Beobachtungen und Anmerkungen zum 65
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Beobachtungen und Anmerkungen zum 65
HANNS-SEIDEL-STIFTUNG E.V. BERICHTE AUS DEM AUSLAND 7 / 2010 Politischer Bericht aus der Russischen Föderation 24. Mai 2010 Dr. Markus Ehm Leiter der Verbindungsstelle Moskau IMPRESSUM Herausgeber Copyright 2010, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel.: 089/1258-0, E-Mail: info@hss.de, Online: www.hss.de Vorsitzender Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair, Staatsminister a.D., Senator E.h. Hauptgeschäftsführer Dr. Peter Witterauf Verantwortlich Ludwig Mailinger Leiter des Büros für Verbindungsstellen Washington, Brüssel, Moskau / Internationale Konferenzen Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Tel.: 089 1258-202 oder -204 Fax: 089 1258-368 E-Mail: mailing@hss.de Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. 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Die kontroverse Diskussion um die Stalin-Plakate macht deutlich, dass sich durch die russische Gesellschaft eine Spaltung zieht. Mit ihrer Absage an offizielle Stalin-Porträts respektiert die russische Führungsspitze die Opfer des stalinistischen Terrors und sendet ein Annäherungssignal insbesondere an Polen und das Baltikum (2). Anschließend erfolgt im Hinblick auf die Teilnahme ausländischer Staatsgäste an den Feierlichkeiten zum „Tag des Sieges“ 1 eine Analyse der aktuellen Außenpolitik Moskaus (3). In der abschließenden Analyse soll versucht werden, aus den Feierlichkeiten vom 9. Mai 2010 zu folgern, inwiefern dem Kreml eine Annäherung bei den sog. „frozen conflicts“ gelingt. (4). 1. Der Tag des Sieges als identitätsstiftender Feiertag in der Russischen Föderation Im Feiertagskalender der Russischen Föderation nimmt der 9. Mai alljährlich eine besondere Rolle ein. Der „Tag des Sieges“1 besteht seit dem Ende des „Großen Vaterländischen Krieges“ 2 und wirkt bis heute identitätsstiftend für das gesamte Land, nicht zuletzt auch als Vermächtnis der Supermacht Sowjetunion. Dementsprechend groß fallen die sichtbaren Symbole aus: Auf der Hauptzufahrtstraße zum Kreml prangen Plakate mit Kriegsmotiven an der Stirnseite von insgesamt vier 25-stöckigen Hochhäusern. Die Längsseite eines dieser Gebäude wird von einem roten Tuch mit Hammer und Sichel, das an die nach Berlin einmarschierende Armee erinnert, über eine Fläche von ca. 40 Metern in der Höhe und 80 Metern in der Breite fast komplett überdeckt. In Schaufenstern von Einzelhandelsläden hängen kleinere Poster mit Veteranen, rotem Stern sowie Hammer und Sichel, an markanten Plätzen riesige Plakate mit ähnlichen Motiven. 1 2 So die deutsche Übersetzung der offiziellen russischen Bezeichnung des 9. Mai. So die deutsche Übersetzung der Bezeichnung für den Zweiten Weltkrieg im Russischen. -2Inna Swjatenko, Vorsitzende des Sicherheitsausschusses des Moskauer Stadtparlaments, beschrieb die gründlichen Vorbereitungen zum 9. Mai 2010 im Rahmen eines Gesprächs in Moskau mit bayerischen Politikern wie folgt: „Wir erwarten zahlreiche Veteranen, die alle die feierliche Atmosphäre spüren sollen. In den Parks wird Blasmusik zu hören sein, viele Menschen werden sich versammeln. Bei der Hauptveranstaltung auf dem Roten Platz werden Vertreter der Verbündeten teilnehmen. In Theatern und Musikkonservatorien wird es zahlreiche Programme geben.“ Am Sonntag, 9.Mai 2010, begannen die Feierlichkeiten mit einer Militärparade, bei der sowohl historische sowjetische Panzer als auch modernes russisches Kriegsgerät über den Roten Platz rollten. Zudem wurde die rote Fahne, welche 1945 auf dem Reichstag gehisst wurde, von Soldaten präsentiert. 