit seinem Wissen warnen. Andernfalls wäre seine
Band für immer mit einem schwer unheroischen Ereignis
in Verbindung gebracht worden.
Kitty verstand. Und wahrscheinlich waren es solche
Unterschiede, die am Ende dafür verantwortlich waren,
dass sich Bands wie »Yes! Wonder!« zum Zeitpunkt der
Begegnung mit Tommi und seiner Gruppe gerade daran­
140
machten, einen richtigen kleinen Welthit zu haben, während seine Band dergleichen nicht erlebte. In den Tagen
des Regenbogenfestivals war die Aufregung um »Yes!
Wonder!« gerade auf dem Höhepunkt. Sie waren ein weltweites Thema. Mit MTV-Video-Rotation und allem, was
sonst noch dazugehörte. Hier schien eine selten gelungene
Grätsche stattzufinden: konsequent, politisch, kritisch und
dabei so richtig erfolgreich.
Es überraschte also nicht, dass Tommi und seine Gruppe
sich diesmal besonders ins Zeugs legten, um die irischen
Underground-Stars ordentlich zu supporten. Was dann
passierte, war eine unerwartete und schmerzhafte, dafür
umso lehrreichere Enttäuschung. Zunächst ging alles gut
los, der Gig von Tommis Band lief richtig spitze. Als sie
jedoch eine Zugabe spielen wollten, weil das Publikum
ernsthaft danach verlangte, erschien plötzlich eine elektronische, für die Zuschauer nicht ersichtliche Laufbandschrift auf der Bühne: »Stage time over«, blinkte es ihnen in roter LED -Laufschrift entgegen. Egal, und wenn
schon, man ist hier unter Gleichgesinnten. Weiter geht
das! Kaum hatten sie ihren nächsten Song ausgespielt und
noch während sie auf der Bühne standen, ging urplötzlich
eine Pausenmusik an, das Arbeitslicht schaffte grelle Tatsachen, und eine Truppe von Profimenschen, ausgestattet
mit schwarzen Overalls, Basecaps, stage mags, leatherman,
Stahlkappenarbeitsschuhen und Access-all-Areas-Ausweisen begann in hohem Tempo den Umbau. Während Tommis Gruppe versuchte, ihr während des Auftritts expressiv
verteiltes Equipment einzusammeln, sorgten humorlose
Roadcrewmitglieder von »Yes! Wonder!« parallel für eine
141
standesgemäße Grundlage des gleich folgenden Hauptacts.
Pechschwarze Marshall-Gitarrenverstärkerwände wurden
aufgetürmt und mit Industriespanngurten festgezurrt. Potente Nebelmaschinen getestet. Neonbandmarkierungen
zur Sicherheitsbegrenzung bei Bühnendunkelheit während der Stroboskop-Einsatzphasen aufgeklebt. Gitarren,
Keyboards und Mikrofone, die in stabilen, von StudioEquipment-Firmen gesponserten Flight Cases angeliefert
und mit deutlich sichtbaren Fluglinienaufklebern aus aller
Welt versehen waren, wurden von kräftigen, den einzelnen
Bandmitgliedern jeweils persönlich unterstellten SpezialRoadies durchgecheckt, die gesamte Bühne danach durch
Regenbogenfestival-Mitarbeiter mit Schrubbern und
Wischtüchern von den Gebrauchsspuren der Vorgängermusikanten bereinigt. Jetzt erst wurde ein schwarzer Vorhang zugezogen, auf dem der wohnhausgroße Schriftzug
»Yes! Wonder!« zu lesen war. Unterlegt war dieser von einem gigantischen, stilisierten, schnaubenden Büffelbullen.
So konnte der Zuschauer nicht sehen, wie die drei Frauen
und drei Männer des Musikkollektivs, ausnahmslos in tiefschwarze Künstlerpersönlichkeitengewänder gehüllt, sich
an ihren fabrikneuen Instrumenten formieren konnten.
Wieder geöffnet wurde der Vorhang erst, als bei absoluter
Dunkelheit ein Einstimmungs-Sound vom Mischpult abgespielt wurde. Dieser klang gruselig verhalten und extra
diffus, sollte aber mit großer Wahrscheinlichkeit an den
legendären, martialischen Wasserbüffelsound erinnern,
der schon den tapferen Rebellen aus Mittelamerika so ausgesprochen gute Dienste erwiesen hatte. Am Ende dieses
perfekten Spannungsaufbaus begannen die bis dahin re142
gungslos verharrenden Iren urplötzlich gehörig laut und
kongenial flankiert von einem grellen, das Publikum blendenden Lichtschock, ihren gerade durchbrechenden Hit
»S! F! B! – System! Fights! Back!«, derart präzise loszubrechen, dass dieser wirklich exakt so gut wirkte wie auf ihrem
unlängst bei einer großen Plattenfirma erschienenen, auch
digital erhältlichen Tonträger »Yes! Wonder! / Time! To!
Wonder!«. Und ebenfalls wirklich exakt genauso gut wie
auf dem parallel veröffentlichten Video, das sogar für einen MTV-Music-Award nominiert war und die Band dabei
zeigte, wie sie mit schmerzverzerrten Gesichtern auf einer
Demonstration mit krassen Straßenschlachtszenen von gepanzerten City-Polizeieinheiten abgeführt wurde.
Tommi und die anderen haben sich das Konzert nicht
mehr zu Ende anschauen können. Sie haben die Bandmitglieder von »Yes! Wonder!« aber noch kurz am nächsten
Morgen im Hotelfrühstücksraum getroffen, als sie mit
ihren Managern über die kommenden Promotion-Aktivitäten berieten. Solche Erlebnisse waren eine gute Schule
für sie.
Handeln lässt sich alles. Gerade Verweigerungsanstrich
kann ein gutes Argument sein für einen langjährigen Nutzungsvertrag. Und so entstand die Idee von Tommis Band,
bei Auftritten immer möglichst fehl am Platz zu sein. Zum
Beispiel durch das Ignorieren von vorherrschenden Coolnesscodes. Deshalb trugen sie Dresses, die eher lächerlich
als verwegen anmuteten, spielten einen dünnen, zeternden
Sound, der Genres entsprang, die alles andere als den »heftiger, kälter, stärker«-Szenevorgaben entsprachen. Und
dann hatten sie mit Nerve R. einen Manager, der es sich
143
zur Aufgabe gemacht hatte, Geld eher zu verlieren als zu
vermehren. Das alles waren kräftige Schutzschilder.
Was er hier allerdings unter den Tisch kehrte, war
die Tatsache, dass es über das verlorengegangene Geld
tatsächlich zu einem kleinen Zerwürfnis gekommen war,
wie Kitty anmerkte. Das erschien Tommi aber nicht so
wichtig. Er zählte lieber weitere Schutzmaßnahmen auf.
Zum Beispiel den Umgang der Band mit der Musikpresse.
Hierfür hatten sie sich gemeinsam mit Freunden eine Art
Rotationsprinzip überlegt, bei dem vor allen Dingen den
Fotografen immer andere, immer falsche Bandmitglieder
vorgestellt wurden. Einmal ist es ihnen sogar gelungen,
den jung gebliebenen Onkel ihres Bassisten vorzuschicken, nachdem ein Magazin ein Porträt ausschließlich mit
dem Sänger der Gruppe angefragt hatte. Da der Schwindel
wirklich durchging, gab es einen super Bericht, bei dem
Onkel Flachland, wie der auf einer Nordseehallig lebende
Verwandte genannt wurde, heftig auf Rockstar mimte und
trotz schlimmer Übertreibung auf ganzen drei Doppelseiten und mit den grellsten bei einem Country- und Western-Ausstattungsshop ausgeliehenen Klamotten behängt,
hochglänzend abgelichtet worden war.
Dieser Coup sowie ein Spotttext über die oft sehr unbeweglichen Dogmen in der eigenen Szene, die sie über die
bekannten Akkorde eines alten Hits aus den Glanzzeiten
großer Hardrockbands gelegt hatten, machten Tommis
Band schnell ziemlich bekannt – auch außerhalb der Szene.
Nur war ihnen der unerwartete Erfolg selbst am unheimlichsten, und so lehnten sie nicht nur zahlreiche Offerten
großer Plattenfirmen ab, sondern galten bald als der Act,
144
der gegen sein eigenes Publikum anspielt. Allein, weil er
sich weigerte, auch nur die kleinste Erwartungshaltung zu
erfüllen.
Mit den Worten »reicht man ihnen ein Bier, halten sie
einen für eine Brauerei«, hat Bandkollege Cat the Cat die
gewollte Sturheit einmal bezeichnet. Dabei führte solch
Sperrigkeit nicht selten zu richtigen Wutanfällen bei den
Zuhörern, die der Band absurderweise vorwarfen, kommerziell geworden zu sein. Intern war man sich immerhin
einig über die Strategie, und es gab nie Klagen der einzelnen Bandmitglieder über eventuell verpasste Etablierungschancen. Der angeborene Drang, den Aufbau einer
ordentlichen Fangemeinde durch permanente Mitmachverweigerung zu verhindern, blieb ständiger Begleiter
ihres Werdegangs und lag sicher nicht an dem überausgeprägten Wunsch, auf keinen Fall geliebt werden zu wollen. Es war und ist vielmehr ein beständig empfundener
Ekel vor einvernehmlicher Gemütlichkeit.
145
Das Innere des Oktopus
Tommi begann, sich intensiv mit Wahrnehmung zu beschäftigen. Ob das daran lag, dass er sich selbst immer
weniger aushielt und deshalb wenigstens verstehen wollte,
wie andere empfinden, ist schwer zu sagen. Möglicherweise
dämmerte ihm zusätzlich, dass seine eigene Außenwirkung
keinesfalls mit jener deckungsgleich war, die er jahrelang
zu präsentieren glaubte (immer mehr Anzeichen deuteten
darauf hin, dass er zuweilen regelrecht unangenehm auf
sein Umfeld wirkte). Vielleicht kam sein Ansinnen aber
auch als eine Art Reflex innerhalb einer seiner Psychotherapien zustande. Neben dem besseren Fremdverstehen
war ein Ziel der Wahrnehmungsbeschäftigung, sich selbst
souveräner geben zu können. Damit sein schlecht lenkbares Fühlen nicht so sehr sein Handeln bestimmte. Um
das zu erreichen, so glaubte er, müsse er unbedingt mehr
über Wahrnehmung im Allgemeinen lernen. Und als ob das
147
nicht kompliziert genug wäre, wollte Tommi als überzeugter Praxismensch versuchen, emphatische Anwandlungen
zu kanalisieren, in ihnen gar hin- und herzuwechseln, zu
switchen. Er wollte sich mit Haut, Haaren und Synapsen
auch in andere Menschen hineinversetzen können.
Hobbywissenschaftler Tommi begann den Versuch, die
Welt der anderen nicht mit seinen, sondern mit ihren Augen zu sehen und mit ihren Fasern zu spüren. Das jedenfalls war die zentrale Idee des sogenannten großen »Plan
E.«, also des großen Empathie-Plans.
Ganz langsam tastete Tommi sich vor. Anfangs probierte
er, sich nur in die Mimik und die äußeren Emotionszüge
von zufällig vorbeilaufenden Passanten hineinzuleben,
um daraus eine Art Menschenlaunenkatalog zu erstellen.
Das erschöpfte sich aber ziemlich schnell. Denn so viele
Launen schien es von außen betrachtet gar nicht zu geben:
Ein gestresster Fahrradkurier war nun mal ein gestresster
Fahrradkurier. Vielleicht hatte er als zusätzliches Indiz für
seine Missstimmung noch dreckige Hände, weil ihm mal
wieder die Kette abgesprungen ist. Viel mehr war da nicht
zu deuten. Wie es aber tief im Inneren des Kuriers aussah – Freundin, WG , Perspektive, Lieblingsverein, schwul,
Elternhaus, Laktoseintoleranz, Neofolk- oder HardcoreFan, Antideutscher oder Neoliberaler, Veganer (oder doch
schon wieder kein Veganer) –, schien erst mal schwer einsehbar zu bleiben. Waren die Gedanken also wirklich frei?
Fast.
Tommi schaffte es mit jedem weiteren Versuch des Switchens, sein Gegenüber besser lesen zu können. Das gelang
ihm nur, indem er begann, sich selbst stückweise weg148
zulassen. Ganz, ganz langsam verschob sich etwas. Diesen
schleichenden Seitenwechsel, der wie in Zeitlupe ablief,
nannte er »Kehrung«. Später »Stülpen«. Das Stülpen
setzte immer dann am stärksten ein, wenn er sich wie ein
Oktopus von innen nach außen hineindrehte. Zumindest
glaubte Tommi, dass man einen Oktopus von innen nach
außen drehen konnte. Jedenfalls, wenn dieser Zustand tatsächlich eintrat, dann war etwas erreicht, was ihm wie ein
Wunder der Beruhigung vorkam, einer großen Tiefenentspannung gleich. Und so hatte das Stülpen hinein in ein
Gegenüber einen wunderbaren Nebeneffekt: Tommi war
sich selber los! Ferien vom Ich! Und gleichzeitig war das
Ganze ungemein unterhaltsam. Plötzlich verstand Tommi,
warum der Mann da hinter dem Büroraumfenster ihn ausdruckslos ansah und vor allen Dingen wieso er ihn – Tommi sah das sofort – ärgerlich und abstoßend fand.
Zugegebenermaßen: Eine vollkommene Empathie war
selten, vielleicht unmöglich. Aber ähnlich verhielt es sich
ja mit vielen Dingen: So richtig ins Gleiten kommt ein
Segelboot auch nur bei optimalen Bedingungen – Wind,
Welle, Segelstellung. Immer könnte etwas noch besser
sein. Deshalb meinte Tommi auch, dass es beim Stülpen
nicht reicht, wenn nur die Welle stimmt. Insgesamt kam er
mit seinem Plan E. aber gut voran. In Streitsituationen beispielsweise konnte er ganz leicht mal die Seite wechseln.
Und dabei sogar ernsthaft sauer auf sich selber werden. Er
verstand auf einmal die Erregung des anderen Streitenden
und was für einen Unsinn er selbst behauptet hatte, obwohl er, als er noch nicht gestülpt hatte, fest davon überzeugt gewesen war, sauber auf dem richtigen Argumenta149
tionsweg zu sein. Der große Plan E. lief eine ganze Weile
gut. Bald konnte Tommi sich sogar in Tiere hineinversetzen, war so trainiert, dass er sein eigenes Antlitz in dem
eines Cockerspaniels deutlich erkennen konnte. Der Hund
schien dann ausgestattet mit seinem Von-Germany-Blick
und allem, was dahinter gerade stattfand.
Lange Zeit tat Tommi das Experimentieren mit dem
Urlaub vom Selbst-Effekt unheimlich gut. Wahrscheinlich
lag das auch daran, dass er nie gelernt hatte zu verstehen,
was das eigentlich ist, das Selbst, das Ich. Denn nicht einmal
das physische Meins schien ihm vertraut. Was ist ein gutes
Körpergefühl? Ihm war es schleierhaft, wie Menschen ihre
Körper, anscheinend mit voller Absicht, hart behandeln
oder einsetzen konnten. Dabei ist der Körper immer das
letzte Mittel, das weiß auch Tommi. Verteidigung oder Angriff. Über- oder Unterlegenheitsgefühl. Frauen können
damit umgehen. Männer dagegen müssen ihre Rahmungen ständig neu verhandeln. Er selbst war immer ziemlich auf Abstand zu seiner Hülle. Nur wenn es mal weh
tat, dann kam man sich näher. Schon kleine Erkältungen
machten ihm zu schaffen, er versuchte angestrengt, vor anfliegenden Viren und Bakterien in Deckung zu gehen, und
obwohl er im Großen und Ganzen recht unbeschadet in
die Jahre ging, fühlte er sich in weiten Zügen geschwächt
und irgendwie physisch gebeutelt: Tommi from Germany
war nicht nur ein jammernder Hypochonder, er hatte zusätzlich phobische Angst vor Verfall und Alter. Das ist bis
heute so.
Irgendwann beschloss er, seine Versuche mit dem eigentlich recht gut laufenden Sichhineinversetzen wieder
150
einzustellen. Es führte zu nichts. Es entstand keine ernsthafte Hilfestellung für ein besseres, eigenes Verhalten.
Er musste vielmehr feststellen, dass er durch seine Stülp-­
Methode irgendwie aggressiv wurde. Am Ende beschloss
er, dass er schon deswegen unbedingt aufhören musste,
um nicht vergiftet zu werden von den Schlammasseln
der anderen, seiner Meinung nach nicht so empathischen
Menschen, die aber ihrerseits scheinbar trotzdem gut
damit leben konnten. Das Blöde war nur, dass nach Beendigung dieser Experimentierphase ein Schmerz seinen
ganzen Körper erfasste. Ein nicht gekanntes Stechen und
Ziehen. Ganz dumpf fühlte es sich an. Tommi wunderte
sich aber nicht weiter, er konnte Schmerzen nicht gut einordnen. Schon als kleines Kind hatte er entdeckt, dass er
nicht so empfand wie die anderen plärrenden Wesen, die
ganz zappelig wurden, wenn zum Beispiel eine Wespe sie
stach. Tommi war dann immer nur irritiert gewesen. Auch
noch viel später hatte er ein eher indirektes Verhältnis zu
Schmerz, Gefahr und Angst.
151
Das Leben ist Kampf
Physische Härte war immer Thema in der Umgebung Tommis und der seiner Mitfechter. Sie waren ein Dorn in den
Augen vieler. Und die wollten ihnen an den Kragen. Seit
dem Zeitpunkt der Abkehr von der Gesellschaft der Vorgartenrasenmähenden gab es mehr natürliche Feinde, als
die meisten vertrugen. Das unverschämte Äußere war dabei
die erste Fahrkarte in die Vogelfreiheit: Sie waren leicht
erkennbare Zielscheiben. Es musste viel geflohen werden.
Vor robusten Teds zum Beispiel, in einen Sexshop. Um dann
vom Sexshopbesitzer an die Meute ausgeliefert zu werden.
Ausraster in Kneipen. Halbwüchsige Stresser im Freibad.
Skinheadangriffe auf autonome Zentren und besetzte
Häuser, in denen Tommi mit seiner Band auftrat. Fußballwochenenden mit Attacken auf ihre Treffpunkte. Die langen
Reihen weißer Helme auf Demos. Der Hamburger Dom.
Die Kieler Woche. Sicheres Terrain war nirgendwo.
153
Tommi und viele der Seinen begannen, Kampfsport zu
trainieren. Das machten die anderen aber auch. Die Szene
wurde unübersichtlich. Manches blieb merkwürdig eindeutig: Die Linken trugen schwarze Bomberjacken. Die
Rechten trugen grüne. Es kam zu vielen kruden Behauptungen, die innerhalb der Gruppierungen leicht als Selbstverständlichkeiten durchgingen. Pazifisten verzierten sich
mit Militärmantel, Patronengurt, Bundeswehrhose, Springerstiefeln. Vielleicht mussten sie die traumatischen Erlebnisse ihrer Weltkriegsväter noch eine Runde weitertragen.
Und dann die Schlachten. Die Lust an der klirrenden
Action, der Bock auf den Thrill ließen sich – das muss man
zugeben – nicht völlig ausklammern. Wenn es knallte. Bei
den feinsten Autoritätsgegnern kam das vor. Scherben­
demos konnten durchaus Sinn ergeben, gleichwohl waren
sie für einige auch adrenalingesteuerte Potenzausflüge.
