Biologisierung der Medizintechnik
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Biologisierung der Medizintechnik
Biologisierung der Medizintechnik Evolution oder Revolution? THE GERMAN CAPITAL REGION excellence in life sciences & healthcare Biologisierung der Medizintechnik Strategieworkshop Programm Programm Seite 4 Einleitende Worte zum Anliegen des Workshops und erste Definition des Themas „Biologisierung der Medizintechnik“ Dr. Kai Uwe Bindseil, Leiter BioTOP Berlin-Brandenburg, Clustermanager HealthCapital Was ist Regenerative Medizin, wo treffen Implantate auf Zellen und Faktoren? Prof. Dr. Georg Duda, Direktor Berlin-Brandenburg Center for Regenerative Therapies Welche regionalen Schwerpunkte der Medizintechnik gibt es in Berlin-Brandenburg und in welche Richtung entwickelt sich die Medizintechnik allgemein? Dr. Helmut Kunze, Bereichsleiter Medizintechnik, TSB Innovationsagentur Berlin Biofunktionale Materialsysteme für die Medizintechnik Prof. Dr. Friedrich Jung, Abteilungsleiter Biointerface Engineering, Helmholtz-Zentrum Geesthacht, Teltow Workshop I – Kardiovaskuläre Therapien Seite 6, 15 Workshop II – Muskuloskeletale Anwendungen Seite 10, 15 Zusammenfassung und Fazit Zusammenfassung und Fazit Workshop I Prof. Dr. Friedrich Jung, Abteilungsleiter Biointerface Engineering, Helmholtz-Zentrum Geesthacht, Teltow Zusammenfassung und Fazit Workshop II Prof. Dr. Britt Wildemann, Gruppenleiterin, BerlinBrandenburg Center for Regenerative Therapies Abschließende Worte und Fazit für die Veranstaltung Prof. Dr. F. Jung, Prof. Dr. G. Duda Organisationskomitee: l Dr. Michael Boxberger, B.Braun AG l Sven René Friedel, Berlin Heart GmbH l Vilma Methner, Co.don AG l Prof. Dr. Georg Duda, Berlin-Brandenburg Center for Regenerative Therapies, Julius-Wolff-Institut l Prof. Dr. Britt Wildemann, Berlin-Brandenburg Center for Regenerative Therapies, Julius-Wolff-Institut l Prof. Dr. Andreas Lendlein, Berlin-Brandenburg Center for Regenerative Therapies, Institut für Biomaterialforschung, Helmholtz-Zentrum Geesthacht, Teltow l Prof. Dr. Friedrich Jung, Berlin-Brandenburg Center for Regenerative Therapies, Institut für Biomaterialforschung, Helmholtz-Zentrum Geesthacht, Teltow l Dr. Kai Uwe Bindseil, TSB Innovationsagentur Berlin/BioTOP l Dr. Helmut Kunze, TSB Innovationsagentur Berlin 2 Seite 14 Biologisierung der Medizintechnik Editorial Potentiale heben – Synergien nutzen Biotechnologie und Medizintechnik sind die großen Impulsgeber im Gesundheitssystem. Obwohl erste neue Ansätze entwickelt werden, medizintechnische Fragestellungen biologisch anzugehen, gibt es heute noch zu wenige interdisziplinäre Projekte. Die Politik ist nun am Zug, positive Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Produkte von morgen zu schaffen. Prof. Dr. Dr. h.c. Günter Stock Clustersprecher HealthCapital Berlin-Brandenburg Das deutsche Gesundheitssystem wird in Zukunft mit großen Herausforderungen konfrontiert sein: Eine dieser Herausforderungen ist der fortschreitende soziodemographische Wandel mit einhergehender Erhöhung der Lebenserwartung der deutschen Bevölkerung. Dies führt zwangsläufig zu einer größeren Anzahl an Menschen mit Erkrankungen degenerativer oder chronischer Natur. Daher werden Kostensteigerungen im Gesundheitswesen unumgänglich sein. Wie kann man dieser Herausforderung begegnen und gleichzeitig die Nachhaltigkeit einer Therapie gewährleisten? Eine Antwort darauf ist die Regenerative Medizin. Sie verfolgt den Ansatz, den Patienten dauerhaft zu heilen, anstatt symptomatisch zu therapieren. Dieses interdisziplinäre Feld, ein Paradebeispiel für Cross-Innovations, verbindet die klassische Medizintechnik mit biologischen Fragestellungen. Unterstützt durch Biomaterialien und lebende Zellen werden neuartige medizintechnische Implantate entwickelt. Diese biologisierten Medizinprodukte fügen sich weitaus besser in den menschlichen Organis- mus ein als herkömmliche Produkte und werden weitaus seltener als Fremdkörper abgestoßen. Ziel ist es, durch biologischen oder biofunktionalen Ersatz bzw. durch Anregung körpereigener Reparatur- und Regenerationsprozesse die Heilung zu begünstigen. Experten aus Medizin, Materialwissenschaft und Zellbiologie arbeiten energisch auf dem Gebiet der Regenerativen Medizin zusammen. Gleichwohl ist das Thema noch sehr jung, höchst innovativ und wird bisher vorwiegend von akademische Gruppen und kleinen Unternehmen getragen. Die Region Berlin-Brandenburg mit Wissenschaft, Kliniken und etwa 500 Unternehmen aus den Branchen Biotechnologie, Medizintechnik und Pharma birgt vor diesem Hintergrund ein großes Potential. Forscher und Unternehmer entwickeln neue Verfahren, welche die Patienten bei ihrer Heilung unterstützen – es ist nun die Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, um dieses Potential auszuschöpfen. Günter Stock 3 Biologisierung der Medizintechnik Einleitung Biologie & Medizintechnik: Gesucht und gefunden? Deutschland ist weltweit einer der führenden Standorte für Medizintechnikunternehmen, und innerhalb der Republik hat sich insbesondere Berlin-Brandenburg zu einer der stärksten Regionen entwickelt. Doch wie lässt sich dieser Vorsprung halten und womöglich noch ausbauen? Dieser Frage wurde am 29. August 2012 auf dem Strategieworkshop „Biologisierung der Medizintechnik“ nachgegangen. Im Helmholtz-Zentrum Geesthacht in Teltow-Seehof im Süden Berlins fanden sich aber nicht nur Vertreter traditionsreicher Medizintechnik-Betriebe ein. Da sich in und um Berlin in den vergangenen Jahren auch eine beachtliche Zahl junger Unternehmen aus dem Umfeld der Regenerativen Medizin (RegMed) etabliert hat, wurde die Idee eines gemeinsamen Workshops geboren. Das Ziel der Veranstaltung formulierte Kai Uwe Bindseil von BioTOP gleich zu Beginn: „Die Teilnehmer sollen während des Workshops herausfinden, wie die jeweils andere Branche tickt.