10.000 von ihnen nahmen an der Parade teil, mehr als 120 Flugzeuge flogen tief über ihre Köpfe hinweg. Nach dem offiziellen Teil konnte man Veteranen mit zahlreichen Nelken in den Armen sehen, die sie von unbekannten Passanten – überwiegend jungen Leuten – als Dank für den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ geschenkt bekommen hatten. Die Stimmung unter der Bevölkerung richtete sich nach dem Ort, an dem die Menschen zusammenkamen. Vor dem „Bolschoj Theater“ wurde in ausgelassener Stimmung gefeiert, Veteranen zeigten stolz ihre Abzeichen und Orden, man hörte Kriegslieder, vereinzelt zeigten Personen Stalin-Poster. Am Grabmal des unbekannten Soldaten neben der Kremlmauer herrschte eine angespannte Gefasstheit: In Gruppen von ungefähr 20 Personen gedachten die Menschen am „Ewigen Feuer“ der Gefallenen, legten Nelken vor dem Feuer oder auf einem der zwölf Quader ab, die den sowjetischen Heldenstädten, z.B. Kiew (heute in der Ukraine), Minsk (heute in Weißrussland) und Leningrad (heute Sankt Petersburg), gewidmet sind. Spätestens hier werden zwei Dinge deutlich. Erstens: Am 9. Mai kommen die Freude über den Sieg und die Erinnerung an das Leid zusammen. Zweitens: Aus der Perspektive der Russischen Föderation erfasst die identitätsstiftende Wirkung nicht nur das eigene Land, sondern den gesamten postsowjetischen Raum mit Moskau als seinem Zentrum. 2. Keine offiziellen Stalin-Plakate – eine politische Richtungsentscheidung Zunächst verkündete im Februar 2010 die Reklamebehörde der Moskauer Stadtregierung unter Führung des Oberbürgermeisters Jurij Luschkow, dass zehn von insgesamt 2.000 aufzustellenden Plakaten auf Wunsch von Veteranenverbänden der Rolle Stalins als Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte im „Großen Vaterländischen Krieg“ ge- -3widmet werden sollen. Nach Auskunft der Behörde sollten die Plakate „neutral und ohne Wertung der Rolle Stalins“ gestaltet werden. Man beabsichtige, die Porträts mit einer Größe von ein mal eineinhalb Metern an solchen Orten anzubringen, die am 9. Mai traditionell von Veteranen aufgesucht werden, so auf dem „Platz des Sieges“, vor dem Eingang zum Gorki-Park und vor dem „Bolschoj Theater“. Es folgte ein öffentlicher Streit über die Frage, ob am „Tag des Sieges“ offizielle Plakate mit einer Stalin-Abbildung gezeigt werden sollen oder nicht. a. Reaktionen in der Regierungspartei „Einiges Russland“ Die Stalin-Plakate stießen bei der Führungsspitze der Regierungspartei „Einiges Russland“ auf Ablehnung. Boris Gryslow, Präsident der Staatsduma und Vorsitzender des Höheren Rates von „Einiges Russland“, sprach sich kategorisch gegen Stalin-Porträts aus. Nicht Stalin habe den Krieg gewonnen, sondern das sowjetische Volk. Man müsse über die Leistung der gesamten Bevölkerung sprechen, die diesen Sieg errungen habe. Und schließlich verbessere man die mehrdeutige Rolle Stalins nicht mit Plakaten, so Gryslow. Der Sekretär des Präsidiums des Generalrats von „Einiges Russland“, Wjatscheslaw Wolodin, äußerte sich wie folgt: „Für die Menschen, deren Verwandte Opfer von Repressionen wurden, sind Stalin-Porträts nicht nur politisch inakzeptabel, sondern auch beleidigend.“ Es obliege Historikern, die geschichtliche Rolle Stalins zu werten. Ferner unterstrich Wolodin: „Was die moralische Bewertung anbetrifft, so muss man die Gefühle und die Meinung einer großen Anzahl von Menschen respektieren, deren Familien im Zuge der stalinistischen Repressionen gelitten haben.“ b. Äußerungen des Staatspräsidenten Medwedew Der russische Staatspräsident Dmitrij Medwedew hatte sich bereits im Oktober 2009 zur Rolle Stalins wie folgt deutlich positioniert: „Die Erinnerung an die nationalen Tragödien sind genauso heilig wie die Erinnerung an die [militärischen] Siege. Bis heute kann man hören, dass die große Anzahl an Opfern durch übergeordnete staatliche Ziele gerechtfertigt war. Ich bin überzeugt, dass die Entwicklung eines Landes, keines seiner Erfolge und Ziele mit dem Preis des menschlichen Leids und dem Verlust von Menschenleben erreicht werden können. Nichts steht über dem Wert von Menschenleben. Keinerlei Repressionen sind gerechtfertigt.