Tommi selbst ist überall gewesen, wohin man einen mal
stumpfen, mal zerbrechlichen Körper tragen konnte. Auch
mit Lustgewinn. Und mit schalem Schmerz. Gefährliche
Kämpfe, bescheuerte Spielchen. In Schuld und in Scham.
Viele Kampfereignisse aber waren notwendige Abwehr.
Und die meisten zum Glück nur Sport.
So richtig gern hat Tommi beim Fußball mitgemacht.
Anfangs spielte er in der Jugend des Bimmelsdorfer SV
08, danach in anderen Clubs. Weil er mal in richtigen
Vereinen gekickt hatte, ist er später oft gefragt worden,
an allen möglichen bunten Turnieren teilzunehmen. Man
dachte wohl, das bringe etwas Zug in die teils sehr zusammengewürfelten Mannschaften. In besonderer Erinnerung
ist Tommi ein Turnier geblieben, bei dem er von einer
154
Musik-TV-Promi-Fußballmannschaft angeheuert worden
war. Gebolzt wurde direkt am Wasser, in einem ebenfalls
bekannten Seebad, quasi einen Strand weiter, vor einem
großen Hotel. Das gegnerische Team bestand aus einer
Auswahl von Ex-Fußballprofis. Die Rummenigge-Brüder
und der genialische Uwe Bein waren die bekanntesten
unter ihnen.
Das Erlebnis verlief insgesamt stark enttäuschend: unangenehme, knüppelharte Bodys. Profi-Hartkörper gehüllt in streng riechende Sportduschgele. Ballabdecken
(mit dem Mann). Man kann sagen, dass diese weltbekannten Männerspieler Tommis Musikfuzzitruppe humorlos
einmachten. Unter Zufügung von Schmerzen obendrein.
Danach war wieder mal deutlich geklärt, dass sie alle – im
Unterschied zu den professionellen Leibern – immer noch
in ihren Jungenshüllen steckten, obwohl sie zu diesem
Zeitpunkt schon im fortgeschrittenen Erwachsenenalter
waren. Es ist anzunehmen, dass die meisten von ihnen darin sterben werden.
Heute, noch viele physische Ausschweifungen später,
glaubt Tommi etwas verstanden zu haben im Bereich
Körperlichkeit. Es gilt – ganz pauschal – quer durch alle
Menschenschichten und durch alle behaupteten Klassen
festzustellen: Der Benimm des physischen Handelns lässt
sich nicht sauber kategorisieren. Alle flippen wild durcheinander. Spießer, Rebellierende, Zurückhaltende. Total
unberechenbar. Hinzu kommt, dass gerade solche, bei
denen man es eigentlich nicht sofort erkennen sollte –
Schauspieler und Bühnenkünstler –, die eigentlich nur vordergründig körperlich agieren sollten, oft ganz besonders
155
plump auf die protzigsten Kräfte schielen. Akteure, die eigentlich nur zu spiegeln behaupten, versuchen ihre stolze
Physis möglichst weit nach vorn zu stellen, um damit ihren
Geist, in den sie anscheinend nicht viel Vertrauen haben,
laut zu unterstreichen. Brüllende, ausgezogene, sich herumwälzende Pseudoviecher mit vorgetäuschtem Blick von
innerer Irre. Selten fällt das gelenkig aus. Sie alle scheinen
davon überzeugt, dass man nicht glaubwürdig erscheinen
kann, ohne sich archaisch aufzuführen. Vielleicht liegen sie
aber auch grundrichtig damit.
»Das Leben ist Kampf«, erklärte ein Freund von Tommi, ein bekannter süddeutscher Schauspieler, der an einem
bekannten süddeutschen See lebt. Einmal hatte er Tommi
mitgenommen, um einen Fischteich leer laufen zu lassen.
Gemeinsam wollten sie die Tiere einsammeln, die auf dem
Trockenen aufliefen. Das mache man seit Generationen so.
Die Tat wurde ein grausiges Gezeter. Weil es zu viele Fische gab in jenem Jahr. Der Ortsverband der Partei »Die
Grünen« war mächtig verärgert. Ansonsten konnte sich
dieser Schauspieler aber fein bewegen in seinem mannhaften Rahmen. Unaufdringlich, gleichzeitig supersichtbar und in allem: zutiefst archaisch. Tiefe Präsenz ohne
Gescharre. Sogar auf der Bühne. Wahrscheinlich, weil er
beim Spiel denken kann. Und gleichzeitig zuhören. Vielleicht stülpt er aber auch ganz einfach die Zuschauer, und
die glauben dann, ganz verliebt, sich selbst zu beobachten,
wenn sie sich dem feinen, groben Treiben des tänzelnden
Seeschauspielers hingeben.
156
Der Protest der Schnecken
Tommi suchte nach Umwegen. Eigentlich ständig. So wie
er einst ganz simpel seinen Namen umgeschrieben hatte,
um – zumindest in der Ansprache – ein anderer zu sein,
beschäftigte er sich seither immer wieder mit dem Prinzip der Täuschung. Er versuchte herauszufinden, wie sich
Bilder, Meldungen, Haltungen und Meinungen nach vorn
schieben lassen, damit dahinter etwas ganz anderes stattfinden kann. Als tarnende Blendung sozusagen. Welche
subversive Botschaft lässt sich hineinschummeln, in einen
vordergründig unverdächtigen Operettenabend? Wie in
aggressivem Geschrei ein Liebesbekenntnis verstecken?
Kann eine melancholische Dauerstimmung politische
Schärfe zeigen, wenn blanke Schönheit das Hauptbild bestimmen soll? »Glotz nicht so authentisch«, schrieb einmal ein schlauer Theatermacher.
In seiner Lehrlingszeit hatte Tommi sich zusammen mit
157
einigen anderen ein Täuschungsprinzip ausgedacht, das
sie vor autoritären Boshaftigkeiten im Betrieb seines Stiefvaters bewahren sollte. Auslöser war eine von ihnen als
herbe Ungerechtigkeit empfundene Strafmaßnahme, die
der Chef ihnen auferlegt hatte. Nämlich die Halle noch ein
zweites Mal zu fegen. Schon öfter waren sie dazu gezwungen worden. Weil ihre Zensuren in der Berufsschule nicht
entsprechend seinen Vorstellungen ausgefallen waren,
sollten sie in diesem Fall zusätzlich zum Fegen der Werkstatthalle auch noch die Hebebühnen, die Waschstraße, die
Sozialräume und das Lager säubern. Obwohl das gar nicht
anstand. Tommi, der mal wieder der Meinung war, dass er
sich auf der Welt lange genug hatte drangsalieren lassen,
erwog zu streiken. Seine kühler denkenden Kollegen aber
verstanden, dass man damit als einfache Stifte im Lehrverhältnis nicht durchkommen würde. Schlussendlich erfanden sie, nachdem sie sich mit einigen Gleichgesinnten auf
der Berufsschule besprochen hatten, eine subtile Gegenmaßnahme, die sie das »Dauerwurstprinzip« nannten – obwohl Tommi diesen Begriff als etwas zu humorig empfand.
Gemeint war damit ein Protest, der äußerlich nicht
sofort als offene Verweigerung sichtbar, aber dennoch imstande war, echten Sand ins Getriebe zu streuen. Das fand
Tommi richtig super. Mittels eines umfangreichen Planes,
der sogenannten »Wurstordnung«, legten die Lehrlinge
haarklein fest, wie sie nicht nur die verhassten Strafaufgaben, sondern auch das gesamte Mitmachen im Betrieb
empfindlich unterlaufen könnten. Kernansatz des Ganzen
war es, alles im Schneckentempo auszuführen. Egal, was
man anfasste: Es sollte ein paar Prozent langsamer be158
trieben werden. Kaum merklich im Einzelnen, aber in der
Summe der vielen Tätigkeiten mit echter Wirkung. Wenn
zum Beispiel ein Reifen aus dem Lager geholt werden sollte, dann fand man ihn nicht ganz so flott, wie es möglich
gewesen wäre. Der sonst schnelle Gang aufs Klo konnte
zum längeren Marsch gedehnt werden. In der Waschstraße
ließ sich ein Auto auf die eine, schnelle oder auf die andere,
sehr langsame Art waschen. Tommi verbrachte Tage damit,
zu üben, wie man die gesamte Werkstatt um 15 Prozent
langsamer durchqueren konnte, ohne aufzufallen. Und
so weiter. Die Anwendungslänge des Dauerwurstprinzips
bemaß sich dabei nach der Dimension der jeweils erlebten
Ungerechtigkeit. Im Grunde erleichterte diese Form des
Protests die erzwungene Repression nicht. Aber der Bestrafte hatte eine völlig andere Haltung – stolz und mit
großem Selbstwertgefühl fegte er das Ersatzteillager. In
Tommis Augen waren die zufriedenen Anwender des
Dauerwurstprinzips Befreite.
Und so wurden die ungerechten, tristen Tage in der
Werkstatt zu luftigen. Tommi hatte wieder einmal etwas
verstanden. Seitdem versucht er sich immer wieder vor
Augen zu führen, wie eine solche Denkstrategie sich lebendig halten lässt. Das ist gar nicht so einfach. Viel zu oft
sind ihm seine in der Grundidee guten Anwendungen zu
gewollt geraten – in der Praxis.
159
Knapp dagegen ist auch dabei (und der
Clown, der muss lachen)
Die Ästhetik des Widerspruchs. Kitty against Kitty hat
diesen Begriff benutzt, als sie etwas zum problematischen
Thema »Einsatz von Echtheit« erklären wollte. Wenn
zum Beispiel lang erkämpfte Ideale aus Gegenkulturen in
völlig konträre Aussagen umfunktioniert werden. Autowerbung mit Che-Guevara-Freiheitsgefühl, Schwarze Anarcho-Sterne auf H&M-Hemdchen, kritische Kunst im
Reklamebetrieb oder das Erlangen »deiner Individualität«
durch den Erwerb eines bestimmten Mobiltelefons.
Die Ästhetik des Widerspruchs. Wow. Starker Tobak.
Tommi wollte das nicht kommentieren. Aus Bequemlichkeit. Weil er fand, dass Kitty immer etwas grob ansprang,
wenn man näher auf ihre steilen Thesen einging. Vielmehr
fragte er sich, warum er selbst in seinem Vorgehen manchmal so schlimm – bis zur Widersprüchlichkeit – ungenau
161
wurde. Oder war das auch wieder nur ganz normal und
kaum zu umgehen im heutigen alles einreihenden Vereinnahmungssystem, wie Kitty es nannte.
In seinem öffentlichen Werkeln jedenfalls erreichte
Tommi viel zu selten seine eigene Messlatte. Oder wie kam
es, dass die Dinge, die er mit einer jeweils sehr klaren Idee
anging, über die Zeitstrecke der Realisation oft schwer ins
Schwimmen gerieten? Im schlimmsten Fall am Ende kaum
noch etwas damit zu tun hatten, worum es ihm im ersten
Gedanken gegangen war?
»Weißt du, Kitty, ich plane zum Beispiel eine Kunstaktion als echt scharfe Kritik am Dauermitmach-EventStadtbeschallungszirkus, und im Laufe des Schaffensprozesses dreht sich das ganze Projekt in ein aufgeweichtes
Revuechen, das sich in den Spektakelbrei, den ich ja eigentlich kritisieren wollte, nichts weiter als sauber einfügt.
Oder ich nehme mir ganz fest vor, einen Theaterabend
herauszubringen, der gänzlich ohne Verstellung auskommen soll. Ohne die üblichen Brechungen. Keine Techniktricks. Null Witzchen. Klare, sachliche Ausstattung und
eine supersaubere Form, die es einem deutungssicheren
Inhalt gleichtun soll. Und dann das Ergebnis: Knapp dagegen ist eben auch dabei. Verstehst du?« Kitty verstand.
Tatsächlich passierte das Tommi immer wieder, auf ganz
unterschiedliche Weisen. Bei dem Stück, das als scharfe
Kritik geplant war und als Revuechen endete, ging es ihm
ursprünglich darum, eine Welt zu beschreiben, die sich
gänzlich befreit hat von Ablenkung und Verschleierung.
Dazu hatte er ein knallhartes Exposé verfasst. Seine vom
überschleunigten Kapitalismus getriebenen Protagonisten
162
sollten ungeschminkte, wirklichkeitstreue Stellvertreter
abbilden, ausgelaugte Symbole für übermüdete Superinformierte, die ihre Kanäle obervoll hatten. So das Exposé. Außerdem hatte Tommi sich als besondere Aufladung
seiner Inszenierung überlegt, dass die 50 Mitspieler – ausnahmslos Nichtschauspieler – sich zum Zeitpunkt der Proben alle in therapeutischer Behandlung befinden sollten.
Mit der Diagnose: Anzeichen depressiver Verstimmungen
aufgrund von beruflicher oder privater Überforderung.
So ein Projekt verlangte nach einer radikalen Umsetzung. Tommi und sein Team hatten ein Schauspiel vor Augen, das sich für den Zuschauer wie ein melancholischer
Zustand anfühlen sollte. Auf keinen Fall aber wie ein richtiges Stück mit all diesen konventionellen Beschränkungen.
Das verkündete Tommi bereits bei der ersten Probe, der
sogenannten Lese- oder Konzeptionsprobe. Bei diesem
Termin erklärte er auch gleich und ohne große Umschweife, dass die Stimmung der Aufführung durch die rigide
Reduzierung der Mittel so zwingend sein würde, dass es
völlig wurscht wäre, zu welchem Zeitpunkt der Zuschauer
in den Abend einsteigen beziehungsweise wann er selbst
Teil der angestrebten totalen Melancholie werden würde.
Vorausgesetzt natürlich, dass man sein Konzept, wie so oft
geschehen, nicht verwässre. Denn durch nichts anderes
als durch eine alles betäubende Melancholie sei nun mal
aktuell am besten zu beschreiben, wie die Gesellschaft in
ihren überkomplexen Verstrickungen, Angeboten und
Möglichkeiten taumelt. Um diesen melancholischen und
einfach so dahintreibenden Effekt der Inszenierung noch
zu verstärken, wurde eingeplant, dass es keinen festen Be163
ginn und kein festes Ende geben dürfe. Außerdem könnte
der Aufführungsort immer ein anderer sein. Parkplatz, Fabrikhalle oder leerer Supermarkt. Scheißegal, wie Tommi
fand. Im Spielplan des Theaters bräuchte man lediglich die
Kalenderwoche angeben in der »NOTHING «, so der Titel
des Stückes, stattfinden würde. Für jeden Zuschauer sollte
lediglich eine simpel kopierte Karte auf der öffentlichen,
überdimensionalen Spielfläche den Weg weisen. Tommis
Idee war es, sieben Tage am Stück durchzuspielen. Es würde keine Pause geben, um eine Realität zu simulieren, in
der die Zeit keine Uhren mehr nötig hat. Aus Gründen der
Klarheit würde es keinerlei Dialoge oder szenische Festlegungen geben. Lediglich Musik und Gesang würden für
Verständnis sorgen. Die Liedtexte für »NOTHING « filterte Tommi aus unendlichen Gesprächen, konzentrierten
Einzelinterviews, die in intensiven, aber durchaus heiteren
sechs Wochen Probezeit geführt worden waren. Wenn
genügend Content gesammelt war, sollte das Stück übergangslos zur Aufführung kommen. So weit die Idee von
Regisseur Tommi from Germany.
Warum es dann nicht zur anvisierten Umsetzung,
beziehungsweise zu einem Formerlebnis, wie er es sich
erhofft hatte, kam, ließ sich am Ende kaum noch rekonstruieren. Möglicherweise lag es daran, dass Tommi auf
halber Strecke in punkto Konsequenz mal wieder die Puste
ausgegangen war. Jedenfalls begann er in den Gesprächen
mit der Dramaturgin, die sein Konzept grundsätzlich richtig klasse fand, irgendwie einzuknicken. Wahrscheinlich
hatte sie ihn mit ihren zersetzenden Bedenken nach und
nach verunsichert. Ob er sich zum Beispiel zu 101 Pro164
zent sicher sei mit den von ihm geforderten akustischen
Trennwänden. Oder, warum denn nicht der zweite Teil der
Inszenierung unter normalen Lichtverhältnissen spielen
dürfe. Außerdem könne er doch wenigstens mal ausprobieren, ein paar Fragmente eines richtigen, dramatischen
Textes zumindest unterschwellig einzuflechten, damit der
Zuschauer ein klitzekleines bisschen Führung hätte. Solch
Beanstandungen waren noch die vorsichtigsten der vielen
Nachfragen im Laufe der Stückentwicklung. Zusätzlich
trug die Theaterfachkraft ständig neue, ausschließlich konstruktiv und wirklich rein produktiv gemeinte Vorschläge
des Intendanten an, der, je näher der Premierentermin
rückte, mehr und mehr echte Theatermittel anmahnte. So
gefiel ihm zwar das musikalische Grundgerüst mit seiner
konzertanten Ernsthaftigkeit innerhalb der charmanten
Inszenierungsbaustelle, er wünschte sich aber ein paar
mehr Lieder mit vielleicht mal einem Refrain, der nicht
zum einen Ohr rein und zum anderen wieder rausgehen
würde. Denn, so der Institutionsleiter, die Leute verstünden auf dieser Welt heutzutage sowieso nur noch Bahnhof
und hätten deshalb sicher nichts dagegen, wenn sie im
Theater nicht auch noch von pessimistischen und um tausendundeine Verkomplizierung ringenden Regienarzissten
hirngefickt würden. Auch befand er, dass man auch gleich
zu Hause bleiben könne, wenn man Tommis tendenziell
überengagiertes Avantgarde-Konzept in seiner trotzdem
leicht durchschaubaren Abgewandtheit einmal logisch zu
Ende denken würde. Denn da sei ja auch immer nur Ge­
nerve.
Umso absurder war es, als derselbe Kulturdirektor Tom165
mi und sein Ensemble beim Premierenapplaus hysterisch
und mit Nachdruck aufforderte, sich viel öfter als notwendig zu verbeugen. »Raus! Raus! Alle noch mal raus auf
die Bühne! Geil, geil, geil! Geil! Tommi! Das wird Kult«,
schrie er in der Sekunde, als ihm klarwurde, dass es vor
dem Vorhang ein ordentliches Geklatsche gab.
Tommi selbst war mit dem Ergebnis denkbar unzufrieden. Er hielt seinen eigenen Abend für inkonsequent,
schwammig und bieder. Tatsächlich unterschied sich die
finale Spielversion von »NOTHING « in vielerlei Hinsicht
von seinem ursprünglichen Konzept. Das Theaterstück –
denn nichts anderes war es jetzt – fing bei einer konsumentenfreundlichen Spiellänge von 90 Minuten pünktlich um
20.00 Uhr an, so wie alle anderen Stücke im Hause auch.
Bei streng verbotenem Nacheinlass. Es spielte ganz regulär auf der Studiobühne, weil das Ordnungsamt für den
erhofften Parkplatz als Spielfläche angeblich die Genehmigung verweigert hatte. Genau genommen wurde es ein
»ganz schöner Liederabend«, wie Kitty against Kitty es
richtig auf den Punkt brachte. Damit war die Aufführung
denkbar weit entfernt von dem »clusterartigen, musiktheatralen Minimal-Loop ohne Mitgrölrefrains«, wie Tommi
es noch im Spielzeitbuch behaupten durfte. Selbst die aus
den Interviews entstandene Textcollage, die ursprünglich
als reines Liedmaterial gedacht war, verteilte sich jetzt zu
ziemlich gleichen Teilen auf fünf – zweifellos richtig gute –
Ensembleschauspieler, die sich nach und nach einen dramaturgisch sauber funktionierenden Spannungsbogen mit
gut erkennbaren Figurenumrissen erstritten hatten. Dazu
war es gekommen, weil sie in der letzten Probewoche ge166
fordert hatten, eine sicherere Spielbasis für sie herzustellen. Weil sie sonst nicht wüssten, was sie an Tommis Abend
zu welchem verabredeten Auftrittsmoment abbilden sollten.