“ Dabei solle man sich nicht als Kontrahenten betrachten. Es gelte vielmehr, mögliche Synergieeffekte auszuloten, naheliegende Kooperationsmöglichkeiten aufzuzeigen und ein nachhaltiges Wachstum beider Branchen zu stimulieren. Der Strategieworkshop „Biologisierung der Medizintechnik“ bot den rund 50 eingeladenen Teilnehmern zahlreiche Chancen zum Kennenlernen, Diskutieren und Nachdenken. Das Translationszentrum Berlin-Brandenburg Center for Regenerative Therapies (BCRT), das Aktionszentrum BioTOP Berlin-Brandenburg sowie die gemeinsame Kommunikationsplattform Regenerative Medizin Initiative Berlin-Brandenburg (RMIB) hatten den Erfahrungsaustausch initiiert. Als Veranstaltungsort wählten sie das Institut für Biomaterialforschung des Helmholtz-Zentrums Geesthacht (HZG) in Teltow-Seehof, auf dessen Campus ein Teil des BCRT angesiedelt ist. Clustermanager Kai Uwe Bindseil von BioTOP Berlin-Brandenburg vergleicht in seinem einleitenden Vortrag die Branchen Medizintechnik und Biotechnologie. Berliner Leuchttürme Der Leiter von BioTOP und Clustermanager HealthCapital Kai Uwe Bindseil machte in seinem einleitenden Vortrag deutlich, was den Standort Berlin-Brandenburg auszeichnet. Zum einen profitiere man von den herausragenden und weit über Berlin und Deutschland hinaus strahlenden Wissenschaftseinrichtungen – allen voran der CharitéUniversitätsmedizin Berlin, den mehrfach ausgezeichneten Universitäten und renommierten außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie den Max-Planck-Instituten, Helmholtz-Zentren und Einrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft. Zum anderen hat sich aber auch die in der Region ansässige Gesundheitswirtschaft in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich gut entwickelt. Laut Bindseil war Berlin-Brandenburg 2011 der am schnellsten wach4 sende Medizintechnik-Standort Deutschlands. Dr. Helmut Kunze von der TSB Innovationsagentur ergänzte in seinem Vortrag später, dass die Region auch außerordentlich gut vernetzt sei. So gibt es seit sechs Jahren das Imaging Network Berlin und bereits seit 2004 das Medizintechniknetzwerk Berlin-Brandenburg medtecnet. Mit Siemens, Berlin Heart, Biotronik, B. Braun Melsungen und insgesamt etwa 260 mittleren und kleinen Unternehmen sei man in Sachen Unternehmererfahrung und Transfer-Know-how gut aufgestellt. Dazu kommen noch Alleinstellungsmerkmale an der Schnittstelle von Wissenschaft und Medizin wie das Small Animal Imaging Center oder das Zentrum für Protonentherapie. Für die Zukunft wünsche Bindseil sich daher eigentlich vor allem eines: den einen oder anderen Weltmarktführer aus Berlin oder Brandenburg. Einleitung Biologisierung der Medizintechnik An guten Ideen mangelt es in der Region nicht, oftmals dafür aber an den finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten, diese zu marktfähigen Produkten zu entwickeln. Prof. Dr. Georg Duda Stellvertretender Direktor des Berlin-Brandenburg Center for Regenerative Therapies „Während des Workshops sollen gemeinsame Visionen und Ziele herausgefunden und definiert werden.“ Genau hier setzte der Workshop an. Die Teilnehmer aus der Medizintechniksparte haben jahrelange Erfahrungen in der Gesundheitswirtschaft sammeln können, tun sich jedoch mit biotechnologischen Innovationen schwer. Die Start-ups der RegMed wissen hingegen, wie man mit DNA, Proteinen, Zellen und Geweben umgeht. Ihnen fehlt oftmals ein Marktzugang oder das Know-how zum Upscalen. Gute Voraussetzungen also, dass die Teilnehmer nicht nur lernen, wie die jeweils andere Branche denkt, sondern dass sich tatsächlich Synergiepotentiale auftun, die womöglich eine Biologisierung der Medizintechnik einläuten. Ende August stellte Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) in Dresden das Programm „Zwanzig20 – Partnerschaft für Innovation“ vor. Damit fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Zeitraum von 2013 bis 2019 den Ausbau von Forschungskooperationen in Ostdeutschland mit bis zu 500 Millionen Euro. Prof. Dr. Georg Duda, Leiter des Julius-Wolff-Institutes für Biomechanik und Muskuloskeletale Regeneration der Charité Universitätsmedizin Berlin und stellvertretender Direktor des BCRT, sieht sich bestätigt: „Dieses Forschungsprogramm für die Medizintechnik und die Regenerative Medizin in Berlin und Brandenburg kommt genau zur rechten Zeit.“ Wissenschaft und Wirtschaft seien stark ausgeprägt und könnten eine Reihe innovativer und vielversprechender Projekte zur Marktreife bringen. Dabei gab Duda in seinem Vortrag auch gleich die Stoßrichtung vor: „Wir müssen von unten denken. Was bieten die ein- zelnen Industriepartner? Wie bringt man deren Know-how sinnvoll zusammen, damit neue Produkte entstehen, die den Patienten auch wirklich nützen?“ Technik ist nicht die alleinige Lösung Das Feld scheint für biologisierte Medizinprodukte bereitet, denn sowohl vom rein biologischen als auch vom rein technischen Ansatz kam man in den vergangenen Jahren immer mehr ab. Es kristallisierte sich heraus, dass die Einsatzgebiete für komplett neu erschaffene Gewebe („tissue engineering“) eher limitiert seien, so Duda. Auf der anderen Seite entfernt man sich auch Stück für Stück vom Gedanken, eine biologische Struktur komplett durch Technik zu ersetzen. So suche man daher am BCRT eher nach „Leit- statt Ersatzstrukturen.