“ Zwei Tage vor dem 9. Mai 2010 äußerte Medwedew in einem Interview in der russischen Zeitung „Iswestija“ sein Unverständnis darüber, dass Stalin-Bilder in russischen Städten aufgehängt werden. Der russische Staatspräsident machte klar, dass -4Stalin nicht verziehen werden könne, was er seinem eigenen Volk angetan habe. Im Kreml selbst verwende man keine Porträts des ehemaligen sowjetischen Staatschefs, so Medwedew. c. Stalin-Plakate aus der Sicht von Menschenrechtsverbänden Auf strikte Ablehnung stießen die Pläne der Moskauer Reklameabteilung bei Menschenrechtsgruppen. Lew Ponomarew, Vorsitzender der Organisation „Für Menschenrechte“ kündigte für den Fall, dass offiziell Stalin-Bilder präsentiert würden, von den Bürgerrechtsbewegungen organisierte Massenproteste an, um der Beleidigung von Opfern der stalinistischen Repressionen entgegenzutreten. Die Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe, Ljudmila Alekseewa, sagte: „Wer in Moskau Stalin-Porträts aufstellt, strebt danach, dass sich bei uns der staatliche Terror der Epoche Stalins wiederholt.“ Arsenij Roginski, Vorsitzender der Vereinigung „Memorial“, stellte heraus, dass das sowjetische Volk den Krieg nicht dank Stalin, sondern trotz Stalin gewonnen habe. „Wenn schon Informationen über Stalin, dann die ganze Wahrheit mit den schrecklichen Befehlen des Oberkommandanten und ihren sinnlosen Verlusten von Millionen [Menschenleben]“, so Roginski. d. Stalin-Porträts aus Sicht der Veteranen und der Bevölkerung Die Veteranen, die in der Russischen Föderation zwischenzeitlich eine Gruppe von wenigen 100.000 ausmachen, sprachen sich mehrheitlich dafür aus, am 9. Mai 2010 StalinPorträts zu zeigen. Ihnen ging es dabei um die Rolle Stalins als Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte, der das Land befreit und zum Sieg über den Faschismus geführt hat. Ziel war nicht, stalinistische Repressionen zu verbergen oder zu verharmlosen, sondern den ehemaligen sowjetischen Machthaber mit dem erfolgreichen Krieg in Zusammenhang zu setzen. Durch die russische Gesellschaft zieht sich im Hinblick auf die Person Stalins eine Spaltung, die alle Altersklassen und Bevölkerungsschichten erfasst. So sehen nicht nur die Kommunisten um Gennadij Sjuganow in ihm den Erneuerer, den effektiven Wirtschaftslenker, der die Sowjetunion vom Agrar- zum Industrieland umgebaut hat. Der Moskauer Oberbürgermeister Luschkow äußerte sich im Vorfeld des 9. Mai 2010 wie folgt: „Ich bin kein Bewunderer von Stalin, aber ich bin ein Bewunderer von objektiver Geschichte. Russland kann historische Persönlichkeiten nicht einfach streichen.“ Diese Ansicht ist bei Gesprächen mit Menschen aus der Mitte der Bevölkerung oft zu hören. Auf der anderen Seite steht die Argumentation, dass Stalin einerseits das sowjetische Volk schlecht auf den Krieg vorbereitet und andererseits Repressionen veranlasst hat. -5e. Der Verzicht auf Stalin-Plakate als politisches Signal Auf Druck des Kremls – über eine offizielle Entscheidung der russischen Führung wurde nichts bekannt – verzichtete die Moskauer Reklamebehörde auf Stalin-Porträts. Die Staatsspitze vermied mit dem Plakatverzicht, dass die gesellschaftliche Spaltung in Bezug auf die Rolle Stalins offen zu Tage trat. Die kontroverse Debatte nach der Ankündigung der Moskauer Reklameabteilung im Februar 2010 machte klar, dass die Russische Föderation mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte vor einer schwierigen und heiklen Aufgabe steht. Die Auseinandersetzung um die Stalin-Bilder kann eine zukünftige, viel umfassendere Diskussion über das ehemalige Sowjet-Regime auslösen, die die russische Gesellschaft bisher noch nicht zu führen bereit ist. Demzufolge mangelt es an einer fachlich fundierten Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Die politische Führung wählt kleine Schritte und legt den Schwerpunkt darauf, im Inneren den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität nicht zu gefährden. Zu präsent als chaotisch sind die 90-er Jahre im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung, wohingegen die