Das sei schon auch psychografisch gemeint, auch wenn
ihm, Tommi, das hundertmal schnuppe sei.
Kurzum, das ganze Teil wurde ein Erfolg, aber leider
ganz und gar kein »gasförmiger Zustand als Vorschlag einer Rettungsblase im Multiterror des Täglichen«. Es fand
mittendrin statt, in der Institution – das ärgerte Tommi
besonders –, also so gar nicht ausschließlich und extra im
öffentlichen Raum. Niente. Richtig erschwerend kam für
ihn hinzu, dass er dieses für ihn traurige Ergebnis jedes
Mal hautnah miterleben musste, weil er für sich selbst
kurze Auftritte als singender Performer eingebaut hatte.
Was ihm zusätzlich nicht erspart blieb, war der Kantinenspott nach jeder Vorstellung, wenn die Kollegen bereits
nach ein, zwei Getränken völlig ungeniert loswitzelten,
»NOTHING « müsse richtigerweise in »EVERYTHING «
umbenannt werden.
Leider traf Tommis »Knapp dagegen ist auch dabei« in
aller Härte zu, denn nicht nur die Kantinenspötter fanden,
dass in seiner ehemals radikalen Reduzierungsbehauptung
letztlich so ziemlich alles ganz normal vorkam, was ein gut
gerüstetes Stadttheaterhaus in seinem bunten, aber nicht
zu gewagten Spielplan aufbieten würde. Nicht mehr und
nicht noch weniger.
Diese Schlappe blieb bei weitem nicht die einzige bei
seinen Bühnenversuchen. Zum Glück ist das wohl nichts
Ungewöhnliches. »Von fünf Stücken wird eines richtig
gut, zwei ganz okay und zu den anderen beiden möchte
167
ich mich nicht äußern«, so beschrieb es ein mit Tommi
befreundeter Theatermacher. Es gibt keine Garantie. Und
das ist auch in Ordnung. Auch die Rezensionen würden
dabei keine Beschreibungssicherheit bieten, so befand der
Kollege. »Lies zehn Kritiken über eine Schallplatte und
du ahnst, wie sie klingt. Lies zehn über ein Theaterprojekt, und dir wird etwas über zehn verschiedene Abende
erzählt.« Tommi hat gelernt, damit umzugehen. Vielleicht
auch, weil er viel experimentiert hat mit der Wirkung von
Lautstärken. Und deren Ausbleiben.
Das Denken des neuen AuSSen
Einen ganzen Sommer lang war es in der Szene angesagt,
Manifeste zu produzieren, die ein gänzlich anderes Leben
forderten. Im Ernst oder im Dada. Diese sollten am besten
zusätzlich vom Verfasser vortragen werden. Daraus entstanden neben kleinen Lesungen auf Partys verschiedene
Mini-Kongresse, auf denen öffentlich über utopisches
Vorankommen nachgedacht wurde. Es entwickelten sich
Küchenlesezirkel und richtige Diskurswochenenden mit
Podiumsgesprächen und Konzerten. Die Höhepunkte
waren möglichst theaterferne Spektakel mit aufblasbaren
Hüpfburgen, die dann trotzdem und absichtlich im Theater veranstaltet wurden.
Eine Gruppe gründete eine Kunstakademie außerhalb
der richtigen Kunstakademien. Die Ausgangsaufgabe lautete, nicht akzeptable Realitäten durch selbst gemachte zu
ersetzen.
169
Aus dieser ständig zunehmenden, freien Aktivitätsmelange ging dann ein erster fester, eigener Raum hervor:
Zusammen mit Doktor Onkel und einigen anderen eröffnete Tommi einen Musik- und Ausprobierclub. Weil sie
es leid waren, wie sich die vorhandenen Lokalitäten aufführten, mit ihren Profi-Türstehern, Profi-Preisen, ProfiInhalten, ihren Profi-Chefs und deren Profi-Männer-DJs
und Frauen-Kellnerinnen. Den anfangs gänzlich konzessionslos geführten Laden benannten sie nach einem
besonderen Tier. Ihre ersten Veranstaltungen waren ausnahmslos Abende, die sich grundlegend selbst widersprechen sollten. Zum Beispiel wurde auf der einen Seite des
Raumes nur Fahrstuhlmusik gespielt und auf der anderen
ausschließlich Tekkno.
In der Mitte des Clubs mit dem besonderen Tier, das
vormals eine Stammtischpolitikkneipe gewesen war, befand sich die Bar, an der sich auch eine provisorische Kanzel mit Mikrofon für Ansagen befand. Viele der Abende
hatten übergroße, manche hatten oberkleine Ankündigen:
»100 000 Jahre Hansestadt Hamburg. Ein apartes Fest
der Kulturen«, oder »Die Menschheit. Warum es besser
wäre, endlich damit aufzuhören«. Beliebt waren musikalische Bocksprünge oder Modenschauen: Doktor Onkel
organisierte etwa eine Art Messe nur für Babykleidung
und krabbelte dabei selbst als Säugling kostümiert über
den Laufsteg. Später war ihm das sehr peinlich – weil man
wegen der gewählten Fortbewegungsart alles bei ihm sah.
Am spannendsten aber blieben die selbstgeschriebenen
Vorträge. Einen davon wollte Kitty against Kitty ganz
dringend halten, die alle zum damaligen Zeitpunkt lan170
ge nicht mehr gesehen hatten. Mit einem ungewöhnlich
förmlichen Anruf hatte sie sich an Doktor Onkel gewandt
und ihn darin gebeten, sie im Club mit dem besonderen
Tier auftreten zu lassen. Es sei ihr außerordentlich wichtig. Weil sie etwas Bedeutendes zu sagen habe. Etwas, das
bisher in den eigenen Zusammenhängen so noch niemand
gewagt hatte, derart utopisch zu Ende zu denken. Was
jetzt aber sie, Kitty against Kitty, sich zu sagen traute. Und
dieses gewagt Utopische müsse jetzt dringend in die Welt
hinaus. Alles, was sie benötige, sei eine Viertelstunde Aufmerksamkeit, angemessene Beleuchtung, sowie das Freie
Mikrofon des Clubs mit dem besonderen Tier, von dem sie
schon gehört hatte.
Am Abend vor ihrem Auftritt hatte sie, was erst mal
nicht unüblich war, eine eigene Dekoration angebracht.
Tags drauf konnte man sehen, dass der ganze Laden in
Weiß verhüllt war. Vor der Klotür und über der Bar hingen Schilder, die den Titel ihres Zukunftsvorschlags, wie
sie ihren Auftritt vorab genannt hatte, ankündigten: »Das
Denken Des Neuen Außen« war in großen Lettern zu lesen. Unmittelbar nach Türöffnung war der Club brechend
voll und die Stimmung erwartungsfroh. Zuerst lief bei
Schummerlicht zwei Stunden lang nur Musik ohne Text.
Irgendwann ging das Licht an, und Kitty, merkwürdig alt
aussehend, begann ihr Vorhaben. Was folgte, war ein inhaltlich recht konventioneller Abriss aktueller politischer
Beobachtungen. Zusätzlich eingestreut waren lose Sätze
auf Spanisch, Englisch und Französisch, die Kitty aus einem kleinen Notizbuch ablas. Was man verstehen konnte,
waren Schlagworte wie Gletscherschmelze, saurer Regen
171
oder Hungersnot. Eine Dreiviertelstunde lang passierte
nur das.
Tommi, der solche Vortragssituationen sowieso nur
schwer aushielt und schon etwas angetrunken war, glaubte
irgendwann, er könne sich erlauben, ganz wertfrei, aber
eben unterbrechend, nachzufragen, wie lange der Auftritt
denn insgesamt angedacht war. Ein großer Fehler! Kitty
explodierte augenblicklich. So hatte Tommi sie noch nie
erlebt. Was sich anschloss – so haben das später ausnahmslos alle Anwesenden beschrieben –, war ein Moment von
heftiger, unverstellter Empörung. Kitty fuchtelte herum,
schlug Tommi und anderen ihre Manuskriptseiten ins Gesicht und setzte dann verbal erst so richtig an.
»Tommi! Du hängengebliebenes Arschloch! Jetzt pass
mal auf. Und du auch da unten. Scheißkuh!«, schrie sie
einer verdutzten Besucherin ins Gesicht. »Nur dieses eine
Mal … Tommi … Arschloch!«, brüllte sie weiter, »… dieses
eine … einzige Mal! Ruhe!! … Die Kackschnauze halten,
habe ich gesagt … du da … und all die anderen peilungslosen Idioten hier!« Sie nahm einen großen Schluck aus einem 30-cl-Baileys-Flachmann. »Arschlöcher … Schnauze
halten … So …« Wieder ein Schluck Baileys. »Dann kriegt
ihr eben jetzt schon die volle Packung … So, Folgendes
prophezeie ich euch … weil … und es kann gar nicht anders
kommen …« Ihre Stimme überschlug sich das erste Mal.
»Weil … und jetzt kommt es … einer wird kommen …
Jahahaaa … ganz genau … und dieser eine, der kommen
wird, der … ha! Jetzt kommt es nämlich! Dieser eine … er
wird … nein … doch! Der wird plötzlich Fragen stellen …
Bingo! Genau! Schnallt ihr das überhaupt? Mann, Mann,
172
Mann … ihr Vollidioten …« Dann eine kurze, konspirative
Pause, in der sie einen Schritt näher an die Zuhörer trat.
Und ganz leise, fast flüsternd und beschwörend: »Ich habe
es doch selbst gesehen … Kapiert ihr das denn nicht?«
Und sofort wieder sehr laut: »Was ist los?? Was wollt ihr
eigentlich von mir?? Hä??? Du da hinten!« Sie zeigte auf
Doktor Onkel. »Na? Schwachmaten … Kaputtnixe … Red
ich Schinesisch oder was?? Ich sagte, der eine … Er wird
Fragen stellen! Fragen nach dem Verschwinden! Ha!! Na,
klingelt es endlich? Hallooooo! Ist da jemand zu Hause?
So, das saß … Kann ich weitermachen? Er wird Fragen
stellen … nach … na? Ich sagte … Fraaagen! Naaach …
deeem … Veeerschwiiinden! Nach dem Verschwinden! Ha!
Genau! Richtig gehört … Endstation, ihr Spatzenhirne.«
Kitty trank den restlichen Baileys in großen Schlucken
runter. Dann schloss sie genussvoll die Augen, wie nach
einem wunderschönen Tag. So weit konnte Tommi mit
Sicherheit wiedergeben, was Kitty an diesem Abend gesagt
hatte. Dann verschwamm ihre Ansprache allerdings zusehends. Auch, weil sie so irrsinnig kreischte. Es ging in
Kittys Wortlaut ungefähr so weiter, dass dieser von ihr beschworene eine beginnen würde, eine Menge unbequemer
Fragen zu stellen. Und dann auch Forderungen haben
würde. Forderungen nach einer pauschalen Verkleinerung.
Einer Verkleinerung gegen die sinnlose und nur scheinbare Vermehrung. Und er würde sie so lange stellen, diese
Fragen und Forderungen, bis ein anderer zuhören würde.
Und dieser andere würde es dann auch endlich kapieren.
Und ein weiterer ganz, ganz anderer würde sich dann, ganz
woanders aber auch ganz von allein, eine weitere Frage
173
stellen. Nämlich, wie es eigentlich möglich geworden ist,
dass all die Verschwindibusse und Hinwegverlierer – das
hatte Kitty auf jeden Fall genau so gesagt, die Verschwindibusse und Hinwegverlierer – noch immer glauben würden,
selbst schuld zu sein an ihrer Abschaffung als autonome
Wesen und nicht etwa der Kapitalismus mit seinem Automatismus und seiner Eigenausbeutung. Exakt so würde es
kommen. Da war sich Kitty zu hunderttausend Prozent
sicher. Es ging aber noch weiter, denn noch ein anderer
wiederum würde der erste nächste eine sein, der ganz direkt
und längst schon nicht mehr überhörbar einem so richtig in
den Arsch treten würde. Und danach und gänzlich zwangsläufig, würden dann weitere, nämlich die, die immer auf ein
heißes Thema warteten, die Meldungsverstärker, ein Interesse vor-empfinden und dann aber anfangen, ziemlich bald
von der Rückkehr der Gegenwehr zu reden. Zuerst sei das
nur ein Piepsen von Gegenwehr, dann schon ein Piepen.
Anfangs nur ein Fummeln, dann aber ein nicht mehr zu
stoppendes Flammen. Und etwas Großes und immer Größeres würde beginnen, sich unaufhaltsam auszubreiten.
Etwa ab dieser Stelle ihres Auftrittes ist Kitty dann wirklich fast durchgeknallt mit ihrer Rede im Club mit dem
besonderen Tier (Zeugen gibt es genug): »Und dann …
Jjhaaaa … ihr Idioten … und dann … Jjhaaaa … und dann,
nach den Flammen … daaaaaann … kommt die Angst angefaaaahren! Rrrrrrrr! Hört ihr das? Ihr Taubstummen …
Schuuuh, schuuuh, schuuuuuuuuuuh, macht die Angst!
Schuuuuh … Angst! Angst! Schuuuuuhhhh … Erst ganz
langsam … Dann immer schneller und schneller! Bis sie
bei allen angekommen ist! Jaaahaa! Und diese Angst wird
174
bereits einen Namen tragen. Na? Klingelt es? Genau! Ihr
Affen! Ihr blöden Affen! Ganz genau … Verlust!! VERLUUUST!! Schuuuuuuuuh … Ha, ha, ha! Tommi, du
Idiot … Du bist genauso ein Idiot, wie all die anderen
Nullchecker hier. Und Doktor Onkel … Schwachkopp …
Scheiße! Aua! Was soll das! Schuuuhh! Aua!«
Ab dieser Stelle bekam Kitty Probleme mit ihrem Fuß,
nach dem sie zunehmend hektisch zu greifen begann, und
man verstand ihre Ansprache noch schlechter als ohnehin schon. Auch weil sie nicht mehr richtig ins Mikrofon
sprach.
Es ging dann in etwa so weiter: Kitty schwor, dass dann,
also nach dem Verlust, der Moment kommen würde, ab
dem es die ersten, ganz, ganz anderen geben würde. Solche, die bereit sein würden, die Dämme brechen zu lassen,
anstatt sie wieder und wieder nur zu kleistern, mit ihren
selbstbezogenen, sinnlosen Begabungen, durch die ihre
Mäuler schon so unendlich lange total verklebt seien. Zu
diesem Zeitpunkt würde aus ihrer Prophezeiung bereits
eine richtig kleine Bewegung erwachsen worden sein. Eine
Bewegung von zu allen Konsequenzen bereiten Brechern.
Diese Sätze hatte Kitty wieder ganz sauber aufgesagt, ab
dem Punkt mit den Brechern aber plötzlich ganz tief gestöhnt. Niemand der Anwesenden kann vergessen, wie Kitty
röhrte wie ein Death-Metal-Sänger: »Hört ihr überhaupt
noch zu, ihr Flachzangen?? Brecher! B.R.E.C.H.E.R! Ihr
Klappskallies … Brecherbewegung hab ich gesagt!!« Es
gehe in der Brecherbewegung auch nicht nur darum, einfach nur wütend zu sein, sondern darüber hinaus wütend zu
handeln und wütend anzugreifen, um schließlich wütend
175
zu verändern. Am Ende gar wütend abzuschaffen. Und
das Wichtigste sei hierbei das partizipative Gemeinsame,
ohne das jeder immer nur darauf achte, dass der Nächste
ihn immer ein Stück weiterbringen müsse beim nur noch
Interessen-geleiteten Begegnen. Nur so entstehe ein nicht
mehr zu stoppender Wunsch nach Erneuerung mit unbedingtem Willen zum direkten Umsetzen: »Schuuuhhh …
Uuund … Rumms! Kapiert ihr das, ihr Softies? Nix geht
mehr. Vorbei. Ein für alle Mal. Ihr Arschlöcher! Ha, ha, ha!
So, ihr dummen Auguste! Macht mal schön weiter so. Ich
jedenfalls. Ich jedenfalls kann – anscheinend als Einzige –
den ersten anderen schon erkennen. Egal! Scheiß drauf!!!
Viel Spaß noch!!! Was für Arschlöcher …«
Und dann grinste Kitty ganz verklärt, ungefähr eine halbe Minute lang. Ohne sich zu bewegen. Bevor sie plötzlich
das Freie Mikrofon auf den Boden warf, so dass es in einer
Rückkopplung laut fiepte. Sie griff noch einmal an ihren
Fuß, stieg ganz langsam die Kanzel hinab und ging wortlos
zur Tür hinaus. Dort drehte sie sich noch einmal um und
sagte, scheinbar wieder ganz im Jetzt: »Na, wie schmeckt
euch das? Wie findet ihr das? Nix ist. Zero. Alles klar. Kaschierer. Vollidioten.«
Als Kitty den Club mit dem besonderen Tier endlich
verlassen hatte, blieb es für lange Sekunden mucksmäuschenstill. Bevor überhaupt jemand etwas sagen konnte,
schob sich ganz langsam der immer vollständig in Weiß
gekleidete Friedrich F. durch die regelrecht eingefrorenen
Gäste zum Ausgang. Deutlich konnte man seine Schritte
hören. Auch noch durch die geschlossene Tür. Nach ungefähr zehn endlos erscheinenden Schritten begann er,
176
lauthals aufzulachen. Ungehemmt prustend entlud er sich
vor dem Club mit dem besonderen Tier. Friedrich F., das
war bekannt, war ein konstanter Verächter von Tommi,
Kitty, Doktor Onkel und den anderen. Als Journalist, der
für Genauigkeit stand, war ihm die ständig auf Rumexperimentieren bedachte Szene der Tierclubleute mehr als
suspekt. Für ihn schufen sie nur wenig Zählbares. Doch
obwohl er ein regelmäßiger, immer betont ernster Gast
war, hatte er sich nie öffentlich über sie geäußert. Bis dahin. Kittys exzentrische Anklage aber schien ihm ein gewisses Mütchen zu verleihen. Und aufgrund seines nicht
zu überhörenden Lachens stand nun zu befürchten, dass
er diesmal auch schriftlich nachtreten würde, in einer der
zahlreichen Zeitungen und Magazine, für die er damals
schon schrieb. Tagelang gab es Gerüchte über einen kommenden, vernichtenden Schmähartikel. Am Ende war aber
gar nix. Friedrich ist wohl nach Berlin gezogen oder so.
Kittys Rede über »Das Denken Des Neuen Außen« mit
ihren einen und ihren anderen erfuhr auch sonst ziemlich
wenig direkte Resonanz. Über die Zeit wurde sie aber zu
einem als legendär beschriebenen, bedauernswerterweise
völlig ungenutzt gebliebenen, revolutionären Urmoment
verklärt, der, wenn nur die richtigen Leute zugegen gewesen wären, das Zeug zu einem fulminanten Absprung für
eine wirklich neue Bewegung unbekannten Ausmaßes gehabt hätte. Das jedenfalls hat Nerve R. viel später einmal
ganz öffentlich behauptet, obwohl er am Abend dieses angeblichen Urmoments hinter vorgehaltener Hand schwer
abgelästert hatte.