“ Prof. Dr. Friedrich Jung stellte die Arbeit des Instituts für Biomaterialforschung in Teltow vor, in deren Mittelpunkt innovative, polymerbasierte Biomaterialien für medizinische Anwendungen stehen. Diese eröffnen bessere und teilweise bislang nicht realisierbare medizinische Möglichkeiten, indem sie mit spezifischen, maßgeschneiderten Eigenschaften und Funktionen für die jeweilige medizinische Applikation ausgestattet werden. Die Biofunktionalität des Materials erfordert die Übertragung biologischer Prozesse als Baustein technischer Systeme. Biologische Interaktionen Denkbar ist hier zum Beispiel die Biologisierung von Implantatoberflächen um Interaktionen zwischen den umgebenden Gewebszellen und dem Implantat in die gewünschte Richtung zu steuern, wobei dies Organ-, Zell- und regiospezifisch adaptiert erfolgen muss. Biofunktionalität ist hierbei weit mehr als nur bloße Verträglichkeit – die Materialoberfläche kommuniziert mit ihrer Umgebung, so dass Prozesse wie Degradation, Einkapselung/Integration, Inflammation und Immunmodulation beeinflusst und im günstigsten Fall gesteuert werden können. Für die nächste Generation multifunktionaler Implantate werden je nach Applikation Kombinationen verschiedener Fähigkeiten gefordert sein, wozu z. B. neben Wirkstofffreisetzung und Formgedächtnisfunktionalität auch biohybride Material- Zellsysteme gehören. 5 Biologisierung der Medizintechnik Workshop I: Kardiovaskuläre Erkrankungen Biologisierung von Implantaten – aus fremd wird Freund Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die häufigsten Todesursachen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften. Die Ursache ist oft eine nicht behandelte Arteriosklerose. Die krankhafte Verengung von Arterien führt in vielen Fällen zum Herzinfarkt. Dieser kann mit der Einführung eines Stents vermieden werden. Heute ist die Einführung der kleinen Röhrchen ein minimalinvasiver Routine-Eingriff. Und trotzdem bleiben Stents oder Herzklappen wie viele andere Implantate ein Fremdkörper im Organismus. Eine Biologisierung dieser Einsätze könnte Komplikationen und Folgeerkrankungen verhindern. Das Einsetzen eines Stents gilt heute als relativ sicher. Komplikationen wie etwa ein Wiederverschluss des Gefäßes, sogenannte Restenosen, treten gegenwärtig in lediglich einem von zehn Fällen auf. Das berichtete Prof. Dr. Dietlind Zohlnhöfer-Momm von der Charité. Sie gab eine Übersicht über aktuelle klinische Ergebnisse und die historische Entwicklung von Stents. Die Einführung eines mit Taxol beschichteten Stents stellte im Jahr 2002 einen Meilenstein dar. Denn mit dem Auftragen des Zytostatikums auf das Röhrchen, ließ sich das Wuchern des umliegenden Gefäßes und damit der Wiederverschluss des Gefäßes verhindern. Doch auch der Taxol-Stent war zunächst nicht unumstritten. Immer wieder tauchte Kritik auf, die Beschichtung mit dem Zellgift würde nicht nur das schädliche Wuchern, sondern auch die Heilung behindern. Geht es auch ohne Antikoagulation? In Studien wurde so eine Häufung von gefährlichen Thrombosen beobachtet. Verschiedene Meta-Analysen konnten fünf Jahre nach der Einführung des Taxol-Stents diese Beobachtung allerdings nicht bestätigen. Heute werden zumeist Stents der zweiten Generation eingesetzt. Sie bestehen zum Beispiel aus einer Chrom-Kobalt-Legierung und tragen eine Beschichtung mit dem Immunsuppressivum Everolimus, einem Verwandten des Rapamycins. Langzeitbeobachtungen zu diesen neuen Präparaten fehlen bislang jedoch. Egal welche Art von Stent eingesetzt wird, das Risiko einer Stentthrombose bleibt. Damit geht eine lebenslange Antikoagulations-Therapie einher, die den Stentträger allerdings auch riskanten Blutungsereignissen aussetzt. Eine Lösung könnten hier mit Endothelzellen beschichtete Stents sein, aber auch selbstauflösende Gefäßprothesen, die das Gefäß auch nach ihrem Verschwinden offenhalten. Solche resorbierbaren Stents werden von Patienten besonders gut angenommen. Denn 6 haben sie sich einmal aufgelöst, befindet sich kein Fremdkörper mehr im Organismus. Es gibt daher Bedarf an neuen Kunststoffen für die Gefäßöffnung. Das weiß auch Dr. Marco Müller, Wissenschaftler an der TU Berlin. Im Fachbereich Polymertechnik entwickelt er neue Werkstoffe, aus denen selbstexpandierende Gefäßprothesen entstehen. Polymere mit Gedächtnis In der Entwicklung befinden sich intelligente Stents auf der Basis von sogenannten Shape memory-Polymeren. Röhrchen aus diesem Material lassen sich mit schmalem Durchmesser leicht in Adern einsetzen. Die Körperwärme bringt sie schließlich dazu, bis zum ursprünglichen Durchmesser des Gefäßes zu expandieren. Diese Produkte befinden sich wie vieles jedoch noch im Forschungsstadium. „Die Messlatte für neue Stents liegt sehr hoch“, sagt Dr. Christian Butter, Chefarzt an der Immanuel Diakonie in Bernau. Bis zur Zulassung einer neuen Gefäßprothese vergingen nicht selten mehr als zehn Jahre. Viele Unternehmen scheuten daher das Entwicklungsrisiko. Aus diesem Grund würden zu wenige neue Ideen umgesetzt. Eine Ausnahme gibt es. In Workshop I Biologisierung der Medizintechnik Partnerschaft mit einem Global Player in der Medizintechnik, der B. Braun Melsungen AG, entwickelt die Berliner InnoRa GmbH eine neue Methode zur Gefäßerweiterung, die ohne Stents auskommt. Zum Einsatz kommt hier ein Paclitaxel-beschichteter Ballonkatheter, mit dem verengte Arterien innerhalb von 30 bis 60 Sekunden wieder geöffnet werden können. In dieser Zeitspanne geben die Ballons eine ausreichende Menge des Zellgiftes ab, so dass ein Wuchern der Gefäßwand langfristig unterbunden und damit eine Restenose verhindert wird. Das Vermeiden eines Implantates führt dazu, dass hier eine Thrombosenbildung vermieden wird. „Muss tatsächlich immer ein Stent eingebracht werden?