Sowjetunion als stabile Supermacht verklärt wird. Mit negativer Kritik an der UdSSR trifft man nicht nur deren Mythos, sondern für viele den gegenwärtigen Nationalstolz. Andererseits unterstreichen ausländische Staaten wie Polen und die baltischen Länder, dass für sie die nationalsozialistische Besatzung durch die sowjetische Okkupation unter Stalin abgelöst wurde und eine Befreiung gerade nicht stattfand. Sie fordern eine verstärkte geschichtliche Aufarbeitung. Eine besondere politische Bedeutung erlangt diese Haltung für Moskau aufgrund des Einflusses dieser Staaten innerhalb der Europäischen Union. Dass es dem Ansehen der Russischen Föderation in der Welt schadet, die Rolle Stalins ausschließlich positiv darzustellen, weiß Premierminister Wladimir Putin und zeigt es neuerdings nach außen. Im September 2009 folgte er einer Einladung Warschaus und sprach in Polen die Morde von Katyń an. Er äußerte sich wie folgt: „Alles Positive … [wurde] zu einem unannehmbar hohen Preis [erreicht].“ Bisher stand bei Putin im Fokus, dass für ihn der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts darstellt. Bei der Diskussion um die Stalin-Bilder hielt sich Putin zurück, um Kritik aus dem Ausland zu vermeiden. Die „integrierende“ Funktion für Befürworter von StalinPlakaten innerhalb der Regierungspartei „Einiges Russland“ übernahm der Moskauer Oberbürgermeister Luschkow. Insgesamt entschied sich der Kreml mit dem von Staatspräsident Medwedew unterstützten Verzicht für folgendes politisches Ziel: Die Russische -6Föderation ist ein Stück mehr zur geschichtlichen Aufarbeitung sowie zur Verbesserung ihrer Beziehungen zu Polen und den baltischen Staaten bereit. 3. Der 9. Mai 2010 und die aktuelle Außenpolitik Moskaus Genauso wie der offizielle Verzicht auf Stalin-Plakate ein politisches Signal darstellt, so reihen sich die Feierlichkeiten zum 9. Mai 2010 in die aktuelle Außenpolitik der Russischen Föderation ein. Eine besondere Aufmerksamkeit verdient die Frage, welche ausländischen Gäste anwesend waren bzw. wie der Kreml auf die Abwesenheit anderer reagiert hat. Dabei bleibt anzumerken, dass Moskau im Vergleich zum 60-jährigen Jubiläum im Jahr 2005 davon abgesehen hat, ausländische Staatsgäste Monate im Voraus und – mit Ausnahme der GUS-Länder – schriftlich einzuladen. So erhielt zum Beispiel Bundeskanzlerin Angela Merkel (genauso wie US-Präsident Barack Obama auch) lediglich eine mündliche Einladung, was der deutschen Seite ein Mehr an protokollarischem Spielraum einbrachte. Eine Absage erhielten US-Vize-Präsident Joseph Biden und der britische Prinz Charles mit der offiziellen Begründung, dass nur Staats- und Regierungschefs als ausländische Gäste vorgesehen seien – eine diplomatisch fragwürdige und inkonsequente Entscheidung, weil gleichzeitig die georgische Oppositionsführerin Nino Burdschanadse an den Feierlichkeiten auf dem Roten Platz teilnahm. Wenig überraschend war es, dass der Kreml den georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili zur „unerwünschten Person“ erklärte, da sich die Beziehungen zwischen Moskau und ihm seit dem Kaukasus-Krieg im August 2008 auf einem Tiefpunkt befinden. Die Staatspräsidenten folgender Länder nahmen am 9. Mai 2010 am Festakt auf dem Roten Platz teil: Aserbaidschan, Armenien, Bulgarien, China, Estland, Israel, Kasachstan, Lettland, Makedonien, Mongolei, Montenegro, Serbien, Slowakei, Slowenien, Tadschikistan, Tschechien, Turkmenistan, Vietnam. Den Feierlichkeiten wohnten außerdem bei: die deutsche Bundeskanzlerin, der geschäftsführende polnische Präsident, die Generalsekretäre des Europarates und der OSZE sowie der Vorsitzende des GUS-Exekutivkomitees. Aus Kirgistan reiste eine Delegation um Rosa Otunbajewa als Chefin der Übergangsregierung an. Zudem gesellten sich zu den Ehrengästen die Oberhäupter der Kaukasusgebiete Südossetiens und Abchasiens. -7Daraus lassen sich folgende Schlüsse ziehen: Erstens: Die deutsch-russischen Beziehungen fußen auf einem