Tommi hat mit Kitty nie über den Vorfall gesprochen.
177
Auf eine unbestimmte Art hatte er sich während ihrer
öffentlichen Klage für sie geschämt. Vielleicht, weil sie
dabei so verloren gewirkt hatte. Merkwürdigerweise schob
Kittys Auftritt – bei allen Eventualitäten – aber etwas bei
ihm an. So sehr, dass Tommi selber eine Art Pamphlet entspann, in dem es um Fragen ging, die er dann in einem
späteren Theaterstück unterbrachte. »The Death of the
Cool« hieß der Text dazu, ein Song daraus »Übereigendarstellerei«. Was ist noch super, wenn alles super ist? Kommt
man als einfacher Frisör noch durch? Oder muss man seine
Frisuren unbedingt als cooler Stylist in einem Event-­Salon
mit Alleinstellungsmerkmalhaarschnittbehauptungen aufführen? Solche Ansätze schienen auch Kitty bei ihrer Rede
umgetrieben zu haben, so schien es Tommi. Ihm hat es gutgetan, noch etwas daraus gemacht zu haben. Möglicherweise empfand er eine solidarische Schuld Kitty gegenüber. Gefühlt schien er sie dadurch irgendwie verteidigt zu
haben, im Nachhinein.
»Übereigendarstellerei«(*11)
Maschinist, überwache die Motoren – und dafür keine
Biokochrezepte.
Kunstprofessor, treffe Studenten – und dafür keine
Boxsportergebnisse.
Bäcker, backe gute Schrippen – und dafür keine
Filmfestivalempfehlung.
Bühnenarbeiter, baue Bühne – und dafür keine
Kunstbuchrezensionen.
Schwimmer, schwimme schnelle Bahnen – und dafür
keine Renditeempfehlungen.
Koch, … koche! – und dafür kein neues TV-Format.
Präsident, mache Regierung – und dafür keine
Free-Jazz-Matinees.
H. P. Baxter, singe deinen Techno – und dafür keine
Thomas-Bernhard-Lesungen.
Refrain: Hört bitte auf mit dieser
Übereigendarstellerei. Gebt euer eigenes Leben. Ohne
Oberextraallerlei.
Heute ist eben ein Klempner nicht einfach nur ein
Klempner.
Ein Schritt zu viel nach vorn schafft zwei Schritte
rückwärts.
André Tschechow: Sechs Schwestern, oder was?
179
Das ist dann richtig wie Liebe
In Hamburg trat der weiße, nordamerikanische Rap-Star
Eminem auf. Es war eines der wenigen großen Konzerte,
die Tommi je besuchte. Zufällig, direkt einen Tag später,
sollte in derselben Mehrzweckhalle der ebenfalls aus
Nordamerika stammende, »Schockrocker« genannte Sänger Marilyn Manson seine Show machen.
Eminem kam in dem riesigen Raum wie erwartet einigermaßen fad. Trotz eines gehörigen Budenzaubers mit
vielen zeitgemäßen Licht-, Sound- und Bühneneffekten.
Die mehrstöckige Dekoration sollte dabei eine Art Ritterburg darstellen. Das Publikum schien das zu honorieren. Danach gab es noch ein kleines, angeblich geheimes
Konzert in einem Club auf St. Pauli. Dieses fand Tommi
ziemlich super. Später im Garderobenbereich saßen sich
die Unterhaltungsidole Eminem und Marilyn Manson,
der schon einen Tag früher in der Stadt war, gegenüber.
181
Beide waren schwer breit, wahrscheinlich auf Ecstasy. Sie
saßen sich also gegenüber und starrten sich einfach nur an.
Ganz ruhig. Ganz konzentriert. Ganz zufrieden. Jeder, der
da war, konnte leicht erkennen, was die beiden dachten:
»Wow! Eminem!« Und: »Wow! Marilyn Manson!« Ganz
warm sah das aus. Ohne ein einziges Wort. Zwei Vogelwesen einer besonders faszinierenden Art, die sich vorher
noch nie begegnet waren. Beide spürten dabei deutlich ihre
Einzigartigkeit. Und dass sie vom Aussterben bedrohte Besonderlinge waren. Die einmalige weiße Schneekrähe traf
auf den einmaligen schwarzen Kolkraben. Wie lange sie
sich so gegenübersaßen und wie das alles ausging, ist nicht
überliefert.
Tommi glaubt daran, dass es eine in der Regel nichtsexuelle Liebe zwischen suchenden Sensiblen gibt. Diese
erhoffen sich voneinander, dass der jeweils andere ihn
besonders heftig mitreißen, ihn irgendwie zur nächsten
Action bringen wird. Natürlich meint jeder, nicht nur die
geschätzte Krähe und der bekannte Rabe, irgendwann
schon einmal diese gewaltige, alles hinfortspülende Liebe
empfunden zu haben. Und sei es nur für sich selbst. Denn
niemand kann ganz sicher sein, dass der Zauber vom Gegenüber erwidert wird.
Tommi hatte dieses Thema des besonderen Aufeinandertreffens so sehr für sich entdeckt, dass es schon fast ein
Tick von ihm geworden war. Er schwärmte von übergeordneten Begegnungen und Zusammenkünften, die einfach alles waren, was ein Sein ausmachte. Von elektrisch reagierenden Verknüpfungen. Er war fest davon überzeugt,
dass diese außergewöhnlichen Zusammenkünfte das Ein182
zige waren, was ihn wirklich weiterbrachte und von dem er
überhaupt irgendetwas lernen konnte.
Wenn er also auf jemanden traf, der auf seine diesbezüglich sensibilisierten Sensoren ansprang, und somit wertig
genug erschien, genauer untersucht zu werden, dann setzte
eine für Tommis Verhältnisse ungewöhnlich hohe Konzentrationskraft ein. Sogleich begann er, sich auf seine
Beute zu fixieren. Passte es tatsächlich, dann türmte sich
die Begeisterung beängstigend groß auf. Denn wenn sich
wirklich etwas entzündete, also wenn Tommi eine neue
Bekanntschaft als lohnenden Begehr ausgemacht hatte,
dann, ja dann gab es von diesem Moment an keine Begrenzungen mehr. Das konnte ungeheuer ausarten. Alles
fußte dabei auf der simplen Grundlage, dass ein anderes
Wesen die superkomplexen Tommi-Codes verstehen und
damit genauso geschickt spielen konnte wie eigentlich nur
er selbst. Wenn das aber doch einmal passieren sollte, trotz
all seiner immensen Ansprüche und Hürden, dann gab es
lange kein Luftholen mehr. Für beide. Völliges Kochen.
Die noch frische Liaison vergoss sich in Raserei. In einen
Erschöpfungstaumel.
Das Ablaufmuster war dabei eher schlicht und unbedingt wiederkehrend. Anfangs musste alles peinlich genau
vermessen werden. Tommi und sein Pendant umkreisten
sich in allen erdenklichen Parametern: Zeig mir deine Farben, deine Musik, deinen Stil. Politisch korrekt und/oder
unkorrekt. Schlechter Geschmack und/oder guter Geschmack. Verehrungen und Gegnerschaften. Herkunft und
die andere Welt. Und so weiter. In der nächsten, wesentlich
subtileren Stufe zwangen sich die bereits ineinander Ver183
hakten in Situationen, die unbedingt besonders verwegen
ablaufen mussten. Dabei schien es so, als müssten die beiden etwas zusammen in Brand Gestecktes durchlaufen.
Sich Vertrauen verdienen unter extremen Bedingungen.
Danach folgte die Phase von richtiger Wirrung. Wie ein
surrealer Traum, der nicht enden wollte. Und dann, ganz
abrupt, war es – das war bis jetzt jedenfalls immer so gewesen – augenblicklich wieder vorbei. Das machte aber
nichts, es konnte ja gar nichts Größeres kommen, als nur
dieses eine Mal gemeinsam morgens im Sonnenlicht stehen
mit den reißenden Strömen der vergangenen Nacht. Sich
Schönheiten zeigen. Sich die Wunden beschreiben. Und
wenn man dann sieht: Ja! Da war tatsächlich noch jemand,
jemand mit denselben Sehnsüchten, aber auch denselben
zitternden Existenzängsten, phobischen Verlorenheiten,
brennenden Verlustschmerzen, dann, ja dann war das: alles.
184
Von Uhu, Monkey Man, Urvieh, Cat the
Cat und einer epileptischen Elster
Tommi wurde seine Dämonen nicht los. Er wurde seine
Verletzungen nicht los. Zum Glück stellte er sich, kurz bevor er verrückt wurde, sich beinahe etwas antat oder noch
schlimmer, gar eine staatsfeindliche Dummheit begann,
die Frage, was ihm im Leben von Bedeutung war. Die Antwort war immer dieselbe: Wirklich wertvoll waren ihm
seine Spezialmenschen. Seine wichtigen Freundschaften.
Ihnen gab er Tiernamen: zur Aufwertung. Nur so konnten
sie Wesen bleiben, die er nicht weiter durchleuchten musste. Damit sie ihr Geheimnis behielten und nicht irgendwelche Angriffsflächen böten für den – und da kannte er
sich selbst gut genug – überpenibel kritischen Tommi from
Germany.
Sehr einflussreich war und ist der Uhu für ihn. Von
ihm lernte er, wie man es schafft, den Dingen eine ande185
re Bedeutung zu geben, sie umzustreichen, wie der Uhu
das nannte. Mit den Gesetzen der Umstreich-Formel
nämlich. Alles kam dabei in Frage. Material. Meinungen.
Geschichte. Blickweisen. Die Zeit. Man muss nur einen
ganz besonderen Gedanken, ein simples Prinzip verstehen. Dieses lässt sich, hat man es einmal erlernt, universell anwenden. Der Uhu jedenfalls wandte seine Umstreich-Formel in seinem gesamten Wirken an, konnte,
oder wollte sie jedoch nicht plausibel erklären. Da musste
man schon genau hinschauen und dann kombinieren. Das
gelang Tommi deshalb ganz gut, weil er das Glück hatte,
den Uhu des Öfteren begleiten zu dürfen, um so nach und
nach zu kapieren, wie dieser findige Vogel ein ums andere Mal beeindruckend umstrich. Er konnte das mit Wort
und Tat beim Reden und Wandern, beim Spinnen und
Trinken. Auf seinem notwendigsten Feld aber, der Kunst,
da betrieb er es am schlüssigsten. Zum Beispiel malte er
Bilder, die er mit listigem Schmunzeln präsentierte, wenn
sie angeblich zu Ende gearbeitet waren. Dabei hatten sie
offensichtlich überhaupt kein Geheimnis, waren wirklich
schlechte Bilder. Doch dann, unter strenger Anwendung
seiner Formel, mit wenigen, flatterhaften Bewegungen, das
Werk mit einem geöffneten Uhu-Auge fixierend und unter
Zuhilfenahme einer handelsüblichen Schuhbürste, eines
alten Lappens oder eines gebrauchten Bimssteines, konnte
er das eben noch wirklich fade Großformat ins Schwimmen bringen. Nach dieser kurzen, aber scharfen Behandlung wurde das Bild undurchsichtiger, erhielt aber jenen
Zauber, den ein Bild braucht, um lange leben zu können,
wie der Uhu seinen Anspruch an ein gutes Bild erklärte.
186
Diese phänomenale Umstreich-Formel lässt sich auf alles Mögliche anwenden. Das hat Tommi ausprobiert. Beim
Musikmachen. Auf darstellenden Bühnen. Und sogar bei
Rockkonzerten. Man benötigt für diese Situationen allerdings sehr gute Partner. Der Uhu sagt, das gehe ausschließlich mit Leuten, die genauso zwangsläufig Scheiße
bauen wollten, wie man selbst. Da braucht man aber gar
nicht erst das Suchen beginnen, denn diese würden sich
sowieso und ganz selbstverständlich begegnen. Denn richtiges Scheißebauen ziehe sich magisch an.
Natürlich ist das ein wenig kokett ausgedrückt vom
Uhu, der ein wirklich berühmter Künstler ist und bei dem
solche Verharmlosungen kaum verschleiern können, dass
sein Schaffen sehr komplex ausfällt. Wahrscheinlich sucht
er nur nach einer möglichst unernsten Atmosphäre, um
bei seinem eindrücklichen good and bad working immer
wieder gut und neu starten zu können. Tommi jedenfalls
begriff erst, nachdem er den Uhu kennengelernt hatte, was
Kunst kann, und verstand die Anwendungsmöglichkeiten
von falschen Unterbrechungen, gutem Dunkel auf bösem
Hell, vollen Halbmasken oder dummen Ganztönen. Mit
solchen Werkzeugen begann er dann, in seinen eigenen
Metiers selbst rumzuprobieren. Leider hat dabei nicht
alles gut funktioniert. Aber die Einführung von Motormenschen, Tamagotchi-Schauspielern, feindlichen Übernehmerinnen, Schneckenkämpfern, Infoclowns, Nebelköniginnen, Wiederkehrenden, Fetten und oder Flüssigen,
Reisenden und Nichtankommenden auf unterschiedlichsten Bühnen freut ihn heimlich sehr. Sein bis heute schönster Coup, aufgeführt in einem seiner ersten Stücke, war die
187
Spielszene »Tanzen wie in Aluminium«, in der ein ganzes
Land in Metallstarre verschwand durch politische Starrheit. Es handelte vom Neopopulismus in den Alpenstaaten
und war inspiriert durch seine gemeinsam mit dem Uhu
unterhaltene Musikgruppe »Aluhexen«. Tommi ist dem
Uhu zu Dank verpflichtet. Und all den anderen, die ihn
durchgeschubst haben durch die viel zu oft viel zu krampfigen und angstgeleiteten allgemeinen Menschenbegegnungen. In der Kunst wie im echten Leben.
Auch der Monkey Man hat Tommi das Leben erleichtert. Richtig verknallt war er in ihn, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Ungezählte Faxe schickten sie sich hin
und her. Papiere, auf denen geheimnisvolle Botschaften
standen. Mit Sätzen, die nach außen ganz grob wirken
konnten. Für Tommi und den Monkey Man machten sie
eine innige Verbindung aus. »Es ist jetzt morgens so um
halb zehn. Die Kotze hat meine Jacke verklebt«, ein Zitat
aus einem Songtext eines weiteren, wichtigen Freundesgeistes aus einer eigentlich längst abgelegten Teenagerphase. So etwas vereint. Das war ihre Sprache, hier verstand man sich. Auch Thomas-Bernhard-Texte konnten
Thema sein. Etwas davon in ein Lied verpacken. In eine
Zeichnung. Und dem anderen wie einen Liebesbrief zukommen lassen. Wenn man es gut machte, es präzise anrührte, dann leuchtete dieser Brief beim Aufmachen. Das
Sich-Erkennen läuft immer über Entgrenzung, das hat
Tommi herausgefunden. Aber, genauso wichtig: die gemeinsame Zurückweisung von Normalität. Morgendliche
Lederjacken-Kotze mit Thomas-Bernhard-Geschmacksrichtung. Wenn zwei es schafften, damit eine geschmeidige
188
Verbindung herzustellen, so wie Tommi und Monkey Man
in ihrem Zusammenspiel, dann entstanden zarte Grüße,
wilde Farben, freie Klänge, schönster Rausch. Kinder nennen das, ein gutes Versteck gefunden zu haben.
Auch mit seiner Freundin Urvieh fand Tommi immer
wieder ein solch gemeinsames Versteck. Ihr allererster gemeinsamer Streich war es, Kindern falsche Zuordnungen
beizubringen. Eine ganze gemeinsame Reise lang gaben
sie sich, unter strengster Geheimhaltung, beflissene Mühe,
alle möglichen Dinge oder Situationen für einen noch
sprachunsicheren Spross eines befreundeten Elternpaares
umzutiteln, wie Urvieh es nannte. Wenn also der kleine
Racker auf etwas zeigte und dann, inhaltlich tadellos »Da!
Da! Roota Feueehweehaudo!« plärrte, dann erklärten
Tommi und Urvieh dem noch Sprachunsicheren ganz
geduldig und nur, wenn niemand zuhörte: »Nein, ganz
falsch. Es heißt nicht: Da! Da! Roota Feueehweehaudo!
Das muss heißen: Da! Da! Blauuua Kuuuhaudo! Das sieht
man doch. Schau doch mal die ganzen Kuuuhe darin in die
blauuua Audo.« Das machten sie dann noch mit anderen,
dem Kinde aufgefallenen Dingen. Von diesem Moment
an waren Feuerwehr, Krankenwagen oder Polizei: Kühe,
Atompilze oder Drogen. Zwei Wochen lang wurde verbal
heftig gemuht, verstrahlt oder gekokst, wenn unterwegs
bestimmte Hilfsfahrzeuge auftauchten. Auf derselben
Reise schafften sie es, den schlimm fremdenfeindlichen
Hotelier ihrer Unterkunft umzubenennen: von Onkel
Josef, wie er selbst von den Kindern genannt werden wollte, in Onkel Goebbels, wie sie ihn fortan mit fröhlicher
Begeisterung riefen. Was richtig Ärger gab. Unendlicher,
189
nimmermüder Verdrehungsquatsch. Urvieh kann das auch
heute noch gut.
Tommi schaut mit Bewunderung auf sie. Und auf die
anderen, die ihn retteten. Wie Cat the Cat und die weiteren Mitglieder seiner Band, die auch alle bedeutende
Tiernamen tragen: Erdmännchen, indische Gottesanbeterin, Sperling und kölsches Gürteltier. Oder Nerve R., den
er manchmal die epileptische Elster nennt, weil er weiterhin so zappelt und alles stiehlt, was glänzt. Doktor Onkel.
Kitty. Morten. Mali. Ha Em Schleier. Kaka aus Österreich.
Tommi kennt die Namen seiner Befreier.
Archaische Veitstänze (auf und neben
den Bühnen)
Besonders wichtig an seinen Tierbekanntschaften war und
ist Tommi, dass sie ihm ein verlässliches Korrektiv bieten.
Dafür müssen sie nicht einmal zu ihm sprechen. Er denkt
sie konstant mit. So blieb ihm manche Peinlichkeit erspart.
Andererseits, es muss auch weiterhin gänzlich unabhängig
gefrickelt werden dürfen – und daran gezweifelt werden
können. »Was denn nun, Tommi«, hörte er sich sagen, als
er einmal einen Gastartikel in einer Tageszeitung über eine
Schlagermusikmarsch-Großveranstaltung verfassen sollte.
Analytisch auseinandernehmen oder lauthals verspotten,
das Ganze? Zumal es hier nicht wirklich um gefährliche
Feinde ging. Schwierig. Alles geht immer und manches
gleichzeitig überhaupt nicht.
Tommi geriet mal wieder in eine schwere Schleuderphase, und er fing an, sich mit der Ironienummer zu
191
langweilen. Nicht weil das Mittel Ironie auf einmal ganz
pauschal nicht mehr taugen würde. Aber er empfand einen
faden Beigeschmack, wenn er oder sonst irgendjemand
zum fünfhundertsten Mal »das Theater mit seinen eigenen
Mitteln geschlagen« hatte. Für andere Genres galt dieses
Pseudo-Angreifen genauso: »Cash from Chaos«. Aber selten konsequent ausgeführt, fast immer nur halbgar.
Es war mal wieder Kitty, die Tommi erst so richtig
die Augen öffnete, was diese »Angeblich-nix-verkaufenwollen-aber-es-extra-trotzdem-tun-Schwindler« anging.