“, fragte Dr. Michael Boxberger rhetorisch die Teilnehmer des Workshops und nahm die Antwort aus seiner Sicht gleich vorweg: In einer klinischen Studie an 2.095 Patienten konnte die klinische Reinterventionsrate aufgrund von Stentthrombosen auf 1,0% gesenkt werden. Zahlreiche weitere Untersuchungen hätten dieses Ergebnis bestätigt. So sei das Konzept des Drug eluting-Ballons entstanden. Diese sogenannte Paccocath-Technologie wird bereits im klinischen Alltag angewandt. B. Braun und die MEDRAD GmbH, eine Tochter der Bayer AG, vermarkten sie. Biologische Besiedlung von Herzklappen Auch im Bereich der fortgeschrittenen Herzerkrankung könnten Implantate ein Meilenstein sein – insbesondere Dr. Dirk Lauscher Geschäftsführer Berlin Heart GmbH Rund 50 eingeladene Experten nahmen am Strategieworkshop Biologisierung der Medizintechnik am 29. August 2012 im HZG in Teltow teil. durch eine Biologisierung, wie Prof. Dr. Christof Stamm, Herzchirurg am Deutschen Herzzentrum in Berlin, berichtete. Dauerhaft eingesetzte Implantate wie etwa Herzklappen befinden sich in ständigem Blutkontakt, was wiederum zu einem erhöhten Thrombose-Risiko führt. Die Hämokompatibilität herzchirurgischer Implantate bleibt ein ungelöstes medizinisches Problem. Bisher war die Besiedlung mit biologischen Substanzen wie Aptameren, Wachstumsfaktoren, Antikörpern oder lebenden Zellen nicht ausreichend erfolgreich. Eine gegenwärtig angewandte Methode ist das Verpflanzen von dezellularisierten humanen Spenderklappen, die besiedelt werden und schließlich sogar mitwachsen. Ihr Einsatz ist jedoch durch ihre mangelnde Verfügbarkeit limitiert. Künstliche Herzpumpen biologisieren „Die Zahl der Organspenden ist zu niedrig. Deswegen verfolgen wir das Ziel, Patienten mit extrakorporalen Unterstützungssystemen auch längerfristig zu helfen. Dabei spielt die Langzeitstabilität bei neuen Materialien und Beschichtungen für uns eine entscheidende Rolle.“ Das Verklumpen (Koagulation) oder die Zerstörung (Hämolyse) von Blutzellen sind die größten Risiken, wenn künstliches Material auf Blut trifft. Ein Problem, dem sich auch die Berlin Heart GmbH stellen muss. Das Unternehmen in Berlin-Steglitz entwickelt und produziert mechanische Pumpen, die bei Herzversagen eingesetzt werden können. Dabei spielt die Auswahl geeigneter Materialien eine Schlüsselrolle. Dr. Dirk Lauscher, dem Geschäftsführer von Berlin Heart, zufolge gibt es erste 7 Biologisierung der Medizintechnik Workshop I Prof. Dr. Christof Stamm Oberarzt am Deutschen Herzzentrum Berlin agnostika beschränkt, sondern könnte gleichzeitig auch bei der Beschichtung anderer medizintechnischer Hilfsmittel wie Herzschrittmachern Anwendung finden. Nanofunktionalisierte Oberflächen „Die chirurgische Therapie der fortgeschrittenen Herzerkrankung stellt höchste Anforderungen an Mensch und Material. Dabei ist die Biologisierung der Medizintechnik für die Herzchirurgie von größter Bedeutung, da sich sowohl Implantate als auch extrakorporale Unterstützungssysteme in ständigem Blutkontakt befinden.“ Versuche, die Außenhülle der Pumpen mit kurzkettigem Heparin zu beschichten, was Ablagerungen an der Pumpe minimiert. Implantierbare Diagnostika Einen neuen Wachstumsmarkt hat die Biolab Technology GmbH ausgemacht. Dr. Jan Saam, der die Tochter des Berliner Medizintechnik-Spezialisten Biotronik in Teltow vertrat, bezog sich vor allem auf implantierbare Diagnostika. Diese könnten zukünftig eingesetzt werden, um Proteine, Hormone, Metabolite oder Elektrolyte dauerhaft zu messen. Kritischer Erfolgsfaktor ist dabei die Grenzschicht des Implantates zum Gewebe. Einerseits muss sie für die gemessenen Biomarker durchlässig sein, andererseits Resistenz gegen Degradation und Fouling zeigen. Außerdem soll ein Einwachsen vermieden werden, damit auch eine leichte Wiederentnahme gewährleistet ist. Einen guten Ansatzpunkt bietet daher die Biologisierung des diagnostischen Implantates – etwa in Form einer definierten Zell-Monoschicht auf der Außenseite, die sich während des Lebenszyklus des Implantates selbst erneuert. Saam sieht ein großes Potential für Technologien, welche die in vivo-Ausbildung bestimmter Gewebe um die Außenhülle möglicher Implantate fördern. Das Potential dieser Produkte ist nicht auf das Gebiet der Di8 Ein Spezialist für die Beschichtung von Oberflächen ist die PharmaSol GmbH in Berlin, die unter anderem mit der Capsulution GmbH in Berlin-Adlershof zusammenarbeitet. Beide Unternehmen haben Lösungen entwickelt, mit denen Wirkstoffe in Nanomaterialien eingekapselt werden, so dass sie ihre Ladung über einen längeren Zeitpunkt freisetzen. Da Nanopartikel generell adhäsiv sind, kommen sie auch für die Funktionalisierung von Oberflächen in Frage. Alternativ können medizinische Implantate mit Polymerschichten überzogen werden, die ebenfalls Wirkstoffe abgeben. Denkbar sind etwa Carbon-Stents, die eine mit Serumalbumin beschichtete Oberfläche besitzen, oder Ballons, die mit Paclitaxel-Nanokristallen modifiziert wurden. Das Ziel ist es jeweils, die Proteinabsorption der Oberflächen zu reduzieren. „Werden dafür bereits zugelassene Wirkstoffe verwendet, verkürzt sich die Entwicklungszeit, da das beschichtete Produkt nicht erneut durch den pharmazeutischen Zulassungsprozess gehen muss“, so Dr. Rainer Müller, Professor an der FU Berlin und Chef von PharmaSol in Personalunion. Sie unterliegen daher den weniger strengen regulatorischen Auflagen für Medizinprodukte. Bildunterschrift Biologisierung der Medizintechnik Fazit Workshop I: Kardiovaskuläre Erkrankungen Nur gemeinsam lässt sich der lange Weg zur Biologisierung meistern Im Mittelpunkt des Workshops „Kardiovaskuläre Anwendungen“ standen medizintechnische Systeme, die zur Behandlung von Erkrankungen des atherosklerotischen Formenkreises eingesetzt werden. Es bestand Einigkeit, dass die Biologisierung der Medizintechnik neue Möglichkeiten in der Therapie von kardiovaskulären Erkrankungen