stabilen Fundament und entwickeln sich weiterhin positiv. Dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) als einzige Regierungschefin eines führenden „klassisch-westlichen“ Staates nach Moskau kam, wurde im Kreml mit Freude und großem Dank angenommen. Die Kanzlerin nahm auf der Ehrentribüne in der ersten Reihe Platz, eingereiht zwischen dem russischen Premierminister Putin und dem chinesischen Staatspräsidenten Hu Jintao. Neben diesem saß wiederum der russische Staatspräsident Medwedew. Als im Anschluss an die Militärparade am Grabmal des unbekannten Soldaten Blumen niedergelegt wurden, stand die deutsche Vertreterin sogar neben dem Kremlchef. Dies zeigt deutlich, welchen überragenden Stellenwert die Russische Föderation der wohlwollenden Aussöhnung mit dem einstigen Kriegsgegner einerseits und den aktuellen Beziehungen zwischen beiden Ländern andererseits beimisst. Zweitens: Moskau und das Baltikum bemühen sich nach jahrelanger Unversöhnlichkeit – bis heute geht es um die Streitfrage, ob die Sowjets Befreier oder Besatzer waren – gegenseitig um eine Annäherung. Für eine kleine Sensation sorgte die Einladung von Seiten Litauens an den russischen Staatspräsidenten Medwedew, an den Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit des baltischen Landes am 11. März 2010 teilzunehmen. Schließlich kam Medwedew nicht selbst, ließ sich aber von seinem Verkehrsminister in Vilnius vertreten. Für eine weitere Sensation sorgte nun, dass die Präsidenten Estlands und Lettlands die Feierlichkeiten zum 65-jährigen Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Roten Platz direkt mitverfolgten. Drittens: Die Russische Föderation wünscht ein verbessertes Verhältnis zu Polen. Dies zeigt eine Reihe von Ereignissen, die ihren vorläufigen Abschluss in der Teilnahme des kommissarischen polnischen Staatspräsidenten Bronisław Komorowski an den Feierlichkeiten am 9. Mai 2010 auf dem Roten Platz fand. Im September 2009 kam Premierminister Putin auf Einladung Warschaus zu politischen Gesprächen nach Polen. Dem war ein „Brief an die Polen“ vorausgegangen, in dem Putin die Aufteilung Polens im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts verurteilte. Im Frühjahr 2010 lud Moskau erstmals einen polnischen Spitzenvertreter nach Katyń ein, um gemeinsam der Opfer des stalinistischen Terrors zu gedenken. Historische Bedeutung erlangten der Kniefall Putins vor dem Massengrab von -8Katyń und der Handschlag mit dem polnischen Premierminister Donald Tusk. Nach dem Flugzeugabsturz im April 2010, bei dem unter anderem der polnische Staatspräsident Lech Kaczyński ums Leben kam, leistete der Kreml unbürokratische Hilfe. Die ehrliche Anteilnahme der russischen Bevölkerung wurde in Polen dankend angenommen. Anschließend trotzte Staatspräsident Medwedew der Aschewolke über Europa und kam zum Begräbnis nach Warschau. Viertens: Im Hinblick auf die Kaukasusgebiete Südossetien und Abchasien beharrt Moskau auf deren staatlicher Unabhängigkeit, obwohl diese international neben dem Kreml nur Venezuela und Nicaragua anerkannt haben. Neben der Anwesenheit der beiden Staatsoberhäupter unternahm Russland in jüngster Vergangenheit folgende Schritte, um seine Südgrenze abzusichern und den Status quo zu festigen: Medwedew und der abchasische „Staatspräsident“ Sergei Bagapscha unterzeichneten im Februar 2010 ein Dokument zur Zusammenarbeit für insgesamt zehn Projekte. Eines davon regelt die Errichtung einer gemeinsamen russischen Militärbasis in Abchasien mit einer Laufzeit von 49 Jahren. Zudem wurde eine gemeinsame Militäreinheit von 1.500 Mann geschaffen. Im April 2010 verständigten sich der russische Verteidigungsminister Anatolij Serdjukow und sein südossetischer „Amtskollege“ Juri Tanaew über die Stationierung von ca. 4.000 russischen Soldaten an verschiedenen Orten in Südossetien. Gleichzeitig bleiben die Beziehungen zu Georgien angespannt. Fünftens: Das Fehlen eines moldawischen Vertreters bei den Feierlichkeiten