Weil diese eben nur unter dem Mäntelchen der Ironie und
keinesfalls wirklich ernstgemeinte Kritik äußerten. Und
stattdessen über einen schalen Umweg direkt in die größtmögliche Kassenhalle baten: »Weißt du, Tommi, diese
charmanten Kaufleutchen nennen ihre neue Platte ›Happy
Reibach‹, ›Scheißbillig‹ oder ›Kaufen ist geil‹, implizieren
damit eine Kapitalismuskritik und ein scheinbares Unwohlsein im bösen Business. Und das alles bei gleichzeitiger aggressivster Power-Promotion mit anschließendem
Megaabverkauf. Somit besteht im Prinzip kein Unterschied, ob die Ware am Kassenhäuschen als eine Punkplatte oder eine Trockenhaube ankommt. Verstehst du,
die wollen gar nicht wirklich Scheiße bauen. Die wollen
ihr Zeug einfach nur möglichst teuer verscherbeln. Und
das klappt deshalb so prima, weil ein nicht unerheblicher
Teil ihrer beglückten Kundschaft sich ganz freiwillig als
Käufer von Verarsche-Produkten degradieren lässt. Weil
sie das wahnsinnig originell finden, es geblickt zu haben,
Teil des Verarsche-Vorgangs zu sein. Und am Ende kommen sich die dadurch sehr erfolgreichen Scheißeverkaufs192
Geschäftsleute besonders pfiffig vor und brüsten sich damit, dass sie noch aus der allerletzten Scheiße Gold machen
können.« Kitty against Kitty, Königin der bestechenden
Marktanalyse. Tommi war mal wieder beeindruckt.
Eine Zeitlang traf er sich fast jeden Tag mit Kitty. Beinahe so oft wie früher in Bimmelsdorf. Lief er ihr gar
hinterher? Eines ließ sich nicht leugnen: Kitty brachte ihn
weiter. Insgesamt. Sie hatte einen guten, urbanen Erfahrungsvorsprung und kannte ganz erstaunlich viele Leute.
Er brauchte sich also nur dranhängen, um ordentlich rumzukommen. Und das tat er viel. Auf einer Party fragte ihn
schließlich jemand, ob Kitty seine Freundin sei. Damit
hatte er nicht gerechnet. Die Frage überraschte und verstörte ihn derart, dass er ihr noch am selben Abend, ohne
einen Grund zu nennen, eröffnete, sich bitte mal für eine
Weile nicht zu treffen. Sie nahm das ungerührt. Fragte
nicht nach.
Tommi fand Kitty super. Außerdem sah sie ganz toll aus.
Sie war insgesamt glockenhell. Ganz klar und erkennbar.
Und doch mit vielen konträren Farben. Wenn sie beide
zusammen waren, begannen sie zu klingeln, das war offensichtlich. Sie musste ihn auch mögen, sonst würde
sie nicht so viel mit ihm unternehmen. Doch trotz aller
Übereinkunft schien bei beiden eine physische Anziehung,
ein weiterführendes Begehren, nicht einzusetzen. In der
folgenden Kitty-Abstinenz geriet Tommi in eine richtige
Krise. Eine Art Liebeskummer, ohne körperlichen Verlust. Leider fand er in den vielen Stunden und Tagen des
unruhigen Grübelns keine gute Erklärung für das zunehmende Vakuumgefühl. Genauso wenig gelang es ihm, seine
193
Beziehung zu Kitty zu beschreiben. Sie meldete sich gar
nicht – und irgendwann gab Tommi auf. Er verabredete
sich ganz einfach wieder mit ihr, wenn auch wesentlich seltener. Das heftige Gefühl, jemanden zu vermissen, vergaß
er aber nie wieder, und er glaubte, etwas Wesentliches gelernt zu haben: Die Sehnsucht nach einer Person, der man,
aus welchen Gründen auch immer, nicht nahe sein kann,
spricht eine große Urangst an. Es ist ein grundexistentieller Verzicht, der nicht auszuhalten ist. Menschenentbehrungskummer ist Ausdruck von vollkommenem, unkontrollierbarem Versagen und somit noch viel schlimmer
als ein verschossener Elfmeter im Alter von neun Jahren,
eine nicht so gelungene Platte mit der Band oder eine verhauene Theaterpremiere.
Außerdem fand er in der Zeit, in der Kitty so fehlte,
heraus, dass besonders Männer ihm nicht helfen konnten,
wenn er versuchte, sich ganz klassisch bei ihnen auszuheulen. Tommi begriff dabei etwas über die Tiefe der maskulinen Verbindungen. Diese Weggefährten waren zwar für
die meisten nennenswerten Ereignisse in seinem Leben
unentbehrliche Gegenüber, Beschleuniger und wertvolle
Spiegel. In Verschränkungen mit weiblichen Geistern
konnte er aber gelöster freidrehen.
Männer sind Krieger. Sie kämpfen gemeinsam und gegeneinander. In der Kunst ganz besonders. Das ist gewollt.
Die starke Liebe, die sie trotzdem untereinander empfinden können und dann wirklich für immer in sich tragen,
ist die Erinnerung an die eigene und an die gemeinsame
Stärke in den bestandenen Abenteuern – mit oder gegen
die anderen starken Krieger.
194
Die Welt bleibt weiter archaisch. Oder war es nur so,
dass sich Tommis Empfindungen auch nur besonders banal männlich zeigten? Jedenfalls erträgt er die Männchen
ganz allgemein immer weniger. Zu durchschaubar erscheinen ihm ihre Spielchen – gerade auf den Bühnen. In der
Popkultur erwiesen sich die ganzen zappelnden und sich
umso öder anwanzenden Schwänzchen aus Tommis Sicht
als besonders abscheulich. Nirgendwo sonst wird so unanständig platt gegockelt und gebalzt wie vor, neben und
auf den sich angeblich gelöst ausdrückenden Rockbühnen
dieser Welt. Es waren und sind eingezwängte Eiertiere, die
in peinlichster Manier gegen und unter sich alles klarmachen. Und es stimmt auch weiterhin keinesfalls, dass Frauen ihren Werdegang im Popbusiness selbst bestimmen
können – was vielerorts behauptet wird. Genauso wenig,
wie sie dort sogenannten verdienten Erfolg haben können.
Im besten Fall schaffen sie es – fast immer unter Zuhilfenahme eines streng disziplinierten Körpereinsatzes –, sich
clever zu vermarkten. Natürlich gibt es Ausnahmen. Im
Zentrum aber stehen weiterhin die sich wieder-, wiederund wiederholenden Mackerveitstänze, bei denen jene am
weitesten kommen, die am ungeniertesten brummkreiseln.
Der Rest sind schlichte Rahmung, Garnitur, Wasserträgerei, Speichelleckerei, Geschäftstalk oder in geschmacklosen Plattenfirmenräumen schmorendes Gelaber von
verhinderten Musik-Stalkern, die angeblich auch mal in
einer Band Bass gespielt haben. Früher. Viele von ihnen
sind nur darin progressiv, vom Schreibtisch aus anzuleiern,
welche ihrer Schäfchen – auch Signings genannt – mal
so richtig geil geremixt werden könnten. Weil sie gerade
195
keine Ideen haben für eine neue Platte. Die Ergebnisse
lassen sich in allabendlichen Geschäftsessen bekakeln, mit
denen sie die – ihrer Meinung nach angesagten – Szenerestaurants verstopfen. Der Rest ist meet and greet auf
Reklame-Konzerten, traurigen Glotzpräsentationen, die
man »Showcases« nennt. Die Jahreshöhepunkte sind die
zahlreichen Vertreter-Sauftreffen auf Fachmessen und
Genre-Festivals. Sich treiben lassen im »Biz«. Die »Acts«.
Die »Mags«. Die »Sites«. Hunderte von ihnen zugeklebte
Promotion-«Channels«. Mit mehr oder weniger Gehör.
Mit dem einzigen Ziel, aus der allerletzten Scheiße ein
paar Stäubchen Gold zu generieren. Sexy Reibach. Kaufen
ist geil. Hauptsache, ihr habt Spaß. Egal, ob im Bau- oder
auf dem »Media«-markt.
Gerti, der Luxustransvestit aus dem
Berlin der zwanziger Jahre
In der sogenannten Hochkultur, in den Opern und Theatern, verhält es sich mit der Dominanz des Männleins
kaum anders. Manchmal ist es dort sogar noch schlimmer.
Das geschlechtertypische Auftreten ist dort deshalb noch
verdrängender, da die Versagensängste noch größer sind
als auf den Rockbühnen: Die Ausführenden schustern einfach nicht so unbekümmert drauflos. Denn obwohl die
Gelder als sogenannte Staatsknete gesichert angereicht
werden, ist deren Verteilung von den ständig nach positiven Beweisen heischenden Programmgestaltern abhängig. Dabei drängen die öffentlichen Resonanzen oder die
Platzauslastungszahlen immer heftiger. Politik und Wirtschaft fordern mehr Einfluss für ihre Gaben. Die Luft wird
dünner, die Risikobereitschaft geringer. Ängstliches Theater produziert bei so manchem künstlerischen Leiter, Ge197
schäftsführer, Regisseur oder Schauspieler Mutlosigkeit.
Bei vielen anderen sicherheitsverliebte Dominanz.
Trotzdem. Tommi liebt die Möglichkeiten dort. In den
Häusern, die wunderbare factories sein können, multifunktionale Werkstatt- und Bühnenorte. Begegnungsstätten mit
Reibung. Experimenten. Denken. Fragen. Er schätzt die
unentwegte, hysterische Wallung für das Begehren um Gegenliebe. Tommi empfindet keine Angst im Theater. Schon
gar nicht auf der Bühne. Auch wenn der Live-­Moment immer wieder aufregend ist. Anekdoten über Theaterereignisse machen zwar wenig Freude, funktionieren allerdings
ganz ordentlich in den Kantinen. Wenn denn die Großschauspieler genügend Riesling bekommen haben.
Nie vergessen wird Tommi seine erste Produktion, bei
der es um die Risiken von radikalem Sprachgebrauch in
der Öffentlichkeit ging. Die Schauspieler wollten ihn zu
Beginn ein bisschen austesten, indem sie ihn spöttisch
immer nur »Mein Chefchen« nannten. Wahrscheinlich
weil sie hofften, dass ihnen jemand sagt, was sie tun sollen.
Nach ein paar Tagen bestand er darauf – für seine Verhältnisse ungewöhnlich streng –, von allen in der Produktion ab sofort nur noch »Gerti, der Luxustransvestit
aus dem Berlin der zwanziger Jahre« genannt zu werden.
Immer sauber den vollen Titel. Seine Stellung war somit
spielerisch entwertet. Das nervte und funktionierte. Leider schaffte er es nicht, diesen Vorgang in die Aufführung
zu übernehmen, was dem Stück sicher gutgetan hätte. So
wurde das ganze Projekt eher so la la. Vielleicht hing das
auch damit zusammen, dass man das im Text häufig verwendete Wörtchen »Ficken« und alle anderen 70 Begriffe
198
für die Beschreibung ein und derselben Übung nicht nur
auf einer Theaterbühne eher zu oft als zu selten gehört
hatte. Tommi nahm sich danach vor, seine Themen nur
noch aktuellen Entwicklungen oder der tiefen Vergangenheit zu entnehmen.
Am heftigsten aber blieben ihm die Kritiken zu seinem
ersten Theaterversuch in Erinnerung. Wahrscheinlich,
weil sie ihn so völlig ungewarnt überraschten. Tommi from
Germany hatte einfach nicht gewusst, was das ist: Theaterkritiken. Und dass nach seinem kleinen Stück, das lediglich auf der Probebühne des Städtischen Schauspielhauses
stattfand, nicht nur die regionale Presse, sondern sämtliche
landesweit erscheinenden Zeitungen große Artikel bringen würden, das konnte er kaum ahnen. Die Rezensenten
nahmen es möglicherweise deshalb besonders ernst mit
ihm, weil ein Genre-Greenhorn in ihrem Metier wilderte,
in dem bis dahin – zumindest aus Tommis Richtung kommend – noch recht wenig herumgekreuzt worden war.
Zwei Tage nach dem Abend der Uraufführung saß er,
noch geschwächt von der Premierenfeier, in einem Flugzeug nach Süddeutschland, als er miterleben musste, wie
nach und nach nicht wenige Passagiere Tageszeitungen
hochhielten, in denen sein Stück vernichtend wegverhandelt wurde. »Graues Meer aus Langeweile« oder »Ach,
wärst du doch im Club mit dem besonderen Tier geblieben«, lauteten die Schlagzeilen zu groß abgedruckten
Spielszenenfotos. Ein Desaster. Wieder auf dem Boden,
schlich Tommi ganz benommen aus der Maschine, in der
er sich den gesamten Flug über wie in einer Backröhre vorgekommen war. Zum Glück spielte ihm noch am selben
199
Tag das Theater die anderen, besseren, Rezensionen zu.
Dort war man sowieso eher unaufgeregt und insgesamt
sogar zufrieden mit den Reaktionen. Eine kontroverse Resonanz über ein Stück sei keineswegs ein Misserfolg.
Im Laufe der Jahre hat Tommi in den schriftlichen
Nachträgen oder Ankündigungen zu seinen Versuchen in
der darstellenden Kunst alles zwischen gefordertem Berufsverbot und der Bescheinigung von überragender Klugheit über sich selbst erfahren. Er lernte, mit diesen Dingen
umzugehen. Anders als viele seiner Kollegen liest er die
Rezensionen und macht daraus etwas für sich. Immer noch
schwer erträgt er es allerdings, die eigenen Premieren anzuschauen. Das fällt wohl deshalb so schwer, weil man miterleben muss, nichts mehr ändern zu können. Vielleicht ist
das einer der Gründe dafür, dass Tommi in seinen eigenen
Stücken am liebsten selbst mitspielt. 200
Unser Haus ist aus Blei
»Weißt du Tommi, du kannst einfach keine Geschichten
erzählen. Beziehungsweise, du willst keine erzählen. Immer muss das Konzept vorn stehen. Deine Sachen handeln
zwar von Erlebnissen mit Empfindungen, aber eigentlich
dürfen deine Charaktere immer nur Symbole von Erlebnissen und dann meist auch noch ohne Empfindungen
sein. Die Menschen dahinter scheinen dir egal zu sein.«
Tommi war ganz betrübt über diese Aussage. Wie eine
Angst schoss Kittys Einschätzung in seinen Körper. Meinte sie damit, dass er seine Protagonisten kalt ausnutzte?
Wurden sie von ihm für seine persönliche Meinung oder
Moral missbraucht? Für seine Beschwerde? Die er sonst
nicht imstande war auszudrücken? War er ein Täuscher,
der das Prinzip der Täuschung nur als Ablenkungsmanöver
anwendete? Meinte sie damit Figuren wie die Frau mit der
»Thatcher-Illusion«, die immer mit einer Brille herumlief,
201
auf der ihre abfotografierten Augen umgekehrt aufgeklebt
waren, und die obendrein noch einen umgedrehten Mund
hatte? Waren es solche Bilder, die ein echtes Empfinden
zwangsläufig verhinderten?
Hm. Tommi brauchte eine ganze Weile, um auf Kittys
Kritik eine Antwort zusammenzuschrauben: »Ich erzähle
deshalb keine sauberen Geschichten mit sauberen Figuren,
weil das nicht modern wäre«, verkündete er ihr mit betont
schlauem Gesichtsausdruck. »Ich kann heute keine langen
Storys zwischen Ausgangspunkt A und Endpunkt B glaubwürdig durchbringen, weil mir dazwischen längst Herr C
oder Frau D eine gescheuert hätten.«
Kitty musste schmunzeln. Dann streichelte sie ihm ganz
zärtlich über den Kopf. »Manchmal denke ich, du bist
selbst eine dieser Stimmen aus deinen Texten«, sagte sie,
»so wie in dieser einen Zeile mit dem Herzkranken, der
zu wenig Gemüse gegessen hat.« Dann begann sie, tiefer
zu bohren: »Könnte es sein, dass du auch deshalb so auffällig unpsychologisch beschreibst, weil du keine Romane
aushältst, sondern nur Sachbücher?« Was war das jetzt?
Obwohl Tommi es sich nicht eingestehen wollte, war da
etwas Wahres dran. Nach den frühjugendlichen Karl-MayLeseerlebnissen hatte er kaum mehr als zehn wirkliche
Erzählungen in die Hand genommen. Krimis inklusive.
»Verstehst du, Kitty, ein heutiges Leben besteht aus Konfettifetzen, die zu einem Flickenteppich vereint ein für den
Einzelnen kaum mehr zu überschauendes Bild ergeben.
Wie soll man ein solches Dasein angemessen wiedergeben?
Deshalb verfasse ich lieber in Zuständen und Farben als
in Menschlichkeiten.« Darauf erwiderte Kitty nichts – und
202
Tommi spürte, dass er mit seinen Verteidigungen übers
Ziel hinausgeschossen war. Immer musste er alles zu Tode
argumentieren. Bis nichts mehr übrig blieb.
Ein paar Tage später fand Kitty einen absenderlosen,
handschriftlich verfassten Brief, der unter ihrer Haustür
hindurchgeschoben worden war. Sie erkannte Tommis
Handschrift sofort.
Für Kitty
Nichts ist zu hören. Nur leises Blubbern. Ich müsste jetzt bereits etliche Meter unter der Wasseroberfläche sein. Etwas berührt meine Füße. Wie ein nasser Malerquast fühlt sich das an,
wie das Auftreffen langer, weicher Borsten auf getrocknete Farbe.
Eindeutig ein stofflicher Zustand. Aus grüngrauem Gefühl. Was
ist das nur, da bei meinen Füßen? Auf einmal weiß ich es. Das ist
eindeutig Seegras. Ich hatte es nur nicht so nah am Strand vermutet, weil alles nur puderweißer Sand gewesen war, als ich ins
Meer ging. Zumindest so lange, bis ich nicht mehr stehen konnte.
Bis weit hinter die 200-Meter-Boje war ich geschwommen. Sie
markiert eine Grenze, welche die Schwimmzone der Badegäste
vom offenen Meer, von der Berufsschifffahrt trennt. Von dort
an schwimmen alle auf eigene Verantwortung. Die Ostsee ist an
dieser Stelle tief genug, um zehnmal darin zu ertrinken. Ich
weiß nicht mehr, ob ich das noch wirklich denke oder nur noch
träume. Mein Kopf spürt den Wasserdruck.
Ich sehe dich vor mir. Du bist zurückgewichen und hast
einen flapsigen Spruch gebracht, gestern, als wir uns trafen,
auf dem Marktplatz. Keine Ahnung, was mich geritten hat,
dass ich mich traute, dich zu berühren. Alle haben es gesehen.
Ist aber nichts Schlechtes bei dir hängengeblieben – hoffe ich.
203
Trotzdem fühlte sich das heute Morgen so an, als wäre ich dir
gegenüber übergriffig gewesen. Du hast mir ja später noch einen Kuss auf die Wange gegeben. Süße Revanche? Ich verstehe
dich manchmal nicht. Aber das liegt an mir. Dein Kuss hat
nach Essig gerochen. Du bist nicht der Grund dafür, dass ich
jetzt versuche, unter Wasser zu tauchen. So tief hinab, dass ich
es nicht mehr schaffen werde, rechtzeitig an die Luft zurückzukehren. Ich wünsche den Tod. Ganz fest. Aber es will nicht
gelingen. Weil es nicht so passiert, wie ich es mir vorgestellt
habe. Nichts hier ist ruhig und feierlich. Und obwohl ich die
Berührung mit Seegras gut kenne, bin ich jetzt gestört von ihr.