eröffnet. Es zeigte sich ein regionaler Diskursprozess zwischen Grundlagenforschung, Klinik und Medizintechnik, an dessen Ende neue interdisziplinäre Strategien und Kooperationen der verschiedenen Partner stehen könnten. In der zusammenfassenden Diskussion des Workshops I wurde konkret nach Handlungsfeldern gesucht, die klinische Medizin, Materialwissenschaften und Pharmakologie gemeinsam mit Medizintechnischen Unternehmen angehen können. Deutlich war, dass für alle kardiovaskulären Implantate neue Funktionalitäten gefordert wurden, die heute zumindest zum Teil unzureichend realisiert sind. Hier herrschte genauso Einigkeit unter den Workshop-Teilnehmern wie darin, dass die Region BerlinBrandenburg sowohl in der Medizintechnik als auch in der Biotechnologie großes Potential besitzt, Synergien zwischen beiden Bereichen werden aber noch nicht ausreichend ausgeschöpft. Ein Grund: auch in der Medizintechnik sind die Entwicklungszyklen lang. Viele Firmen scheuten den langen Weg zum Produkt alleine zu gehen und die hohen Investitionen zu tätigen. Der Austausch zwischen den einzelnen Playern und Partnerschaften könnte hier jedoch katalytisch wirken. Konsortien aus akademischen Instituten, Kliniken sowie kleinen und mittleren Unternehmen und Konzernen hätten wesentlich höhere Erfolgschancen. Um die Produktentwicklungszyklen zu verkürzen, könnten zunächst Prof. Dr. Friedrich Jung Institut für Biomaterialforschung, Helmholtz-Zentrum Geesthacht, Teltow „Die Entwicklung von multifunktionalen Implantaten der nächsten Generation erfordert die Zusammenführung grundlagenorientierter und angewandter Forschung mit der medizintechnischen Industrie. Neue biohybride Materialien müssen so an ihre Umgebung adaptieren, dass ihre langfristige Funktionalität gewährleistet ist.“ fehlende Werkzeuge identifiziert werden. So fehlten beispielsweise in vitro-Modelle, mit denen das Verständnis der Besiedlung von Oberflächen vertieft werde. Mit Hilfe neuer Plattformen könnte etwa der Einfluss von hydrophoben und hydrophilen Strukturen auf die Besiedlung verschiedener Materialien verstanden werden. Ein bisher ungelöstes Problem ist beispielsweise das Verhindern von Infektionen an der Schnittstelle Haut/Implantat, wie sie unter anderem bei extrakorporalen Herzpumpen auftreten. Passende Antibiotikabeschichtungen könnten hier eine Lösung darstellen. Als vielversprechendes Zukunftsfeld wurden neue, „biologisierte“ Polymere mit anwendungsorientierten Funktionalitäten diskutiert. So gebe es großen Bedarf für Lösungen in der Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen von Kindern – etwa mitwachsende Herzklappen – oder degradierbare Stents mit optimaler Hämokompatibilität und Endothelverträglichkeit und Medikamentenfreisetzung mit selektiver Wirkung auf glatte Muskelzellen. Letztlich müsse die Biologisierung zu Implantaten führen, die vom Organismus nicht mehr als Fremdkörper erkannt würden. 9 Biologisierung der Medizintechnik Workshop II – Muskuloskeletale Anwendungen Trotz Erfolgen weiterhin großer Forschungsbedarf Die medizinische Versorgung ist bei vielen muskuloskeletalen Indikationen mittlerweile so gut, dass es Herstellern neuartiger Medizinprodukte schwerfällt, bestehende Therapien in ihrem Nutzen zu übertreffen. Bei anderen Indikationen gibt es hingegen noch nicht einmal ansatzweise eine Vorstellung, wie eine mögliche Behandlung aussehen könnte. Knochenbrüche sind einer der Hauptgründe für einen unfreiwilligen Besuch im Krankenhaus. Auf die Frage, was ein solcher Patient aus unfallchirurgischer Sicht am dringendsten benötigt, antwortete Prof. Dr. Klaus-Dieter Schaser gleich zu Beginn seines Impulsreferats etwas augenzwinkernd: „Mehr Personal!“ Neben diesem stetig wiederkehrenden Lamento gebe es allerdings auch noch eine Reihe von Problemfeldern, die auf sinnvolle Lösungsansätze warten. Eine stetig älter – und dabei immer aktiver – werdende Bevölkerung verlangt nach besseren Methoden bei der Versorgung osteoporotischer Knochen. Aber auch bei jungen Menschen wird ein Problem immer drängender: Sogenannte Hochrasanztraumata sind komplexe Verletzungen, die vor allem bei Unfällen im Spaß- und Geschwindigkeitssport auftreten. Ihr vermehrtes Auftreten belastet den Bereich der Schwerverletztenversorgung. So lässt sich zum Beispiel die Zahl der geretteten Polytrauma-Patienten seit einigen Jahren kaum weiter senken. Mittlerweile reicht es aber nicht mehr aus, Leben zu retten. Bei den Patienten ist über die Jahre das Anspruchsdenken gestiegen. Selbst bei komplexen Brüchen erwartet der Verunfallte die volle Wiederherstellung. Auch sozioökonomisch gibt es, so Schaser, bei der Operationszeit, der Krankenhausaufenthaltsdauer und der Heilungszeit insgesamt noch Optimierungspotential. Die gute Nachricht 10 ist, dass mit Hochdruck an Lösungen geforscht wird. Der Medizintechnik kommt dabei naturgemäß die bestimmende Rolle zu. Neue, minimalinvasive Operationsmethoden führen beispielsweise zu weniger iatrogenen, das heisst durch den Chirurgen beim Zugang zum Operationsgebiet verursachten, Verletzungen. Dafür ist allerdings eine zielgenaue Navigation bei zum Teil unübersichtlicher Anatomie nötig. Schaser wünscht sich hier für die Zukunft mehr Übersichtlichkeit, ein besseres Handling und weniger Störanfälligkeit der Geräte der computergestützten Chirurgie. Vielleicht noch drängender ist die Entwicklung von guten Imaging-Systemen für Weichteile. Im Vergleich zu bildgebenden Verfahren für die Knochendarstellung hinkt hier die Entwicklung hinterher. Weiter ist da der Bereich Knochenimplantate. Neuartige Produkte sind nur noch bloße Titangerüste, die dank CAD und 3D-Druck individuell angepasst werden können. Hier setzen auch vielversprechende Ansätze aus der