zeigt, dass der „frozen conflict“ um das von Chisinau abtrünnige Gebiet Transnistrien ungelöst bleibt. Vier Tage vor dem „Tag des Sieges“ begründete der geschäftsführende moldawische Staatspräsident Mihai Ghimpu in einem Interview mit der russischen Tageszeitung „Kommersant“ seine Absage wie folgt: „Problematisch ist die Stationierung der russischen Armee in Transnistrien. […] Es passt nicht zusammen, dass hier russische Truppen stehen und wir zur Parade auf den Roten Platz kommen. […] Russland muss seine Armee abziehen, alle Waffen, die Unterstützung [des transnistrischen „Präsidenten“ Igor] Smirnows beenden und der transnistrischen Armee die Waffen wegnehmen, die es ihr gegeben hat. […] Russland muss einfach faktisch unsere Unabhängigkeit anerkennen. Das tut es nur scheinbar, weil es gleichzeitig seine Truppen auf unserem Gebiet stationiert hat. Irgendwie wird die sowjetische Politik automatisch fortgesetzt.“ -9Sechstens: Nach den spürbaren Verbesserungen in den russisch-ukrainischen Beziehungen nach der Wahl Wiktor Janukowitschs zum Staatspräsidenten – die beiden Staaten einigten sich über den Verbleib der russischen Schwarzmeerflotte bis zum Jahr 2042 gegen die Gewährung von russischen Gaslieferungen mit einem Preisnachlass von 39 Milliarden USD in den nächsten zehn Jahren – nahm der Kreml die Absage aus Kiew mit Gelassenheit entgegen. Auf Interesse stieß die Tatsache, dass im überwiegend russischsprachigen Landesteil Paraden abgehalten wurden. In Kiew unterstrich Staatspräsident Janukowitsch, dass ohne den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg die Staatlichkeit der Ukraine unmöglich gewesen wäre. Siebtens: Dass der weißrussische Staatspräsident Alexander Lukaschenko den Feierlichkeiten auf dem Roten Platz fernblieb, wurde in der russischen Presse neutral aufgenommen. Man würdigte, dass Minsk selbst eine Militärparade mit ungefähr 30.000 Teilnehmern durchgeführte. Die aktuellen Spannungen zwischen Weißrussland und dem großen Nachbarn im Osten traten im Zusammenhang mit dem 9. Mai 2010 in den Hintergrund. Achtens: Die ehemalige Sowjetrepublik Usbekistan bleibt ein unangenehmer Partner für die Russische Föderation. Staatspräsident Islam Karimow kam weder zu einem informellen GUS-Gipfel am Vortag des 9. Mai 2010, noch nahm er an den Feierlichkeiten teil. Folgende Problemfelder bestehen derzeit: (1) Taschkent unterzeichnete 2009 das Abkommen über die Schaffung von gemeinsamen militärischen Einheiten im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) nicht. (2) Usbekistan möchte einen Schuldenerlass für russische Gaslieferungen in Höhe von 700 Millionen US-Dollar erreichen. (3) Usbekische Banken konvertieren Gewinne, die russische Unternehmen in Usbekistan erzielt haben, nicht in US-Dollar (Volumen von ca. 60 bis 80 Mill. US-Dollar). 4. Zusammenfassung Selbst 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt der „Tag des Sieges“ einen tiefen Einblick in die Denkweise der Menschen in der Russischen Föderation. Der heutige Nationalstolz steht immer noch im Zusammenhang mit dem Erfolg der UdSSR im Jahr 1945. Nicht zuletzt deshalb tun sich die heutige Bevölkerung und die politische Führung so schwer, die eigene Geschichte fachlich fundiert aufzuarbeiten. Mehrere Schritte der russischen Politik in der jüngsten Vergangenheit belegen, dass im Kreml ein Umdenkungspro- -10zess stattfindet. Damit nutzt Moskau ein Potential zur Verbesserung seiner Beziehungen zu anderen Staaten, allen voran zu Polen und dem Baltikum. Erste Erfolge äußern sich in der Teilnahme des kommissarischen polnischen Präsidenten sowie des estnischen und lettischen Staatsoberhaupts an den Feierlichkeiten am 9. Mai 2010 in Moskau. Andere „frozen conflicts“ (Georgien, Transnistrien) bestehen fort. Moskau, 24. Mai 2010 Dr. Markus Ehm Leiter der Verbindungsstelle Moskau der Hanns-Seidel-Stiftung Der Verfasser dankt Frau Marina Klintsova für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Berichts.