Außerdem höre ich ganz deutlich Maschinengeräusche. Wahrscheinlich vom Bäderschiff »Seelöwe« oder vom »Hanseat II«.
Proppenvoll mit gut gelaunten Touristen. Sssss … Ssssss …
macht die Schiffsschraube. Ganz hoch, wie eine Grille tönt das.
Du hast mal gesagt, dass deine Großmutter das Zirpen der
Grillen nicht mehr hören kann, weil bei älteren Menschen die
hohen Frequenzen nach und nach abbauen. Die Trommelfelle
geben nach.
Ganz allein wegen MIR bin ich jetzt hier unten. MICH will
ich ein für alle Mal loswerden. Es kann kein Leben geben, wo ein
Leben keine Luft holen kann. Hörst du mich denn nicht? Das ist
es, was ich dir eigentlich sagen wollte, Kitty. Aus Blei ist die Welt
und aus Blei sind wir. Und unser ganzes, gemeinsames Haus ist
es auch.
Plötzlich höre ich einen schrecklichen Schrei. Es ist mein eigener. Ich wache auf. Brauche eine Weile. Ich beschließe, dass ich
es euch auf keinen Fall einfacher machen werde.
Bei dir möchte ich mich entschuldigen. Für neulich.
204
Als Tommi Kitty das nächste Mal traf, wirkte sie wie immer.
Er glaubte schon, sie würde keine Reaktion zeigen. Doch
bevor sie sich wieder trennten, sagte sie ihm, dass sie sich
über seinen Brief gefreut habe und dass sie froh darüber
sei, einen Freund wie ihn zu haben. Wegen des Bleis auf
dem Leben, das auch er nicht verleugnete. Und auch wenn
sie es unterschiedlich trugen, sie erkannten einander dabei
trotzdem immer wieder. Und das fühlte sich nach Teilen
an. Tommi war schwer gerührt. Er merkte, wie selten so
etwas vorkam, ein offenes Sich-schätzen-Können. Erging
das allen so? Er fand keine Antwort.
Immerhin fühlte er sich wieder sicherer in seiner Beziehung zu Kitty. Und Beziehungen – ganz im Allgemeinen –
waren nicht gerade Tommis sicherstes Gebiet. Bevor Kitty
wieder ging, erzählte er ihr eine Geschichte, die er mit
Doktor Onkel erlebt hatte. Und zwar waren sie beide in
einer fortgeschrittenen Nacht mit zwei Damen nach Hause gegangen, die eine gemeinsame Wohnung unterhielten.
Gutes Trinken, besseres Quatschen und luftiges Lachen
in Lokalen waren dem vorausgegangen. In den privaten
Räumen aber schafften es die beiden Frauen, Tommi und
Doktor Onkel – der sich an diesem Abend wieder mal Onkel Doktor genannt hatte – auf ihre jeweiligen Zimmer zu
verteilen. Ganz schnell passierte das. Offensichtlich sollte
hier etwas Sexuelles in Gang kommen. Vielleicht hatten
alle Beteiligten sowieso daran gedacht. Wegen einer baulichen Besonderheit konnte Tommi Doktor Onkel quer
über den langen Wohnungsflur auf dem Bett seiner ihn
ausgewählt Habenden sehen. Es war ganz still. Die beiden
Frauen waren im Bad. Tommi und Doktor Onkel sahen
205
sich an. Sie erkannten sich. Und ohne weitere Absprache
schlichen sie, so schnell es ging, durch die Haustür. Raus
aus der Situation. Separat. Ganz piefig. Jeder für sich und
ab nach Hause. Aber irgendwie auch mit einer schönen,
weil geteilten Belastung.
Zurück unter U-Booten
Jeden Morgen sammelt Tommi seine Informationen zusammen. Um sich einen eigenen, täglichen Info-Brei aus
all den unendlichen Humanergüssen anzurühren. Radio.
TV. Print. Digital. Eines Tages beschrieb eine Zeitung im
Kulturteil eine bestimmte Zeit. Bei dieser soll es sich um
eine Art musikalische Übergangsphase gehandelt haben.
Und zwar vergleichbar mit der Tommi gut bekannten
Phase der Neuen Welle der späten 70er und frühen 80er
Jahre. Eine kurze, heftige Wirkung, dann verglühte sie im
Verkaufssystem. Die Zeitung stellte nun die Frage, was
denn seitdem jemals wieder eine solche Irritation erreicht
habe. Die fatalistische Generation »Grunge« (Schmuddel)
vielleicht? In dem Artikel ging es schließlich um »Hard­
core« und das damit verbundene Leben, das radikal korrekt, nüchtern im Wortsinne und dadurch mit klarer Kante
geführt werden sollte. Das wolle wohl schon der Name.
207
Frei von sündigem Rock ’n’ Roll – sofern es geht. Gegen
Dekadenz und Nachlässigkeit, möglichst clean gegen
jedes dreckige Mitmachen. Kein Fleisch. Keine Drogen.
Nein heißt Nein. Hart sein. Wilde Konzerte. Wilde Optik. Schweiß, der nicht nach Schweiß schwitzt. Unblutig.
Aber heiß und physisch voll da für den »Hardcore«. Die
Zeitung kam zu dem Schluss, dass »Hardcore« unbedingt
jugendlich sein müsse. Und dass die früheren Protagonisten heute im besten Fall besonnene, sich in Biomärkten
gut auskennende Erziehungsberechtigte seien. Die allerglaubwürdigsten unter ihnen würden dabei am besten gar
nichts über die Dinge erzählen, die ihre »Hardcore«-Historie betreffen, weil das schwelgerisch wäre. Irgendwann
sei ihr Ansatz eben ausgeschwärmt. Nun seien sie wieder
zu Hause und würden immerhin etwas in sich tragen, was
ihr Leben einmal »komplett verändert« habe. So ähnlich
hat das die Zeitung erklärt.
Tommi stellte sich vor, wie die hier gemeinten, überzeugten Veganer heute ihren »straight edge«-erzogenen
Sprösslingen auf dem Weihnachtsmarkt der einstigen
»Hardcore«-Hochburg Washington D. C. einen Bratwurst-Kauf moralisch begründet verweigern würden.
Schwierig. Wie lässt sich zurückkehren an die Orte, die
ihre Wirkung aufgegeben haben?
Letzten Sommer ist Tommi selbst mal wieder eine Weile
zurückgekehrt. Nach Bimmelsdorf. Dort besuchte er eines
der vielen Buschfeste, die in der ländlichen Region um die
Seebäder Bimmelsdorf, Scharbe und Haffke herum recht
beliebt sind. Eigentlich eine Veranstaltung, die in seiner
Erinnerung immer so etwas wie giftiger Boden war, also zu
208
jenen Ereignissen zählte, die als super-toxisch-obergefährlich einzustufen waren. Weil Menschen wie Tommi dort
gehörig auf die Zwölf bekamen, wegen super-ober-unerwünscht. Tatsächlich passierte dann erst mal gar nichts.
Im Gegenteil. Der Empfang schien nicht unherzlich. Was
war anders? Schützte ihn sein gegenwärtig beruhigtes Gesicht, sein gedecktes Gewand oder seine Haltung, die so
unaufgezogen wirkte, dass sie wahrscheinlich nicht einmal
mehr bei echtem Alarm angreifen oder weglaufen würde –
oder auch nicht wirklich könnte? Er schien unter irgendeinem unsichtbaren Protektorat zu stehen, und deshalb
erlaubte er sich sogleich die ungewohnt angstfreie Zuführung mehrerer U-Boote am Stand der Freiwilligen Feuerwehr. Hierbei wird ein 4-cl-Doppelkornglas in einem
0,5-Liter-Bierkrug versenkt. Solche U- Boote sind auf den
Buschfesten der Renner.
Tommi erkämpfte sich so etwas wie eine kleine Zugehörigkeit. Die Gespräche waren unterhaltsam. Schön direkt
und gar nicht unfreundlich. War das jetzt die berühmte
Altersmilde, auf die er schon länger – und trotz aller damit
einhergehenden Ermüdungsschmerzen – ein klein wenig
neugierig war? Bevor er abschließend darüber nachdenken konnte, rückten sich die Verhältnisse wieder zurecht.
Einer der Feiernden hatte Tommi erkannt. »Aus geilen,
alten, voll fertigen Zeiten«, wie er sich ausdrückte. Er fand
es einerseits zwar – und durchaus noch positiv gemeint –
»so richtig schwul«, dass »wir beiden Spasten noch mal
gemeinsam an einem Tresen saufen« würden, ließ in der
weiteren Entwicklung des Abends aber keinen Zweifel daran, dass »Horsti, Tommi oder scheißegal, wie du dich jetzt
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nennst«, für ihn weiterhin einfach kein »ernstzunehmendes, vollwertiges Mitglied der Gesellschaft« sein könne,
»mit deinen Radikalinski-Ansichten«. Tommi werde für
ihn immer eine Art »Vormensch« bleiben, möge er sich
noch so sehr »aufplustern« mit seinem »Wichtigtuergequatsche« und seinem »weltfremden Gutmenschentum«,
in seinem »St. Pauli ist die einzige Möglichkeit-Getue«
und dem dazugehörenden, träumerischen »linken Zeckenverständnis«. Denn »Kaulquappe bleibt nun mal Kaulquappe. Prost, du Arschloch.« Diese ehrliche Bewertung
wurde dabei – ganz anders als früher – völlig unaggressiv
ausgesprochen. Es folgte auch kein drohender Zusatz, der
in der Vergangenheit zum Standard gehört hatte. Trotzdem. Als wäre kein Tag vergangen. Die gleichen Ressentiments. Dieselben empfohlenen Maßnahmen. Keine
pauschale Intoleranz, aber deutliche Nichtbereitschaft für
jedwede Öffnung.
Ewig Gestrige, dachte Tommi als er sein Glas noch einmal anstieß. Bloß keine Ruhestörung durch andere. Ganz
egal, ob damit die Faulen, die Unordentlichen oder die
Andersgläubigen gemeint sind. Wir sind das Volk. Und
das sind wir nur dann, wenn wir unter uns bleiben. Beim
späteren Bezahlen gab die herzhafte Dame hinter dem
Tresen Tommi das Wechselgeld mit den Worten zurück:
»Ihr Trinkgeld heben Sie sich mal für schlechtere Zeiten
auf, junger Mann.«
In den nächsten Tagen war das alles betäubende Bimmelsdorfer Bleigefühl wieder voll da. Wie ein Tinitus.
Tommi empfand stumpfe Wut. Mit seinem alten Freund
Morten, einem der wenigen unverdrossenen Dagebliebe210
nen, spann er den Plan, am Abschlussabend des Buschfestes möglichst viele Kaulquappen, die zuhauf im moorigen Süßwassersee landeinwärts vorkamen, in Jacken und
Handtaschen der Festbesucher zu platzieren. Zusätzlich
wollten sie die ganze Szenerie verräuchern, um zu zeigen,
wie einnebelnd sie alle wirkten. Mit einem Autoreifenbrand wäre das leicht zu machen. Doch noch während sie
den Plan ausheckten und präzisierten, schwand die Lust
an der Ausführung. Obwohl Tommi keineswegs ein abgemildertes Verständnis für die erlebte Rhetorik aufbrachte, kam ihm die angedachte Maßnahme irgendwie platt
und müde vor. Morten empfand ähnlich. Bevor sie sich
trennten, ohne ihre Pläne zu Ende besprochen zu haben,
sagte Morten nachdenklich, irgendwie feierlich zu Tommi:
»Es stimmt schon, was ihr da in einem eurer Songs behauptet: Die Bullen kann man auch nicht mehr so hassen
wie früher. Das liegt aber nicht daran, dass die oder wir
besser oder schlechter geworden sind.« Dann trat Morten
plötzlich ganz nah an Tommi heran, nahm seine Hand und
drückte ein zusammengeknülltes Papier hinein. »Hier, lies
doch mal. Du bist doch so ein Textmensch. Aber bitte erst,
wenn du wieder in der Stadt bist.« So hielt Tommi es. Auf
Mortens Zettel war ein kurzes Gedicht geschrieben.
Die Menschen / Die Menschen, die sich beneiden
Die Menschen / Die Menschen, die sich angreifen
Die Menschen / Die Menschen, die sich verletzen
Die Menschen / Die Menschen, die sich nicht aushalten
Die Menschen, die sich überall und ständig anfassen
Ohne sich dabei zu berühren
211
Bekloppte wollen Bekloppte
Tommi hat das Gedicht richtig bewegt. Vor allem, weil
der meist sehr verschlossene Morten es geschrieben und
es ihm so schüchtern zugesteckt hatte. Auf dem kleinen
Zettel. Noch am selben Abend haben die beiden länger
telefoniert, was wirklich nur ganz selten vorkam, denn
Telefonieren war nicht ihre Stärke. Beide werden immer
nervös dabei. Diesmal ging es aber ganz gut. Anfangs.
Nachdem Tommi Morten gesagt hatte, dass ihm sein Gedicht gefallen habe, drehte dieser richtig auf. Seine folgende, atemlos vorgetragene Schimpftirade brüllte er so heftig
ins Telefon, dass Tommi den Hörer ein Stück vom Ohr
weghalten musste. Nichts anderes als ein Tötungsversuch
sei das Miteinander der Menschen aus seiner Sicht, schrie
Morten. Ein nicht offen ausgeführter obendrein. Wenn
diese ganzen Kriegswilligen wenigstens zugeben würden,
dass sie sich in einer Tour aufs Brutalste angehen. Denn
213
genau diese Unfähigkeit zum Eingeständnis sei der Grund
für eine alles betäubende Waberwelt, in die man sich deshalb nur noch hineinsumpfen lassen könne, weil es nichts
mehr zum Greifen darin gäbe. Ihm, Morten, sei das schon
lange klar, und er habe sich deshalb schon vor Jahrzehnten
angewöhnt, als ein Gespenst, als ein Avatar seiner selbst
durch die Welt zu laufen. Und so ein Dasein als Scheinfigur würde ihm insofern helfen, als er nun mit einer guten
Distanz zum scheinbar salonfähigen Horror ausgestattet
sei. Das sei aber auch bitter nötig, um nicht vollständig in
einem Meer aus epischer Panik unterzugehen, wo nur noch
solche Meldungen und Meinungen durchgelassen würden,
die den höchsten Grad an Angst und Schrecken und eine
unaufhörliche Dauerkrisenzustandsbehauptung beinhalten
würden. Er sei somit geradezu dazu gezwungen, ein vollständiges Simulantendasein zu führen. Denn, so Morten
fest überzeugt, Simulation sei das Einzige, was wir heute
noch leben können. Der Rest, »Tommi, bitte glaube mir
das«, sei künstliches Eventspektakel für überteuertes Eintrittsgeld in einer genormten Scheinwelt, in der alles, was
es mal zu entdecken gab, längst verschwunden oder vor
aller Augen ersetzt worden ist, also auch das, was wir einmal waren oder glaubten gewesen zu sein. Auch sei die Abbildung der Wirklichkeit heute größer als die Wirklichkeit
selbst. Deshalb hätten wir uns freiwillig abgeschafft – überall. So ähnlich wie jene bedauernswerten Helferlein vor
den neuen Selfservice-Kassen im Supermarkt oder sonst
wo, die mit ihrer netten Kunden-Beratung ihren eigenen
Sarg erklären würden. Diese Abschaffungs-Einschätzung
gelte im Übrigen für alle Geheimnisse des Planeten. Auch,
214
weil er bereits vollständig durchleuchtet sei. Und als Mittel
gegen diese Universal-Auflösungen brauche er seine Gespenst-Existenz. Ihm jedenfalls gehe es ein Stück besser,
seit er sich als »Negativa Zero«, so sein selbstgewählter
Avatar-Name, durch das vollständig ausgetauschte Bimmelsdorf bewege. Weil er die dortigen Bürger, welche die
eigentlichen Zombies seien, dadurch ganz gut irritieren
könne, wenn er sich immer ein Stückchen seltsam, gespensterhaft geben würde.
Und dann erzählte Morten noch eine Anekdote, bei der
er sich nahezu sicher war, dass der Künstler Salvador Dalí
sie so oder so ähnlich aus seiner eigenen Jugendzeit berichtet haben könnte. Und zwar sei schon der junge Dalí
auf den Trichter gekommen, dass man seine Umgebung
irritieren müsse, um am Ende in Ruhe gelassen zu werden.
Deshalb testete er schon als Kind allerlei Verstörungen aus.
Einmal soll er dabei – so Mortens Überlieferung – in Anwesenheit seiner halben Familie absichtlich eine Kellertreppe heruntergestürzt sein, um sich öffentlich zu verletzen.
Ein anderes Mal habe er seinen Kopf auf dem Hausdach
seiner Eltern in einen vollen Eimer mit Wasser getaucht
und dann von dem Dach herab immer wieder laut gerufen,
dass er für den Rest seines Lebens ein Negativ-­U-Boot
bleiben würde. Nach dieser Beschreibung, die Morten fast
kreischend vorgetragen hatte, begann er zu lachen wie ein
kleines Kind, und Tommi glaubte durch das Telefon hören
zu können, dass er dabei gleichzeitig schluchzte. Vielleicht,
weil er sich dem bereits verstorbenen Dalí in diesem Moment so nah fühlte.
Immerhin schien Morten mit seiner Parallelwelt-­
215
Methode etwas wirklich Funktionierendes für sich gefunden zu haben. Nur gab es bis jetzt noch keine Partner für
seine Fluchtumgebung. Überhaupt schien er alles ganz
allein zu machen, da oben in Bimmelsdorf. Die einzige
wirkliche Bezugsperson sei seine Psychotherapeutin, so
Morten. Und dann erzählte er, wieder etwas zur Ruhe gekommen, dass er seit langem schon keine feste Freundin
mehr habe. Dafür aber eine ganze Menge Damen – wenn
auch »nur in aller Kürze wahrgenommen«. Diese seien ihm
natürlich nicht in der normalen Öffentlichkeit begegnet.
Stattdessen hätte er sich, weil er nun mal sehr gut beobachten könne, ein ganz einfaches Naturgesetz zunutze gemacht.
»Wo finden sich Menschen ein, die mit Gestörten wie mir
eine Schnittmenge bilden?«, fragte er Tommi. Der hatte
keine Idee. Die Antwort sei ganz einfach, sagte Morten.
»Bekloppte wollen Bekloppte.« Es stellte sich heraus, dass
er seiner Beute vor einer Psychologischen Gemeinschaftspraxis auflauerte, die sich in der nahe gelegenen Kreisstadt
Eute befand. Denn, so der findige Liebeswerber weiter,
man brauche an diesem außergewöhnlichen Ort überhaupt
keine langen Bezirzereien aufzuführen, weil jene Damen
ohnehin total geöffnet seien, wenn sie da von der Couch
kämen. Er brauche sie nur noch auf einen Getreidekaffee
einzuladen, um mit ihnen weiterzureden – sozusagen. Dann
fügte Morten noch an, dass er bei erfolgreichen Tête-àTêtes auf keinen Fall weiterführend insistieren würde, was
ihm eisernes Gebot sei, weil – und das sähen die meisten
seiner Psychoeroberungen im Übrigen genauso – man
zwar mit gesunden Körpern spielen dürfe, aber niemals
mit kaputten Köpfen.
216
Auf jeden Fall würde – und nur wegen der Psychotherapiesache – wenigstens das mit dem anderen Geschlecht
ganz gut bei ihm laufen. Ansonsten ginge rein gar nichts.