Regenerativen Medizin an. Die Implantat-Gerüste können mit antiinflammatorischen Substanzen oder Antibiotika versehen sein. Auch das Auftragen von Zellen, welche die benötigten Stoffe produzieren, ist denkbar. Workshop II: Das erste Impulsreferat hielt Prof. Dr. Schaser (CMSC). Workshop II Biologisierung der Medizintechnik Neben weniger postoperativen Infektionen traut Prof. Dr. Carsten Perka vom Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie (CMSC) der Charité-Universitätsmedizin Berlin biologisierten Medizinprodukten aber auch Erfolge auf anderen Gebieten zu. So gebe es bis dato noch keine zufriedenstellende Lösung, wie man beispielsweise Knieprothesen zementfrei verankern könne. Auch für den Übergang von weich zu hart, also von Muskel zu Sehne zu Knochen, gebe es noch keine passablen Implantate auf dem Markt. Bei Muskelverletzungen nach operativen Eingriffen sei die Forschung schon etwas weiter: Am CMSC wurde diesbezüglich Anfang August eine klinische Studie mit einer Zelltherapie bewilligt. Eine Berliner Erfolgsgeschichte Was beschichtete Implantate zu leisten vermögen, wurde während des Vortrags von Andrea Montali von der Firma Synthes aus Oberdorf in der Schweiz deutlich. Die Verbindung des Unternehmens zu Berlin-Brandenburg kommt über das Julius-Wolff-Institut zustande. Dort wurde die Idee eines funktionalisierten Tibianagels entwickelt. Synthes hat den mit dem Antibiotikum Gentamicin überzogenen Nagel zur Marktreife gebracht. Die Vorteile: Gentamicin wird gezielt dort abgegeben, wo es gegen Bakterien wirken soll. Dadurch kann der Wirkstoff niedrig dosiert werden und systemische Nebenwirkungen sind fast ausgeschlossen. Seit einem Jahr kann der Nagel gekauft werden. Bisher wurden mehr als 500 Stück abgesetzt. Synthes positioniert sich hier als Vorreiter und will weitere klinischen Daten erheben, die einen Vorteil gegenüber normalen Tibianägeln belegen sollen. Hier wird eines der Hauptprobleme biologisierter Implantate beispielhaft deutlich: Das Messen eines Vorteils mit Hilfe klassischer Studiendesigns ist schwierig. Randomisierte klinische Studien werden bei kleineren Indikationen – auch wenn sie klinisch relevant sind – schnell unfinanzierbar. Im Falle des Tibianagels begann Synthes eine multizentrische Studie mit 100 Probanden, die gerade ausgewertet wird. Der Verlust von Muskelsubstanz beschäftigt auch Dr. Tobias Winkler (CMSC) . Beim Ersetzen eines Hüftgelenks können bis zu 40% des Andrea Montali Leiter Forschung und Entwicklung Biomaterialien EU, Synthes Biomaterials GmbH „Die Kosten-Nutzen-Bewertung wird bei sehr belastenden jedoch nur selten auftretenden Indikationen immer schwieriger.“ mittleren Gesäßmuskels beschädigt werden. Da im Rattenmodell die Transplantation autologer Stammzellen zu einer verbesserten Muskelregeneration führt, arbeitet das CMSC nun an einer Therapie am Menschen. So soll laut Winkler in einer Phase I/II-Studie an 18 Patienten getestet werden, ob die Gabe von allogenen humanen PLX-Zellen (placental-derived cells) die Wiederherstellung von Muskelkraft und geschmeidigem Gang beschleunigt. Gegenseitige Öffnung Bereits im März 2011 wurde der entsprechende Antrag dem Paul-Ehrlich-Institut in Langen zum ersten Mal präsentiert, Anfang 2012 wurde er schließlich eingereicht. Bereits im August dieses Jahres erfolgte die Bewilligung ohne weitere Auflagen, so dass die Studie Anfang November beginnen kann. Im Großen und Ganzen beurteilt Winkler die Arbeit mit den Behörden positiv. Allerdings könne seines Erachtens das Prozedere noch deutlich entschlackt werden. Insgesamt waren bis zum Zeitpunkt des Vortrages 35 Personen von zwölf Wissenschaftseinrichtungen oder Behörden eingebunden. Dieser hohe Aufwand treibe am Ende, so Winkler, natürlich die Kosten für die Entwicklung einer neuartigen Therapie nach oben. Zudem gebe es großes Interesse an der Kooperation mit Berliner Instituten von seiten der Industrie, um Zugang zu ExpertenKnow-how und passenden Laborkapazitäten zu erhalten. Zwar existierten erste Anknüpfungspunkte, jedoch müssten sich akademische Institute und Unternehmen mehr gegenseitig öffnen. Nur so ließen sich die teils komplexen Strukturen der Zusammenarbeit vereinfachen. 11 Biologisierung der Medizintechnik Fazit Workshop II – Muskuloskeletale Anwendungen Von Endpunkten, Blaupausen und Zentren des Vertrauens Die Impulsreferate fachten engagierte Diskussionen an. Dabei wurden die offenen Fragen aus dem Bereich Muskel und Knochen schnell abgehandelt. Danach ging es um grundsätzliche Probleme – von der Zulassung neuartiger Therapien bis hin zu personalpolitischen Entscheidungen. „Medizin ist so gut geworden, dass ein Zusatznutzen von Innovationen nur schwer nachweisbar ist“, so PD Dr. Dirk Stengel vom Unfallkrankenhaus Berlin. Es kommt zum sogenannten Deckeneffekt. Problemfeld Zusatznutzen Stengel nahm das Impulsreferat von Andrea Montali zum Anlass, um an diesen „Deckeneffekt“ zu erinnern. In der Diskussion wurden auch Konzepte vorgeschlagen, die den Zusatznutzen besser nachweisen: So ist Comparative Effectiveness Research (CER) die logische Fortführung von randomisierten klinischen Studien (RCT). Eine zu künftige Forschungshierarchie könnte darin bestehen, ein RCT für den Beweis der Wirkung durchzuführen und danach durch ein CER in die Versorgungssituation zu gehen. Darüber hinaus sollte bei der Antragstellung für eine RCT ein Umdenken erfolgen, sagte Stengel: „Statt nur einen oder zwei primäre Endpunkte anzugeben, sollten gleich mehrere Optionen – mit mehreren verschiedenen Endpunkten – durchgespielt und beantragt werden.“ Prof. Dr. Georg Dudas Nachfrage, ob eine klassische RCT auch für biologisierte Medizinprodukte sinnvoll sei, beantwortete Stengel mit einem klaren Nein: „Wir haben nicht unendlich viele Patienten!“ Neue Studiendesigns müssten entwickelt werden, welche die Phasen I und II möglichst rasch hinter sich lassen und dabei vorrangig vorhandene Daten nutzen. Auch die darauf folgende Effektivitätsprüfung müsse vielen Experten zufolge nicht immer zwingend randomisiert erfolgen. Hier gilt es, im Zuge der Lobbyarbeit Aufklärungsarbeit zu leisten und die Zulassungsstellen zu überzeugen. Problemfeld Zulassung Dr. Antje Wichmann vom Dienstleister Cellogic GmbH befasst sich mit der Zulassung von sogenannten 12 Medizinprodukten für neuartige Therapien (Advancedtherapy medicinal products, ATMPs). Neben einer Änderung der Zulassungsbedingungen sieht sie durchaus noch weitere Auswege, finanziell tragbare Projekte zu entwickeln. Hersteller von ATMPs sollten zum Beispiel möglichst frühzeitig Produktmodelle nutzen, die zulassungsfrei sind und womöglich in Drogerien Workshop II: Im lockeren Halbkreis nahm die Diskussion nach den Impulsreferaten schnell Fahrt auf. statt Apotheken verkauft werden könnten. Dr. Andreas Baltrusch Geschäftsführer von der Co.don AG bemerkte, dass das vom Produkt abhinge und nicht immer möglich sei. Bei der Entwicklung einer zulassungspflichtigen ATMP müsse er das Pferd von hinten aufzäumen: „Wir Hersteller denken momentan von der Zulassung her. Welche Produkte haben überhaupt eine Chance durchzukommen?“ Wichmanns zweite Empfehlung betrifft vor allem die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration). De novo-Projekte benötigten lange Zeiträume. Besser sei es hingegen, sich an bestehende Anträge zu lehnen. Das große Problem der Branche ist aber gerade das Fehlen eines solchen Beispielprojekts Fazit Workshop II Biologisierung der Medizintechnik aus dem Bereich funktionalisierte Medizinprodukte. Sie schlussfolgert daher, dass eine solche Blaupause der gesamten Branche helfen könnte: „Nur so können wir einmal deutlich zeigen, was die wichtigsten Stellschrauben sind und wo Regularien geglättet werden müssen.“ Ihr Plädoyer für ein solches gemeinsam finanziertes Zulassungsprojekt verhallte aber unbeantwortet. Da die meisten Hersteller auch Konkurrenten auf dem Markt sind, hat die Industrie traditionell eine gewisse Scheu solchen Gemeinschaftsinitiativen gegenüber. Es dürfte also schwierig werden, ein solches Beispielprojekt zu identifizieren. Ein anderer Vorschlag fand indes mehr Gehör. Duda schlug vor, eine Beratungsstelle einzurichten, von deren Expertise kleine und mittlere Unternehmen (KMU) bereits früh im Zulassungsprozess profitieren können. Inwieweit die spezifischen Bedürfnisse der MedizintechnikIndustrie bereits heute durch die BCRT-Ausgründung Cellogic GmbH vollständig abgedeckt werden kann, müsste im Detail geklärt werden. Weiterhin identifizierten die Teilnehmer die schwankende Qualität der Assessoren als ein drängendes Problem.Eine gangbare Lösung wäre für ihn die Einrichtung von Trust Centers oder TTPs (trusted third parties, engl. vertrauenswürdige dritte Parteien), die als Mittler zwischen den Lagern fungieren sollen. Problemfeld Personal Aber nicht nur die Unternehmen sind mit der gängigen Zulassungspraxis unzufrieden. Chronisch überarbeitete Mediziner beklagen sich über die Zusatzbelastung, die die Teilnahme an klinischen Studien mit sich bringt. Laut Duda werden in Deutschland zwei neue Ansätze verfolgt, die hier Abhilfe bringen sollen. Zum einen werden auf klinische Studien spezialisierte Forschungszentren wie das ECRC (Experimental Clinical Research Center) in Berlin-Buch eingerichtet. Zum anderen, und hierin sieht Duda die bessere, weil dezentralisierte Lösung, übernehmen – zum Beispiel am BCRT – aus Forschungs mitteln finanzierte Clinical Scientists, die eine Brückenfunktion übernehmen und Grundlagenforschung mit der Klinik verbinden. Im Rahmen von sogenannten Forschungsrotationen wird jungen Ärzten die Möglichkeit eingeräumt, im Rahmen Ihrer Ausbildung zu forschen und so strukturell ihre Kenntnisse in sehr konkreten Themen bereichen erweitern. „Die Betreuung der Phase I/II-Zulas sung unseres PLX-Projektes als Clinical Scientist hat gut funktioniert“, pflichtete ihm Dr. Tobias Winkler vom CMSC bei. Ein Vollzeit freigestellter Arzt könne sich tiefer in die Materie einarbeiten und den gesamten Zulassungs prozess beschleunigen. Wichmann sieht einen Personal engpass an anderer Stelle. In vielen Medizin-KMUs sei Dipl.-Ing. Susanne Kahl Technische Geschäftsführung, Merete Medical GmbH „Produktideen gibt es genügend. Als KMU scheitert man aber an den Regularien. Für große Unternehmen sind die Produkte hingegen oft nicht lukrativ genug.“ kein pharmaz eutisches Know-how vorhanden. Das wird aber von den Zulassungsbehörden bei biologisierten Medizinprodukten verlangt. Hier müssten die Fakultäten in Absprache mit den Behörden nachsteuern, so dass Hochschulabgänger der Biotechnologie oder Regenerativen Medizin in Zukunft die nötigen PharmazieKenntnisse mitbringen. Problemfeld Erstattung Das Thema Erstattung wurde während der Diskussion oft angerissen. So berichtete Schaser, dass die Finanzierung neuer Technologien ungeklärt ist. Daher blieben Ärzte bei Behandlungsmethoden, deren Erstattung geklärt ist. Für einen Erfolg von AMTPs müssten erst bessere Vergütungsmodelle entwickelt werden. Dabei sollte – wie es die USA mit der Etablierung von CER vorführen – in Zukunft viel mehr als bisher auch die Qualität der Versorgung erfasst werden. 