Vielmehr sei er nach seiner Selbsteinschätzung menschlich, politisch und empathisch ein reines Nullwesen. Früher sei das anders gewesen. Morten erinnerte daran, wie
sie gemeinsam die »Chamäleon-Taktik« angewandt hatten. Im Tennisclub. Immer wenn der Platzwart kam und
sah, dass sie nicht das geforderte Weiß trugen, konnten sie
ihre Kleidung einfach umdrehen, weil sie darauf geachtet
hatten, dass die Innenfutter ihrer Sachen mindestens hell
waren. Da war auch der »Shizzo-Suit«, ein zusammengenähtes Halb-und-halb-Outfit, bei dem man auf der einen
Seite spießige Frisur, schickes Schuhwerk und feine Anzugteile trug, auf der anderen Seite zerrissene Jacke und
Hose, kaputte Springerstiefel und mit Seife aufgestellte
Haarspikes. Ein Wahnsinn sei das alles gewesen.
Tommi spürte, dass ihn das Gespräch zunehmend deprimierte, und er erfand eine Ausrede, um möglichst schnell
auflegen zu können. Er versprach aber, bald wieder mal
rumzukommen in Bimmelsdorf um Morten in seinem
selbst gewählten Eskapismus aufzusuchen. »Ja, ja, ist gut«,
hatte Morten geantwortet, und Tommi bekam für den
restlichen Abend ein schlechtes Gewissen, weil er beim
Zuhören so wenig Geduld aufgebracht hatte. Und dann
beschlich ihn ein Gedanke, der ihn ganz lange nicht mehr
losließ, nämlich dass er ein ganz kalter Fisch sei.
Dieses Kaltfischgefühl hielt mehrere Monate an, so dass
er davon richtige Schlafstörungen bekam. Immer wenn
Tommi ein Problem hatte, das sich nicht recht auflösen
217
wollte, dann konnte er irgendwann überhaupt nicht mehr
schlafen. Am schlimmsten waren dabei diejenigen Sorgen,
die ihn mit Schuldgefühlen quälten. Er schob das auf sein
gestörtes Urvertrauen, also darauf, dass er tief in seinem
Inneren leicht zu verunsichern war. Und dann lag er da,
nachts, und grübelte und stellte sich vor, wie leicht es war,
Menschen mit der Schlaffolter zu Leibe zu rücken. Man
musste nur ordentlich an ihr Schuldempfinden appellieren.
Dieser Gedanke blieb in ihm hängen, allein, weil ihm dadurch umso mehr auffiel, mit welchen Bergen von Schuld
er beladen war.
Gag-Depressionen (oder das end­gültige
Abdanken von Katenschinkenhaxen
mit umhertanzenden
Orchestersaxofonen)
»Das kannst auch du«, hieß eine frühe, unabhängige Plattenfirma. Derartige Spitzenslogans sind bis heute geltendes
Programm für Tommi. Beständig versucht er, sich daran zu
erinnern und, soweit es möglich ist, danach zu leben und
handeln. Nur: Wie lässt sich ein originelles Vorgehen attraktiv halten? Immer deutlicher musste er feststellen, dass
ein ständiges frischhalten wollen die größte Plage bedeuten
kann.
Tommi erinnerte sich an die Treffen mit Doktor Onkel,
bei denen sie sich gegenseitig die Bälle zugeworfen hatten:
sich übertrumpften, berauscht in Erfindungsreichtum. In
Doktor Onkels kleiner Wohnung. Nie ging es dabei um
hochdotierte Aufträge. Nur um feine Störungen. Das Ju219
beln über die Pointen war Teil des Vorgangs. Gags. Jokes.
Witzes: Plattes Zeugs gemischt mit gesellschaftsbeleidigenden Diskursmaterialien im Lustigsein. Völlige Ermattung, wenn es vorbei war. Gag-Depressionen nannten
Doktor Onkel und Tommi diesen abstürzenden, schalen
Moment nach dem Abgehen und dem Abatmen über die
kurzzeitige Befreiung wegen eines augenscheinlich gelungenen Wörterangriffs. Sich vor Lachen in die Flaute biegen. Wo und wie das Erfundene an die Öffentlichkeit kam,
stand an zweiter Stelle. Das Schönste war die Zeugung
selbst. Bis die Gag-Depression erbarmungslos einsetzte.
Wie eine Würgeschlage. Und sie würgte immer schneller.
Doktor Onkel sagt dazu: »Jede Zeit hat ihre Art zu trinken.
Wenn sie immer nur denselben Schnaps bestellt, wird sie
irgendwann nicht mehr besoffen davon.«
Getrunken wurde erst mal viel. Unterschiedliche Autoren aus dem Umfeld des Clubs mit dem besonderen
Tier produzierten über die Jahre massenhafte, meist heftig überzeichnete Selbstbeschreibungen. Für Tourneeankündigungen, Schallplattentexte, Veranstaltungsplakate,
Theater- und Filmvorschauen. Auch viele politische Statements waren dabei. Das meiste wurde eher indirekt über
Bande gespielt. Für lange Zeit war das sehr befreiend. Auch
über das rein text- und bildsprachliche Behaupten hinaus
entstand eine große Palette. Dabei ließ sich allerlei hochexperimentelles Programm nicht nur für den Club gestalten. Es konnten Musikclips produziert, irgendwann sogar
Fernsehformate ausprobiert werden. Tommi, Doktor Onkel und verwandt Werkelnde wilderten in allen Formaten.
Dadaistische Episodenvideospots, pseudoreale Waffendo220
kumentationen, Kunst-Sex-Performances mit schwitzenden Katenschinkenhaxen und um sie herumtanzenden Orchestersaxofonen. Sie protestierten als Bauhelm-tragende
Investorenfiguren gegen Stadtteilausverkäufe in alternativen Gegenden – einen später als Gentrifizierung berüchtigt
gewordenen Vorgang. Es entstanden melancholische Persiflagen auf Radioquoten, aufgenommen auf den höchsten
Gipfeln der Alpen; sie debütierten als Flat­rate-saufende
Moderatoren und TV-Pioniere in nächtlichen, acht Stunden währenden Dauerfernsehstrecken; es entstanden
konträre, teils theorielastige Diskurs-Kongresse und Verschnitte von großangelegten falschen Tanzgala­abenden an
richtigen Schauspielhäusern mit nervig gemeinten, riesigen
Hüpfburg-Schaumpartyseifenblasen.
Je mehr sich verwirklichen ließ, je größer die Auswirkungen – desto kräftiger muffelte die eigene Methode. Tommi
kam sich zunehmend vor, als würde er den Kapitalismus
bekämpfen und im selben Moment einen fetzigen Reklamesong für die begleitende Werbekampagne erfinden. Zu
vieles landete zu gewollt unten und oben gleichzeitig. Auch
hatte sich eine Überverwertung eingeschlichen.
Und andere klauten bereits wie die Raben. Plakative
Überschriften zu Konzertreisen seiner und befreundeter
Bands gegen die Pogrome der frühen 90er fanden sich
als hippe T-Shirt-Sprüche in beachtlicher Auflage an
Meinungsträgerbrüsten wieder. Pop und Politik? Underground gleich Museum? Protest und Produkt? Markentauglich. Allgegenwärtig. Wadenbeintotenköpfig. Hooliganturnschuhkultmarkig. Coole schwarze Fahne, weiße
Islamischer-Staat-Schrift.
221
Tommi ist nicht stolz auf seinen Bühnenknaller »Stalin, das brutalste Musical aller Zeiten«, oder seine RAFFashion-Tanzeinlage aus einem Stück, das sich mit neoliberalen Weltmarkenketten auseinandergesetzt hatte.
Eine Zeitlang empfand er die eigene, überdrehte Schreibe wie ein verpflichtendes Markenzeichen. Das begann
nun zu schmerzen. Auch Doktor Onkel, der hierbei immer
sehr konsequent mit ausgewalzt hatte, bemerkte natürlich
nach allem weiteren, noch so spaßig Hingehauenen vermehrt die Tücken der immer heftiger anklopfenden GagDepressionen. Neulich sagte er ganz öffentlich, als er ein
neues, anscheinend extra nicht so lustiges Buchwerk herausbrachte, dass es für ihn eine Freiheit bedeutet habe,
einmal geradezu traurig geschrieben zu haben, ohne der
schrecklichen, selbstauferlegten Bedingung zur Originalitätsverpflichtung gefolgt zu sein. Tommi geht es genauso.
Beziehungsweise, so ganz klar sieht er mal wieder nicht
durch. Typisch. Immer im Schwanken. Immer im Selbstwiderspruch. Dabei wünscht er sich nichts sehnlicher als
Festigkeit bei so vielem. Weil er hofft, dass er dann ein
kleines bisschen weniger angestrengt wäre. Anstrengung
setzt zwar immer etwas in Bewegung, aber sie krampft und
erschöpft auch. Kann traurig machen. Und traurig, das war
und ist er so oft. Auch gerade da, wo es andere nicht sind.
Das macht dann besonders einsam.
222
Auf die From-Germany-Art
Manchmal war es wirklich kaum auszuhalten. Nicht, dass
Tommi in die klassischen, großen Löcher fiel, tagelang das
Telefon nicht abnehmen konnte. Er kam ja klar, alltäglich,
irgendwie. Leute. Projekte. Flüssigkeiten. Trotzdem, es
schwebte weiter eine Wolkendecke mit grauen Gewichten
über ihm, die sein Dasein düster beschwerte. Nur wenige
Morgen erwachte er in Leichtigkeit. An seinem eigenen
Geburtstag empfand er zuallererst eines: Nichtdazugehörigkeit. Früher wie heute.
Besser ging es, wenn Tommi keine Zeit hatte. Einfach
losschaffen, bis Interessen aufblitzten, bis bei jemand anderem auch etwas zu flackern begann. Nur bringt Ablenkung
als Medizin keine Heilung auf Dauer. Ständig nur schnell
weglaufen vor der schmerzhaften Beschäftigung mit dem
Selbst, das konnte keine Lösung mit Aussicht sein. Aber
welches wäre eigentlich ein anderes, ein besseres Leben
223
für ihn? Und welche Angst machte ihn eigentlich immer
noch so ängstlich? War diese Angst überhaupt seine eigene? Tommi überlegte, ob das fremde Geister waren, die
ihn plagten, solche, die er überhaupt nicht kannte. Andere
Geister als jene, die er schon ganz früh als Gegner ausgemacht hatte: die Artigen oder die Engstirnigen.
Nach und nach wurde ihm klar, dass es nicht ausreichen würde, permanent und kämpferisch seine äußere,
unerschrockene Unabhängigkeit zu behaupten. Auf dem
Papier war er selbstbestimmt. Und trotzdem lebte er in
Gefangenschaft. Er würde mehr im eigenen Haus wühlen
müssen. Ernsthaft hinabsteigen. Aufmachen. Hinschauen.
Die Kühltruhe öffnen.
Tommi begann also mit dem, was man wohl macht, wenn
man die Schrecken verjagen will, die nicht verschwinden
wollen, obwohl man eigentlich gehofft hatte, sie schon
überwunden zu haben. In seiner grenzenlosen Skepsis
den üblichen Methoden gegenüber startete er hierbei allerdings keine normale Wurzelforschung.
Er wollte es auf die »From-Germany-Art« machen.
Diesen Begriff behauptete er Kitty gegenüber, als er ihr in
einer recht unsicher vorgetragenen, regelrechten Beichte
eröffnete, dass er an einem Punkt angekommen war, an
dem er wohl Hilfe benötige bei seinem Kampf gegen die
eigenen Plagen. Weil die nicht freiwillig abzögen. Kitty reagierte nüchtern: »Ab zum Seelenklempner«, sagte sie wenig einfühlsam, »denn eines steht fest: Wenn einer da hingehört, dann du, from Germany.« Die letzten Worte fügte
sie noch kühler, fast spöttisch an. »Wenn du dir irgendwann einmal selbst die Hand schütteln möchtest, Tommi,
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egal ob mit großem oder mit kleinem i, dann musst du dir
die Mühe machen, nachzuschauen, welcher Typ überhaupt
hinten dranklebt an dieser Hand.« Das saß. War aber noch
nicht alles. Ausschweifend begann sie darüber zu dozieren,
dass sie wirklich nur wenige Menschen kannte, die so heftig ihre Spezialidentität behaupteten. Die in ausnahmsloser
und ständiger, am Ende aber sinnloser Überwindungsanstrengung ein kreisrundes Umweggehen betrieben. Als
sie dann noch ungefragt analysierte, dass sie Tommi wirklich total gernhabe, seinen Narzissmus aber als dermaßen
unreflektiert empfinde wie bei sonst niemandem, reichte es
ihm. »Einen Scheiß gehe ich zum Psychiater«, polterte es
aus ihm heraus, »das schaffe ich allein. Ich weiß schließlich
genau, woran das alles bei mir liegt.«
Er konnte aber nicht mehr verhindern, dass Kitty ihn
empfindlich getroffen hatte. Weil sie recht hatte? Nur
aus reiner Notwehr heraus behauptete er noch einen sehr
baldigen Start seiner Eigentherapie, mit der er sich ohne
weiteres selbst kurieren werde. Aber das wirkte längst nur
noch lahm. Kitty hat dann nicht weiter nachgefragt. Auch
weil sie merkte, dass sich Tommi sonst noch tiefer reinreißen würde. Tatsächlich hat er sich dann recht intensiv mit
seinen inneren Mustern beschäftigt. Sich Fragen gestellt:
Welche Schlacht schlage ich? Wen oder was treffe ich,
wenn ich schlage? Welche Existenz mit welcher Angst lebe
ich? Weder arm. Noch frierend. Noch hungernd. Noch
tatenlos. Was haben die familiären Toten weitergegeben?
Wurden sie zu meinen Verletzungsreflexen?
Tommi entdeckte, dass auch seine Ahnengalerie schon
in große Unruhe getaucht war. Krankheit. Selbstmord.
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Unfall. Krieg. Vertreibung. Vereinzelung. Niemand hatte
jemals jemanden in den Arm genommen. Kein Wunder
also?
Ein Bekannter steckte ihm, dass es für ihn sinnvoll sein
könnte, zu einer Familienaufstellung zu gehen, um sich
seiner negativen Vergangenheit zu entledigen. Er fand die
Idee erst mal ganz gut, reagierte dann aber doch lieber
mit der »From-Germany-Art«. Tommi erfand seine eigene Methode, der er später einen potenten Titel verlieh:
die »Adenauer-Therapie«. Den Namen zog er aus einem
Theaterstück, bei dem es im Zentrum des Konzeptes stand,
über einen Fragebogen herauszufinden, wie man angstauslösende Menschenbegegnungen kenntlich machen kann.
Die halbe Probezeit über beschäftigte er seine gesamte
Projektgruppe mit einem 100 Punkte starken Fragewerk
und filterte daraus eventuelle Schnittmengen für Figurenmerkmale heraus. Leider fiel das Ergebnis der Schreckensbilder recht banal aus: Hitler. Vater. Schulhofschläger.
Konrad Adenauer. Großer Bruder. Russen. Fremde. Big
Brother. Spinnen. Kosovo-Albaner. Nazis. Flüchtlinge.
Flugzeuge. Manager. Dramaturgen. Mama. Assis. Viel
mehr kam nicht. Einzig die Figur Konrad Adenauer stach
heraus. Fand Tommi jedenfalls. Das war ein Vertreter, den
er als interessantes Symbol anerkannte. In ihm schien – zumindest oberflächlich – ganz viel reingemischt von der Art,
die er von bestimmten Lehrern, Stiefvater Uns Manni und
Kollegen oder dem Landwirt aus seiner Kriegsdienstverweigerungsprüfung her kannte. Nicht wirklich politisch
gemeint, passte die Figur Konrad Adenauer für Tommi als,
wie er es nannte, autoritäre Silhouette, als eine Art Tem226
peraturangabe dafür. Es war Adenauers übergroß gezogene Aura, die Tommi in seinen prägenden Jahren immer
wieder, manchmal nur diffus, begegnet war, wenn es um
unumstößliche Macht gegangen war. Aus jenem krude
destillierten Adenauer-Bild schraubte er sich also seine
»From-Germany«-Therapie. Die Anwendung war simpel,
und er nutzt sie bis heute: Immer, wenn er in eine Situation gerät, die ihn zu verkleinern versucht – das können
grobe Menschen oder dumme Grenzen sein –, schließt er
die Augen, hebt theatral die Arme und beginnt sehr laut
zu klagen: »Konrad Adenauer, du kannst mir nichts mehr
anhaben.« Das klappt bisweilen sehr gut. Mindestens
20 Prozent Gelassenheit verdankt er dem Altkanzler aus
dem Rheinland, sagt er, wenn er auf sein momentan leicht
verbessertes Lebensvertrauen zu sprechen kommt.
Manchmal kehrt sich seine Methode aber auch ins Gegenteil. Wird zwanghaft. Und dann kommt er sich selbst
ganz enggedanklich vor.
An dieser Stelle tritt bei Tommi ein weiterer Notfallplan
in Kraft. Ein vor langer Zeit angelernter Automatismus,
den er das »Preußen-Pferdchen« nennt. Dieses begegnete
ihm – und das war wirklich so –, nachdem ihm das erste
Mal der Begriff »tabellarischer Lebenslauf« zu Gehör
gekommen war. Das war auf der Berufsschule, während
seiner Kfz-Mechaniker-Ausbildung. In jener Institution
wurde geübt, wie man das zentrale Dokument, den tabellarischen Lebenslauf, ordentlich erstellt. Und Tommi hört
es noch wie heute, als ein höhergestellter Ausbilder der Industrie- und Handelskammer dröhnte, alle Lehrlinge würden im letzten halben Jahr ihrer Ausbildung immer und
227
immer wieder das genormte Biografie-Schreiben üben und
nochmals üben. Weil es das A und O einer jeden Bewerbung sei. Und in genau dem Moment, direkt nachdem der
Ausbilder mit Hilfe seines sperrigen Beamtendeutsches
über die Wichtigkeit des biografischen Formulars referiert
hatte, sprang in Tommis Kopf ein lautes Wieher-Geräusch
an, von einem Ohr zum anderen. Wie von einem echten
Pferd ausgestoßen. Und jenes laute Wiehern wiederholte
sich von da an immer wieder bei vergleichbaren Situationen und Ausdrücken. Mit der Zeit freundete Tommi sich
mit dem schrägen Kopfwiehern an. Er empfand es als coole Antireaktion seiner selbst, als biochemischen Schutz-­
Reflex auf krank machende Einengungsbegriffe. Nur wieherte es leider viel zu oft in seinem Kopf. Bald schon lastete
das Geräusch auf allen möglichen Ausdrücken. Bereits bei
den vergleichsweise harmlosen Worten Ampel, Umsatzsteuervoranmeldung oder Biosupermarkt klang ein lautes
Pferdekreischen durch sein Oberstübchen.
So entstand durch die Adenauer-Therapie und ihren
Notfallplan, die ursprünglich als befreiend angedacht waren, eine Art Zwang gegen den Zwang, von dem Tommi
immer wieder eingeholt wird. Er fürchtet sich stark vor
seinen eigenen Methoden.
228
Wie geht richtiger Krieg?
Die echten Adenauers, wie Tommi sie nennt, sind ansonsten ein wenig ausgestorben. Alle aber nicht.
Bayreuther Festspielhaus. Tommi sitzt in der Premiere
eines Freundes. Parzival. Neben ihm nimmt ein älterer
Herr Platz. Dieselbe geklärte Haltung. Derselbe Geruch.