13 Biologisierung der Medizintechnik Fazit „Biologisierung der Medizintechnik“ oder „Technisierung der Biologie“? Regenerative Medizin und Medizintechnik sind zwei Branchen, in denen Berlin und Brandenburg traditionelle Stärken haben. Die Kombination der beiden Disziplinen verspricht neue Produkte, die einen Fortschritt für den Patienten bringen können. Wie mit diesen biologisch-technischen Mischwesen umzugehen ist, dahinter stehen noch Fragezeichen. Von der Entwicklung über die Zulassung bis hin zur Erstattung – wer die sich bietenden Chancen nutzen will, muss zuvor Pionierarbeit leisten. Eine Gemeinschaftsaufgabe. Ob nun Revolution, Evolution oder Paradigmenwechsel – die Biologisierung der Medizintechnik werde einen Fortschritt bringen, so der Tenor des Strategieworkshops in Teltow. Die anwesenden Experten identifizierten aber auch Problemfelder, welche eine Weiterentwicklung artifizieller Implantate zu Produkten behindern, die als körpereigen erkannt werden. Für diese biologisch-technischen Zwitter fehlen oft definierte Zulassungs- und Erstattungswege sowie eine klare Definition des notwendigen Zusatznutzens. Häufig sind klinische Scores veraltet und passen nicht mehr zu den Neuentwicklungen. Auch am Geld fehlt es. Klinikbudgets und Arbeitszeiten lassen oft keinen Raum für Experimente. Diese Probleme können nur in der Gemeinschaft angegangen werden. „Eigentlich findet der Wettbewerb heute viel zu früh statt“, sagte BioTOP-Leiter Kai Uwe Bindseil und ermunterte damit die Anwesenden zur Zusammenarbeit. Ein Vorschlag, der im Workshop II entwickelt wurde: das Aufbauen einer zentralen Anlaufstelle, in der Gemeinsamkeiten identifiziert, gezielt Know-how gebündelt und weitergegeben wird. Im Bereich der kardiovaskulären Therapien gibt es zahlreiche Ansätze, die mit Hilfe der Biologisierung Mehrwert für Patienten schaffen. Eine zentrale Rolle spielt hier die Gestaltung und Funktion der Implantatoberflächen. So müssen Beschichtungen entwickelt werden, die histo- und hämokompatibel sind. Die abschließende Diskussion zeigte, dass für die bisherigen Implantate neue Funktionalitäten von klinischer Seite gefordert sind. Dies ist einmal die Degradierbarkeit von Implantaten, die keine tragende Funktion übernehmen, und nach ihrer Auflösung ein vollständig regeneriertes Gewebe hinterlassen. Andererseits ist die Langzeitstabilität permanenter Implantate durchaus nicht einfach zu gewährleisten. Auch ist die Thrombogenität 14 Prof. Dr. Britt Wildemann vom BCRT fasste die Ergebnisse des zweiten Workshops zusammen. von Implantatoberflächen noch immer ein ungelöstes Problem, was den Einsatz geeigneter antiaggregatorischer beziehungsweise antithrombotischer Medikamente erfordert (Blutungsrisiko!). Hier wurden biomimetische Polymermodifikationen, aber auch geeignete Strukturierungen der Oberflächen und Möglichkeiten zur schnellen Etablierung funktionell konfluenter Endothelmonolayer diskutiert. Auch die kontrollierte Wirkstofffreisetzung zur Förderung der Hämokompatibilität und Endothelzellbesiedlung wurde als zentrales Problem angesprochen. In den kommenden Jahren wollen sich die anwesenden Kliniker und Materialwissenschaftler gemeinsam mit der medizintechnischen Industrie diesen komplexen Herausforderungen stellen, was entsprech ende Ressourcen sowohl in der grundlagenorientierten wie in der angewandten Forschung sowie der Prototypenund Produktentwicklung erfordert. Wie auch immer diese Forderung realisiert werden kann, der Workshop zeigte, dass in Berlin-Brandenburg gerade ein spannender Prozess begonnen hat. Biologisierung der Medizintechnik Strategieworkshop Workshop I + II Workshop I Einleitung Coronar stents Prof. Dr. Friedrich Jung Institut für Biomaterialforschung, Helmholtz-Zentrum Geesthacht, Teltow und BCRT Impulsreferate Interventionelle Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen Prof. Dr. Dietlind Zohlnhöfer-Momm Charité, Campus Virchow Klinikum, Interventionelle und Regenerative Kardiologie Bioaktive Beschichtung von aktiven Implantaten Dr. Dirk Lauscher Geschäftsführer, Berlin Heart GmbH Chirurgische Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen Prof. Dr. med. habil. Christof Stamm Oberarzt, Deutsches Herzzentrum Berlin Bedarf aus kardiologischer Sicht? PD Dr. Christian Butter Chefarzt, Immanuel-Klinikum Bernau Herzzentrum Brandenburg Biologisierung diagnostischer Implantate Dr. Jan Saam BioLab Technology Deutschland GmbH, Berlin Drug release Prof. Dr. Rainer Müller Freie Universität Berlin, Institut für Pharmazie, PharmaSol GmbH, Berlin Drug-coated balloons Prof. Dr. Matthias Bräutigam InnoRa GmbH, Berlin Microstructuring of polymer stents Dr. Marco Müller Technische Universität Berlin, Polymertechnik/Kunststofftechnikum, Polymerphysik Angioplasty Beyond Stents Dr. Michael Boxberger B. Braun Melsungen AG, Director Medical Scientific Affairs, Berlin Workshop II Einleitung Prof. Georg Duda/Prof. Britt Wildemann BCRT Impulsreferate Was fehlt der Medizintechnik zur optimalen Patientenversorgung? Prof. Dr. med Klaus-Dieter Schaser Stellv. Direktor, CMSC, Berlin Bioaktive Materialien: Neue Ideen – neue Herausforderungen Dr. Mark Smith Direktor, Dt. Inst. für Zell- und Gewebeersatz, Berlin Bioaktive Implantatbeschichtung: Probleme & Lösungen Dr. Andrea Montali Leiter F&E, Synthes AG, Oberdorf/Schweiz Herausforderungen aus Sicht des Klinikers Dr. Tobias Winkler, Prof. Dr. med. Carsten Perka Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie, Berlin 15 Anprechpartner: Kismet Ekinci TSB Innovationsagentur Berlin GmbH Projektmanager BioTOP Telefon: +49-30-3186 2221 E-Mail: ekinci@tsb-berlin.de Diese Veranstaltung der TSB Technologiestiftung Berlin wird aus Mitteln des Landes Berlin und der Investitionsbank Berlin gefördert, kofinanziert von der Europäischen Union – Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung. Investition in die Zukunft. Dr. Kai Uwe Bindseil TSB Innovationsagentur Berlin GmbH Leiter BioTOP, Clustermanager HealthCapital Telefon: +49-30-3186 2212 E-Mail: bindseil@tsb-berlin.de