Komplett in Uniform, im Theater! Freundlich grüßend vor
Stückbeginn. Nach der Aufführung – in Anwesenheit von
Frau Dr. Merkel und Herrn Dr. Stoiber – wütendes Geheule, keifendes Buhen, engagiertes Hassen. Viele unterstützen
den Uniformierten bei seiner bellenden Ablehnung. Jeder
von denen hätte Tommis Freund, dem Regisseur, diesem
anmaßenden Wurm, in jenem Moment den Hals umdrehen, ihn wegmachen, ihn für immer verbieten wollen. Was
sind das für wilde Emotionen, die trotz jeglichen Mangels
an Phantasie offensichtlich dennoch möglich sind?
»Ich könnte dir mit der Hand durchs Gesicht fahren«,
229
schmetterte Uns Manni als Geistertrompete durch das
situierte Bayreuther Opernhaus in das Horn des aufgebrachten Chores der schäumenden Wagnerianer. Auch
meinte man, schon die neuen, alten Patrioten hören zu
können, die Jahre später massenhaft vor der Semperoper
blöken sollten. Immerhin, einige der Attacken bröckeln.
Manch Schnauben ist nicht mehr so konkret, nicht mehr
so sauber Feindbild-gerichtet. Außer natürlich bei denen,
die auch die kleinste Veränderung sofort als etwas aus der
Art Geschlagenes empfinden, in ihrer dumpfen Tümelei
allem Fremden gegenüber.
Wird die Jugend von heute mehr in Ruhe gelassen, weil
die harten Knochen von damals zurückrudern müssen?
Sind die Grenzen des Wachstums die Chancen des Nachwuchses?
Oder, noch schlimmer, etwa umgekehrt? Steht ein Krieg
bevor? Weil die jetzige Generation Y-Z endlich auch mal
eine authentische Knute spüren will? Nach wirklichen,
echten Grenzerfahrungen lechzt? Weil alles andere zu
komplex ist? Mit zu vielen, nicht mehr durchschaubaren
Wahrheiten? Braucht es simplere Behauptungen als grobe,
aber wirkungsvollere Medizin? Die Populisten reiben sich
die Hände, wenn der Mensch zum ängstlichen Krokodil
wird. Dieses kennt nur Angriff, Flucht oder Erstarrung.
Demokratie ist ihm zu anstrengend und zu unübersichtlich.
Ein Kunststudent sagte unlängst zu Tommi nach dem
Konzert seiner Band, er wüsste schon mal ganz gern, »wie
sich das so anfühlt, ein richtiger Krieg«. Die ewigen, krassen Filmchen darüber langweilten ihn jedenfalls auf Dauer.
230
Gestörte Jugend Bad Sartau
Immer mehr Veranstaltungen in Museen oder an Hochschulen tragen ein »No«, ein »Sub« oder ein »Anti« im
Programmnamen. Dorthin lädt man gern Leute ein, deren
lebendiger Vergangenheit man lauschen kann. Wenn es
gut läuft, erzählen sie Geschichten. Wie die von den Aktionen der »Swing-Jugend«, die im Dritten Reich ständig vor
den Häschern der Nazi-Diktatur auf der Flucht war. Vornehmlich vor der Hitler Jugend, die ihnen vorwarf, »entartete Neger-Musik« zu hören, also verbotenen, nicht-arischen Stoff. Einige der immer picobello undeutsch, weil
fein anglophil gekleideten Swing-Jugendlichen stellten
nachts Grammofone hoch oben auf den Kirchtürmen der
Hamburger Innenstadt auf. Jeweils eine »Hotbox«, wie sie
ihre Schellack-Abspieler nannten, in eine Himmelsrichtung. Damit dudelten sie so laut es ging den von den Nazis
verhassten Swing-Jazz durch die Stadt. Ein anderes Mal
231
begrüßten sie mit großem Tamtam die Ankunft eines fiktiven Reichsstatistenführers am Hamburger Hauptbahnhof.
Solche und andere Ungehorsamkeiten zogen schwere
Repressionen und für einige sogar die Verschleppung ins
Konzentrationslager nach sich. Es war lebensgefährlich,
Swing Girl oder Swing Boy zu sein.
Nicht ganz so rigide Konsequenzen erntete eine ganz
kleine Gruppe während Tommis Jugendzeit aus der
Bimmelsdorfer Umgebung: Die »Gestörte Jugend Bad
Sartau« (G. J. B. Sau) widersetzte sich dort ordentlich. Sie
war ansässig in einem für seine Konfitürenherstellung
überregional bekannten Nachbarort von Bimmelsdorf, in
dem bis heute Früchte in Marmeladengläschen geformt
werden. Aber eben auch Jugendliche zu Paradepflänzchen genormt werden sollten. Mit nur einer einzigen
Aktion hat sich die G. J. B. Sau besonders verewigt. Auch
sie hatten Schwierigkeiten mit einem Lehrkörper, der in
ihrem Fall den Werk- und Kunstunterricht leitete und es
nicht lassen konnte, immer dann von entarteter Kunst zu
sprechen, wenn ihm nicht genehm war, was seine Schüler
und Schülerinnen so in seinen Schulstunden produzierten. Und wenn man ihn darauf hinwies, dass ein solcher
Begriff Nationalsozialisten-Sprech sei, blieb er trotzdem
bei diesem und anderen Ausdrücken. Offenbar hatte er es
nicht anders gelernt, und es sei ja nun wirklich nicht alles
schlecht gewesen, damals. Außerdem habe nicht jeder von
seinen Schülern »dahingeschmierte Auswuchs« gleich etwas mit Kunst zu tun. Die Ergebnisse sollten ruhig »etwas
Erkennbares« zeigen und nicht nur »Kraut und Rüben«.
Gerade in Zeiten von »zunehmender Flegelhaftigkeit«.
232
So wurde Kunst unterrichtet, die alles war, nur nicht unordentlich. Und wehe, wenn doch. Einige der betroffenen
Schüler, die auch G. J. B. Sau-Mitglieder waren, schafften
es, Bilder der berühmten Münchner Nazi-Ausstellung zur
entarteten Kunst ziemlich penibel auf sein Bad Sartauer
Reihenhaus zu sprühen, als der Lehrer in den Ferien war.
In Airbrushtechnik. Es gab einen großen Aufstand, und die
Wellen schlugen weit. Die Aktion von G. J. B. Sau wurde
dann aber verraten. Zwei von ihnen sind von der Schule
geflogen. Ihre Pseudonyme haben sie sofort danach abgelegt. Das taten viele nach ihren wilden Jahren.
Tommi nennt sich heute zwar immer noch nicht wieder
Horsti, und er ist weit davon entfernt, sich so zu fühlen.
Dennoch, auch er empfindet etwas zurückgenommen. Wenn
er den Bimmelsdorfer Boden wieder betritt, zum Beispiel.
Älterwerden? Reife? Kollaboration? Oder ist das Gebiet
erträglicher geworden? Wahrscheinlich stimmt alles und
nichts davon. Auf jeden Fall gibt es Menschen und Dinge
dort, die ihm etwas bedeuten. Heute fühlt er sich oft wohl
in seiner Familie. Er sieht, wie die Verwandten genauso
kämpfen, schon lange gekämpft haben. Gegen dieselben
und noch andere Dämonen. Er erkennt den Willen zur Gemeinsamkeit. Den Wunsch zum Beieinandersein. Es lohnt,
mit ihnen zu streiten. Und zu feiern. Er genießt es, Teil zu
sein. Er begegnet seiner Mutter mit Freude. Liebt seinen
Bruder. Dessen Frau. Die Cousins und Cousinen. Und die
Tanten. Selbst manche der leichten Angebote, QuatschEvents wie »Aaltage« oder »Flammen im Meer«-Spektakel können ihn unterhalten – oder unendlich befremden.
In der Saison.
233
Und dann: das Meer. Es sind die Blickwinkel in der
Bucht, in deren Mitte Bimmelsdorf liegt. Das Licht, mit
dem Himmel, mit dem Wasser. Nichts hat mehr Sehnsucht
als die Welt an der See, zeigt mehr Größe, beweist mehr
Winzigkeiten. Weil die Natur dort besonders hoch über
den Menschen liegt.
Tommi fragt sich manchmal, welchen Weg die unterschiedlichen Leute aus der Szene um die Bimmelsdorfer
Clique hätten nehmen können, falls sie weitergemacht
hätten. Wie würde sich eine Gruppe wie die G. J. B. Sau
heute positionieren, wenn sie ihre Ansätze professionalisiert hätte? Einer von ihnen hat angeblich ein Buch mit
dem Titel »Unten wird über Identitätsprobleme nachgedacht und oben brennt der Hut« geschrieben. Es soll
ganz gut gegangen sein. Könnten Gruppen wie Killerwahl
oder die Zinksoldaten heute Stadien füllen, wenn sie konsequent ihrem Stil treu geblieben wären? Vielleicht hätten einige als Kunstgruppe fortbestehen können. Dann
würden sie jetzt teuer im Museum hängen. Und ein Auto
würde sie weiterempfehlen: Neulich in einem TV-Werbeclip sah Tommi from Germany einen bekannten Rennfahrer mit seinem brandneuen Serien-Mercedes durch die
Nacht einer aufregenden Großstadt brausen. Da er sich
nicht auskannte, übernahm das intelligente Fahrzeug die
Führung. Undergroundclubs, Off-Galerien und ArthouseKinos, das waren die heißen Ziele, die der Bordcomputer
der coolen Edelkarosse dem unkundigen Motorsportler
empfahl. Nachdem der sich dann für etwas entschieden
hatte, fand das mobile Statussymbol die ehemals rauen
Quartiere, in denen die supergeheimen Szene-Locations
234
gelegen waren, ohne Umwege. Früher hätte man ihm dort
die Scheiben eingeschlagen. Aber früher war eben auch
nicht alles besser.
»Def Leppard (leider)«
Daniel Richter, Ernst Kahl, Hardy Kayser, Schorsch Kamerun
(1989)
237
Hidden Track (Zugabe)
»Sexzwerg! Ich schwirre!«
(*12)
Drei Uhr in der Frühe
Ich bin der Pferdemann
Stoppt das Problem
Ist das das Leben, welches du leben willst?
Kläre deinen Verstand auf
Zebras überqueren die Straße
Ich sage: Kaufe Gefrierkost
Leg sie in den Kühlschrank
Dreh die Musik auf
Lauter!
Wir werden euch die Kontrolle verlieren lassen
Wir werden euch machen, wir werden euch machen
Du hast das Gefühl
Reite weiter! Reite weiter! Mach weiter!
Diese eine Nachricht geht raus an alle
239
Der Klang des Fährten-Angreifers
Hier kommt der Hühner-Terminator
Puppen / Bienen / Schattengrenze
Über dieses Mikrofon, ich bin der Lehrer
Und ich verbreite meine Worte wie ein Prediger
Komisch, dass dieses Gefühl mehr und mehr wächst
Ja, wir sind nicht die Affen
Aber wir haben den Schlüssel
Keiner ist besser als: ich
Ich sage Raver, Schwärmer, ihr mögt es rau!
Hardcore! Das ist der Klang!
Wir erschüttern die Nation immer noch!
Wir haben ein paar drastische Rhythmen!
Auf zur Front!
Sie sagte: Beweg dich!
Sind da irgendwelche Fragen?
Komm her! Ich bin verdammt! Mir ist heiß!
Du kannst meinen Rücken sehen
Weil ich laufe wie ein Schuss
Willst du es?
Brauchst du es?
Die Revolution
Wir haben es
Kannst du es spüren?
Sei kein Fremder!
Wir haben die Medizin!
Wir werden schneller! Und schneller.
Dieser Klang sollte die Nation verändern!
Wir haben jetzt damit begonnen, auf schweren Pferden
zu reiten
240
Psycho! Wickel es auf! Zieh es auf!
Ich bin der krasse Dichterling
Ich bin das Gesetz
Heili Geili, ihr Schweine!
Gemeinschaft, ich brauche dich
Hart wie die Hölle
Und da kommt die Pause
Da kommt der Bruch
Kaffee ist nicht meine Tasse Tee
Wicked ist eigentlich Böse
Schläge spielen verrückt in meinem Kopf
Werd niemals langsam
Wir machen weiter mit unserer Arbeit
Wir wollen keine Wiederholungen
Zieh dein T-Shirt aus und warte auf weitere
Anweisungen
Ich habe eine Nachricht für das nächste Jahrzehnt
Maximalen Respekt für die ganze europäische Truppe!
Es ist nett, wichtig zu sein, aber es ist wichtiger, nett zu
sein
Maria! Glaub mir! Ich mag es laut!
Die Feuerrakete. Das Blut. Die Höhle.
Elastisch. Zu plastisch
Ich danke Ihnen!
Wir lieben den glücklichen Hardcore!
Den glücklichen, harten Kern!
Wir verlieren die Kontrolle!
Lassen Sie uns in eine andere Dimension aufbrechen
Bevor sich der Erfolg manifestieren kann
Müssen Sie durch den Lernprozess gehen
241
Komm, komm! Lerne!
Bring mich hoch!
Jigga! Jigga!
Da gibt es nicht einen Zweifel!
Ich habe alle Damen ausführlich geprüft
Ich bin der lyrische Lockartikel
Wenn du rufst, werde ich da sein
Über den Katzengang kommt die Feuerwehr
Zieht sofort meine schwirrenden Schuhe an
Ich überwältige / Ich schwirre / Ich rave
Hyper! Hyper! Drüber! Drüber!
Es ist so schön, eure Hände in der Luft zu sehen!
Kommt her! Das ist ein Motorroller!
Kommt her! Das ist ein Scoooooooter!
Ich will dich zurück
Also mach die Teller sauber
Ganz nebenbei, was kostet der Fisch?
Ich brauche acht Tage keinen Schlaf
Acht Tage die Woche, brauch ich nicht zu schlafen
Acht Tage die Woche, brauch ich keinen Schlaf
Sitz da! Sei gut!
Wir machen uns nur warm
Verstehst du? Ich bin Eis!
Das ist die Befreiung. Das ist die Befreiung!
I will ficken! Fickt das Jahrtausend!
Macht euch fertig
Ein garantierter Notfall
242
Zurück zur Familie
Das Gotische existiert nicht mehr
Wir wollen einen großen Schrei an die USA singen
Und alle Schwirrer dieser Welt
Ich werde dich noch einmal fragen:
Magst du zum harten Kern dazugehören?
Ich will, dass so viele wie möglich auf die Bühne
kommen
Keine Fiktion mehr
Gehe zurück zur Realität
Keine Illusion, der Geist ist, was fühlt
Von Japan nach Brasilien nach Amerika
Lasst mich fragen, ob es einen besseren Weg gibt!
Wunderbares menschliches Sein
Ihr seid ja alle wahnsinnig!
Ruf mich nicht mehr an auf dem Telefon
Hart wie Stahl und gefährlich
Unendlicher Sommer
Jetzt bin ich bedeutend
Partymenschen!
Verwirrung überall!
Ihr könnt mich schlecht nennen
Ihr könnt mich falsch nennen
Wo in der Welt kann ich Verletzung verbergen?
Da ist eine Feier auf dem Platz
Erschüttere das Gewerbe!
Brennt das Haus nieder!
Ich brauche acht Tage keinen Schlaf
243
Acht Tage die Woche, brauch ich nicht zu schlafen
Acht Tage die Woche, brauch ich keinen Schlaf
Hey du Bombe. Bombe! Saure Säurebombe!
Sexzwerg
Ich halte es nicht mehr aus
Es ist wie im Zirkus
Ich will dein Gesicht schlagen
Von Liebe und Frieden sprechen
Du kommst echt in Situationen
Von denen du vorher noch nie ein Teil warst
Entscheide dich für eine brandneue Fahrt
Sexzwerg
Lieder und Gedichte
(*1) »Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens«
Schorsch Kamerun
Album: »Warum Ändern schlief« (1996)
(*2) »Diese Menschen sind halbwegs ehrlich«
Die Goldenen Zitronen
Album: »Das bisschen Totschlag« (1994)
(*3) »Angst und Bange am Stück«
Die Goldenen Zitronen
Album: »Schafott zum Fahrstuhl« (2001)
(*4) »Die Menschen aus Kiel«
Motion
Album »Ex Leben. Land / Meer« (1993)
245
(*5) »Einer macht was«
Killerwahl
Einziges Demotape »Wahl Halla« (1979)
(*6) »Für Britta«
Tommi from Germany
Schmähgedicht gegen Britta Müller (ca. 1988)
(*7) »Drogeninitiative«
Die Zinksoldaten
Es soll davon eine Liveaufnahme geben (1979)
(*8) »Fanta, die Umworld ist okay«
Kampagne Fairmarkt
Freiwilliger Werbesong, unveröffentlicht
(*9) »Gorbi«
Die Schnapsknallies
Geschäftsidee, unveröffentlicht
(*10) »Nachmessen«
Die Schnapsknallies
Geschäftsidee, unveröffentlicht
(*11) »Übereigendarstellerei«
Schauspielhaus Leipzig
Songtext zum Projekt »Das Ende der Selbstverwirklichung« (2011)
246
(*12) »Sexzwerg! Ich schwirre!«
RAF und Superdefekt feat. Schorsch Kamerun
Track mit Remix-Texten der Technogruppe SCOOTER /
»Pudelprodukte 8« (2008)
Abgewandelt für das Theaterstück »Down Understanding« / Münchner Kammerspiele (2010)
Inhalt
Hausverbot im Café Gottesgleich
Die Entdeckung der Kuckucksmethode
LopLop, und was es sonst noch so gibt
Ten Steps to Piracy
TommI (unbedingt mit großem I)
Elektro-, Benzin- und Spindelrasenmäher
Ein Benehmen wie ein Gartenschlauch
In Abwesenheit der Kameras
Ihr seid die Freaks
Frag niemals, warum wir hier so sind
Herr from Germany, Sie sind eine Flasche
Wo sich die verletzten Kinder trafen
Weiße Rosen in eigener Kotze
Deutschlehrer Nazi-Schmidke auf Kurzbesuch
in Ostpreußen
Titanic oder Cap Arcona / Simulation
7
15
25
37
49
53
57
67
73
79
85
91
95
99
103
Nichtige Orte, richtige Leute
111
Drogeninitiative121
Ein halbstarker Jungfuchs macht den Unterschied
125
Musik kann alles
129
Die Schule der falschen Wunder
137
Das Innere des Oktopus
147
Das Leben ist Kampf
153
Der Protest der Schnecken
157
Knapp dagegen ist auch dabei (und der Clown,
der muss lachen)
161
Das Denken des neuen Außen
169
Das ist dann richtig wie Liebe
181
Von Uhu, Monkey Man, Urvieh, Cat the Cat
und einer epileptischen Elster
185
Archaische Veitstänze (auf und neben den Bühnen) 191
Gerti, der Luxustransvestit aus dem Berlin
der zwanziger Jahre
197
Unser Haus ist aus Blei
201
Zurück unter U-Booten
207
Bekloppte wollen Bekloppte
213
Gag-Depressionen (oder das endgültige Abdanken
von Katenschinkenhaxen mit umhertanzenden
Orchestersaxofonen)219
Auf die From-Germany-Art
223
Wie geht richtiger Krieg?
229
Gestörte Jugend Bad Sartau
231
Hidden Track (Zugabe)
239
Lieder und Gedichte
245
ISBN: 978-3-550-08088-3
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Gesetzt aus der Janson Text
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